Rede von
Dr.
Eugen
Gerstenmaier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als in Deutschland 17 Jahre nach ihrer Aufhebung die allgemeine Wehrpflicht wiedereingeführt wurde, da geschah es in Verbindung mit der bald darauf stattfindenden Ratifizierung des Austritts Deutschlands aus dem Völkerbund. Der Völkerbund war damals die einzige, bescheidene Vorstufe einer Integrationsform der Nationalstaaten. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht durch Hitler erfolgte im Zeichen der nationalen Souveränität als eines obersten und letzten Wertes der Nation. Damit wurde der letzte Abschnitt des Weges eröffnet, auf den das deutsche Volk gegen seine tiefsten Empfindungen gezwungen worden war. Am Ende dieses Weges stand die nationale Katastrophe. Aber am Ende dieses Weges, meine Damen und Herren, stand auch über Deutschland hinaus die Einsicht, daß die nationale Souveränität kein höchster und letzter Wert eines Volkes ist.
Was heute und hier geschieht, ist nicht die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, ist nicht einmal die Grundlegung einer neuen deutschen Wehrverfassung,
sondern es ist die fortan über alle Zweifel erhabene Klarstellung, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eine künftige deutsche Wehrverfassung nicht unmöglich macht oder verbietet, vielmehr alle Voraussetzungen einer solchen in seinem Kern- und Grundgedanken in sich beschließt.
Diese Klarstellung, meine Damen und Herren, muß
erfolgen, weil in Zweifel gezogen, ja mit Leiden-
schaft bestritten wurde, daß die im Grundgesetz
niedergelegten Grundrechte und -freiheiten des
Menschen im deutschen Staat auch den Willen, ja
die Pflicht zum Schutze und zur Verteidigung die-
ser Rechte und Freiheiten in sich schlössen, auch
zur Verteidigung mit der Waffe in sich schlössen.
Die Klarstellung, die der Bundestag heute zu vollziehen hat, bezieht sich darauf. Sie erfolgt also nicht im Zeichen der nationalen Souveränität, und sie erfolgt auch nicht im Interesse einer wiederhergestellten staatlichen Machtvollkommenheit, und sie erfolgt — vielleicht muß es zur Enttäuschung einiger gesagt werden — erst recht nicht im Namen der Wiedererlangung wesentlicher Lebensrechte des deutschen Volkes und seines angestammten Bodens. Wir haben jedem Gedanken daran abgesagt, dafür jemals unsere Zuflucht bei den Waffen zu suchen. Wir, meine Damen und Herren, die wir die Narben des totalen Staates an
uns tragen, wir denken so zurückhaltend über staatliche Machtvollkommenheit, daß wir ihretwegen uns noch nicht einmal der Mühe dieser Debatte unterziehen würden.
So entschieden wir auf der Gleichberechtigung, und zwar der vollen Gleichberechtigung Deutschlands mit seinen künftigen Partnern bestehen,
so wenig vermag uns der schillernde Begriff der nationalen Souveränität noch einmal zu verführen. Nationale Prestigebedürfnisse — gleichgültig ob berechtigt oder unberechtigt — sind es uns nicht wert, auch nur eine deutsche Kompanie wieder aufzustellen.
Wir Deutsche haben in zwei Weltkriegen in einer Generation an die zehn Millionen Tote allein aus unserem Volk begraben.
Welches Prestige oder welche Spekulation könnte uns veranlassen, noch einmal eine Armee aufzustellen?
Auf diesem Hintergrund reden wir. Die Klarstellung, die heute hier getroffen wird — und ich sehe an Ihrem Gelächter, daß sie auch jetzt leider noch nicht überflüssig ist —, diese Klarstellung erfolgt natürlich auch nicht nur aus theoretischen Gründen oder gewissermaßen für alle Fälle. Sie erfolgt vielmehr im Blick auf die durchaus untheoretisch ernste Situation, in der sich das deutsche Volk seit Jahr und Tag befindet, und sie erfolgt in bewußter Abkehr von den Idealen der nationalstaatlichen Souveränität, im Zeichen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.
Das heißt also: diese Klarstellung zielt in der Tat auf eine neue deutsche Wehrverfassung. Diese Verfassung hängt nicht im Nebel alter, blind gewordener Ideale und nationaler Vorstellungen, sondern sie steht als deutscher Beitrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft nach Grund und Anlage fest umrissen vor uns. Anders als in der Vergangenheit soll im zukünftigen Europa nicht der nationale Staat souverän über seine Armee, d. h. über seine Menschen verfügen, sondern er soll nur in der festgefügten Gemeinschaft mit den anderen streng und ausschließlich im Fall der unabweisbar gebotenen Verteidigung Waffen gebrauchen dürfen. Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht durch Hitler war schließlich gegen die Gemeinschaft der Völker gerichtet, und sie führte ins blutige Chaos.
Die Klarstellung von heute gilt einer künftigen Wehrpflicht der Deutschen, weil die Sicherung Deutschlands in der Gemeinschaft der freien Völker unerläßlich geworden ist. Sie bringt Europas geguälten Völkern Frieden und Rechtssicherheit, ohne die weder die Deutschen noch die anderen eine Zukunft haben. Meine Damen und Herren, ich glaube, vor der einfachen Größe dieser Einsicht, die sich im deutschen Volke durchgesetzt hat, verblassen alle möglichen und unmöglichen, gutgemeinten oder auch nicht gutgemeinten anderen Gründe. Zu ihnen gehört z. B. auch die päd-
agogische Begründung. Was wir heute tun, tun wir gewiß nicht, weil man immer wieder den erzieherischen Wert des Soldatseins gerühmt hat. Deutschlands Jugend käme auch ohne diese Erziehungshilfe aus.
Was wir tun, tun wir vielmehr deshalb, weil wir die Verteidigung unserer eigenen, teuer erworbenen Freiheit und den Schutz unserer deutschen rechtsstaatlichen Ordnung nicht von den Söhnen anderer Völker verlangen können und wollen, ohne nach dem Maße unserer Kraft das Unsere dafür zu tun.
Aber eine lange Kette leidvoller Erfahrungen hat uns gelehrt, daß das nur noch in der denkbar engen und entschlossenen Gemeinschaft mit den anderen freien Völkern Sinn hat. Deutschland kann mit einer Nationalarmee alten Stils überhaupt nicht mehr verteidigungsfähig werden,
weil diese Armee nicht nur zu klein, sondern auch ganz unzureichend bewaffnet sein würde. Es hat schlechterdings keinen Sinn, im Zeitalter der Maschinengewehre Menschen mit Heldenmut und Hellebarden auszurüsten. Es hat ebensowenig Sinn, im Zeitalter der Atomwaffen Soldaten mit Maschinengewehren und noch etwas mehr Heldenmut auszustatten.
Es ist nicht meine Absicht, diesen Begründungszusammenhang unseres Handelns noch einmal etwa in polemischer Auseinandersetzung mit der Opposition in diesem Hause darzulegen. Es hat offensichtlich auch keinen Sinn mehr. Hat die Debatte gestern nicht trotz der guten Reden, die gehalten worden sind, erkennen lassen, daß der Streit um die Methoden der Sicherung und der Vereinigung Deutschlands alt und grau zu werden beginnt, daß die Debatte darüber ausgetragen und die Zeit des Handelns gekommen ist?
Hat nicht die jüngste Geschichte bewiesen, daß es nichts, aber auch gar nichts auf sich hat mit der anfänglich so betörenden und gern gehörten Kampfparole: EVG oder Wiedervereinigung? Hat nicht Molotow selbst, wie es gestern hier Herr Dr. Dehler zu Recht dargestellt hat, in wohlgesetzten und dennoch völlig eindeutigen Reden der parlamentarischen Opposition in Deutschland diese Parole einfach weggewischt?
Und haben wir nicht bis in die gestrige Debatte hinein die Erschütterung und Unsicherheit gespürt, die darob die Verwalter einer anerkanntermaßen großen freiheitlichen Tradition des deutschen Arbeitertums überkommen hat? Es hätte gewiß mehr Sinn, darüber zu klagen, daß sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands auch heute nicht zu einer Entscheidung à la Morrison durchgerungen hat,
als über Molotow zu schimpfen oder über die Russen und über die Tragödie von Berlin zu verzagen.
Heute geht es hier weder um Klage noch um Anklage; heute geht es allein darum, wieder einen
Schritt nach vorn zu tun. Dieser Schritt ist heute von uns, und zwar von uns allen, gefordert. Es hat keinen Sinn, dabei auf die Franzosen zu sehen oder nach den Italienern zu schielen. Mögen s i e sehen, wie sie dem Ruf der geschichtlichen Stunde gerecht werden! Unserer Verantwortung sind wir damit gewiß nicht enthoben.
Wer es genauer wissen will und wer sich des Ernstes der Sache noch nicht ganz bewußt ist, dem dürfen wir sagen, daß es an uns ist, das zu tun, was wir zu tun haben — gleichgültig ob es ausreicht oder nicht ausreicht —, damit es in Zukunft keinen Cimetière du Silberloch hinter dem Hartmannsweilerkopf oder keine Kreuze von gefallenen Soldaten neben der Hunsrück-Höhenstraße zwischen Mainz und Trier mehr gibt. Wir sind moralisch verpflichtet, diesen Weg zu gehen, und wir sind aus sachlichen Gründen dazu gezwungen. Denn es ist inzwischen völlig klar, daß Deutschland allein auf dem Weg, um den wir uns mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bemüht haben und gewiß noch weiter bemühen müssen, verteidigungsfähig wird. Meine Damen und Herren, Herr Kollege Ollenhauer hat gestern noch einmal die Eingliederung Deutschlands in ein Sicherheitssystem skizziert, das von niemand als gegen sich gerichtet betrachtet werden könne, d. h. genauer als gegen sich gerichtet angesprochen werden kann. Eine solche Forderung könnte höchstens zur Folge haben, daß Deutschland überhaupt in kein Sicherheitssystem einbezogen wird. Das würde also die Neutralisierung Deutschlands bedeuten. Man kann es sich fünfzigmal oder zweiundfünfzigmal überlegen, es bleibt dabei, daß dies die reale Folge der so ideal gemeinten offiziellen Bereitschaft der deutschen Sozialdemokratie, für die militärische Sicherung Deutschlands das Ihre zu tun, sein würde.
Ich möchte nichts mehr im einzelnen zu den ebenso ideal aussehenden fünf Punkten sagen, die der Herr Vorsitzende der SPD gestern hier vorgetragen hat. Sie sind längst bestimmende Motive unserer Politik. Aber auch wir hätten dem deutschen Volke heute nicht mehr als eben die nackte Pracht dieser fünf Forderungen zu präsentieren, wenn wir sie mit den politischen Methoden der SPD vertreten hätten.
Denn auch eine Politik der idealsten Motive ist total gescheitert, wenn sie zur Isolierung Deutschlands statt zu brauchbaren, handfesten Annäherungswerten führt. Das hat das deutsche Volk erfaßt und in einer Weise gewürdigt, die ihm Ehre macht.
Gewundert habe ich mich, Herr Kollege Ollenhauer, daß Sie mit Ihrem Gedanken, die Deutschlandfrage auf der Ebene der Vereinten Nationen zu lösen, auch in den zurückliegenden Wochen und Monaten offenbar keinen Schritt weitergekommen sind. Sie haben sich statt dessen darauf beschränkt, meine persönliche Einstellung zu den Vereinten Nationen anzugreifen, mindestens in Frage zu stellen.
Ich kann nicht finden, daß das zu Recht geschah; denn schließlich hat unser Volk ein Recht darauf, zu hören, wie die Tragfähigkeit politischer Vorschläge zur Meisterung seines Schicksals beurteilt wird. Ich habe seinerzeit von diesem Platz aus die
ideale Konzeption, das uneingeschränkt zu billigende Programm der Vereinten Nationen voll anerkannt. Aber ich habe mir erlaubt, und ich erlaube mir es auch heute noch, das tatsächliche Vermögen mit der gegenwärtigen Verfassung der Vereinten Nationen, die Deutschlandfrage und die brennendsten Weltprobleme zu lösen, erheblich in Zweifel zu ziehen. In der Zwischenzeit sind außerhalb Deutschlands im Bereich einer sehr bedeutenden Weltmacht zwei höchst wichtige Reden gehalten worden. Die eine bezog sich auf die Atomkontrolle, die andere auf das Statut der Vereinten Nationen. Soweit ich sehe, besteht im internationalen Bereich Übereinstimmung darüber, daß mit dem gegenwärtigen Statut der Vereinten Nationen die schwebenden Weltprobleme nicht zu meistern sind. Das ist ebenso klar wie die andere Einsicht, daß mit der gescheiterten Statutenreform des Europarats in Straßburg die europäischen Probleme allein noch nicht gemeistert werden können.
Meine Damen und Herren, sollte es unerlaubt sein, in einer Situation wie der, in der wir uns in Deutschland befinden, davon zu reden und das offen auszusprechen? Hinter den Schwierigkeiten bei den Vereinten Nationen und bei der Statutenreform des Europarats steht ein und dasselbe Problem. Es ist das unbewältigte Problem der nationalen Souveränitäten in unserer Zeit. Ich weiß nicht, ob gestern von den Vereinten Nationen deshalb nicht weiter die Rede war, weil vielleicht auch der Herr Kollege Ollenhauer inzwischen erkannt hat, daß eine fruchtbare Zusammenarbeit in den Vereinten Nationen, deren die Welt wahrhaft dringlich bedarf, so wie die Dinge liegen, ja erst dann möglich ist, wenn der Kern der Streitprobleme bereits gelöst, d. h. wenn die Weltspannung schon entschärft ist. Wäre es anders, meine Damen und Herren, wozu bedürfte es dann der Berliner, der Genfer Konferenz und wahrscheinlich noch mancher anderen kommenden Konferenzen, die alle außerhalb der Vereinten Nationen stattfinden?
Aber es ist heute nicht davon zu reden, was uns bei künftigen Entscheidungen auf dem Weg, den wir beschritten haben, im einzelnen beschäftigen muß. Es ist heute auch nicht davon zu reden, wie die Wehrverfassung Deutschlands und wie seine Ausrüstung aussehen muß. Wir sprechen heute auch nicht vom Ost-West-Handel, wennschon wir darüber im Zusammenhang mit dem russischen Blutgold unsere eigene Gedanken haben. Wir reden heute nur von dem, wozu wir nach langer, gewissenhafter Prüfung entschlossen sind: von unserer Freiheit und Einheit, der Einheit Deutschlands im geeinten Europa und der Freiheit, die uns so ans Herz gewachsen ist, daß wir willens sind, dafür auch die Opfer zu tragen, die man vom deutschen Volk gerechterweise verlangen kann.
Ich habe die Ehre, namens der Fraktion der CDU/CSU zu erklären, daß sie der Vorlage zustimmt.