Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Herrn Kollegen Dr. Arndt bin ich der Meinung, daß wir in diesem Hause allseits bestrebt sein sollten, die freiheitliche Verfassung zu erhalten. Aber ich bin weiterhin der Meinung, daß der freiheitliche Charakter unserer Verfassung durch keine Bestimmung, die wir mit der Vorlage in das Grundgesetz einfügen, beeinträchtigt wird.
Als wir die Verträge im ersten Deutschen Bundestag berieten, hat uns die sozialdemokratische Fraktion darauf hingewiesen: ihr könnt diese Verträge nicht ratifizieren, dazu braucht ihr eine Zweidrittelmehrheit, dazu braucht ihr also uns.
Heute, nachdem wir in diesem Hause die Zweidrittelmehrheit ohne die sozialdemokratische Fraktion haben, werden uns staatsrechtliche Kollegs gehalten, daß es nunmehr auch mit der Zweidrittelmehrheit nicht gehe.
Aber noch ein Weiteres. Verschiedene Ausführungen des Herrn Kollegen Professor Schmid und des Herrn Kollegen Dr. Arndt veranlassen mich, zur Praktizierung dieses Gesetzes im Verfahren beim Bundesverfassungsgericht einiges, was nicht unwidersprochen bleiben kann, richtigzustellen. In der Einleitung des Gesetzes ist von einer Klarstellung von Zweifeln über die Auslegung des Grundgesetzes die Rede. Hiergegen ist eingewandt worden, die Klarstellung solcher Zweifel sei allein Sache und Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Dieser Einwand ist durchaus unzutreffend. Schon unter der Weimarer Reichsverfassung war es die einhellige Auffassung der Staatsrechtswissenschaft, daß eine authentische Interpretation von in der Verfassung enthaltenen Bestimmungen Sache des im damaligen Art. 76 geregelten Verfassungsänderungsverfahrens sei. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, Anschütz in seinem Kommentar erklärt, im Verfahren des Art. 76 seien u. a. solche Gesetzesvorschriften erlassen worden, die ohne Änderungsabsicht lediglich gesetzeskräftige Auslegungen, nämlich authentische Interpretationen, von Verfassungsnormen hätten darstellen sollen. Im gleichen Sinne haben sich weiterhin Jacobi und Walter Jellinek geäußert.
Aber nicht nur die Rechtslehre hat diesen Standpunkt vertreten. In der Gesetzgebungspraxis des früheren Reichstags ist durch ein Gesetz vom 22. Mai 1926 ein Art. 40 a in die damalige Reichsverfassung eingefügt worden. Für die Kollegen, die dem Reichstage nicht angehört haben, darf ich erklären, um was es damals ging. Es handelte sich damals darum, daß den Mitgliedern des sogenannten Überwachungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses, der heute morgen wegen seiner besonderen Kompetenzen schon einmal erwähnt wurde, insbesondere Immunität und Zeugnisverweigerungsrecht auch nach der Beendigung der Wahlperiode zustehen sollte. Diese Frage war damals streitig geworden und ist durch verfassungsänderndes Gesetz in vollem Bewußtsein, daß man mit der Einfügung des Art. 40 a in die Weimarer Reichsverfassung eine Interpretation vornahm, entschieden worden. Insoweit hat man also schon damals dem von Herrn Kollegen Arndt immer wieder mit Recht hervorgehobenen Bedürfnis der Urkundlichkeit der Verfassung entsprochen.
Um das gleiche Problem handelt es sich im vorliegenden Fall. Unsere Kompetenz kann nicht mit dem Hinweis darauf bestritten werden, daß heute die authentische Interpretation ausschließlich Sache des Bundesverfassungsgerichts sei. Schon ein Blick in den Wortlaut der Bestimmung des Art. 93 des Grundgesetzes zeigt, daß, wenn man die Funktionen des Bundesverfassungsgerichts überhaupt als authentische Interpretation ansehen will — in Wahrheit ist doch die maßgebliche Festsetzung des Inhalts zweifelhafter Bestimmungen gar nicht eine Justiz-, sondern eine Gesetzgebungsangelegenheit —,
das Bundesverfassungsgericht hier ausnahmsweise als Justizbehörde Gesetzesrecht schafft. Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist vielmehr eindeutig auf ganz bestimmte einzelne Teilbereiche beschränkt; siehe Art. 93. Es kann deshalb keine Rede davon sein, daß mit den Bestimmungen des vorliegenden Entwurfs in irgendeiner Form „verfassungswidriges Verfassungsrecht" geschaffen werde, wie man es uns vorzuhalten versucht.
Die Opposition macht der Regierungskoalition das Recht streitig, die Verfassungsergänzung in der vorliegenden Form überhaupt vorzunehmen. Sie bestreitet auch dem heute hier zusammengetretenen verfassungsändernden Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen das Recht, die in Rede stehende Klarstellung vorzunehmen. Zur Begründung dieses Bestreitens wird darauf hingewiesen, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht die gleichen Befugnisse habe wie der ursprüngliche Verfassunggeber; insbesondere dürfe der verfassungsändernde Gesetzgeber in keinem Falle zu einer Tangierung des in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes umschriebenen Verfassungskerns seine Hand bieten. Das aber geschehe hier, so sagt man uns.
Dazu ist folgendes zu sagen. Ob die Differenzierung zwischen dem ursprünglichen Verfassungsgesetzgeber und dem späteren verfassungsändernden Gesetzgeber in dem eben genannten Sinne zutreffend ist, kann — und darauf kommt es doch an --, in dem heute hier zur Entscheidung anstehenden Falle dahingestellt bleiben. Denn nach unserer Auffassung enthält keine der hier zu Beratung und Beschlußfassung anstehenden, in das Grundgesetz einzufügenden Vorschriften eine solche Verletzung des Kerns nach Art. 79 Abs. 3, der Substanz der Verfassung.
Vor allem aber ist es auch nicht richtig, daß diese Grundsätze vom Verfassungsgesetzgeber ausnahmslos als jedweder Einwirkung entzogen statuiert worden seien. Die Regelungen in den Art. 24 und 25 enthalten bereits einen Beweis für die Richtigkeit dieser meiner Auffassung. Art. 24 ermöglicht nämlich Integrationsmaßnahmen auch ohne Rücksicht auf den sogenannten Verfassungskern, und Art. 25 statuiert eindeutig den Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht nur vor dem einfachen Bundesrecht, sondern sogar vor dem gesamten Bundesverfassungsrecht. Hierauf hat bei der Schlußabstimmung im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rats insbesondere unser Kollege Herr Dr. von Brentano hingewiesen. Er sagte: „Das Völkerrecht geht unter allen Umständen dem Bundesrecht und auch dem Bundesverfassungsrecht vor " Diese Auffassung ist damals im Hauptausschuß einstimmig gutgeheißen worden.
Auf dieser vom Verfassungsgesetzgeber selbst vorgezeichneten Linie bewegen wir uns heute, wenn wir Ihnen die Annahme dieser Verfassungsergänzung empfehlen.
Wenn in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 unseres Grundgesetzes steht, daß alle Staatsgewalt und damit auch die verfassunggebende Staatsgewalt, sowohl die verfassunggebende wie auch die verfassungsändernde Staatsgewalt, vom Volke ausgeht, dann halten wir uns zu dieser ergänzenden Verfassungsänderung aus gutem Grunde für berechtigt.
Wenn davon die Rede ist, daß die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, dann wird damit doch die Instanz bezeichnet, die im Sinne der Verfassung als oberste, als letztentscheidende für die staatliche Ordnung zu denken ist. Das Volk ist und bleibt, um mit den Worten eines bekannten Staatsrechtslehrers zu sprechen, der Herr der Verfassung. Es hat die oberste, letzte, souveräne Entscheidung. Hierzu darf ich Ihnen aus der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers vom 20. Oktober mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten einige wenige Sätze verlesen. Diese Sätze lauten:
Im Wahlkampf haben die Auseinandersetzungen um die deutsch-alliierten Verträge, insbesondere um den das Kernstück einer europäischen Integration bildenden Verteidigungsbeitrag, einen breiten Raum eingenommen. Die Problematik lag für den deutschen Wähler klar zutage. Es wird nicht gesagt werden können, daß er plötzlich und ohne ausreichende Vorbereitung vor die Entscheidung gestellt worden sei. Das Votum der Wähler ist völlig klar. Niemand wird heute noch behaupten können, daß das deutsche Volk den Verträgen und einem deutschen Verteidigungsbeitrag ablehnend gegenüberstehe.
So weit die Worte des Herrn Bundeskanzlers in der Regierungserklärung. Einige wenige Sätze vorher hat er in der gleichen Regierungserklärung hierzu noch folgendes gesagt: „Diese Wahlen waren ein Volksentscheid." Sie war en ein Volksentscheid, zwar nicht im technischen Sinne der Weimarer Reichsverfassung, aber im echten Sinne.
Durch diesen Volksentscheid fühlen wir uns nicht nur berechtigt, sondern im Gewissen verpflichtet, diesen verfassungsergänzenden Vorschriften zuzustimmen.
Wir bedauern, bei dieser Gelegenheit feststellen zu müssen, daß wir hierbei nicht mehr auf das Verständnis stoßen, welches Herr Kollege Ollenhauer in seiner Stellungnahme zur Regierungserklärung am 28. Oktober hier von dieser Stelle aus bekundet hat. Herr Kollege Ollenhauer hat damals, als er diese Frage behandelte, wörtlich ausgeführt — ich zitiere —:
Soweit es sich dabei um die Verfassungsergänzung im Zusammenhang mit den Verträgen handelt, ist dieses Bemühen der Bundesregierung verständlich.
Leider müssen wir dieses Verständnis, das uns Herr Kollege Ollenhauer in Aussicht gestellt hat heute in dieser Diskussion vermissen.
Meine Damen und Herren, wir in der CDU/CSUFraktion sind jedenfalls entschlossen, auch ohne dieses Verständnis zu der Verfassungsergänzung unser Ja zu sagen.