Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe einige Ausführungen zu machen, nicht um die Rede meines Freundes Erler zu ergänzen, sondern um auf einige der Vorbringen zu antworten, die wir hier zu hören bekommen haben.
Der Herr Abgeordnete Becker hat in seinen Darlegungen ausgeführt, die Sozialdemokratische Partei habe heute wieder einmal gesagt, daß sie das zur Verteidigung der Bundesrepublik Notwendige nur im Rahmen der Vereinten Nationen zuzugestehen bereit sei. Er hat vorher in einer recht balladesken Weise von dem „Donner der Kanonen" gesprochen, der unsere Debatte begleitet habe. Er hat die Schlacht von Valmy bemüht. Vielleicht hätte er auch von dem „Donner der Kanonen" sprechen können, von dem Don Basilio im „Barbier von Sevilla" in der Arie singt, die Sie sicherlich kennen. Sei dem, wie ihm wolle, offensichtlich hat ihm dieser Kanonendonner das Gehör verschlagen,
sonst hätte er nämlich unseren Sprecher nicht so verstehen können, wie er ihn verstanden hat.
Ich wiederhole — ich weiß nicht zum wievielten Male —: Für das vereinigte Deutschland — für das vereinigte Deutschland, Herr Dr. Bekker, nicht für die Bundesrepublik! — scheint uns die wirksamste Möglichkeit, in ein Sicherheitssystem eingebaut zu werden, der Rahmen, den die Satzungen der Vereinten Nationen ziehen. Für die Bundesrepublik — das heißt, solange die Spaltung Deutschlands dauert — sind wir bereit, das zur Verteidigung Nötige im Rahmen jeder Möglichkeit zu tun, die erstens echte Sicherheitschancen bietet, zweitens die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands nicht gefährdet und schließlich uns die echte Gleichberechtigung gibt.
Damit sage ich nichts Neues, sondern wiederhole zum hundertsten Male, was hier schon gesagt worden ist. Für die Zeit der Spaltung Deutschlands sind wir bereit, unter diesen Voraussetzungen auch Lösungen zuzustimmen, die man im klassischen Sinne des Sprachgebrauchs nicht als Systeme kollektiver Sicherheit ansprechen könnte.
Nun sagen Sie: „Dann stimmt doch dem EVG-Vertrag zu!", und Sie sagen uns, wir stimmten offenbar nur deswegen nicht zu, weil wir Perfektionisten seien und uns nun einmal nicht alles an diesem Vertrage gefalle. Sie wissen, daß das nicht stimmt, und es ist Ihnen gestern sehr ausführlich gesagt worden, daß das nicht stimmt.
Natürlich muß man auch manchmal etwas zustimmen, das man nicht für ganz vollkommen hält — aber das kann man doch nur im Rahmen gewisser Grenzen tun, und wo diese Grenzen liegen, hat in Gottes Namen der zu bestimmen, der die Verantwortung für sein Ja und Nein zu tragen hat;
da gibt es keine Gefolgschaftspflicht der Minderheit der Mehrheit gegenüber!
Auf Ihrer Seite, meine Damen und Herren, hat man in sehr entscheidenden Stunden unserer Nation selbst so gehandelt. Ich erinnere die Herren von der Deutschen Partei daran, daß sie gegen das Grundgesetz gestimmt haben,
weil es ihnen nicht vollkommen genug war. Und ich erinnere Sie, Herr Dr. Jaeger, an die gleiche Haltung der CSU in demselben Parlamentarischen Rat. Sie haben gegen das Grundgesetz gestimmt, weil es Ihnen nicht vollkommen genug war, und der Bayerische Landtag hat sich Ihnen angeschlossen.
Soll ich denn hier auch, Herr Dr. Jaeger, von den verstaubten Mottenkisten — des Partikularismus — des 19. Jahrhunderts reden?
Ich tue es nicht, Herr Dr. Jaeger, weil es uns mit unserem Anliegen ernst ist, daß wir uns so zueinander verhalten sollten, daß wir miteinander das gemeinsam Notwendige tun können, ohne auf Selbstachtung verzichten zu müssen.
Es ist davon gesprochen worden, wir hätten heute keine Sachentscheidung zu treffen, sondern nur — gewissermaßen als die Notare oder Rechtskonsulenten der Wähler — das auszuführen, was sie am 6. September beschlossen hätten. Man hat, um dies zu begründen, hier eine erstaunliche Jurisprudenz entwickelt. Die Frage: Was kann man mit einer Verfassung machen, wie kann man mit einer Verfassung umgehen? führt nicht zu einer Formalentscheidung, sondern zu einer Sachentscheidung, einer politischen Entscheidung ersten Ranges!
Hier ist gesagt worden — es ist dem Bericht des Herrn Berichterstatters nach im Rechtsausschuß sehr ausgiebig ausgeführt worden —, die Verfassung sei zwar ein Gesetz von besonderer Feierlichkeit, aber im Grunde doch ein Gesetz, das der Substanz nach ein Gesetz wie jedes andere sei. Man könne darum mit entsprechenden Mehrheiten dieses Verfassungsgesetz durch und durch verändern. Was die „Verfassung" von anderen Gesetzen unterscheide, sei, daß die Abänderung erschwert sei. Wenn man legal über diese Hürden springe, könne man die Verfassung auch in entscheidenden Punkten ändern. — Wir kennen diese Jurisprudenz. Sie ist von Laband eingeleitet und bis in den Kommentar weitergeführt worden, den Anschütz zur Verfassung von Weimar geschrieben hat. Das ist ein verhängnisvoller Weg gewesen; und ich als Sozialdemokrat stehe nicht an Ihnen zu sagen, daß ich sehr vieles aus der Kritik der konservativen Juristen der Mitte des 19. Jahrhunderts für sehr
begründet halte, der Kritik gegen diesen Holzweg der Jurisprudenz einer Zeit, die zu sehr geglaubt hat, daß im Recht der Zweck das Entscheidende sei. Ich erinnere Sie auch, Herr Kollege Jaeger — und hoffe dann Ihren heimatlichen Stolz zu wecken —, an den großen bayerischen Juristen Seidl und dessen Kritik gegen diese Rechtswissenschaft. Er war zwar ein greulicher Partikularist, aber er war auch ein großer Jurist, dieser Ihr Landsmann.
Ich will damit nicht gesagt haben, daß alle greulichen Partikularisten große Juristen seien . . .
Nun, der „Konservativismus", von dem heute einiges zu hören war, bringt mich in die Versuchung, ein altes pseudokonservatives Wort: „Und der König absolut, wenn er unseren Willen tut" abzuwandeln: „Und die Verfassung absolut, wenn sie unseren Willen tut. Tut sie uns den nicht, dann werden wir schon sehen, was wir mit ihr machen."
Wenn man der These der Mehrheit folgte, dann wäre dieser Bundestag eine Art von Konstituante, die in Permanenz tagt, und die Verfassung wäre dauernd etwas wie ein knetbarer Teig in den Händen der jeweiligen Zweidrittelmehrheiten;
er könnte dann als eine Art sekundärer Schöpfer—Herr Kollege Kiesinger, Sie verstehen sicher, was ich hier sagen will — das ursprüngliche Schöpfungswerk jederzeit in sich selbst erneuern. Nun, diese Art von Jurisprudenz hat u. a. auch das Ermächtigungsgesetz vom März 1933 möglich gemacht. Bitte mißverstehen Sie mich nicht. Ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie ein solches Ermächtigungsgesetz wollen.
Ich sage nur, mit dieser Art zu denken, gibt es letzten Endes kein Argument gegen eine Gesetzgebung wie jene, die einmal zu dem Ermächtigungsgesetz geführt hat.
Ich glaube nicht, daß diese juristische Grundthese richtig ist. Eine Verfassung ist etwas anderes als ein sehr wichtiges Gesetz, für dessen Abänderungen Hindernisse aufgerichtet sind. Eine Verfassung ist sehr viel mehr. In seiner Verfassung trifft das Volk in dem Augenblick, in dem es sich „in Verfassung bringt" — diese Augenblicke pflegen Landmarken seiner geschichtlichen Entwicklung zu sein; hier wird gegenüber der Vergangenheit eine Abschlußbilanz und gegenüber der Zukunft eine Eröffnungsbilanz gezogen —, Grundentscheidungen politischer Art. Es trifft Entscheidungen über bestimmte Lebenswerte, die das Fundament des Staates sein sollen, in dem es leben will.
Alles andere, was sonst in den Verfassungen steht, hat seinen Sinn nur darin, daß es die Ausführung, die Spezifizierung dieser Werte ist und den organisatorischen und institutionellen Aufbau ermöglicht, der nötig ist, um sie in Ordnung zu verwirklichen.
Diese Grundentscheidungen sind die eigentliche „Konstitution" des Staates. Ob Monarchie oder Republik, ob Einheitsstaat oder Bundesstaat, ob
Gewaltenteilung oder alle Gewalt in einer Hand, ob parlamentarische Demokratie oder plebiszitäre Demokratie, ob relative Grundrechte oder absolute Grundrechte: das sind Grundentscheidungen über Lebenswerte. Sie machen die Verfassung aus. Wer diese Dinge ändert, der ändert nicht nur etwas an der Verfassung, sondern der macht eine ihrer Substanz nach andere Verfassung
als die Verfassung, für die das Volk sich im entscheidenden Augenblick entschieden hat. Wie man diese politischen und ethischen Grundentscheidungen im einzelnen ausgestaltet, das ist in weitem Umfang variabel. Aber die Grundentscheidung selber ist unantastbar, wenn die Verfassung sich gleichbleiben soll.
Will man anders verfahren, nun, dann muß man sieh dafür entscheiden, aus der Verfassung heraustreten zu wollen. Das ist dann in allen Formen der Legalität eben ein revolutionärer Akt oder ein kalter Staatsstreich oder wie man es sonst nennen mag.
Wenn ich zu Ihnen von einem kalten Staatsstreich spreche, dann denke ich nicht an Dinge, wie sie gegenwärtig mancherorts vor sich gehen.
Es wurde davon gesprochen, was hier geschehe, gehe doch alles legal vor sich. Vielleicht! Aber ob etwas Recht ist oder ob es nur den Schein des Rechts an sich trägt, nun, das bestimmt sich nicht nur aus der Legalität, sondern auch aus der Legitimität des Vorgangs. Nur wenn sich die formale Legalität innerhalb der substantiellen Legitimität vollzieht, schafft sie Recht. Legalität ohne Legitimität kann nur ein Monstrum gebären. Legitim ist aber nur, was in Ausführung der ethischen, politischen Grundentscheidung geschieht, die die verfassunggebende Gewalt zum Fundament unserer Lebensordnungen gemacht hat.
Über diese Dinge gibt es in der Literatur echter Verfassungsstaaten keinen Streit. England ist ein Sonderfall: sein Parlament hat eine andere Stellung als das unsere. Es war der Rechtswissenschaft der Wilhelminischen Epoche, in der in weiten Kreisen der Staat wesentlich als Instrument und die Verfassung als eine Art von Reglement einer Anstalt gesehen wurden, vorbehalten, das ethische Fundament des Verfassungsdenkens zu ruinieren. Im Parlamentarischen Rat sind wir uns dieser Dinge bewußt gewesen, und, Herr von Brentano, Sie werden mir bestätigen: wir haben darum ganz bewußt ein Grundgesetz schaffen wollen, das von einer anderen Vorstellung des Verfassungsrechts ausgeht als der Labandschen und der Anschützschen, auch von einer anderen Auffassung als der, die einst das Reichsgericht in einigen Urteilen zum Ausdruck gebracht hat. Für uns waren damals Art. 79 und Art. 20 nicht nur technische Bestimmungen, nicht nur Verzierungen, sondern Entscheidungen für etwas Fundamentales, und solche Grundentscheidungen sind es gewesen, die letzten Endes von den Landtagen unserer deutschen Bundesländer ratifiziert worden sind.
Eine besonders bedeutsame Grundentscheidung ist gewesen, daß wir diesen Staat auf das Prinzip der Teilung der Gewalten gründen wollten. Das war nicht nur die Entscheidung für ein besonders
bekömmliches technisches Verfahren des Regierens und Verwaltens, sondern diese Entscheidung hat die Qualität, d. h. inneren Wert und inneres Sein des Staates bestimmt. Teilung der Gewalten bedeutet: Wer regiert, darf nicht Gesetze geben; wer die Gesetze gibt, darf sie nicht anwenden und auslegen; anwenden und auslegen darf die Gesetze nur die richterliche Gewalt.
Nun ist davon gesprochen worden, daß das Parlament das Recht haben müsse, Gesetze, auch Verfassungsgesetze, authentisch zu interpretieren. Ich glaube nicht, daß das richtig ist, insbesondere dann nicht, wenn eine Verfassung wie unser Grundgesetz expressis verbis das Interpretationsmonopol des Bundesverfassungsgerichts aufgerichtet hat.
Nun wird gesagt: Ja, aber die Karlsruher Prozesse betreffen doch gar keine justitiablen Sachen! Es ist in der ganze Rechtslehre unbestritten, daß über die Frage, ob ein Verfahren zulässig ist oder nicht, ob eine Sache justitiabel ist oder nicht, nicht die Parteien entscheiden, sondern das Gericht selbst.
Herr Kollege Weber, wie ich aus Ihren Zwischenrufen entnommen habe, haben Sie eine besondere Vorliebe für das Völkerrecht. Gestatten Sie mir einen Hinweis! Eine kleine Analogie zur Erhärtung dessen, was ich sagte. In dem ausgezeichneten Deutsch-Schweizerischen Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrag von 1920, in dem von justitiablen und nichtjustitiablen Sachen die Rede ist, ist ausdrücklich bestimmt, daß das Schiedsgericht entscheidet, ob eine vor den Richterstuhl gebrachte Sache justitiabel ist oder nicht, und daß die Parteien sich darauf beschränken müssen, Einreden oder Einwände zu erheben, und daß sie nicht die Einlassung verweigern dürfen. Wenn man einem Parlament das Recht gibt, im Wege authentischer Interpretation die Übereinstimmung irgendeines Aktes, und sei es ein Gesetz, mit der Verfassung zu bestimmen, macht man das Parlament zu einer richterlichen Institution.
Damit hat man auf einem wesentlichen Gebiet den Grundsatz der Teilung der Gewalten verlassen.
Es gibt eine ganze Reihe von geschichtlichen Beispielen, Herr Euler, für Parlamentsjustiz, angefangen mit dem Parlament Cromwell's. In den Verfassungen der Sowjetzone ist übrigens in vieler. Fällen das Parlament zum Interpreten der Verfassung gemacht worden.
Ich glaube nicht, daß wir diesem Beispiel folgen sollten, auch nicht auf einem einzelnen Gebiet, auch nicht auf einem Sondergebiet. Parlamentsjustiz ist der Anfang einer möglichen Mehrheitsdiktatur, und das ist nichts Gutes. Ob es sich bei einem Mehrheitsbeschluß um eine „sic volo, sic iubeo" handelt, um ein „ tel est mon bon plaisir", oder um die konkrete Definition des Gemeinwillens, bestimmt sich danach, ob die jeweilige konkrete politische Entscheidung unter die Verfassung gestellt wird, oder ungewollt die Verfassung unter die konkrete politische Entscheidung.
Es ist hier eine Auffassung vertreten worden — von einem der Herren des BHE —, nicht ernstlich, aber dem Sinne nach: Not kennt kein Gebot. Ich erinnere an einen deutschen Reichskanzler, de; einmal dieses Wort gesprochen hat;
kurz darauf sprach er vom „Fetzen Papier"!
Ich glaube nicht, daß wir Versuchungen in dieser
Richtung Vorschub leisten sollten. Ich glaube nicht,
daß Sie das wollen, meine Herren. Aber manchmal
sollte man besonders ernsthaft bemüht sein, sich
das In-Versuchung-Fallen nicht zu leicht zumachen.
Wenn man einer Änderung des Grundgesetzes zustimmt, wonach mit Zweidrittelmehrheit durch einen Beschluß dieses Hauses außenpolitische Verträge bestimmter Art als dem Grundgesetz gemäß erklärt werden können, dann stellen wir diese Verträge den Bestimmungen der Verfassung gleich. Es ist von „Klärungsgesetzen" gesprochen worden. Es ist das erste Mal, daß ich einen solchen Ausdruck höre. Vielleicht liegt es an mir, aber ich kenne die juristische Literatur einigermaßen, und ich habe ihn dort noch nie gefunden. Im allgemeinen erläßt man Gesetze nicht zur Klärung von Gesetzen, sondern, wenn sich herausstellt, daß ein Gesetz nicht praktikabel ist, dann erläßt man ein neues Gesetz, mit dem man das alte aufhebt. Das ist der Weg, ungeklärte Situationen im Wege der Gesetzgebung zu klären.
Die Praxis, mit Zweidrittelmehrheit die Verfassung zu durchlöchern, hat damit sehr entscheidend dazu beigetragen, das Ansehen der Weimarer Verfassung zu ruinieren.
— Doch, Sie tun das, Herr von Brentano.
Dieser Art. 79 hatte für uns im Parlamentarischen Rat nicht nur technische und nicht nur ästhetische Bedeutung. Er sollte eines der Fundamente sein, auf die unser Verfassungsrecht gestellt werden sollte. Er gehört zu den ethisch-politischen Vorentscheidungen über Grundprinzipien, die unser staatliches Leben tragen sollten. Wenn Sie
dieses Prinzip aufgeben — und Sie könnnen es nur entweder ganz aufgeben oder ganz respektieren —, dann verändern Sie die Verfassung in ihrem Kerne. Sie nehmen ihr dann den Rang, den sie nach dem Willen des Verfassungsschöpfers haben sollte und den das Grundgesetz haben muß, wenn es mehr sein soll als nur ein Modus vivendi von Fall zu Fall. Was Sie da wollen, das ist keine vom Grundgesetz erlaubte Verfassungsänderung mehr, sondern die Aufhebung eines diese Verfassung selbst ausmachenden Prinzips.
Mit der Veränderung des Art. 79 ändern Sie nicht
eine Wand des Hauses ab, sondern Sie nehmen
damit dem Fundament einen tragenden Eckstein.
Man kann nicht, ohne eine Verfassung umzustülpen, die Sperren beseitigen, die die Verfassung zum Schutze ihrer Fundamente aufgerichtet hat. Sie haben doch sonst immer sehr gern, und mit Recht, für überpositives Recht plädiert, das auch den Gesetzgeber bindet und binden muß. Ich habe den Eindruck, daß man heute von der Vorstellung eines überpositiven Rechtes übergeht zu einem Überpositivismus, der noch über das hinausgeht, was das 19. Jahrhundert in die Welt gesetzt hat, und dessen Unverständnis für das, was eine wirkliche Verfassung ist, einiges dazu beigetragen hat, die Weimarer Republik in allen legalen Formen Rechtens ruinieren zu lassen. Einige der Thesen, die hier vertreten worden sind, machen schlechthin alles möglich.
Noch einige Worte zum neuen Art. 142 a. Alle anderen Staaten, die Partner dieses Vertragswerks sind, haben seine Bestimmungen an den Normen ihrer Verfassung gemessen und gewertet. Wir werden künftig unsere Verfassung an den Bestimmungen dieser Verträge messen müssen. Wir werden so viel Verfassung haben, wie die Verträge uns zugestehen. Die Abschaffung der Todesstrafe haben sie uns gelassen. Danach, Herr Dr. Jaeger, beanspruchen also offensichtlich die Verträge dort, wo solche Konzessionen nicht explizit gemacht worden sind, den Vorrang vor unserem Grundgesetz.
Wo die anderen Länder fanden, daß gewisse Verträge einzelnen Bestimmungen, — aber natürlich nicht dem Kern — ihrer Verfassungen vorzuziehen seien, haben sie ihre Verfassungen im einzelnen abgeändert. Das ist der rechte Weg. Wir haben, vor allem im ersten Bundestag, häufig genug verlangt, daß man vor Inkraftsetzung der Verträge das Grundgesetz entsprechend ändern möge, d. h. daß man seinen Text in all den Einzelheiten abändern möge, in denen die Einzelheiten der Verträge unserer Verfassung widersprächen.
Aber genau das tut man nicht, sondern man unterstellt einfach das Grundgesetz im ganzen den Verträgen. Damit macht man eben diese Verträge zur Oberverfassung, zur freiwillig übernommenen Oberverfassung, Herr Kollege Gerstenmaier, im Gegensatz zum oktroyierten Besatzungsstatut.
— So viel Theologie verstehe ich nicht, Herr Kollege.
Ich kann Ihnen also nicht folgen.
Wirklich?
Man hat darauf hingewiesen, daß ja schon einmal so etwas gemacht worden sei, nämlich mit dem Versailler Vertrag. Das ist richtig. Aber die Beziehung der Weimarer Verfassung auf diesen Vertrag wurde uns aufgezwungen unter der Drohung, im Weigerungsfalle die Kanonen sprechen zu lassen. Heute übernehmen wir eine solche Unterstellung freiwillig, und das ist nicht gut.
Es ist hier schon davon gesprochen worden, daß es sich manchmal nicht so sehr darum handle, die Grundlagen für eine Wehrverfassung zu schaffen, als vielmehr die Zweifel „im Wege authentischer Interpretation" zu beseitigen, um so das Vertragswerk in Karlsruhe kugelfest zu machen. Man will also die formalen Voraussetzungen für die Einstellung eines vor dem Verfassungsgericht schwebenden Verfahrens schaffen.
Man hat uns vorgeworfen, daß wir an die Stelle politischer Entscheidungen den Gang zur Richterbank gesetzt hätten. Nun, meine Damen und Herren, wir haben diesen Gang zur Wahrung des Rechtes getan, auf das unser Volk in diesem Grundgesetz sein Leben hat stellen wollen. Sie setzen an die Stelle der politischen Entscheidung, den Rechtsstaat in allen seinen Konsequnzen auch dann ernst zu nehmen, wenn es unbequem ist, das Finessieren mit dem Recht. An einem solchen Unternehmen mitzuwirken, verbietet uns nicht nur unser Widerstand gegen die Politik des EVG-Vertrags; daran mitzuwirken verbietet uns in erster Linie der Respekt vor den Prinzipien, auf die unser Volk seine Zukunft hat stellen wollen.