Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich. Es gibt keine weiteren Verän-derungen der gestern modifizierten Tagesordnung, so-dass wir gleich mit dem Tagesordnungspunkt 16 sowiedem Zusatzpunkt 7 beginnen können:16 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steige-rung der Attraktivität des Dienstes in der
Drucksache 18/3697Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, DorisWagner, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMehr Gerechtigkeit bei der Entschädigungvon EinsatzunfällenDrucksachen 18/2874, 18/3126Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Bundesministerin der Verteidigung, Ursulavon der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen undHerren! Wer heute einen Computer kaufen will, der re-cherchiert erst einmal im Internet und schaut im Ver-gleich zu anderen Computern, was er kostet, was er leis-ten kann, und vor allem, wie andere die Leistung desComputers bewerten. Das heißt, niemand kauft mehr diesprichwörtliche Katze im Sack. Genauso ist das heuteauch auf dem Arbeitsmarkt. Wenn man sich irgendwobewerben will, geht niemand mehr zum „Arbeitgeber imSack“. Vielmehr schauen die jungen Leute ganz genau,wohin sie gehen und wie vor allem andere das bewerten.Umfragen zufolge schaut jeder Dritte im Internet, wieArbeitgeber bewertet werden, was sie bieten, was siekönnen, ob es sich lohnt, sich dort zu bewerben, und wieandere über den jeweiligen Arbeitgeber sprechen. Wirhaben uns deshalb einmal angeschaut, wie die Bundes-wehr bei einem Jobzufriedenheitsbarometer abschneidet.Da stehen dann zum Beispiel als Pros: „Gutes Gehalt– Gute Ausbildung – Gutes Essen“, und als Kontras: „Zukleine Betten – Standortwechsel sehr schwer“. Dieseskleine Beispiel macht sehr deutlich, wie vollständig sichder Arbeitsmarkt inzwischen gedreht hat. Die jungenMenschen stehen nicht mehr Schlange nach offenenAusbildungsstellen. Vielmehr sitzen wir, die Bundes-wehr, buchstäblich mitten im Schaufenster neben vielenanderen Arbeitgebern und werden ganz kritisch beäugt.Der Arbeitsmarkt hat sich inzwischen so gedreht, dasses seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschlandnoch nie so viele offene Stellen in deutschen Betriebengegeben hat. Offene Stellen heißt: Man kann sie nichtmehr besetzen, weil man keine qualifizierten Bewerbe-rinnen und Bewerber findet. – Wenn man sich die Be-rufe, die offene Stellen bieten, anschaut, dann stellt manfest, dass es sich genau um die Berufsfelder handelt, indenen auch wir händeringend suchen: Logistik, Technik,Ingenieur- und Gesundheitswesen.Schauen wir uns auch einmal an, was die Betriebe denBewerbern auf dem Arbeitsmarkt alles anbieten. Die Be-triebe bieten den Azubis Begrüßungsgeld, Auslandsauf-enthalte und teilweise schon einen Dienstwagen, um zur
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Arbeit zu kommen. Arbeitgeber konkurrieren um dieklügsten, um die geschicktesten Schulabgänger, und wirsind mittendrin und müssen uns dem auch stellen. Wirhaben keine Wehrpflicht mehr. Die Jahrgänge werdenkleiner. Das heißt, wir müssen uns bei einer schrump-fenden Rekrutierungsbasis gegen eine wachsende Kon-kurrenz behaupten, und das bei einer veränderten,schwierigeren sicherheitspolitischen Lage, die wachsendeHerausforderungen an uns stellt.Meine Damen und Herren, wenn wir eine starke, eineeinsatzfähige, eine flexible Bundeswehr haben wollen,dann kommen wir gar nicht mehr darum herum, uns umdie Attraktivität der Bundeswehr zu kümmern.
Vor diesem Lagebild müssen wir uns zentrale Fragenstellen.Die erste ist: Sind wir präsent genug bei den jungenLeuten, die sich potenziell für einen Arbeitgeber ent-scheiden? Genau hier ist der Anfang der Agenda Attrak-tivität. Wir sind im letzten Jahr neue Wege gegangen,wir sind ungewöhnliche Wege gegangen. Wir haben unsdeutlich geöffnet, wir sind in Medien hereingegangen,die typischerweise nicht über die Vielfalt und die Aus-prägung der Bundeswehr berichten. Das geht nicht ohneSchrammen ab. Da gibt es auch schon einmal Hohn undSpott. Aber die Bundeswehr ist sichtbarer geworden.Wenn man sich die Liste der Top-100-Arbeitgeber imIT-Sektor anschaut, dann stellt man fest, dass die Bun-deswehr zum allerersten Mal in dieser Liste vertreten ist,und zwar im guten Mittelfeld. Nur damit man weiß, werganz oben ist: Das sind Google, SAP und BMW. Mit de-nen konkurrieren wir.Bei Schülerinnen und Schülern ist die Bundeswehr imletzten Jahr auf Platz 2 der interessantesten und belieb-testen Arbeitgeber aufgestiegen, bei denen man sichpotenziell bewirbt. Warum sind die Schülerinnen undSchüler so wichtig? Wir wissen, dass die Jahrgängeschrumpfen. Bald werden wir 600 000 junge Menschenin den Jahrgängen der Abschlussklassen haben. Wirbrauchen 60 000 Bewerbungen, um genügend jungeLeute zu rekrutieren, und zwar nicht nur in der Masse,sondern auch in der Qualität. Das heißt, es ist nötig, dasssich 10 Prozent eines Jahrgangs potenziell bei uns be-werben. Kein anderes Unternehmen in Deutschland hatso hohe Ansprüche.Konkret zeigt sich, dass wir sichtbarer geworden sind:Die Bewerberzahlen sind so hoch wie seit Jahren nicht.Das ist gut. Wir haben rund 11 000 freiwillig Wehr-dienstleistende. Das ist mit der höchste Stand seit demAussetzen der Wehrpflicht – und das bei einer Erwerbs-quote, die noch nie so hoch war wie jetzt. Was mich per-sönlich besonders freut: Noch nie haben sich so vielejunge Frauen bei der Bundeswehr beworben. Das zeigt,meine Damen und Herren: Wir wagen diese Öffnung,wir sind andere Wege gegangen, wir haben die Informa-tionskampagne breit angelegt; und die ist richtig, siezahlt sich aus.
Die zweite Frage: Holen wir die jungen Menschen,wenn sie dann zu uns kommen, in ein modernes Arbeits-umfeld? Meine Antwort ist: Das ist das Ziel, aber es istauch ein langer Weg dorthin. Genau dafür haben wir dieAgenda Attraktivität auf den Weg gebracht. Da geht esum selbstbestimmtes Arbeiten, flexible Dienstzeiten, esgeht natürlich um den Verdienst, um soziale Absiche-rung, Karriereaussichten, familienfreundliches Klimausw. usf. In allen diesen Feldern müssen wir besser wer-den.Ich will damit sagen: Mit der Agenda und dem Arti-kelgesetz sind wir gewiss kein Trendsetter in Deutsch-land, sondern wir gehen jetzt ganz viele Dinge an, die ei-gentlich woanders schon Selbstverständlichkeiten sind.Mit dem Artikelgesetz garantieren wir zum Beispiel un-seren Soldatinnen und Soldaten hier in Deutschland zumersten Mal seit Bestehen der Bundeswehr eine geregelteDienstzeit im regulären Betrieb. Ich halte das für eineSelbstverständlichkeit.Ich bekomme ganz oft zu hören: Ja, aber das ist keinBeruf wie jeder andere. – Natürlich ist Soldat oder Sol-datin zu sein kein Beruf wie jeder andere; denn dieseMenschen sind bereit, im Ernstfall im Auslandseinsatzihr Leben für Freiheit und Demokratie einzusetzen, weildie Parlamentsarmee diesen Auftrag bekommen hat. Istdas denn ein Grund, weil sie mehr einzusetzen bereitsind als jeder andere und das eben kein Beruf wie jederandere ist, sie hier zu Hause schlechter zu behandeln alsandere? Nein, im Gegenteil, wir müssen sie besser be-handeln, und deshalb ist es jetzt auch allerhöchste Zeit,aufzuholen.
Mit dem Artikelgesetz erhöhen wir zum ersten Malseit der Wiedervereinigung Zulagen für soldatenspezifi-sche Tätigkeiten. Diese Zulagen sind berechtigt. Ichspreche von U-Boot-Fahrern, ich spreche von Minentau-chern, ich spreche von Kampfmittelräumern. Das sindMenschen, die mit großer Expertise, mit großem Finger-spitzengefühl einen hochriskanten Job ausüben. Dasmuss bezahlt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir verbessern die soziale Absicherung der Soldatin-nen und Soldaten durch eine verbesserte Nachversiche-rung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Wir über-holen da nicht alle anderen; wir holen da gerade einmalauf.Auch unterhalb der Gesetzesschwelle modernisierenwir; Stichworte sind: Onlinebewerbungsmöglichkeiten– ich habe eben vom Verhalten junger Menschen er-zählt –, Ausbau der Kinderbetreuung, freie Kommunika-tion im Einsatz, betriebliches Gesundheitsmanagement.Meine Damen und Herren, wir tun das nicht, weil wirAltruisten sind, weil wir Gutmenschen sind, sondern wirtun das, weil wir unseren Soldatinnen und Soldatenenorm viel abverlangen. Wir wollen die besten; wir
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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brauchen die besten. Also müssen wir auch die bestenArbeitsbedingungen bieten.
Zu den Unterkünften. Ich gebe unserem Wehrbeauf-tragten recht: Wir haben gute Unterkünfte – gar keineFrage –; es gibt aber auch Unterkünfte, die einfach ma-rode sind. Da geht es zunächst einmal um Geld. In dennächsten drei Jahren investieren wir auf der Grundlageeines Sofortprogramms 750 Millionen Euro in die Sanie-rung von Unterkünften. Die ersten Arbeiten konnten inden letzten Monaten bereits erledigt werden. Als wir dieAnalyse der Unterkünfte gemacht haben, haben wir3 100 Sofortmaßnahmen identifiziert, also Maßnahmendort, wo es allerhöchste Zeit ist. Davon sind 800 inzwi-schen abgeschlossen.Neben Geld geht es in diesem Zusammenhang auchum Geschwindigkeit. Alle hier im Raum wissen, wie zähund mühsam es bisweilen ist, Geld, das wir haben, aufdie Straße bzw. in die Gebäude zu bringen, sodass einBau oder eine Sanierung tatsächlich beginnen und auchabgeschlossen werden kann. Das heißt, es geht um dieVerfahren. Wir haben die Verfahren durchforstet. Mankann nicht alles beschleunigen – das weiß ich auch –;aber man kann manches beschleunigen.Wir werden uns jetzt mit den anderen Beteiligten zu-sammensetzen, nicht nur mit denen auf Bundes-, son-dern vor allem mit denen auf Landesebene. Ich kannnämlich nicht verstehen, dass die Dinge so langsam vor-angehen. Es haben alle etwas davon, wenn es schnellergeht: Es haben nicht nur die Soldatinnen und Soldaten inihren Unterkünften etwas davon, wenn dieses Geld jetzttatsächlich eingesetzt wird, das heißt, wenn saniert wird,sondern auch die lokalen Baufirmen und Handwerksun-ternehmen. Es sollte also im gemeinsamen Interesse vonuns und den Ländern liegen, dass die Verfahren schnellerumgesetzt werden.
Ich möchte unserem Wehrbeauftragten an dieserStelle noch einmal ausdrücklich für seine konstruktivenHinweise in diesem „Jahr der Wahrheit“, wie er es in sei-nem Jahresbericht 2014 nannte, danken. Mein Dank giltauch dem Vorsitzenden des Deutschen BundeswehrVer-bandes, Oberstleutnant Wüstner. Denn sein ständigerkritischer Blick und der seines Verbandes helfen uns,Schwachstellen offenzulegen. Das ist ein Ansporn, tieferzu bohren, Lösungen zu finden und aus der Truppe ganzviel darüber zu erfahren, wie die Dinge tatsächlich ste-hen.Da wir bei den Bruchstellen sind: Natürlich sind nichtnur die Arbeitsbedingungen wichtig, sondern auch dieAusstattung ist wichtig. Wir haben im Herbst dieAgenda Rüstung auf den Weg gebracht. Das ist einThema für eine andere Debatte. Ich will dazu nur so vielsagen: Wir haben erhebliche Probleme, wir haben vieleSchwierigkeiten offengelegt, auch und gerade bei uns.Dass wir die Ursachen kennen, heißt aber noch langenicht, dass alle Fehler der Vergangenheit damit abge-stellt sind. Vor uns liegt noch eine lange Buckelpiste.Aber wir wissen, was zu machen ist, wo wir besser wer-den müssen, und vor allen Dingen, dass wir mit der In-dustrie mehr Tacheles reden müssen, was Lieferungenangeht.
Meine Damen und Herren, ohne moderne Ausrüstungist die Bundeswehr weder attraktiv noch einsatzfähig.Das heißt, es geht bei Attraktivität und Ausrüstung nichtum ein Entweder-oder, sondern es geht um ein Sowohl-als-auch, und das wollen wir auf den Weg bringen.
Wenn wir das Artikelgesetz in Kraft gesetzt haben, istdie erste wichtige Etappe geschafft. Wir feiern in diesemJahr 60 Jahre Bundeswehr. Wenn man einmal zurück-schaut, dann sieht man, dass es viele Abschnitte mit spe-zifischen Schwierigkeiten, Herausforderungen und Be-sonderheiten gab: die Zeit des Aufbaus, den KaltenKrieg, die Wiedervereinigung, internationale Einsätze– ich erinnere zum Beispiel an unsere Erfahrungen inAfghanistan –, die Aussetzung der Wehrpflicht, die Neu-ausrichtung. In jeder Phase haben wir gelernt; in jederPhase sind wir weitergekommen.Wichtig ist, dass wir, wenn wir jetzt die nächstenSchritte gehen, uns nicht nur über die ersten zartenPflänzchen des Erfolges, wenn ich das einmal so nennendarf, freuen und die Hände in den Schoß legen, wenn dasArtikelgesetz in Kraft ist. Denn Attraktivität ist keineEinmalaktion, sondern bedeutet tägliche Arbeit. Wir allewissen, dass sich die Attraktivität eines Arbeitsplatzesauch, aber nicht nur durch Paragrafen und Finanzen stei-gern lässt; sie muss auch gelebt werden.Damit will ich sagen: Vor uns liegt kein Sprint, son-dern vor uns liegt ein ziemlicher Marathon. Dieser Lauferfordert Hinsehen, Prüfen, Handeln, Tempo vor allem;und dafür, meine Damen und Herren, ist insbesondereauch die Unterstützung des Parlaments wichtig. Ichkonnte mir dieser immer gewiss sein. Ich weiß, dass dieBundeswehr sich dieser auch in den vergangenen 60 Jah-ren gewiss sein konnte. Ich bitte um Ihre Unterstützungauch in diesem Falle.Vielen Dank.
Christine Buchholz ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-desregierung will mit dem vorliegenden Gesetz die At-traktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber steigern;
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Christine Buchholz
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denn der Dienst ist mehr als unattraktiv, und die Neube-werberquoten bei der Bundeswehr fallen seit Jahren. DerGrund dafür liegt aber nicht in erster Linie am Zustandder Kasernen oder an zu kleinen Betten oder an derwachsenden Konkurrenz am Arbeitsmarkt; das Kernpro-blem liegt in der ganzen Ausrichtung der Truppe.
Die Bundesregierung weitet die Auslandseinsätze im-mer weiter aus. Gerade gestern haben wir Soldaten an ei-nen neuen Kriegsschauplatz geschickt, nämlich in denIrak. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt solche Ein-sätze ab. Und ich sage Ihnen: völlig zu Recht.
Bevor Sie überlegen, wie die Bundeswehr ein attrakti-ver Arbeitgeber sein könnte, sollten Sie sich fragen: Wo-für haben über 50 deutsche Soldaten im Kampfeinsatz inAfghanistan ihr Leben verloren? Wie viele Afghanenwurden durch den Einsatz der Bundeswehr getötet?Denn das sind die Fragen, die junge Frauen und Männerund ihre Familien umtreiben, wenn sie über ihre Per-spektiven und auch über die Rekrutierungsversuche derBundeswehr reden. Deshalb gehen so wenig junge Leutezur Bundeswehr. Und ich sage Ihnen: Das ist auch gutso.
Für die Linke geht es nicht darum, die Bundeswehr inihrer jetzigen Ausrichtung attraktiver zu machen; unsgeht es auch in dieser Diskussion darum, die Belastungfür die Soldatenfamilien zu senken. Denn auch das ge-hört zur Wahrheit: Die Umgestaltung der Bundeswehr zueiner Armee im globalen Dauereinsatz wird auf dem Rü-cken der Soldatinnen und Soldaten und ihrer Familienausgetragen. Mit diesem Gesetz, Frau von der Leyen,wollen Sie jetzt einen Widerspruch überbrücken, dernicht zu überbrücken ist.
Auch wenn wir die Absicht hinter dem Gesetz ableh-nen, heißt das nicht, dass wir uns gegen jede einzelneMaßnahme stellen. Schauen wir uns die Beispiele ge-nauer an:Die Arbeitszeit. Bisher war die Arbeitszeit für Solda-ten gesetzlich nicht geregelt und der Willkür der Vorge-setzten unterworfen.
Nun soll sie geregelt werden, und das ist eine seit Jahr-zehnten überfällige Beendigung eines arbeitsrechtlichenNiemandslandes. Allerdings: Mit dem neuen Gesetzwird eine Lücke gelassen, die den Vorgesetzten weiter-hin zu viele Spielräume lässt. Beispielsweise gibt esAusnahmeregelungen, soweit es die Besonderheiten desDienstes erfordern. Wir denken, dass das zu viele Spiel-räume sind, die dann wieder dazu führen, dass die Ar-beitszeit willkürlich ausgedehnt wird. Im Übrigen giltdie 41-Stunden-Woche nach der Gesetzesvorlage nichtfür Soldaten im Auslandseinsatz, auf See oder in Manö-vern, sondern nur im Grundbetrieb in Deutschland. InSanitätseinrichtungen der Bundeswehr soll weiterhin so-gar bis zu 54 Stunden in der Woche gearbeitet werden.Das sind keine attraktiven Arbeitszeiten.
Sie wollen den Eindruck erwecken, die Bundeswehrwürde auch auf die Familien und den Einzelnen Rück-sicht nehmen. Das gilt allerdings nur so lange, wie dieVereinbarkeit von Familie und Dienst nicht im Wider-spruch zur Verwendung im Ausland steht.Auch die Teilzeitmöglichkeiten, die für die Berufssol-daten jetzt diskutiert werden, bestehen nur, wenn einKind oder ein pflegebedürftiger Angehöriger tatsächlichzu Hause betreut wird – dies auch nur nach einer Dienst-zeit von vier Jahren und auch nur, soweit dienstlicheGründe nicht entgegenstehen. Und: Sie gelten mithinnicht für Soldaten im Auslandseinsatz. Tatsächlich lehntes das Ministerium bis heute ab, alleinerziehende Väterund Mütter von Kindern unter drei Jahren von diesenEinsätzen auszunehmen. Das zeigt doch, wie weit es mitder Familienfreundlichkeit her ist.Frau von der Leyen, Sie wollen jetzt mit Lockprämienund Zulagen Anreize schaffen, dass junge Menschen indie Bundeswehr kommen. Sie haben eben noch einmalsehr plastisch gesagt, was für ein Druck da auf Ihnen las-tet. Ich will Ihnen ganz klar sagen: Auch bei dieser Ab-sicht, zum Beispiel die Stellen- oder Erschwerniszulagenzu erhöhen, sehen wir ganz genau, wo der Hase eigent-lich längs läuft. Seit 1990 wurden die Zulagen etwa fürFeldwebel nicht mehr erhöht. Sie sollen nun um 80 Euroangehoben werden, doch die Kommandosoldaten imEinsatz sollen eine Sonderzulage von 900 Euro bekom-men.
Ich sage Ihnen: Die Linke ist dagegen, dass Einheitenwie das Kommando Spezialkräfte, die in Afghanistan ei-nen geheimen Krieg an der Seite der US-Armee führen,belohnt werden. Sie müssen aufgelöst werden.
Richtig ist: Soldatinnen und Soldaten leiden unterdenselben sozialen Problemen wie viele Beschäftigte inden zivilen Bereichen. So führt die verbreitete Einstel-lung von Soldaten auf Zeit zu enormen Problemen. Wasmachen diese Zeitsoldaten nach zwölf Jahren? Wie istdas mit der Altersabsicherung? Das ist übrigens ein Pro-blem, das Millionen von Familien in Deutschland haben,die durch die Einführung grundlos befristeter Arbeits-verträge und die Absenkung des Rentenniveaus in so-ziale Unsicherheit gestürzt werden.Bei den Soldaten fällt Ihnen nun auf, dass die Alters-bezüge in den nächsten Jahren nicht ausreichend seinwerden. Das ist erfreulich, weil es einen gewissen Er-kenntnisgewinn darstellt. Aber Sie wollen jetzt mit dem
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Gesetz für Soldaten Sonderbemessungsgrenzen zur Er-höhung von Rentenansprüchen einführen, von denen imÜbrigen vor allen Dingen die hohen Besoldungsgruppenprofitieren werden. Die Linke bleibt bei ihrer Forderung,die Beitragsbemessungsgrenzen für alle Beschäftigten ineiner solchen Art und Weise anzuheben, damit alle Be-schäftigten und Soldaten eine armutssichere Rente erhal-ten.
Ich fasse zusammen: Es mag Sie wundern, aber wirsind nicht dagegen, dass die Einkommenssituation unddie soziale Absicherung für die niedrigen und mittlerenDienstgrade in der Bundeswehr verbessert werden. Aber– Frau von der Leyen hat dies ja eben noch einmal sehrdeutlich gemacht – das Gesetz fügt sich in eine ganzeReihe von Maßnahmen des sogenannten Attraktivitäts-programms ein. Und dieses ganze Programm zielt daraufab, mehr junge Menschen in die Einsätze der Bundes-wehr zu locken. Diese Absicht lehnen wir ab.Frau von der Leyen, machen Sie den Leuten nichtsvor! Es geht nicht darum, ihnen eine persönliche Le-bensperspektive zu schaffen, sondern es geht darum, dieBundeswehr als Armee im Einsatz handlungsfähig zumachen. Wir werden diesen Weg nicht mitgehen.
Rainer Arnold erhält nun das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nurein Satz zu den Linken – es sitzen ja auch Soldaten hierim Saal –: Würden Sie und Ihre Fraktionsspitze den Sol-daten einfach mal sorgfältiger zuhören, dann würden Siemerken, was Sie hier für falsche Thesen aufstellen undwie sehr Sie insgesamt mit Ihrer Sichtweise im Abseitssind.
Nun zum Thema selbst: Die Bundeswehr war in denletzten Monaten häufig in den Schlagzeilen. Das warnicht immer erfreulich; wir wissen das. Es ging vorwie-gend um fluguntaugliche Hubschrauber, Panzer, die dieAnforderungen nicht erfüllen, defekte Schiffe, Flieger,die nicht geliefert werden, und um vieles andere mehr.
Natürlich sind diese Themen wichtig, auch für uns imVerteidigungsausschuss, und natürlich ist es für jungeMenschen unter der Überschrift „Attraktivität“ wichtig,modernes Gerät zu haben, funktionierende Computerüberall, wo sie sind, und Zugang zum Internet auch aufdem Schiff. Manchmal hatte ich aber den Eindruck, vieleglauben, diese technologischen Herausforderungen sinddas Allerwichtigste. Nein, das Allerwichtigste bei denStreitkräften sind die Menschen. Es ist die größte He-rausforderung, in den nächsten Jahren nicht nur genü-gend Menschen zu finden, sondern die richtigen jungenLeute für die Streitkräfte zu finden. Das wird aus dreiGründen bei der Bundeswehr besonders schwer.Der erste ist klar: Mit der Abschaffung der Wehr-pflicht haben wir eine neue Herausforderung. Die Bun-deswehr selbst muss stärker werden als in der Vergan-genheit.Zweitens. Die demografische Entwicklung ist eindeu-tig. Der Kampf um die qualifizierten jungen Leute wirdauch im öffentlichen Dienst schwieriger werden. In zehnJahren werden doppelt so viele Erwerbstätige aus demBerufsleben ausscheiden, wie junge nachkommen.Der dritte Punkt ist die größte Herausforderung. DerSoldatenberuf ist sehr viel anspruchsvoller geworden,als dies vor 20 oder 30 Jahren der Fall war.Mir hat der Verteidigungsminister eines großen Bünd-nispartners einmal gesagt: Herr Arnold, wissen Sie, wirbrauchen Kluge, wir brauchen aber auch Doofe. Das istein nahezu wörtliches Zitat. Ich bin erschrocken. Er lagso etwas von falsch. Wir brauchen ausschließlich kluge,qualifizierte junge Leute, weil die Herausforderungenauch für den Mannschaftssoldaten, für den Infanteristenanders sind als für den Panzergrenadier vor 20 Jahren.Der Beruf ist komplex, auch in Bezug auf die technolo-gische Logistikkette. Junge Leute müssen im Einsatzkämpfen können. Sie müssen polizeiähnlich arbeitenkönnen. Sie müssen Rechtskenntnisse haben. Sie müssenSprachkompetenz haben. Sie müssen interkulturelleKompetenz haben. Dies erwarten wir von 22-jährigenFrauen und Männern. Ich stelle mir einmal vor, wie eineAusschreibung mit diesem Profil in der Wirtschaft aus-sehen würde. Dort stünde dann: vom Meister an auf-wärts. Entsprechend müsste auch die Bezahlung sein.Darüber hinaus müssen sie noch Auftragstaktik beherr-schen und die Prinzipien der Inneren Führung vorlebenund mitgestalten.Anders als in Firmen kann man bei der Bundeswehrangesichts der Demografie die Produktivität nicht ein-fach steigern. Die Zahl der Soldaten und Zivilbeschäftig-ten bewegt sich eher an der unteren Grenze. Es gibt imAugenblick viele Bereiche, bei denen es hinten undvorne fehlt, auch an Personal. Das führt dann zur Belas-tung einzelner und senkt die Attraktivität.Die vorliegende Reform ist ein ganz wichtiger Schritt.Die Frau Ministerin hat gesagt, dass das nicht alles ist.Am allerwichtigsten ist eigentlich Planbarkeit im Solda-tenberuf. Das sagen uns viele Soldaten. Daran gilt es si-cherlich auch noch zu arbeiten.Es wurde viel über Unterkünfte gesprochen. Das ge-hört natürlich dazu. Ich erinnere daran, dass die Koali-tionsfraktionen im Zuge der Haushaltsberatungen einenAntrag eingebracht haben. Wir fänden es gut, wenn Sieihn jetzt umsetzten. Wir freuen uns auf den Bericht, wiees jetzt konkret weitergeht.
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Rainer Arnold
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Diese Attraktivitätsagenda ist aber in der Tat ein sehrgroßer Schritt, einer der größten in der Zeit, seit ich imParlament bin. Es zeigt sich auch an dieser Stelle: Es isteinfach gut, wenn Sozialdemokraten mit in Regierungs-verantwortung sind.
– Ja, ja, ja. – Denn vieles von dem, was jetzt getan wird,entspricht jahrelangen Forderungen. Wenn wir es jetzt inder Koalition mit der CDU/CSU schaffen, diese gemein-sam umzusetzen, dann ist das sehr vernünftig.
Wir haben dies ja im Koalitionsvertrag fixiert. Es ist ein-fach so. Ich kann es noch vertiefen, lieber Karl, da dujetzt ein bisschen schmunzelst. Das Motto „Gute Arbeitunserer Partei in dieser Regierungskoalition“ endet fürSozialdemokraten eben nicht am Kasernentor.
„Gute Arbeit“ gilt auch für Soldaten.
Es ist ein ganz besonderer Verdienst der Ministerin,dass sie bei den Beratungen in den letzten Monaten man-chen Knoten durchschlagen hat und Dinge erreicht hat,die ihre Vorgänger noch als undenkbar abqualifiziert ha-ben. Das ist Ihr Verdienst. Darüber sind wir froh. In die-sem Bereich haben Sie auch unsere volle Unterstützung.Dazu gehört insbesondere, dass Schluss gemacht wirdmit Überstunden ohne Achtsamkeit; 58 Stunden imDurchschnitt beim Heer. Ein Unternehmen, das von58 Arbeitsstunden in der Woche ausgeht, muss sichüberlegen, was schiefläuft. Deshalb ist eine gesetzlicheArbeitszeitregelung so wichtig. Das ist für uns einer derwichtigsten Punkte.Ich nenne ein weiteres Beispiel. Wir erhöhen jetzt4 Stellen- und 16 Erschwerniszulagen. Ganz wichtig ist,dass die Kompaniefeldwebel dabei sind. Sie prägen dasImage der Truppe nach innen und nach außen. Sie be-kommen zukünftig um 40 Prozent höhere Zulagen.Wir müssen aber auch aufpassen, dass uns dieses Zu-lagenwesen nicht entgleitet. Deshalb freuen wir uns,Frau Ministerin, dass Sie den Vorschlag aufnehmen wol-len, eine Kommission einzusetzen, die den Wildwuchsim Zulagenwesen durchforstet und bis zum Ende derLegislaturperiode einen Vorschlag macht, wie man Ge-haltsstrukturen im öffentlichen Dienst gerade im techni-schen Bereich so gestalten kann, dass sie wettbewerbsfä-hig sind. Vielleicht ist das auch ein Zeichen für andereRessorts in der öffentlichen Verwaltung. Wir sind sehrfroh darüber und halten dies für notwendig und gut.Zulagen haben dort einen Sinn, wo es gilt, wirklicheNachteile auszugleichen. Fallschirmspringer oder Tauchermüssen mehr für ihre privaten Versicherungen bezahlen.Deshalb sind dort Zulagen auf lange Sicht erforderlich.Aber Zulagen als Heftpflaster, weil das Gehaltsgefügenicht mehr stimmt, können auf Dauer nicht zukunftsfä-hig sein.
Wichtig ist auch: Die Bundeswehr muss ihr eigenerWerbeträger werden. Natürlich muss es uns ein Stückweit Sorgen machen, wenn in einer Umfrage 90 Prozentder Soldaten sagen, sie würden ihren Kindern nicht emp-fehlen, diesen Beruf zu wählen. Deshalb ist dieses At-traktivitätsprogramm aus vielfacher Hinsicht so wichtig.Es ist vor allen Dingen auch ein neuer Schritt. Die Maß-nahmen in den letzten Jahren waren in erster Linie da-rauf ausgelegt, neues Personal zu rekrutieren und anzu-werben; manchmal auch mit Farbprospekten, die dieWirklichkeit nicht so sehr abgebildet haben. Wenn 30 bis40 Prozent der Rekruten in den ersten drei Monaten wie-der gehen, dann sehe ich die Verantwortung in erster Li-nie nicht bei den jungen Menschen, sondern bei unsererRekrutierungsorganisation, die dafür sorgen muss, dassdie jungen Menschen mit einem realistischen Bild in dieStreitkräfte eintreten.Neu an diesem Attraktivitätsprogramm ist – und dasist unglaublich wichtig, weil die Bundeswehr selbst derWerbeträger sein muss –, dass zum ersten Mal zusätzlichin den bereits vorhandenen Personalkörper investiertwird. Darüber sind wir ebenso sehr froh.Es wird oft gesagt: Der Soldatenberuf ist etwas Be-sonderes, und deshalb muss man Attraktivität in diesemBereich anders definieren. Solide Bezahlung und faireBedingungen sind die eine Seite – sie sind wichtig –,aber die Soldaten brauchen auch die Wertschätzung unddie Anerkennung des Parlaments und unserer Gesell-schaft insgesamt.
Den Auslandsverwendungszuschlag in Höhe von110 Euro pro Tag bekommen die Soldatinnen und Solda-ten im Einsatz für das Risiko, verwundet oder gar getötetzu werden. Wir dürfen nicht vergessen: Sie gehen in denEinsatz für unser aller Sicherheit, für unsere Interessen.Das ist das Besondere.Soldaten sind nicht nur Fachkräfte für Gewaltanwen-dung. Vielmehr brauchen Soldaten im Einsatz ganz be-sondere Tugenden. Es reicht nicht aus, gut ausgebildetund klug zu sein, sondern sie brauchen auch ein eigen-ständiges politisches Urteilsvermögen, um zu wissen,warum sie im Einsatz sind und was sie leisten sollen. Siemüssen charakterstark, als Person gefestigt sein, sonstkönnen sie solche schwierigen Einsätzen nicht leisten.Nur solche Menschen werden in Krisensituationen demhohen Druck standhalten und physisch und psychisch inschwierigen Einsätzen bestehen. Das Attraktivitätspro-gramm ist ein großer Schritt; denn es geht nicht nur da-rum, genügend Soldaten zu finden, sondern auch darum,die richtigen zu finden.Nichts ist so gut, als dass es nicht auch verbessertwerden könnte. Wir sehen uns als Parlamentarier in derPflicht, im Zuge der Beratungen an der einen oder ande-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7901
Rainer Arnold
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ren Stelle nachzuarbeiten. Ich bin dankbar, dass sich diebeiden Berichterstatter, die Kollegin Noll von der CDU/CSU und Fritz Felgentreu von der SPD, in die kompli-zierten Details hineinknien und zum Beispiel die im Ko-alitionsvertrag getroffenen Vereinbarungen in Bezug aufNachversicherung und die faire Behandlung von Zeitsol-daten, wenn es um die Altersversorgung geht, nacharbei-ten werden.Herzlichen Dank für das Programm insgesamt. MeinDank gilt den beiden Berichterstattern für ihr besonderesEngagement und Ihnen für die Geduld bei meiner Rede.Danke schön.
Das Wort hat nun die Kollegin Doris Wagner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Frau Ministerin! Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Zufall oder Planung? Auf jeden Fallpasst es gut, dass wir das Artikelgesetz in erster Lesungjust in der Sitzungswoche beraten, in der wir auch denneuen Wehrbericht erhielten.Sie, Frau Ministerin, möchten die Bundeswehr zumattraktivsten Arbeitgeber Deutschlands machen. DieFrage ist: Erreichen Sie dieses Ziel mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf? Ich glaube, dass das nur die erstenSchritte des Marathons sind, den Sie ansprachen; dennder vorliegende Gesetzentwurf trägt nicht ausreichenddazu bei, die Probleme der Bundeswehr wirklich zu lö-sen.Die Bundesregierung macht hier in erster Linie denVersuch, den Soldatinnen und Soldaten ihre bitteren Ar-beitsbedingungen mit finanziellen Entschädigungen zuversüßen. Ich bin mir sicher, dass Sie damit das eigentli-che Ziel, nämlich Frauen und Männer für eine Tätigkeitin den Streitkräften zu gewinnen, nicht erreichen wer-den.Frau Ministerin, es ist ein Fehler, dass sie fast aus-schließlich auf die finanzielle Besserstellung der Solda-tinnen und Soldaten setzen; auch Kollege Arnold hatdiese Besserstellung erwähnt. Künftig soll es mehrWehrsold geben – schön! –, neue Zulagen werden einge-führt – auch schön! –, und geschiedene Berufssoldatin-nen und -soldaten dürfen sich darüber freuen, dassmögliche Rentenabzüge im Rahmen des Versorgungs-ausgleichs künftig vom Steuerzahler übernommen wer-den. 14 Millionen Euro kostet diese Sonderregelungjährlich.Das ganze Konzept zur Attraktivitätssteigerung derBundeswehr ist finanziell jedoch absolut auf Kante ge-näht. Wäre das Geld nicht viel besser an anderer Stelleangelegt? Denn – und das ist doch noch wichtiger – der-artige Geldgeschenke sind nicht geeignet, die Zufrieden-heit der Soldatinnen und Soldaten dauerhaft zu steigernoder neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Bun-deswehr zu gewinnen.Die Soldatinnen und Soldaten, insbesondere in denunteren Dienstgraden, verdienen schon heute überdurch-schnittlich gut, und sie müssen keine Beiträge zur Kran-ken- und Rentenversicherung zahlen. Das Zentrum fürMilitärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundes-wehr hat aktuell eine Studie durchgeführt: Mehr als dieHälfte der befragten Bundeswehrangehörigen geben an,mit ihrem Einkommen durchaus zufrieden zu sein. Wassich die Bundeswehrfamilien wünschen, ist doch nicht,dass der Staat die finanziellen Folgen einer Eheschei-dung trägt. Was sich die Soldatinnen und Soldaten wün-schen, ist, dass es gar nicht erst zu einer solchen Schei-dung kommt.
Ihre Ansätze, Frau Ministerin, sind ja nicht ganzfalsch. Aber schauen wir doch einmal ein bisschen ge-nauer hin:Mit Ihrem Gesetzentwurf weiten Sie die Möglichkei-ten zur Teilzeitbeschäftigung deutlich aus; das begrüßeich ausdrücklich. Aber machen die neuen Regelungendie Arbeitszeiten der Soldatinnen und Soldaten tatsäch-lich flexibler, machen sie sie familienfreundlicher? Ichhabe da noch Zweifel. So können etwa Führungskräftenach dem Gesetzentwurf nur dann in Teilzeit gehen,wenn sie die Arbeitszeit im Block reduzieren. Aber washilft mir denn ein ganz und gar arbeitsfreier Freitag,wenn von Montag bis Donnerstag in der Kinderbetreu-ung eine Lücke klafft? Was hilft mir der gesetzliche An-spruch auf eine kürzere Wochenarbeitszeit, wenn diePersonaldecke am Standort derart dünn ist, dass ich mitmeinem Antrag auf Teilzeitarbeit zwangsläufig den Zornmeiner Kolleginnen und Kollegen heraufbeschwöre?Was hilft mir die Möglichkeit, in Teilzeit zu arbeiten,wenn ich dann mit aller Wahrscheinlichkeit meinenDienstposten verlieren werde und mir an einem anderenOrt eine neue Kita oder eine neue Tagesbetreuung su-chen muss?Sie sehen, meine Damen und Herren, mit einem ge-setzlichen Anspruch auf Teilzeit alleine ist es nicht ge-tan. Entscheidend ist doch, ob der Anspruch vor Ortauch umgesetzt werden kann. Deshalb appelliere ich anSie, Frau Ministerin: Sorgen Sie bitte dafür, dass die Sol-datinnen und Soldaten wirklich das Teilzeitmodell wäh-len können, das ihren familiären und persönlichen Be-dürfnissen am besten entspricht, und sorgen Sie bittedafür, dass der Dienstposten auch bei einer Arbeitszeit-reduzierung erhalten bleibt.
Mein zweites Beispiel ist die Pflegezeit. Um Men-schen als Mitarbeiter zu gewinnen, reicht es nicht, übermoderne Konzepte zu sprechen. Zwar taucht der Begriffder pflegebedürftigen Angehörigen schon heute in deneinschlägigen Vorschriften zur Teilzeitarbeit in der Bun-deswehr auf. Tatsächlich sind die Soldatinnen und Sol-daten von den Leistungen des Pflegezeitgesetzes aberausgeschlossen. Warum?, frage ich Sie. Ich kann keinensachlichen Grund für diese Schlechterstellung der Bun-deswehrangehörigen erkennen. Der Bedarf ist doch vor-handen: Schon jetzt pflegen 12 Prozent der über 46-jäh-
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Doris Wagner
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rigen Soldatinnen und Soldaten persönlich einenAngehörigen. Unsere Gesellschaft altert rasant; das wis-sen wir alle. Angesichts dessen ist es doch wesentlich, inwelchem Maße ein Arbeitgeber bereit ist, seine Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter bei der Pflege von Angehö-rigen zu unterstützen. Deshalb, Frau Ministerin, bitte ichSie: Öffnen Sie das Pflegezeitgesetz auch für Soldatin-nen und Soldaten! Geben Sie ihnen die Unterstützung,die sie diesbezüglich brauchen!
Ich möchte noch ein letztes Beispiel anführen, daszeigt, dass Sie mit Ihrem Gesetzentwurf den eigentlichenHerausforderungen ausweichen. Frau Ministerin, Sieselbst führen die Demografie gerne und oft im Munde,meist im Zusammenhang mit der wachsenden Konkur-renz um gutqualifizierte Arbeitskräfte. Was Sie hingegenhöchst selten erwähnen und was ich auch in Ihrem Ge-setzentwurf vermisse, ist Folgendes: Genau wie all diezivilen Unternehmen muss sich auch die Bundeswehrallmählich etwas einfallen lassen, um das vorhandenegute Personal möglichst lange zu halten. Die Bundes-wehr war in den letzten Jahren hauptsächlich damit be-schäftigt, Personal abzubauen; aber jetzt muss sie sichvon dieser Grundhaltung dringend verabschieden. DieStreitkräfte können es sich immer weniger leisten, gute,selbst ausgebildete Mitarbeiter massenhaft aufs Abstell-gleis zu schieben, nur weil diese ein bestimmtes Alter er-reicht haben. Es wird auf absehbare Zeit keine Nach-wuchsschwemme mehr geben. Deshalb sollten Sie dasPersonal, das Sie haben, besser und länger einsetzen.Investieren Sie doch in Maßnahmen, damit Ihnen IhreBelegschaft möglichst lange und fit erhalten bleibt. Wa-rum etwa werden Unteroffiziere automatisch mit 54 Jah-ren in den Ruhestand versetzt? Sollte das nicht nur dannpassieren, wenn sie aufgrund ihrer individuellen Ver-wendung tatsächlich besonderen Belastungen ausgesetztsind? Ich finde, wer länger im Dienst bleiben will, sollteauch eine realistische Chance dazu bekommen.Ich glaube, die Bundeswehr sollte grundsätzlich stär-ker als bisher versuchen, ehemalige Soldaten in zivilenFunktionen weiterzubeschäftigen. Die Bundeswehrmuss auch deutlich flexibler werden, was die Möglich-keit zum Laufbahnwechsel angeht. Schließlich muss dieBundeswehr viel mehr in die physische und psychischeGesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in-vestieren. Was wir dringend brauchen, sind Phantasie,Reformbereitschaft und vorausschauende Investitionen,um Soldatinnen und Soldaten deutlich länger zu haltenals bisher.Frau Ministerin, werte Kolleginnen und Kollegen, esgibt jede Menge Baustellen, an denen diese Regierungansetzen könnte, um die Bundeswehr zu einem moder-neren, familienfreundlicheren und attraktiveren Arbeit-geber zu machen. Leider hat sich das Bundesvertei-digungsministerium in diesem Artikelgesetz dafürentschieden, den derzeitigen und künftigen Soldatinnenund Soldaten den Dienst in der Bundeswehr vor allemdurch finanzielle Anreize schmackhaft zu machen.Ich finde diesen Weg falsch. Er führt nicht zu nach-haltigen Verbesserungen. Deshalb wird dieses Gesetzsein Ziel verfehlen. Das ist sehr bedauerlich. Das ist be-sonders bedauerlich für diejenigen, die den Personal-mangel in der Bundeswehr verwalten müssen, und vorallem für die Soldatinnen und Soldaten; denn sie sind es,die auch weiterhin unter den Arbeitsbedingungen in derBundeswehr zu leiden haben.
Wer seine Familie nur selten sieht, wer seine Eltern inden letzten Lebensmonaten kaum begleiten kann, wersich mit Mitte 50, geschieden und ohne erfüllende Tätig-keit, aussortiert fühlt, dem helfen leider auch die großzü-gigsten Geldgeschenke nichts.Vielen Dank.
Henning Otte ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute geht esum einen sehr wichtigen Gesetzentwurf: um den Ent-wurf eines Gesetzes zur Steigerung der Attraktivität desDienstes in der Bundeswehr. Es war für die Union einganz besonders wichtiger Punkt, dies in den Koalitions-vertrag einzubringen und nun auch umzusetzen. Wir ste-hen immer an der Seite unserer Soldatinnen und Solda-ten. Wir danken unserem Koalitionspartner dafür, dass eruns bei dieser Arbeit unterstützt.
Es geht darum, die Vereinbarkeit von Dienst und Fa-milie zu stärken. Den Kabinettsentwurf könnte man amheutigen Zeugnistag mit einem glatten „sehr gut“ bewer-ten.
Denn die wichtigen Dinge zur Verbesserung der Arbeits-bedingungen, der sozialen Absicherung und auch derVergütung sind dort abgebildet. Das ist wichtig für dieSoldatinnen und Soldaten im Grundbetrieb, im Friedens-betrieb, aber auch im Einsatz. Es ist klar festzustellen,dass es für diesen Entwurf eines Gesetzes zur Verbesse-rung der Vereinbarkeit von Dienst und Familie, sehr ge-ehrte Frau Ministerin von der Leyen, durchaus nützlichist, dass Sie Ihre Erfahrungen als Familienministerin, alsArbeitsministerin und jetzt als Verteidigungsministerinhier sozusagen zusammenfassen. Dadurch ist ein Ent-wurf für die bessere Vereinbarkeit von Dienst und Fami-lie entstanden, der für unsere Soldatinnen und Soldatengut ist. Deswegen sage ich an dieser Stelle ein herzlichesDankeschön.
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Henning Otte
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Ich sage auch einen Dank an die mitberatendenMinisterien, insbesondere an das Innenministerium. Wirbefinden uns in einem sehr konstruktiven und engenAustausch über die Verbesserung der Situation.Ja, es geht vor allem darum, die guten Kräfte in derBundeswehr zu halten. Wir brauchen motivierte Kräfteund müssen auch weiterhin gute Kräfte mit verschiede-nen Fähigkeiten und Talenten für verschiedene Fachrich-tungen gewinnen. Hier müssen wir als großer Arbeitge-ber mit 250 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,militärische wie zivile Kräfte, für uns werben. Wir müs-sen attraktiv sein und uns dem Wettbewerb stellen. DasPrädikat „Attraktiver Arbeitgeber“ wird nicht durchHandauflegen erzielt, sondern durch die Umsetzung kla-rer Attraktivitätsvorteile. Die Freiwilligenarmee Bun-deswehr soll im Vergleich zur privaten Wirtschaft stand-halten.Wenn ich hier im Deutschen Bundestag mit Schul-klassen diskutiere und frage, wer welche Vorstellungenim Leben hat und wie sich die Schüler beruflich entwi-ckeln wollen, dann gibt es auch immer wieder Schülerin-nen und Schüler, die sich für die Bundeswehr interessie-ren. Aber wir müssen die Vorteile, die die Bundeswehrals Arbeitgeber mit sich bringt, noch weiter herausstel-len. Dazu ist dieser Gesetzentwurf wichtig. Wir müssendas Berufsfeld nachhaltiger und attraktiver gestalten.Das wird mit dieser Attraktivitätsoffensive getan. Des-wegen ist es wichtig, dass wir deutlich machen: Der Be-ruf eines Soldaten ist kein Beruf wie jeder andere. Daherist es auch gut, dass es besondere Regelungen im Ver-gleich zum Beamtenrecht gibt, die die besonderen Er-schwernisse und Herausforderungen des Soldatenberu-fes abbilden. Das gilt für den Grundbetrieb, aber ebenauch für den Einsatz. Allein in Afghanistan waren für ei-nen erfolgreichen Einsatz für Frieden, Stabilität, Sicher-heit und Entwicklung über 100 000 Bürgerinnen undBürger Deutschlands in Uniform im Einsatz. Dafür mei-nen ganz herzlichen Dank!
Es ist Ausdruck der Fürsorge für eine Parlamentsar-mee, dass wir uns mit diesem Gesetzentwurf im Rahmender parlamentarischen Beratungen inhaltlich vertieft aus-einandersetzen. Es wird hierzu am 23. Februar diesesJahres eine Anhörung geben, in der wir über die einzel-nen Punkte miteinander sprechen wollen.Es liegt ein Antrag der Fraktion der Grünen vor, indem es um den Stichtag geht. Ich kann nur sagen: Werihn genau liest, stellt fest, dass die darin formuliertenForderungen längst aufgegriffen worden sind. Deswe-gen, glaube ich, ist dieser Antrag überflüssig. Ich möchtedennoch, wenn auch in einem späten Stadium, nochmalsdie Einladung an Sie aussprechen, sich an der Arbeit derKommission zur Parlamentsbeteiligung bei Auslands-einsätzen zu beteiligen. Es ist schade, dass Sie dort nichtmitgemacht haben. Das wäre, glaube ich, ein gutes Si-gnal gewesen.Meine Damen und Herren, Attraktivität hat auch et-was mit dem Wohnumfeld zu tun. Deswegen war eswichtig, dass wir auf Anregung des Jahresberichts desWehrbeauftragten in dieser Woche auch über die Kaser-nen gesprochen haben. Es ist gut, dass die Verteidi-gungsministerin dieses Thema sofort aufgegriffen undgesagt hat: Das ist für die Soldatinnen und Soldatenwichtig. – Deswegen hat sie 750 Millionen Euro in Aus-sicht gestellt, um die Situation zu verbessern. In Zeitendes Einsatzes in Afghanistan mussten wir Schwerpunktebei der Ausrüstung setzen. Aber jetzt ist es an der Zeit,wieder zu investieren, auch in das Wohnumfeld, also vorallem in die Kasernen, die noch nicht den Standard ha-ben, den wir uns wünschen.Attraktivität, Ausbildung und Ausrüstung sind dreiganz wesentliche Faktoren für einen erfolgreichenDienst. Es ist eine gute Maßnahme, dass genau diesesThema im Rahmen der KPMG-Studie aufgegriffen wird.Die Ausrüstung muss zielgerichtet zum vereinbartenPreis und zum vereinbarten Zeitpunkt geliefert werden.Die Soldaten müssen sich, wenn sie in einen Einsatz ent-sandt werden, darauf verlassen können, dass sie ihreAusrüstung bekommen.Wir haben am Beispiel des A400M mit Schreckenfestgestellt, dass sich die Industrie nicht an die Zusagen,von denen wir dachten, sie seien verbindlich, gehaltenhat. Durch so etwas geht Vertrauen verloren. Wir müssenuns schon die Frage stellen, ob nationale Interessen imRahmen der Zusammenarbeit mit einem europäischenKonsortialpartner vielleicht nicht in der Form berück-sichtigt werden, wie wir uns das in Deutschland und alsdeutsches Parlament vorstellen. Die Verantwortung fürunsere Soldatinnen und Soldaten und für ihre Ausrüs-tung tragen in allererster Linie wir als Parlamentarier,aber auch die Industrie. Die Soldatinnen und Soldatenbrauchen die Ausrüstungsgegenstände. Ich kann nur hof-fen, dass die Zusagen seitens der Industrie auf diesemGebiet in Zukunft verbindlicher eingehalten werden;denn Verlässlichkeit darf keine Einbahnstraße sein.Attraktivität, Ausrüstung und Ausbildung sind – ichhabe es gesagt – wichtig für die Zufriedenheit im Grund-betrieb, aber auch notwendig für die erfolgreiche Arbeitim Einsatz, beschlossen durch unser Parlament.Wir haben im Koalitionsvertrag deutlich gemacht:Wir stellen uns einer Verantwortungskultur. Wir habenauch deutlich gemacht, dass die Attraktivitätsoffensiveim Rahmen der Neuausrichtung der Bundeswehr von be-sonderer Bedeutung ist. Das Personal ist das höchsteGut. Der Mensch steht im Mittelpunkt, auch bei derBundeswehr. 22 konkrete Maßnahmen werden im Ge-setzentwurf aufgeführt. Dabei geht es zum Beispiel umZulagen und um die Verbesserung der Nachversiche-rung. Ziel ist es, die Planbarkeit des Dienstes zu erhö-hen. Wir werden jede einzelne Maßnahme bewerten.Insgesamt wird dafür in den nächsten vier Jahrencirca 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt. Das isteine Anerkennung für den Dienst für unser Land. Das istauch ein richtiger Weg zur Steigerung der Attraktivität.„Wir. Dienen. Deutschland.“ lautet die Aussage im Hin-blick auf den Dienst in der Bundeswehr. Die Soldatinnenund Soldaten leisten einen Beitrag zu Sicherheit und Sta-
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Henning Otte
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bilität in unserem Land und zu Frieden und Sicherheitauf unserer Erde.Dafür brauchen wir einen attraktiven Arbeitgeber.Dafür brauchen wir motivierte Soldatinnen und Solda-ten. Dafür brauchen wir eine gute, zukunftsfähige Per-spektive und vor allem die Rückendeckung der Bürge-rinnen und Bürger und auch die Rückendeckung diesesParlaments. Deswegen bitten wir als Union um die Zu-stimmung zu diesem Gesetzentwurf.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Michael Leutert für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Ministerin, Sie haben im Frühjahr letzten Jahreseine Attraktivitätsoffensive angekündigt und das Zielformuliert, dass die Bundeswehr der attraktivste Arbeit-geber im Lande werden soll. Heute liegt uns ein Gesetz-entwurf vor, durch den über zehn Gesetze und Verord-nungen geändert werden sollen, Kostenpunkt: zwischen250 und 300 Millionen Euro im Jahr im Durchschnitt,also die nächsten vier Jahre ungefähr 1 Milliarde Euro.Im Kern geht es – das ist hier schon gesagt worden – umArbeitsbedingungen, höhere Vergütung bzw. Erschwer-niszuschläge, soziale Absicherung.All das – Frau Ministerin, Sie haben das selber ge-sagt – sind allerdings Dinge, bei denen sich in den letz-ten Jahren etwas angestaut hat und jetzt notwendiger-weise Abhilfe geschaffen werden muss. Sie haben selbergesagt, Sie arbeiten sich auf Normalmaß vor. Die letzteWehrsolderhöhung zum Beispiel gab es im Jahr 2008,damals um 2 Euro. Dieses Mal soll es wieder eineWehrsolderhöhung geben, wieder um 2 Euro – pro Tagim Übrigen; das muss man dazusagen. Ich bin mir nichtsicher, ob das dazu beiträgt, die Bundeswehr attraktiverzu machen.Auf die wirklich aktuellen Probleme gehen Sie nichtein; die sind aber im Bericht des Wehrbeauftragten, derdiese Woche vorgestellt wurde, klar benannt. Mancheswurde hier angesprochen, ich möchte noch einmal einigePunkte herausgreifen:Erstens. Die Bundeswehr hat massive Ausrüstungs-probleme, insbesondere was Großgeräte wie das Trans-portflugzeug A400M und den Hubschrauber NH90 be-trifft.
Es wird alles zu spät geliefert, es wird alles viel teurerals vereinbart wurde, und die Fähigkeiten, die bestelltwurden, sind in der Lieferung nicht enthalten. Hinzukommen massive Fehler im Normalbetrieb. Sie hattenvorhin davon gesprochen, dass die Bürgerinnen undBürger, wenn sie heute einen Computer bestellen, nichtmehr die Katze im Sack kaufen – die Bundeswehr kauftimmer noch die Katze im Sack.
Das Transportflugzeug A400M zum Beispiel – einExemplar ist geliefert; wann die nächsten kommen, weißniemand – kann weder Personal noch Material aus derLuft absetzen, er kann auch nicht in die sogenannten hei-ßen Zonen, also in Kampfgebiete, fliegen,
weil er über Selbstverteidigungsfähigkeiten erst 2016/17verfügen wird.Der Transporthubschrauber NH90 rostet, es gibtRauchentwicklung im Cockpit und er hat Triebwerks-probleme, was schon zum Absturz einer Maschine ge-führt hat. Ich habe mich im Zusammenhang mit den Er-schwerniszuschlägen gefragt, ob diese Mängel vielleichtder Grund sind, warum Hubschrauberpiloten 210 Euromehr bekommen als Fallschirmjäger. Fakt ist: Die Nach-rüstung dieser Hubschrauber – das wurde diese Wocheim Verteidigungsausschuss mitgeteilt – übernimmt na-türlich nicht die Industrie, sondern auch das muss wiedervom Steuerzahler bezahlt werden, obwohl in der Indus-trie bei der Konstruktion geschlampt wurde.Selbst bei Standardausrüstungsgegenständen wie demG36 gibt es Probleme; da warten wir noch auf einen Be-richt, in dem geklärt wird, warum dieses Standardge-wehr, wenn es heiß ist, nicht mehr zuverlässig trifft.
Auf der anderen Seite ist das Personal völlig überlas-tet: Die Regelung, dass nach einer Auslandsverwendungvon 4 Monaten eine Pause von 20 Monaten folgen soll,kann bei vielen Soldatinnen und Soldaten nicht eingehal-ten werden.Auf die maroden Kasernen ist hier auch schon einge-gangen worden: 38 Prozent der Unterkünfte haben grö-ßere Mängel, 269 Gebäude sind eigentlich nicht nutzbar,aber trotzdem bewohnt. Es wird von Rost- und Schim-melbefall, von nicht funktionierenden Heizkörpern, vonKloakengeruch berichtet.Fakt ist: Sie haben diese Zustände erkannt und gesagt:Es werden neue Mittel bereitgestellt. Aber wenn solcheZustände herrschen, dann ist es völlig unbegreiflich, wa-rum man nicht auch ohne Mittel notwendige Maßnah-men ergreift, zum Beispiel indem man sagt: SanierteKasernen werden nicht geschlossen – wenn Kasernengeschlossen werden müssen, dann kann man auch diemaroden Kasernen schließen.Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist, was in derÖffentlichkeit derzeit das Bild der Bundeswehr be-stimmt: eine ziemlich desolate Truppe. Diese Truppewird auch nicht attraktiver, wenn man 2 Euro mehr Soldam Tag zahlt.
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Michael Leutert
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Ihr Ziel ist – so wurde das formuliert –: Jeder Soldat sollin der Kaserne ein Einzelzimmer mit Bad bekommen, essoll eine ordentliche soziale Absicherung und Aufstiegs-chancen geben, Familie und Dienst sollen miteinandervereinbar sein, zum Beispiel durch Teilzeitarbeit usw.usf.Das sind aber nur die Rahmenbedingungen für einenattraktiven Arbeitsplatz. Entscheidend ist ja letztlich, obauch die Aufgabe attraktiv ist. Darüber, Frau Ministerin,haben Sie hier aber überhaupt nicht gesprochen.
Ich kann mir zumindest vorstellen, dass die Soldatin-nen und Soldaten, die an dem Einsatz zur Vernichtungder syrischen Chemiewaffen beteiligt gewesen sind, indieser Aufgabe einen gewissen Sinn gesehen haben undauch davon überzeugt gewesen sind, dass das richtig ist.
Bei den gestern hier im Bundestag beschlossenenEinsätzen zum Irak und zur Türkei bin ich mir da abernicht mehr so sicher; denn im Kern sieht die ganze Sa-che doch so aus: Wir schicken Ausbilder in den Irak, diedie Kurdinnen und Kurden befähigen sollen, nachdemdie Waffen geliefert wurden, sich gegen die Islamistenund gegen den „Islamischen Staat“ zu verteidigen. Aufder anderen Seite schickt der NATO-Partner Türkei lo-gistisches Material und Waffenlieferungen genau andiese Islamisten, die mit unserer Unterstützung be-kämpft werden sollen. Wir aber schicken Soldatinnenund Soldaten in die Türkei, die die Türkei vor den Fol-gen der Situation bewahren sollen, die sie dort schafft.Ich glaube schon, dass vor diesem Hintergrund bei ei-nigen Soldatinnen und Soldaten die Frage nach demSinn dieser Einsätze aufkommt. Wenn eine Aufgabe aberals sinnlos empfunden wird, dann ist sie auch nicht mehrattraktiv. Sie hätten meines Erachtens der Attraktivitätder Bundeswehr einen viel größeren Gefallen getan,wenn gestern der Einsatz in der Türkei nicht verlängertworden wäre.
Das Hauptziel, die Bundeswehr zu einem der attrak-tivsten Arbeitgeber zu machen, werden Sie damit nichterreichen. Das Hauptziel muss darin bestehen, die Auf-gabe der Bundeswehr zu verändern.Vielen Dank.
Der Kollege Felgentreu hat nun für die SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Program-matische Äußerungen zur Attraktivität des Dienstes inder Bundeswehr sind so alt wie die Truppe selbst. Ichdenke da an Sätze, wie ich sie als aktiver Soldat vor25 Jahren in der Truppe öfter gehört habe, zum Beispielden Klassiker „Klagt nicht! Kämpft!“ oder auch solcheSätze wie „Ein Offizier beschwert sich nicht!“
oder so etwas wie „Schreiben Sie doch einen Brief: Lie-ber Herr Wehrbeauftragter...“Zusammengefasst wurde das alles in einem durchausernstgemeinten Grundsatz, dem ich seine allgemeineBerechtigung auch gar nicht absprechen will: „Der Sol-dat ist immer im Dienst.“ „Der Soldat ist immer imDienst“ – das galt für eine Bundeswehr, die als großeWehrpflichtigenarmee mit hoher Bereitschaft in der Zeitder Blockkonfrontation oft eher damit Probleme hatte,ihre vielen Soldaten sinnvoll zu beschäftigen, als mit derFrage, woher sie gute Leute bekommen sollte. Denn un-ter den vielen fanden sich fast immer genug, die fest-stellten, dass ihnen der Soldatenberuf liegt, und aus de-ren Reihen kommen die erfahrenen Offiziere undUnteroffiziere der Generation um die 50, die heute invorderster Verantwortung stehen.Die Zeiten und die Bundeswehr haben sich abergründlich geändert. Sie war damals eine große Armee,sie hatte den Auftrag, einen mächtigen Gegner abzu-schrecken und so den Frieden in Europa zu sichern,schlimmstenfalls das Land zu verteidigen. Daraus istheute eine für ein 80-Millionen-Volk in der Mitte Euro-pas wirklich sagenhaft schlanke, kleine Truppe gewor-den. Heute konzentriert sich die Bundeswehr vor allemauf ihre Fähigkeit, gemeinsam mit Partnernationen inter-nationale Einsätze durchzuführen.Die Wehrpflicht, die das deutsche Militär seit den Be-freiungskriegen geprägt hatte, ist praktisch abgeschafft.Schon die beiden ersten Worte des alten Grundsatzes„Der Soldat ist immer im Dienst“ passen nicht mehr.Heute muss es heißen: „Der Soldat und die Soldatin …“Aber bisher haben wir als Gesellschaft, als Gesetzge-ber, als Dienstherr aus diesen Veränderungen wedermental noch in der Ausgestaltung die notwendigen Kon-sequenzen gezogen, damit diese veränderte Armee in ei-ner veränderten Welt ihren Auftrag auf Dauer zuverläs-sig erfüllen kann.Wir haben eine Freiwilligenarmee. Das bedeutet – ichhabe jetzt einfach einmal den Mut zur Banalität –: Wirbrauchen Freiwillige. Die Freiwilligen stehen aber nichtallein vor unseren Karrierecentern Schlange.
Es gibt sicherlich junge Leute, die auch aus patriotischerGesinnung und aus hoher Identifikation mit der Bundes-republik Deutschland wenigstens eine Zeit lang Soldatenwerden wollen. Aber es sind wohl kaum genug; und ineiner Zeit, in der die Bevölkerung kontinuierlichschrumpft, werden es Jahr für Jahr weniger.
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Dr. Fritz Felgentreu
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Das bedeutet, die Bundeswehr muss als Arbeitgeberinin Zukunft mit anderen Bereichen des öffentlichenDienstes und mit der freien Wirtschaft um kluge Köpfeund starke Arme konkurrieren. Dafür muss sie etwas an-zubieten haben; etwas anzubieten, das hinreichend vielejunge Leute jedes Jahr wieder davon überzeugt, sich alsSoldat oder als Soldatin zu verpflichten.Deswegen rede ich heute einmal – anders als der Kol-lege Leutert eben – über den eingebrachten Gesetzent-wurf der Bundesregierung; er ist ein wichtiger Bausteinfür den Aufbau einer modernen und attraktiven Freiwil-ligenarmee.
Er ist ein Ergebnis des Nachdenkens, des Hinhörens be-zogen auf die Bedürfnisse der Menschen – nicht nur derSoldatinnen und Soldaten, sondern auch ihres familiärenUmfeldes, ihrer Angehörigen – und der Gespräche mitden Fachleuten und Organisationen, wie dem Bundes-wehrVerband oder dem Reservistenverband.Nun ist ja so ein dienstrechtliches Artikelgesetz einewirklich hocherotische Angelegenheit, die gerade vonden Gemeinden sicherlich mit glühenden Ohren gelesenwird: reich an scheinbar zusammenhanglosen Einzel-bestimmungen und Querverweisen und verfasst inschönstem Juristendeutsch, das gerne zugunsten derEindeutigkeit auch mal auf Verständlichkeit verzichtet.Die Leitgedanken des Entwurfs sind klar und für allenachvollziehbar: Es geht zum einen um die Vereinbar-keit von Familie und Dienst und zum anderen um sozialeSicherheit für die Soldatinnen und Soldaten.Meine Damen und Herren, vor allem der erste Punktist eine kleine Revolution. Die Koalition wird mit die-sem Gesetz zum ersten Mal die 41-Stunden-Woche fürSoldatinnen und Soldaten festschreiben.
Hier ist der falsche Ort, um auf Details einzelner Aus-nahmen und Streitfragen einzugehen.
Entscheidend ist das klare Bekenntnis der Bundesregie-rung und des Gesetzgebers, dass wir die 41-Stunden-Woche als den militärischen Normalfall durchsetzenwollen.Das wird den Truppendienst verändern. Das bedeutetnichts anderes, als dass die Bundeswehr ihren altenGrundsatz an den veränderten militärischen Alltag an-passt. Der Soldat und die Soldatin sind in Zukunft ebennicht immer im Dienst. Im Einsatz, wo unsere Soldatin-nen und Soldaten das tun, wofür sie ausgebildet wordensind, wo sie sich schnell und aktiv auf eine veränderteLage einzustellen haben, sind sie selbstverständlich im-mer im Dienst, auch dann, wenn sie schlafen. Aber anStandorten, wo die Voraussetzungen für erfolgreicheEinsätze geschaffen werden, haben sie einen Anspruchauf geregelte Arbeitszeiten und planbare Freizeit.
Gleichzeitig verbessern wir die Möglichkeit, in Teil-zeit zu gehen, um Kinder oder pflegebedürftige Angehö-rige zu betreuen. Die Soldatinnen und Soldaten sollendabei in Zukunft nicht schlechtergestellt sein als Be-amte. Uns allen muss klar sein – das ist heute ja auchschon problematisiert worden –, dass das eine für diePersonalplanung denkbar unbequeme Lösung ist. Werzwölf Jahre in Teilzeit geht, fällt zwölf Jahre lang fürden Einsatz aus und muss dort durch andere ersetzt wer-den. Es ist aber die richtige, die für die Soldatinnen undSoldaten wichtige Lösung, die es ihnen leichter macht,Ja zur Familie und Ja zum Dienst, zum Beruf, zu sagen.Meine Damen und Herren, knapp 70 Prozent unsererDienstleistenden sind Soldaten auf Zeit. Für diese Män-ner und Frauen werden Rentenbeiträge für den Zeitraumnachträglich eingezahlt, in dem sie als Beamte auf Zeitkeine Beiträge geleistet haben. Bei dieser Nachversiche-rung sind Soldatinnen und Soldaten bisher schlechterge-stellt als die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffent-lichen Dienstes, die zusätzlich zu ihrer Rente eineZusatzversorgung des Bundes und der Länder bekom-men. Wir werden hier Gerechtigkeit schaffen.Der Gesetzentwurf sieht vor, bei der Berechnung derNachversicherung nicht nur von 100 Prozent, sondernvon 115 Prozent der Soldatenbezüge auszugehen. DieSPD-Fraktion hat diese Zahlen einmal geprüft. Nach un-serer Berechnung reichen 15 Prozent noch nicht aus, umdie Soldatinnen und Soldaten wirklich gleichzustellen.Wir halten 21 Prozent für notwendig und angemessen.Über die Höhe der Anhebung der Berechnungsgrundlagewerden wir im Ausschuss und bei der geplanten Anhö-rung deshalb noch einmal miteinander reden müssen.
– Ja, das machen wir.Es ist eine Besonderheit der Bundeswehr, dass vieleBerufssoldatinnen und Berufssoldaten schon mit 53 Jah-ren, also relativ jung, in Pension gehen. Das liegt daran,dass viele Verwendungen einfach körperliche Anforde-rungen stellen, die der menschliche Körper ab einem be-stimmten Alter nicht mehr erfüllen kann. Eine ausrei-chende Zahl von Anschlussverwendungen kann es abernicht geben. Deshalb entlassen wir diese Soldatinnenund Soldaten qua Gesetz in einen frühen Ruhestand.Nun handelt es sich bei den Betroffenen in der Masseum Unteroffiziere und die unteren Offiziersränge, diealle eine relativ niedrige Pension beziehen. Also geradein einem Alter, in dem die Kinder ins Studium gehen, indem das Haus oft noch gar nicht abbezahlt ist, müssensie auf einmal mit 70 Prozent des bisherigen Einkom-mens auskommen. Wenn sie sich deshalb in einem zivi-len Beruf etwas dazuverdienen, wird dieses Einkommenab einer bestimmten Höhe von der Pension abgezogen.Bei ehemaligen NVA-Soldaten, die in die Bundeswehrübernommen worden sind, ist das sogar alles oberhalbvon 450 Euro.
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Dr. Fritz Felgentreu
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Das ist ungerecht, weil sich die Betroffenen gar nichtdafür entscheiden können, länger zu dienen und aufdiese Weise mehr zu verdienen. Sie müssen die Bundes-wehr verlassen und sind damit schlechtergestellt als an-dere Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, die erst jen-seits der 60 in den Ruhestand gehen.Wir wollen deshalb die Obergrenze für zusätzlich ver-dientes Geld mindestens bis zu dem Alter aufheben, indem auch Bundespolizisten in den Ruhestand entlassenwerden. Bei den untersten Dienstgraden der Bundespoli-zei liegt dieses Alter bei knapp 61 Jahren. Das Altersteigt allmählich, und auch in der Bundeswehr wird dasAlter entsprechend angepasst. Aber an dieser Zeitgrenzewollen wir uns für die Begrenzung der Zuverdienstmög-lichkeiten orientieren.Noch härter wirkt sich der frühe Ruhestand bisher beiGeschiedenen aus. Sie teilen sich ihren Pensionsan-spruch mit dem geschiedenen Partner. Mit anderen Wor-ten: Ihre Pension wird gekürzt. Um wie viel, legt das Fa-miliengericht bei der Scheidung fest. Das bedeutet,Soldatinnen und Soldaten, die das von uns gemachteDienstrecht in einen frühen Ruhestand zwingt, habennicht nur früher ein niedrigeres Einkommen. Wenn siegeschieden sind, müssen sie auch acht bis zwölf Jahrelänger als andere die Kürzung ihrer Versorgung hinneh-men.Soldaten, liebe Kolleginnen und Kollegen, erlebenleider überdurchschnittlich oft das Scheitern ihrer Ehe,auch weil ihr Beruf durch seine Dienstzeiten, durch dieAuslandseinsätze und die vielen Versetzungen das Fami-lienleben bisher stark belastet hat. Es ist deshalb gerecht,auch den Versorgungsausgleich, oder auf Deutsch: dieKürzung der Pension, mindestens bis zu dem Zeitpunkthinauszuschieben, zu dem das gleiche Schicksal auchunsere Polizistinnen und Polizisten ereilt.Sie können nun fragen: Was haben Versorgungsrege-lungen für Ruheständler mit der Attraktivität der Bun-deswehr beim Berufseinstieg zu tun? Fragen 19-Jährigewirklich danach, wie sie versorgt sind, wenn ihre Ehescheitern sollte? Nein, meine Damen und Herren, das tunsie wahrscheinlich nicht. Aber die Unzufriedenheit derÄlteren über die mangelnde Fürsorge bekommen siesehr schnell mit. Wenn wir Soldaten auf Zeit als Berufs-soldaten gewinnen wollen, dann tun wir gut daran, auchdie Älteren gerecht und angemessen zu versorgen.
In jedem Fall ist unser Weg in eine moderne und at-traktive Bundeswehr mit diesem Gesetz nicht zu Ende.Am Standort und im Einsatz können wir an vielen Stel-len mehr für die Zufriedenheit der Soldatinnen und Sol-daten tun – mein Kollege Thomas Hitschler wird daraufgleich noch eingehen –: durch Gesetzgebung und Finan-zierung, aber auch dadurch, wie der rechtliche Rahmenmit Leben erfüllt wird. Jeder Kommandeur sollte denEhrgeiz haben, dass die Bundeswehr immer die attrak-tivste Arbeitgeberin an seinem Standort ist.Die Anforderungen an Soldatinnen und Soldaten sindhoch, und sie werden hoch bleiben; das ist auch richtigso.
Herr Kollege, könnten Sie mit diesem wunderschönen
Gedanken Ihre Rede allmählich beenden?
Letzter Satz. – Wenn es uns gelingt, Jahr für Jahr eine
ausreichende Zahl tüchtiger junger Leute für den an-
spruchsvollen Dienst in einer modernen und attraktiven
Bundeswehr zu gewinnen, dann ist mir um die Zukunft
unserer Freiwilligenarmee und auch um die Sicherheit
unseres Landes nicht bange. – Herr Präsident, ich danke
für Ihre Geduld.
Vielen Dank.
Geht doch.
Nun hat die Kollegin Brugger für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Hoch-glanzbroschüre ist längst verteilt, der Showroom an derBerliner Friedrichstraße ist eingerichtet und mehr oderweniger gut besucht.
Die Pressekonferenzen und auch zahlreiche Interviewssind gegeben. Nun, Frau Ministerin, erreicht das Artikel-gesetz, das Kernstück Ihrer Attraktivitätsoffensive, end-lich nach langem Warten den Bundestag.Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach dem Ende derWehrpflicht, aber auch vor dem Hintergrund des demo-grafischen Wandels kann es uns nicht egal sein, wer sichmit welcher Motivation und mit welcher Qualifikationfür den Dienst bei der Bundeswehr entscheidet, und des-halb ist das Thema Attraktivität auch so wichtig. Ebensowie ich wissen viele Kolleginnen und Kollegen aus di-rekten Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten,dass die Attraktivität und insbesondere die Vereinbarkeitvon Familie und Dienst von zentraler Bedeutung sindund dass es eine große Unzufriedenheit gibt, weil dieBundeswehr in diesem Bereich der Gesellschaft unddem Standard, der dort herrscht, an vielen Stellen hinter-herhinkt.Wir Grünen haben jahrelang Verbesserungen gefor-dert, und auch jetzt müssen wir an einigen Details derRegelungen im Gesetzentwurf Kritik üben. An manchenStellen ist mehr möglich. Aber es gibt eine Kritik, mitder wir uns nicht gemein machen wollen. Damit meineich den Unmut, den einige ältere Herren mit Bundes-wehrhintergrund in den letzten Monaten geäußert haben,die offensichtlich meinen, dass eine Scheidung automa-tisch zu einer Bundeswehrlaufbahn dazugehört und essich dabei nur um ein weinerliches Wellness-Wohl-
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7908 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Agnieszka Brugger
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fühlthema handelt. Diese Herren haben von der Lebens-realität junger Menschen und auch von der Lebensreali-tät der Soldatinnen und Soldaten keine Ahnung.
Auch wenn mit dem Attraktivitätssteigerungsgesetzan einigen Schrauben gedreht wird, können Sie dasThema nicht von Ihrer To-do-Liste streichen, FrauMinisterin. Nicht nur aus den vielen Rückmeldungen,die wir als Abgeordnete von Bundeswehrangehörigenerhalten, sondern auch aus zahlreichen wissenschaftli-chen Untersuchungen und Umfragen wissen wir, dassdie Stimmung in der Bundeswehr schlecht ist, wenn esum die Bundeswehrreform und ihre Umsetzung geht.Das fängt nicht erst bei den Beschaffungsdesastern undden Problemen beim Altgerät an; es setzt sich mit maro-den Stuben und unnötigen Versetzungen fort und hörtauch nicht bei der extremen Einsatzbelastung von Solda-tinnen und Soldaten mit bestimmten Fähigkeiten auf, beidenen die vorgeschriebenen Ruhezeiten nicht eingehal-ten werden. Davon zeichnet der Bericht des Wehrbeauf-tragten aus der letzten Woche ein ziemlich drastischesBild, und er äußert auch deutliche Kritik an der Neuaus-richtung der Bundeswehr.Diese Probleme sind nicht alle vom Himmel gefallen,und die Reform hat dabei versagt, sie zu lösen. Sie hatsogar im Endeffekt dazu beigetragen, sie noch zu ver-stärken. Statt zukunftsfähige Strukturen zu schaffen,wurde einfach alles abgeschmolzen. Das hat dann dieÜberbelastung der Soldatinnen und Soldaten zur Folge.Das hat zur Folge, dass Gerät nur noch in unzureichen-der Quantität und mangelhafter Qualität zur Verfügungsteht und langfristig in vielen Bereichen die Durchhalte-fähigkeit infrage gestellt wird. Von der Finanzierbarkeitwill ich gar nicht sprechen.Insofern muss man feststellen: Das Prinzip „Breitevor Tiefe“, auf dem die ganze Bundeswehrreform be-ruht, hat versagt.
An der Stelle frage ich mich, wo die angekündigte Eva-luation der Bundeswehrreform bleibt, gerade weil manso viele Probleme erkennen könnte.Sie müssen also umdenken und umsteuern. Sie müs-sen sich in Abstimmung mit den europäischen Partnernauf bestimmte Fähigkeiten konzentrieren. Denn wennSie es mit dem Thema Attraktivität ernst meinen, danndarf man die überfälligen Kurskorrekturen nicht längerauf die lange Bank schieben.Meine Damen und Herren, wie die Soldatinnen undSoldaten die Bundeswehr und ihren Dienst dort wahr-nehmen, hat auch mit einem anderen Thema zu tun: mitder Fürsorge, also mit dem Umgang mit den Soldatinnenund Soldaten, die der Bundestag mit seiner Mehrheit ineinen gefährlichen Auslandseinsatz entsendet hat unddie verwundet oder an der Seele geschädigt zurückge-kehrt sind. Damit komme ich wieder zu den konkretenRegelungen im Artikelgesetz. Denn bisher sind die Ent-schädigungszahlungen für diejenigen, die einen Einsatz-unfall nach dem Jahr 2002 erlitten haben, höher als fürdiejenigen, die Vergleichbares vorher erlebt haben. Dasist Willkür und auch ungerechte Ungleichbehandlung.
Wir Grünen fordern in unserem Antrag, über dennachher abgestimmt wird, diesen Stichtag aufzuhebenund dieses Problem komplett zu beseitigen. Denn die un-eingeschränkte Fürsorgepflicht des Dienstherrn mussunabhängig vom Status der Soldatinnen und Soldatenund von irgendeinem willkürlich gewählten Stichtag gel-ten.Das Artikelgesetz sieht in diesem Punkt eine Ände-rung vor: Der Stichtag wird auf den 1. Juli 1992 zurück-datiert. Damit wird auch der Kreis der Betroffenen, diediese Ungerechtigkeit erleben, verkleinert. Aber auch Ihrneuer Stichtag war sehr willkürlich gewählt. Wir habenSie nicht nur bei der ersten Beratung unseres Antragesdarauf hingewiesen, dass es auch vor diesem ZeitpunktSoldaten im Auslandseinsatz gab, zum Beispiel im Rah-men der UN-Mission in Kambodscha, sondern wir ha-ben es auch im Ausschuss diskutiert und entsprechendnachgefragt. Das Ministerium hat beteuert, es gebe keineFälle.Deshalb freue ich mich, dass Sie – wenn ich den Kol-lege Otte richtig verstanden habe – diese Anregung auf-gegriffen haben, auch wenn Sie sicherlich gleich wiedergegen unseren Antrag stimmen werden, und den Stich-tag jetzt wenigstens noch weiter zurückdatieren wollen,damit diese Ungerechtigkeit endgültig beseitigt wird.
Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Koalition, nicht nur von mir, sondern auch von derKollegin Wagner wurden viele der Schrauben angespro-chen, an denen man noch drehen muss, wenn man es mitdem Thema Attraktivität ernst meint. Wir hoffen, dassSie sich im Rahmen der Beratungen auch an anderenStellen für die guten Anregungen aus der Opposition of-fen zeigen. Denn, Frau von der Leyen, wenn Sie es mitder Attraktivitätsoffensive ernst meinen, dann müssenSie erkennen, dass es noch einige Baustellen gibt, undzwar nicht nur im Rahmen des Artikelgesetzes, sonderninsbesondere auch darüber hinaus.Vielen Dank.
Michaela Noll ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wenn ich meinenBlick nach oben richte, sehe ich Herrn Wüstner undHerrn Schönmeyer vom BundeswehrVerband. Ich möchteIhnen sagen: Vielen Dank für Ihre Anregungen! Vieles
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Michaela Noll
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von dem, was wir hier heute diskutieren, war Gegen-stand des Dialogs zwischen Ihnen und uns.Ich weiß, dass Sie circa 200 000 Mitglieder haben.Ich befürchte aber, dass nicht alle heute vor dem Fernse-her sitzen und diese Debatte verfolgen. Deswegen würdeich Sie bitten, das, was Sie heute aus dieser Debatte mit-nehmen, an die Soldatinnen und Soldaten vor Ort weiter-zutragen, damit diese wissen: Es ist ein sehr guter Tagfür die Soldatinnen und Soldaten.Auf der Besuchertribüne sehe ich eine gemischte Al-tersgruppe. Vielleicht gelingt es uns, den einen oder an-deren anzuregen, darüber nachzudenken, dass die Bun-deswehr wirklich attraktiv ist. Ich werde mich an dieserStelle redlich darum bemühen.
Dass heute ein guter Tag für die Soldatinnen undSoldaten ist, haben wir eben gehört. Die Attraktivitäts-offensive teilt sich auf in zwei Teile: die „Agenda At-traktivität“ und das Artikelgesetz. Das eine betrifft dieSichtweise nach innen, also diejenigen, die wir anwer-ben wollen, und das andere betrifft diejenigen, die be-reits in der Bundeswehr sind. Dafür ist es verdammtnoch mal auch Zeit!Insbesondere durch die Neustrukturierung der Bun-deswehr hat sich das Leben vieler Soldaten massiv geän-dert. Wenn wir wollen, dass die Neuausrichtung ein Er-folg wird, dann müssen wir diejenigen mitnehmen, diees tatsächlich tangiert, und das sind die Soldaten.In Gesprächen ist mir bewusst geworden: Viele Sol-daten „schwimmen“. Sie sagen: Es muss sich alles nocheinspielen. Vieles ist noch unklar. – Deswegen ist jetztder richtige Moment für die Attraktivitätsoffensive. Siestellt den Menschen in den Mittelpunkt und bewirkt kon-krete Verbesserungen.Das Vertrauen in die Bundeswehr als Arbeitgeber istan der einen oder anderen Stelle ein bisschen verlorengegangen. Ich bin sicher, dass dies die Chance ist, diesesVertrauen zurückzugewinnen.Ich möchte an dieser Stelle ein herzliches Danke-schön an unsere Verteidigungsministerin richten. Sie ha-ben eine ehrliche Analyse gemacht und aufgeführt, woHandlungsbedarf besteht.
Ich möchte etwas erwähnen, was den Soldaten, abernicht all denjenigen, die hier im Saal sind, vertraut ist:Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treuzu dienen und das Recht und die Freiheit des deut-schen Volkes tapfer zu verteidigen.Das ist der Diensteid, den die Berufssoldatinnen und -sol-daten und die Soldaten auf Zeit leisten. Ich habe ihn be-wusst wiedergegeben, um zu transportieren, über wasund über wen wir hier wirklich sprechen. Es geht um dieMenschen, die bereit sind, im schlimmsten Fall ihr Le-ben für uns, für unsere Sicherheit und für unsere Freiheiteinzusetzen.Ich mache einmal einen kleinen Abstecher. Ich wardiese Woche Montag im „Wald der Erinnerung“; Gene-ral Fritz hat mich durchgeführt. In diesem Wald siehtman an den Stelen und Bäumen die Namen der gefalle-nen und gestorbenen Soldaten. Ich denke, diese Gedenk-stätte ist ein deutliches Zeichen gegen das Vergessen. Erist auf Wunsch der Hinterbliebenen entstanden. Es ist einOrt der Stille und der Trauer. Deswegen sage ich: Soldatist kein Beruf wie jeder andere. Denn die Soldatinnenund Soldaten sind bereit, alles zu geben.Dass Freiheit und Sicherheit nicht mehr selbstver-ständlich sind, haben jetzt und heute, glaube ich, alle be-griffen. Die weltweite Sicherheitslage hat sich komplettverändert. Überall in der Welt gibt es Krisen und Instabi-lität. Es gibt Auseinandersetzungen, zum Beispiel in derUkraine oder in Form des Vormarsches des IS und derAnschläge in Paris. Freiheit und Frieden sind keineSelbstverständlichkeit mehr.Die Generation, die heute hier oben und unten im Saalsitzt, ist die Generation, die letztendlich noch nie einenKrieg erlebt hat. Wir kennen ihn nur aus den Erzählun-gen unserer Eltern und unserer Großeltern. Deswegensage ich: Sicherheit ist nicht zum Nulltarif zu haben. Wirmüssen Geld für die Bundeswehr in die Hand nehmen;denn die Ansprüche an die Bundeswehr und an ihr Per-sonal werden weiter zunehmen. Rund 120 MillionenEuro zusätzlich werden allein im Jahr 2015 zur Verfü-gung gestellt. Das ist ein Anfang.Viele haben genauso wie Herr Leutert die mangel-hafte Ausrüstung angesprochen. Natürlich ist das einProblem; die KPMG-Studie hat das gezeigt. Aber wirhaben dieses Problem erkannt und arbeiten an einer Lö-sung. Gute Ausrüstung ist wichtig und für viele Soldatensogar überlebenswichtig. Attraktiv ist sicherlich all das,was die Arbeit sicherer macht. Aber wir müssen auch dieGesamtheit der Soldaten im Blick haben und darauf ach-ten, dass sie einsatzfähig und motiviert sind, die Arbeitgut und gewissenhaft zu erledigen.Der Kollege Fritz Felgentreu hat eben darauf hinge-wiesen, dass es sich bei der Bundeswehr um eine Frei-willigenarmee handelt. Das heißt, niemand muss mehrDienst tun. Oft wird gesagt, dass die Bundeswehr dieBesten haben will. Ich will diesen Bogen weiter span-nen. Ich möchte gerne auch diejenigen für die Bundes-wehr gewinnen, die sozial kompetent, teamfähig undverantwortungsvoll sind; gerade angesichts vieler kom-plexer Tätigkeiten bei der Bundeswehr.
Wir brauchen qualifizierte Leute, die mit komplizierterTechnik umgehen können. Damit stehen wir in Konkur-renz zu vielen Großunternehmen. Die Wirtschaft und dasHandwerk suchen händeringend Leute. Der vieldisku-tierte Fachkräftemangel macht auch vor der Bundeswehrnicht halt. Ich habe an der Schule meines Sohnes erlebt,dass die Unternehmen durch gezielte Kooperation mitder Schule die Schüler, die als Leistungskurs Informatik
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Michaela Noll
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belegt haben oder gute Noten in naturwissenschaftlichenFächern haben, mit attraktiven Angeboten regelrecht ab-fischen. Wenn die Bundeswehr hier nicht mit dem Rü-cken zur Wand stehen will, muss sie sich warm anziehenund sich bewegen. Die entsprechenden Maßnahmendazu haben Sie mit der Attraktivitätsoffensive auf denWeg gebracht. Danke, Frau Ministerin.
An den Berufsberatungstagen stehen die jungen LeuteSchlange am sogenannten Karrierebus. Aber wir müssenauch erreichen, dass sie bei der Bundeswehr bleiben. Siebleiben dann, wenn die Bundeswehr attraktiv ist. Darummüssen wir uns kümmern. Wir verlangen viel von denSoldaten. Daher verlange ich, dass die Soldaten die best-möglichen Rahmenbedingungen bekommen. Dafür wer-den wir mit dem nun zur Beratung anstehenden Gesetzsorgen.In der Presse ist oft von maroden Unterkünften undÜberbelegungen die Rede. Ist das attraktiv für jungeLeute? Ich glaube, eher weniger. Deswegen war es rich-tig, dass Sie, Frau Ministerin, gesagt haben: Wir nehmennun Geld in die Hand. – Von den insgesamt 3 000 Unter-künften werden erst einmal 500 geschlossen. 800 Sofort-maßnahmen sind bereits abgeschlossen. Das heißt, esgeht aufwärts. Das gigantische Schiff Bundeswehr in derFläche zu bewegen, ist sicherlich kein einfacher Job.Aber ich bin sicher, dass Sie, Frau Ministerin, das schaf-fen werden. Sie haben gesagt, dass Sie mit Hochdruckdaran arbeiten, und auf Ihre Aussage ist Verlass.
Ist es attraktiv, jedes Wochenende Hunderte Kilome-ter zu pendeln und in der Regel fernab von der Familiezu leben? Nein, das ist es nicht. Ist es attraktiv, die Frei-zeit nicht mehr richtig planen zu können? Nein, das ist esnicht. Laut der 2013 veröffentlichten Studie über die At-traktivität der Mannschaftslaufbahnen lehnen viele jungeLeute unregelmäßige Arbeitszeiten ab und möchtenmehr Zeit für die Familie haben. Mit den 29 untergesetz-lichen Maßnahmen der „Agenda Attraktivität“, die dazudienen, Verlässlichkeit und Planbarkeit für die Soldatenzu schaffen, und den im Artikelgesetz aufgeführten22 Maßnahmen wird es uns gelingen, mehr Nachwuchsfür die Bundeswehr zu rekrutieren.Wie ich sehe, habe ich mich zeitlich verkalkuliert.Deshalb muss ich meinen Redebeitrag radikal kürzen.Nur noch so viel: Es gibt etwas, was nur die Bundeswehrlebt. Das ist Kameradschaft. Das finden Sie in kaum ei-nem anderen Unternehmen. Als ich im Mai letzten Jah-res in Masar-i-Scharif war, habe ich mit den Soldatenund vor allem mit den Soldatinnen gesprochen. EineSoldatin hat mir auf meine Frage, warum sie bei derBundeswehr sei, geantwortet: „Kameradschaft im Ein-satz so wie hier finden Sie nirgendwo anders!“ Hier istdie Bundeswehr einmalig.Vielen Dank.
Ein ermutigendes Beispiel dafür, dass ein Debatten-
beitrag auch durch radikale Kürzung des Manuskripts
nicht an Wirkung verlieren muss.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Hitschler für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die öffentliche Aufmerksamkeit für sicher-heits- und verteidigungspolitische Themen hat im ver-gangenen Jahr deutlich zugenommen. Die dramatischenVeränderungen im Weltgeschehen und die Frage nachunserer eigenen Rolle und Verantwortung auf der einenSeite sowie der Zustand der Ausrüstung unserer Truppeauf der anderen Seite haben für viel Aufsehen gesorgt.Die Vielzahl der Bilder und Karikaturen mit sicher-heitspolitischen Themen in unseren Zeitungen ist ein In-dikator für die gesteigerte Aufmerksamkeit. Das wurdemir gerade in dieser Woche bei der Veranstaltung „Rück-blende 2014“ in der Landesvertretung Rheinland-Pfalzdeutlich vor Augen geführt. In einer zentral platziertenKarikatur hüpft beispielsweise ein junger Soldat hände-klatschend durch eine Waldorfkaserne und freut sich da-rüber, dass dort gesungen, geklatscht und gebastelt wird.Verstehen Sie mich nicht falsch: Reformpädagogi-schen Ansätzen stehe ich prinzipiell offen und positivgegenüber, aber Karikaturen überspitzen natürlich. Ge-rade in diesen Tagen muss man unterstreichen: Das dür-fen, müssen und sollen sie auch. Das Bild der Waldorf-kaserne spiegelt aber auch wider, wie überspitzt undmanchmal auch etwas schief die Debatte über die At-traktivität der Bundeswehr in der Öffentlichkeit geführtwird. Die etwas abschätzig gemeinte Vokabel der Wohl-fühltruppe ist von der Waldorfkaserne so weit nicht ent-fernt. Sie unterstreicht das bei vielen noch vorherr-schende Bild: Der Soldat wärmt sich am Eisblock.Damit verbunden ist die Unterstellung, die Attraktivi-tät der Bundeswehr sei ein weiches Thema und in derharten Welt der Verteidigungspolitik damit eher unwich-tig. Das Gegenteil ist der Fall. Wir können den alten undneuen Herausforderungen der Sicherheitspolitik nur be-gegnen, wenn wir unsere Truppe bestmöglich aufstellen.Angesichts des demografischen Wandels, des Fachkräf-temangels und der starken Konkurrenz auf dem Arbeits-markt ist es absolut essenziell, dass die Bundeswehr alsattraktiver und moderner Arbeitgeber wahrgenommenwird.
Die Attraktivitätsoffensive ist für die Zukunftsfähig-keit der Bundeswehr von enormer Bedeutung. Das Bun-deswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz, über das wirheute beraten, ist ein zentraler und auch ein wichtigerBaustein in dieser Offensive, aber auch nicht der letzteund einzige. Die Verbesserungen im Zulagewesen undbei der Besoldung, bei den Dienstzeitregelungen und im
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Thomas Hitschler
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Versorgungsrecht sind absolut zu begrüßen. Das wurdeheute eigentlich von allen verdeutlicht. Aber die Attrak-tivität hört da noch lange nicht auf.Wir haben in den letzten Monaten auch einiges vonFlachbildschirmen, W-LAN und Kühlschränken gehört.Von einigen „Eisblockwärmern“ wurden diese Vor-schläge zwar belächelt, dennoch sind auch das sinnvolleMaßnahmen, wenn wir im Konkurrenzkampf um diebesten Köpfe bestehen wollen. Aber eines muss manhier auch unterstreichen: Das alles ist nichts wert, wenneinem gleichzeitig die Bude unter den Füßen wegschim-melt.Im Jahresbericht des Wehrbeauftragten nimmt der Zu-stand vieler Kasernen erneut eine zentrale Stelle ein.Kein Wunder; denn fast die Hälfte der Unterkünfte giltals marode. Beinahe jede zehnte Kaserne gilt als unbe-wohnbar. Meinen herzlichen Dank für diesen scho-nungslosen Bericht, lieber Herr Königshaus, er hilft auchuns in der Politik sehr weiter.
Wenn es schon am Fundament bröckelt, dann mussman deutlich mehr für die Attraktivität machen, als nurdie Fassaden zu streichen. Gerade in Westdeutschlandschieben wir einen enormen Sanierungsstau vor uns her.Das konnte ich bei meiner Sommertour selbst an vielenBundeswehrstandorten beobachten. Ein konkretes Bei-spiel bildet dabei die General-Sponeck-Kaserne in Ger-mersheim, eine Kaserne mit den besten Voraussetzungendafür, ein Paradebeispiel für eine attraktive Bundeswehrzu sein – und das nicht nur, weil sie im schönsten Wahl-kreis der Republik liegt.
– Zustimmung vom Kollegen Lindner, vollkommen zuRecht.Die General-Sponeck-Kaserne beherbergt das mittler-weile einzige Ausbildungsbataillon unserer Luftwaffeund gilt als deren Visitenkarte; denn dort werden die Sol-datinnen und Soldaten der Luftwaffe auf Auslandsein-sätze vorbereitet. Eine tolle Truppe und ein motivierterKommandeur leisten vor Ort eine Spitzenarbeit. Aberauch dieses Aushängeschild hat mit den gleichen Proble-men zu kämpfen wie viele andere Kasernen auch: ma-rode Gebäude, Baumängel und enorme Verzögerungenbei den Sanierungsmaßnahmen.Um den einfachen Antworten gleich einmal eines ent-gegenzuhalten: Am Geld allein liegt das nicht. 61 Mil-lionen Euro an Bundesmitteln stehen für die Baumaß-nahmen bereit, weitere 4 Millionen Euro für kleinereBaumaßnahmen. Aber die Umsetzung geht nur schlep-pend voran. Woran liegt das? Für den Neubau müsseneinige Gebäude abgerissen werden. Dort waren aber bisvor kurzem noch Soldatinnen und Soldaten unterge-bracht. Der Bau eines Wohngebäudes, das übergangs-weise als Ausweichquartier dienen sollte, hat sich jedochmassiv verzögert und konnte erst jetzt, nach fast fünfJahren Bauzeit, übergeben werden. Fünf Jahre, liebeKolleginnen und Kollegen!Gleich zwei Baufirmen sind in dieser Zeit bankrottge-gangen. Alle Folgeprojekte haben sich entsprechend mitverzögert und aufgestaut. Wie auch bei den vielen Män-geln in der Rüstung lässt sich also auch hier feststellen:Es fehlt nicht unbedingt am Geld, sondern an verlässli-cher Planung und gutem Management. Wer genau wannwo was verbockt hat, halte ich dabei erst einmal fürzweitrangig. Die Truppe interessiert sich nämlich nichtdafür, wer gerade wem den Schwarzen Peter zusteckt.Sie wollen, dass ihre maroden Kasernen endlich saniertwerden.
Auf unsere Initiative hin haben wir deshalb im letztenHaushalt beschlossen, dass das Verteidigungsministe-rium dem Parlament jährlich Fortschrittsberichte überdie Sanierung der einzelnen Liegenschaften zu übersen-den hat. Darauf werden wir jetzt auch pochen.
Wir brauchen nämlich keinen blinden Aktionismus,sondern verlässliche Analysen als Grundlage einer bes-seren Planung. Wir brauchen mehr Transparenz, aberauch Planungssicherheit. Dazu ist eine engere Abstim-mung mit den zuständigen Baubehörden der Bundeslän-der nötig. Darüber hinaus braucht es weitere konkreteMaßnahmen. Ein zentrales Projektcontrolling soll Risi-komanagement, Terminplanung und Kostenkontrollevereinen. Die einzelnen Verfahren sollten transparenterund einfacher gemacht werden. Ich meine, Bürokratie-abbau könnte gerade in diesem Bereich einiges erleich-tern.Mir leuchtet beispielsweise nicht ein, warum Kleinst-aufträge nicht auch unkompliziert von der Truppe vorOrt bearbeitet werden können. Gerade die kleinen undkleinsten Aufträge müssen besser gebündelt werden, da-mit es an zentralen Stellen der Planungsverfahren nichtzu Verstopfungen kommt.Punktuell sind auch personelle Verstärkungen zu prü-fen. Das gilt sowohl für die Landesbaubehörden als auchim militärischen Infrastrukturbereich auf Bundesebene.Der in der letzten Legislaturperiode beschlossene Abbauvon Personal im Zuge der Neuausrichtung machte sichgerade im Sanierungsstau bemerkbar, und darunter lei-den am Ende alle.Deshalb möchte ich an dieser Stelle unsere Aufforde-rung aus dem Haushaltsantrag an das Ministerium erneu-ern: Erhöhen Sie die Stehzeiten für die Infrastrukturoffi-ziere vor Ort. Denn nur, wo eine echte Baubegleitungder Maßnahmen möglich ist, kann am Ende auch effek-tiv gebaut werden.
Wir brauchen gleichzeitig in den zentralen Bereichenzusätzliches Personal für die Infrastrukturbearbeitung;denn nur so kann der unsägliche Sanierungsstau abge-baut und aufgelöst werden. „Überbelegung von Stuben,
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Thomas Hitschler
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Rost- und Schimmelbefall, Kloakengeruch und imWinter defekte Heizkörper in Sanitärbereichen“, diesePunkte bezeichnet der Jahresbericht 2014 des Wehrbe-auftragten als exemplarisch für die vernachlässigte Infra-struktur. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gleichtkein noch so großer Flachbildschirm aus.Wenn wir also über die Attraktivität der Bundeswehrsprechen, dann sind wir mit dem heutigen Gesetz nochlange nicht am Ziel. Es ist noch ein langer Weg, ein Weg,den wir aber gehen müssen. Wir schicken unsere Solda-tinnen und Soldaten in gefährliche Einsätze, bei denensie nicht weniger riskieren als ihr Leben. Es liegt inunserer Verantwortung, dass sie ordentlich vorbereitet,ausgerüstet und versorgt werden. Es liegt in unserer Ver-antwortung, dass sie hier bei uns in ordentlichen undmodernen Unterkünften untergebracht werden. Wennwir diese Verantwortung nicht ernst nehmen, müssen wirüber mehr Verantwortung in der Welt gar nicht erst re-den.Sei es bei der Ausrüstung, sei es bei den Kasernen, seies bei den Themen, die wir nun mit dem Attraktivitäts-gesetz konkret anpacken – ich ermutige uns alle: Lassenwir uns nicht von etwas Spott und Häme über Wohlfühl-truppen und Waldorfkasernen davon abbringen. Denndafür ist dieses Thema viel zu wichtig.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Julia Obermeier für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Soldatenberuf ist kein Beruf wie jeder an-dere. Der Dienst in den Streitkräften ist fordernd, außer-gewöhnlich und manchmal lebensgefährlich. Ob Pilotenvon Kampfjets, U-Boot-Fahrer, Scharfschützen, Instand-setzungsfeldwebel, Flugzeugmechaniker oder Sanitäter,alle Angehörigen der Bundeswehr haben den Auftrag,uns und unser Land zu verteidigen. Diese für die äußereSicherheit unseres Staates wesentliche Aufgabe legenwir Tag für Tag in ihre Hände.Ich habe die Bundeswehr bei vielen Truppenbesuchenerlebt. Vor allem im Ausland wurde mir deutlich vor Au-gen geführt, welch herausragende Leistungen unsereFrauen und Männer in Uniform bei der Erfüllung ihresDienstes erbringen.Die Attraktivität dieses einzigartigen Berufs fußt glei-chermaßen auf zwei Säulen:Die erste Säule sind gutes Gerät, Material und Aus-rüstung. Auch wenn die Industrie nicht immer liefert:Unser Anspruch ist und bleibt bestes und modernstesGerät für unsere Bundeswehr. Deshalb streben wir aucheine moderate Erhöhung des Wehretats und die richtigeBalance zwischen investiven Ausgaben und Betriebs-kosten an.Damit eine Mission erfüllt werden kann, braucht manaber mehr als das richtige Gerät; es kommt vor allem aufdie Menschen an. Damit kommen wir zur zweiten Säule,zu den attraktiven Arbeitsbedingungen. Genau hier setztdie Attraktivitätsoffensive unserer Ministerin an. DieseInitiative kommt zum rechten Zeitpunkt: 2015 wird dieUmsetzung der Bundeswehrreform für die Truppe im-mer greifbarer. Der erste Schritt der Offensive war dieAgenda „Bundeswehr in Führung – Aktiv. Attraktiv. An-ders.“ mit wichtigen Maßnahmen wie modernen Ar-beitszeitmodellen, Angeboten zur Kinderbetreuung undmodernen Unterkünften.Das Gesetzesvorhaben, über das wir heute beraten,stellt den zweiten Schritt der Attraktivitätsoffensive darund umfasst die Teilbereiche: bessere Arbeitsbedingun-gen, attraktive Vergütung und bessere soziale Absiche-rung der Angehörigen der Bundeswehr. Zu den insgesamt22 Maßnahmen gehören zum Beispiel eine Erhöhungdes Wehrsolds, eine deutliche Steigerung bei Zulagen fürbesonders fordernde Aufgaben oder neue Teilzeitbe-schäftigungsmodelle, um die Vereinbarkeit von Dienstund Familie zu verbessern.Wir brauchen dieses Bundeswehr-Attraktivitätssteige-rungsgesetz, damit einer der größten öffentlichen Arbeitge-ber Deutschlands auch künftig seinen hohen Personalbedarfdecken kann. Wie der Vorsitzende des Bundeswehr-Verbandes, André Wüstner, richtig festgestellt hat, istder Gesetzentwurf zentral, um qualifizierten Nachwuchsfür die Truppe zu gewinnen. An dieser Stelle möchte ichdem BundeswehrVerband noch einmal herzlich für sei-nen vielfältigen Einsatz für die Soldatinnen und Soldatendanken.
Der vorliegende Gesetzentwurf lässt keinen Zweifel:Wir befinden uns hier auf dem richtigen Weg, auch wennnoch nicht alles erreicht ist, was im Koalitionsvertragsteht. Wir werden uns auf alle Fälle auch weiterhin füreine Steigerung der Attraktivität des Arbeitgebers Bun-deswehr einsetzen. Aus zahlreichen Gesprächen mit Sol-datinnen und Soldaten weiß ich um Wünsche nach wei-teren Verbesserungen beim Versorgungsausgleich oderbei der nachträglichen Versicherung von Soldaten aufZeit.Ich hoffe, dass wir in den nun beginnenden parlamen-tarischen Beratungen noch die eine oder andere Verbes-serung umsetzen können, zum Beispiel im Bereich desBerufsförderungsdienstes oder bei der Stichtagsregelungfür die Entschädigung bei Einsatzunfällen. Konkretwürde ich mir hier eine Rückdatierung auf 1991 wün-schen, sodass auch der Einsatz in Kambodscha abge-deckt ist.Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind mit einemhohen Risiko für unsere Soldatinnen und Soldaten be-haftet. Deshalb setzen wir uns besonders für eine weitereVerbesserung der Versorgung von Einsatzgeschädigtenund Hinterbliebenen ein, auch wenn die Fälle möglicher-weise weit in der Vergangenheit liegen.Die Würdigung der Arbeit unserer Soldatinnen undSoldaten liegt mir ganz besonders am Herzen. Sie neh-men für unser Land eine schwere Belastung auf sich. Ihr
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7913
Julia Obermeier
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Einsatz für unser Vaterland verdient unser aller Anerken-nung und unser aller Respekt.
Wir Parlamentarier – insbesondere spreche ich hier fürmeine CDU/CSU-Fraktion – stehen an der Seite unsererStreitkräfte.
Das Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz istein wichtiger Beitrag, um diese Leistung der Soldatinnenund Soldaten anzuerkennen. Ich danke unserer Verteidi-gungsministerin für diese wichtige Initiative und freuemich auf die weiteren parlamentarischen Beratungen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Oswin Veith, auch für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten auf der Besu-chertribüne! Zum Schluss der Debatte will ich noch ein-mal daran erinnern: Vor knapp sechs Monaten haben Sie,Frau Bundesministerin von der Leyen, Ihren Anspruchformuliert, die Bundeswehr zu einem der attraktivstenArbeitgeber in Deutschland zu machen. Von vielendamals belächelt, lassen Sie mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf im Rekordtempo Taten folgen. Das ist vor-bildlich und zeigt den hohen Stellenwert und die Wert-schätzung der Leistungen unserer Soldatinnen undSoldaten, und das begrüße ich und begrüßt meine Frak-tion außerordentlich.
Wenn es denn richtig ist, dass wir eine zukunftssichereBundeswehr mit leistungsfähigen, loyalen und hoch-motivierten Soldaten wollen, dann ist Ihre Initiative,Frau Ministerin, genau die richtige zur richtigen Zeit.Danken möchte ich an dieser Stelle auch dem Bun-desminister des Innern und seinem ganzen Hause, das inengem Schulterschluss den Gesetzentwurf mit ausgear-beitet hat. In der Tat ist so sehr schnell ein großer Wurfgelungen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Attraktivität darf inZeiten des demografischen Wandels keine leere Wort-hülse sein. Das gilt für den Soldatenberuf ebenso wie fürdas Beamtentum und den öffentlichen Dienst insgesamt.Attraktivität ist konkret, und sie ist auch messbar. Siezeigt sich zum Beispiel in Bewerberzahlen oder demImage eines Arbeitgebers.Die Opposition hat heute viel zu diesem Thema ge-sagt und dabei vieles unnötig schlechtgeredet. Ich willdiesen Worten Zahlen entgegensetzen: Polizei und Bun-deswehr sind im aktuellen Schülerbarometer die belieb-testen Arbeitgeber. Bemerkenswert ist dabei, dass dieBundeswehr bei dieser repräsentativen Umfrage beson-ders in der Gunst der Mädchen zugelegt hat. Klasse, sageich da nur. Darüber hinaus konnte am Anfang dieser Wo-che ein neuer Rekord mit 11 000 freiwillig Wehrdienst-leistenden verzeichnet werden; ein Spitzenwert. Ichfinde, das sind alles erfreuliche Entwicklungen, die zei-gen, dass die Richtung stimmt. Das sollte auch die Op-position zur Kenntnis nehmen.Liebe Opposition, das heißt auch, dass es sich dabeieben nicht um Zufälle handelt. Vielmehr ist es das Er-gebnis der unter Bundesminister de Maizière begonne-nen Maßnahmen, die nun von unserer amtierendenVerteidigungsministerin konkretisiert und intensiviertwerden.
Viele Details sind bereits von meinen Vorrednern er-wähnt worden. Ich möchte im Wesentlichen drei Verbes-serungen ansprechen, die ich gerade für die Zeit- undBerufssoldaten für besonders wichtig erachte. Erstens.Eine gesetzliche Arbeitszeitregelung klingt für viele Ar-beitnehmer selbstverständlich. Für Bundeswehrsoldatengibt es sie nicht; noch nicht; denn nun soll sie im Grund-betrieb eingeführt werden. Das klingt zunächst einmalnicht spektakulär, jedoch verbessert es die Planbarkeitdes Dienstes und trägt damit zur besseren Vereinbarkeitvon Dienst und Privatleben bei.Zweitens. Auch die Aufhebung der Hinzuverdienst-grenzen ist eine wichtige Maßnahme. Auf Wunsch deseigenen Dienstherren werden Berufssoldaten im Schnittfast acht Jahre früher als Beamte in den Ruhestand ver-setzt. Das wirkt sich auch auf ihre Versorgungsbezügeaus. Dabei haben die Soldaten aufgrund der besonderenAltersgrenzen keine Möglichkeit, ihre Versorgungssitua-tion durch längeres Dienen zu verbessern. Der Gesetz-entwurf trägt dem Rechnung und streicht die bestehen-den Grenzen für Hinzuverdienst, der in dieser Phaseprivatwirtschaftlich erzielt wird. Wir befördern damitden Leistungswillen und stärken die Möglichkeiten derAltersversorgung für unsere Berufssoldaten – eine wich-tige und richtige Botschaft, wie ich finde.Drittens. Durch die speziellen Altersgrenzen für Be-rufssoldatinnen und -soldaten greift im Falle einer Schei-dung der Anspruch auf einen Teil der Pension wesentlichfrüher als bei den Beamten. Es ist daher richtig, auch beimVersorgungsausgleich die Altersgrenze auf 61 Jahre anzu-heben. Das ist eine Angleichung, die ein Stück mehr Ge-rechtigkeit bedeutet.An den von mir vorgebrachten Beispielen wird deut-lich: Wir reden hier nicht über Geschenke an die Solda-tinnen und Soldaten, sondern über sinnvolle Anpassun-gen an die Regelungen der übrigen Bundesbeamten unddes öffentlichen Dienstes.
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7914 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Oswin Veith
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Daher darf der vorliegende Gesetzentwurf auch nicht alsZurücksetzung der Beamten missinterpretiert werden;denn viele der Änderungen zielen auf eine Angleichungder Rechtslage der Soldaten an Standards, die für unsereBeamten schon länger gelten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Staats-sekretär Gerd Hoofe hat in einem Interview gesagt– auch die Frau Bundesministerin hat dies heute hier an-gesprochen –, dass die Attraktivitätsagenda mehr einMarathon denn ein Sprint sei. Recht hat er. Und trotzdemhaben die zur Debatte stehenden Maßnahmen eines ge-meinsam: Sie können schnell Wirkung entfalten. Ichfreue mich daher, dass wir bereits jetzt einen wichtigenBaustein zur Attraktivitätssteigerung des Dienstes in derBundeswehr beraten können. Für mich ist das jetzt schonein gelungenes Werk.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 18/3697 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall, dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Unter dem Zusatzpunkt 7 kommen wir zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungs-
ausschusses zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Mehr Gerechtigkeit bei der Ent-
schädigung von Einsatzunfällen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
18/3126, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/2874 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Antrag-
steller bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für die
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern an Führungspositionen in der Pri-
vatwirtschaft und im öffentlichen Dienst
Drucksache 18/3784
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Zweiter Erfahrungsbericht der Bundesregie-
rung zum Bundesgleichstellungsgesetz
Drucksache 17/4307
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Fünfter Gremienbericht der Bundesregierung
zum Bundesgremienbesetzungsgesetz
Drucksache 17/4308
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache wiederum 96 Minuten vorgesehen. –
Das ist offenkundig unstreitig. Also verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Manuela Schwesig.
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Aber Herr Lammert ist da. Das ist doch auch toll. Ein
Präsident, der zuhört.
Er ist gelegentlich schon einmal hier. Ich bedankemich ausdrücklich für die freundliche Erwähnung.Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren Abgeordnete!Männer und Frauen sind gleichberechtigt.So steht es im Grundgesetz, Artikel 3 Absatz 2 Satz 1.Die Lebenswirklichkeit sieht anders aus. Frauen habenim letzten Jahrzehnt den Arbeitsmarkt erobert, aber siebekommen immer noch weniger Lohn für die gleicheArbeit. Sie kommen trotz bester Ausbildung weniger inFührungsetagen an. Sie tragen immer noch die Last für
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7915
Bundesministerin Manuela Schwesig
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die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das muss sichändern.
Im letzten Jahr haben wir drei Gesetze auf den Weggebracht, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familiefür Männer und Frauen zu verbessern. In diesem Jahr be-schäftigen wir uns mit den Themen: Beseitigung vonLohnungerechtigkeit und mehr Frauen in Führungsposi-tionen.Gut die Hälfte der jungen Menschen, die die Schulemit der allgemeinen Hochschulreife abschließen, sindMädchen. Gut die Hälfte der jungen Menschen, die ei-nen Hochschulabschluss machen, sind Frauen. Im Bil-dungssystem sind Männer und Frauen auf den erstenBlick gleichberechtigt: dem Ergebnis nach. Aber nicht inder Arbeitswelt. Der Anteil von Frauen in den Aufsichts-räten der 200 größten Unternehmen in Deutschland be-trägt 18 Prozent, in den Vorständen nur 5 Prozent. Dassind die aktuellen Zahlen aus dem Managerinnen-Baro-meter des DIW.In Artikel 3 unseres Grundgesetzes heißt es weiter:Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung derGleichberechtigung von Frauen und Männern undwirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteilehin.In dieser Verantwortung stehen wir, sehr geehrte Damenund Herren. Wir müssen dafür sorgen, dass die imGrundgesetz formulierte Gleichberechtigung von Frauenund Männern auch tatsächlich in der Lebenswirklichkeitvorhanden ist.
In dieser Verantwortung legen der Bundesjustizminis-ter Heiko Maas und ich Ihnen heute einen Gesetzentwurffür die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Män-nern an Führungspositionen vor. Dieser Gesetzentwurfverpflichtet mehr als 100 Unternehmen zu einer festenGeschlechterquote. Über 3 000 Unternehmen müssensich verbindliche Zielvorgaben geben und damit ihreUnternehmenskultur und die Chancen von Frauen in denMittelpunkt rücken.Darüber hinaus wird dieses Gesetz einen Kulturwan-del in der Arbeitswelt einleiten. Wenn es an der Spitzeeines Unternehmens oder an der Spitze der öffentlichenVerwaltung keine Gleichberechtigung gibt, wer glaubtdann, dass es im Rest des Unternehmens oder der Ver-waltung Gleichberechtigung gibt? Sobald es aber mehrFrauen in Führungspositionen gibt, werden gleicheChancen in Unternehmen und Verwaltungen selbstver-ständlicher.Es war immer so, dass sich Frauen Gleichberechti-gung hart erkämpfen mussten. Es ist heute immer nochso. Es ist ein Kampf um Macht, Geld und Einfluss. Dasgibt niemand freiwillig ab.Schauen wir auf ein Unternehmen der DAX-Gruppe.Es ist in der Gesundheitswirtschaft tätig und hat im letz-ten Geschäftsbericht einen Jahresumsatz von 20 Milliar-den Euro angegeben. Auf die Anteilseigner entfiel einKonzernergebnis von gut 1 Milliarde Euro. Erwirtschaf-tet wurde dieses Ergebnis von 178 000 Beschäftigtenweltweit, davon 54 000 in Deutschland. Zwei Drittel da-von sind Frauen. Das Unternehmen bekennt sich im La-gebericht zur Förderung der Frauen, aber im Vorstandarbeitet keine einzige Frau; auch im Aufsichtsrat: keineeinzige Frau!
Obwohl Frauen dieses brillante Ergebnis erarbeitet,diese Umsätze erwirtschaftet und diese Gewinne erzielthaben, sind sie nicht dort vertreten, wo über Arbeits- undLohnbedingungen entschieden wird. Das ist ungerecht!Das muss sich ändern!
Ende November hat eine Frau auf Facebook Folgen-des gepostet: „Der Denkfehler der Quoten-Gegner be-steht darin, dass sie annehmen, ohne Regelung würdensich die Qualifiziertesten durchsetzen. Egal ob Mannoder Frau.“ Das ist auch das Argument des eben be-schriebenen Unternehmens, warum es keine Frauen-quote will. Die Frau auf Facebook schreibt weiter: „Inder idealen Welt wäre das auch so, aber nachgewiesener-maßen ist das nicht der Fall. Solange die Welt nicht idealist, hilft die Quote.“ Ich finde, die Frau hat recht.
Solange Gleichberechtigung nicht verwirklicht ist, brau-chen wir Gesetze, die sie voranbringen.Das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe vonMännern und Frauen an Führungspositionen ist auch einInnovationsgesetz. Wer auch heute noch davon spricht,dass wir damit die Wirtschaft belasten, der sollte sich dieStudien von Unternehmensberatungen angucken, zumBeispiel die von McKinsey oder dem Karlsruher Institutfür Technologie. Beide sind sich einig: Unternehmen mitgemischten Führungsteams sind erfolgreicher. EineSchweizer Bank hat errechnet, dass sich die Aktienkursevon Unternehmen mit Frauen im Aufsichtsrat zwischen2005 und 2011 um 26 Prozent besser entwickelt haben.Anders gesagt – hier zitiere ich gerne eine Abgeordneteder CSU, die ihre Zustimmung zur Quote anlässlich derBerliner Erklärung so begründet hat –: „Manchmal mussman die Leute zu ihrem Glück zwingen.“
Die Situation in der Privatwirtschaft unterscheidetsich nicht groß vom öffentlichen Dienst. Ja, wir habenim öffentlichen Bereich mehr Frauen in Führungsposi-tionen; das ist angesichts der Zahlen der Wirtschaft abernicht wirklich schwierig. Deshalb muss sich auch hieretwas ändern. Wir werden die Vorschriften, die für dieWirtschaft gelten, eins zu eins im öffentlichen Bereich
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Bundesministerin Manuela Schwesig
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umsetzen. Das, was wir der Wirtschaft vorgeben, müs-sen wir auch selbst einhalten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeord-nete, 1982 war ich sechs Jahre alt und dieses Gebäudelag für mich hinter einer scheinbar unüberwindbarenMauer. Ich wusste damals nichts von meinem Glück,dass ich ein solches Gesetz einmal durchkämpfen darf.Ich wusste auch nichts von dem Glück, dass ich einentoughen Mann, und zwar unseren Justizminister, an derSeite haben würde, der mir dabei hilft.1982 hat die damalige Bundesministerin für Jugend,Familie und Gesundheit, Antje Huber, in Bonn eineSachverständigenanhörung zur Situation von Frauen inder Arbeitswelt organisiert. Diskutiert wurde unter ande-rem, ob eine Quotierung helfen würde. Seitdem ist vielpassiert: Die Mauer ist niedergerissen worden. Aber dieTeilhabe von Frauen in Führungspositionen hat sichnicht wirklich verbessert.Jetzt kommt Bewegung rein. Allein die Diskussionüber den Gesetzentwurf hat dazu geführt, dass sich dieUnternehmen darüber Gedanken machen, wo die Hemm-nisse in der Arbeitswelt liegen. Sie fragen sich: Was kön-nen wir dafür tun, dass die qualifizierten Frauen, die wirhaben, auch tatsächlich in den Führungsetagen ankom-men? – Wer Sorge hat, dass wir diese Frauen nichthaben, dem sage ich: Es geht ganz konkret um 174 Füh-rungspositionen in Unternehmen. Wir haben 40 Millio-nen Frauen in Deutschland, und man darf sich auch in-ternational umschauen. Ich glaube, das wird zu schaffensein.
Der Kulturwandel, den dieses Gesetz befördern wird,geht weit über den Geltungsbereich des Gesetzes hinaus.Das zeigt zum Beispiel der Deutsche Caritasverband, dernicht direkt von diesem Gesetz betroffen ist, der aber fürsich selbst feststellt: 80 Prozent der Beschäftigten beider Caritas sind Frauen – klar, da wird die soziale Arbeitgemacht; von der Kita bis zum Pflegeheim: Wer machtden Job? Die Frauen –, aber nur 20 Prozent sind inden Führungsetagen vertreten. Dort, wo über Arbeits-und Lohnbedingungen entschieden wird, sind wenigFrauen vertreten, obwohl sie die Arbeit machen; genauwie in der Wirtschaft. Der Präsident des Deutschen Cari-tasverbandes sagt dazu: Das muss sich ändern; wir brau-chen mehr Frauen in Führungspositionen. – Sie sehenalso: Dieses Gesetz wirkt, bevor es da ist; dieses Gesetzbewirkt einen Kulturwandel, weit über die Grenzen desGesetzes hinaus.
Ich möchte mich ganz herzlich bei den Frauen undden Männern bedanken, die über alle Fraktionsgrenzenhinweg in der letzten Legislaturperiode die Berliner Er-klärung formuliert haben. Sie haben sich aufeinander zu-bewegt und gesagt: Wir wollen etwas bewegen für dieFrauen. – Der Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt, ist vondiesem Geist getragen. Wir haben verschiedene Positio-nen zusammengebracht, um etwas für die Frauen, für dieGleichberechtigung in unserem Land zu tun. Ich hoffe,dass wir in diesem Geist die parlamentarischen Beratun-gen durchführen werden. Es wurde viele Jahre darüberdiskutiert. Seit 30 Jahren wurde viel gestritten. Jetztmüssen wir uns auf den Weg machen. Ich freue mich aufdie parlamentarischen Beratungen.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Über ein Jahr wird nun schon lauthals und öf-fentlich über die Frauenquote für die Privatwirtschaftdiskutiert. Es wurde zäh verhandelt, und es gab sage undschreibe sechs verschiedene Referentenentwürfe. DieWirtschaftsvertreter warnten vor unzumutbaren Belas-tungen für die deutsche Wirtschaft, und Herr Kauder, derFraktionschef der CDU/CSU-Fraktion, machte sich auchnoch einen Namen als Obermacho des Deutschen Bun-destages, als er Frau Schwesig als weinerlich be-schimpfte; dabei hatte Herr Kauder – ich sehe ihn geradenicht – wirklich harte Konkurrenz.
Warum das ganze Geschrei? Warum, um im Bild vonHerrn Kauder zu bleiben, die ganze Heulerei? Ich könnteauch fragen: Wovor eigentlich die ganze Angst? Ja, esgeht um schätzungsweise 180 Frauen, die von dieser fes-ten Quote profitieren sollen. Sie hören richtig: Es gehtum gerade einmal 180 Frauen in 108 Unternehmen. We-gen dieser kleinen Zahl von Frauen gehen die Union unddie deutsche Wirtschaft seit Monaten auf die Barrikaden.Ich finde, das ist ein völlig lächerlicher Vorgang.
Was Sie hier heute vorlegen, Frau Schwesig, das istleider keine effektive Frauenquote. Das ist maximal einkleines Frauenquötchen, über das sich die Aufregungund der Widerstand gar nicht gelohnt haben. Mal abge-sehen davon, dass diese Frauenquote gar nicht für alleUnternehmen gelten soll, legen Sie nicht eine Quote von50 Prozent fest, sondern von gerade einmal 30 Prozent.Sie soll auch nicht für die Vorstände gelten, sondern le-diglich für die Aufsichtsräte. Eine 30-Prozent-Quote, dasist maximal eine Herausforderung für die CDU/CSU-Fraktion, die hier im Haus mit 25 Prozent die geringsteFrauenquote hat; aber an diesem niedrigen Niveau dür-fen wir uns doch nun wirklich nicht messen lassen.
Deswegen ist jede Selbstbeweihräucherung bei diesemGesetzentwurf völlig fehl angebracht. Das ist kein gro-ßer Durchbruch für die Frauen. Das ist bestenfalls ein
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7917
Caren Lay
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Stillstand. Dieser ganze Vorgang belegt für mich, ehrlichgesagt, nur, dass die Männerbündelei in DeutschlandsVorstandsetagen und auch in der CDU/CSU-Fraktionleider immer noch ziemlich gut funktioniert. Das müssenwir endlich einmal ändern.
Was soll denn in den anderen 3 500 Unternehmenpassieren? Ja, sie sollen sich Zielgrößen geben, die sieselbst definieren. Was passiert eigentlich, wenn sie sienicht einhalten? Oh, dann passiert gar nichts. Das istdoch im Kern nichts anderes als eine freiwillige Selbst-verpflichtung, die schon in der Vergangenheit nichts,aber auch gar nichts gebracht hat. Wir können das nichtakzeptieren.
Selbst die kleinen Fortschritte, die wir für Frauen inder Privatwirtschaft erreichen, erkaufen wir uns mit Ver-schlechterungen für Frauen im öffentlichen Dienst. Hiergilt jetzt eine 50-Prozent-Quote. Das Problem ist ja nichtdie Quote, sondern die schlechte Umsetzung in der Pra-xis. Anstatt sich zu überlegen, wie wir das ändern kön-nen, wie wir das verbessern können – dazu gibt es klugeVorschläge –, hängen Sie einfach die Latte niedriger.Statt einer Quote von 50 Prozent soll jetzt eine Quotevon nur noch 30 Prozent gelten, um sie in ein paar Jah-ren wieder auf 45 Prozent anzuheben. Da lobt man sicheigentlich Frau Merkel, die vor 20 Jahren die 50-Pro-zent-Quote eingeführt hat. Jetzt wollen wir es wieder ab-schwächen. Das ist doch völlig absurd. Ich finde, hierkönnte die Kanzlerin ein Machtwort sprechen.
In der Kritik steht ja auch das Bundesgleichstellungs-gesetz, das jetzt – ich finde, ohne Not – in einem Auf-wasch mit geändert werden soll, übrigens zum Schlech-teren. Bislang galt das Prinzip der Frauenförderung, jetztsoll es geschlechtsneutral gestaltet werden. Das soll si-cherlich schön modern daherkommen: Man ist jetzt nichtfür mehr Frauen, sondern vielleicht für mehr Geschlech-tergerechtigkeit. Man ist vielleicht zur Einschätzung ge-kommen, dass Feminismus out ist, und hat einen neuenBegriff erfunden: die Geschlechteransprache. Was sichfür mich wie eine Wortneuschöpfung aus einem Satire-magazin anhört, soll jetzt offiziell in einem Gesetz desDeutschen Bundestages enthalten sein. Das kann ich ein-fach nicht glauben.Wissen Sie: Mehr männliche Grundschullehrer, mehrKitaerzieher, das fände ich wirklich richtig gut. Das Pro-blem ist aber nicht, dass Männer bei der Einstellung dis-kriminiert werden, das Problem ist doch, dass dieser Be-ruf für Männer offenbar viel zu wenig attraktiv ist.Deswegen sagen wir als Linke: Verbessern Sie endlichdie Bezahlung in diesen Berufen – dann werden dieseBerufe vielleicht auch für Männer attraktiver –, aber las-sen Sie die Finger von der Frauenquote.
Die Aufstiegschancen für Grundschullehrer sind übri-gens ziemlich gut. Denn in den Schulleitungen sindMänner ja deutlich überrepräsentiert.Wir fragen uns nach der Notwendigkeit dieser Neure-gelung: Frauenquote weg, dafür aber die Geschlechter-ansprache einführen. Das ist doch wirklich eine Verken-nung der Tatsache, dass Frauen in unserer Gesellschaftimmer noch strukturell benachteiligt werden: 20 Prozentverbeamtete Staatssekretärinnen in den Bundesministe-rien, 23 Prozent Abteilungsleiterinnen, nur jede fünfteProfessur ist mit einer Frau besetzt. Da fragt KristinRose-Möhring, die Gleichstellungsbeauftragte in IhremMinisterium, Frau Schwesig, völlig zu Recht in einemSchreiben an uns: Es erschließt sich nicht, warum eingrundsätzlich gutes Gesetz einem schlechteren weichensoll. – Mir erschließt es sich auch nicht.
Um zum Abschluss den Blick von den Führungseta-gen wegzulenken, schauen wir uns einmal an, wie es beiden normalen Beschäftigten aussieht. Seit vielen Jahrenund noch immer verdienen Frauen für die gleiche Arbeitim Schnitt 22 Prozent weniger als Männer. Damit liegtDeutschland im europäischen Vergleich auf dem dritt-letzten Platz. Ich finde, in Sachen Gleichstellung istDeutschland ein Entwicklungsland. Es wird höchsteZeit, dass wir das ändern. Mit diesem Gesetzentwurfwird es nicht gelingen.
Wir könnten es in diesem Hohen Hause ändern. DieSPD hat mehr gewollt. Die Grünen wollen mehr. Wir alsLinke wollen sowieso mehr.
Ich hoffe, ehrlich gesagt, auf ein paar mutige Frauen inder CDU/CSU-Fraktion. Machen Sie mit! Helfen Sieuns, diesen Murks zu verändern und zu verbessern, da-mit am Ende doch noch ein gutes Gesetz dabei heraus-kommt. Die Frauen in diesem Land hätten es verdient.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Marcus
Weinberg.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ja, das kennen wir von den Linken: mehr,mehr, mehr.
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7918 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Marcus Weinberg
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Man fragt sich nur, woher. Diese Frage sollten Sie auchmal beantworten.
Ich will am Anfang ein Thema aufgreifen, das dieMinisterin skizziert hat: die Idealwelt. Ich mache keinGeheimnis daraus – ich glaube, das gilt für viele Kolle-ginnen und Kollegen hier –: Von unserer Überzeugungher wäre es natürlich das Beste, wir müssten diese Dis-kussion gar nicht führen,
weil wir eine Gesellschaft hätten, in der das Geschlecht,die Herkunft, Frau Künast, und andere Dinge keineRolle spielen, eine Gesellschaft, in der das Individuummit seinen Kompetenzen, mit seinen Fähigkeiten dasEntscheidende ist
und in der auch bei der Auswahl in Gesellschaft, Politikund Wirtschaft nur diese Eigenschaften zählen und nichtdas Geschlecht. Es wird das Ziel des Kulturwandels sein,den wir herbeiführen wollen, dass wir diese Diskussionin 10, 15 Jahren nicht mehr führen müssen, weil wir mitBlick auf die Führungspositionen in der Wirtschaft undanderswo eine Situation erreicht haben werden, in derwir strukturell bedingte Benachteiligungen nicht mehrerleben.Das Grundgesetz gibt uns eine klare Anweisung. Esist unser Auftrag, Artikel 3 des Grundgesetzes Rechnungzu tragen. Das heißt, der Staat bzw. die Politik hat denAuftrag, die Gleichberechtigung und ihre Durchsetzungzu fördern und insbesondere Benachteiligungen zu be-seitigen. Dieser Gedanke muss uns in den nächsten Jah-ren leiten, wenn es um die Individualität des Menschenund um die Beantwortung der Geschlechterfrage geht.Dazu zwei Vorbemerkungen:Erstens. Diese Diskussion führen wir seit vielen Jah-ren. Es war übrigens die Union, die diese Diskussion2005 noch einmal angeschoben hat,
zunächst einmal in dem klaren Verständnis, dass es im-mer darum gehen muss, dieses Thema gemeinsam mitden betroffenen Akteuren anzugehen: im Rahmen vonFreiwilligkeit, Appellen und Aufforderungen.
– Frau Künast, das Prinzip des Dazwischenquatschensmag bei Ihnen Gültigkeit haben. Wir aber denken, mansollte erst einmal zuhören, bevor man sich äußert. Daransollten auch Sie sich halten.
Frau Lay, Sie haben zwei Aspekte, die ich gerne auf-greifen möchte, angesprochen. Sie haben die Anzahl derAbteilungsleiterinnen erwähnt. Da stimme ich Ihnen zu:Das ist nicht in Ordnung. Sie haben die Anzahl vonFrauen in der mittleren Führungsebene angesprochen,auch und gerade im Apparat der Verwaltung. Es stimmt:Da gibt es zu wenige Frauen. Aber ich sage Ihnen aucheines: 40 Prozent der Regierung – ich verweise nur aufdie Kanzlerin und die Ministerinnen – sind weiblich.Das heißt, diese Regierung setzt das, was sie fordert, be-reits um, und das ist auch gut so.
Frau Lay, Sie haben uns wieder einmal vorgeworfen– das sage ich ganz deutlich, weil das Schimpfen auf dieUnion nicht nur bei Frau Künast Konjunktur hat –, dasswir Frauen nicht fördern. Ich will nur daran erinnern:Die erste Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutsch-land wird von der CDU gestellt, die erste Verteidigungs-ministerin der Bundesrepublik Deutschland wird von derCDU gestellt, und die Landesgruppe der ach so konser-vativen CSU wird von einer Frau geführt. Darauf sindwir stolz. Ich glaube, da sind wir auch Vorbild.
– Frau Künast, es geht auch um Haltung und Stil in die-sem Haus.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7919
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In einer neueren Untersuchung des Deutschen Insti-tuts für Wirtschaftsforschung kam man zu dem Ergebnis– die Ministerin hat das angesprochen –, dass nach vie-len Jahren der Appelle und der Freiwilligkeit in den200 größten deutschen Unternehmen die Vorstände ge-rade einmal zu 5 Prozent und die Aufsichtsräte nur zu18 Prozent mit Frauen besetzt sind. Offensichtlich giltfür die Politik ebenso wie für die Wirtschaft, dass Frauenin Toppositionen nicht genauso gut sein müssen wieMänner, sondern dass sie wesentlich besser sein müssen.Das entspricht nicht dem Grundgesetz. Dieses Problemmüssen wir angehen. Diese gläserne Decke müssen wirendlich durchbrechen.
An zwei Dingen kann das nicht liegen. Das kann ers-tens nicht an den Kompetenzen und an der Bildung lie-gen. Denn wir wissen, dass die Frauen in den letztenJahren gerade im Bildungs- und im Hochschulbereichnicht nur aufgeholt, sondern die Männer in weiten Teilensogar überholt haben. Wir werden uns mit Blick auf dasSchulsystem mehr Gedanken darüber machen müssen,wie wir uns um Jungen, die abgehängt sind, kümmernkönnen.Wenn Frauenmangel gerade in MINT-Berufen derGrund dafür wäre, dass in den obersten Etagen vonMINT-Unternehmen keine Frauen vertreten sind, dannmüssten ja wenigstens in den Vorständen und Aufsichts-räten anderer Unternehmen wie Banken oder Versiche-rungen mehr Frauen vertreten sein. Tatsache ist aber,dass die Posten in den Chefetagen zu 95 Prozent vonMännern besetzt werden. Wenn man sich die Aufsichts-räte sogenannter MINT-Unternehmen anschaut, dannstellt man fest, dass die Anzahl der Männer, die eine na-turwissenschaftliche Ausbildung haben, sehr überschau-bar ist. Es sind auch hier in erster Linie Juristen undKaufleute, die diese Positionen besetzen. Was nicht ge-gen Männer spricht, darf auch nicht als Argument gegenFrauen missbraucht werden; ich glaube, dieser Grund-satz muss gelten.Zweitens – auch dies wurde von der Ministerin be-reits angesprochen – kann man das Erklärungsmusterbzw. die Behauptung, dass Frauen aufgrund ihrer fami-liären Verpflichtungen nicht in Führungspositionen kom-men können, relativ schnell empirisch widerlegen. Al-lein die Tatsache, dass weder Frauen mit Kindern nochFrauen ohne Kinder in relevanter Zahl in Aufsichtsrätenoder Vorständen vertreten sind, zeigt: An Kindern undan Zeiten der Kindererziehung kann es nicht liegen.Schon in den ersten Berufsjahren, in denen viele Be-schäftigte noch keine Familie gegründet haben, werdenMänner schneller befördert als Frauen. Nach einer Un-tersuchung des Hochschul-Informations-Systems HISsteigen 40 Prozent der Männer, aber nur 24 Prozent derFrauen schon in den ersten fünf Jahren nach ihrem Uni-versitätsabschluss auf. Fazit: Es gibt keine Benachteili-gung, die individuell zu erklären ist. Es gibt aber ein Er-klärungsmuster, das auf strukturelle Defizite verweist.Hier muss die Politik ansetzen. Wir sagen: Nach der Zeitder Appelle, der Freiwilligkeit und der Flexi-Quote müs-sen wir nun einen Schritt weiter gehen. Wir nutzen dieQuote, um sie irgendwann überflüssig zu machen.Worum geht es uns? Ich möchte eines noch einmalklarstellen: Es geht uns nicht darum, dass schlechterqualifizierte Frauen gut qualifizierten Männern vorgezo-gen werden sollten, sondern es geht uns darum, dassgute, geeignete Frauen die gleichen Chancen bekom-men; das ist das Mindeste, was wir garantieren müssen.
Dafür müssen gute Frauen aber erst einmal sichtbar wer-den, sie müssen in der Hierarchie von Unternehmennach oben kommen, sie müssen ermutigt und aufgefor-dert werden. Genau diesen Kulturwandel soll der vorlie-gende Gesetzentwurf bewirken.Bei „Mehr Frauen in Führungspositionen“ geht esnicht nur um die Umsetzung des Auftrages des Grundge-setzes und um Gerechtigkeit, sondern auch um die Wett-bewerbsfähigkeit der Unternehmen selbst. Es hat sichnämlich gezeigt – Studien haben das festgestellt –, dassgemischte Teams – mit Männern und Frauen – ein höhe-res Potenzial an Kreativität haben, dass sie erfolgreichersind, Unternehmen eher zum Erfolg führen als aus-schließlich mit Personen ein und desselben Geschlechtsbesetzte Teams.Wir müssen uns vor Augen führen – auch vor demHintergrund des Fachkräftemangels –, dass es angesichtsder immer besseren, bereits heute exzellenten Ausbil-dung, Qualifikation von Frauen eine nahezu unglaubli-che Ressourcenverschwendung ist, wenn topausgebil-dete Frauen, die für den Arbeitsmarkt bereitstehen, nichtauch Topverantwortung übernehmen können; das wider-spricht doch allen Grundsätzen guten Unternehmertums.Da müssen wir rangehen!Mehr als dreizehn Jahre haben wir darüber diskutiert.Es gab immer wieder Appelle an die Wirtschaft, auf frei-williger Basis Frauen zu fördern. Ich glaube, die jetztvorliegenden Maßnahmen im Bereich der Privatwirt-schaft sind gut und richtig, wobei wir aber auch immereines feststellen: Wir werden darauf achten, dass wirbeim Thema Bürokratie nicht das Kind mit dem Badeausschütten. Wir sagen ganz klar: Es muss für die Wirt-schaft auch machbar und vertretbar sein. Bei der festenQuote geht es um börsennotierte und mitstimmungs-pflichtige Unternehmen und bei der flexiblen Zielquoteum börsennotierte oder mitstimmungspflichtige Unter-nehmen, also um Unternehmen mit mehr als 500 Mitar-beitern. Ich glaube, dass die gefundenen Regelungen fürdiese Unternehmen machbar und tragbar sind, zumal– das wurde im Koalitionsvertrag beschrieben – Unter-nehmen in dem Lagebericht nach dem HGB sowieso an-geben müssen, wie sie es mit der Frauenförderung hal-ten. In diesem Teil sind wir mit dem Koalitionspartnereinig.
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7920 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Marcus Weinberg
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Aber – auch das muss eine Zielfunktion sein – Frau-enförderung betrifft nicht nur die Privatwirtschaft. Waswir der Privatwirtschaft vorschreiben wollen, müssenwir in der öffentlichen Verwaltung selbst erfüllen; sonstwerden wir unglaubwürdig, sonst nimmt man unsereZiele nicht ernst. Das heißt, es gibt noch den öffentlich-rechtlichen Teil, einmal im Hinblick auf das Bundesgre-mienbesetzungsgesetz und einmal im Hinblick auf dasBundesgleichstellungsgesetz. Da sehen wir in der Unionbei der konkreten Ausformulierung noch Bedarf, ge-meinsam mit unserem Koalitionspartner, in den schönenFarben Schwarz-Rot sozusagen, genauer darüber nach-zudenken, ob das, was im momentanen Entwurf für dasBundesgleichstellungsgesetz steht, das Richtige ist; dennArtikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes fordert die Beseiti-gung von Nachteilen für ein Geschlecht. Wenn Frauenbenachteiligt werden, ist Frauenförderung also verfas-sungsrechtlich gefordert und gerechtfertigt.Gleiches gilt übrigens auch für Männer, wenn sie ingewissen Bereichen, nämlich auf Leitungsebene, unter-repräsentiert sind. Dies ist uns eine Verpflichtung.Der Entwurf des Bundesgleichstellungsgesetzes siehtfür die Bundesverwaltung aber das Ziel der Parität nichtnur auf Leitungsebene vor, sondern auf allen Ebenen. Damüssen wir uns ernsthaft Gedanken machen, wie das inder Umsetzung funktionieren soll. Parität in der Lei-tungsebene heißt: Nachteile müssen abgebaut werden.Aber es kann nicht das Ziel sein, vom Grundsatz der Pa-rität auf allen Ebenen auszugehen. Mit Verlaub, der Sinnvon Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes ist unseres Er-achtens die Beseitigung bestehender Nachteile.Wir halten den Gesetzentwurf, der vorliegt, für rich-tig. Wir werden nach den Anhörungen in den Ausschüs-sen die letzten Debatten mit dem Koalitionspartner füh-ren. Wir bleiben hinsichtlich der gesetzlichen Vorgabenfür die Privatwirtschaft insgesamt maßvoll, verlassenuns aber nicht mehr nur auf reine Freiwilligkeit; nachvielen Jahren ist diese Zeit jetzt vorbei. Wir sorgen da-für, dass die Bundesgremien und die Bundesverwaltungmit gutem Beispiel vorangehen; denn diese Regelung isttatsächlich an der Zeit.Ich schließe mit dem, was ich am Anfang gesagthabe: Es ist unser Idealbild, dass wir über Quoten, Quo-ren und Sonstiges in dieser Gesellschaft nicht mehr re-den müssen, weil alle verstanden haben, dass weder dasGeschlecht noch die Herkunft noch die Rasse, sondernnur das Individuum zählt. Wenn wir das erreicht haben,ist das Ziel dieses Gesetzes erfüllt.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Dörner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Wir haben in den vergangenen Jahrenhier im Bundestag häufig über die Quote diskutiert, aberheute sprechen wir erstmals über einen Gesetzentwurf,der aller Voraussicht nach nicht nur beschlossen werdenwird, sondern auch in Kraft treten wird. Deshalb, findeich, ist heute die richtige Gelegenheit, Danke zu sagenall denen, die jahrelang dafür geackert haben, dass einegesetzliche Quote für die Aufsichtsräte jetzt tatsächlichin greifbarer Nähe ist.
Das sind allen voran die Frauen von FidAR, aus demVerband deutscher Unternehmerinnen, vom Juristinnen-bund, von den Business and Professional Women, denLandfrauen, aber auch von vielen anderen Frauenorgani-sationen, die jahrelang gesagt haben: Es muss Schlussdamit sein, die Potenziale von Frauen zu vergeuden.Selbstverpflichtungen nutzen uns nichts; wir braucheneine gesetzliche Quote, um die männlichen Monokultu-ren in den Unternehmen zu knacken. – Ich finde, diesesjahrelange Engagement hat den Applaus des gesamtenHauses verdient.
Ich will mich auch bei meinen jetzigen und auch ehe-maligen Kolleginnen hier aus dem Bundestag bedanken.Von meiner Fraktion will ich dabei insbesondere EkinDeligöz und Renate Künast nennen, die gemeinsam mitden Frauen aus den Verbänden mit der Berliner Erklä-rung dem Thema Quote so richtigen Drive eingehauchthaben, weil sie gezeigt haben, dass das Thema nicht dasThema einer Partei oder einer Fraktion ist, sondern dassman gewinnen kann, wenn Frauen an einem Strang zie-hen.
Mein Dank gilt auch den Journalistinnen und Journa-listen, die 2012 mit ihrem Aufruf „Pro Quote“ deutlichgemacht haben, dass es auch bei der sogenannten viertenGewalt Nachholbedarf beim Thema Gleichstellung gibt;er gilt auch den klugen Männern, die schon lange wis-sen, dass Führungsfrauen den Unternehmen guttun, unddie deshalb die Frauen in ihrem Kampf für die Quote un-terstützt haben.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir ernten heutedie Früchte jahrelanger Arbeit, und ich möchte an dieAdresse aller, die gesät, begossen, gehegt und gepflegthaben, sagen: Danke für dieses Wahnsinnsengagement!
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, eine 30-Prozent-Quote für die Aufsichtsräte, da haben wir durchaus einenanständigen Spatz in der Hand. Aber Sie wissen, wirGrünen wollen mehr. Unser Gesetzentwurf fordert eine
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7921
Katja Dörner
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Quote von 40 Prozent ein. 40 Prozent wären weiß Gottkeine Taube auf dem Dach, sondern das ist das guteRecht der Frauen.
Aber ich will mich bei den 30 Prozent nicht aufhalten.Schon in der Berliner Erklärung hat es geheißen: 30 Pro-zent können ein erster Schritt sein.Was mich aber an dem Regierungsentwurf wirklichstört und was leider zeigt, dass Frau Schwesig doch aufeiner Schnecke reitet, ist, dass die 30-Prozent-Quote ge-rade einmal für mickrige 108 Unternehmen gelten soll.Die Quote nur für börsennotierte und mitbestimmte Un-ternehmen, das ist uns Grünen definitiv zu wenig.
Wer wirklich will, dass sich für die Frauen etwas ändertund dass die Quote ausstrahlt, der muss die rund 3 500 bör-sennotierten oder mitbestimmungspflichtigen Unterneh-men mit ins Boot holen. Das wollen wir.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will aber aucheinen Blick auf das Bundesgremienbesetzungsgesetzwerfen, also auf die Führungspositionen in den öffentli-chen Unternehmen. Da klingen mir noch die vielen Re-den von Frau Schwesig im Ohr nach dem Motto: Die öf-fentlichen Unternehmen müssen mit gutem Beispielvorangehen. – Wie sieht es denn bei den öffentlichenUnternehmen aus? Da gibt es schon seit 1994 – einge-führt von der damaligen Frauenministerin AngelaMerkel – eine ganz klare Regelung: Vorstände, Beiräte,Verwaltungs- und Aufsichtsräte müssen paritätisch be-setzt sein. Das ist also quasi eine 50-Prozent-Quote. Um-gesetzt ist die nicht. Die Nichteinhaltung hat keinerleiKonsequenzen – eben mit der Folge, dass der Frauenan-teil in den Aufsichtsgremien gerade einmal bei 25 Pro-zent liegt. Klar ist: Hier muss sich etwas ändern.Nun passiert aber mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf etwas ziemlich Absonderliches. Es werden nämlichnicht etwa Maßnahmen implementiert, um eine paritäti-sche Besetzung zu gewährleisten und damit das beste-hende Gesetz wirklich einzuhalten, nein, die geforderteQuote wird zunächst auf 30 Prozent abgesenkt und da-mit einfach – salopp gesagt – der Realität angepasst. Voneiner Vorreiterrolle kann hier tatsächlich keine Redesein.
Was das Thema Vorbild angeht, erlaube ich mir einenkleinen Exkurs. Wie sieht es denn mit der Bundesregie-rung aus?
Ich habe im vergangenen Herbst abgefragt, wie die Füh-rungsjobs in den Ministerien seit der Bundestagswahlvergeben wurden. Die Antwort: Gerade einmal ein Vier-tel aller Führungsjobs ging an Frauen, und bei den neueingestellten beamteten Staatssekretären sind es geradeeinmal 3 von 18.Liebe Bundesregierung, ich finde das wirklich pein-lich. Wer Frauen in Führungspositionen fördern will, dermuss sich auch an die eigene Nase fassen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, so schön es ist,endlich eine gesetzliche Quote zu bekommen, so schadeist es, dass der vorliegende Gesetzentwurf eine ganzeReihe Pferdefüße hat. Dazu gehören auch die Änderun-gen am Bundesgleichstellungsgesetz, über die dieGleichstellungsbeauftragten sagen: Lieber keine Ände-rung als die jetzt geplanten Verschlimmbesserungen. –Das sehen wir Grünen auch so.
Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Das wird mit die-sem Gesetzentwurf sehr deutlich. Wir werden die Dis-kussion dazu in den kommenden Wochen vertiefen, undich freue mich auf die Beratungen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zunächst einmal freue ich mich über dieschöne Debattenzeit, die wir dieses Mal haben. Wederals Rechtspolitiker noch als Frauenpolitiker sind wir esgewöhnt, hier am Freitagmorgen zur besten Sendezeit zudebattieren.Ich freue mich auch über die Reihenfolge der The-men. Beim ersten Tagesordnungspunkt haben wir heuteüber die Personalpolitik der Bundeswehr gesprochen,und jetzt sprechen wir über Frauenförderung mit Blickauf Führungspositionen. Früher hätte man gedacht: Grö-ßer kann der Gegensatz gar nicht sein: zuerst die Män-nerdomäne, dann die Frauenpolitik. Heute reicht einBlick ins Ministerium, in die Truppe und auf das, wassich das Ministerium vornimmt, damit die Bundeswehrweiterhin attraktiv ist, um zu wissen, dass auch hier eineandere Zeit angebrochen ist und dass beides zusammen-hängt, dass nämlich Frauen auch Führungspositionen invermeintlichen Männerdomänen einnehmen können.Das ist ein gutes Zeichen auch für das Thema, das wirjetzt debattieren.
Es geht um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauenund Männern an Führungspositionen in der Privatwirt-schaft und im öffentlichen Dienst. Es ist gut, dass beidesin einem Atemzug genannt wird. Der Privatwirtschaft
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Elisabeth Winkelmeier-Becker
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wird vorgegeben, wie sie zu handeln hat. Mit dem, wasihrer unmittelbaren Einflussnahme unterliegt, müssender öffentliche Dienst und die Politik der Privatwirt-schaft das vorleben. Für die Privatwirtschaft geht es da-bei vor allem um die Geschlechterquote. Herzstück istdie Regelung, dass wir für die Zukunft einen Mindest-anteil von 30 Prozent Frauen in den Aufsichtsräten dergrößten Unternehmen in Deutschland vorschreiben wer-den.Heute setzen wir eine lange Debatte fort; wir habensie schon mehrfach geführt. Ich selber habe auch schonoft dazu gesprochen, und ich hätte eigentlich nur einefrühere Rede wieder hervorziehen müssen, um sie hierzu halten; denn vieles ist genauso aktuell und wahr wiein den vergangenen Jahren. Ich glaube, wenn man sichdie Debattenbeiträge hier angehört hat, dann wird klar,dass wir uns in dieser Analyse einig sind.Es ist aber eben nicht nur ein bloßes Déjà-vu, sondernjetzt liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor.Das ist der ganz entscheidende Unterschied; denn dieserGesetzentwurf, der heute hier vorgelegt wird, hat wirk-lich sehr gute Aussichten, in Deutschland Realität undgeltendes Recht zu werden und die Wirklichkeit zu ver-ändern.
Meine Kollegin Katja Dörner hat den vielen Verbän-den und den Protagonistinnen, die das in den vergange-nen Jahren mitbewirkt haben, schon gedankt. Eine Per-son ist aber vergessen worden; diese möchte ich hiernoch einmal ausdrücklich nennen: Unsere frühere Kolle-gin Rita Pawelski hat sich in dieser Diskussion wirklichverdient gemacht und immer wieder dafür gesorgt, dassdas Thema auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Das ist,denke ich, einen Applaus wert.
Falls du uns zuguckst: Viele Grüße von dieser Stelle aus,Rita.Der Gesetzentwurf hat auch deshalb gute Chancen,Realität zu werden, weil wir es mit wirklich ausgewoge-nen Regelungen zu tun haben, die wir schon im Koali-tionsvertrag vereinbart haben. Sie werden die Wirkunghaben, in dem Bereich, für den sie formuliert wordensind, etwas zu verändern – aber auch weit darüber hi-naus. Sie haben eine Ausstrahlungskraft in die gesamteWirtschaft und auch in die Gesellschaft hinein. Das istein Feld mit sehr hoher symbolischer Bedeutung fürFrauen und Mädchen, und das wird auch darüber hinauswirken. Auf der anderen Seite werden wir mit dieser Re-gelung nicht übers Ziel hinausschießen, sonst wäre sieein unverhältnismäßiger Eingriff und damit auch verfas-sungswidrig. Das schließen wir mit dieser Regelung, diewir heute beraten, aus.Mit dieser Regelung werden Frauen mehr gerechteChancen eingeräumt, aber es werden auch nicht zu hoheHürden errichtet, die dann wieder nur die Akzeptanz be-hindern würden und in Einzelfällen ein Scheitern provo-zieren könnten. Das würde uns allen auf die Füße fallen.Man kann hier fast von einem Meilenstein sprechen,etwa in einer Reihe mit der Einführung des Wahlrechtsfür Frauen, mit Artikel 3 des Grundgesetzes und vielenanderen Gesetzen, die in diesem Zusammenhang verän-dert worden sind. In ein paar Jahren werden wir uns imRückblick fragen: Wo war eigentlich das Problem?Wieso haben wir das nicht schon längst gemacht?
– Genau. – Was hat uns davon abgehalten, das früher zumachen?Vor allem aber ist diese Regelung aus meiner Sicht ineinem Punkt mit diesen Meilensteinen gleichzusetzen:Neu ist nämlich, dass wir den Verfassungsauftrag ausArtikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes „Der Staat fördertdie tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigungvon Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigungbestehender Nachteile hin“ zum ersten Mal explizit auchin der Privatwirtschaft umsetzen. Im öffentlichen Diensthaben wir längst die positive Gleichstellung. In der Pri-vatwirtschaft ist es neu, dass nicht nur gesetzliche Hür-den abgebaut werden, sondern dass wir mittels einer ge-setzlichen Regelung hindernde faktische Strukturenabbauen, dass wir die Closed Shops in den Führungsgre-mien endlich öffnen, sodass das Prinzip der Bestenaus-lese endlich Platz greifen kann.Es geht hier nicht nur um Gleichberechtigung, son-dern es geht auch darum, dass die Wirtschaft von mehrFrauen in Führungspositionen profitiert. Es ist ein Vor-teil für die Wirtschaft selbst, wenn unterschiedliche Le-benserfahrungen eingebracht werden, wenn nicht alleden gleichen Hintergrund, die gleiche Meinung und diegleiche Denke haben.Ein gutes und aktuelles Beispiel – leider nicht ausDeutschland, sondern aus den Vereinigten Staaten – istMary Barra. Sie ist die erste Frau an der Spitze eines Au-tomobilkonzerns, bei General Motors. Eine ihrer erstenMaßnahmen war es, sich eines technischen Problems an-zunehmen, das bei General Motors zehn Jahre lang unterder Decke gehalten worden war. Es geht um defekteZündschlösser, die teilweise von alleine in die Aus-Posi-tion springen, was auch schon zu Unfällen geführt hat.Man hat das immer unter der Decke gehalten, statt dasProblem offensiv anzugehen.Mary Barra hatte den Mut, dieses Problem transparentzu machen und es offensiv anzugehen. Sie hat die Autosin die Werkstatt zurückrufen lassen. Sie hat dazu gestan-den und sich entschuldigt. Sie hat es damit geschafft,Vertrauen für ihren Konzern zurückzugewinnen. DiesesVerhalten hat dem Konzern nicht geschadet. Ganz imGegenteil: Die Absatzzahlen sind sogar in die Höhe ge-gangen. Sie ist an das Problem anders herangegangen,als es vorher mit den etablierten Führungsstrukturenmöglich war.
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Elisabeth Winkelmeier-Becker
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– Ich denke, das ist einen Applaus wert.Die nackten Zahlen sind hier schon mehrfach genanntworden. Das DIW hat uns gerade rechtzeitig zu dieserDebatte frische Zahlen geliefert. Nur 5 Prozent in denVorständen der 200 größten Unternehmen sind Frauen,also 95 Prozent Männer. In den Aufsichtsräten ist dasVerhältnis 18 Prozent Frauen zu 82 Prozent Männern.Das Verhältnis ist in der Bundesverwaltung tendenziellbesser, aber auch noch nicht wirklich überzeugend. Inden obersten Bundesbehörden sind 27 Prozent Frauen inFührungspositionen, im nachgeordneten Bereich 21 Pro-zent. Also ist das Verhältnis Pi mal Daumen ein Viertelzu drei Viertel.Die Erklärungsversuche dafür sind heute genauso un-zureichend, wie sie es auch in den vergangenen Jahrenwaren. Es wird immer wieder gesagt: Frauen sind in denMINT-Berufen nicht so stark vertreten. – Frauen sindaber genauso stark in den Berufen vertreten, auf die esletztendlich zumeist ankommt: in den juristischen Aus-bildungsgängen und in den wirtschaftlichen Ausbil-dungsgängen, BWL und VWL. Diese Ausbildungsgängevor allem haben diejenigen durchlaufen, die in den Auf-sichtsgremien sitzen. Hier gibt es keinen Grund, zu sa-gen, dass Frauen weniger qualifiziert seien.Aber eines ist auch klar: Was wir hier verbindlich vor-schreiben, ist schon ein Eingriff in die Eigentumsposi-tion der Anteilseigner. Sie müssen sich demnächst beiIhrer Personalauswahl auf die verbindliche Berücksichti-gung beider Geschlechter einlassen. Wenn Sie das nichttun, dann ist die quotenwidrige Besetzung nichtig; dannbleibt der Stuhl leer. Das ist zwar eine gravierendeFolge, aber anders geht es nicht. Das, was wir ins Ge-setzblatt bringen, ist notwendig.Was den zeitlichen Ablauf angeht, sind seit der frei-willigen Vereinbarung der Wirtschaft mit KanzlerSchröder bis heute 14 Jahre vergangen. Bis zum Inkraft-treten des Gesetzes im nächsten Jahr werden es 15 Jahresein. Viele werden erst im Jahr 2018 einen neuen Auf-sichtsrat wählen. Wer es bis dahin nicht geschafft hat,genügend Frauen für seine Führungspositionen zu fin-den, der muss die Schuld eher bei sich selber suchen alsin einer gesetzlichen Regelung.
Wir haben auch immer gesagt, dass 30 Prozent rei-chen, um die Strukturen aufzubrechen. Wir wünschenuns – und es wird nach meiner Auffassung sicherlichdazu kommen –, dass noch deutlich mehr Frauen in Füh-rungspositionen kommen. Aber 30 Prozent reichen, umdie Hindernisse abzubauen. Alles andere können wirdann dem Talent der qualifizierten Frauen überlassen.Dann wird sich alles von alleine ergeben. Zugleich be-deutet die 30-Prozent-Regelung definitiv keine Überfor-derung der Unternehmen. Es geht um wenige HunderteFrauen. Insofern wird es kein Problem sein, in Deutsch-land oder darüber hinaus entsprechende qualifizierte undmotivierte Frauen zu finden.Die weitere Regelung für die sonstigen börsennotier-ten und mitbestimmungspflichtigen Unternehmen –
Frau Kollegin Winkelmeier-Becker, denken Sie bitte
an die vereinbarte Redezeit.
– das tue ich – wird auch diese nicht überfordern. Wir
erwarten allerdings, dass diese Unternehmen ihre Pflich-
ten sehr ernst nehmen und eine entsprechende Motiva-
tion an den Tag legen, um mehr Frauen in Führungsposi-
tionen zu bekommen, und werden das, soweit sie das
transparent machen müssen, sehr aufmerksam verfolgen.
Ich freue mich auf unsere weiteren Beratungen.
Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann für die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir reden heute wieder einmal über diegleichberechtige Teilhabe von Frauen und Männern inder Wirtschaft und im öffentlichen Dienst. Meine Da-men und Herren, wie lange wollen wir noch darüber re-den? Es sind schon Jahrzehnte, und im Wesentlichenwerden die Frauen immer wieder auf die Zukunft ver-tröstet. Das darf doch nicht wahr sein. Wir müssen end-lich einmal zu Potte kommen. Wie lange soll das nochgehen?
Ich bitte die Herren in diesem Hause, einen Moment zuüberlegen, ob sie sich eine solche Benachteiligung überso eine Ewigkeit hätten bieten lassen. Ich glaube, nicht.
Ich bin es auch leid, immer und immer wieder klarzuma-chen, dass Frauen genauso an Führungspositionen teil-haben wollen wie Männer, am Arbeitsmarkt und an derGesellschaft. Ich denke, das ist wichtig und richtig. Des-halb sagen wir als Linke: Wir brauchen eine Frauen-quote von 50 Prozent, und zwar im gesamten öffentli-chen Dienst und in der gesamten Wirtschaft.
Wir Frauen stellen 51 Prozent der Bevölkerung; aber wirsind bescheiden und fordern nur eine Quote von 50 Pro-zent.Wir sagen zugleich: Die Gleichstellung der Ge-schlechter braucht mehr als eine Quote. Es muss darumgehen, die systematische Benachteiligung der Frauen in
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Sabine Zimmermann
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allen Bereichen der Arbeitswelt und der Gesellschaft ab-zubauen. Antworten dazu sucht man bei der Regierungvergeblich; denn ihr Gesetzentwurf trifft so wenigeFrauen. Deshalb frage ich mich: Was tun Sie für dieFrauen in Pflegeberufen, die Erzieherinnen, Kranken-schwestern und die anderen Frauen, die in der Arbeits-welt unterwegs sind? Ihr Gesetzentwurf ist nichts ande-res als ein Schaufensterentwurf.
Das Traurige ist: Selbst die Quote bekommt diese Re-gierung nicht hin. Zu Recht hagelt es breite Kritik: vonden Gleichstellungsbeauftragten über den DeutschenGewerkschaftsbund bis zur Vereinigung der deutschenJuristinnen. Die Ziele für die Privatwirtschaft sind mehrals bescheiden. Eine feste Quote von 30 Prozent soll esnur für die Aufsichtsräte von etwa 100 Großunterneh-men geben. Für den Rest der 3 500 börsennotierten odermitbestimmungspflichtigen Unternehmen sind es nurGlaubensregelungen. Glauben Sie daran, dass diese Un-ternehmen einmal die Frauenquote einführen werden?Ich glaube es nicht. Im öffentlichen Dienst des Bundeswird sogar ein Schritt zurück gemacht. Die Quote sollhier nur noch für wenige Aufsichtsgremien gelten.Aber damit nicht genug. Die Regierung will es poli-tisch besonders korrekt machen. Sie will beide Ge-schlechter ansprechen und in Berufen mit einem gerin-gen Anteil von Männern diese fördern. Hier wird dieFrauenquote auf den Kopf gestellt. Nur weil Männer ineinem Bereich unterrepräsentiert sind, sind sie nochlange nicht diskriminiert. In der Grundschule zum Bei-spiel sind die Lehrenden in der Mehrheit Frauen; trotz-dem treffen wir oft auf Schulleiter, nicht auf Schulleite-rinnen. Meine Damen und Herren von der GroßenKoalition, Sie betreiben eine Politik aus dem Elfenbein-turm. Sie nehmen die wirklich wichtigen gesellschaftli-chen Themen nicht ernst und auch nicht zur Kenntnis;Sie verdrängen sie anscheinend. Wenn die Bundesregie-rung mehr Männer in typisch weibliche Berufsbilderbringen will, muss sie dafür sorgen, dass dort die Ar-beitsbedingungen und die Löhne verbessert werden.
Hier denke ich an die Gastronomie, an den Handel undan weite Teile des Sozial- und Gesundheitswesens. Daswäre für die Frauen dort ein großer Schritt vorwärts undwürde die Berufe auch für Männer attraktiver machen.Das bringt mich zum zweiten Punkt. Anders als dieBundesregierung sagen wir: Zur Gleichstellung gehörtmehr als nur die Frauenquote. Warum wird zum Beispieldie Arbeit einer ausgebildeten Erzieherin schlechter be-zahlt als die Arbeit einer Fachkraft in der Automobilin-dustrie? Sind Erziehung und Bildung unserer Kinder we-niger wert als das Bauen von Autos? Gibt es dazuInitiativen der Regierung? Fehlanzeige!Wir wissen: Frauen sind fast doppelt so stark vonNiedriglöhnen betroffen wie Männer. Nun gibt es end-lich einen Mindestlohn, auch wenn er sehr mager ist.Aber die Koalition arbeitet daran, diesen noch weiterauszuhöhlen. Die Union will die Umsetzung des Min-destlohns bei den Minijobs einschränken, wohl wissend,dass mehrheitlich Frauen in Minijobs arbeiten und An-zeigen vorliegen, weil Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer jetzt schon, in diesem Monat, um ihren Mindest-lohn geprellt werden. Gleichstellungspolitik sieht andersaus. Ich frage Sie wirklich, Frau Ministerin Schwesig:Wo bleibt hier Ihr Anspruch als Vorkämpferin für dieRechte der Frauen? Ich kann nichts erkennen.Es wurde heute schon mehrfach gesagt: Wir habeneine Frau als Kanzlerin. Ich frage Sie: Ist es in ihrer Re-gierungszeit für Millionen Frauen einfacher geworden,Arbeit und Familie zu vereinbaren?
Stecken weniger Frauen in der Minijobfalle? Sind frau-entypische Berufe aufgewertet worden? Ich denke da vorallen Dingen an die Pflege- und Sozialberufe. Die Ant-wort lautet: nein.
Es ist offensichtlich: Von dieser Regierung sind keineInitiativen für mehr Gleichstellung zu erwarten. Deshalbsteht die Linke gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdian der Seite der Beschäftigten in sozialen Berufen. Denndas, was hier überwiegend Frauen leisten, ist harte Ar-beit und richtig wichtig, richtig gut und richtig was wert.Wer dafür kämpft und streikt, tut tausendmal mehr fürdie Gleichberechtigung als die Bundesregierung mit ih-rem Gesetzentwurf.
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Dr. Carola
Reimann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren!Ob ein Mann mir seinen Platz in der Straßenbahnanbietet, das ist mir egal, er soll mir einen Platz inseinem Aufsichtsrat anbieten.
Mit diesem Appell hat die erste Präsidentin des heutigenVerbandes deutscher Unternehmerinnen die gleiche Teil-habe von Frauen in Führungspositionen eingefordert. Sieheißt Käte Ahlmann, und das war vor mehr als 50 Jah-ren.
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Dr. Carola Reimann
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Seitdem hat sich unsere Welt spürbar verändert. Men-schen sind zum Mond geflogen. Die Berliner Mauer isteingerissen, und das Internet hat unser Leben erheblichverändert. Unverändert ist, dass Frauen in den Chefeta-gen deutscher Unternehmen eine sehr seltene Speziessind, und das, obwohl Frauen selbst durch beste Studien-abschlüsse und enorme Leistungsbereitschaft auf sichaufmerksam gemacht haben, und das, obwohl Studienbelegen – das ist schon angeklungen –, dass gemischteTeams besser sind, und das, obwohl die Politik seit na-hezu 14 Jahren den Unternehmen die Chance eingeräumthat, mit freiwilligen Selbstverpflichtungen selber fürfaire Chancen für Frauen zu sorgen.Bis heute herrscht in den Führungszirkeln renom-mierter deutscher Unternehmen eine männliche Mono-kultur, mit fatalen Auswirkungen. Wenn Frauen es bisnach ganz oben schaffen, sind sie nach wie vor mit Vor-urteilen, Ressentiments und Hürden konfrontiert, die al-lein für Frauen gelten. Das beginnt beim firmeneigenenFahrer, der die Vorstandsfrau nicht fährt, weil er sichnicht vorstellen kann, dass eine Frau im Vorstand ist. Dasind vor allem die vielen Führungsfrauen, die im krassenGegensatz zu ihren männlichen Kollegen ihre steile Kar-riere mit dem Verzicht auf Mann und Kinder bezahlen.Mit all diesen Relikten aus den 50er-Jahren räumenwir nun auf. Mit dem Gesetz von Manuela Schwesig undHeiko Maas werden Frauen zu dem, was sie nach ihrerEignung und nach ihrer Qualifikation längst sein sollten:eine Selbstverständlichkeit in Toppositionen.
Mit dem Gesetz machen wir den Weg frei für einen Mo-dernisierungsschub bei Volkswagen, Thyssen und Co.Das ist auch gut so, auch für die Unternehmen selbst;denn all das Gerede von Frauen als Belastung ist auf em-pörende und beleidigende Art und Weise unverschämt,aber auch dumm. Von der gesetzlichen Verpflichtung,Frauen bei der Besetzung von Aufsichtsräten und Vor-ständen in verstärktem Maße zu berücksichtigen, werdenzuallererst die Unternehmen selbst profitieren. Die Un-ternehmen werden ihre Nachwuchs- und Führungskräftekünftig aus allen Talenten auswählen können und nichtmehr nur aus einer Hälfte. Sie werden sich bemühen, fürFrauen und auch für viele moderne Männer attraktiverzu werden, indem sie verstärkt familientaugliche Arran-gements und Karrierewege anbieten. Die Unternehmenwerden dabei feststellen, dass die Arbeitsproduktivitätwächst, dass sie sich im Wettbewerb um die so begehr-ten Fachkräfte besser behaupten können und dass siedurch Produkt- und Prozessinnovationen noch stärkerund konkurrenzfähiger werden.
Darum geht es aber heute in erster Linie nicht. Dassdie Quote auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht Sinnmacht, ist schön. Entscheidend ist allerdings, dass sie fürmehr Gerechtigkeit sorgt. Für Frauen stehen die Wege inhöchste Positionen jetzt deutlich weiter offen. Damit er-füllen wir ein Versprechen unseres Grundgesetzes einwenig mehr, nämlich das Versprechen, dass Chancennicht nach dem Geschlecht verteilt werden, das Verspre-chen unseres Grundgesetzes, dass alle Menschen unab-hängig davon, ob sie als Frauen oder Männer geborenwerden, in unserem Land aus dem gleichen Pool von Le-bensmöglichkeiten wählen können.Das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe vonFrauen und Männern an Führungspositionen ist nicht ir-gendein Gesetz. Es stellt eine historische Zäsur dar. Ge-schafft haben das die Parteien nicht allein, erst rechtnicht eine einzelne Partei. Geholfen haben dabei Frauenund Männer aus allen politischen Lagern. Geholfen ha-ben Frauen und Männer aus unzähligen Verbänden undGewerkschaften; die Kollegin hat sie vorhin genannt.Geholfen haben aber auch Tausende Bürgerinnen undBürger aus der Zivilgesellschaft.
Nur im gemeinsamen Schulterschluss und deshalb, weilwir uns trotz parteipolitischer Unterschiede nicht habenauseinanderdividieren lassen, wurde es ermöglicht, dassdie gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungs-positionen Gesetzesrang bekommt. Dafür danke ich al-len.
Diese Solidarität hat sich bewährt. Vielleicht ist dasein gutes Politikmodell, das wir fortsetzen sollten; dennbei der Gleichstellung von Frauen und Männern bleibtauch nach Inkrafttreten dieses Gesetzes noch viel auf derpolitischen Agenda.Danke fürs Zuhören.
Vielen Dank, insbesondere auch für die präzise Ein-
haltung der Redezeit.
Jetzt erteile ich der Kollegin Renate Künast, Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geschenktworden ist uns Frauen nichts. Das knüpft vielleicht gutan die Rede von Carola Reimann an, die am Ende überdie Solidarität geredet hat. Es waren am Ende immer dieFrauen, die ihre Rechte und ihre Möglichkeiten in dieserGesellschaft selbst erkämpft haben.Wenn beim Parlamentarischen Rat, der das Grund-gesetz 1949 erarbeitet hat, nicht eine Frau, nämlichElisabeth Selbert, die Bereitschaft gehabt hätte, allen an-deren Herren auf die Nerven zu gehen, hätten wir dieGleichstellung im Grundgesetz nie gehabt. Uns hätte einAusgangspunkt gefehlt.
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Renate Künast
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Wir haben viele Frauen gehabt, Abgeordnete, aberauch Juristinnen, ob Anwältinnen oder Richterinnen, diein den Jahren danach zum Beispiel für eine Familien-rechtsreform gekämpft haben, die, man glaube es kaum,erst Ende der 70er-Jahre kam. Diese große Familien-rechtsreform hat in der alten Bundesrepublik überhaupterst den Mann als Haushaltsvorstand und das Recht desMannes, den Arbeitsvertrag der Frau kündigen zu kön-nen, abgeschafft. Das muss man bzw. frau sich einmalüberlegen. Das war hart erkämpft, weil es in der juristi-schen Szene viele Frauen gab, die gesagt haben: Wir ma-chen das gemeinsam und bleiben dran.Oder denken Sie an das Thema der häuslichen Ge-walt. Wie oft wurde in dieser Gesellschaft über Gewaltgeredet. Wie oft haben sich Männer über die Frauen lus-tig gemacht, die gesagt haben, dass 60 Prozent der Ge-waltdelikte, also die Mehrheit, im häuslichen Nahbe-reich ausgeübt werden und nicht irgendwo. Sie habendafür gesorgt, dass Frauenhäuser und Frauenprojektefinanziert werden und die Polizei entsprechend ausgebil-det wird und diese diesbezüglich Schwerpunkte bildet.Welche Mühen hat es gekostet, den § 218 in der jetzi-gen Fassung hinzubekommen! Das ging auch nur, weilsich Frauen innerhalb und außerhalb des Parlamentszusammengetan und gesagt haben: Mein Bauch gehörtmir. – Welche Mühen hat es gekostet, ein Gleichstel-lungsgesetz hinzubekommen! Auch das wurde vonFrauen erkämpft.Und heute, nach all den jetzt benannten und vielfälti-gen anderen strukturellen Benachteiligungen bis hin zurmangelnden Entgeltgleichheit, reden wir über ein Quo-tengesetz. Oder besser: Heute haben wir zwei. Ich binnatürlich realistisch und weiß, dass das der Großen Ko-alition, das 30 Prozent Frauen in Aufsichtsräten vorsieht,das für circa 100 Betriebe gilt, ein wenig mehr Chancenhat, durchzukommen, als das der Grünen mit 40 ProzentFrauen in Aufsichtsräten für 3 000 Betriebe.
Aber ich kann damit leben, weil ich mittlerweile gelernthabe, dass man Politik auch über Umwege machenmuss. Insofern finde ich diesen Teil schon einmal gut.Ich wundere mich, wie sich in dieser Debatte jetzt alleloben. Herr Weinberg, es stimmt: Die erste Kanzlerinkommt aus den Reihen der CDU.
Aber, Herr Weinberg und alle die, die jetzt klatschen:Wenn später Leute Bücher schreiben, dann werden sieauch schreiben, wie sie es wurde. Sie wurde es nicht,weil Herr Weinberg Mut hatte und gesagt hat: Es solleinmal eine Frau werden. – Vielmehr wurde sie es, weiles einfach keinen Mann in der Führungsetage gab, dernicht mit dem Spendenskandal der CDU belastet war.
Ich gebe zu: Wenn ich auch bei weitem nicht immermit ihr einer Meinung bin, so ist sie doch ein Rollenvor-bild für viele Frauen, und sie ist eine starke Kanzlerin,was in den heutigen Tagen in Europa nicht unwichtig ist.Aber neun Jahre Merkel hieß auch, dass Merkel sich niefür die Gleichstellung der Frauen eingesetzt hat. Es gibtdie eine oder andere Rede in dieser Richtung. Aber ichwill an der Stelle sagen: Es waren die Frauen selbst, diedas erkämpft haben.
Auch wenn andere es schon gelobt haben, so will ich esdoch noch einmal sagen: Hier in diesem Haus und drau-ßen war es FidAR, Frauen in die Aufsichtsräte, mitMonika Schulz-Strelow und Jutta von Falkenhausen, eswar der Deutsche Juristinnenbund mit Ramona Pisal ander Spitze,
Business and Professional Women, auch die Landfrauen,die in ihrer Szene wissen, wie es mit der Männerherr-schaft ist, und viele andere.Was mich eigentlich fasziniert, ist, dass dieser Monatschon historisch ist, selbst wenn nur eine kleine Quotebeschlossen wird und bei der Gleichstellung eine Ver-schlechterung eintritt. Denn wir haben den Blick ge-schärft und eine gewisse Ermutigung in dieser Gesell-schaft geschaffen. Die Frauen schauen überall hin. Alsdas ARD-Studio nach Berlin umzog – ich weiß nicht ge-nau, wann das war –, war ich dort zu Gast. Ich war ent-geistert; denn dort waren nur Intendanten, nur Männer.Nachdem fünf, sechs oder sieben Männer geredet hatten,dachte ich: Jetzt kommt Musik, und dann spricht viel-leicht eine Frau. Nein! Dann spielte eine Gruppe, die dieComedian Harmonists imitiert hat; auch diese Gruppebestand nur aus Männern. All das hat sich geändert. ZumErfolg von Initiativen wie „Pro Quote“ und „Pro QuoteMedizin“ haben auch wir beigetragen. Mittlerweile sindimmer mehr Frauen in Aufsichtsräten vertreten, und da-rüber hinaus gibt es Ermutigung in anderen Bereichen.
Zur Liste derer, die für mehr Frauen in Führungsposi-tionen eingetreten sind, gehört natürlich auch ManuelaSchwesig; sie war in der letzten Legislaturperiode nochnicht hier. Wir alle wissen spätestens seit einer Äußerungvon Herrn Kauder, dass sie erfolgreich darin ist, sichdurchzusetzen. Glückwunsch!
Der Dinosaurier des Tages heißt Kramer und ist Präsi-dent der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber-verbände. Er hat gerade erst gesagt, die Quote müsseentbürokratisiert werden. Ich bin bereit, über alles zudiskutieren. Man lernt ja, dass man offen sein muss. Ich
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7927
Renate Künast
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bin allerdings gespannt, wie er mir erklärt, inwiefern beidem Auftrag eines Vorstandsvorsitzenden „Suchen Siemir jemanden für den Aufsichtsrat!“ eine Entbürokrati-sierung nötig ist. Mir erschließt sich das noch nicht.
Wir sind wieder einmal einen Schritt weiter. Ichdenke, wir werden einen Dominoeffekt auslösen und füreine Ermutigung sorgen, die Kultur zu ändern. Die guteBotschaft, meine Damen und Herren, insbesonderemeine Damen, ist: Solidarität innerhalb und außerhalbdes Bundestages hat sich gelohnt. Wir sollten uns das fürdie Zukunft bewahren; denn wir haben mit dem Kampfum die Gleichstellung erst angefangen. Wenn wir diesesGesetz verabschiedet haben, könnten wir zum Beispielbei der Entgeltgleichheit weitermachen.
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Gudrun
Zollner.
Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kolle-gen! Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen undMännern an Führungspositionen, im Sprachgebrauchkurz: Frauenquote, haben wir in den letzten Monaten im-mer wieder kontrovers diskutiert, und wir debattierenauch heute wieder darüber. Die Gleichberechtigung istzwar im Grundgesetz verankert; aber in der Realität istsie immer noch nicht angekommen.Wir sind uns einig, dass Frauen in Führungspositio-nen unserem Land guttäten.
Aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Spitzen-positionen werden überwiegend von Männern besetzt.Immer wieder ist in der Diskussion von Quotengegnernzu hören: Niemand sollte allein wegen seines Ge-schlechts in ein Gremium berufen werden. – Was heißtdas dann konkret im Umkehrschluss? Frauen, die beiden nächsten Wahlen in einen Vorstand berufen werden,sind nicht qualifiziert genug?Dazu darf ich nochmals in Erinnerung bringen:Frauen haben in Deutschland die Männer im Hinblickauf die Schulbildung inzwischen überholt. Frauen habenheutzutage meist höhere und bessere Bildungsabschlüsseals Männer. Die Zahl der qualifizierten und topausgebil-deten Frauen war noch nie so hoch wie heute.
Dennoch bleiben weibliche Führungskräfte in den deut-schen Unternehmen die Ausnahme. Die Selbstverpflich-tung der Wirtschaft aus dem Jahr 2001 hat in keinsterWeise den gewünschten Erfolg gebracht. Hierzu möchteich den Soziologen Ulrich Beck zitieren: Männer zeigen,„verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhal-tensstarre“.
14 Jahre hatten die Unternehmen Zeit, eine konse-quente Nachwuchsförderung in ihren Unternehmen zuetablieren. Der Bund und die Länder haben ihre Zeit ge-nutzt und die notwendigen und geforderten Rahmenbe-dingungen wie Krippenausbau auf den Weg gebracht. Inden Vorständen der 200 größten deutschen Unternehmenbetrug der Anteil von Frauen in den Topetagen Ende ver-gangenen Jahres laut dem Managerinnen-Barometer2015 gerade einmal 5 Prozent. Was bei den meisten Mit-telständlern und kleineren Familienbetrieben selbstver-ständlich ist, sollte auch bei unseren größeren Unterneh-men und Konzernen möglich sein. Als gutes Beispielmöchte ich hier die Deutsche Telekom nennen, die be-reits 2010 eine 30-Prozent-Quote in ihrem Unternehmenbeschlossen hat.Dass auch in der Bundesverwaltung noch Handlungs-bedarf besteht, zeigen die aktuellen Berichte zumBundesgleichstellungsgesetz und zum Bundesgremien-besetzungsgesetz. Zwar sind Frauen bezogen auf den un-tersuchten Zeitraum besser in den Leitungsfunktionenim gesamten Bundesdienst vertreten; aber besonders inden obersten Bundesbehörden immer noch unterreprä-sentiert. Der Bericht zum Bundesgleichstellungsgesetzkommt zu dem Schluss, dass auch in den Behörden– ähnlich wie wir es von der Privatwirtschaft immer wie-der hören – gläserne Decken bestehen. Wenn man dieBesetzung der Bundesgremien betrachtet, wird deutlich,dass nur jedes vierte Mitglied weiblich ist. Rund 9 Pro-zent der Gremien sind ausschließlich männlich besetzt.In den Gremien des Bundes sind Frauen seit 1997 konti-nuierlich besser vertreten. Allerdings ist mit einem An-teil von 25 Prozent eine gleichberechtigte Teilhabe nachwie vor nicht gegeben.Das heißt: Trotz einiger positiver Trends in der Wirt-schaft wie im Bundesdienst sind die Ziele der Gleichstel-lung noch lange nicht erreicht.Wie die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, stellt sichdie gleichberechtigte Teilhabe von Frauen bei Führungs-positionen nicht von selbst ein. Im Koalitionsvertrag ha-ben wir deshalb vereinbart, dass wir jetzt handeln wer-den, um den Anteil zu erhöhen. Der Gesetzentwurf siehtvor, dass Aufsichtsräte von voll mitbestimmungspflichti-gen und börsennotierten Unternehmen, die ab dem Jahr2016 neu besetzt werden, eine Geschlechterquote vonmindestens 30 Prozent aufweisen sollen. Betroffen sinddavon rund 108 Unternehmen und circa 170 Frauen. Ichbin mir sicher, dass unter den etwa 40 Millionen Frauen,die wir in Deutschland haben, diese 170 Managerinnengefunden werden.
Unternehmen, die börsennotiert sind oder der Mitbe-stimmung unterliegen, werden verpflichtet, verbindlicheZielgrößen für die Erhöhung des Frauenanteils im Auf-
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7928 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Gudrun Zollner
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sichtsrat, im Vorstand und in den beiden obersten Füh-rungsebenen festzulegen. Die betroffenen 3 500 Firmensollen einen größtmöglichen Handlungsspielraum erhal-ten. Durch die Veröffentlichungspflicht wird der An-sporn zu hohen Flexi-Quoten groß genug sein.Was wir von der Wirtschaft einfordern, sollte aberauch für den Bund gelten. Deshalb werden wir das Bun-desgremienbesetzungsgesetz und das Bundesgleichstel-lungsgesetz novellieren. Für Aufsichtsgremien, in denender Bund mindestens drei Sitze besetzen kann, soll abdem Jahr 2016 die feste Quote in Höhe von 30 Prozentfür alle Neubesetzungen gelten. Ab dem Jahr 2018 istdas Ziel, diesen Anteil auf 50 Prozent zu erhöhen. Beiden wesentlichen Gremien wird das Ziel verankert, eineparitätische Vertretung von Frauen und Männern zuschaffen.Mit der Novellierung des Bundesgleichstellungsge-setzes wollen wir Frauen aufgrund der immer noch exis-tierenden strukturellen Benachteiligungen verstärkt för-dern. Deshalb sollen die Dienststellen des Bundeskünftig verpflichtet werden, sich besonders für jede ein-zelne Führungsebene konkrete Zielvorgaben für die Er-höhung des Frauenanteils zu setzen.Wir wollen mit der Novelle außerdem einen Gleich-stellungsindex einführen und damit eine Vorgabe ausdem Koalitionsvertrag umsetzen. Der Index zeigt bei-spielsweise auf, wie hoch der Frauen- und Männeranteilim höheren Dienst ist und wie stark Frauen auf den ein-zelnen Führungsebenen vertreten sind.Ziel unseres Gesetzes ist es, mehr Frauen in leitendePositionen in der Wirtschaft sowie in der Bundesverwal-tung zu bringen. Damit soll das verfassungsrechtlichverankerte Grundrecht auf gleichberechtigte Teilhabevon Frauen und Männern auch für den Bereich der Füh-rungspositionen erfüllt werden. Mehr weibliche Füh-rungskräfte bieten außerdem die Möglichkeit, die Frau-enförderung im Mittelbau und auf den unteren Ebenender Unternehmen und der Bundesverwaltung konsequentvoranzubringen. Damit soll sichergestellt werden, dasses künftig genügend weibliche Nachwuchskräfte gibt.Zusammenfassend ist uns für die weitere Beratungwichtig, dass das Gesetz verfassungs- und europarechts-konform ist und die Interessen der Wirtschaft beinhaltet,ohne dass das Ziel des Gesetzes infrage gestellt wird.
Das bedeutet auch, dass wir darauf achten müssen,Rechtssicherheit zu schaffen und die Bürokratie auf daswirklich Notwendige zu beschränken.Das Gesetz allein wird aber kein Allheilmittel sein.Auch wird der Prozess, Frauen bessere Aufstiegsmög-lichkeiten zu bieten, nicht von heute auf morgen gelin-gen. Die Quotenregelung ist nur einer von mehrerenBausteinen. Es müssen auch die Rahmenbedingungenweiter vorangetrieben werden. Ich sehe das Gesetz alsTüröffner für die Frauen. Es geht nicht darum, qualifi-zierte Männer zu ersetzen, sondern qualifizierten FrauenKarrierechancen zu ermöglichen,
denn 75 Prozent aller Frauen sehen sich im Beruf be-nachteiligt. Das muss sich ändern.Wenn mehr Frauen in Führungspositionen Verantwor-tung übernehmen, wird dies auch Einfluss auf die Unter-nehmenskultur haben. Sobald weibliche Führungskräftezum Alltag gehören, erfüllen sie auch eine bisher nichtvorhandene Vorbildfunktion für zukünftige Generatio-nen und ermutigen Frauen zu höheren Zielen. Ich freuemich auf die Zeit, wenn die Quotenregelung überflüssigund eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen undMännern in Führungspositionen selbstverständlich ist.Vielen Dank.
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta-
rische Staatssekretär Christian Lange.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! 96 Jahre nach Einführung des Frau-enwahlrechts in Deutschland beenden wir mit dem Ge-setz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen undMännern an Führungspositionen in der Privatwirtschaftund im öffentlichen Dienst der Bundesregierung einejahrzehntelange Auseinandersetzung darüber, wie wirArtikel 3 Grundgesetz zum Durchbruch verhelfen kön-nen. Ja, wir beenden quasi einen Kulturkampf.Vor fast genau 96 Jahren, am 19. Februar 1919, sagtedie von mir geschätzte Marie Juchacz, nachdem sie indie Weimarer Nationalversammlung gewählt wurde undals erste Parlamentarierin nach Einführung des Frauen-wahlrechts sprechen durfte – ich zitiere sie –:Es ist das erste Mal, daß … die Frau als freie undgleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, undich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv,daß es die Revolution gewesen ist, die auch inDeutschland die alten Vorurteile überwunden hat.
Meine Damen und Herren, heute machen wir inDeutschland keine Revolution, sondern nur ein Gesetzfür die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Män-nern an Führungspositionen, aber es ist bitter notwendig.Noch nie hatten wir in Deutschland eine so gut ausgebil-dete Frauengeneration. Ob an Schulen oder Universitä-ten, die Spitzenleistungen werden doch längst auch vonFrauen erbracht. Sie stellen 50,7 Prozent der Hochschul-absolventen und machen im Schnitt bessere Examina.Ich bin überzeugt, die Frauenquote wird zu einem Kul-turwandel führen. Sie bedeutet nicht nur einen Meilen-stein der Frauenrechte, sondern ist auch das bessere unddas beste Mittel gegen Fachkräftemangel.
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Parl. Staatssekretär Christian Lange
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Meine Damen und Herren, die Wirtschaft wird vonder Frauenquote profitieren; eben durch die faire Teil-habe von Frauen und Männern. Die Gleichberechtigungvon Frauen kommt ohne Zweifel in vielen Bereichen vo-ran: Im Bundestag hier bei uns mit 36,5 Prozent Frauen-anteil, in der Bundesregierung mit 37,5 Prozent, in derRechtsanwaltschaft mit 33 Prozent und in der Richter-schaft mit 40 Prozent. Nur in den Chefetagen der deut-schen Wirtschaft kommen die Frauen zu kurz. Bei denDAX-Vorständen sind die Zahlen sogar leicht rückläu-fig, wir haben es schon mehrfach gehört. In keiner ande-ren Wirtschaftsnation dieser Welt gibt es so wenigFrauen in Führungspositionen wie bei uns, und das wer-den wir ändern, meine Damen und Herren.
Zur Wahrheit gehört auch: Freiwillige Maßnahmender Unternehmen haben nichts gebracht. Der DeutscheCorporate Governance Kodex mahnt schon seit fünf Jah-ren zu mehr Vielfalt bei der Besetzung von Aufsichtsrä-ten und Vorständen. Genützt hat es nichts. Die Zeit derAppelle ist vorbei.
Wir nehmen den Auftrag des Grundgesetzes zurGleichstellung ernst. Seit 1994 steht im Artikel 3 Ab-satz 2 Satz 2 unseres Grundgesetzes – ich zitiere –:Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung derGleichberechtigung von Frauen und Männern undwirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteilehin.Genau das tun wir jetzt.
Dafür haben wir zwei Instrumente in unseren Gesetz-entwurf eingebaut: erstens eine fixe Geschlechterquotevon 30 Prozent für Aufsichtsräte der größten Unterneh-men in Deutschland. Deutschland verfügt über so vielehochqualifizierte und unter Einsatz von Steuergeldernoptimal ausgebildete Frauen wie noch nie. Wir wissen,dass eine stärkere Beteiligung von Frauen in der Wirt-schaft auf allen Ebenen langfristig sowieso kommenmuss. Das ist schon eine Konsequenz der demografi-schen Entwicklung. Deutschland kann sich seinen Wohl-stand nur bewahren, wenn wir die Produktivität weitererhöhen und die demografische Lücke schließen. DieQuote beschleunigt diesen Prozess. In ein paar Jahrenwird sie selbstverständlich sein. Die Wirtschaft wird sichfragen, wie so lange auf diese wertvolle Personalres-source eigentlich verzichtet werden konnte. Ich glaubeauch, die erregten Diskussionen über die Quote der letz-ten Jahre werden uns im Rückblick nahezu unverständ-lich erscheinen.
An der Quote kommt auch niemand vorbei, und zwarohne Ausnahme. Zur Erfüllung der Quote in den Groß-unternehmen werden circa 174 Frauen benötigt, undzwar gestreckt über mehrere Jahre. Es bleibt ein Rätsel,wie behauptet werden kann, dass diese Aufsichtsratspos-ten unbesetzt bleiben würden. Ich prophezeie Ihnen hierund heute: Am Ende wird kein einziger Sitz in einemdeutschen Aufsichtsrat unbesetzt bleiben.
Zweitens. In Zukunft haben Unternehmen, die bör-sennotiert oder mitbestimmt sind, die Pflicht, sich eineklare Zielgröße zu setzen, wie viele Frauen künftig inVorstand, Aufsichtsrat und Management arbeiten. Auchhier ist gesetzlicher Druck notwendig. Selbstverpflich-tungen und Empfehlungen des Deutschen CorporateGovernance Kodex haben keine Wirkung gezeigt. Durchdie vorgesehenen Berichtspflichten wird auch die Öf-fentlichkeit sehen können, wie sich die Gremien undFührungsebenen zusammensetzen und wie ernst es dieUnternehmen mit der Förderung von Frauen meinen. Andieser Stelle will ich ausdrücklich sagen: Die Öffentlich-keit ist ein scharfes Schwert der Kontrolle. Wir werdenalle darauf schauen, wie sich der Anteil der Frauen inden Führungsebenen dieser Unternehmen entwickelt hat.Es geht dabei um Unternehmen mit mehr als 500 Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern. In der Summe werden escirca 3 500 Unternehmen sein, die sich diese Zielgrößensetzen müssen. Zur Erreichung der Zielgrößen haben dieUnternehmen auch Fristen festzulegen, welche maximalfünf Jahre betragen dürfen. Über die Zielgrößen, Fristenund deren Erreichung müssen sie öffentlich berichten.Meine Damen und Herren, Frauen sind ein Gewinnfür die Wirtschaft. Deutschlands Unternehmen schadensich selbst, wenn sie dieses Potenzial nicht nutzen. Wirbeklagen einen Fachkräftemangel und lassen das enormePotenzial der Frauen ungenutzt. Ich meine, das passtnicht zusammen. Genau deswegen brauchen wir dieFrauenquote; denn sie sorgt nicht nur für mehr Gleichbe-rechtigung, sondern sie wird auch der Wirtschaft neueImpulse geben, von denen wir alle profitieren.In diesem Sinne freue ich mich auf eine konstruktiveBeratung in den Ausschüssen, und am Ende freue ichmich über Ihre Zustimmung.Herzlichen Dank.
Der Kollege Professor Heribert Hirte ist der nächste
Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörer! Vor allen Dingen: Liebe Schülerinnenund liebe Schüler! Der hier vorgelegte Gesetzentwurf istein richtiges Signal, das zur Verbesserung der Chancen-gleichheit von Frauen und Männern in Führungspositio-nen beiträgt; denn in deutschen Aufsichtsräten und Vor-ständen sind zu wenige Frauen vertreten. Es ist richtig,wenn wir gemeinsam daran arbeiten, dies zu verbessern.Aber es ist auch nur ein Signal. Das erklärt auch, warum
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7930 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Dr. Heribert Hirte
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das Gesetzesvorhaben in Teilen meiner Fraktion durch-aus auch kritisch gesehen wird.Denn wenn wir eine Quote einführen, durch die einekleine dreistellige Zahl von Frauen in Führungspositio-nen gelangen wird, blenden wir einen großen Teil derSchwierigkeiten aus, die gerade Frauen auf dem Wegdorthin zu gewärtigen haben. Das betrifft, was im mo-mentanen Gesetzestext noch nicht so richtig zum Aus-druck kommt, vor allen Dingen Frauen mit Kindern.Empirische Studien belegen, dass gerade solche Frauen– aber eben nur solche – mit teilweise erheblichen Ein-kommens- und Karrierenachteilen zu rechnen haben.Kinderbetreuung in den Zeiten, in denen sie für die Tä-tigkeit als Vorstand oder Aufsichtsrat erforderlich ist, istunverändert nicht leicht zu organisieren, schon gar nichtlegal. Deshalb ist es nachdrücklich zu begrüßen, dass vorallen Dingen große Unternehmen diese Aufgabe selbstübernehmen. Das erklärt dann vielleicht auch, warumbei kleinen und mittelständischen Unternehmen –SDAX, MDAX usw. – der Frauenanteil in Führungs-positionen nicht ganz so groß ist wie bei den ganz gro-ßen Unternehmen.Wenn der entsprechend größere Aufwand für die Kin-derbetreuung dann auch steuerlich nur begrenzt geltendgemacht werden kann, „rechnet“ sich für viele rationaldenkende Eltern der Aufwand einer doppelten Karrieremit Kindern nicht. Ich bin deshalb auf den Fortgang eini-ger finanzgerichtlicher Prozesse gespannt, in denen El-tern diese Abzugsbeschränkungen zu Fall bringen wol-len. Wenn zudem gerade Kindergärten „mit besondererLiebe“ bestreikt werden, konterkariert auch dies die Be-reitschaft von Müttern – übrigens auch von Vätern – zurÜbernahme von Führungspositionen.Es ist – anders ausgedrückt – noch deutlich mehr zutun, und dies an anderer Stelle, um die Familienkompati-bilität von Führungspositionen herzustellen. Anderer-seits: Ein bisschen Sog von oben schadet eben auchnicht.
Kommen wir zu einem zweiten Punkt. Frau Ministe-rin, Sie begründen die Quotenvorgaben damit, dass dieZahl qualifizierter Frauen in den letzten Jahren stetig zu-genommen habe. Das ist richtig, aber unvollständig;denn im Aufsichtsrat – Gleiches gilt für die Führungs-ebenen darunter – gilt es, ganz unterschiedliche Fähig-keiten und Profile zusammenzuführen, wie etwa dieKenntnis bestimmter Branchen, ausländischer Märkteoder von Organisationsfragen einschließlich der Daten-verarbeitung.Der Aufsichtsrat ist eine Fußballmannschaft und keinElferrat. Deshalb kommt es schon sehr darauf an, obman sich gerade für Bilanzrecht oder Steuerrecht interes-siert oder – wie die Tochter unserer rechtspolitischenSprecherin – für Maschinenbau, das sie nämlich studiert.Wir brauchen Stürmerinnen, Mittelfeldspielerinnen undVerteidigerinnen mit jeweils unterschiedlichen Qualifi-kationen. Ich würde mir wünschen, wenn sich mehrFrauen für diese wirtschaftsnahen Detailqualifikationenüber die schlichte Wahl des Studienfaches hinaus inte-ressieren würden; aber die Realität sah – jedenfalls bisvor kurzem – noch ganz anders aus.Ich erinnere mich noch sehr genau an die Diskussio-nen in der wirtschaftsrechtlichen Abteilung des Deut-schen Juristentages vor zwei Jahren – im Übrigen auchvor einem Jahr –, bei denen der Frauenanteil bei 10 Pro-zent lag, und das, obwohl sich Frauen wie Männer glei-chermaßen hätten anmelden können. Es waren – auswelchen Gründen auch immer – nicht mehr Frauen da.Deshalb ist ein Kulturwandel, Frau Ministerin, schonwichtig und richtig, aber der Kulturwandel muss an ver-schiedenen Stellen ansetzen.
– Sie waren auch nicht in der wirtschaftsrechtlichen Ab-teilung; aber dies nur am Rande.
– Frau Künast, ich sage das ganz deutlich. Die Männermachen ja da mit, aber es ist ein bisschen komplizierter,als nur eine Quote von oben zu verordnen.Das bringt mich zurück zu der Frage nach den Grün-den. Denn es stößt natürlich – ich meine, zu Recht – aufUnverständnis, dass vor allen Dingen die Wirtschaft fürdiese Lage verantwortlich gemacht wird. Es ist aus mei-ner Sicht auch eine Frage des gesellschaftlichen Klimas,das Wirtschaft und Unternehmertum grundsätzlich kri-tisch gegenübersteht, wenn Menschen sich gegen eineTätigkeit in der Wirtschaft entscheiden. Wer wie dieLinken und die Grünen freien Handel – ich sage nur„TTIP“ – ablehnt, darf sich nicht wundern, wenn Men-schen keine Lust haben, in ebendiesen Handelsunterneh-men zu arbeiten. Diesen Zusammenhang sollte mannicht vergessen.
– Ja, Sie reden auch im Rechtsausschuss ununterbro-chen; ich kenne das schon.Umgekehrt gilt: Es ist gut, richtig und wichtig, wennsich auch Frauen – ich sage es noch einmal – für wirt-schaftsnahe Berufe entscheiden, die dann vermehrt aucheine Übernahme von Führungsverantwortung ermögli-chen; aber das sollte dann doch freiwillig geschehen.Diese Lage – die unterschiedlichen Anforderungspro-file – wirkt sich umso stärker aus, je kleiner ein Auf-sichtsrat oder ein sonstiges Führungsgremium ist; dennhier kann eine fehlende Expertise bei einer Person nichteinfach durch einen Kollegen kompensiert werden. Dasgilt gleichermaßen für Frauen und für Männer.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7931
Dr. Heribert Hirte
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Aber die Beschränkung der Auswahlfreiheit durch eineGenderquote wiegt bei solchen kleinen Unternehmendeutlich stärker. Deshalb wird zu Recht die Frage aufge-worfen, ob der Entwurf nicht gerade in diesem Zusam-menhang in seiner Ausgestaltung verfassungsrechtlichbedenklich ist.
Richtig ist genau vor diesem Hintergrund, dass die Mög-lichkeit der Gesamterfüllung vorgesehen wird, dass alsodie beiden Quoten zusammengerechnet werden. Darüberhinaus müsste man meines Erachtens über die Berück-sichtigung weiterer branchenspezifischer Besonderhei-ten nachdenken.
Mit großer Akribie hat die Bundesregierung den mitdem Gesetzesvorhaben verbundenen Erfüllungsauf-wand berechnet: 257 000 Euro kostet das pro Jahr. Über-raschend ist dabei, dass für Vorstands- und Aufsichts-ratsmitglieder ein Stundensatz von 47,30 Euro proStunde zugrunde gelegt wird – vor Steuern. Das ist etwasmehr als der Mindestlohn. Ich selbst würde mich nichttrauen, einer Frau eine Tätigkeit in einem Aufsichtsratoder einem Vorstand zu diesen offenbar von Ihnen alsangemessen angesehenen Sätzen anzubieten. Der Natio-nale Normenkontrollrat hat das zu Recht richtiggerückt.Zu Recht – damit bin ich bei meinem letzten Punkt –sind die Quotenvorgaben, oder besser: die Signalwirkun-gen des Gesetzes, auch auf den öffentlichen Dienst er-streckt worden. Es wurde zu Recht kritisiert, dass derStaat der Privatwirtschaft keine Vorgaben machen sollte,die er selbst nicht beachtet. Aber: Dort führt die Unter-schreitung der vorgegebenen Quote lediglich zu einerBegründungspflicht, während sie in der Privatwirtschaftzur Nichtigkeit der Wahl und zum Verlust der Aufsichts-ratsmehrheit führt. Angesichts der verfassungsrechtli-chen Positionen ist das eine vielleicht nicht ganz zurechtfertigende Differenzierung.Möglicherweise zum Ausgleich soll der bürokratischeÜberwachungsaufwand dramatisch nach oben gefahrenwerden: Insgesamt circa 100 neue Stellen für Gleichstel-lungsbeauftragte, Stellvertreter und Mitarbeiter in derBundesverwaltung und noch einige weitere personalin-tensive Maßnahmen werden einen Kostenaufwand von20 Millionen Euro pro Jahr auslösen. Wenn es vorne imGesetzentwurf heißt, das alles sei haushaltsneutral, dannfragt man sich natürlich, wie das geschehen soll.
Es kann doch nur so laufen, dass zunächst umgesetztwird, die Verwaltung verschlechtert wird und im nächs-ten Jahr die entsprechenden Haushaltsforderungen kom-men. Da kann ich nur sagen: Das kennen wir von ande-ren Stellen. – Wir wollen schon eine Quote – das sageich ganz deutlich –, aber wir wollen keine Gleichstel-lungsüberwachungspolizei; denn eine „Glüpo“ habe ichim Koalitionsvertrag nicht gefunden.
Lassen Sie uns das deshalb in den Beratungen in dennächsten Wochen korrigieren. Ich bin zuversichtlich,dass das gelingt.Vielen Dank.
Für die SPD hat jetzt das Wort die Kollegin Christina
Jantz.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr ProfessorHirte, eingangs möchte ich mich insbesondere im Na-men meiner Fraktion, aber, wie ich denke, auch imNamen vieler anderer Kolleginnen hier im Plenarsaal da-gegen verwehren, Gleichstellungsbeauftragte als Büro-kratieaufbau zu bezeichnen.
Ich muss Ihnen nicht sagen – das ist in vielen Redenschon angeklungen –, welch große Beiträge Frauen bis-lang für unsere Gesellschaft geleistet haben und dass siediese selbstverständlich auch zukünftig leisten werden.Dennoch, der freie Zugang zu gut bezahlten Berufen undPositionen ist für Frauen heutzutage aber nicht nur eineFrage der Gerechtigkeit. Er hat auch gesellschaftspoliti-sche Auswirkungen auf viele unserer Lebensbereiche.Es wurde schon oft betont und nachgewiesen, dassFrauen in Spitzenpositionen – auch das klang heuteschon an – die Unternehmen maßgeblich voranbringen,
ganz egal ob in der freien Wirtschaft oder im öffentli-chen Dienst. In vielen Ländern hat sich diese Einstellungbereits manifestiert, und sie wird dort entsprechend auchgelebt. In Deutschland – Christian Lange hat es gesagt –brauchen wir uns gar nicht zu verstecken. Denn auch beiuns gilt: Die Grundlage haben wir. Qualifizierte, hoch-kompetente Frauen gibt es genug. In Deutschland absol-vieren mehr Frauen als Männer ein Hochschulstudium,und das mit sehr guten Ergebnissen.
Sie streben zunehmend insbesondere in die stark boo-menden Branchen. Frauen wollen vorankommen, sich
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7932 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Christina Jantz
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einbringen und entscheiden. Sie wollen von der zweitenund dritten Reihe nach vorne treten und ihr Können be-weisen. Doch der Alltag zeigt uns nach wie vor:Deutschland lässt sie nicht. Wir sind trauriges Schluss-licht. Denn in keiner anderen Wirtschaftsnation – auchdas hatte Christian Lange vorhin angesprochen – gibt esim Vergleich weniger Unternehmen mit mindestens ei-ner Frau in einer Spitzenposition als bei uns. Lediglichin jedem dritten Unternehmen lassen sich Frauen an derSpitze finden. Während andere Länder gezielt unsereweiblichen Fach- und Führungskräfte abwerben und unsviele Staaten überholen, prallen die Frauen bei uns inDeutschland immer noch viel zu häufig an die – bildlichgesprochen – gläserne Decke. Meine Damen und Her-ren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir esendlich schaffen, zumindest einen Teil dieser Decke brü-chig zu machen.
Dafür danke ich insbesondere unseren SPD-MinisternManuela Schwesig und Heiko Maas. Sie haben einen be-sonnenen, guten Gesetzentwurf ausgearbeitet, der füreine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Män-nern in Führungspositionen sorgen soll. Die Weichenwerden nun endlich richtig gestellt.
Damit setzen wir nicht nur den Koalitionsvertrag undunsere Ziele, insbesondere unsere lang erkämpften For-derungen um, sondern wir lenken auch Artikel 3 Absatz 2unseres Grundgesetzes in gesetzlich untermauerte Bah-nen. Nun wird es Rechtsfolgen, also Konsequenzen, ge-ben, sollte die Geschlechterquote nicht eingehalten wer-den. Der sogenannte leere Stuhl droht. Zum ersten Malin der deutschen Geschichte wird es eine Geschlechter-quote von mindestens 30 Prozent in Aufsichtsräten ge-ben. Ich möchte betonen: So sieht nicht nur aktive, pra-xisorientierte Frauen- und Rechtspolitik aus, sondern sosieht auch eine fortschrittliche Wirtschaftspolitik aus.
Seien wir doch ehrlich: Eigentlich ist es schon einbisschen kurios, Unternehmen zu ihrem Glück zwingenzu müssen. Denn die zahlreichen Studien, die uns allevorliegen, belegen doch immer wieder: Vielfalt in Unter-nehmen bringt Fortschritt und spült auch Geld in dieKassen. Gleichzeitig mussten wir erkennen, dass der Ap-pell an die Unternehmen, freiwillig zu handeln, kläglichgescheitert ist. Würden wir es nämlich gänzlich unserenUnternehmen überlassen, die Gleichstellung voranzu-treiben, würde es noch Jahrzehnte benötigen, nein – wassage ich? –, an die 150 Jahre dauern, bis wir eine 30-Pro-zent-Quote hätten, wenn wir mit dem bestehendenTempo fortfahren würden.Sie sehen, meine Damen und Herren, Handlungsbe-darf ist unverkennbar gegeben. Mit dem vorliegendenGesetzentwurf schaffen wir den notwendigen motivie-renden Druck, stärken natürlich die Frauen, stärken diewirtschaftliche Entwicklung und stärken insgesamt un-sere Gesellschaft. Packen wir es also endlich an!Vielen Dank.
Als Nächstes hat das Wort der Kollege Oswin Veith
für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Seit 66 Jahren garantiert unser Grundgesetz inArtikel 3 die gleichberechtigte Teilhabe von Männernund Frauen. Um das zu erreichen, haben wir in den letz-ten Jahren bereits vieles auf den Weg gebracht. Mit derPrivatwirtschaft haben wir freiwillige Selbstverpflich-tungen vereinbart und für den öffentlichen Dienst dasBundesgremienbesetzungsgesetz und auch das Bundes-gleichstellungsgesetz verabschiedet.Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun eine Quo-tenregelung zur Verbesserung der Chancengleichheit fürFrauen und Männer bei der Besetzung von Führungs-positionen vor. Für börsennotierte Unternehmen, die derparitätischen Mitbestimmung unterliegen, gilt damit zu-künftig für ihre Aufsichtsräte eine Geschlechterquotevon mindestens 30 Prozent. Zudem wird es verbindlicheZielvereinbarungen für börsennotierte und mitbestim-mungspflichtige Unternehmen geben. Ich bedaure esausdrücklich, dass es nicht gelungen ist, gemeinsam mitder Privatwirtschaft dieses freiwillige Ziel zu erreichen.Weil wir als Bund mit gutem Beispiel vorangehenwollen, wird es für den öffentlichen Dienst vergleichbareRegelungen geben. Die Bundesverwaltung wird künftigverpflichtet, sich für jede Führungsebene konkrete Ziel-vereinbarungen zur Erhöhung des Frauen- bzw. Männer-anteils zu setzen. Darüber hinaus soll bei der Besetzungvon Aufsichtsgremien, bei denen der Bund mitbestim-men kann, ab 2016 eine Quote von 30 Prozent gelten,mit dem Ziel, diese Vorgabe ab dem Jahre 2018 auf50 Prozent zu erhöhen. Im Koalitionsvertrag haben wiruns auf eine gezielte Gleichstellungspolitik auf Ebenedes Bundes geeinigt. Wir wollen den Anteil der Frauenin Führungspositionen erhöhen und Entgeltungleichhei-ten beseitigen. Dafür stehen wir als Union.
Für die Bundesverwaltung haben wir daher im Koali-tionsvertrag eine proaktive Umsetzung des Bundes-gleichstellungs- und Bundesgremienbesetzungsgesetzesgefordert. Mit den Quotenregelungen für den öffentli-chen Dienst geht der vorliegende Gesetzentwurf aberklar über die Vorgaben unseres Koalitionsvertrages hi-naus. So enthält der Gesetzentwurf aus dem Familienmi-nisterium für die Geschlechterquote bei der Besetzungvon Aufsichtsgremien im Einflussbereich des Bundesweder Öffnungs- noch Härtefallklauseln. Als Konse-quenz muss bei einer Gremienbesetzung durch den Bundstreng auf diese Quote geachtet werden, losgelöst vonder jeweiligen persönlichen und fachlichen Eignung und
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7933
Oswin Veith
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Qualifikation der potenziellen Gremienmitglieder. Daskann nicht gutgehen. Auch fehlt es in dem Gesetzent-wurf an einer Möglichkeit zur Abweichung von derQuotenregelung in den Fällen, in denen eine funktions-bezogene Besetzung der Gremien erfolgt. Vor allem vordem Hintergrund, dass wir im öffentlichen Dienst bereitsüber einen sehr hohen Standard verfügen, erscheinen mirdiese starren Quoten für zu weitgehend.Lassen Sie mich die aktuelle Situation kurz aufzeigen.Der Frauenanteil an Führungspositionen in den oberstenBundesbehörden im Jahre 2012 betrug rund 30 Prozent.Der Frauenanteil an Gremienmitgliedern im Einflussbe-reich des Bundes stieg von 1997 bis 2013 von 12,4 auf25,7 Prozent. Das sind gute Zahlen, wie ich meine. Wirliegen damit weit vor der Wirtschaft. Auch das gilt es an-gemessen zu berücksichtigen.Das sagt auch vieles über den öffentlichen Dienst alsArbeitgeber:Erstens. Er ist auf einem sehr guten Weg, um dieChancengleichheit für beide Geschlechter zu verbessern.Auch deshalb ist der öffentliche Dienst ein attraktiverArbeitgeber.Zweitens. Im Vergleich zur Privatwirtschaft arbeitetder öffentliche Dienst konsequent an der Verbesserungder Vereinbarkeit von Beruf, Pflege und Familie. DieseProblematik ist erkannt. Wir haben in der letzten Legis-laturperiode gemeinsam zum Beispiel mit dem Fachkräf-tegewinnungsgesetz darauf reagiert. Damit haben wirviele positive Maßnahmen zur Verbesserung der Famili-enfreundlichkeit auf den Weg gebracht, zum Beispielden Personalgewinnungszuschlag, Kinderbetreuungs-und Pflegezeiten, die Anerkennung von Erfahrungszei-ten, Wehrdienst- und Freiwilligendienstzeiten oder dieEinführung einer Verpflichtungsprämie für polizeilicheAuslandsverwendungen. Ferner wurde die Übertragungehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrechtauf Lebenspartnerschaften beschlossen, und der Eintrittin den Ruhestand wurde insgesamt flexibler ausgestaltet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gleichberech-tigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungs-positionen ist ein wichtiges Anliegen. Wir als Union be-kennen uns klar zu diesem Ziel. Nicht zuletzt durch dievon der Union beschlossenen Maßnahmen ist der öffent-liche Dienst hier bereits Vorreiter in unserer Gesell-schaft. Wenn es denn richtig ist, wie es in Artikel 3 Ab-satz 2 unseres Grundgesetzes heißt: „Der Staat fördertdie tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigungvon Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigungbestehender Nachteile hin“, dann ist der vorliegende Ge-setzentwurf der Familienministerin ein weiterer Schrittauf einem richtigen Weg. Dennoch müssen wir im weite-ren Beratungsverfahren noch den einen oder anderenStein beiseiteräumen, damit alles rund wird. Darauffreue ich mich.Vielen Dank.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Metin Hakverdi, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Endlich – nicht im Sinne von heute, sondern im Sinnevon: nach so vielen Jahren des Debattierens, der getrof-fenen Selbstverpflichtung durch Wirtschaft und Politik,der politischen Auseinandersetzung – hat sich die Ein-sicht durchgesetzt: Eine gerechte Gesellschaft, bei deralle – Frauen und Männer gleichermaßen – in Wirtschaftund Verwaltung Aufstiegschancen haben und Führungs-positionen besetzen können, ist ohne eine gesetzlich ver-bindliche Quote offensichtlich nicht zu erreichen: Ob-wohl Frauen heute besser qualifiziert sind als Männer,obwohl Frauen über 50 Prozent der Bevölkerung aus-machen, liegt der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der160 größten deutschen Unternehmen unter 20 Prozent,bei den Vorständen sogar unter 6 Prozent.Der eine oder andere, die eine oder andere findet ei-nen Eingriff des Gesetzgebers unangemessen. Denensage ich: Gesetzgeberisches Handeln ist immer dort er-forderlich, wo die gesellschaftlichen Mechanismen nichtin der Lage sind, eine offensichtliche Ungerechtigkeit zuüberwinden. In diesem Fall muss der Gesetzgeber han-deln: Männlich dominierte Strukturen lösen sich offen-sichtlich nicht freiwillig auf; das ist die Erkenntnis derletzten Jahre. Deshalb lasse ich weder das Argument un-nötiger Bürokratie noch das eines unzulässigen Eingriffsin die unternehmerische Freiheit gelten.
Den anderen geht der Gesetzentwurf nicht weit ge-nug. Denen sage ich: Dieser Gesetzentwurf – die Kolle-gin Künast hat auch das Wort „historisch“ benutzt – isteine historische Zäsur. Eine verbindliche Quote für Auf-sichtsräte wird nunmehr gesetzlich festgeschrieben. Au-ßerdem werden Aufsichtsräte verpflichtet, Zielgrößenfür die Vorstände zu beschließen; die Vorstände wiede-rum müssen Zielgrößen für die beiden Führungsebenenunterhalb des Vorstandes festlegen. Für diese Zielgrößensind Fristen festzulegen und in Lageberichten zu veröf-fentlichen.Das schafft Transparenz und Öffentlichkeit. Ich binüberzeugt, dass diese Transparenz und Öffentlichkeiteine ganz besondere Dynamik auslösen können: Ichkann mir vorstellen, dass sich Organisationen allein zudem Zweck gründen, die einzelnen Unternehmen aufdiesen Aspekt hin zu überwachen. Ich kann mir vorstel-len, dass solche Organisationen Ungerechtigkeiten ineinzelnen Unternehmen öffentlich machen und anpran-gern. Diese Unternehmen müssten dann der Öffentlich-keit erklären, warum der Frauenanteil in ihren Führungs-ebenen nicht der gesellschaftlichen Realität entspricht.Genügt – das ist auch an die Opposition heute gerichtet –dieser öffentliche Druck nicht, liebe Kolleginnen und
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7934 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Metin Hakverdi
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Kollegen, dann wird der Gesetzgeber wieder in derPflicht sein. Es ist ungerecht und unserem Gemeinwesenunwürdig, dass Frauen in den Führungsetagen der deut-schen Wirtschaft derzeit so stark diskriminiert sind.Einigen – auch heute hier in diesem Haus – reichtdiese Feststellung nicht als Grund dafür, Unternehmen inDeutschland zu mehr Gleichberechtigung zu verpflich-ten. Diese weise ich auf die vielen internationalen Stu-dien hin, die alle ein Ergebnis haben: Unternehmen miteinem höheren Frauenanteil in Führungsgremien habenmehr Erfolg. – Deshalb ist es mir unverständlich, warumdie Unternehmerverbände jetzt nicht die Fahnenträgerdieser Gesetzesinitiative sind. Mit diesem Gesetz sorgenwir nämlich nicht nur für mehr Gerechtigkeit in unsererGesellschaft, mit diesem Gesetz tun wir auch etwas fürden Wirtschaftsstandort Deutschland: Wir machen denWirtschaftsstandort Deutschland leistungsfähiger. Kolle-ginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz brechen wirStrukturen auf, die bisher die wirtschaftliche Prosperitätin unserem Land behindert haben. Wir beseitigen einMarktversagen. Die nachhaltige Entwicklung des Wirt-schaftsstandorts Deutschland braucht dieses Gesetz.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache zu
diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/3784, 18/4307 und 18/4308
an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, dass sich kein Wider-
spruch erhebt, Sie also alle damit einverstanden sind.
Dann ist diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Hans-Christian Ströbele, Luise
Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bericht über das Inhaftierungs- und Verhör-
programm der CIA vollständig und unge-
schwärzt übermitteln
Drucksache 18/3558
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
auch hier keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
ter Rednerin der Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein erns-tes Thema. Es geht um einen Antrag, bei dem meines Er-achtens eigentlich niemand in diesem Haus dagegen seinkann.
Ich denke, alle können unterschreiben und sagen:Der Deutsche Bundestag verurteilt Folter. Niemanddarf der Folter oder grausamer, unmenschlicheroder erniedrigender Behandlung oder Strafe unter-worfen werden.Wir alle wollen doch wohl, dass Folter abgestellt wirdund Foltervorwürfe rechtsstaatlich aufgeklärt werden.
Eigentlich haben wir bei diesem Thema doch alle diegleiche Meinung, zum Beispiel gerade gestern bezüglichdes Bloggers in Saudi-Arabien. Der Kollege TomKoenigs, der zum Beispiel dazu geredet hat, sitzt jetztauch hier. Logisch. Aber wenn das so ist, meine Damenund Herren, muss doch der Deutsche Bundestag jetzt ge-meinsam begrüßen, dass – erstens – der Geheimdienst-ausschuss des US-Senats unter Leitung von DianneFeinstein diese Aufklärung über das Inhaftierungs- undVerhörprogramm der CIA, über Jahre mühevoll betrie-ben hat, und müsste – zweitens – logischerweise dannauch zustimmen, wenn wir heute beschließen wollen:Wir ersuchen die zuständigen Stellen in den USA, unsden vollständigen Bericht von 6 000 Seiten unge-schwärzt zu übermitteln. Das alles gehört logisch zusam-men, meine Damen und Herren.
Wir kennen ja nun alle die Zusammenfassung, diemittlerweile auf Deutsch – auf meinem Tisch liegt sie –erschienen ist, 500 Seiten.
Aber der Bericht hat eben 6 000 Seiten. Selbst bei dieserZusammenstellung auf 500 Seiten – wenn man sie liest –kann man verzweifeln. Es ist unglaublich, dass so etwasin den USA geschehen ist, dass sich dieses politischeSystem, vermeintlich um Freiheit zu verteidigen, dahinversteigen kann:Waterboarding. – Ich kann mir gar nicht vorstellen,wie sich ein Mensch physisch und psychisch dabei fühlt.Man ist dann doch zerstört, im wahrsten Sinne des Wor-tes zerstört – schon nach dem ersten Mal. Hier war esmindestens 18-mal.Entzug von Schlaf. – Meine Damen und Herren, dasist mit einem Land, dessen Verfassung anfängt mit „Wethe People“, eigentlich gar nicht vereinbar.Ich meine, was jetzt nicht passieren darf, ist, dassnach diesem Bericht die Straflosigkeit folgt, meine Da-men und Herren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7935
Renate Künast
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Es gibt viele Staaten auf der Welt, in denen Folter ander Tagesordnung ist: Saudi-Arabien – davon haben wirgestern geredet –, Syrien, Iran, auch Russland, meineDamen und Herren. Aber von der US-Justiz erwarte ich,dass sie hier wirklich aufarbeitet und es nicht mit derVeröffentlichung des Berichts oder des Teilberichts be-wenden lässt. Die USA haben sich doch eigentlich völ-ker- und menschenrechtlichen Standards verpflichtet,wenn sie auch nicht alles unterschrieben haben, zumBeispiel bei dem Internationalen Strafgerichtshof.Klar ist aber auch: Auch wenn die US-Justiz untätigbleibt und Obama schon gesagt hat: „Wir reagieren danicht mit strafrechtlichen Maßnahmen“, kann das für unsnicht heißen, dass wir, die wir sagen, Folter ist verboten– einen anderen Weg gibt es nicht; wir haben es im Falldes Polizisten Daschner richterlich bestätigt bekom-men –, meinen: Das gilt jetzt für uns auch. Nein, dasStrafrecht hat ein Weltrechtsprinzip: Folter ist verboten –was nichts anderes heißt, als dass jedes Land Folter, woauf dieser Welt und an wem auch immer sie verübt wird,bei sich selbst einem Strafverfahren unterziehen kann.
Deshalb sage ich: Das Ganze muss Folgen haben. Diedeutsche Justiz muss doch zumindest in der Lage sein,Taten mit Bezug zu Deutschland zu verfolgen, zum Bei-spiel bei Entführungen, die über unser Territorium er-folgt sind, bei denen deutsche Behörden beteiligt waren– etwa bei der Ermittlung persönlicher Daten oder vonAufenthaltsorten – oder wo die Opfer deutsche Staatsan-gehörige waren.Stellen Sie sich jetzt einmal vor, jemand, dem daspassiert wäre, hieße Fritz Müller oder Meier. Wäre dannder Aufschrei eigentlich größer gewesen, als wenn maneinen ganz anderen Namen gehabt hätte, zum BeispielMurat Kurnaz oder Khaled el-Masri? Überlegen Sie ein-mal – der Untersuchungsausschuss hat das ja gezeigt –,ein deutscher Bürger aus Bremen wird in Mazedonienfestgenommen, nach Afghanistan verschleppt, gefoltert– wir haben es gesehen; selbst in diesem Bericht stehtdas –, misshandelt, erniedrigt und geschlagen. Ihm wer-den Drogen verabreicht und verschiedene rektale Ein-läufe verpasst. Wenn wir nicht einmal in der Lage sind,bei solchen Straftaten und einer solchen Folter gegen-über deutschen Staatsangehörigen zu sagen: „So nicht“,dann frage ich: Wo denn dann?
Ich sage das auch für den Deutschen Khaled el-Masri,der von der CIA eben auch gefoltert wurde. In Münchenwar man mutig, und es gibt dort Haftbefehle. Aber wofunktioniert denn der deutsche Rechtsstaat, wenn dieseHaftbefehle gegen CIA-Agenten von der Regierungnicht einmal an die USA weitergeleitet werden? Hiergeht es doch auch um die eigene Würde und die Glaub-würdigkeit, dass wir wirklich einen Rechtsstaat vertre-ten. Denken Sie allein auch an die Entführten, die nachder Folter in ihren Zellen von Geheimdienstmitarbeiternvernommen wurden, wodurch diese quasi die Früchtedes verbotenen Baumes geerntet haben.Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns nicht an ei-nem System Straflosigkeit beteiligen dürfen.
Wie betreiben wir eigentlich – das sehen wir in diesenTagen – Terrorismusbekämpfung? Wie können wir beiall der Strafverfolgung und all den Maßnahmen, die wirhier in dieser Zeit strittig diskutieren, jungen Männernund Frauen sagen: „Schließt euch nicht den Dschihadis-ten an, habt Respekt vor anderen Menschen, tötet nichtandere, geht nicht diesen Weg“, und wie können wir ih-nen eigentlich in die Augen schauen? Sie sehen uns anund sagen: Gleiches Recht für alle!Ich will diese Taten gar nicht voll gleichstellen, aberwenn etwas eine Straftat ist, dann ist etwas eine Straftat,und der deutsche Rechtsstaat und der Deutsche Bundes-tag sind nur glaubwürdig, wenn sie ohne Ansehen derPerson und ohne Ansehen der Staaten sagen: SolcheStraftaten werden von uns verfolgt. – Darum geht es.
Frau Kollegin Künast, ich darf Sie um Ihren letzten
Satz bitten.
Ja, ich komme zum Schluss. – Meine Damen und
Herren, wenn wir bei der Prävention und Bekämpfung
von Folter erfolgreich sein wollen, dann muss der Deut-
sche Bundestag diesen Bericht – 6 000 Seiten, unge-
schwärzt – fordern. Ich meine, wenn wir in unserem
Rechtsstaat wirklich gegen Folter kämpfen wollen, dann
müssen wir die Frage nach diesem Bericht immer wieder
stellen. Wir werden nie aufhören, nach diesem Bericht
zu fragen – bis wir ihn haben.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Frank
Heinrich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Am 17. Dezember 2014 haben wir an dieserStelle über die Foltermethoden der CIA debattiert undwaren uns über die Parteigrenzen hinweg einig – daswurde von Frau Künast in ihrer Rede gerade auch ge-sagt –, diese grausamen Praktiken zu verurteilen. Ich sel-ber habe zu Beginn meiner Rede damals gesagt:„Schämt euch, Freunde in den USA …!“Wir haben von sogenannten erweiterten Verhörtechni-ken gehört. Das ist eine grobe Verharmlosung von Folter.
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7936 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Frank Heinrich
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Lassen Sie mich einige der gravierendsten Verstöße ein-fach einmal ins Gedächtnis rufen: Verhaftungen auf Ver-dacht ohne jede Anklage, Abschottung von der Außen-welt in Geheimgefängnissen, Drohungen gegen dieFamilie, zum Beispiel die Drohung, die Mutter zu verge-waltigen, Eintauchen in eine Tonne mit Eiswasser,Schlafentzug über drei Tage. Man könnte das noch wei-ter fortsetzen.Der Bundesregierung lag bisher nur ein Teil des6 000-seitigen Berichts vor, der von Frau Feinstein sotoll und mit großer Ausdauer vorbereitet wurde, 500 Sei-ten, und diese sind an vielen Stellen geschwärzt. Manbekommt Angst, wenn man sich vorstellt, was auf denrestlichen Seiten oder unter diesen geschwärzten Stellendes Berichts noch verborgen sein könnte.Wir verlangen von den Freunden in den USA einevollständige Aufklärung. Insofern stimme ich dem An-liegen des Antrags zu.Am gleichen Tag, als die Debatte im Dezember statt-fand, wurde der Rechtsausschuss durch Generalbundes-anwalt Harald Range informiert. Er hat an die USA denAntrag gestellt, der Bundesregierung den komplettenund ungeschwärzten Bericht zu liefern. Der Antrag, überden wir heute debattieren, übrigens mit dem gleichenDatum wie damals versehen, erübrigt sich deswegen
und wirkt schon auf eine gewisse Weise wie ein Schau-fensterantrag.
Zudem müssen Sie doch wissen, dass nicht nur wir al-leine, sondern auch die anderen Staaten der EU – daswird im nächsten Monat im Europäischen Parlament derFall sein – darüber debattieren. Trotzdem gibt es – dashabe ich im Eingang gesagt – Elemente in Ihrem Antrag,die wir als CDU vollständig mittragen.Die erneute inhaltliche Debatte, auch angesichts derGeschehnisse seit Dezember, ist sinnvoll. Deshalbmöchte ich den ersten Absatz Ihres Antrags vorlesen:Der Deutsche Bundestag verurteilt Folter. Niemanddarf der Folter oder grausamer, unmenschlicheroder erniedrigender Behandlung oder Strafe unter-worfen werden ...Danach werden mehrere Paragrafen dazu angeführt.Dieser Forderung können wir absolut, unmissverständ-lich und vollumfänglich zustimmen.Gestern haben wir hier an der gleichen Stelle, wie Siegerade gesagt haben, über den Blogger Raif Badawi ausSaudi-Arabien debattiert. Er wurde vor zwei Jahren we-gen Beleidigung des Islams verhaftet, im Novemberletzten Jahres zu zehn Jahren Haft, einer Geldstrafe und1 000 Peitschenhieben verurteilt, was durch die Medienging. Die ersten 50 Schläge sind ihm verabreicht wordenoder wurden, wie man dort wahrscheinlich sagt, voll-streckt. Daraufhin hatte er so starke Verletzungen, dassihm, auch aufgrund des politischen Drucks, bisher keineweiteren Schläge verabreicht wurden.Saudi-Arabien hat das Attentat in Paris als „feigenTerrorakt“ verurteilt, „der gegen den wahren Islam ver-stößt“ – so viel zur einen Seite der öffentlichen Wahr-nehmung. Nur zwei Tage später hat Saudi-Arabien denBlogger in Dschidda öffentlich auspeitschen lassen. Ichsuche immer noch denjenigen, der das versteht.Die Bundesrepublik und die gesamte westliche Welthaben gegen diese Form der Folter ihre Stimme erhoben –mit Erfolg. Eine weitere Bestrafung wurde – das habeich eben gesagt – vorerst ausgesetzt. Damit wir aber un-sere Stimme gegen jede Form von Menschenrechtsver-letzung, gegen Einschränkungen von Meinungsfreiheit,Pressefreiheit, Religionsfreiheit, gegen Diskriminierungvon Minderheiten, gegen unfaire Gerichtsverfahren undgegen Folter glaubwürdig erheben können, müssen wirauch vor der eigenen Haustür kehren.Die USA sind unsere Freunde. Diese Freundschaftdarf nicht dazu führen, dass die Glaubwürdigkeit derWeltgemeinschaft beeinträchtigt und beschädigt wird.Dafür müssen die Daten vollständig und ungeschwärztvorliegen. Der Generalbundesanwalt geht an dieserStelle den richtigen Weg. Natürlich müssen wir zusi-chern, was unter Punkt IV in Ihrem Antrag steht:Der Deutsche Bundestag versichert, dass er etwaigeMaßgaben der Vereinigten Staaten zur Geheimhal-tung beachten wird und den Bericht – wenn von denUSA gewünscht – nur in seiner Geheimschutzstellezugängig machen wird.Es ist das Wesen eines demokratischen Rechtsstaates,vollumfänglich aufzuklären und juristische Konsequen-zen zu ziehen. Nur so gewinnt Politik an Glaubwürdig-keit, möglicherweise auch Glaubwürdigkeit bei den poli-tikverdrossenen Bürgern zurück, die in unserem Landauf die Straße gehen.
Das gilt auch nicht minder für die Glaubwürdigkeitbei Konflikten zwischen Staaten. So hat Deutschland un-ter anderem eine Vermittlerrolle zwischen den wider-streitenden Kräften in der Ukraine übernommen. Wir ha-ben eine führende Rolle in der wirtschaftlichen unddemokratischen Stabilisierung innerhalb der EU und vie-ler anderer Länder. Wir tun das in enger Verbundenheitmit den Partnern, auch mit den USA. Um dieser Glaub-würdigkeit willen brauchen wir einen Zugang zum voll-ständigen Bericht.
Wohin politische Geheimniskrämerei im Zeitalter vonWikileaks führen kann, hat uns der Fall Snowden ziem-lich deutlich vor Augen geführt. In diesen Tagen wirdimmer wieder das christlich-jüdische Abendland undMenschenbild beschworen. Lassen Sie mich an dieserStelle als Christ ein Stück aus der Bibel zitieren, in der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7937
Frank Heinrich
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genau davon die Rede ist, als Jesus sagt: „... die Wahr-heit wird euch frei machen“. – Das galt damals, und dasgilt heute, auch und gerade in einem Land und für einLand, das die Freiheit für einen seiner größten Wertehält, die USA.Wir fordern Offenlegung. Gerechtigkeit beginnt mitdem Aufdecken der Wahrheit. Wenn es der Bericht nötigmacht, unterstützen wir den Generalbundesanwalt darin,Ermittlungen aufzunehmen: zum Schutz der Menschen-rechte.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn,
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Die Linke wird sich natürlich keinem Antrag entge-genstellen, dessen erster Satz lautet: „Der Deutsche Bun-destag verurteilt Folter.“
Ich sage ganz klar: Auch ein vermeintlich noch so gu-ter Zweck heiligt nicht alle Mittel, auch nicht in den Ver-einigten Staaten von Amerika.
Geheimgefängnisse in aller Welt, Guantánamo, wo Men-schen zum Teil seit über einem Jahrzehnt ohne jedes Ge-richtsverfahren inhaftiert sind, und dann auch noch dieAnwendung schlimmster Foltermethoden bei Gefange-nen: Das sind konkrete Beispiele, die von meinen Vor-rednern schon genannt wurden. Für all das gibt es nichtdie geringste Rechtfertigung.Mein Kollege Stefan Liebich hat das in der De-zemberdebatte als Verbrechen im Staatsauftrag bezeich-net. Ich stimme ihm darin ausdrücklich zu und hätte mireine solche klare Aussage im Übrigen auch im Antrags-text von Bündnis 90/Die Grünen gewünscht.Überhaupt ist der Antrag eher freundlich formuliert.Aber ob das ausreicht, die Koalition zur Zustimmung zubewegen, vermag ich nach den Ausführungen von HerrnHeinrich nicht ganz nachzuvollziehen. Sie haben nichtgesagt, was Sie wollen. Sie haben das Anliegen unter-stützt. Dann sagen Sie doch klipp und klar: Auch die Ko-alition wird zustimmen. – Das wäre eine klare Aussage.Diese habe ich von Ihnen leider nicht gehört.
Dabei sollte doch das Grundanliegen des Antrags, näm-lich die Aufforderung an die US-Behörden, den Berichtdes US-Senats über das Inhaftierungs- und Verhörpro-gramm an den Bundestag zu übermitteln, eigentlich vonallen Fraktionen dieses Hauses mitgetragen werden kön-nen.Für meine Fraktion, die Linke, will ich noch einmalbetonen, wie froh wir sind, dass es diesen Bericht über-haupt gibt und die stattgefundenen Misshandlungen da-durch bekannt geworden sind und dass er zumindest inTeilen veröffentlicht wurde und nicht komplett in derVersenkung verschwunden ist, wie es Teile der US-Re-gierung und nicht wenige Senatoren gern gesehen hät-ten.Dass es dazu nicht gekommen ist, haben wir vor al-lem dem jahrelangen Engagement der Senatorin DianneFeinstein zu verdanken, die kurz vor Ablauf ihrer Amts-zeit als Vorsitzende des Geheimdienstausschusses dieVeröffentlichung dieses Berichtes trotz erheblicher Wi-derstände durchsetzte. Das sollten wir auch in der heuti-gen Debatte noch einmal ausdrücklich würdigen.
Punkt III des Antrags der Grünen beinhaltet das Ersu-chen, dem Bundestag den Bericht vollständig und unge-schwärzt zu übermitteln. Auch diese Forderung findetunsere Zustimmung. Denn bislang sind – das ist gesagtworden – lediglich knapp 500 Seiten übermittelt wordenund öffentlich zugänglich, während der offizielle Berichtmehr als 6 000 Seiten umfassen soll. Man braucht daherkein Prophet zu sein, um davon auszugehen, dass dieschlimmsten Verbrechen bislang nicht einmal ansatz-weise bekannt geworden sind. Auch um Unterstützungs-handlungen und Straftaten, die von deutschem Bodenausgegangen sind, umfassend aufklären und strafrecht-lich verfolgen zu können, brauchen wir die unge-schwärzte Fassung.
Wenn ich an die umfänglichen Schwärzungen denke,dann habe ich gleich wieder die Akten aus dem NSA-Untersuchungsausschuss vor Augen, in dem auch sehrwichtige und für die Aufklärung zentrale Passagen unle-serlich gemacht worden sind. Es scheint bei Regierun-gen offenkundig Methode zu sein, Dinge verheimlichenoder verbergen zu wollen, die Missstände, kompromit-tierende Sachverhalte, Rechtsverstöße oder gar Strafta-ten aufdecken könnten. Doch damit darf sich ein Parla-ment nicht abspeisen lassen, sondern es muss immerwieder seiner Kontrollfunktion gegenüber der Exekutiveumfassend nachkommen. Das gilt im Übrigen sowohlfür die Koalitionsfraktionen wie für die Opposition, auchwenn das offenbar noch nicht alle Kollegen von Unionund SPD verinnerlicht haben.Doch zurück zum vorliegenden Antrag. In der Be-gründung wird unter anderem auf den Fall des deutschenStaatsbürgers el-Masri hingewiesen, der im Bundestagschon häufiger diskutiert wurde. Es ist mit Sicherheit da-von auszugehen, dass es in dem Gesamtbericht nochweitere Bezüge zu Deutschland geben wird. Für mich alsAbgeordneten aus Sachsen ist beispielsweise interessant,welche Rolle der Flughafen Leipzig/Halle beim Trans-port rechtswidrig festgenommener oder verschleppterMenschen in die USA gespielt hat und ob dies mit Ein-willigung deutscher Behörden geschah.
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7938 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Dr. André Hahn
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Das und vieles andere bedarf einer Klärung. Der An-trag kann dazu einen Beitrag leisten. Deshalb werdenwir ihm zustimmen.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Glöckner
für die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben uns vor wenigen Wochen hier im
Deutschen Bundestag mit dem gleichen Thema befasst,
mit dem Bericht des US-Senats zu den Folterpraktiken
des amerikanischen Geheimdienstes CIA.
„Folter“ ist in der Tat – da gebe ich allen Vorrednern
recht – der treffende Begriff; denn um nichts anderes
handelt es sich hier bei den von der CIA als verschärfte
Verhörmethoden bezeichneten Praktiken. Ich betone
ebenfalls noch einmal: Diese Folterpraxis der CIA ist
grauenhaft und vollkommen inakzeptabel. Dass es Folter
gab, wissen wir seit der Veröffentlichung der Kurzfas-
sung des Berichts des US-Senats im Dezember 2014.
Der vollständige Bericht umfasst – das wurde bereits
mehrfach gesagt – 6 000 Seiten. Der veröffentlichte Be-
richt umfasst rund 500 Seiten, die teilweise geschwärzt
sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, bereits die
Lektüre der Kurzfassung versetzt mich in tiefe Bestür-
zung aufgrund der Deutlichkeit und des Ausmaßes der
Menschenrechtsverstöße, aber vor allem wegen des be-
rechnenden Vorgehens der amerikanischen Sicherheits-
behörden, indem sie versuchten, ihre Verbrechen zu
rechtfertigen, ja sogar mit geltendem Recht in Einklang zu
bringen. Besonders deutlich wurde dies beim sogenannten
Waterboarding – es wurde bereits angesprochen –, einer
Foltermethode, bei der ein Tuch über Mund und Nase
gelegt wird und das Opfer durch ständige Wasserzufuhr
an den Rand des Ertrinkens gebracht wird, einer Folter-
methode, die in aller Regel keine körperlichen, aber un-
sagbare psychische Schäden verursacht.
Im Juli 2002 wurde diese Foltermethode durch den
obersten Rechtsberater der US-Regierung zunächst als
zulässige Foltermethode vermieden, aber nur wenige
Tage später durch Vorspiegelung falscher Tatsachen
durch die CIA letztendlich doch zugelassen. Allein
schon dieses Beispiel dokumentiert, wie sehr sich der Si-
cherheitsapparat der USA nach dem Anschlag auf das
World Trade Center im Jahr 2001 im Kampf gegen den
Terrorismus sozusagen verselbstständigt hat. Bisher
hatte ich dies in Demokratien und erst recht in den USA
für unmöglich gehalten.
Die Täter, die in das Folterprogramm des amerikani-
schen Geheimdienstes eingebunden waren, müssen ju-
ristisch verfolgt werden. Das gilt natürlich auch für jene,
die die politische Verantwortung für dieses Folterpro-
gramm tragen. Die USA haben sowohl den Internationa-
len Pakt über bürgerliche und politische Rechte als auch
die UN-Antifolterkonvention unterzeichnet und ratifi-
ziert und 1994 in nationales Recht umgesetzt. Damit ist
der rechtliche Rahmen geschaffen für strafrechtliche
Verfolgung von Folter in den USA. Eine Verfolgung der
Straftaten ist sogar zwingend geboten.
Frau Kollegin Glöckner, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ströbele?
Bitte schön.
Bitte sehr.
Danke, Frau Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. –Vielleicht zunächst eine kleine Korrektur. Wir wissennicht erst seit dem Folterbericht von dieser Folter, son-dern spätestens seit sich ein Untersuchungsausschuss desDeutschen Bundestages in den Jahren nach 2004 inten-siv mit den Foltermethoden und auch mit dem Fall el-Masri und dem Fall Kurnaz beschäftigt hat. Wir habenalso schon genügend Zeit gehabt. Aber das ist nichtmeine Frage.Sie fordern völlig zu Recht, dass das juristische Kon-sequenzen haben muss, dass nur, wenn dies tatsächlichjuristisch geahndet wird, wir Hoffnung haben können,dass das so schnell nicht wieder passiert. Der Bundesjus-tizminister hat das ja auch schon gefordert. Leider ist erheute nicht hier.Ich frage Sie und frage den Bundesjustizminister:Was tun Sie dafür, dass, wenn die USA in den USA dasnicht verfolgen, dann deutsche Behörden, insbesondereder Generalbundesanwalt, tätig werden, um diese Straf-verfolgung einzuleiten? Da die USA inzwischen Straf-freiheit beschlossen haben – Herr Obama hat Straffrei-heit für seinen Vorgänger und alle, die damit zu tunhatten, erklärt –, bleibt nichts anderes übrig, als dassdiese Taten außerhalb der USA vor Gericht gebrachtwerden. Der Generalbundesanwalt hat – so die Auskunftauf eine Frage von mir vom 23. Dezember, also kurz vorWeihnachten – geantwortet, er prüfe noch.Ich frage Sie: Warum erteilt der Bundesjustizministerdem Generalbundesanwalt nicht die Anweisung, endlichErmittlungen insbesondere gegen die von der US-Presseso genannte Folterlady bzw. Folterkönigin der USA ein-zuleiten, die im Bericht erwähnt wird und die beispiels-weise im Fall el-Masri Verschleppung und Folter aus-drücklich angeordnet haben soll? Das ist mir ein großesRätsel. Alle Reden, in denen gesagt wird, dass hier eineStrafverfolgung stattfinden muss und dass das nichtstraffrei bleiben darf, sind wohlfeil, solange man selbstnicht alles tut, um die Strafverfolgung sicherzustellen.Meine Frage an Sie lautet: Was tun Sie, was tut Ihr Jus-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7939
Hans-Christian Ströbele
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tizminister dafür, dass endlich die Strafverfolgung be-ginnt?
Danke, Herr Ströbele. – Ich vertrete die Auffassung– das entspricht vielleicht nicht ganz Ihrer Auffassung –,dass es Sache des Generalbundesanwaltes ist, hier tätigzu werden. Ich gebe Ihnen insoweit recht, als dass diesesParlament bestimmte Aufgaben hat – wenn Sie gestat-ten, werde ich in meinen weiteren Ausführungen daraufnoch zu sprechen kommen –, die aber nicht so aussehen,wie Sie sich das vorstellen. Wir können nicht von hieraus ermitteln. Das ist Sache der Jurisdiktion und nichtSache des Parlaments. Ich vertrete hier eine andere Auf-fassung als Sie.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnenund Kollegen, Präsident Obama hat auf einer Pressekon-ferenz im Juni 2014 die durch den Senatsbericht aufge-deckten Folterungen bestätigt. Dieser Bestätigung musseine juristische Aufarbeitung folgen. Ich halte das des-halb für so wichtig, weil hiervon die Glaubwürdigkeitder USA, aber auch der gesamten Weltgemeinschaft ab-hängt. Wir wollen uns auch künftig international glaub-haft für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen.Deshalb dürfen erst recht Menschenrechtsverletzungeninnerhalb unserer eigenen Wertegemeinschaft nicht un-gestraft bleiben. Gerade wenn es um so elementare Men-schenrechte wie Menschenwürde, Leben, körperlicheUnversehrtheit geht, dürfen wir nicht mit zweierlei Maßmessen.Wir als Parlamentarier wie auch die Bundesregierungmüssen den USA deutlich machen, dass wir Menschen-rechtsverletzungen in keinem Fall hinnehmen. Sehr ge-ehrte Frau Künast, verehrte Kolleginnen und Kollegen,das ist unsere Aufgabe. Darauf müssen wir hier hinwir-ken. Insofern bin ich für den Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen ganz dankbar.
Er gibt uns Gelegenheit, dies heute noch einmal klarzum Ausdruck zu bringen.
Doch auch hierbei gilt es, Maß zu halten.
Es hilft meiner Meinung nach in der Sache nicht weiter,wenn wir Forderungen aufstellen, die den Aufklärungs-prozess insgesamt gesehen nicht unterstützen.
Der Aufklärungsbericht des US-Senats hat in deramerikanischen Öffentlichkeit eine große Debatte ausge-löst. Nicht nur bei uns, sondern auch in ganz Amerikawurde der Ruf nach einer Strafverfolgung laut. Ram-stein, der größte amerikanische Luftwaffenstützpunktaußerhalb der USA, liegt zufällig in meinem Wahlkreis,und ich kenne viele Menschen, die dort arbeiten und mirberichtet haben, wie betroffen die ganze Affäre die Ame-rikaner selbst macht. Als ich in der letzten Woche aufder Air Base beim Neujahrsempfang zu Besuch war,habe ich nichts anderes gehört.Amerika ist ein Land, das über alle erforderlichen Ins-trumentarien und Institutionen verfügt,
die sicherstellen, dass die berechtigten Rufe der Ameri-kaner nach Aufklärung realisiert werden können. DiesesAnliegen gilt es zu unterstützen, meine Damen und Her-ren.
Inwiefern eine Überweisung des ungekürzten Berichtsdes US-Senats an den Deutschen Bundestag, wie es imAntrag gefordert wird, bei diesem Anliegen helfen soll,erschließt sich mir nicht.Wir alle wollen die Aufklärung der Foltervorwürfe;das steht außer Frage.
Wir als SPD-Fraktion haben dies wiederholt betont undgefordert. Aber ich betone es noch einmal: Nur eine ju-ristische Aufklärung führt zu diesem Ziel. Sie muss imVordergrund stehen und nicht die politische Debatte;diese muss es zugegebenermaßen auch geben, aber mitBlick in die Zukunft. Dabei müssen wir uns die Fragestellen, wie so etwas künftig vermieden werden kann.
Die vollständige Berichtsveröffentlichung würde in-ternational eine mediale und politische Debatte auslösen.Dies gilt im besonderen Maße für alle Personennamen,die in unterschiedlichsten Zusammenhängen diskutiertund möglicherweise verurteilt würden.
Nach meiner Auffassung käme das einer außergerichtli-chen Vorverurteilung gleich,
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7940 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Angelika Glöckner
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die gerade wir in der westlichen Wertegemeinschaftnicht unterstützen können.Zudem stellt sich die Frage, wie realistisch die Forde-rung nach einer vollständigen Veröffentlichung des Se-natsberichts wirklich ist. Der Weg bis zur heutigen Auf-klärung der Vorwürfe war sehr steinig. Das zeigt sichdaran, dass zwischen dem ersten Vorlegen des Gesamtbe-richts und der ersten Veröffentlichung der Kurzfassungimmerhin zwei Jahre harter innenpolitischer Auseinan-dersetzungen lagen. Am Ende fanden die Konfliktpar-teien in Amerika den Kompromiss, dass eine Zusam-menfassung veröffentlicht werden sollte, bei der mitBlick auf die nationale Sicherheit jene Namen und Stel-len geschwärzt wurden, die auf die Identität der Täterhinweisen könnten. Diese Verhandlungsergebnisse soll-ten wir nicht einfach ignorieren, meine Damen und Her-ren.Die amerikanische Regierung hat bereits mehrfachklargestellt, dass sie aus Gründen der nationalen Sicher-heit der Herausgabe des vollständigen Berichts ebennicht zustimmen wird. Vor diesem Hintergrund wäre imgünstigsten Fall mit einer Übergabe unter Geheimhal-tungspflicht zu rechnen.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Liebich?
Ja.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen,
Frau Kollegin. – Das Bild, das Sie hier von den Verei-
nigten Staaten zeichnen, scheint mir doch etwas verein-
facht zu sein. Es ist nämlich nicht so, dass dort massen-
weise der Ruf nach Strafverfolgung erschallt, und es ist
auch nicht so, dass es einen politischen Kompromiss ge-
geben hat. Vielmehr haben die Demokraten im Kongress
gegen den massiven Widerstand der Republikaner
durchgesetzt, dass es diesen Bericht überhaupt gibt. Bis
auf wenige Ausnahmen kämpfen die Republikaner bis
heute dagegen, dass er überhaupt veröffentlicht wird. Da
reden wir überhaupt nicht von Strafverfolgung.
Nun gab es inzwischen Wahlen. Inzwischen sind die-
jenigen in der Mehrheit und in den entsprechenden Posi-
tionen, die gar nicht wollten, dass dieser Bericht veröf-
fentlicht wird. Ist es deshalb nicht umso wichtiger, dass
wir als deutsches Parlament ein Signal senden, dass wir
mit diesem Weg nicht einverstanden sind?
Ich sagte es ja, Herr Kollege: Ich glaube, das tun wir
heute. Ich habe insofern auch den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen begrüßt.
Ich lehne den Antrag vom Inhalt her nicht ab, nur den
Weg, der mit diesem Antrag verfolgt wird, halte ich
nicht für den richtigen.
Ich komme zur Übergabe des Berichts unter Geheim-
haltungspflicht zurück. Hier stellt sich doch die Frage,
ob dies für eine weitere Fallaufklärung hilfreich wäre
bzw. zur juristischen Aufarbeitung der Vorwürfe beitra-
gen kann. Beides scheint mir eher nicht der Fall zu sein.
Abschließend möchte ich, wie auch Vorredner von
mir, noch einmal auf den Fall Khaled el-Masri eingehen.
Dieser Fall findet besondere Beachtung, weil hier wo-
möglich Verhöre mit deutscher Unterstützung im Raum
stehen. Auch hier gilt: Es bedarf einer strafrechtlichen
Aufarbeitung. Nach meinen Informationen prüft derzeit
der Generalbundesanwalt Range – das wurde auch ge-
sagt – die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und
möchte selbst den ungeschwärzten Komplettbericht an-
fordern.
Dieses Vorgehen im Rahmen eines juristischen Ver-
fahrens erscheint mir als der deutlich bessere Weg und
auch als der richtige Weg, die Menschenrechtsverletzun-
gen im Rahmen des CIA-Programms aufzuklären. Ich
finde, gerade hier sollte dem verfassungsgemäßen Grund-
satz der Gewaltenteilung besondere Beachtung zukom-
men. Denn eines sollte bei der Aufklärung und Verfol-
gung der Foltervorwürfe des US-Sicherheitsdienstes
keinesfalls geschehen: eine Politisierung und Instrumen-
talisierung von Menschrechtsverletzungen.
Alle von mir aufgeführten Gesichtspunkte berück-
sichtigt der Antrag nicht. Ich empfehle daher, den An-
trag abzulehnen.
Danke schön.
Danke, Frau Kollegin. – Einen schönen guten Tag
von mir für Sie und die Gäste auf der Tribüne.
Die nächste Rednerin in der Debatte ist Andrea
Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Bereits am 17. Dezember letztenJahres hat sich der Bundestag in diesem Haus differen-ziert zu den Berichten über Folter durch die CIA geäu-ßert. Dieser Debatte lässt sich heute kaum noch etwashinzufügen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7941
Andrea Lindholz
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Auch mich hat der Bericht schockiert, und man er-schrickt angesichts der perversen Perfektionierung vonFolter. Ausgerechnet in einer der ältesten Demokratiender Welt wurde versucht, brutale Folter mit rechtsstaatli-chen Mitteln zu legitimieren. In einem Rechtsstaat des21. Jahrhunderts darf Folter niemals legitimiert werden.Es waren die Bürgerrechte, die Rechte des Einzelnengegenüber der Gemeinschaft, die dem amerikanischenGesellschaftsmodell seine einzigartige Ausstrahlungverliehen haben. Nicht ohne Grund hat die Verfassungder USA, so wie sie 1787 in Philadelphia niederge-schrieben wurde, heute noch Bestand, und sie dienteauch den Demokratien in Europa als Orientierung. Diegrauenvollen Einzelheiten des Berichtes machen erneutdeutlich, wie tief der 11. September 2001 die amerikani-sche Gesellschaft verstört hat. Als Demokrat möchteman den USA heute zurufen: Besinnt euch auf eureWurzeln, und vergesst auch angesichts des Terrors nichteuer großes demokratisches Erbe.
Die Veröffentlichung des Berichtes zeigt aber auch,dass die rechtsstaatlichen Prinzipien in den USA funk-tionieren. Keine Diktatur, kein autoritäres Regime würdeeine so schonungslose und öffentliche Aufklärung be-treiben, wie es der US-Senat getan hat.
Als Demokrat hat man die Pflicht, Folter kompro-misslos zu verurteilen und Aufklärung zu fordern. Ge-rade wir als Deutsche sollten aber nicht in eine morali-sche Überheblichkeit verfallen. Allein das Gedenken indieser Woche hier im Bundestag an die Befreiung vonAuschwitz vor 70 Jahren verbietet das.Auch das moderne Deutschland ist nicht über jedenZweifel erhaben.
Seit 1989 befragt zum Beispiel der StrafrechtsprofessorStreng seine Erst- und Zweitsemester in Erlangen und inKonstanz zu ihren rechtsstaatlichen Überzeugungen. ImOktober letzten Jahres ergab die Befragung, dass jederzweite seiner Jurastudenten Folter und jeder dritte dieTodesstrafe in Deutschland befürwortet.
– Ja, das ist schlimm. – Die Stichprobe ist zwar nicht re-präsentativ, aber sie ist ein deutliches Warnsignal. Auchin Deutschland müssen wir das absolute Folterverbotkonsequent verteidigen.
Auch ich möchte heute an die Diskussion um denMörder des kleinen Jakob von Metzler erinnern. Natür-lich ist es kaum zu ertragen, dass ein verurteilter Kinds-mörder für die Androhung von Folter entschädigt undein Polizist, der ein Kind retten will, bestraft wird. Trotz-dem ist es für einen Rechtsstaat unerlässlich, dass be-stimmte Werte absolute Geltung besitzen. Zu diesenWerten mit absoluter Geltung muss das Folterverbot ge-hören. Denn die Würde des Menschen darf niemals rela-tiviert werden; sie ist unantastbar.
Es reicht auch nicht aus, Folter nur zu verurteilen. EinRechtsstaat muss Verbrechen aufklären, und er mussauch die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. In-sofern ist das Grundanliegen des Antrages richtig. In derVergangenheit wurde in Deutschland und in Europa be-reits an der Aufklärung gearbeitet. Der Fall el-Masri undder Fall Kurnaz wurden im sogenannten BND-Untersu-chungsausschuss behandelt. Der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte hat bereits in einigen FällenSchadensersatzansprüche durchgesetzt. Angesichts desnun vorliegenden Berichtes vom 9. Dezember 2014 zuden Verhör- und Foltermethoden aus den Jahren 2001 bis2009 durch die CIA müssen auch wir uns fragen: Wiekönnen wir zur weiteren Aufklärung beitragen?Einen nationalen Alleingang – ich komme zur Be-gründung der Ablehnung des Antrages – halte ich füraussichtslos. Anstatt Schaufensteranträge zu stellen,brauchen wir eine europäische Initiative.
Europa sollte gemeinsam auf die Freigabe des vollstän-digen Berichtes drängen.
Das Europaparlament wird voraussichtlich im Februargenau zu dieser Frage eine Entscheidung treffen.
Diese Entscheidung sollten wir zunächst abwarten.
Ebenfalls sollte sich der Rat der EU-Außenminister da-mit befassen.
In Ihrem Antrag fehlt jeder Hinweis auf die EuropäischeUnion; denn nicht nur Deutschland, sondern ganz Eu-ropa muss aufklären, ob und inwiefern Mitgliedstaatenbeteiligt waren. Wir sollten daher unseren Einfluss inEuropa geltend machen.
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7942 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Andrea Lindholz
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Die Strafverfolgung in den USA obliegt zunächst deramerikanischen Justiz.
In Deutschland hat der Generalbundesanwalt bereits an-gekündigt, dass er versuchen wird, über die diplomati-schen Kanäle Einblick in den vollständigen Bericht zuerhalten. Wir sollten ihm und unserer Judikative dahernicht mit einem vorschnellen Antrag vorgreifen.
Ich bin mir auch sicher, dass die Bundesregierung aufdiplomatischem Weg alles versuchen wird, damit dervollständige Bericht in ganz Europa und nicht nur inDeutschland vorgelegt wird. Daher lehnen wir einendeutschen Alleingang ab.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz. – Nächster und
letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Egon Jüttner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Seit Dezember liegt der Untersuchungsberichtdes Geheimdienstausschusses des Senats der VereinigtenStaaten von Amerika über die Behandlung von Terror-verdächtigen vor. Es bedarf dringend einer Aufarbeitungdieses Skandals.
Die Schuldigen müssen strafrechtlich verfolgt und vorGericht gestellt werden,
nicht nur die kleinen Handlanger, auch die Verantwortli-chen in höchsten politischen Positionen.
Liest man den öffentlich zugänglichen Teil des Be-richts, dann sollte man nicht meinen, dass es sich dabeium den Geheimdienst der Vereinigten Staaten handelt.Man mag es kaum glauben, dass solche Exzesse des Ge-heimdienstes von einem Land angewandt wurden, dasauf eine lange demokratische Tradition zurückblickenkann und das den entscheidenden Beitrag geleistet hat,Europa von Tyrannei mit all ihren unmenschlichen Aus-wüchsen im 20. Jahrhundert zu befreien.Als demokratisches Land, dem die Einhaltung deruniversellen Menschenrechte wichtig ist, und als Ver-bündeter der USA muss Deutschland betroffen undschockiert sein über die Verhörmethoden des amerikani-schen Geheimdienstes. Diese sind einer freien Gesell-schaft und eines Landes, das die Werte der Freiheit pro-klamiert, unwürdig. Sie stellen den Anspruch der USA,Vorbild und moralische Instanz zu sein, infrage.
Waterboarding, Kälteschocks, Morddrohungen undScheinexekutionen, um nur einige der brutalen Folter-methoden zu nennen, sind Maßnahmen, die wir eigent-lich nur aus Diktaturen kennen und die wir dort zu Rechtanprangern. Sie als „erweiterte Verhörmethoden“ zu be-zeichnen, wie es der amerikanische Geheimdienst tut, istmehr als zynisch. Sie sind keine Mittel, deren sich eineder ältesten Demokratien der Welt bedienen sollte, umvon Verdächtigen Geständnisse zu erpressen.
Der Rechtsstaatlichkeit ist immanent, dass auch denjeni-gen mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnet wird, die essich zur Aufgabe gemacht haben, den Rechtsstaat zu be-kämpfen.Als CDU/CSU-Fraktion begrüßen wir es, dass die indem Bericht bekannt gewordenen Methoden inzwischennicht mehr angewandt werden. Wir begrüßen ebenfallsdie Erstellung des Berichts, zeigt dies doch, dass das alt-bewährte System von „checks and balances“, also dergegenseitigen Kontrolle von Verfassungsorganen, in denVereinigten Staaten weiterhin funktioniert. Hier wird einfundamentaler Unterschied zu Staaten wie etwa Russ-land, China oder dem Iran deutlich.
Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten ist es dort un-denkbar, dass der Ausschuss eines frei gewählten Parla-ments die Verfehlungen des eigenen Geheimdienstes un-tersucht und sogar veröffentlicht.Wir teilen die im Antrag gestellte Forderung, dass derBericht Deutschland nicht nur in Teilen, sondern voll-ständig und ungeschwärzt zugänglich gemacht werdenmuss.
Dies ist insbesondere hinsichtlich der Taten, die einendirekten Zusammenhang zur Bundesrepublik Deutsch-land aufweisen, für uns von großer Bedeutung. Wir be-grüßen es deshalb, dass der Generalbundesanwalt diekomplette Fassung des Berichts anfordert und auf Basisder veröffentlichten Kurzfassung prüft,
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Dr. Egon Jüttner
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ob er im Zusammenhang mit dem Folterbericht förmli-che Ermittlungen aufnimmt. Wir sollten – das ist unsereAuffassung – dieses Verfahren abwarten und uns als Le-gislative nicht in die Arbeit der Exekutive bzw. Judika-tive einmischen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Dr. Jüttner.Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3558mit dem Titel „Bericht über das Inhaftierungs- und Ver-hörprogramm der CIA vollständig und ungeschwärztübermitteln“. Wer stimmt für den Antrag? – Wer stimmtdagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist abgelehnt. Auch wennSie sich etwas anderes wünschen, der Antrag ist abge-lehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen undDie Linke, abgelehnt haben die CDU/CSU-Fraktion unddie SPD-Fraktion. – Vielen Dank.
Wenn Sie beim Tagesordnungspunkt 19 nicht hiersein wollen, dann bitte ich Sie, zügig die Plätze freizuge-ben. Bei der SPD bleibt alles, wie es ist.
– Gut, dann fangen wir jetzt an.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a auf:Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Änderung des Personalaus-weisgesetzes zur Einführung eines Ersatz-Personalausweises und zur Änderung desPassgesetzesDrucksache 18/3831Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.Ich bitte Sie, Platz zu nehmen und dem ersten Rednerin der Debatte zuzuhören. Das ist unser MinisterDr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Europa und damit auch Deutschland stehen im er-klärten Zielgebiet des internationalen Terrorismus. Dashaben uns die Anschläge von Paris mit schrecklicherKlarheit vor Augen geführt. Die Bundesregierung, un-sere Sicherheitsbehörden, treten dieser Bedrohung seitlängerem entgegen: wachsam, ruhig, entschlossen undmit einem ganzheitlichen Ansatz. Dazu gehört Präven-tion; dazu gehört Deradikalisierung; dazu gehören Maß-nahmen unserer Sicherheitsbehörden, teils verdeckt, teilsoffen – Beobachtung, Ansprache, Durchsuchungen,Festnahmen, Ermittlungsverfahren, Verurteilungen –;dazu gehören auch gut ausgestattete Sicherheitsbehördenin Bund und Ländern; und dazu gehören natürlich auchgesetzgeberische Maßnahmen. Einen wichtigen Bau-stein hierbei stelle ich Ihnen heute in der ersten Lesungdes vorliegenden Gesetzes vor.Wir wollen nicht, dass aus Deutschland der Terroris-mus nach Syrien und in den Irak exportiert wird. Undwir wollen erst recht nicht, dass Menschen, die dort inKämpfe verwickelt waren, unerkannt wieder einreisenund gegebenenfalls hier Anschläge planen oder verüben.Deswegen müssen wir entsprechende Ausreisen verhin-dern. Und deswegen müssen wir Wiedereinreisen ver-hindern oder erkennen. Bisher haben sich – Sie kennendie Zahlen – ungefähr 3 400 Kämpfer aus Europa dazuentschlossen, für den sogenannten Islamischen Staat zukämpfen. Allein aus Deutschland sind es rund 600, viel-leicht etwas mehr, die daran beteiligt sind. Etwa200 Personen sind nach Deutschland zurückgekehrt,35 davon als kampferprobte Fundamentalisten.Nach der bisherigen Rechtslage können wir deut-schen Staatsbürgern den Reisepass entziehen und ihnendie Ausreise untersagen. Das ist unstreitig, das wird häu-fig gemacht. Niemand erhebt dagegen bisher verfas-sungsrechtliche Bedenken. Die Wirksamkeit dieserMaßnahme setzt aber voraus, dass die Personen einenReisepass benötigen oder nutzen, weil das Ziel- oderTransitland die Vorlage eines solchen Reisepasses ver-langt. Das ist aber heutzutage oft gar nicht mehr der Fall.Häufig reicht der Personalausweis zur Aus- und Einreiseaus. Deswegen fahren oder fliegen viele, obwohl ihnendie Ausreise untersagt ist, mit ihrem Personalausweis zueiner Schengen-Außengrenze und gelangen dann inKampfgebiete und/oder kommen mit dem Personalaus-weis wieder zurück.Die verhängte Ausreiseuntersagung, die durch denEntzug des Passes sozusagen teilweise dokumentiertwird, sieht man dem Personalausweis nicht an. Auch derGrenzbeamte eines anderen Staates kann die Sperre an-hand des Ausweises nicht erkennen. Trotzdem müssenwir sicherstellen, dass kein Zweifel darüber besteht, ob
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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ein Ausweisinhaber ausreisen darf oder nicht. Deswegenbeinhaltet der Gesetzentwurf vor allem zwei Maßnah-men: Erstens soll nicht mehr nur der Reisepass, sondernauch der Personalausweis entzogen werden können.Zweitens soll in diesen Fällen ein Ersatz-Personalaus-weis ausgestellt werden, mit dem man sich in Deutsch-land ausweisen und identifizieren kann.Die Entziehung dieses Ausweises soll möglich sein,wenn Tatsachen vorliegen, die den Verdacht begründen,dass eine Person einer terroristischen Vereinigung ange-hört oder eine solche unterstützt, Gewalt als Mittel zurDurchsetzung ihrer politischen oder religiösen Überzeu-gung anwendet, unterstützt oder hervorruft oder einestaatsgefährdende Gewalttat vorbereitet. Die Maß-nahme unterliegt natürlich der sofortigen Vollziehung,um effektiv zu sein.Der Ersatz-Personalausweis sieht ungefähr so aus wiedas Ersatzdokument, das jemand erhält, der seinen Per-sonalausweis oder Reisepass im Ausland, in den Ferienzum Beispiel, verloren hat. Er entspricht damit optischim Wesentlichen einem solchen behelfsmäßigen Reise-ausweis, den man in diesen Fällen von deutschen Konsu-laten erhält. Viele werden ihn schon einmal gesehen ha-ben. Er ist allerdings nicht ganz identisch, weil aufdiesem Ausweis natürlich auch vermerkt ist, dass mandamit den Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht ver-lassen darf, und zwar in den neun wesentlichen Sprachendes Schengen-Raums.Was passiert, wenn ein Ausweisinhaber entgegen die-ser Maßnahme die Bundesrepublik Deutschland trotz-dem verlässt? Das war ja eines der Gegenargumente voneinem Teil der Grünen, während andere es gefordert ha-ben. Wenn das bekannt wird, weil sich zum Beispiel der-jenige im Internet damit brüstet, im Ausland aktiv zusein, dann werden – so sieht das der Gesetzentwurf vor –die Reisedokumente, auch dieser Personalausweis, kraftGesetzes ungültig. Dies ermöglicht den Behörden nuneine sofortige Ausschreibung des Ausweises im Schen-gener Informationssystem und in der „Stolen and LostTravel Documents“-Datenbank von Interpol. Damit er-höhen wir deutlich die Wahrscheinlichkeit des Aufgrei-fens des Reisenden bereits in Transitländern oder bei derRückkehr.Das Gesetz, meine Damen und Herren, ist eine vonmehreren Maßnahmen, die wir in diesem Zusammen-hang national ergreifen, noch ergreifen werden und fürdie wir uns international einsetzen. Ich nenne beispiel-haft: die Strafbarkeit des Reisens und der Versuch desReisens in terroristischer Absicht – hierzu wird meinKollege Maas in der nächsten Sitzungswoche einen ent-sprechenden Gesetzentwurf im Kabinett vorstellen –, dieÄnderung des Schengener Informationssystems, damitjeder Grenzbeamte an der Schengen-Außengrenze er-kennt, ob er einen terroristischen Gefährder vor sich hatoder nicht, den von der Bundesregierung angestrebtenKompromiss über das europäische Fluggastdatenabkom-men, einen verbesserten Informationsaustausch mit un-seren Partnern, insbesondere auch mit der Türkei. Danngibt es noch einige Gesetzesvorhaben, über die wir dis-kutieren müssen und über die noch nicht vollständig Ei-nigkeit besteht.Auch dieses Gesetz, das ich hier vorstelle, wird dieAusreise oder die unerkannte Wiedereinreise nicht voll-ständig verhindern können. Wir haben aber die Pflicht,alles zu tun, was in unseren Kräften steht, um die Gefahrvon Terroranschlägen und die Beteiligung Deutschlandsdaran im In- und Ausland so klein wie nur irgend mög-lich zu halten.
Die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger istund sollte uns allen ein kostbares Gut sein.Vielen Dank.
Vielen Dank, Dr. de Maizière. – Nächster Redner in
der Debatte: Frank Tempel für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter HerrMinister! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Gefahrvon Terroranschlägen kann gerade mit Blick auf viele in-ternationale Konflikte in keinem Land der Welt vollstän-dig ausgeschlossen werden. Auch hier bei uns bestehtdiese latente Gefahr. Natürlich ist es Aufgabe der Bun-desregierung, diese Gefahr zumindest so gering wiemöglich zu halten. Damit dies gelingt, müssen wir unszuallererst fragen, was Terroristen mit ihren Anschlägenhier erreichen wollen. Sie wollen hier bei uns kein Terri-torium erobern, keine Rohstoffe erbeuten und keine un-liebsame Regierung stürzen. Sie wollen uns in unsererfreiheitlichen demokratischen Grundordnung angreifen.Sie wollen Angst schüren, um uns unsere Freiheit Stückfür Stück zu nehmen. Wenn es dann unsere Antwort ist,aus Angst vor Terroranschlägen Bürgerrechte zu be-schränken, Grundrechte einzuschränken, entspricht un-ser Handeln genau dem, was Terroristen mit ihren An-schlägen erreichen wollen.
Wenn wir mit Gesetzen reagieren, die unsere Freiheiteinschränken, senden wir das Signal, dass Terror erfolg-reich ist und dass wir in unserer Freiheit durch Terroran-schläge angreifbar sind. Unsere Antwort muss stattdes-sen sein: mehr Demokratie und mehr Freiheit. Wir lassenuns nicht einschüchtern.
Natürlich brauchen wir trotzdem Gesetze, anhand de-rer Sicherheitsbehörden effektiv ihren Beitrag zur Si-cherheit in unserem Land leisten können. Das wird auchdie Linke nie in Abrede stellen. Aber die Messlatte musseben sehr hoch sein.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7945
Frank Tempel
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Wenn wir Bürgerrechte und Grundrechte einschrän-ken, dann muss ein deutlich nachvollziehbarer Sicher-heitsgewinn für die Allgemeinheit zu erzielen sein. Un-ter diesem Aspekt haben wir Ihren Vorschlag geprüft,möglichen Gefährdern den Personalausweis zu entzie-hen und ein Ersatzdokument auszustellen, das sie als Ge-fährder identifiziert, aber natürlich auch stigmatisiert.Denn machen wir uns nichts vor: Ein Personalaus-weis – und das ist der Unterschied zum Reisepass, HerrMinister – dient auf vielfältige Art und Weise, und sei esnur, um sich in einem Hotel einzuchecken, ein Konto zueröffnen oder ihn bei der EC-Kartenzahlung vorzulegenusw. Der Rechtseingriff wäre also schwerwiegend;schwerwiegender als der Entzug des Reisepasses.Hinzu kommt, dass der vorliegende Gesetzentwurfnicht auf erwiesene Straftäter abzielt. Vielmehr soll be-reits der bloße Verdacht auf zukünftige gewaltbereiteHandlungen ausreichen, um Menschen ihren Ausweis zuentziehen. Aber wer definiert diesen Verdacht? DieHemmschwelle zum Grundrechtseingriff wird in derPraxis also sehr gering sein.Nur zur Erinnerung: Der Reisepass kann bereits ent-zogen werden. Deswegen müssen wir wissen: Ist we-nigstens die Größenordnung so, dass eine rechtliche Ver-schärfung notwendig ist? Wir haben dazu dieBundesregierung für die Jahre 2012, 2013 und 2014 be-fragt. Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierungauf Drucksache 18/3673 – hören Sie zu –:In mindestens 20 Fällen kann nachvollzogen wer-den, dass eine Ausreise trotz bestehender Verfü-gung, Deutschland nicht zu verlassen, und entspre-chenden Entzugs des Reisepasses erfolgte unddiesen Personen ein Personalausweis zur Verfügungstand.20 Personen!Jetzt frage ich Sie: Verhindern Sie deren Ausreisedurch den Entzug des Personalausweises? Funktioniertdas? Sie müssen schon verzeihen: Ich war nun einmallange Polizeibeamter, und ich blicke ganz besonders da-rauf, ob eine geplante Maßnahme überhaupt funktionie-ren kann.Wie stellen Sie sich den Entzug des Ausweises vor?Was ist, wenn der Ausweis einfach als gestohlen oderverloren gemeldet wird? Ein Personalausweis behältzehn Jahre seine Gültigkeit. Hausdurchsuchungen wer-den in diesem Fall wahrscheinlich auch nicht sehr er-folgreich sein.
– Herr Binninger, natürlich wird der Verlust im Registervermerkt. Dort steht dann, dass der Ausweis ungültig ist.
Das wird aber bei Grenzkontrollen nur festgestellt, wennder Ausweis mit dem Register, also mit der Datenbank,abgeglichen wird. In diesem Register können aber auchstatt der Ungültigkeit Ausreisebeschränkungen eingetra-gen werden. Das hätte den gleichen Effekt, auch ohneEntzug.
Natürlich kann man auch das regeln, Herr Binninger.
– Ja, aber das wäre eine mögliche rechtliche Änderung,ohne den Ausweis zu entziehen, Herr Binninger. Wir re-den doch immer davon, das mildeste Mittel anzuwendenund nicht das schärfste Mittel.
In diesem Fall würde der Ausweis nicht entzogen wer-den müssen, und wir hätten trotzdem entsprechendeMöglichkeiten.Wir wissen doch – gerade wenn wir auf die Türkeischauen –, dass bei Grenzkontrollen nicht immer ein Da-tenabgleich erfolgen kann. Das heißt, wir müssen auchmit unseren Partnern reden, um uns darüber zu informie-ren, wie dort Grenzkontrollen ablaufen. Ganz nebenbei:In einer Welt, in der eine illegale Ausreise oder eine ille-gale Einreise möglich ist, wird der Entzug des Auswei-ses keinerlei Beschränkungen darstellen.Meine Damen und Herren, wenn die Regelungen, dieim vorliegenden Gesetzentwurf formuliert sind, garnicht funktionieren: Was wollen wir dann mit diesemGesetzentwurf? Auch wenn die Terrorgefahr wieder ta-gesaktuell ist: Gesetzentwürfe, die Terrorbekämpfungund damit mehr Sicherheit vortäuschen, am Ende aberlediglich einen Aktivitätsnachweis der Bundesregierungdarstellen, brauchen wir nicht.
Forcieren Sie deswegen weiter die Prävention, investie-ren Sie noch mehr in Aufklärung und Dialog, und be-kämpfen Sie die Ursachen des Terrorismus, statt ihmnachzugeben und so unsere Freiheit und Demokratieweiter zu beschneiden.
Vielen Dank, Herr Kollege Tempel. – Nächste Redne-
rin in der Debatte: Gabriele Fograscher für die SPD.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Der islamistisch motivierte Terrorismus ist eineBedrohung für Deutschland und die westliche Staaten-gemeinschaft und eine Herausforderung für die Sicher-heitsbehörden und die Politik. Nicht erst seit dem grau-samen und abscheulichen Terroranschlag auf die
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7946 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Gabriele Fograscher
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französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo und aufeinen jüdischen Supermarkt zu Beginn dieses Jahreswissen wir, dass wir unsere freiheitlich-demokratischeGrundordnung gegen Terroristen verteidigen müssen.Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismusist nicht auf die islamischen Staaten beschränkt. Sie istschon lange im Westen, in Europa, in Deutschland ange-kommen. Auch wenn es zum Glück in Deutschland nochkeine Anschläge gab, so sind wir doch im Visier des in-ternationalen islamistischen Terrorismus.Aus Europa sind inzwischen 3 400 Menschen – derMinister hat die Zahlen genannt – Richtung Syrien undIrak gegangen, um sich dem „Islamischen Staat“ anzu-schließen. Davon kommen etwa 600 Islamisten ausDeutschland. Mehr als die Hälfte davon besitzen diedeutsche Staatsangehörigkeit. Von diesen rund 600 so-genannten Foreign Fighters aus Deutschland haben sich10 als Selbstmordattentäter in Syrien in die Luft ge-sprengt, 150 bis 180 sind radikalisiert zurückgekehrt,und 30 von ihnen gelten als kampferprobt und gewaltbe-reit.Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wird einzusätzliches Instrument geschaffen, um den Export vonTerror möglichst zu verhindern; wir haben über dieseÄnderung schon vor den Anschlägen in Paris diskutiert.Die Reisetätigkeit von Gefährdern soll eingeschränktwerden. Herr Tempel, wenn es mit diesem Gesetz ge-lingt, auch nur einen Anschlag zu verhindern und Men-schenleben zu retten, dann ist das Gesetz gerechtfertigt.
Schon heute ist es möglich – das wird auch prakti-ziert –, zum Beispiel gewaltbereiten Islamisten, diedeutsche Staatsangehörige sind, den deutschen Reise-pass zu entziehen. Dies ist gemäß § 8 Passgesetz mög-lich, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme begrün-den, dass der Passinhaber unter anderem die innere oderäußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange derBundesrepublik Deutschland gefährdet.Der Personalausweis hingegen kann nach geltenderRechtsgrundlage nicht entzogen werden. Zwar ist beiEinzug des Reisepasses der Geltungsbereich des Perso-nalausweises auf die Bundesrepublik Deutschland be-schränkt, dies ist aber nicht auf dem Personalausweisvermerkt und somit bei Kontrollen nicht sofort zu erken-nen. Islamisten können mit dem Personalausweis in dieTürkei und von dort aus weiter über die grüne Grenzenach Syrien oder in den Irak reisen. Ohne Reisepass, nurmit dem Personalausweis ist es ihnen somit möglich, dasLand ohne großes Aufheben zu verlassen. 20 Islamistensoll das schon gelungen sein.Deshalb wollen wir die Möglichkeit des Entzugs desPersonalausweises in § 6 a Personalausweisgesetz schaf-fen, eine Maßnahme, die an bestimmte Voraussetzungengeknüpft ist: Tatsachen müssen die Annahme begrün-den, dass der Ausweisinhaber einer inländischen terro-ristischen Vereinigung oder einer ausländischen kri-minellen oder terroristischen Vereinigung angehört oderdiese unterstützt. Der Entzug ist möglich, wenn die Per-son rechtswidrig Gewalt gegen Leib oder Leben alsMittel zur Durchsetzung international ausgerichteterpolitischer oder religiöser Belange anwendet, solche Ge-waltanwendung unterstützt oder vorsätzlich hervorruft.Diese beiden Voraussetzungen treffen auf die sogenann-ten Foreign Fighters zu. Die Maßnahme ist deshalb ver-hältnismäßig und geeignet, deren Reisetätigkeit zu un-terbinden.Nach dem Entzug des normalen Personalausweiseswird dem Betroffenen auf dessen Kosten ein Ersatz-Personalausweis ausgestellt. Die Gültigkeitsdauer desErsatz-Personalausweises ist auf maximal drei Jahrebegrenzt. Diese Lösung halten wir für besser als die, dennormalen Personalausweis mit einem roten Balken– „Gilt nur für die Bundesrepublik Deutschland“ – odermit einem Aufkleber, der leicht zu entfernen wäre, zuversehen. Der Ersatz-Personalausweis entspricht demErsatzdokument, das man erhält, wenn einem zum Bei-spiel der Personalausweis im Ausland verloren geht. Da-mit wird die Stigmatisierung der Betroffenen möglichstgering gehalten. Auf dem Ersatz-Personalausweis ist inmehreren Sprachen vermerkt, dass dieses Dokumentnicht zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschlandberechtigt. Dies erleichtert die Kontrolle durch ausländi-sche Grenzbeamte.Der Entzug des Personalausweises ist nicht die ein-zige Maßnahme, um Reisebewegungen von Terrorver-dächtigen zu erschweren oder besser gar zu verhindern.Der Bundesjustizminister wird zeitnah einen Gesetzent-wurf vorlegen, der Reisen in Länder, in denen es Terror-camps gibt, unter Strafe stellt.Eine weitere Maßnahme ist die Einführung des Tat-bestandsmerkmals „Terrorism-related Activity“, alsoterrorbezogene Aktivitäten, im Schengener Informa-tionssystem. Darüber sind sich die europäischen Innen-minister einig. Diese Neuregelung wird dazu führen,dass bei Kontrollen des Ausweises und des Abgleichsmit dem System festgestellt werden kann, ob es sich umeinen Dschihadisten handelt. Derzeit wird geprüft, wiediese Änderung im SIS möglichst schnell umgesetztwerden kann.Darüber hinaus brauchen wir einen intensiveren Aus-tausch mit den Sicherheitsbehörden anderer Länder überGefährder bzw. gefährliche Personen.Nicht zuletzt müssen wir die Prävention verstärkenund alles tun, um zu verhindern, dass sich vor allemjunge Männer radikalisieren, einem fanatischen Islamis-mus hinterherlaufen, Religion missbrauchen, um in denKrieg zu ziehen und Menschen zu ermorden. Rückkeh-rer müssen wir nicht nur im Auge behalten, sondern esmuss auch Angebote geben, sie von ihrem Fanatismusabzubringen.Die Prüfung und Überprüfung von Gesetzen und auchneue gesetzgeberische Initiativen sind wichtige Maßnah-men im Kampf gegen den Terror. Daneben aber gilt es,die gesellschaftliche Debatte über Respekt vor Religio-nen und anderen Kulturen zu führen und die Kräfte zustärken, die sich für den Zusammenhalt in der Gesell-schaft und ein friedliches Zusammenleben einsetzen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7947
Gabriele Fograscher
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Vielen Dank.
Vielen Dank, Gabi Fograscher. – Nächste Rednerin in
der Debatte: Irene Mihalic für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Natürlich: Nicht erst die schrecklichenAnschläge von Paris machen Maßnahmen gegen denTerrorismus notwendig; das ist völlig richtig. Das isteine Debatte, die wir schon viel länger und auch völligzu Recht führen. Dabei ist aber eine Sache ganz beson-ders wichtig: eben nicht in Aktionismus zu verfallen,sondern die Terrorgefahr sauber zu analysieren, Kräfteund Kompetenzen in der Sache zu bündeln und sorgfäl-tig Maßnahmen zu entwickeln, die wirklich greifen, HerrMinister.
Leider geht Ihr Gesetzentwurf zum Terroristen-Perso-nalausweis völlig am Thema vorbei. Sie betreiben hiereine unausgegorene Symbolpolitik, mit der Sie hektischzu überdecken versuchen, dass Sie weder gründlich ana-lysieren noch die Maßnahmen irgendwie koordinierenund dass Sie alles in allem keine richtige Antiterrorstra-tegie haben.
Der Ersatz-Personalausweis für Terroristen ist nichtnur sicherheitspolitisch vollkommen nutzlos und rechts-staatlich fragwürdig, sondern das Ganze ist auch nochgefährlich. Ich will Ihnen ein praktisches Beispiel nen-nen: Angenommen, Sie haben einen Gefährder ermittelt,also einen mutmaßlichen Terroristen; es soll ja eine statt-liche dreistellige Anzahl von Personen geben, die dieAbsicht haben, nach Syrien auszureisen. Jetzt fordernSie diese Person auf Grundlage des neuen Gesetzes auf,den alten Personalausweis abzugeben und gegen einenErsatz-Personalausweis einzutauschen.
Was glauben Sie denn, was dann passiert? GlaubenSie denn tatsächlich, er geht dann brav zum Bürgeramt,um dort seinen Personalausweis abzugeben? Wohl ehernicht. Glauben Sie, dass der mutmaßliche Terrorist völ-lig geknickt seine Pläne einfach so aufgeben wird? Wohlkaum. Er wird doch vielmehr sagen: Jetzt oder nie. Erwird versuchen, alles, was er vorhatte, also eben auchdie Ausreise, sofort in die Tat umzusetzen, und zwar vordem Zugriff der Sicherheitsbehörden. Das kann nicht inunserem Interesse sein.
Es gibt noch ein weiteres praktisches Problem. Neh-men wir einmal an, der mutmaßliche Terrorist gehttatsächlich zum Amt, um sich diesen Ersatz-Personal-ausweis abzuholen. Ohne große Fantasie lässt sich vo-raussehen – das hat Kollege Tempel schon angespro-chen –, dass der richtige Personalausweis dann plötzlichverloren gegangen ist, gestohlen gemeldet wird, auf je-den Fall irgendwie abhandengekommen ist. Jedenfallskönnen Sie ganz sicher sein, dass der verschwundeneAusweis wieder auftaucht und die Person ihn munterweiter nutzen und auch bei der Ausreise an der Grenzevorlegen wird. Es wird wohl kaum einen mutmaßlichenDschihadisten geben, der an den EU-Außengrenzen die-sen Terror-Ersatzausweis vorlegen wird.
Das glauben Sie doch nicht ernsthaft. Dieser Gesetzent-wurf ist völlig realitätsfern.
Sie bewirken mit diesem Ersatz-Personalausweis imWesentlichen zwei Dinge:Erstens. Sie desensibilisieren die Grenzbeamten.Denn wieso sollte ein Kontrolleur einen richtigen Perso-nalausweis in den Datenbanken, zum Beispiel in der Da-tenbank verlorener oder gestohlener Reisedokumente,überprüfen, wenn er erwartet, dass er einen Terroristengleich am Ersatz-Personalausweis erkennt?
Zweitens. Sie fördern mit diesem Gesetz die Radikali-sierung solcher Leute. Denn am Ende sind die Gefährdervielleicht sogar noch stolz darauf, mit einem amtlichenDokument endlich als IS-treue Dschihadisten eingestuftzu werden. Mit der Übergabe des Ersatz-Personalaus-weises machen Sie aus einem Gefährder einen staatlichanerkannten Terroristen. Das muss so manchem ja wieeine Auszeichnung vorkommen. Aber das ist das Gegen-teil von Gefahrenabwehr.
Statt diesem Irrweg weiter zu folgen, sollten Sie IhreHausaufgaben machen. Sorgen Sie endlich dafür, dassdie Sicherheitsbehörden vor allen Dingen personell ver-nünftig ausgestattet sind.
Gewährleisten Sie möglichst dichte Kontrollen bei derAusreise aus dem Schengen-Gebiet. Legen Sie endlichein mit den Ländern wirklich abgestimmtes Präventions-und Deradikalisierungskonzept vor. Die Länder habendazu ja schon Initiativen angekündigt. Deswegen: Ver-harren Sie da bitte nicht in der Zuschauerrolle, sonderngestalten und koordinieren Sie diesen Prozess aktiv mit.
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7948 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Irene Mihalic
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Und: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf bitte schnellst-möglich zurück, damit er keinen Schaden anrichtet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die innere Sicher-heit ist ein hohes Gut. Sie darf nicht durch aktionistischeSymbolpolitik, die auch noch rechtsstaatlich fragwürdigist, in Gefahr gebracht werden.
Eine Sache möchte ich gerne noch ansprechen, weilich sie zugegebenermaßen recht amüsant fand. Mankonnte neulich auf Twitter sinngemäß die Frage lesen:Wir haben biometrische Ausweise wegen der Terrorge-fahr, und mutmaßlichen Terroristen nehmen wir sie jetztweg?
Ich finde, sie bringt die Widersprüchlichkeit Ihrer Anti-terrorpolitik richtig schön auf den Punkt. Vielleicht den-ken Sie auch darüber noch einmal nach.Ganz herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der
Debatte – jetzt sind Sie dran –: Clemens Binninger für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Man überlegt sich ja immer, wie man in eine Redeeinsteigt. Ihr Beitrag, Frau Kollegin Mihalic, veranlasstmich dazu, mein Konzept zu ändern und gleich auf IhreRede einzugehen.
Man kann ja in der Sache unterschiedlicher Meinungsein; das wird nie ganz ausbleiben. Dass Sie aber in die-ser Art und Weise, so ironisierend, über eine Bedro-hungslage, die uns allen Sorgen macht, und über diesesGesetzesvorhaben reden,
die Gefahrenlage mit keinem Wort beschreiben und sotun, als ob wir hier einfach irgendetwas machen, gehtvöllig an der Realität und an der Bedrohungslage vorbei.Völlig!
Dann haben Sie auch noch munter alles Möglichedurcheinandergeworfen. Sie haben zum Beispiel dasThema Biometrie angesprochen. Der biometrische Rei-sepass ist unter Rot-Grün auf den Weg gebracht worden,und zwar von Otto Schily mit dankbarer Unterstützungder Grünen;
damals haben Sie noch eine vernünftige Innenpolitik ge-macht. Das Thema Biometrie haben Sie mit dem Ersatz-ausweis vermischt. Das passt nicht. Es geht hierbei näm-lich auch darum – vielleicht finden Sie ja, da sollte manauch ironisieren –, eine Resolution des Sicherheitsratesder Vereinten Nationen umzusetzen, in der alle Staatenaufgefordert werden, alles Mögliche zu tun, um Reisebe-wegungen von Terrorverdächtigen zu erschweren bzw.zu unterbinden. Genau das tun wir mit diesem Gesetz.
Da Sie immer wieder auf unseren gemeinsamen Be-rufsstand abheben, sage ich Ihnen: Sie alle wissen – dasollten wir redlich miteinander umgehen –, dass es keinGesetz gibt, mit dem man alle Ziele erreichen kann;
das behauptet auch niemand. Da wir aber wissen, dass esin Europa 3 500 Terrorverdächtige gibt, die in dieKampfgebiete des IS reisen und dort mutmaßlich mit-kämpfen, dass es alleine in Deutschland
– wenn wir nur 20 entdeckt haben, macht es das nichtbesser – 600 Gefährder gibt, die dorthin reisen – Ten-denz zunehmend –, dass für diese Reise kein Reisepassmehr notwendig ist, weil diese Krisenregion nicht amHindukusch, sondern direkt am Mittelmeer liegt und fürdie Reise dorthin der Personalausweis ausreicht, mussman doch darüber nachdenken, wie man diese Reisebe-wegungen erschweren oder – noch besser – verhindernkann, indem man im Hinblick auf den Personalausweisetwas verändert. Genau das tun wir. Da gibt es doch kei-nen Grund, zu ironisieren. Ich sehe einen solchen Grundnirgends.
Jetzt zu der Frage: Was tun wir? Kollege Tempel, ichhabe vorhin einen Zwischenruf gemacht, weil Sie sugge-riert haben, man könne die Ausreise heute schon unter-sagen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7949
Clemens Binninger
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– ich habe heute keine Zeit; sonst immer gerne –
und man müsse, da das ja gespeichert sei, den Personal-ausweis nicht entziehen.
– So klang es aber. – Das stellt uns vor ein Problem:Wenn wir auf EU-Ebene etwas dagegen tun wollten,würde das zweieinhalb Jahre dauern. Deshalb ist derrichtige Weg: Es muss aus dem Dokument ersichtlichsein, dass eine Person nicht reisen darf. Dafür ist dieAusstellung eines Ersatzausweises bei Entziehung desalten Personalausweises genau das richtige Instrument.Das wird funktionieren; das ist der richtige Ansatz.
Vor allen Dingen aber, Frau Kollegin, ist dies ein An-satz, der sofort umgesetzt werden kann. Wenn Sie denSchengen-Kodex ändern wollten, müssen Sie dafür min-destens zweieinhalb Jahre veranschlagen. Das könnenwir uns angesichts der Bedrohungslage nicht erlauben;das wäre unverantwortlich.Richtig ist: Das ist nur ein Baustein, so wie die UN-Resolution auch verlangt, Fluggastdaten auszutauschen.Das wollen Sie ja auch nicht; aber die UN-Resolutionverlangt es. Es ist eine Reihe von Bausteinen notwendig,um dieser Terrorgefahr Herr zu werden. Heute debattie-ren wir über einen Baustein, der wichtig ist und derfunktionieren wird.
Natürlich reicht das allein nicht aus, natürlich gehörenandere Dinge dazu: Terrorabwehrzentrum, Antiterrorda-tei und andere Maßnahmen, über die wir noch zu spre-chen haben. Aber es muss uns doch eines leiten, Kolle-gen: Wir müssen als Gesetzgeber die Voraussetzungendafür schaffen, dass die Sicherheitsbehörden in der Lagesind, Terrorverdächtige ins Visier zu nehmen – nicht Un-beteiligte, sondern Terrorverdächtige. Von denen müssenwir dann so viel wissen wie möglich – mit wem sie tele-fonieren, wohin das Geld fließt –, und wir müssen ihnendas Reisen erschweren. An diesem Ansatz kann man ei-gentlich nicht herumkritteln. Deshalb habe ich IhrenBeitrag wirklich hinten und vorne nicht verstanden.
– Für dich gilt das Gleiche: Ich habe heute keine Zeit.Der vorliegende Gesetzentwurf ist, wie gesagt, einwichtiger Schritt auf dem Weg zur Bekämpfung des Ter-rorismus, andere werden folgen. Die Ausstattung der Si-cherheitsbehörden gehört natürlich immer mit dazu, Prä-vention gehört ebenfalls dazu. Es geht um ein Paket anMaßnahmen. Ich bin dankbar, dass die Bundesregierunghier einen guten und wichtigen Schritt gemacht hat.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Binninger. – Er hat wirklich keine
Zeit – selbstverständlich sagt er die Wahrheit –; er hat
schon mit Herrn Mayer getauscht. – Kommen Sie gut
wohin auch immer!
Uli Grötsch für die SPD ist der nächste Redner in der
Debatte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sicherheitspolitik darf nicht reaktiv sein, Sicherheits-politik muss zuallererst präventiv sein. Neue Gesetze zurTerrorabwehr dürfen nicht erst dann beschlossen wer-den, wenn es zu einem Anschlag gekommen ist. UnserZiel muss es sein, dort Lücken zu schließen, wo die Si-cherheit und damit die Freiheit der Menschen inDeutschland gefährdet ist.Der heute vorliegende Gesetzentwurf regelt die Be-dingungen eines Entzuges des Personalausweises beisolchen Bundesbürgern – und nur bei solchen Bundes-bürgern –, bei denen der dringende Tatverdacht besteht,dass sie sich im Ausland einer terroristischen Vereini-gung anschließen oder an solchen Handlungen teilneh-men werden.Der vorliegende Gesetzentwurf bildet nur eine vonmehreren Maßnahmen in der Sicherheitspolitik, die dieBundesregierung auf den Weg gebracht hat und noch aufden Weg bringen wird. Das ist kein politischer Aktionis-mus und auch keine unmittelbare Reaktion auf dieAnschläge von Paris. Es ist auch keine Symbolpolitik,sondern aktive Sicherheitspolitik, was wir mit dem vor-liegenden Gesetzentwurf betreiben.
Wie wir alle wissen, war dieser Gesetzentwurf schonlange vor den Anschlägen von Paris auf dem Weg. Wirsind uns der Bedrohung durch den internationalen Terrornicht erst seit diesen Anschlägen bewusst, liebe Kolle-ginnen und Kollegen. Wir alle tragen Verantwortung fürdie Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutsch-land. Wir alle müssen wachsam sein und sinnvolle Ge-setzesänderungen dort vornehmen, wo es notwendig ist.
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7950 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Uli Grötsch
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Es kann ja nicht sein, dass wir– in Deutschland –Terrorismus exportieren, und es kann auch nichtsein, dass wir potenziellen Terroristen ermöglichen,in einem Ausbildungslager oder sogar in Kriegsge-bieten ihr Handwerk zu lernen.Der mögliche Entzug des Personalausweises von ausrei-sewilligen Dschihadisten schließe hier eine „Schwach-stelle“. – Das ist die Aussage des BKA-PräsidentenHolger Münch. Das sehe ich ganz genauso wie der Präsi-dent des Bundeskriminalamtes.
Bislang gibt es in unseren Gesetzen nur die Möglich-keit, den Reisepass zu entziehen. Aber auch mit demPersonalausweis reisen nachweislich Dschihadisten überdie Türkei nach Syrien aus. Liebe Kolleginnen und Kol-legen, wenn Sie tatsächlich nicht wissen sollten, dassverlorene oder als gestohlen gemeldete Personalaus-weise, die Originalpersonalausweise also, im Sachfahn-dungssystem ausgeschrieben werden
und im Falle einer versuchten Grenzüberschreitung mitdiesen Ausweisen natürlich dann festgestellt werden,dann erkläre ich es Ihnen nach diesem Tagesordnungs-punkt von Herzen und aus Interesse an der Sache gern.
Diese Ausreisen sollen künftig nicht mehr möglichsein. Minister de Maizière hat es eben gesagt: Diese Lü-cke schließen wir.Natürlich müssen wir bei einem solchen Gesetz sorg-sam abwägen. Es handelt sich um einen Eingriff in diePersönlichkeitsrechte der Betroffenen; das ist unstrittig.Aber angesichts der uns allen bekannten Gefahrenlagehalte ich diesen Grundrechtseingriff auch für gerechtfer-tigt.Im Vergleich zu dem im letzten Jahr diskutierten Vor-schlag, nämlich den Personalausweis zu markieren, stelltein Ersatz-Personalausweis einen weitaus geringerenGrundrechtseingriff und erst recht keine Stigmatisierungder Inhaber dar. Stellen Sie sich vor, dass auf Ihrem Per-sonalausweis ein dicker roter Balken quer über dasganze Dokument verläuft. Das wäre doch viel auffälli-ger, und Sie würden in Ihrem täglichen Leben viel stär-ker eingeschränkt sein als mit einem Dokument, auf demder Ausreisesperrvermerk nicht direkt neben den perso-nenbezogenen Daten angebracht ist, liebe Kolleginnenund Kollegen.
Und natürlich betrifft der mögliche Personalausweis-entzug nur eine geringe Anzahl von Personen, und zwarsolche, die im dringenden Verdacht stehen, dass sie einerterroristischen Vereinigung angehören. Das sind ja keineTouristen, die ihren Urlaub in Syrien verbringen wollen,liebe Kolleginnen und Kollegen.Eines sage ich ganz deutlich: Bei dieser Klientel, beidenen, die den Krieg von Deutschland aus in die Welttragen wollen, bei denen, die wieder nach Deutschlandzurückkommen wollen und uns womöglich Gewalt undTerror mitbringen, zählt jeder Einzelne.
Zum Schluss meiner Rede sage ich noch etwas zumThema Prävention; das wurde hier schon öfter angespro-chen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion halten eine prä-ventive Sicherheitspolitik natürlich nach wie vor für ef-fektiver. Deshalb ist das von BundesfamilienministerinManuela Schwesig gerade auf den Weg gebrachte Pro-gramm zur Radikalisierungsprävention gegen gewalt-orientierten Islamismus ohne Zweifel der richtige Weg,liebe Kolleginnen und Kollegen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke, Herr Kollege Grötsch. – Nächster Redner in
dieser Debatte vor der spannenden Beratung im Aus-
schuss ist Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-
ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Das Gesetz zur Ände-
rung des Personalausweisgesetzes und des Passgesetzes
ist zwar nur ein Baustein, aber es ist ein durchaus nicht
unwesentlicher Baustein im Kampf gegen den islamisti-
schen, dschihadistischen Terrorismus. Ich lege auch
Wert auf die Feststellung, dass wir hier fernab von jegli-
chem Aktionismus und von jeglicher Symbolpolitik
sind. Dieses Gesetz ist keine unmittelbare Reaktion auf
die barbarischen Anschläge von Paris.
Dieser Gesetzentwurf ist noch vor Weihnachten im Bun-
deskabinett verabschiedet worden und ist aus meiner
Sicht angemessen und verhältnismäßig.
Ich muss ganz ehrlich sagen, meine sehr verehrte Kol-
legin Mihalic und sehr geehrter Kollege Tempel: Ich war
schon etwas verwundert über Ihre Argumentation. Man
muss ja nicht alles teilen, was die Bundesregierung vor-
bringt, und natürlich müssen Sie sich als Oppositions-
fraktionen irgendwelche Argumente aus den Fingern
saugen, um dieses Gesetz abzulehnen.
Herr Mayer, erlauben Sie eine direkte Frage?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7951
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Selbstverständlich. Sehr gern.
Gut. – Frau Mihalic.
Vielen Dank, Herr Mayer, dass Sie die Zwischenfrage
zulassen. – Sie haben vorhin gesagt, das Gesetz sei ver-
hältnismäßig, es sei angemessen. Also, Sie sind zutiefst
davon überzeugt, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf das
Richtige tun. Deswegen würde mich einfach nur einmal
interessieren, womit Sie das begründen.
Wir werden das Ganze ja auch noch im Innenaus-
schuss miteinander erörtern. Offen gestanden war ich
aber doch ein bisschen überrascht, als ich zur Kenntnis
genommen habe, dass ausgerechnet Ihre Fraktion zu die-
sem Gesetzentwurf eine Ausschussanhörung beantragt
hat. Ich habe mich gefragt, ob Sie sich vielleicht doch
nicht ganz sicher sind, dass das, was Sie mit diesem Ge-
setzentwurf vorhaben, verhältnismäßig und angemessen
ist.
Sehr verehrte Frau Kollegin Mihalic, ich danke Ihnenund nehme stellvertretend für den Kollegen Binningerauch gerne Fragen entgegen.
Ich beantworte Ihre Frage aber sehr gerne sehr ernsthaft.Ich glaube, es gehört zum guten parlamentarischenTon, dass man bei wichtigen Gesetzgebungsvorhaben– es handelt sich hierbei zweifelsohne um ein wichtigesGesetzgebungsvorhaben – auch eine Sachverständigen-anhörung durchführt.
Ich bin auch deshalb sehr dankbar für die Frage, weil siees mir ermöglicht, klarzumachen, dass wir als Koali-tionsfraktionen den parlamentarischen Auftrag unheim-lich ernst nehmen und uns im Wege einer ausführlichenSachverständigenanhörung mit den Vor- und Nachteilendieses Gesetzentwurfs intensiv auseinandersetzen wer-den.Hätten wir diese Sachverständigenanhörung nichtproaktiv von uns aus beantragt,
dann hätten Sie mit Sicherheit behauptet: Die Regie-rungskoalition will diesen Gesetzentwurf durch denBundestag peitschen. Es geht hier wieder nur um Eilbe-dürftigkeit und nicht um Qualität. – Wir haben dieseSachverständigenanhörung jetzt beantragt, und das istIhnen, sehr verehrte Frau Kollegin Mihalic, auch nichtrecht.
Mit Verlaub: Das verwundert mich schon etwas.Ich finde es schön, dass Sie sich mit dem Antrag, denwir gestellt haben, beschäftigen, aber Sie können sichsicher sein, dass es uns hier um eine hohe Qualität derGesetzgebung geht. Deswegen legen wir als Koalitions-fraktionen Wert darauf, sich im Wege einer Sachverstän-digenanhörung intensiv mit diesem Gesetzentwurf ausei-nanderzusetzen.
Liebe Frau Kollegin Mihalic, daran darf ich gleicheinmal anknüpfen: Mich haben Ihre Ausführungenschon etwas verwundert, weil aus Ihrer Fraktion, näm-lich von Ihrem Kollegen Beck, im Herbst letzten Jahresder Vorschlag kam, dass man nicht ein Ersatzdokumenteinführen, sondern sogar eine Kennzeichnung des Perso-nalausweises von potenziellen Dschihadisten vornehmensollte.
Mich wundert es, dass Sie in Ihrer Kritik an dem Ge-setzentwurf nicht auch auf den Vorschlag Ihres Frak-tionskollegen eingegangen sind, und ich frage mich, wa-rum er heute als Mitglied des Innenausschusses nicht andieser Debatte teilnimmt.
Ihr Kollege Beck wäre ja noch sehr viel weiter gegan-gen, und bei seinem Vorschlag wäre der Vorwurf derStigmatisierung vielleicht sogar gerechtfertigt gewesen,weil er eben klar die Auffassung vertreten hat, manmüsse den Personalausweis sogar kennzeichnen undmarkieren.
Das ist ein weitaus weiter gehender Vorschlag als der,den wir heute vorlegen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichdarf auch ein paar Worte zum Kollegen Tempel sagen:Es ist ja schön, dass Sie Ihren Schwerpunkt auf Präven-tion und Deradikalisierung legen. Das ist auch wichtig,und das möchte ich auch gar nicht negieren und ver-harmlosen. Ich halte es aber, mit Verlaub, Herr KollegeTempel, schon für reichlich fahrlässig, dass Sie sagen:Bei diesem durchaus sehr ernst zu nehmenden Kampfgegen den islamistischen und dschihadistischen Terroris-mus verlegen wir uns einseitig nur auf den Bereich derPrävention und der Deradikalisierung. – Das ist aus mei-ner Sicht zu kurz gegriffen.
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7952 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
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Herr Mayer, erlauben Sie eine Frage oder einen Kom-
mentar von Herrn Tempel?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Gut.
Da Sie mich angesprochen haben: Sie haben hoffent-
lich vernommen, dass ich gesagt habe, dass die Sicher-
heitsbehörden durch entsprechende Gesetze natürlich ein
Rüstzeug an die Hand bekommen müssen, um wirksam
und aktiv arbeiten zu können, und ich habe auch gesagt,
dass die Messlatte dabei sehr hoch liegen muss. Es muss
also auch überprüft werden, ob die Maßnahmen geeignet
sind.
Ich frage Sie: Wie kommen Sie dazu, zu behaupten,
dass wir einseitig nur mit Prävention arbeiten wollen,
obwohl ich doch sehr deutlich gesagt habe, dass wir na-
türlich entsprechende Gesetze brauchen, die aber auf
ihre Wirksamkeit, Geeignetheit, Erforderlichkeit und
Angemessenheit hin überprüft werden müssen?
Herr Kollege Tempel, ich habe Ihren Äußerungen klarentnommen, dass Sie die Gefahren des Terrorismus nichtbagatellisieren, sich aber eindeutig darauf verlegt haben,zu sagen: Man muss viel mehr tun, um zu verhindern,dass es überhaupt zu einer Radikalisierung kommt. Da-rauf muss doch der Schwerpunkt gelegt werden. – Demmöchte ich schon entgegentreten. Beides ist erforderlich:Wir brauchen ein großes Maßnahmenpaket, und wir sindsehr wohl auch der festen Überzeugung, dass es wichtigist – hier sind vor allem die Länder gefordert –,
im Rahmen von Präventionsprogrammen mehr dafür zutun, dass jugendliche und heranwachsende Moslems erstgar nicht radikalisiert werden.Um es aber auch noch einmal klar und in aller Deut-lichkeit zu sagen: Ich bin der festen Überzeugung, dassdieser Gesetzentwurf, den wir heute in der ersten Lesungberaten, angemessen und verhältnismäßig ist, weil dieVoraussetzungen dafür, dass es zu einem Entzug des Per-sonalausweises kommen kann, außerordentlich hochsind. Es muss nachgewiesen werden, dass jemand einerausländischen oder inländischen terroristischen Organi-sation angehört, dass er das Staatswohl gefährdende Ge-walttaten vorbereitet
und damit die Sicherheit anderer Staaten oder internatio-naler Organisationen gefährdet oder deutsche Verfas-sungsgrundsätze beeinträchtigt, dass er rechtswidrig Ge-walt gegen Leib und Leben als Mittel zur Durchsetzungreligiöser oder politischer Belange anwendet oder unter-stützt. Es gibt ganz konkrete hohe Voraussetzungen, dieerfüllt sein müssen, damit es zum Entzug des Personal-ausweises kommen kann. Vor diesem Hintergrund binich der festen Überzeugung, dass dieses Gesetz verhält-nismäßig und angemessen ist.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichmöchte noch weiter gehen. Wir sollten nicht so tun, alssei allein dieses Gesetz ein Allheilmittel. Ich bin Ihnen,sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, sehr dankbar,dass Sie sich gestern bei dem informellen JI-Rat in Rigainsoweit durchsetzen konnten, als der informelle JI-Ratgestern beschlossen hat, das Schengener Informations-system dahin gehend zu verändern, dass in Zukunft dieKontrolle an den Schengen-Außengrenzen intensiviertwird, dass es Grenzbeamten erleichtert wird, Dokumenteungültig zu stempeln und ein- oder ausreisewilligeDschihadisten an den Grenzen festnehmen zu lassen.Das ist ein weiterer wichtiger Fortschritt im Kampf ge-gen den islamistischen Terrorismus. Dafür danken wirIhnen sehr herzlich.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, derGesetzentwurf, den wir heute beraten, ist aus meinerSicht ein wichtiger Baustein. Das Ersatzdokument wirdmit einer Gültigkeit von maximal drei Jahren ausge-reicht. Wichtig ist mir, zu sagen, dass die immer wiederbehauptete stigmatisierende oder diskriminierende Wir-kung durch das Ersatzdokument nicht zutrifft. Hierwurde gefragt: Was ist, wenn jemand mit einem Ersatz-dokument ein Bankkonto eröffnen oder eine Wohnungmieten will? Natürlich legitimiert ihn das ausgereichteErsatzdokument, diesen Dingen in Deutschland weiter-hin in vollem Umfang nachzugehen. Also, der Vorwurfder stigmatisierenden oder der diskriminierenden Wir-kung dieses Ersatz-Personalausweises geht ins Leere.Wir werden diesen Gesetzentwurf zügig beraten. Wirwerden ihn aber auch intensiv beraten, auch im Rahmender von Ihnen, Frau Kollegin Mihalic, angesprochenenSachverständigenanhörung.Ich freue mich auf diesen konstruktiven Austauschbezüglich dieses wichtigen Gesetzes, möchte aber nocheinmal betonen, auch eingedenk dessen, dass man unter-schiedliche Haltungen zu diesem Gesetz einnehmenkann: Bitte lassen Sie uns auch nach dieser Debatte wei-terhin seriös und verantwortungsbewusst mit dieser dochsehr intensiven und gestiegenen Bedrohung umgehen.Ich glaube, das erwarten auch die Bürgerinnen und Bür-ger in Deutschland.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7953
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Danke, Herr Mayer. – Ich schließe damit die Ausspra-
che.
– Das tut mir leid. Das war aber nicht ganz eindeutig. –
Also gut, eine ganz kurze Kurzintervention von Herrn
Frank Tempel von einer Minute. Dazu haben Sie natür-
lich das Recht.
Meine Kurzintervention ist wirklich ganz kurz. – Da
nach Herrn Binninger nun auch der Kollege Mayer wie-
derholt erklärt hat, ich hätte etwas gesagt, was ich aber
nicht so gemeint habe, was aber anders geklungen haben
soll, möchte ich auf Folgendes hinweisen: Hier im Bun-
destag gilt bitte schön das gesprochene Wort. Bitte neh-
men Sie das, was gesagt wurde, und interpretieren Sie
nicht einfach, wie es klang.
Ich spreche hier für meine Fraktion. Wir in unserer
Fraktion entscheiden selber, was wir sagen wollen. Wir
bitten darum, das zu respektieren und so zur Kenntnis zu
nehmen und nicht irgendwelche Klangtöne hineinzuin-
terpretieren.
Danke schön, Herr Tempel. Entschuldigung, ich habe
nicht verstanden, was Sie mir sagen wollten.
Herr Mayer, bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Tempel, ich nehme Ihre
Äußerungen mit großem Respekt zur Kenntnis, möchte
aber schon betonen: Ich hatte aufgrund Ihrer Rede den
klaren Eindruck, dass Sie an dem Gesetz Kritik üben.
Das steht Ihnen zu, das ist Ihnen unbenommen; keine
Frage.
Aber von Ihnen und auch von der gesamten Fraktion
Die Linke kommt kein einziger gesetzgeberischer Vor-
schlag, wie wir die gestiegene Bedrohung angehen sol-
len. Von Ihnen kommt kein einziger Vorschlag, was wir
denn konkret tun können, um den islamistisch-dschiha-
distischen Terrorismus in Deutschland zu bekämpfen.
Sie haben sich darauf verlegt, zu sagen, man müsste
mehr für Prävention und für Deradikalisierung tun. Da-
rin sind wir uns alle einig. Das ist keine große Weisheit,
um das klar zu sagen.
Aber darüber hinaus bezeichnen Sie jeden gesetzge-
berischen Vorschlag, den wir einbringen, als unverhält-
nismäßig, nicht angemessen und untauglich. Wo bleiben
denn Ihre konkreten Vorschläge? Die Bevölkerung er-
wartet Ihre Vorschläge.
Vielen Dank, liebe Kollegen. Damit schließe ich die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3831 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich wünsche
Ihnen eine sehr lebendige Aussprache und Debatte in
den Ausschüssen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg , Christina Schwarzer,
Ursula Groden-Kranich, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
ordneten Sönke Rix, Susann Rüthrich, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Aufarbeitung von sexuellem Kindesmiss-
brauch sicherstellen
Drucksache 18/3833
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Ich bitte wie vorher, die Plätze einzunehmen oder den
Saal zu verlassen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem ersten Redner Marcus
Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnenund Kollegen! Es sind nicht selten in der GeschichteBriefe, die Steine ins Rollen bringen. Es war auch dies-mal ein Brief des Rektors einer Berliner Bildungsein-richtung im Jahr 2010, der einen Stein ins Rollen ge-bracht hat. Er hat sich bei ehemaligen Schülerinnen undSchülern für das Leid, für die sexuellen Übergriffe ent-schuldigt, die diesen angetan wurden.
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7954 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Marcus Weinberg
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Anfang 2010 wurde das weitere Ausmaß des sexuel-len Kindesmissbrauchs in Deutschland in einer Reihevon Bildungseinrichtungen bekannt: im Westen wieauch in Kinderheimen und Jugendwerkstätten im Osten.Wir alle waren damals schockiert, und wir alle sindheute noch darüber erschüttert, was sich damals abge-spielt hat und wie weit verbreitet sexuelle Gewalt anKindern ist. Heute noch müssen wir darüber sprechen,weil mehr als ein Zehntel der Bevölkerung betroffen ist.Im Jahr 2013 wurden 14 800 Taten registriert. Bera-tungsstellen sprechen von bis zu 100 000 betroffenenMädchen und Jungen pro Jahr. Diese Betroffenen leidenihr ganzes Leben an den Folgen dieser traumatischen Er-lebnisse. Ich gebe die Gedanken einer Betroffenen wie-der, die ihren Leidensweg öffentlich gemacht hat:Ich hatte diese Bilder nicht unter Kontrolle, esschmerzte sehr, ich war unausgeglichen, wütend,hatte Zweifel und bekam starke Selbstmordgedan-ken. Ich dachte, dass ich es nicht mehr aushaltenkann, und wollte dem Schmerz für immer entflie-hen.Diese Betroffene hat ihre Erlebnisse öffentlich ge-macht. Sie hat öffentlich gemacht, wie sie nach und nachihr Schweigen gebrochen und so gelernt hat, mit den Er-innerungen zu leben. Das Aussprechen des Erlebten istoft von großer Bedeutung für die betroffenen Personen.Es ist aber auch für uns gesellschaftlich in der Aufarbei-tung dieser Prozesse wichtig gewesen, dass Menschensich geäußert und die Debatte damit auch angestoßen ha-ben.Ich möchte auch ausdrücklich die vielen Vertreter vonOpferverbänden begrüßen, die heute an der Debatte teil-nehmen. Herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind!
Ich möchte mich bei Ihnen für Ihr Engagement bedankenund dafür, dass Sie diese Debatte angestoßen haben undmit viel Mut die traumatischen Erinnerungen öffentlichkundtun. Ihnen ist es zu verdanken, dass das Thema se-xueller Missbrauch Minderjähriger nicht länger tabui-siert wird. Politik und Gesellschaft müssen dafür sensi-bilisiert werden. Denn wir wissen aus der Psychologieund der Psychoanalyse: Wer sich nicht erinnert, der ver-drängt, vergisst und wiederholt. Das ist auch ein gesell-schaftliches Problem bei diesem Thema. Deswegen sinddie Aufarbeitung des Unrechts und der Schmerz der be-troffenen Mädchen und Jungen für uns Christdemokra-ten ein Thema, das ganz oben auf der Agenda steht.Was haben wir getan? Wir haben, nachdem die De-batte 2010 ins Rollen gebracht wurde, im März 2010Frau Dr. Christine Bergmann zur Unabhängigen Beauf-tragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmiss-brauchs ernannt. Dies wird fortgeführt durch Johannes-Wilhelm Rörig, den ich auch hier begrüßen darf, demunser Dank für seine hervorragende, engagierte Arbeit indiesem Bereich gilt. Sie sind ein Lobbyist, dem wir ver-trauen. Sie sind ein Lobbyist, der wichtig ist. ArbeitenSie so engagiert weiter! Sie haben unsere volle Unter-stützung.
Wir haben auch viele einzelne Maßnahmen und Kam-pagnen entwickelt, zum Beispiel die Kampagne „Spre-chen hilft“, eine Anlaufstelle des Unabhängigen Beauf-tragten. 27 000 Telefongespräche sind in diesemRahmen geführt worden und über 5 000 Briefe einge-gangen.Im März 2010 wurde der Runde Tisch „SexuellerKindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhält-nissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und imfamiliären Bereich“ von der Bundesregierung eingesetzt.Im April 2013 fand ein Hearing statt. Seit dem 1. Mai2013 gibt es den Fonds „Sexueller Missbrauch im fami-liären Bereich“, für den der Bund 50 Millionen Euro be-reitgestellt hat.Wir diskutieren – gerade auch im letzten Jahr – übersehr viele einzelne Maßnahmen und weitere Gesetzes-vorhaben, die die Rechte von Opfern stärken sollen, dieAufarbeitungsprozesse begleiten sollen und die Kinderschützen sollen. Dazu gehören das Bundeskinderschutz-gesetz, das in diesem Jahr evaluiert wird, das Gesetz zurStärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs,aber auch die ergänzenden Hilfssysteme für von sexuel-lem Missbrauch betroffene Menschen. Am 22. Septem-ber wurde das Gesamtkonzept zum Schutz von Kindernund Jugendlichen vor sexueller Gewalt vorgestellt. Füruns war und ist diese Debatte, auch zu diesem Zeitpunkt,wichtig, um der Erinnerungskultur Rechnung zu tragen;denn sie ist unsere gesellschaftliche Aufgabe in derFolge der damaligen Diskussionen.Neben diesen wichtigen Schritten zum Schutz vonKindern und Jugendlichen muss auch die Aufarbeitungsexuellen Kindesmissbrauchs der Vergangenheit fortge-führt und intensiviert werden. Daher unterstützen wir dieEinrichtung einer unabhängigen Kommission und for-dern die Bundesregierung im Antrag entsprechend auf,den Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung dessexuellen Kindesmissbrauchs bei seiner Arbeit zu unter-stützen. Entscheidend ist dabei für uns, dass im Rahmender Arbeit der Kommission Betroffene angehört werdenund es nicht länger zu Verschleierungen kommt. Dennauch die Institutionen sind nicht aus ihrer Pflicht zu ent-lassen; sie müssen sich weiterhin beteiligen. Es gilt füruns, dass die Arbeit nicht ersetzt werden soll, sondern er-gänzt werden muss. Die betreffenden Institutionen habensich daran zu beteiligen.Darüber hinaus muss das Ziel aber auch darin beste-hen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen: beider Frage der Strukturen, bei der Frage, wie manSchwachstellen frühzeitig identifizieren kann, um Miss-brauch in Zukunft wirksamer zu verhindern.Die Einrichtung einer unabhängigen Aufarbeitungs-kommission ist ein wichtiger erster Schritt. Entscheidendist aber, dass wir hier nicht verharren. Die Aufarbeitungvon Unrecht ist ein langwieriger Prozess – das wissen wiraus vielen anderen Aufarbeitungsprozessen –, der auch inden kommenden Jahren mit großer Intensität vorange-trieben werden muss. Deshalb war und ist es wichtig undrichtig, die Aufarbeitung zu stärken und vor allen Din-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7955
Marcus Weinberg
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gen uns selbst wieder den Anstoß zu geben, darübernachzudenken, was wir jeden Tag, jede Woche tun kön-nen, damit sich solche Vorkommnisse nicht wiederholen.In diesem Sinne bitten wir um Unterstützung für unserenAntrag.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Marcus Weinberg. – Nächster Redner in
der Debatte: Norbert Müller für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Es istTeil der menschlichen Zivilisationsgeschichte, es solltefraktionsübergreifend unser aller Ziel sein, Gewalt auszwischenmenschlichen, aus politischen und aus gesell-schaftlichen Beziehungen zu verdrängen. SexuellerMissbrauch von Kindern und Jugendlichen ist eine be-sonders schreckliche Form von Gewalt; er ist ein funda-mentaler Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung derPersönlichkeit und körperliche Unversehrtheit und stehtdamit in eklatantem Widerspruch zu unserer Verfassungund zur UN-Kinderrechtskonvention.Sexueller Missbrauch von Kindern ist dabei kein Pro-blem, das nur in – ich zitiere Pastor Klaus Mertes –„männerbündisch verengten homosozialen Strukturendes Klerus“ stattfindet; er ist ein gesellschaftliches Pro-blem mit vielen Gesichtern. Er kann an staatlichen Ein-richtungen wie an privaten Einrichtungen stattfinden. Ja,wir wissen auch: Die meisten Fälle betreffen am Endeden familiären Raum.Strafrechtlich werden sexueller Missbrauch von Kin-dern und Misshandlung von Schutzbefohlenen aus Sichtder Linken angemessen geahndet – sofern die Tat be-kannt ist; Sie haben völlig zu Recht die hohe Dunkelzif-fer angesprochen.Der Missbrauch von Schutzbefohlenen verursachtgravierende seelische Wunden, verursacht Scham undAngst. Die Betroffenen leiden meist im Stillen. Nur we-nige finden den Mut und die Kraft, sich als Kind oderspäter im Erwachsenenalter anderen anzuvertrauen. Diesist jedoch die Voraussetzung dafür, betroffenen Men-schen Unterstützung dabei zu bieten, Traumata zu verar-beiten und einen Umgang mit dem Erlebten zu finden.Was die Schaffung einer Kultur angeht, die es den Men-schen ermöglicht, sich zu offenbaren und einen Umgangzu finden, sind wir in den letzten Jahren sicherlich wei-tergekommen.Erst durch das Bekanntwerden der Tat haben Strafver-folgungsbehörden – bei aller Verschärfung des Straf-rechts – die Chance, die Täter anzuklagen und die Kons-titutionsbedingungen der Tätersysteme zu analysierenund diese abzuschaffen. Hierfür braucht es Institutionen,die einen transparenten politischen und gesellschaftli-chen Diskurs überhaupt erst ermöglichen und anhand derBearbeitung konkreter Fälle die systematischen Bedin-gungen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugend-lichen überwinden.
Mit dem Bekanntwerden der Missbrauchsstrukturenam Berliner Canisius-Kolleg, an der Odenwaldschule,aber auch an den Jugendwerkhöfen, der Nordkirche undin vielen weiteren Fällen in den letzten fünf Jahren tratder Widerspruch zwischen Anspruch und Realität ekla-tant zutage. Die daraufhin seit 2010 geführte Debatteüber Aufklärung, Opferinteressen, Täterbestrafung, Ur-sachenforschung, Entschädigung, Institutionswandelund eine offene Kultur, aber auch über Prävention habenwir immer unterstützt und befördert. Durch die Arbeitdes Runden Tisches und des Unabhängigen Beauftragtenwurden erste notwendige Reformen initiiert. Ich schließemich dem Dank an Herrn Rörig an.
Es hat sich allerdings gezeigt, dass beide Instrumentedem Umfang der notwendigen Aufarbeitung alleinenicht gewachsen waren. Hier, Herr Weinberg, gibt esnoch ein Stück weit Differenz zwischen uns. Die Aufar-beitung von Missbrauch in Institutionen stellt dieseselbst und ihren soziopolitischen Kontext infrage. Dasist notwendig und auch gut so, führt aber auch zu Ab-wehrreaktionen bzw. Abwehrreflexen. Betroffene Insti-tutionen verweigern noch immer die Aufarbeitung vonUnrecht unter dem eigenen Dach. Aufklärungsprozessewerden durch zu schwache Untersuchungsrechte er-schwert, Akteneinsichten verwehrt oder Unterlagen ver-nichtet.Den vom Unabhängigen Beauftragten erarbeitetenVorschlag für eine Kommission zur Aufarbeitung vonFällen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendli-chen begrüßen wir als Linke ebenfalls. Damit dieseKommission mit der dem Thema angemessenen Schlag-kraft ausgestattet wird, bedarf es folgender vier Ergän-zungen bzw. Änderungen Ihres Antrags, liebe Kollegin-nen und Kollegen der Koalition.Erstens. Die Kommission muss auf gesetzlicherGrundlage konstituiert werden. Dies stärkt die Unabhän-gigkeit und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit. Not-wendig ist eine Evaluation der Handlungsspielräumeund Grenzen einer solchen Kommission zu Beginn der19. Legislaturperiode.Zweitens. Die Kommission benötigt eine tragfähigeund langfristige Finanzierungsgrundlage zur Bewälti-gung ihrer Aufgaben.Drittens. Die angedachte Befristung der Arbeit derKommission bis zum März 2019 ist völlig unzureichend,genauso wie die Formulierung in Ihrem Antrag, dass esnur um Fälle der Vergangenheit geht; denn sexuellerMissbrauch ist auch nach 2010 Thema geblieben undwird es auch in Zukunft sein. Die Linke spricht sich des-wegen für die Einrichtung einer dauerhaften Kommis-
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sion zur Bearbeitung auch gegenwärtiger und zukünfti-ger Fälle aus.
Viertens. Sexueller Missbrauch von Kindern ist einumfangreiches Problemfeld. Die Kommission muss ihreArbeit auf Themenbereiche konzentrieren – darin sindwir uns einig – und diese in Zusammenarbeit mit demUnabhängigen Beauftragten und dem Betroffenenbeiratregelmäßig überprüfen.
Wenn diese vier Bedingungen Eingang finden, liebeKolleginnen und Kollegen der Koalition, wird die LinkeIhre Forderung nach Aufarbeitung als Ziel anerkennenund ein gemeinsames Vorgehen mittragen. Wir freuenuns auf die Beratungen im Ausschuss.Vielen Dank.
Vielen Dank, Norbert Müller. – Nächste Rednerin in
der Debatte ist Susann Rüthrich von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor allem liebe Gäste! Liebe Betroffene! Vie-len Dank, dass Sie heute an unserer Debatte teilnehmen.Vor fünf Jahren hallte ein Aufschrei durch das Land.Der Leiter einer Berliner Bildungseinrichtung entschul-digte sich bei seinen Schülern für die jahrelange sexuelleGewalt, die ihnen in dieser Einrichtung angetan wurde.Viele weitere Opfer fanden daraufhin den Mut, das ihnenangetane Leid ebenfalls öffentlich zu machen. Ich denke,ich spreche für uns alle: Wir erschraken über diese Artvon Beziehungstaten von Menschen, die ein enges Ver-hältnis zu Kindern und Jugendlichen hatten. Da wäreneigentlich Schutz und Begleitung beim Erwachsenwer-den zu erwarten gewesen. Stattdessen missbrauchtendiese Erwachsenen ihre Macht und taten ihren Schützlin-gen furchtbare Gewalt an. Opfer wurden sichtbar, Täterund Täterinnen ebenfalls. Doch oft wussten viel mehrMenschen im Umfeld von dem, was geschah. Doch auchsie schützten die Kinder nicht.Warum? Warum schaut man weg? Warum macht manoffene Geheimnisse nicht zum Thema? Warum sindSchweigen und Tatenlosigkeit offenbar leichter zu ertra-gen, als Verantwortung zu übernehmen und Kindern dasLeid zu ersparen, Opfer sexueller Gewalt zu werden?Antworten auf diese Fragen zu finden, das ist für michder Grund, eine unabhängige Aufarbeitungskommissioneinzurichten.Wie wichtig das ist, zeigt sich, wenn wir kurz darübernachdenken, was passieren würde, wenn wir nicht zu-rückschauen würden. Weitere Kinder würden Opfer, undzwar auf genau dieselbe Art und Weise, wie es viel zuviele vor ihnen wurden. Täter und Täterinnen könntensich weiter sicher sein, dass unsere Scham, unsere blin-den Flecken und unser Nicht-Wahrhaben-Wollen sie de-cken.Der Schutz und die Hilfe für die heutigen Kinder wä-ren ohne sicheres Fundament, und die Prävention wärean vielen Stellen zwar gut gemeint, aber nicht gut. HerrRörig, der Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitungdes sexuellen Kindesmissbrauchs, sagte dazu an diesemMontag:Solange nicht alle uns bekannten Handlungsmög-lichkeiten ausgeschöpft werden, bleibt Missbrauchweiterhin ein Skandal in Deutschland!Genau so ist es.
Die Kommission wird zeigen, wo und wie wir unsereMöglichkeiten besser ausschöpfen können, um sexuelleAusbeutung und Gewalt zu verhindern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir versetzen alsoden Unabhängigen Beauftragen in den Stand, die Aufar-beitung zu starten, ein Konzept zu erstellen, Fachleuteaus verschiedenen Professionen zu benennen und uns biszum Ende seiner aktuellen Amtszeit 2019 Empfehlungenzu geben, was praktisch und politisch getan werdenmuss, um sexuelle Gewalt an Kindern zu verhindern,und zwar in allen Bereichen, in Familien, im sozialenUmfeld, in Institutionen, bei Menschen mit und ohneBehinderung.Es wird Anhörungen geben. Bisher vorgelegte Stu-dien und Aufarbeitungsakten werden gesammelt, gebün-delt, ausgewertet. Es wird selbst geforscht und recher-chiert, und am Ende wird uns ein Ergebnis vorgelegt.Doch es ist nicht nur wichtig, dass das gemacht wird,sondern es kommt darauf an, wie es gemacht wird. Dakommt es eben nicht nur auf das Konzept an, das jetzterarbeitet wird, sondern es kommt auf uns an. Dabei redeich noch nicht einmal davon, dass die Aufarbeitung Geldkosten wird, Geld, das wir alle werden aufbringen müs-sen, weil es sich um eine gesamtgesellschaftliche Auf-gabe handelt.
Viel mehr als vom Geld rede ich aber davon, dass dieKommission unsere dauerhafte und starke Unterstützungbrauchen wird, und zwar gerade dann, wenn es schwerwird, sich dem zu stellen, was da auf den Tisch kommt.Es ist heute kaum absehbar, was genau zum Vorscheinkommen wird. Allein die Aufarbeitung von einzelnenFällen in einzelnen Institutionen ist schnell viel funda-mentaler geworden, als sich das die Beteiligten vorhergedacht haben.Wie wird es dann erst sein, wenn wir alles zusammenbetrachten, wenn der gesellschaftliche Rahmen ange-schaut wird, in dem sexuelle Gewalt an Kindern möglichwird? Genau dann werden wir stark sein müssen, und
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Susann Rüthrich
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zwar nicht in der Abwehr, sondern indem wir Verant-wortung übernehmen.
Am Ende steht für mich noch eines: Auch wenn dieArbeit der Kommission zeitlich begrenzt ist, haben wirhier eine Daueraufgabe vor uns, wenn wir den Skandal,den ich anfangs erwähnte, tatsächlich beenden wollen;denn es wird wohl neue Fälle geben – leider. Es wirdaber auch gesellschaftliche Veränderungen geben, viel-leicht zum Glück. Es wird zu prüfen sein, wie und ob diegewonnenen Erkenntnisse wirken. Um dem gerecht zuwerden, braucht es den Unabhängigen Beauftragten zurAufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs unab-hängig von Legislaturen und Amtszeiten auf Dauer.Vielen Dank.
Vielen Dank, Susann Rüthrich. – Nächste Rednerin in
der Debatte ist Katja Dörner für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ichbin wirklich froh, dass wir heute über die Einrichtung ei-ner Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kin-desmissbrauch hier diskutieren. Obwohl in den letztenJahren Betroffene über ihren persönlich erlebten Miss-brauch gesprochen haben und auch Institutionen sich aufden Weg der Aufarbeitung gemacht haben, haben wir inDeutschland immer noch keine wirklich systematischeund weitreichende Aufarbeitung. Genau dafür brauchenwir eine solche Kommission.Eine solche Kommission hat nicht nur der Unabhän-gige Beauftragte schon lange gefordert, sondern insbe-sondere die Betroffenen. Deshalb finden wir Grünen esgut, dass die Kommission jetzt auf den Weg gebrachtwird.
Ich will aber auch nicht verhehlen, dass ich etwas un-schön finde, wie dieses Anliegen hier zu uns ins Parla-ment gebracht worden ist, nämlich in Form eines Koali-tionsantrags.
Ich finde, das Thema „sexueller Kindesmissbrauch“ ver-bietet die übliche Aufstellung Opposition versus Regie-rung. Wir haben uns als Grüne in den letzten Wochensehr bemüht, mit den Koalitionsfraktionen ins Gesprächzu kommen. Das ist leider nicht gewünscht gewesen. Ichfinde das sehr schade, weil sexueller Kindesmissbrauchdie gesamte Gesellschaft angeht, weil sie den gesamtenBundestag angeht. Es wäre wichtig, dass von uns ge-meinsam ein politisches Signal ausgeht: Ja, wir wollendiese Kommission.
Wenn man über die Aufarbeitung von sexuellem Kin-desmissbrauch spricht, steht oft im Vordergrund, Struk-turen zu erkennen, die Missbrauch möglich gemacht ha-ben, die Missbrauch befördert haben, und zwar mit demZiel, zukünftigen Missbrauch zu verhindern und best-mögliche Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. DieseDimension der Aufarbeitung ist natürlich extrem wich-tig.Genauso wichtig ist aber auch die Dimension der in-dividuellen Aufarbeitung, also die Möglichkeit für dieOpfer, in einem geschützten Raum über erlebten Miss-brauch zu sprechen, gehört zu werden und ernst genom-men zu werden. Wir als Grüne haben die Vorstellungund auch den Anspruch, dass die Aufarbeitungskommis-sion, die jetzt eingerichtet werden soll, einen solchenRaum darstellt.Ich habe am Montag am Fachgespräch des Unabhän-gigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindes-missbrauchs genau zu dieser Thematik teilgenommen, indem vor allem die Erfahrungen mit den Prozessen derAufarbeitung verschiedener Institutionen zusammenge-tragen und diskutiert wurden. In diesem Fachgesprächist sehr klar formuliert worden – mir ist sehr wichtig, dasin diesem Rahmen noch einmal zu sagen –, dass es be-sonders darum gehen muss, denen Gehör zu verschaffen,die sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gutausdrücken können, die nicht über das Erlebte gespro-chen haben, die nicht gut darüber sprechen können undderen Leid in der Öffentlichkeit deshalb nicht wahrge-nommen worden ist. Das sind beispielsweise Menschenmit Behinderung. Das sind Heimkinder. Das sind aberauch Menschen, die sehr jung waren, als der Missbrauchgeschah. Auch für diese Menschen soll die Aufarbei-tungskommission aus unserer Sicht einen Raum des Ge-hörtwerdens sein.
Da der Auftrag der Kommission, den wir heute bera-ten, im Antrag nur sehr knapp benannt wird, hoffe ich,dass die Kommission in ihrer Arbeit den unterschiedli-chen Dimensionen der notwendigen Aufarbeitung ent-sprechen kann. Wir erwarten, ehrlich gesagt, dass sie da-für auch ausgestattet wird.Im Fachgespräch, das ich schon erwähnt habe, ist sehrdeutlich geworden, dass es von großem Vorteil wäre,wenn die Kommission eine gesetzliche Grundlage hätte,also gesetzlich verankert würde. Das würde für denHandlungsspielraum der Kommission einfach eine deut-liche Erweiterung zur Folge haben, beispielsweise wasdas Recht der Akteneinsicht angeht, aber auch, was dieBefragung von Zeugen angeht.In die Aufarbeitungskommission werden große Hoff-nungen gesetzt. Ich finde, zu Recht. Ich habe allerdingsdie Sorge, dass es dieser Kommission ohne diese gesetz-liche Verankerung schwerfällt, diesen Hoffnungen undAnforderungen tatsächlich gerecht zu werden. Wenn iches richtig sehe, ist eine gesetzliche Verankerung bei den
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Katja Dörner
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Koalitionsfraktionen noch nicht vorgesehen. Ich hoffe,dass wir in den Beratungen des Antrags hier vielleichtnoch zu einer anderen Lösung kommen können.
Wie so oft ist die Finanzierung der Knackpunkt; dasist schon angesprochen worden. Da heißt es im Antrag:„im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten“. Das istnatürlich auf der einen Seite selbstverständlich; auf deranderen Seite lässt es aber auch nicht ganz so viel Gutesvermuten. Ich habe aus den Reden der Kolleginnen undKollegen noch nicht wirklich heraushören können, wasdas in diesem Fall bedeutet. Für uns ist ganz klar – dasmöchte ich für die Grünen sagen –, dass es zusätzlicheMittel geben muss. Die Mittel für die Aufarbeitungs-kommission dürfen nicht aus dem Etat des Kinder- undJugendministeriums herausgeschnitten werden.
Ich hoffe, dass wir im Rahmen der Beratungen auch hierzu einer gemeinsamen Lösung kommen.Für uns ist klar: Wir begrüßen die Einrichtung derAufarbeitungskommission ganz ausdrücklich; aber na-türlich müssen auch die Rahmenbedingungen stimmen.Zum Abschluss möchte ich noch Folgendes anspre-chen: Herr Weinberg, Sie haben sich eben auf das Ge-samtkonzept bezogen, das die Ministerin anlässlich desEmpfangs des Unabhängigen Beauftragten vorgestellthat. Darin war eine ganze Reihe von guten und interes-santen Vorschlägen enthalten. Meine Kollegin Brantnerhat vor zwei oder drei Monaten in einer Kleinen Anfrageabgefragt, welche der konkreten Vorhaben mittlerweileangegangen worden sind. Die Beantwortung dieser An-frage war leider sehr mau: Quasi nichts von dem, wasdie Ministerin an dieser Stelle angekündigt hat, wurdebis dato umgesetzt. Ich finde, da haben wir eine gemein-same Baustelle, nämlich da nachzuhaken und dafür zusorgen, dass die guten Vorschläge, die im Raum stehen,dann auch umgesetzt werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Katja Dörner. – Nächste Rednerin in der
Debatte: Christina Schwarzer für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Das weißeKreuz hier an meiner Jacke steht für Sicherheit undSchutz. Die Farbe Weiß symbolisiert Verletzlichkeit, dieVerletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen, die ge-schützt werden müssen. Das weiße Kreuz ist Symbol-träger einer bundesweiten Kampagne zum Thema „Se-xuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“. Ich tragees heute zur Erinnerung für uns alle. Uns muss bewusstsein, dass wir hier im Deutschen Bundestag auch zu-künftig Teil einer großen Verantwortungsgemeinschaftsind.Aber nicht nur mit dem Tragen des weißen Kreuzesleisten wir unseren Beitrag dazu, dass die so wichtigeDebatte zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im in-stitutionellen und privaten Bereich nicht verstummt. Esdarf nicht nur eine Bundestagsdebatte, sondern mussauch eine gesellschaftliche Debatte sein und bleiben.Das sind wir den Opfern schuldig, die vor fünf Jahren ei-nen unbeschreiblichen Mut aufgebracht haben und mitihren Qualen an die Öffentlichkeit gegangen sind.Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, welche Kraftes braucht, diesen Schritt zu gehen, welche Belastungenan den Menschen zerren. Allein schon die Angst vor Un-verständnis, Bagatellisierung, Ignoranz oder Leugnunghält viele Opfer davon ab, zu sprechen. Da Angst keingutes Gefühl ist, schweigen viele. Das Wort „Danke“ istheute schon oft gefallen. Ich glaube, man kann es nichtoft genug sagen: Danke für den Mut, den Sie bewiesenhaben!
Dieser Mut hat nicht nur dazu geführt, dass wir heuteim Bundestag über dieses Thema sprechen; er ist auchGrundlage dafür, dass wir beim Unabhängigen Beauf-tragten eine Aufarbeitungskommission einrichten wer-den. Ich kann für meine Fraktion, aber sicherlich auchfür das ganze Haus sagen, dass wir das sehr unterstützen– nicht nur heute, sondern über den gesamten Prozesshinweg. Ich kann Ihnen sagen – Frau Rüthrich und HerrWeinberg können das sicherlich auch –: Wir alle habenin den letzten Tagen viele E-Mails und Briefe bekom-men. Ich glaube, wir lassen diese sicherlich auch Ihnen,Herr Rörig, zukommen. Vielleicht haben wir gemeinsamnoch weitere Ideen dazu, wie wir vorankommen.Nachdem 2010 der Stein ins Rollen gebracht wordenist, sind über 16 000 Gespräche mit Betroffenen geführtworden. In 4 500 Briefen legten Opfer Zeugnis über ihreLeiden ab. Das zeigt: Viele Opfer wollen sprechen. Siesagen aber auch: Danke, dass ihr uns endlich eineStimme gegeben habt! – Wir müssen weiterhin zuhörenund natürlich auch helfen. Wir müssen Zeugen sein undals Gesellschaft Verantwortung übernehmen.Ich bin optimistisch gestimmt, dass diese Kommis-sion, so wie sie vorbereitet und geplant ist – ich bin sehrbeeindruckt –, eine große Stütze für die Opfer, aber auchfür die Institutionen sein wird. Sie ist sorgfältig und effi-zient geplant und kann konkrete Ergebnisse liefern. ImProzess der Aufarbeitung, aber auch im Bereich der Prä-vention kann sie uns einen großen Schritt nach vornbringen.Die Betroffenen berichten, dass sie in eine zweite Di-mension des Leidens geführt werden, wenn sie über dasErlebte sprechen. Dies bestärkt nur meine Anerkennung
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Christina Schwarzer
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für ihre Offenheit. Sie sagen aber auch, dass diese Ge-spräche helfen, die Erinnerung und den Schmerz anzu-erkennen und aufzuarbeiten.Eine unabhängige Kommission ist meiner Ansichtnach ein guter Ansprechpartner. Ihre Mitglieder werdensorgfältig ausgewählt. Sie müssen sehr integer, vertrau-enswürdig und unabhängig sein. Für die extrem intensi-ven und sensiblen Gespräche und Aufgaben sind dieseVoraussetzungen unerlässlich.Eine Aufarbeitungskommission hilft aber auch denInstitutionen, in denen Kinder und Jugendliche zu Op-fern wurden. Sie müssen weiter – manchmal noch inten-siver – daran arbeiten, Fälle aus der Vergangenheit auf-zuarbeiten, um dadurch zukünftiges Leid vielleicht zuverhindern. Die Kommission nimmt ihnen diese Auf-gabe nicht ab. Sie kann sie dabei nur unterstützen undProzesse in Gang setzen.Aber auch viele andere Institutionen, viele Schulenoder Vereine haben noch wichtige Aufgaben zu meis-tern. Hier geht es darum, Missbrauch zu verhindern oderim Missbrauchsfall so schnell wie möglich zu helfen, da-mit Taten nicht über 30 Jahre verdrängt oder gar igno-riert werden. Wir brauchen Konzepte zum Umgang mitFällen sexuellen Missbrauchs. Das hat unter anderemauch der Runde Tisch empfohlen. Wie verhalte ich michals Lehrer, wenn ein Schüler von sexuellen Übergriffenberichtet? Wie reagiere ich, wenn ich mich als Trainer zueinem Schutzbefohlenen vielleicht hingezogen fühle?Was tue ich, wenn ich den Verdacht hege, dass in mei-nem Freundeskreis sexuell missbraucht wird? – Die In-stitutionen, Schulen oder Vereine brauchen ein Konzeptzur Prävention und Intervention, das ist ganz wichtig. Soerhalten Verantwortliche mehr Handlungssicherheitbeim Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuel-lem Missbrauch. Der Unabhängige Beauftragte kannhier helfen und Anleitungen geben; aktiv werden müssenjedoch die Einrichtungen selbst. Von dort wissen wiraber auch, dass Überforderung herrscht. Das müssen undwollen wir ändern.
Das Zuhören und der Versuch, die richtigen Antwor-ten zu finden, sind ganz besonders wichtige Punkte aufdem Weg der Aufarbeitung. Es gehört aber noch mehrdazu. Wir müssen uns auch fragen: Wie können wir ver-hindern, dass solche Fälle in Zukunft wieder passie-ren? – Hier gibt es keine Garantie, das gehört leider zurtraurigen Wahrheit.Die Hilflosigkeit der Institutionen, in denen Kinderund Jugendliche zu Opfern wurden, muss in eine Bewäl-tigungsstrategie umgewandelt werden. Dennoch dürfenund werden wir nicht aufhören, dagegen anzukämpfen,dass Kinder und Jugendliche in unserem Land von Er-wachsenen, manchmal von den Erwachsenen, die sie ei-gentlich beschützen sollen, sexuell missbraucht werden.Der Kollege Marcus Weinberg hat vorhin schon einigeMaßnahmen genannt. Ich möchte an dieser Stelle nochergänzend die Verschärfung des Sexualstrafrechts nen-nen oder auch die Förderung des Netzwerkes „Kein Tä-ter werden“ an der Berliner Charité, bei dem es um Prä-vention geht.Natürlich ist die Aufarbeitung selbst nicht nur Hilfefür diejenigen, die bereits zu Opfern geworden sind. Ichwiederhole mich: Es gibt hier keine Garantie. Aber ichbin fest davon überzeugt: Je lauter eine Gesellschaft überdieses Thema diskutiert, je deutlicher sie macht, dass siesolche Abscheulichkeiten nicht duldet, desto mehr po-tenzielle Täter können abgeschreckt werden und sichhoffentlich Hilfe suchen. Auch darum ist die Aufarbei-tung so wichtig.Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass dieseDebatte nicht verstummt, damit der Mut der Opfer nichtumsonst war, damit ihr Mut nicht umsonst war.
Vielen Dank, Christina Schwarzer. – Nächste Redne-
rin in der Debatte ist die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Caren Marks.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir de-battieren heute über ein Thema, das die gesamte Gesell-schaft bewegt, bewegen muss. Sexuelle Gewalt gegenKinder und Jugendliche bedeutet körperliche und seeli-sche Qualen für die Betroffenen. Sie leiden, sie leidenein Leben lang.Wir wissen, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Vielezeigen den oder die Täter nicht an, und wenn Betroffeneihr Schweigen brechen, dann oftmals erst viele Jahrespäter als Erwachsene. Was ich ganz besonders erschüt-ternd finde: Wenn Missbrauch stattfindet, dann in einemhohen Maße im unmittelbaren Umfeld dieser Kinder undJugendlichen; in Einrichtungen, in Familien. Vertrauens-verhältnisse werden missbraucht. Sie werden zerstört,und das bereits im Kindesalter.Wir müssen uns heute hier vergegenwärtigen: DasAufdecken von Missbrauchsskandalen vor fünf Jahrenhat nicht dazu geführt, dass der Missbrauch ein Ende hat.Davor und danach fand und findet sexuelle Gewalt ge-gen Kinder und gegen Jugendliche statt; mitten unteruns. Die Öffentlichkeit nimmt dies aber nicht immergleich stark wahr.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vor fünfJahren wurde der Runde Tisch „Sexueller Kindesmiss-brauch“ eingerichtet, der ressortübergreifend arbeiteteund interdisziplinär besetzt war. Der Runde Tisch erar-beitete einen Abschlussbericht mit konkreten Empfeh-lungen zum Thema Missbrauch. Zudem nahm damalsdie Unabhängige Beauftragte, Frau Dr. Christine Berg-mann, im Auftrag der Bundesregierung ihre Arbeit auf.Seitdem ist einiges geschehen. Beispielsweise wurden inden vergangenen Jahren Regelungen zum Schutz von
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7960 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015
Parl. Staatssekretärin Caren Marks
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Kindern und Jugendlichen weiterentwickelt, im Straf-recht Verjährungsfristen ausgeweitet sowie die Rechtevon Opfern in Strafverfahren verbessert.Die Bundesregierung hat die Arbeit des Unabhängi-gen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kin-desmissbrauchs, Herrn Rörig, in dieser Legislaturpe-riode abgesichert. Ich begrüße Sie, Herr Rörig, sowie dieBetroffenen ganz herzlich auf der Besuchertribüne. Sieverfolgen die Debatte heute. Ich sage Danke für Ihrewertvolle Arbeit und das großartige Engagement. DenBetroffenen danke ich für den Mut und den Einsatz, densie zeigen. Auch wir sind alle darauf angewiesen in un-serer Gesellschaft. Vielen Dank.
Es ist einiges geschehen, aber wir haben auch noch ei-niges vor. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesighat ein Gesamtkonzept zum Schutz von Kindern und Ju-gendlichen vor sexualisierter Gewalt vorgestellt. Es be-ruht auf dem Gedanken, dass wir gemeinsam daran ar-beiten müssen, Missbrauch wirksamer zu verhindernund die Unterstützungsangebote und Hilfen für Betrof-fene zu verbessern.Meine Kolleginnen und Kollegen, in den vergange-nen Jahren wurden Missbrauchsskandale in einigen Ein-richtungen untersucht. Es ist aus Sicht der Betroffenen,aber auch aus Sicht der gesamten Gesellschaft ganz we-sentlich, dass sich Institutionen mit ihrer Vergangenheitbeschäftigen und sich der Verantwortung stellen, dassSchweigen gebrochen wird. Daher ist sehr gut nachvoll-ziehbar, dass es aus dem Kreis der Betroffenen die starkeForderung nach einer unabhängigen Aufarbeitung gibt.Gewollt ist eine unabhängige, aber nicht unparteiischeAufklärungskommission; eine Kommission, die Parteifür die Betroffenen ergreift.Der Koalitionsvertrag greift die Forderung nach einerunabhängigen Aufarbeitung ebenso auf wie der heutedebattierte Antrag. Betroffene von sexualisierter Gewaltmachen in diesen Tagen deutlich, dass sie ein starkesMandat vom Bundestag erwarten. Die heutige Plenarde-batte ist ein starkes Signal, weil das Parlament dem An-liegen der Betroffenen öffentlich Rechnung trägt, dieAufarbeitung bzw. eine Aufarbeitungskommission öf-fentlich einfordert und nach der Einbringung des Antra-ges heute das Thema weiter debattieren wird. DieBundesregierung ist ressortübergreifend in der Verant-wortung, diesen Antrag umzusetzen.Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen,Expertinnen und Experten betonen, dass die Aufklä-rungsarbeit nicht den Institutionen überlassen werdendürfe; denn „Täternetzwerke“ und Institutionen würdensich immer noch vereinzelt vor den Informationen schüt-zen, die sie infrage stellen. Zudem ist es ganz besonderswichtig, den Betroffenen zuzuhören. Auch das gehört zueiner Aufarbeitung dazu. Eine unabhängige Aufarbei-tungskommission, die Empfehlungen ausspricht undsystematische Fehler benennt, bringt Erkenntnisse, dieauch zu einem verbesserten Schutz von Kindern und Ju-gendlichen vor sexualisierter Gewalt beitragen. Sie istdamit auch ein wichtiger Teil der Präventionsarbeit. Nurso schaffen wir auch eine Kultur des Hinsehens und kön-nen Rahmenbedingungen, die Missbrauch begünstigen,erkennen und ihnen wirksam entgegenwirken.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Caren Marks. – Letzter Redner in dieser
Debatte ist Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es wurde von meinen Vorrednern schon
sehr viel Zutreffendes ausgeführt. Ich will das Positive
der heutigen Debatte direkt voranstellen: Wir sind frak-
tionsübergreifend, losgelöst von Koalition und Opposi-
tion, in diesem Punkt ziemlich einig und auf einem guten
Weg. Wir haben konsensual den Schutz der Betroffenen
im Fokus. Dafür allen Vorrednern ein herzliches Wort
des Dankes.
– Dort möchte jemand eine Frage stellen.
Das habe ich schon gesehen, Herr Lehrieder. Keine
Angst. Meine Augen sind überall.
Ja, ich wollte Sie nur höflich darauf hinweisen.
Wollen Sie die Frage zulassen?
Natürlich, ja.
Frau Keul, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. – Sie haben ge-
rade zu Recht gesagt, dass wir konsensual dieses Vorge-
hen begrüßen. Ich habe noch nicht die Antwort auf die
Frage meiner Kollegin Dörner gehört, warum die CDU/
CSU-Fraktion darauf bestanden hat, das im Parlament
nicht gemeinsam zu machen und die Opposition auszu-
schließen. Was ist die Antwort darauf?
Frau Kollegin, wir werden Sie natürlich an den De-batten beteiligen. Wir ziehen Sie natürlich mit. Sie dür-fen sich an diesem Werk entsprechend konstruktiv ein-bringen. Sie dürfen versichert sein, so wie früher bei
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7961
Paul Lehrieder
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Rot-Grün, dass eine Regierungskoalition ein gewissesMaß an Verantwortung für die Bevölkerung trägt und einInitiativrecht hat, zu sagen: Wir bringen etwas auf denWeg, und die anderen Parteien nehmen wir dann spätermit. Von daher sollten wir das nicht in parteipolitischemKlein-Klein zerreden, Frau Kollegin – Sie können stehenbleiben, ich bin noch nicht fertig –, sondern das großeGanze sehen.
Das wäre wichtig, im Interesse der Betroffenen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schutz von Kin-dern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir allemüssen uns jedoch eingestehen – die Vorredner habenbereits darauf hingewiesen –, dass wir in der Vergangen-heit beim Thema „sexuelle Gewalt gegen Kinder und Ju-gendliche in pädagogischen Kontexten“ in vielen Berei-chen versagt haben. Ende dieses Monats jährt sich zumfünften Mal das Bekanntwerden der Missbrauchsskan-dale in Bildungseinrichtungen; alle Vorredner haben be-reits darauf hingewiesen.Die 2010 in Gang gesetzte Aufklärungswelle in Be-zug auf sexuellen Missbrauch in Heimen und Schulenund die Berichte der Betroffenen haben uns alle zutiefsterschüttert und beschämt. Das ganze Ausmaß der leid-vollen Erfahrungen wurde uns erst nach und nach be-wusst. Die gesellschaftliche und politische Debatte zudiesem Thema mag noch relativ jung sein, hinter vielenBetroffenen liegen jedoch lange Jahre, wenn nicht sogarJahrzehnte des Schweigens und des Leidens: nicht verar-beitete Traumata, fehlendes Vertrauen – von der Kolle-gin wurde bereits darauf hingewiesen – zu Personen, diemit der Erziehung, mit der Betreuung dieser Kinder be-auftragt waren. Personen, denen man ein erhöhtes Maßan Vertrauen entgegengebracht hat, haben das Vertrauenerschüttert, was zu erheblichen Verletzungen in den See-len und Körpern der betroffenen Kinder geführt hat. Dasist ganz großes Leid. Jemand, der das nicht erlitten hat,kann das wahrscheinlich nur sehr schwer nachvollzie-hen.Die betroffenen Kinder, Jugendlichen und auch Er-wachsenen sind in den letzten Jahren zum Teil ein zwei-tes Mal Opfer geworden, nämlich dann, wenn sie sichjemandem anvertraut haben. So ist es gut, dass insbeson-dere in den letzten fünf Jahren eine gesellschaftliche De-batte in Gang gekommen ist, in der genau dieses Leidnicht stigmatisiert, sondern in der klargestellt wird: Dubist nicht schuld, wenn dir so etwas passiert ist, das istauch anderen Kindern passiert. – Nun traut man sich,über ein Thema zu sprechen, das vor sieben, acht oderzehn Jahren gesellschaftlich noch stärker ausgegrenztwar.Wie es den Betroffenen in all den Jahren ergangen ist,vermag kaum einer von uns nachzuempfinden. DieOpfer leiden oftmals ein Leben lang unter den Folgendes Missbrauchs – hierzu können unter anderem Flash-backs, Depressionen, Panikattacken, Suchterkrankun-gen, selbstverletzendes Verhalten sowie ein generellesMisstrauen gegenüber Menschen gehören –; das wirddurch die Schilderungen der Menschen deutlich, die sichan die Missbrauchsbeauftragten gewendet haben. DieBetroffenen schaffen es erst zum Teil Jahrzehnte später,das Schweigen zu brechen und sich jemandem anzuver-trauen.Ich weiß, dass viele Opfer von sexuellen Übergriffenund sexueller Gewalt diese heutige Debatte verfolgen,zum Teil live vor dem Fernseher oder auf der Besucher-tribüne. Ihre Courage, ihre traumatischen Erfahrungender Vergangenheit mit der Öffentlichkeit zu teilen, ver-dient allerhöchste Anerkennung. Die geschilderten Er-lebnisse lassen uns erschüttert und oft sprachlos zurück.Ihre Berichte haben andere Betroffene dazu ermutigt,den Missbrauch in Institutionen, Schulen und kirchli-chen Einrichtungen zu thematisieren. Von vielen Kolle-gen wurde auf das Fachgespräch mit dem UnabhängigenBeauftragten, Herrn Rörig, im Familienministerium amvergangenen Montag hingewiesen. Wir haben uns amRande dieser Veranstaltung darauf verständigt, HerrRörig, dass wir den Betroffenenrat, der im März seineTätigkeit aufnehmen wird, anhören werden, ich hoffe,noch vor der Sommerpause. Wir müssen uns überlegen,wo wir – neben der Tätigkeit in der neu einzurichtendenunabhängigen Kommission zur Aufarbeitung – helfenkönnen.Herr Rörig, herzlichen Dank für Ihre segensreiche Ar-beit. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, herzlichenDank für Ihr konstruktives Mitarbeiten an der Lösungdieses gesamtgesellschaftlichen Problems. Wir sind aufeinem guten Weg. Liebe Frau Kollegin Dörner, wir wer-den uns im weiteren Verfahren die guten Vorschläge derGrünen und auch der Linken sehr gerne anhören.Herzlichen Dank und schönes Wochenende.
Danke, Paul Lehrieder. – Ich schließe diese intensive,fraktionsübergreifend sehr bewegende Aussprache undwünsche Ihnen gute Weiterarbeit an diesem Thema.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3833 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich warte noch einen Moment, bis die Plätze einge-nommen wurden. – Ich danke auch Ihnen auf der Besu-chertribüne, dass Sie an dieser Debatte teilgenommenhaben. Vielen herzlichen Dank!Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten CarenLay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin Kassner, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
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Vizepräsidentin Claudia Roth
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Übernahme der Energienetze durch Stadt-werke erleichternDrucksache 18/3745Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Kein Wider-spruch, dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort CarenLay für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Privatisierungswelle, die sich seit den 90er-Jahren vollzieht, neigt sich nun hoffentlich bald ihremEnde zu. Viele Kommunen wollen die Netze für Strom-und Gasversorgung, die sie an private Betreiber überge-ben, zum Teil verhökert haben, nun wieder zurück. DerZeitpunkt dafür ist genau richtig; denn bis zum Jahr2016 werden über 2 000 Netzverträge auslaufen. Das istalso eine Riesenchance für die kommunalen Stadtwerke.
Netze in öffentlicher Hand haben so manchen Vorteil:Die Preise können im Interesse der Verbraucherinnenund Verbraucher moderat gestaltet werden, die Gewinnebleiben bei den Kommunen und können sinnvoll rein-vestiert werden. Wir als Linke sind überzeugt: Auch fürdie Energiewende ist es gut und richtig, die Netze zurückin öffentliche Hand zu bringen; denn dezentraler Ener-gieversorgung gehört die Zukunft.
Demokratisch kontrollierte Stadtwerke sollen aus unse-rer Sicht eine ganz zentrale Rolle bei der Energiewendespielen.Das wollen auch immer mehr Kommunen. Leiderwerden sie durch die derzeitige Rechtslage viel zu oftdaran gehindert. Die privaten Betreiber und die Energie-konzerne denken überhaupt nicht daran, auf dieses ein-trägliche Geschäft zu verzichten, und ziehen vor Gericht –selten ohne Erfolg. Eine Vielzahl von Vergabeverfahrenwurde aufgehoben. Teilweise wurden die Rekommunali-sierungen rückabgewickelt, so geschehen beispiels-weise in Meschede und in Olsberg sowie in der Ge-meinde Bestwig. Das Oberlandesgericht Düsseldorfhatte hier die Konzessionsvergabe der Städte an die je-weiligen Stadtwerke gekippt.Ein anderes Beispiel, das derzeit durch die Pressegeht, ist die Stadt Berlin. Deswegen freue ich mich, dassder Antrag, den wir heute in den Bundestag einbringen,über den wir heute diskutieren, auch von der Fraktionder Linken im Berliner Abgeordnetenhaus eingebrachtwird mit der Zielstellung, dass die Länder endlich ein-mal eine Bundesratsinitiative auf den Weg bringen.
Man muss sagen, dass der Bund bisher nicht geradehilfreich ist, das Bundeskartellamt und die Bundesnetz-agentur jedenfalls nicht. Ja, das Selbstverwaltungsrechtder Kommunen existiere, aber bei der Konzessionsver-gabe, so sagen sie es, eben nur im Rahmen des Wettbe-werbs. Andere Kriterien – regionale Wirtschaftskreis-läufe, Bürgernähe, ökologischer Anspruch – fallenhinten herunter. In der Praxis sind die Privaten dann häu-fig im Vorteil. Grundlage dafür ist ein gemeinsamerLeitfaden der beiden Bundesbehörden aus dem Jahr2010. Das ist zwar kein Gesetz, sondern nur ein Leitfa-den, aber aufgrund der unklaren Rechtslage wird dieserLeitfaden häufig wie ein Gesetz behandelt.Auch ein Urteil des BGH vom Dezember des letztenJahres bestätigt diese Auffassung. Ich muss dazu einfacheinmal sagen, dass ich das völlig absurd finde: DasGrundgesetz garantiert den Vorrang der kommunalenSelbstverwaltung, und wir müssen im Bundestag durchSchaffung einer klaren Rechtslage dafür sorgen, dassdieser Vorrang der kommunalen Selbstverwaltung end-lich eingehalten werden kann.
Es gibt, ehrlich gesagt, überhaupt keinen Grund dafür,dass die deutsche Interpretation übereifrig über das hin-ausgeht, was die Europäische Union vorschreibt. Ich binsehr froh, dass wenigstens dagegen jetzt Klage beimBundesverfassungsgericht eingereicht wurde, in diesemFall von der Stadt Titisee-Neustadt. Ich hoffe, dass dieseKlage erfolgreich ist.
Bevor es weitere Klagen gibt und wir auf die Ent-scheidungen warten müssen, sollten wir im Bundestagschnellstmöglich für Rechtssicherheit sorgen. Ich finde,wir brauchen schnellstmöglich eine rechtliche Klarstel-lung; denn es kann nicht sein, dass Kommunen, die öf-fentliche Stadtwerke und öffentliche Netze wollen,durch eine unklare Rechtslage auf Bundesebene darangehindert werden. Diesbezüglich müssen wir endlichRechtssicherheit herstellen.
Die Frage ist doch, ob die Kommunen tatsächlichselbst entscheiden können, ob sie Aufgaben der Daseins-vorsorge selbst erbringen oder an Dritte vergeben. Des-wegen fordern wir hier auch, dass die Möglichkeit derInhouse-Vergabe ganz klar rechtlich geregelt wird.
Der Deutsche Städtetag, der Deutsche Städte- undGemeindebund und auch der Verband kommunalerUnternehmen sehen das genauso. Sie protestieren seitJahren gegen diese eben erläuterte erhebliche Einschrän-kung. Auch Sie vertreten die Auffassung, dass die EU-Konzessionsrichtlinie Inhousevergaben direkt an diekommunalen Stadtwerke eindeutig ermöglicht. Ich darf
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Caren Lay
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hier aus einer Erklärung von Februar 2012 zitieren; dieseist jetzt nun schon drei Jahre alt. Dort heißt es:Beim Wettbewerb um Strom- und Gasnetzkonzes-sionen darf das Recht auf kommunale Selbstver-waltung nicht eingeschränkt werden. Wir fordernim Rahmen der derzeitigen Novelle des Energie-wirtschaftsgesetzes klare Regelungen für einerechtssichere Konzessionsvergabe, die auch kom-munale Netzübernahmen ermöglichen.In einer Presseerklärung des Deutschen Städte- und Ge-meindebundes vom letzten November wurde diese For-derung noch einmal ganz klar wiederholt. Ich finde, zuRecht; denn auch im Koalitionsvertrag wurde verspro-chen, an dieser Stelle Rechtssicherheit herzustellen.Aber auf diese Rechtssicherheit warten die Kommunen,warten die Stadtwerke bis heute. Ich finde, das kann sonicht bleiben.
Laut Presseberichten ist es Bundeswirtschafts- und -ener-gieminister Gabriel selbst, der angeblich hinter den Ku-lissen auf die Bremse tritt, vielleicht um Zeit für die pri-vaten Betreiber und die Energiekonzerne zu schinden.Zeit ist hier im wahrsten Sinne des Wortes Geld, Geld,das die Kommunen derzeit gut gebrauchen könnten. Ge-lingt es nicht jetzt, die Netze in öffentliche Hand zuübernehmen, ergibt sich die nächste Chance erst in20 Jahren. Das geht so nicht. Wir brauchen schnellst-möglich eine rechtliche Klarstellung.Ich bitte daher um Unterstützung unseres Antrags.
Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die CDU/
CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir reden über die Rekommunalisierungder Energienetze. Beim Durchlesen des Antrages – ichlese Ihre Anträge tatsächlich – habe ich festgestellt, dasser mir unwahrscheinlich bekannt vorkommt. Nach einerkurzen Recherche fand ich heraus, dass Sie in der Tatvor fünf Jahren den Antrag „Energienetze in die öffentli-che Hand“ gestellt hatten.
– Genau. – Beim Lesen beider Anträge habe ich festge-stellt: Der jetzige Antrag ist eine Blaupause. Es gibtleichte Veränderungen, aber letztendlich müssen wir Ih-nen genau das, was wir Ihnen vor fünf Jahren schon ge-sagt haben, auch dieses Mal sagen.
In dem Antrag, Frau Kotting-Uhl – es ist nicht Ihr An-trag; aber ich spreche Sie an, weil Sie sich gerade einmi-schen –, geht es um Folgendes.
– Locker, ich habe neun Minuten Redezeit.
Sie fordern mehr Staat, weniger Markt, eine verklausu-lierte Verstaatlichung von Netzbetreibern und eine Re-kommunalisierung ohne Risikobewertung. Das könnenwir natürlich aus den folgenden drei Punkten nicht mit-tragen.Der erste Punkt ist: Das Modell „Mehr Staat und we-niger privat“ ist kein Erfolgsmodell.
Ich kenne keine Volkswirtschaft auf der Welt, in der die-ses Modell wirklich zum Erfolg geführt hat. Ich selbsthabe 28 Jahre lang in einer Volkswirtschaft gelebt, in derman sich in der Tat redlich darum bemüht hat. Es hataber nicht zum Erfolg geführt, hat nicht dazu geführt,dass dieses Modell „Staat vor Markt“ gegriffen hat. EineVerstaatlichung ist keine Garantie für Erfolg, ganz imGegenteil.
Rekommunalisierungen müssen immer die Ausnahmebleiben. Sie haben vorhin auf die kommunale Selbstver-waltung abgehoben.
Kommunale Selbstverwaltung heißt aber nicht, dass eineKommunalisierung per se dort erfolgt, wo es in irgendei-ner Art und Weise möglich ist. Deswegen haben wir dasSubsidiaritätsprinzip.
– Lassen Sie mich doch einmal ausreden, dann werdenSie vielleicht klüger. Dann müssen Sie den Antrag nichtein drittes Mal stellen.
Das Subsidiaritätsprinzip besagt eindeutig, dass dieAufgabenverteilung, die Aufgabenerledigung so erfolgt,dass zuerst der Private mit seiner privaten Initiative, mitseiner privaten Eigenverantwortung dran ist. Erst dann,wenn das nicht möglich ist, wenn das nicht greift, ist dieöffentliche Hand an der Reihe.
Die Kommunalverfassungen der Länder lassen eineRekommunalisierung schon jetzt zu. Es gibt nämlich
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Jens Koeppen
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eine schwache und eine starke Subsidiarität. Die schwa-che Subsidiarität besagt, dass Kommunen es genauso gutmachen müssen wie private Unternehmen. Die starkeSubsidiarität besagt, dass es Kommunen besser machenmüssen als private Unternehmen. Das müssen wir be-achten. Wenn Sie dieses System infrage stellen, stellenSie generell die Systemfrage. Das wollen wir Ihnen nichtdurchgehen lassen.
Der zweite Grund dafür, dass dieser Antrag überflüs-sig ist: Stadtwerke haben bereits jetzt die Möglichkeit,Netze zu übernehmen. Wenn Sie sich einmal die Mühemachen würden, zu recherchieren, welche Stadtwerkewelche Netze übernommen haben – das ist übrigens ingroßer Zahl geschehen –, dann würden Sie sehr schnellfündig werden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. In derKreisstadt Prenzlau in der Uckermark gibt es ein Stadt-werk, und es wurden natürlich auch Netze übernommen.
– Das ist falsch, junge Frau. Da sind Sie aber richtig aufdem Holzweg. Seit dem dritten Energiebinnenmarktpa-ket gibt es die Entflechtung zwischen Betrieb und Erzeu-gung; das wird Ihnen ja bekannt sein. Wenn Sie sagen:„Es gibt keine rechtlichen Grundlagen“, muss ich Ihnenantworten: Die rechtliche Grundlage ist das Energiewirt-schaftsgesetz.
Aus Ihrer Sicht muss eine Novelle her, aus unserer Sichtnicht, weil dort alles Notwendige geregelt ist.
Sie sagen: Es muss keine Risikobewertung geben. –Aber im Energiewirtschaftsgesetz ist ganz klar geregelt:Es muss eine Risikobewertung geben, und es gilt dasPrinzip der Subsidiarität. Das heißt, das Stadtwerk musses nachweislich besser machen als ein privater Dritter,und zwar zum Vorteil des Kunden. Wenn diese Voraus-setzung erfüllt ist, kann das Stadtwerk natürlich einenAntrag stellen und das Netz übernehmen.Sie haben auf die Transparenz abgehoben. In der Tatwünscht sich das eine oder andere Stadtwerk bei derÜbernahme, dass es mehr Transparenz gibt und dass dieDaten offengelegt werden: die Kundendaten, die Datenzum Netzbetrieb, zu den Kosten und zu allem, was dazu-gehört. Aber die Gefahr besteht natürlich darin, dass eszu Rosinenpickerei kommt. Denn wenn man alle Datenoffenlegt und sagt: „Das ist ein Netz, das gut läuft“, dannentscheidet man aufseiten des Stadtwerkes vielleicht:Dies wird nicht übernommen; aber das, was gut läuft,wird übernommen. – Das geht natürlich nicht. Hier be-steht also die Gefahr der Rosinenpickerei. Auch aus die-sem Grund müssen wir Ihren Vorschlag ablehnen.
Drittens. Die Netze sind nicht per se eine Cashcow.Einen Goldesel mit Netzen wird es bei einer Übernahmenicht geben. Es besteht die Möglichkeit – das sagen dieStadtwerke, die Netze übernommen haben –, eine zu-sätzliche Säule aufzubauen. Aber das ist keine Garantiefür Gewinn. Man braucht definitiv ein gutes Manage-ment, man braucht unternehmerische Abwägung, undman muss vor allen Dingen mit einem großen Investi-tionsbedarf rechnen. Damit, dass man einfach nur sagt:„Ich übernehme ein Netz, damit ist es gut, und ich ma-che einen großen Gewinn“, ist es nicht getan. Es bestehtdas Risiko eines großen Investitionsbedarfs, eines Inves-titionsbedarfs, der in die Millionen geht. Deswegen musshier genau abgewogen werden.
Außerdem muss man die Versorgungssicherheit ge-währleisten; auch das ist nicht ganz einfach. Man mussvöllig neue Strukturen, Servicebereiche und Abteilungenaufbauen und Mitarbeiter einstellen. Man hat ganz an-dere Fixkosten und Lohnkosten. All das muss abgewo-gen werden. Damit, dass man einfach nur sagt: „Ichübernehme ein Netz“, ist es nicht getan.Auch ein Scheitern ist möglich. Wenn ein Stadtwerkscheitert, dann haben die Verluste Auswirkungen auf dieanderen Aufgaben der Verwaltung, nämlich auf die Auf-wendungen für Kitas, Schulen, Vereine, Musikschulen,Infrastruktur usw. Das alles muss beachtet werden.Mein Fazit im Hinblick auf Ihren Antrag lautet: Stadt-werke sind natürlich keine karitativen Einrichtungen.
Kollege Koeppen, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Lay?
Bitte schön.
Verehrter Herr Kollege Koeppen, ich möchte Sie ers-tens fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dassich nicht die Ansicht vertreten habe, dass sich alle Kom-munen zwingend um eine Neuvergabe bemühen müssen.Zweitens. Sind Sie, wie ich, der Auffassung, dass dieKommunen, wenn sie es wollen – in der Stadt Titisee-Neustadt beispielsweise ist man parteiübergreifend der
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Caren Lay
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Auffassung, dass die Netze in kommunale Hand über-führt werden sollten –, wenigstens nicht durch eine un-geklärte Rechtslage auf Bundesebene behindert werdensollten? Das Stichwort „Energiewirtschaftsgesetz“ ha-ben Sie genannt, den Leitfaden der beiden Bundesbehör-den habe ich erwähnt. Durch diese Regelungen wird einerechtssichere Übernahme offenbar behindert. Sonstwürde es nicht so viele Urteile geben, die zur Folge ha-ben, dass eine Rekommunalisierung rückabgewickeltwerden muss. Insofern frage ich mich, ehrlich gesagt, obSie diese Position verstanden haben und ob Sie mir zu-stimmen, dass schnellstmöglich eine Novelle zum Ener-giewirtschaftsgesetz kommen muss.
Ich habe die Position natürlich verstanden; aber ichkann ihr nicht zustimmen.
Ich habe Ihnen doch gesagt: Es gibt viele Stadtwerke,die Netze übernommen haben. Sie müssen sich einmaldie Mühe machen, zu recherchieren, wie viel Netze– auch erfolgreich – übernommen wurden. Natürlichgibt es hier und da Klagen; da müssen Sie schauen, wa-rum geklagt wird. Aber wenn Stadtwerke aus welchenGründen auch immer ein Netz nicht übernehmen können– das wird vielleicht eine Handvoll Stadtwerke betreffen,vielleicht auch mehr –, dann können Sie doch nicht dasEnergiewirtschaftsgesetz, das sonst hervorragend funk-tioniert und die Übernahme von Netzen erlaubt,
dafür verantwortlich machen, dass es in dem betreffen-den Fall nicht läuft. Das funktioniert so nicht. Deswegenkann ich Ihre Auffassung nicht teilen.Ich bin auch nicht der Meinung, dass es generell eineRekommunalisierungswelle geben muss. Warum auch?Es ist doch nicht so, dass ein privater Netzbetreiber perse schlechter arbeitet als Stadtwerke – wo steht denn dasgeschrieben? Ich habe doch vorhin gesagt, was alles be-achtet werden muss. Deswegen muss man alles genauabwägen und darf eine Rekommunalisierung nur durch-führen, nachdem wirklich das gesamte Risiko bewertetwurde.Stadtwerke sind auch nicht prinzipiell und per se –auch wenn das immer so dargestellt wird; Sie haben jaaufgezählt, was da alles Tolles entstehen kann – karita-tive Unternehmen,
sie sind keine Eier legenden Wollmilchsäue, sie dürfenauch keinen riesigen Bauchladen vor sich her tragen,sondern Stadtwerke sind im Prinzip für die Daseinsvor-sorge da.
Wenn ich beobachte, was in den Stadtwerken teilweisepassiert, drängt sich mir der Eindruck auf: Das hat etwasmit der Daseinsberechtigung zu tun: Viele Leute werdenin die Verwaltung eingestellt; man übernimmt die Müll-versorgung, den Rettungsdienst, die Spaßbäder, die Ki-nos, die Friseurläden, macht Catering. Das ist nicht dieAufgabe der Stadtwerke!
– Da kann ich Ihnen sehr viele Stadtwerke benennen,insbesondere im Bundesland Brandenburg, wo so etwasimmer wieder gemacht wird.
Das mit einem solchen Bauchladen muss auch nicht im-mer gutgehen. Deswegen sage ich Ihnen ganz deutlich,dass unter dem Deckmantel der Rekommunalisierungeine Verstaatlichung der Netze und eine Enteignung derNetzbetreiber nicht stattfinden darf und auch nicht statt-finden wird; da sind wir davor!
Damit es nicht zu einem dritten Antrag kommenmuss, mache ich Ihnen einen Vorschlag: Am 20. März– entweder Sie fahren selbst hin oder schicken Ihre Re-ferenten – findet in Düsseldorf ein Praxisseminar vomBehörden Spiegel – also frei jeglicher Lobbyistendiskus-sion – zur Vergabe von Strom- und Gaskonzessionenstatt.
Da wird unter anderem beraten: Was für rechtliche Be-dingungen gibt es? Sind die notwendig?
Reichen die aus? – Mir wurde gesagt: Das jetzige Gesetzist völlig ausreichend.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei diesem Seminar.
Ihnen allen ein schönes Wochenende.
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Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Koeppen, ich habe gedacht, am Freitagnachmittaghaben wir hier einen Punkt, wo man vielleicht mal einegemeinsame große Linie findet. Den Vortrag von Ihnen,den ich gerade gehört habe, werde ich allen CDU-Bür-germeistern, die ich kenne, empfehlen,
dass die mal lesen, was Sie hier erzählen. Das hat erstensmit der Sache überhaupt nichts zu tun und zweitens auchnichts mit den Debatten in den Kommunen, wo es umdie Frage geht: Was machen wir, wenn ein Konzessions-vertrag ausläuft? – Da kann ich Ihnen eines sagen: Siehaben im Jahr 2011 ein Energiewirtschaftsgesetz verab-schiedet, in dessen § 46 – darum geht es, das ist derPunkt an der Stelle – geregelt ist, dass die Kommune dasWegerecht, das sie besitzt, nutzen kann, indem sie dasNetz selber betreibt oder jemand anders damit beauftra-gen kann, ein anderes Stadtwerk oder, von mir aus, aucheinen Energiekonzern.
Das ist verfassungsrechtlich verankert. Uns geht es da-rum, dass die Kommune selber frei entscheiden kann,was sie tun will: Will sie ein eigenes Stadtwerk gründen– was wir als Grüne immer wieder unterstützen würden;das soll sie tun! – oder wechselt sie den Energiekon-zern? – Das geht aber im Moment nicht. Sie haben näm-lich 2011 das Gesetz so geändert, so verunklart, dass beijedem Fall, wo ein Energiekonzern heute der Netzbetrei-ber ist und die Kommune sich entscheidet, einen anderenNetzbetreiber zu beauftragen oder die Netze selber in dieHand zu nehmen, das Ganze vor Gericht landet. Ichkenne keinen einzigen Fall in Deutschland – keinen ein-zigen Fall –, wo das aufgrund Ihrer schwarz-gelben No-velle ohne Gerichtsprozesse gelaufen ist.
Das führt im Ergebnis dazu, dass es eine totaleRechtsunsicherheit gibt.
Dass Sie das selber erkannt haben, kann ich ja Ihrem Ko-alitionsvertrag entnehmen; denn darin steht ja, dass dieRechtsunsicherheit beim Übergang der Netze beseitigtwerden soll.
Also: Gibt es nun ein Problem, oder haben Sie einen Ko-alitionsvertrag unterschrieben, den Sie überhaupt nichtverstanden haben?Ich sage Ihnen ehrlich eines: Wir haben Sie 2011, zu-sammen mit den Kollegen von den Sozialdemokratenund den Linken, nach vielen Sachverständigenanhörun-gen – das war die Debatte um den Atomausstieg und dieEnergiegesetze, die dann nachfolgten – darauf hingewie-sen: So geht das nicht. – Sie haben keine Regelung dazugeschaffen: Wie ist der Kaufpreis? Wenn ein Netz über-geht, was muss der zahlen, der das Netz vom anderenübernimmt? – Das ist völlig unklar.Sie haben keine Kriterien festgelegt, sondern habensich allgemein auf § 1 des Energiewirtschaftsgesetzesbezogen. Da stehen widersprüchliche Aussagen dazu,was ein Energienetz erbringen soll. Das führt zu Rechts-unsicherheit. Am Ende ist an jeder Stelle geklagt wor-den.Das ist Ihnen gesagt worden. Das haben Ihnen alleSachverständigen gesagt. Das hat Ihnen damals die Op-position gesagt. Das ist in den Protokollen alles nachzu-lesen. Und es ist genau so eingetreten. Sie können zumBehörden Spiegel gehen, zu anderen Veranstaltungen– die gibt es im Dutzend in diesem Land –, und da wer-den Sie überall die gleiche Antwort bekommen: So, wiees jetzt ist, ist es völlig untragbar, weil es ein Beschäfti-gungsprogramm ist für Gerichte, für Berater und für An-wälte. Daran haben manche vielleicht Spaß, weil sie da-mit Geld verdienen. Aber den Kommunen nutzt esnichts. Die können nicht frei entscheiden, was sie mit ih-rem Netz machen wollen, ob sie die Energieversorgung,das Netz in die eigene Hand nehmen oder ob sie einenDritten beauftragen wollen.Jetzt habe ich die Hoffnung an die Kollegen der SPD– wir haben hier in der letzten Wahlperiode sogar ge-meinsame Gesetzesinitiativen vorgelegt –, dass an derStelle jetzt auch umgesetzt wird, was im Koalitionsver-trag steht. Aber nachdem ich den Vortrag vom KollegenKoeppen gehört habe, scheint das ja noch eine größereÜberzeugungsaufgabe zu werden. Wir werden Sie danicht aus der Verantwortung entlassen. Auch an derStelle müssen Sie liefern, was Sie in der letzten Wahl-periode versprochen haben. Das werden Ihnen auch diekommunalen Spitzenverbände sagen, die unisono mei-nen: So, wie es jetzt ist, muss sich das an der Stelle än-dern.Ich sage Ihnen auch noch: Ich glaube, dass die Rege-lung damals in § 46 nicht nur miese Gesetzgebung war;es war nicht einfach nur schlecht, es war mit Absichtschlecht. Denn Sie verfolgten ein ganz bestimmtes Ziel.Da war der Ausstieg aus der Atomkraft; es gingen denEnergiekonzernen Geschäftsfelder verloren. Da habenSie ganz bewusst gesagt: Wir machen ein schlechtes Ge-setz, das Rechtsunsicherheit schafft, weil das nämlichdazu führt, dass dann, wenn Gemeinderäte, Bürgermeis-ter sagen: „Wir wollen einen anderen Netzbetreiber, wir
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7967
Oliver Krischer
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wollen weg von dem Energiekonzern, der das Netz heutebetreibt“, sie sich vor Ort rechtfertigen müssen, ob siejahrelange Gerichtsauseinandersetzungen eingehen wol-len, ob sie sich mit der Rechtsabteilung eines Konzernsauseinandersetzen wollen. Viele tun das nicht – das giltgerade für kleine Gemeinden im ländlichen Raum; ebenwurden hier auch Namen genannt; ich könnte da Dut-zende Beispiele aus Nordrhein-Westfalen aufzählen –,weil sie das einfach nicht verantworten können. Sie kön-nen diese Auseinandersetzung nicht auf sich nehmen.Ich sage Ihnen: Sie haben das mit voller Absicht ge-macht. Nachdem ich Ihre Rede heute gehört habe, kannich daraus nur den Schluss ziehen: Sie wollen das genauso weitertreiben. Sie wollen eben nicht zulassen, dasseine Kommune frei über ihr Strom- und Gasnetz ent-scheiden kann. Sie wollen es bei der Rechtsunsicherheitbelassen, damit das Netz am Ende bei einem der von Ih-nen offensichtlich immer noch geliebten Energiekon-zerne bleibt und nicht die Kommune die Handlungsmög-lichkeiten hat. Da haben wir einen völlig anderenAnsatz.
Wir wollen, dass die Kommunen frei entscheiden kön-nen, wie sie ihre Netze betreiben wollen, ob sie es selbermachen oder ob sie ein anderes Stadtwerk damit beauf-tragen oder ob sie sich am Ende für den Verbleib bei ei-nem Energiekonzern entscheiden. Das sollen die dannselber wissen. Aber dazu muss das Energiewirtschafts-gesetz in § 46 geändert werden.
Kollege Krischer, achten Sie bitte auf die Zeit.
Wenn Sie den Antrag der Linken ablehnen, werden
wir in nächster Zeit noch einmal eine konkrete Gesetzes-
initiative im Rahmen einer EEG-Novelle einbringen.
Dann haben Sie die Debatte wieder. Das wird Ihnen
nicht verloren gehen.
Ich danke Ihnen.
Der Kollege Johann Saathoff hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren von den Linken,ich freue mich, dass wir heute darüber sprechen, wie wirdie Kommunen bei der Vergabe von Netzkonzessionenunterstützen können. Bevor ich Bundestagsabgeordne-ter wurde, war ich nämlich nicht nur Bürgermeister einerGemeinde in Ostfriesland, sondern auch Geschäftsführereiner Gesellschaft, die die Energienetze rekommunali-sieren sollte, als der Konzessionsvertrag nach zwölf Jah-ren auslief. Deshalb kann ich Ihnen sagen: Die Entschei-dung für die Übernahme der Energienetze darf man sichauf keinen Fall leicht machen.Die Sympathie der Räte für die Rekommunalisierungder Energienetze wächst. Mit der Übernahme des Netz-betriebes durch Kommunen verbinden sich viele Hoff-nungen – manchmal sogar die letzte Hoffnung. Mit Ih-rem Antrag springen Sie genau auf dieses Pferd.Man darf eine solch weitreichende Entscheidung aberkeinesfalls übereilt treffen.
Im schlimmsten Fall kommen auf die Kommune finan-zielle Lasten zu, die sie jahrelang handlungsunfähig ma-chen.Aus meinen Erfahrungen kann ich berichten, dass einAusschreibungsverfahren auch Vorteile haben kann: DieGemeinde muss sich erst einmal ausführlich mit demNetz beschäftigen
und entsprechende Netzdaten erheben. Erst dann erfährtdie Gemeinde, wie viele Meter Leitung auf einen Ab-nehmer kommen, welche Kosten für den Netzbetriebund die Instandhaltung entstehen,
und natürlich auch, was bei welchem Risiko verdientwerden kann.Um die Position der Kommune zu stärken, wollen wirin der Koalition dafür sorgen, dass die Altkonzessionäreihrer Pflicht zur Datenübermittlung an die Gemeindenauch nachkommen.
Durch mehr Transparenz fällt es den Kommunen leich-ter, in den Verhandlungen mit dem Netzbetreiber ein fürsie positives Ergebnis zu erzielen, und das ist unser Ziel.
In diesem Fall gibt es auch kein Schwarz-Weiß. Siestellen es in Ihrem Antrag so dar, als würde immer eingroßer Energiekonzern – ein Privater, wie Sie ihn nen-nen – gegen die kleine Gemeinde stehen. Tatsächlichgibt es aber eine ganze Reihe von Kooperationsmöglich-keiten, durch die die Gemeinde Teil einer Netzbetriebs-gesellschaft wird, ihre Ziele verfolgen und zusätzlich ei-nen größeren finanziellen Nutzen aus dem Netzbetriebziehen kann als vorher.Das Geschäftsmodell der Rekommunalisierung be-steht schließlich einzig und allein aus der Zinstransfor-
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Johann Saathoff
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mation. Es gibt für von der Bundesnetzagentur akzep-tierte Investitionen im Netz 9,05 Prozent Verzinsung.Geld auf dem Kapitalmarkt bekommt man bekanntlichwesentlich günstiger. Außerdem können die kommuna-len Belange auch heute schon in den Ausschreibungenberücksichtigt werden. Die vielen neuen Stadtwerke ha-ben sich in den letzten Jahren ja trotz der aktuellenRechtslage gegründet.Bei der Gewichtung von Ausschreibungskriteriensehe ich noch deutlich mehr Spielraum als bei der In-house-Vergabe an Eigenbetriebe. Wie schon mehrfachgesagt, haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, dasswir in diesem Bereich etwas tun werden.Beim Bewertungsverfahren sehe ich auch einen drin-genden Handlungsbedarf – gerade im Fall einer Rekom-munalisierung. Egal ob die Kommune einen viel zu ho-hen Betrag an den Altkonzessionär zahlen muss oder obdieser sie wegen eines vermeintlich viel zu niedrigen Be-trages verklagt: Beide Fälle bedeuten für die Städte undGemeinden ein enormes finanzielles Risiko, und vondiesem Damoklesschwert wollen wir sie befreien.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie sich ganz be-wusst sind, was Ihr Antrag in der Praxis bedeuten kann.Ich will hier einmal aus meinen Erfahrungen berichten:Die Rekommunalisierung zu erleichtern, kann nämlichauch bedeuten, dass man die Privatisierung der Netze er-leichtert.Um die Netze übernehmen zu können, benötigen dieallermeisten Kommunen Partner, und zwar auf zweiEbenen: Zum einen macht es Sinn, Kommunalverbündezu gründen, um eine gewisse Mindestgröße zu haben,damit man Marktmacht hat und bei der Auftragsvergabeangemessen auftreten kann. Zum anderen benötigen dieKommunen aber auch ausreichend Eigenkapital für denKauf und vor allen Dingen für die Finanzierung derNetze.
Das besorgen sich die in der Regel klammen Kommu-nen, indem sie sogenannte strategische Partner mit in dieNetzgesellschaft aufnehmen, und das ist natürlich einPartner aus der Privatwirtschaft.
Kollege Saathoff, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Krischer?
Aber selbstverständlich, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Saathoff, ich verstehe, ehrlich gesagt,
Ihren Vortrag nicht ganz.
Das kann ich nachvollziehen.
Sie reden hier darüber, was der Rat einer Gemeinde,
einer Stadt diskutieren muss, wenn der Konzessionsver-
trag ausläuft. Dieser wird dann entweder verlängert, oder
er wählt einen neuen Konzessionsnehmer. Dabei muss er
sich all diese Fragen stellen: Habe ich das technische
Know-how? Kann ich das selber machen? Habe ich das
Kapital? Will ich das überhaupt? Gehe ich das Risiko
ein? – Das alles ist richtig.
Das ist hier aber gar nicht unser Punkt; darum geht es
hier gar nicht. Es geht allein um die Frage: Wollen Sie
den Kommunen die Möglichkeit eröffnen, wie es eigent-
lich im Energiewirtschaftsgesetz angelegt und verankert
ist, selbst frei zu entscheiden, indem Sie die rechtlichen
Hürden und die Rechtsunklarheit, die 2011 durch die
letzte große EnWG-Novelle hervorgerufen wurden und
Übertragungen unmöglich machen, beseitigen, oder wol-
len Sie im Grunde genommen alles so lassen, wie es ist?
Herr Kollege Krischer, als erste Nachfrage zu einermeiner Reden hätte ich mir schon eine etwas intelligen-tere Frage gewünscht.
Ich sage Ihnen auch, warum. Ich habe deutlich gemacht,dass es bestimmte Bereiche gibt, in denen wir Hand-lungsbedarf sehen, zum Beispiel bei der Frage der Be-wertung der Netze: Nach welchen Verfahren bewertenwir die Netze? Wie müssen die Preise ermittelt werden?Das können Sie aus meiner Sicht durchaus bemängelnund sagen: Da besteht für die Kommunen eine Rechtsun-sicherheit. Da muss Abhilfe geschaffen werden. – Dashabe ich gerade vorgetragen.Als Sie mich mit Ihrer Frage unterbrochen haben,ging es darum: Was passiert eigentlich, wenn man nichtausreichend über das, was man vorhat, nachdenkt unddie Rahmenbedingungen nicht ausreichend berücksich-tigt?
Ein Beispiel aus der Praxis möchte ich Ihnen gerne mit-geben, damit Sie sehen, dass es nicht automatisch richtigist, Netze zu privatisieren.
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Johann Saathoff
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Das kann durchaus richtig sein, aber es muss nicht auto-matisch richtig sein; das sage ich Ihnen noch einmal inaller Deutlichkeit.Wir von der SPD-Fraktion sind natürlich dafür, dassdie Kommunen bei der Beantwortung der Frage: „Wol-len wir die Netze selber betreiben, oder soll das eineNetzgesellschaft machen?“ freier sind als bisher.
Die noch bestehenden Beschränkungen wollen wir auf-heben. Ich habe Ihnen von dem Bewertungsergebnis be-richtet.
Aber auf der anderen Seite muss diese Entscheidung gutabgewogen werden, man muss schon ganz genau nach-denken. Von daher ist es richtig, Zeit zu haben, sich mitdem bisherigen Energieversorger auseinanderzusetzenund sich über die Übertragung Gedanken zu machen.
Jetzt berichte ich über meine Erfahrungen, warum Re-kommunalisierung – Herr Krischer, es wäre schön, wennSie dann nicht auf Ihr Handy guckten – auch eine Priva-tisierung bedeuten kann.
Um die Netze übernehmen zu können, benötigen die al-lermeisten Kommunen auf zwei Ebenen Partner. Zum ei-nen sind das die Kommunalverbünde; das habe ich ge-rade gesagt. Zum anderen brauchen die Kommunen fürdie Finanzierung der Netze Eigenkapital. Das machensie in dem Fall so, dass sie sich einen strategischen Part-ner besorgen. Das heißt, sie suchen sich einen Partneraus der Privatwirtschaft.Dieser Partner will in der Regel um die 50 Prozent ha-ben. Manche sagen: 49 Prozent reichen mir. – Es gibtaber auch welche, die sagen: Es ist mir wichtig, 51 Pro-zent zu haben. – Das heißt, dieser Partner aus der Privat-wirtschaft liefert das Eigenkapital und hat damit die Si-cherheit, dass 50 Prozent dessen, was am Netz verdientwerden kann, in die private Hand geht.Im Fall Ostfriesland sah die Situation so aus, dass derAltkonzessionär ein Unternehmen im Besitz der Land-kreise war. Durch die Rekommunalisierung wären dieNetze auch in die Hände eines Privatunternehmens ge-langt, wären also zu 50 Prozent in den Händen einerKommune, aber eben auch zu 50 Prozent in den Händeneines Privatunternehmens. Damit liegt eher eine Privati-sierung als eine Kommunalisierung vor. Was das für Ar-beitsplätze usw. bedeutet hätte, brauche ich hier nichtvorzustellen. Es hat gutgetan, sich die Angelegenheit imVerfahren mehr als einmal durch den Kopf gehen zu las-sen und mit dem privaten Versorger eine Lösung zu fin-den, damit das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttetwird.„Sacht loopen kummt van sülmst“ bedeutet, dass manmit einiger Erfahrung eher gründlicher als zügiger wird.In diesem Fall ist das auch gut so. Daher wollen wir denKommunen durch die Vergaberegeln Gelegenheit geben,sich ausreichend Gedanken vor der endgültigen Ent-scheidung zu machen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Karl Holmeier.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Mit dem Antrag der Fraktion Die Linke soll die Über-nahme der Energienetze durch Stadtwerke erleichtertwerden. Wieder einmal suggeriert die Linke den Men-schen, dass sie der Bundesregierung die politischen The-men diktiert. Genau das Gegenteil ist der Fall.
Wir bestimmen den Weg, und Sie laufen uns hinterher.
Das Thema der Rekommunalisierung beschäftigt unsschon seit vielen Jahren. Es wurde bereits gesagt, dass esabsehbar ist, dass in der nächsten Zeit viele Netzkonzes-sionen auslaufen, die vor 20 Jahren vergeben wurden.Wir haben das Thema daher in unserem Koalitionsver-trag aufgegriffen. Es heißt dort – das wurde schon ein-mal angesprochen –:Wir werden das Bewertungsverfahren bei Neuver-gabe der Ver-teilernetze eindeutig und rechtssicher regeln sowiedie Rechtssicherheit im Netzübergang verbessern.
So steht es in unserem Koalitionsvertrag. Aus diesemGrund arbeitet die Bundesregierung aktuell an einementsprechenden Gesetzentwurf zur Novellierung desEnergiewirtschaftsgesetzes.Sie fordern in Ihrem Antrag, die Energienetze wiederin die Hände der Kommunen zu geben, Stichwort„Rekommunalisierung“. Als langjähriger Bürgermeisterkann ich Ihnen umfassend über die Stärken der Kommu-nen berichten. Die Kommunen nutzen nämlich die Mög-
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Karl Holmeier
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lichkeiten, die sich ihnen bieten. Ich habe zum Beispielin meiner Gemeinde ein eigenes kommunales Breitband-netz aufgebaut. Das war eine richtige Entscheidung.Sehr verehrte Damen und Herren, ich traue unserenKommunen sehr viel zu und kann jede Kommune nurbeglückwünschen, wenn sie den Wettbewerb mit ande-ren Marktteilnehmern sucht und sich dem auch stellt.Kommunen übernehmen zum Teil auch eine tragendeRolle in der Energieerzeugung. In meiner Heimat betrei-ben viele Kommunen Hackschnitzelkraftwerke und Bio-massekraftwerke, alle mit großem Erfolg. Es kann daherfür alle Beteiligten nur von Vorteil sein, wenn sich Kom-munen zum Beispiel auf der Ebene von Zweckverbän-den zusammenschließen und über das Thema diskutierenund wenn Möglichkeiten geschaffen werden, selbst einStromnetz zu betreiben.
Aus meiner Sicht machen energiewirtschaftliche Tä-tigkeiten von Kommunen aber nur dann Sinn, wenn sietatsächlich geeignet sind, Marktstrukturen zu verbessern.Das muss geprüft werden. Eine Rekommunalisierungum jeden Preis darf es nicht geben. Rekommunalisie-rung darf keine Flucht in öffentlich-rechtliche Rechtsfor-men sein, um die Kartellaufsicht zu unterlaufen und vonden Bürgern höhere Gebühren einzufordern.Eine Kommune muss wirtschaftlich arbeiten. Daherkommt eine Konzessionsübernahme für mich nur in Be-tracht, wenn sie tatsächlich wirtschaftlich ist und nichtzulasten der Effizienz geht. Eine Zersplitterung derNetze muss verhindert werden. Je kleinteiliger die Netzesind, desto höher ist der Regulierungsaufwand. Ein ho-her Regulierungsaufwand birgt die Gefahr von Kosten-steigerungen. Diese werden am Ende beim Endverbrau-cher abgeladen. Auch dazu darf es nicht kommen.Es gibt also eine Menge zu beachten, wenn wir dieRahmenbedingungen gesetzgeberisch neu auf den Wegbringen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass uns die Bun-desregierung bald einen ausgewogenen Regelungsent-wurf vorlegen wird.Was ich ablehne, ist die von den Linken geforderte In-house-Vergabe der Netze an kommunale Unternehmen.
Die Übernahme eines bisher privatwirtschaftlich betrie-benen Energienetzes durch die Kommune selbst würdeerhebliche europarechtliche Probleme aufwerfen. Siekönnte der EU-Kommission den Anlass bieten, die gel-tende sogenannte De-minimis-Regelung in der EU-Ener-giebinnenmarktrichtlinie grundsätzlich infrage zu stel-len.Meine Damen und Herren, die De-minimis-Regelungist vor Jahren auf deutschen Wunsch in die EU-Energie-binnenmarktrichtlinie aufgenommen worden. Sie ist fürdie Kommunen, die Stadtwerke haben, von ganz großerBedeutung. Durch die Sonderregelung werden die über-wiegend kleineren und mittleren Stadtwerke im Gegen-satz zu den großen Energieversorgungsunternehmen voneiner Reihe aufwendiger Pflichten, zum Beispiel derGründung einer separaten Netzgesellschaft, befreit.Es muss also sehr wohl abgewogen werden, welchenWeg wir in dieser Sache einschlagen wollen. Ich freuemich daher schon jetzt auf den Gesetzentwurf der Bun-desregierung und auf die inhaltliche Diskussion imDeutschen Bundestag und wünsche Ihnen allen ein schö-nes Wochenende.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Florian Post
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Ich hätte nie erwartet, dass am Freitag-nachmittag zu diesem Punkt so eine doch aufgeheizteDebatte stattfindet.
Aber es geht um ein wichtiges Thema. Denn das sonstvielleicht langweilig erscheinende Thema Konzessions-vergabe rückt in der ganzen Energiewendedebatte undauch in der Diskussion um die Rekommunalisierung im-mer mehr in den Blickpunkt.Seit 2007 haben über 80 Kommunen eigene Stadt-werke neu gegründet und 200 Gemeinden selbst Konzes-sionen für Stromnetze übernommen. Dazu zählen Groß-städte wie Stuttgart, Dresden und Hamburg, aber auchkleinere Kommunen wie Putzbrunn in Bayern mit 6 300Einwohnern. Allein in Bayern laufen bis 2017 mehr als200 Konzessionsverträge aus. Wir sagen deutlich, dassKommunen ebenso für eine preiswerte, sichere und effi-ziente Stromversorgung sorgen müssen wie ein privaterMitbewerber.Der Kollege Holmeier hat schon aus dem Koalitions-vertrag zitiert. Ich hoffe, dass dieser Punkt im Koali-tionsvertrag nach wie vor Gültigkeit hat. Da steht ein-deutig, dass wir die rechtlichen Rahmenbedingungen derNetzübergabe konkretisieren, damit es keine Rechtsunsi-cherheit für die Kommunen gibt. Insofern kommen wirIhrer Forderung, Frau Kollegin Lay, nach. Sie haben janichts anderes gefordert, als hier Rechtssicherheit herzu-stellen.
Der Koalitionsvertrag – zum Nachlesen: Seite 59 –, istda sehr eindeutig.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7971
Florian Post
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Wir werden noch in diesem Jahr das Gesetzesvorhabenauf den Weg bringen
und es mit Ihnen zusammen, Herr Krischer, verabschie-den; ich freue mich schon auf die Diskussionen im Wirt-schaftsausschuss. Dann werden wir auch klarstellen,dass die kommunalen Betriebe bzw. die Kommunenschon jetzt Vorteile bei der Vergabe von Konzessionenhaben, beispielsweise durch die Gewichtung der in § 1des Energiewirtschaftsgesetzes definierten Kriterien derVersorgung, nämlich möglichst sicher, preisgünstig, ver-braucherfreundlich, effizient und umweltverträglich.Es kann nicht sein – auch das wurde schon richtig be-merkt –, dass private Konkurrenten oder auch Kommu-nen mit zu hoch angesetzten Kaufpreisen, überzogenenEntflechtungskosten und damit verbundenen jahrelangenRechtsstreitigkeiten solche Verfahren und Prozesse indie Länge ziehen. Diesem ungerechten Abschreckungs-verhalten werden wir mit rechtlichen Klarstellungen undInformationspflichten entgegentreten. Es ist für unswichtig, dass ein gesunder, offener und diskriminie-rungsfreier Wettbewerb zwischen Kommunen und priva-ten Betreibern herrscht und dass die Bürgerinnen undBürger einen optimalen Netzbetrieb in Städten und Ge-meinden erhalten.Einen Blankoscheck für Kommunen, der darin be-stünde, einem kommunalen Unternehmen grundsätzlichden Vorrang zu geben, lehne ich allerdings ab. Wenn einkommunales Unternehmen in das Bieterverfahren ein-tritt, muss das kommunale Unternehmen selbstverständ-lich mindestens genauso gut wie der private Anbietersein, um den Zuschlag erhalten zu können. Denn derkommunale Betrieb ist kein Selbstzweck, sondern mussimmer dem Wohle der Bürger dienen und sich an objek-tiven Kriterien messen lassen.Wir wollen einen gesunden, offenen und diskriminie-rungsfreien Wettbewerb herstellen, der keine Gräbenzwischen öffentlicher und privater Wirtschaft schafft.Durch Wettbewerb und oft auch durch Kooperationenkönnen wir die Effizienzpotenziale der freien Wirtschaftnutzen und sie mit gemeinwohlorientierten kommunalenZielen wie Verbraucher- und Umweltschutz verbinden.Eine Stadt oder Gemeinde, für die eine diskriminie-rungsfreie Ausschreibung mit selbstgewählter Gewich-tung der Versorgungsziele und kommunalem Eigeninter-esse als Nebenziel allerdings eine zu hohe Hürde für denneu zu gründenden Netzbetreiber darstellt, ist dann viel-leicht nicht unbedingt der beste Akteur, um das Netz zubetreiben. Das muss man natürlich einsehen.Die energiepolitische Kernfrage nach dem richtigenBetreiber eines Stromnetzes hat viele verschiedene rich-tige Antworten. Für die optimale Lösung ist es wichtig,dass wir die rechtlichen Rahmenbedingungen, wie imKoalitionsvertrag eindeutig festgelegt, konkretisierenund den Kommunen hier Rechtssicherheit geben.Ich bin mir sicher, dass wir hier in der Koalition, aberauch in der AG Wirtschaft und Energie und im Aus-schuss gut zusammenarbeiten werden; denn es ist einwichtiges Thema, das sich nicht für Parteiengezänk eig-net.
Ich muss zugeben – das fällt mir schwer –: Der KollegeKrischer hat schon viel Richtiges zu diesem Thema ge-sagt.
Das möchte ich ausdrücklich loben.
Ich bin mir sicher, dass wir hier eine intelligente und zu-kunftsfähige Lösung im Sinne der kommunalen Daseins-vorsorge finden.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3745 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 4. Februar 2015, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute.