Protokoll:
18083

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 83

  • date_rangeDatum: 30. Januar 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:39 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/83 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 83. Sitzung Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr (Bundeswehr-Attraktivi- tätssteigerungsgesetz – BwAttraktStG) Drucksache 18/3697 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7895 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei- digungsausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, Doris Wagner, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Mehr Gerechtigkeit bei der Entschä- digung von Einsatzunfällen Drucksachen 18/2874, 18/3126 . . . . . . . . . . . 7895 B Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7895 C Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7897 D Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7899 B Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7901 A Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7802 C Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 7904 A Dr. Fritz Felgentreu (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 7905 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7907 C Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7908 D Thomas Hitschler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7910 C Julia Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7912 B Oswin Veith (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 7913 A Tagesordnungspunkt 17: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungs- positionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst Drucksache 18/3784 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7914 B b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Zweiter Erfahrungsbericht der Bundes- regierung zum Bundesgleichstellungs- gesetz (Berichtszeitraum 1. Juli 2004 bis 30. Juni 2009) Drucksache 17/4307 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7914 B c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fünfter Gremienbericht der Bundes- regierung zum Bundesgremienbeset- zungsgesetz (Berichtszeitraum: 30. Juni 2005 bis 30. Juni 2009) Drucksache 17/4308 (neu) . . . . . . . . . . . . 7914 C Manuela Schwesig, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7914 D Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 7916 C Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 7917 D Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7920 B Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7921 D Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7923 C Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 7924 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7925 D Gudrun Zollner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7927 A Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7928 C Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7929 D Christina Jantz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7931 C Oswin Veith (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 7932 C Metin Hakverdi (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7933 C Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Hans-Christian Ströbele, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bericht über das Inhaftierungs- und Verhörprogramm der CIA vollständig und ungeschwärzt übermitteln Drucksache 18/3558 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7934 B Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7934 B Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 7935 D Dr. André Hahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 7937 A Angelika Glöckner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 7938 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7938 C Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7940 B Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7940 D Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7942 B Tagesordnungspunkt 19: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Personalausweisgesetzes zur Einfüh- rung eines Ersatz-Personalausweises und zur Änderung des Passgesetzes Drucksache 18/3831 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7943 B Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7943 C Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7944 C Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7945 D Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7947 A Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7948 B Uli Grötsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7949 C Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 7950 D Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7951 A Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7952 A Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7953 A Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 7953 B Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Marcus Weinberg (Hamburg), Christina Schwarzer, Ursula Groden-Kranich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Sönke Rix, Susann Rüthrich, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch sicherstellen Drucksache 18/3833 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7953 C Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 7953 D Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . . 7955 A Susann Rüthrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7956 A Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7957 A Christina Schwarzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 7958 B Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7959 C Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7960 C Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7960 D Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin Kassner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Übernahme der Energienetze durch Stadt- werke erleichtern Drucksache 18/3745 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7961 D Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 7962 A Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7963 B Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 7964 D Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7966 A Johann Saathoff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7967 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 III Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7968 C Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7969 C Florian Post (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7970 C Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7971 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . . 7973 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7973 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7895 (A) (C) (D)(B) 83. Sitzung Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 Beginn: 9.01 Uhr
  • folderAnlagen
    Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 7973 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 30.01.2015 Dr. Brandl, Reinhard CDU/CSU 30.01.2015 Dr. Castellucci, Lars SPD 30.01.2015 Dr. Fabritius, Bernd CDU/CSU 30.01.2015 Gabriel, Sigmar SPD 30.01.2015 Groß, Michael SPD 30.01.2015 Groth, Annette DIE LINKE 30.01.2015 Heiderich, Helmut CDU/CSU 30.01.2015 Dr. Hendricks, Barbara SPD 30.01.2015 Henn, Heidtrud SPD 30.01.2015 Hochbaum, Robert CDU/CSU 30.01.2015 Hübinger, Anette CDU/CSU 30.01.2015 Jelpke, Ulla DIE LINKE 30.01.2015 Jung, Andreas CDU/CSU 30.01.2015 Kaczmarek, Oliver SPD 30.01.2015 Kapschack, Ralf SPD 30.01.2015 Kiesewetter, Roderich CDU/CSU 30.01.2015 Kühn (Tübingen), Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 30.01.2015 Kühn-Mengel, Helga SPD 30.01.2015 Dr. Launert, Silke CDU/CSU 30.01.2015 Lenkert, Ralph DIE LINKE 30.01.2015 Ludwig, Daniela CDU/CSU 30.01.2015 Lühmann, Kirsten SPD 30.01.2015 Möhring, Cornelia DIE LINKE 30.01.2015 Özoğuz, Aydan SPD 30.01.2015 Rawert, Mechthild SPD 30.01.2015 Dr. Scheer, Nina SPD 30.01.2015 Schimke, Jana CDU/CSU 30.01.2015 Schön (St. Wendel), Nadine CDU/CSU 30.01.2015 Schwabe, Frank SPD 30.01.2015 Steinbach, Erika CDU/CSU 30.01.2015 Storjohann, Gero CDU/CSU 30.01.2015 Strothmann, Lena CDU/CSU 30.01.2015 Tank, Azize DIE LINKE 30.01.2015 Timmermann-Fechter, Astrid CDU/CSU 30.01.2015 Weber, Gabi SPD 30.01.2015 Wegner, Kai CDU/CSU 30.01.2015 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 30.01.2015 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Euro- parates vom 1. bis 5. Oktober 2012 Drucksachen 18/3522, 18/3762 Nr. 1.1 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Gutachten zu Forschung, Innovation und technologi- scher Leistungsfähigkeit Deutschlands 2014 Drucksache 18/760 (neu) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bundesbericht Forschung und Innovation 2014 Drucksache 18/1510 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 7974 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2015 (A) (C) (B) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Die neue Hightech-Strategie – Innovationen für Deutschland Drucksache 18/2497 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/3765 Nr. A.1 Ratsdokument 16046/14 Drucksache 18/3765 Nr. A.2 Ratsdokument 16391/14 Verteidigungsausschuss Drucksache 18/419 Nr. A.105 EP P7_TA-PROV(2013)0380 Drucksache 18/419 Nr. A.106 EP P7_TA-PROV(2013)0381 Drucksache 18/419 Nr. A.107 Ratsdokument 12773/13 Drucksache 18/3362 Nr. A.10 Ratsdokument 11620/14 Drucksache 18/3477 Nr. A.3 Ratsdokument 14908/14 Drucksache 18/3618 Nr. A.1 Ratsdokument 15075/14 Drucksache 18/3618 Nr. A.2 Ratsdokument 15193/14 Drucksache 18/3618 Nr. A.3 Ratsdokument 15365/14 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 18/1524 Nr. A.10 Ratsdokument 8925/14 Drucksache 18/1524 Nr. A.11 Ratsdokument 8997/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.51 Ratsdokument 11112/14 (D) Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 83. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 16, ZP 7 Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz TOP 17 Gleichberechtigte Teilhabe an Führungspositionen TOP 18 Aufklärung der Foltervorwürfe gegen die CIA TOP 19 Personalausweisgesetz TOP 20 Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch TOP 21 Rekommunalisierung von Energienetzen Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808300000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Es gibt keine weiteren Verän-
derungen der gestern modifizierten Tagesordnung, so-
dass wir gleich mit dem Tagesordnungspunkt 16 sowie
dem Zusatzpunkt 7 beginnen können:

16 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steige-
rung der Attraktivität des Dienstes in der

(Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz – BwAttraktStG)


Drucksache 18/3697
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, Doris
Wagner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Gerechtigkeit bei der Entschädigung
von Einsatzunfällen

Drucksachen 18/2874, 18/3126

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Also können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Bundesministerin der Verteidigung, Ursula
von der Leyen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und
Herren! Wer heute einen Computer kaufen will, der re-
cherchiert erst einmal im Internet und schaut im Ver-
gleich zu anderen Computern, was er kostet, was er leis-
ten kann, und vor allem, wie andere die Leistung des
Computers bewerten. Das heißt, niemand kauft mehr die
sprichwörtliche Katze im Sack. Genauso ist das heute
auch auf dem Arbeitsmarkt. Wenn man sich irgendwo
bewerben will, geht niemand mehr zum „Arbeitgeber im
Sack“. Vielmehr schauen die jungen Leute ganz genau,
wohin sie gehen und wie vor allem andere das bewerten.

Umfragen zufolge schaut jeder Dritte im Internet, wie
Arbeitgeber bewertet werden, was sie bieten, was sie
können, ob es sich lohnt, sich dort zu bewerben, und wie
andere über den jeweiligen Arbeitgeber sprechen. Wir
haben uns deshalb einmal angeschaut, wie die Bundes-
wehr bei einem Jobzufriedenheitsbarometer abschneidet.
Da stehen dann zum Beispiel als Pros: „Gutes Gehalt
– Gute Ausbildung – Gutes Essen“, und als Kontras: „Zu
kleine Betten – Standortwechsel sehr schwer“. Dieses
kleine Beispiel macht sehr deutlich, wie vollständig sich
der Arbeitsmarkt inzwischen gedreht hat. Die jungen
Menschen stehen nicht mehr Schlange nach offenen
Ausbildungsstellen. Vielmehr sitzen wir, die Bundes-
wehr, buchstäblich mitten im Schaufenster neben vielen
anderen Arbeitgebern und werden ganz kritisch beäugt.

Der Arbeitsmarkt hat sich inzwischen so gedreht, dass
es seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland
noch nie so viele offene Stellen in deutschen Betrieben
gegeben hat. Offene Stellen heißt: Man kann sie nicht
mehr besetzen, weil man keine qualifizierten Bewerbe-
rinnen und Bewerber findet. – Wenn man sich die Be-
rufe, die offene Stellen bieten, anschaut, dann stellt man
fest, dass es sich genau um die Berufsfelder handelt, in
denen auch wir händeringend suchen: Logistik, Technik,
Ingenieur- und Gesundheitswesen.

Schauen wir uns auch einmal an, was die Betriebe den
Bewerbern auf dem Arbeitsmarkt alles anbieten. Die Be-
triebe bieten den Azubis Begrüßungsgeld, Auslandsauf-
enthalte und teilweise schon einen Dienstwagen, um zur





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

Arbeit zu kommen. Arbeitgeber konkurrieren um die
klügsten, um die geschicktesten Schulabgänger, und wir
sind mittendrin und müssen uns dem auch stellen. Wir
haben keine Wehrpflicht mehr. Die Jahrgänge werden
kleiner. Das heißt, wir müssen uns bei einer schrump-
fenden Rekrutierungsbasis gegen eine wachsende Kon-
kurrenz behaupten, und das bei einer veränderten,
schwierigeren sicherheitspolitischen Lage, die wachsende
Herausforderungen an uns stellt.

Meine Damen und Herren, wenn wir eine starke, eine
einsatzfähige, eine flexible Bundeswehr haben wollen,
dann kommen wir gar nicht mehr darum herum, uns um
die Attraktivität der Bundeswehr zu kümmern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vor diesem Lagebild müssen wir uns zentrale Fragen
stellen.

Die erste ist: Sind wir präsent genug bei den jungen
Leuten, die sich potenziell für einen Arbeitgeber ent-
scheiden? Genau hier ist der Anfang der Agenda Attrak-
tivität. Wir sind im letzten Jahr neue Wege gegangen,
wir sind ungewöhnliche Wege gegangen. Wir haben uns
deutlich geöffnet, wir sind in Medien hereingegangen,
die typischerweise nicht über die Vielfalt und die Aus-
prägung der Bundeswehr berichten. Das geht nicht ohne
Schrammen ab. Da gibt es auch schon einmal Hohn und
Spott. Aber die Bundeswehr ist sichtbarer geworden.

Wenn man sich die Liste der Top-100-Arbeitgeber im
IT-Sektor anschaut, dann stellt man fest, dass die Bun-
deswehr zum allerersten Mal in dieser Liste vertreten ist,
und zwar im guten Mittelfeld. Nur damit man weiß, wer
ganz oben ist: Das sind Google, SAP und BMW. Mit de-
nen konkurrieren wir.

Bei Schülerinnen und Schülern ist die Bundeswehr im
letzten Jahr auf Platz 2 der interessantesten und belieb-
testen Arbeitgeber aufgestiegen, bei denen man sich
potenziell bewirbt. Warum sind die Schülerinnen und
Schüler so wichtig? Wir wissen, dass die Jahrgänge
schrumpfen. Bald werden wir 600 000 junge Menschen
in den Jahrgängen der Abschlussklassen haben. Wir
brauchen 60 000 Bewerbungen, um genügend junge
Leute zu rekrutieren, und zwar nicht nur in der Masse,
sondern auch in der Qualität. Das heißt, es ist nötig, dass
sich 10 Prozent eines Jahrgangs potenziell bei uns be-
werben. Kein anderes Unternehmen in Deutschland hat
so hohe Ansprüche.

Konkret zeigt sich, dass wir sichtbarer geworden sind:
Die Bewerberzahlen sind so hoch wie seit Jahren nicht.
Das ist gut. Wir haben rund 11 000 freiwillig Wehr-
dienstleistende. Das ist mit der höchste Stand seit dem
Aussetzen der Wehrpflicht – und das bei einer Erwerbs-
quote, die noch nie so hoch war wie jetzt. Was mich per-
sönlich besonders freut: Noch nie haben sich so viele
junge Frauen bei der Bundeswehr beworben. Das zeigt,
meine Damen und Herren: Wir wagen diese Öffnung,
wir sind andere Wege gegangen, wir haben die Informa-
tionskampagne breit angelegt; und die ist richtig, sie
zahlt sich aus.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die zweite Frage: Holen wir die jungen Menschen,
wenn sie dann zu uns kommen, in ein modernes Arbeits-
umfeld? Meine Antwort ist: Das ist das Ziel, aber es ist
auch ein langer Weg dorthin. Genau dafür haben wir die
Agenda Attraktivität auf den Weg gebracht. Da geht es
um selbstbestimmtes Arbeiten, flexible Dienstzeiten, es
geht natürlich um den Verdienst, um soziale Absiche-
rung, Karriereaussichten, familienfreundliches Klima
usw. usf. In allen diesen Feldern müssen wir besser wer-
den.

Ich will damit sagen: Mit der Agenda und dem Arti-
kelgesetz sind wir gewiss kein Trendsetter in Deutsch-
land, sondern wir gehen jetzt ganz viele Dinge an, die ei-
gentlich woanders schon Selbstverständlichkeiten sind.
Mit dem Artikelgesetz garantieren wir zum Beispiel un-
seren Soldatinnen und Soldaten hier in Deutschland zum
ersten Mal seit Bestehen der Bundeswehr eine geregelte
Dienstzeit im regulären Betrieb. Ich halte das für eine
Selbstverständlichkeit.

Ich bekomme ganz oft zu hören: Ja, aber das ist kein
Beruf wie jeder andere. – Natürlich ist Soldat oder Sol-
datin zu sein kein Beruf wie jeder andere; denn diese
Menschen sind bereit, im Ernstfall im Auslandseinsatz
ihr Leben für Freiheit und Demokratie einzusetzen, weil
die Parlamentsarmee diesen Auftrag bekommen hat. Ist
das denn ein Grund, weil sie mehr einzusetzen bereit
sind als jeder andere und das eben kein Beruf wie jeder
andere ist, sie hier zu Hause schlechter zu behandeln als
andere? Nein, im Gegenteil, wir müssen sie besser be-
handeln, und deshalb ist es jetzt auch allerhöchste Zeit,
aufzuholen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit dem Artikelgesetz erhöhen wir zum ersten Mal
seit der Wiedervereinigung Zulagen für soldatenspezifi-
sche Tätigkeiten. Diese Zulagen sind berechtigt. Ich
spreche von U-Boot-Fahrern, ich spreche von Minentau-
chern, ich spreche von Kampfmittelräumern. Das sind
Menschen, die mit großer Expertise, mit großem Finger-
spitzengefühl einen hochriskanten Job ausüben. Das
muss bezahlt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir verbessern die soziale Absicherung der Soldatin-
nen und Soldaten durch eine verbesserte Nachversiche-
rung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Wir über-
holen da nicht alle anderen; wir holen da gerade einmal
auf.

Auch unterhalb der Gesetzesschwelle modernisieren
wir; Stichworte sind: Onlinebewerbungsmöglichkeiten
– ich habe eben vom Verhalten junger Menschen er-
zählt –, Ausbau der Kinderbetreuung, freie Kommunika-
tion im Einsatz, betriebliches Gesundheitsmanagement.

Meine Damen und Herren, wir tun das nicht, weil wir
Altruisten sind, weil wir Gutmenschen sind, sondern wir
tun das, weil wir unseren Soldatinnen und Soldaten
enorm viel abverlangen. Wir wollen die besten; wir





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

brauchen die besten. Also müssen wir auch die besten
Arbeitsbedingungen bieten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zu den Unterkünften. Ich gebe unserem Wehrbeauf-
tragten recht: Wir haben gute Unterkünfte – gar keine
Frage –; es gibt aber auch Unterkünfte, die einfach ma-
rode sind. Da geht es zunächst einmal um Geld. In den
nächsten drei Jahren investieren wir auf der Grundlage
eines Sofortprogramms 750 Millionen Euro in die Sanie-
rung von Unterkünften. Die ersten Arbeiten konnten in
den letzten Monaten bereits erledigt werden. Als wir die
Analyse der Unterkünfte gemacht haben, haben wir
3 100 Sofortmaßnahmen identifiziert, also Maßnahmen
dort, wo es allerhöchste Zeit ist. Davon sind 800 inzwi-
schen abgeschlossen.

Neben Geld geht es in diesem Zusammenhang auch
um Geschwindigkeit. Alle hier im Raum wissen, wie zäh
und mühsam es bisweilen ist, Geld, das wir haben, auf
die Straße bzw. in die Gebäude zu bringen, sodass ein
Bau oder eine Sanierung tatsächlich beginnen und auch
abgeschlossen werden kann. Das heißt, es geht um die
Verfahren. Wir haben die Verfahren durchforstet. Man
kann nicht alles beschleunigen – das weiß ich auch –;
aber man kann manches beschleunigen.

Wir werden uns jetzt mit den anderen Beteiligten zu-
sammensetzen, nicht nur mit denen auf Bundes-, son-
dern vor allem mit denen auf Landesebene. Ich kann
nämlich nicht verstehen, dass die Dinge so langsam vor-
angehen. Es haben alle etwas davon, wenn es schneller
geht: Es haben nicht nur die Soldatinnen und Soldaten in
ihren Unterkünften etwas davon, wenn dieses Geld jetzt
tatsächlich eingesetzt wird, das heißt, wenn saniert wird,
sondern auch die lokalen Baufirmen und Handwerksun-
ternehmen. Es sollte also im gemeinsamen Interesse von
uns und den Ländern liegen, dass die Verfahren schneller
umgesetzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte unserem Wehrbeauftragten an dieser
Stelle noch einmal ausdrücklich für seine konstruktiven
Hinweise in diesem „Jahr der Wahrheit“, wie er es in sei-
nem Jahresbericht 2014 nannte, danken. Mein Dank gilt
auch dem Vorsitzenden des Deutschen BundeswehrVer-
bandes, Oberstleutnant Wüstner. Denn sein ständiger
kritischer Blick und der seines Verbandes helfen uns,
Schwachstellen offenzulegen. Das ist ein Ansporn, tiefer
zu bohren, Lösungen zu finden und aus der Truppe ganz
viel darüber zu erfahren, wie die Dinge tatsächlich ste-
hen.

Da wir bei den Bruchstellen sind: Natürlich sind nicht
nur die Arbeitsbedingungen wichtig, sondern auch die
Ausstattung ist wichtig. Wir haben im Herbst die
Agenda Rüstung auf den Weg gebracht. Das ist ein
Thema für eine andere Debatte. Ich will dazu nur so viel
sagen: Wir haben erhebliche Probleme, wir haben viele
Schwierigkeiten offengelegt, auch und gerade bei uns.
Dass wir die Ursachen kennen, heißt aber noch lange
nicht, dass alle Fehler der Vergangenheit damit abge-
stellt sind. Vor uns liegt noch eine lange Buckelpiste.
Aber wir wissen, was zu machen ist, wo wir besser wer-
den müssen, und vor allen Dingen, dass wir mit der In-
dustrie mehr Tacheles reden müssen, was Lieferungen
angeht.


(Zuruf von der LINKEN: Bessere Verträge schließen!)


Meine Damen und Herren, ohne moderne Ausrüstung
ist die Bundeswehr weder attraktiv noch einsatzfähig.
Das heißt, es geht bei Attraktivität und Ausrüstung nicht
um ein Entweder-oder, sondern es geht um ein Sowohl-
als-auch, und das wollen wir auf den Weg bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir das Artikelgesetz in Kraft gesetzt haben, ist
die erste wichtige Etappe geschafft. Wir feiern in diesem
Jahr 60 Jahre Bundeswehr. Wenn man einmal zurück-
schaut, dann sieht man, dass es viele Abschnitte mit spe-
zifischen Schwierigkeiten, Herausforderungen und Be-
sonderheiten gab: die Zeit des Aufbaus, den Kalten
Krieg, die Wiedervereinigung, internationale Einsätze
– ich erinnere zum Beispiel an unsere Erfahrungen in
Afghanistan –, die Aussetzung der Wehrpflicht, die Neu-
ausrichtung. In jeder Phase haben wir gelernt; in jeder
Phase sind wir weitergekommen.

Wichtig ist, dass wir, wenn wir jetzt die nächsten
Schritte gehen, uns nicht nur über die ersten zarten
Pflänzchen des Erfolges, wenn ich das einmal so nennen
darf, freuen und die Hände in den Schoß legen, wenn das
Artikelgesetz in Kraft ist. Denn Attraktivität ist keine
Einmalaktion, sondern bedeutet tägliche Arbeit. Wir alle
wissen, dass sich die Attraktivität eines Arbeitsplatzes
auch, aber nicht nur durch Paragrafen und Finanzen stei-
gern lässt; sie muss auch gelebt werden.

Damit will ich sagen: Vor uns liegt kein Sprint, son-
dern vor uns liegt ein ziemlicher Marathon. Dieser Lauf
erfordert Hinsehen, Prüfen, Handeln, Tempo vor allem;
und dafür, meine Damen und Herren, ist insbesondere
auch die Unterstützung des Parlaments wichtig. Ich
konnte mir dieser immer gewiss sein. Ich weiß, dass die
Bundeswehr sich dieser auch in den vergangenen 60 Jah-
ren gewiss sein konnte. Ich bitte um Ihre Unterstützung
auch in diesem Falle.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808300100

Christine Buchholz ist die nächste Rednerin für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808300200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-

desregierung will mit dem vorliegenden Gesetz die At-
traktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber steigern;


(Dr. Karl A. Lamers [CDU/CSU]: Gut erkannt!)






Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)

denn der Dienst ist mehr als unattraktiv, und die Neube-
werberquoten bei der Bundeswehr fallen seit Jahren. Der
Grund dafür liegt aber nicht in erster Linie am Zustand
der Kasernen oder an zu kleinen Betten oder an der
wachsenden Konkurrenz am Arbeitsmarkt; das Kernpro-
blem liegt in der ganzen Ausrichtung der Truppe.


(Beifall bei der LINKEN – Rainer Arnold [SPD]: Woher wissen Sie das?)


Die Bundesregierung weitet die Auslandseinsätze im-
mer weiter aus. Gerade gestern haben wir Soldaten an ei-
nen neuen Kriegsschauplatz geschickt, nämlich in den
Irak. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt solche Ein-
sätze ab. Und ich sage Ihnen: völlig zu Recht.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Karl A. Lamers [CDU/CSU]: Wir sind anderer Meinung!)


Bevor Sie überlegen, wie die Bundeswehr ein attrakti-
ver Arbeitgeber sein könnte, sollten Sie sich fragen: Wo-
für haben über 50 deutsche Soldaten im Kampfeinsatz in
Afghanistan ihr Leben verloren? Wie viele Afghanen
wurden durch den Einsatz der Bundeswehr getötet?
Denn das sind die Fragen, die junge Frauen und Männer
und ihre Familien umtreiben, wenn sie über ihre Per-
spektiven und auch über die Rekrutierungsversuche der
Bundeswehr reden. Deshalb gehen so wenig junge Leute
zur Bundeswehr. Und ich sage Ihnen: Das ist auch gut
so.


(Beifall bei der LINKEN)


Für die Linke geht es nicht darum, die Bundeswehr in
ihrer jetzigen Ausrichtung attraktiver zu machen; uns
geht es auch in dieser Diskussion darum, die Belastung
für die Soldatenfamilien zu senken. Denn auch das ge-
hört zur Wahrheit: Die Umgestaltung der Bundeswehr zu
einer Armee im globalen Dauereinsatz wird auf dem Rü-
cken der Soldatinnen und Soldaten und ihrer Familien
ausgetragen. Mit diesem Gesetz, Frau von der Leyen,
wollen Sie jetzt einen Widerspruch überbrücken, der
nicht zu überbrücken ist.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Welchen denn?)


Auch wenn wir die Absicht hinter dem Gesetz ableh-
nen, heißt das nicht, dass wir uns gegen jede einzelne
Maßnahme stellen. Schauen wir uns die Beispiele ge-
nauer an:

Die Arbeitszeit. Bisher war die Arbeitszeit für Solda-
ten gesetzlich nicht geregelt und der Willkür der Vorge-
setzten unterworfen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: „Willkür der Vorgesetzten“ – so ein Quatsch!)


Nun soll sie geregelt werden, und das ist eine seit Jahr-
zehnten überfällige Beendigung eines arbeitsrechtlichen
Niemandslandes. Allerdings: Mit dem neuen Gesetz
wird eine Lücke gelassen, die den Vorgesetzten weiter-
hin zu viele Spielräume lässt. Beispielsweise gibt es
Ausnahmeregelungen, soweit es die Besonderheiten des
Dienstes erfordern. Wir denken, dass das zu viele Spiel-
räume sind, die dann wieder dazu führen, dass die Ar-
beitszeit willkürlich ausgedehnt wird. Im Übrigen gilt
die 41-Stunden-Woche nach der Gesetzesvorlage nicht
für Soldaten im Auslandseinsatz, auf See oder in Manö-
vern, sondern nur im Grundbetrieb in Deutschland. In
Sanitätseinrichtungen der Bundeswehr soll weiterhin so-
gar bis zu 54 Stunden in der Woche gearbeitet werden.
Das sind keine attraktiven Arbeitszeiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie wollen den Eindruck erwecken, die Bundeswehr
würde auch auf die Familien und den Einzelnen Rück-
sicht nehmen. Das gilt allerdings nur so lange, wie die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst nicht im Wider-
spruch zur Verwendung im Ausland steht.

Auch die Teilzeitmöglichkeiten, die für die Berufssol-
daten jetzt diskutiert werden, bestehen nur, wenn ein
Kind oder ein pflegebedürftiger Angehöriger tatsächlich
zu Hause betreut wird – dies auch nur nach einer Dienst-
zeit von vier Jahren und auch nur, soweit dienstliche
Gründe nicht entgegenstehen. Und: Sie gelten mithin
nicht für Soldaten im Auslandseinsatz. Tatsächlich lehnt
es das Ministerium bis heute ab, alleinerziehende Väter
und Mütter von Kindern unter drei Jahren von diesen
Einsätzen auszunehmen. Das zeigt doch, wie weit es mit
der Familienfreundlichkeit her ist.

Frau von der Leyen, Sie wollen jetzt mit Lockprämien
und Zulagen Anreize schaffen, dass junge Menschen in
die Bundeswehr kommen. Sie haben eben noch einmal
sehr plastisch gesagt, was für ein Druck da auf Ihnen las-
tet. Ich will Ihnen ganz klar sagen: Auch bei dieser Ab-
sicht, zum Beispiel die Stellen- oder Erschwerniszulagen
zu erhöhen, sehen wir ganz genau, wo der Hase eigent-
lich längs läuft. Seit 1990 wurden die Zulagen etwa für
Feldwebel nicht mehr erhöht. Sie sollen nun um 80 Euro
angehoben werden, doch die Kommandosoldaten im
Einsatz sollen eine Sonderzulage von 900 Euro bekom-
men.


(Oswin Veith [CDU/CSU]: Das ist in Ordnung! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Völlig richtig!)


Ich sage Ihnen: Die Linke ist dagegen, dass Einheiten
wie das Kommando Spezialkräfte, die in Afghanistan ei-
nen geheimen Krieg an der Seite der US-Armee führen,
belohnt werden. Sie müssen aufgelöst werden.


(Beifall bei der LINKEN – Rainer Arnold [SPD]: Verschwörungstheorien!)


Richtig ist: Soldatinnen und Soldaten leiden unter
denselben sozialen Problemen wie viele Beschäftigte in
den zivilen Bereichen. So führt die verbreitete Einstel-
lung von Soldaten auf Zeit zu enormen Problemen. Was
machen diese Zeitsoldaten nach zwölf Jahren? Wie ist
das mit der Altersabsicherung? Das ist übrigens ein Pro-
blem, das Millionen von Familien in Deutschland haben,
die durch die Einführung grundlos befristeter Arbeits-
verträge und die Absenkung des Rentenniveaus in so-
ziale Unsicherheit gestürzt werden.

Bei den Soldaten fällt Ihnen nun auf, dass die Alters-
bezüge in den nächsten Jahren nicht ausreichend sein
werden. Das ist erfreulich, weil es einen gewissen Er-
kenntnisgewinn darstellt. Aber Sie wollen jetzt mit dem





Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)

Gesetz für Soldaten Sonderbemessungsgrenzen zur Er-
höhung von Rentenansprüchen einführen, von denen im
Übrigen vor allen Dingen die hohen Besoldungsgruppen
profitieren werden. Die Linke bleibt bei ihrer Forderung,
die Beitragsbemessungsgrenzen für alle Beschäftigten in
einer solchen Art und Weise anzuheben, damit alle Be-
schäftigten und Soldaten eine armutssichere Rente erhal-
ten.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fasse zusammen: Es mag Sie wundern, aber wir
sind nicht dagegen, dass die Einkommenssituation und
die soziale Absicherung für die niedrigen und mittleren
Dienstgrade in der Bundeswehr verbessert werden. Aber
– Frau von der Leyen hat dies ja eben noch einmal sehr
deutlich gemacht – das Gesetz fügt sich in eine ganze
Reihe von Maßnahmen des sogenannten Attraktivitäts-
programms ein. Und dieses ganze Programm zielt darauf
ab, mehr junge Menschen in die Einsätze der Bundes-
wehr zu locken. Diese Absicht lehnen wir ab.

Frau von der Leyen, machen Sie den Leuten nichts
vor! Es geht nicht darum, ihnen eine persönliche Le-
bensperspektive zu schaffen, sondern es geht darum, die
Bundeswehr als Armee im Einsatz handlungsfähig zu
machen. Wir werden diesen Weg nicht mitgehen.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808300300

Rainer Arnold erhält nun das Wort für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1808300400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur

ein Satz zu den Linken – es sitzen ja auch Soldaten hier
im Saal –: Würden Sie und Ihre Fraktionsspitze den Sol-
daten einfach mal sorgfältiger zuhören, dann würden Sie
merken, was Sie hier für falsche Thesen aufstellen und
wie sehr Sie insgesamt mit Ihrer Sichtweise im Abseits
sind.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Oberlehrer!)


Nun zum Thema selbst: Die Bundeswehr war in den
letzten Monaten häufig in den Schlagzeilen. Das war
nicht immer erfreulich; wir wissen das. Es ging vorwie-
gend um fluguntaugliche Hubschrauber, Panzer, die die
Anforderungen nicht erfüllen, defekte Schiffe, Flieger,
die nicht geliefert werden, und um vieles andere mehr.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Was hat das mit dem Artikelgesetz zu tun?)


Natürlich sind diese Themen wichtig, auch für uns im
Verteidigungsausschuss, und natürlich ist es für junge
Menschen unter der Überschrift „Attraktivität“ wichtig,
modernes Gerät zu haben, funktionierende Computer
überall, wo sie sind, und Zugang zum Internet auch auf
dem Schiff. Manchmal hatte ich aber den Eindruck, viele
glauben, diese technologischen Herausforderungen sind
das Allerwichtigste. Nein, das Allerwichtigste bei den
Streitkräften sind die Menschen. Es ist die größte He-
rausforderung, in den nächsten Jahren nicht nur genü-
gend Menschen zu finden, sondern die richtigen jungen
Leute für die Streitkräfte zu finden. Das wird aus drei
Gründen bei der Bundeswehr besonders schwer.

Der erste ist klar: Mit der Abschaffung der Wehr-
pflicht haben wir eine neue Herausforderung. Die Bun-
deswehr selbst muss stärker werden als in der Vergan-
genheit.

Zweitens. Die demografische Entwicklung ist eindeu-
tig. Der Kampf um die qualifizierten jungen Leute wird
auch im öffentlichen Dienst schwieriger werden. In zehn
Jahren werden doppelt so viele Erwerbstätige aus dem
Berufsleben ausscheiden, wie junge nachkommen.

Der dritte Punkt ist die größte Herausforderung. Der
Soldatenberuf ist sehr viel anspruchsvoller geworden,
als dies vor 20 oder 30 Jahren der Fall war.

Mir hat der Verteidigungsminister eines großen Bünd-
nispartners einmal gesagt: Herr Arnold, wissen Sie, wir
brauchen Kluge, wir brauchen aber auch Doofe. Das ist
ein nahezu wörtliches Zitat. Ich bin erschrocken. Er lag
so etwas von falsch. Wir brauchen ausschließlich kluge,
qualifizierte junge Leute, weil die Herausforderungen
auch für den Mannschaftssoldaten, für den Infanteristen
anders sind als für den Panzergrenadier vor 20 Jahren.
Der Beruf ist komplex, auch in Bezug auf die technolo-
gische Logistikkette. Junge Leute müssen im Einsatz
kämpfen können. Sie müssen polizeiähnlich arbeiten
können. Sie müssen Rechtskenntnisse haben. Sie müssen
Sprachkompetenz haben. Sie müssen interkulturelle
Kompetenz haben. Dies erwarten wir von 22-jährigen
Frauen und Männern. Ich stelle mir einmal vor, wie eine
Ausschreibung mit diesem Profil in der Wirtschaft aus-
sehen würde. Dort stünde dann: vom Meister an auf-
wärts. Entsprechend müsste auch die Bezahlung sein.
Darüber hinaus müssen sie noch Auftragstaktik beherr-
schen und die Prinzipien der Inneren Führung vorleben
und mitgestalten.

Anders als in Firmen kann man bei der Bundeswehr
angesichts der Demografie die Produktivität nicht ein-
fach steigern. Die Zahl der Soldaten und Zivilbeschäftig-
ten bewegt sich eher an der unteren Grenze. Es gibt im
Augenblick viele Bereiche, bei denen es hinten und
vorne fehlt, auch an Personal. Das führt dann zur Belas-
tung einzelner und senkt die Attraktivität.

Die vorliegende Reform ist ein ganz wichtiger Schritt.
Die Frau Ministerin hat gesagt, dass das nicht alles ist.
Am allerwichtigsten ist eigentlich Planbarkeit im Solda-
tenberuf. Das sagen uns viele Soldaten. Daran gilt es si-
cherlich auch noch zu arbeiten.

Es wurde viel über Unterkünfte gesprochen. Das ge-
hört natürlich dazu. Ich erinnere daran, dass die Koali-
tionsfraktionen im Zuge der Haushaltsberatungen einen
Antrag eingebracht haben. Wir fänden es gut, wenn Sie
ihn jetzt umsetzten. Wir freuen uns auf den Bericht, wie
es jetzt konkret weitergeht.





Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)

Diese Attraktivitätsagenda ist aber in der Tat ein sehr
großer Schritt, einer der größten in der Zeit, seit ich im
Parlament bin. Es zeigt sich auch an dieser Stelle: Es ist
einfach gut, wenn Sozialdemokraten mit in Regierungs-
verantwortung sind.


(Beifall bei der SPD – Heiterkeit bei der CDU/ CSU)


– Ja, ja, ja. – Denn vieles von dem, was jetzt getan wird,
entspricht jahrelangen Forderungen. Wenn wir es jetzt in
der Koalition mit der CDU/CSU schaffen, diese gemein-
sam umzusetzen, dann ist das sehr vernünftig.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da muss er ja selbst lachen! – Heiterkeit des Abg. Dr. Karl A. Lamers [CDU/CSU])


Wir haben dies ja im Koalitionsvertrag fixiert. Es ist ein-
fach so. Ich kann es noch vertiefen, lieber Karl, da du
jetzt ein bisschen schmunzelst. Das Motto „Gute Arbeit
unserer Partei in dieser Regierungskoalition“ endet für
Sozialdemokraten eben nicht am Kasernentor.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Scheinbar doch!)


„Gute Arbeit“ gilt auch für Soldaten.


(Beifall bei der SPD)


Es ist ein ganz besonderer Verdienst der Ministerin,
dass sie bei den Beratungen in den letzten Monaten man-
chen Knoten durchschlagen hat und Dinge erreicht hat,
die ihre Vorgänger noch als undenkbar abqualifiziert ha-
ben. Das ist Ihr Verdienst. Darüber sind wir froh. In die-
sem Bereich haben Sie auch unsere volle Unterstützung.

Dazu gehört insbesondere, dass Schluss gemacht wird
mit Überstunden ohne Achtsamkeit; 58 Stunden im
Durchschnitt beim Heer. Ein Unternehmen, das von
58 Arbeitsstunden in der Woche ausgeht, muss sich
überlegen, was schiefläuft. Deshalb ist eine gesetzliche
Arbeitszeitregelung so wichtig. Das ist für uns einer der
wichtigsten Punkte.

Ich nenne ein weiteres Beispiel. Wir erhöhen jetzt
4 Stellen- und 16 Erschwerniszulagen. Ganz wichtig ist,
dass die Kompaniefeldwebel dabei sind. Sie prägen das
Image der Truppe nach innen und nach außen. Sie be-
kommen zukünftig um 40 Prozent höhere Zulagen.

Wir müssen aber auch aufpassen, dass uns dieses Zu-
lagenwesen nicht entgleitet. Deshalb freuen wir uns,
Frau Ministerin, dass Sie den Vorschlag aufnehmen wol-
len, eine Kommission einzusetzen, die den Wildwuchs
im Zulagenwesen durchforstet und bis zum Ende der
Legislaturperiode einen Vorschlag macht, wie man Ge-
haltsstrukturen im öffentlichen Dienst gerade im techni-
schen Bereich so gestalten kann, dass sie wettbewerbsfä-
hig sind. Vielleicht ist das auch ein Zeichen für andere
Ressorts in der öffentlichen Verwaltung. Wir sind sehr
froh darüber und halten dies für notwendig und gut.

Zulagen haben dort einen Sinn, wo es gilt, wirkliche
Nachteile auszugleichen. Fallschirmspringer oder Taucher
müssen mehr für ihre privaten Versicherungen bezahlen.
Deshalb sind dort Zulagen auf lange Sicht erforderlich.
Aber Zulagen als Heftpflaster, weil das Gehaltsgefüge
nicht mehr stimmt, können auf Dauer nicht zukunftsfä-
hig sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wichtig ist auch: Die Bundeswehr muss ihr eigener
Werbeträger werden. Natürlich muss es uns ein Stück
weit Sorgen machen, wenn in einer Umfrage 90 Prozent
der Soldaten sagen, sie würden ihren Kindern nicht emp-
fehlen, diesen Beruf zu wählen. Deshalb ist dieses At-
traktivitätsprogramm aus vielfacher Hinsicht so wichtig.
Es ist vor allen Dingen auch ein neuer Schritt. Die Maß-
nahmen in den letzten Jahren waren in erster Linie da-
rauf ausgelegt, neues Personal zu rekrutieren und anzu-
werben; manchmal auch mit Farbprospekten, die die
Wirklichkeit nicht so sehr abgebildet haben. Wenn 30 bis
40 Prozent der Rekruten in den ersten drei Monaten wie-
der gehen, dann sehe ich die Verantwortung in erster Li-
nie nicht bei den jungen Menschen, sondern bei unserer
Rekrutierungsorganisation, die dafür sorgen muss, dass
die jungen Menschen mit einem realistischen Bild in die
Streitkräfte eintreten.

Neu an diesem Attraktivitätsprogramm ist – und das
ist unglaublich wichtig, weil die Bundeswehr selbst der
Werbeträger sein muss –, dass zum ersten Mal zusätzlich
in den bereits vorhandenen Personalkörper investiert
wird. Darüber sind wir ebenso sehr froh.

Es wird oft gesagt: Der Soldatenberuf ist etwas Be-
sonderes, und deshalb muss man Attraktivität in diesem
Bereich anders definieren. Solide Bezahlung und faire
Bedingungen sind die eine Seite – sie sind wichtig –,
aber die Soldaten brauchen auch die Wertschätzung und
die Anerkennung des Parlaments und unserer Gesell-
schaft insgesamt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Den Auslandsverwendungszuschlag in Höhe von
110 Euro pro Tag bekommen die Soldatinnen und Solda-
ten im Einsatz für das Risiko, verwundet oder gar getötet
zu werden. Wir dürfen nicht vergessen: Sie gehen in den
Einsatz für unser aller Sicherheit, für unsere Interessen.
Das ist das Besondere.

Soldaten sind nicht nur Fachkräfte für Gewaltanwen-
dung. Vielmehr brauchen Soldaten im Einsatz ganz be-
sondere Tugenden. Es reicht nicht aus, gut ausgebildet
und klug zu sein, sondern sie brauchen auch ein eigen-
ständiges politisches Urteilsvermögen, um zu wissen,
warum sie im Einsatz sind und was sie leisten sollen. Sie
müssen charakterstark, als Person gefestigt sein, sonst
können sie solche schwierigen Einsätzen nicht leisten.
Nur solche Menschen werden in Krisensituationen dem
hohen Druck standhalten und physisch und psychisch in
schwierigen Einsätzen bestehen. Das Attraktivitätspro-
gramm ist ein großer Schritt; denn es geht nicht nur da-
rum, genügend Soldaten zu finden, sondern auch darum,
die richtigen zu finden.

Nichts ist so gut, als dass es nicht auch verbessert
werden könnte. Wir sehen uns als Parlamentarier in der
Pflicht, im Zuge der Beratungen an der einen oder ande-





Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)

ren Stelle nachzuarbeiten. Ich bin dankbar, dass sich die
beiden Berichterstatter, die Kollegin Noll von der CDU/
CSU und Fritz Felgentreu von der SPD, in die kompli-
zierten Details hineinknien und zum Beispiel die im Ko-
alitionsvertrag getroffenen Vereinbarungen in Bezug auf
Nachversicherung und die faire Behandlung von Zeitsol-
daten, wenn es um die Altersversorgung geht, nacharbei-
ten werden.

Herzlichen Dank für das Programm insgesamt. Mein
Dank gilt den beiden Berichterstattern für ihr besonderes
Engagement und Ihnen für die Geduld bei meiner Rede.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808300500

Das Wort hat nun die Kollegin Doris Wagner für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808300600

Herr Präsident! Frau Ministerin! Verehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Zufall oder Planung? Auf jeden Fall
passt es gut, dass wir das Artikelgesetz in erster Lesung
just in der Sitzungswoche beraten, in der wir auch den
neuen Wehrbericht erhielten.

Sie, Frau Ministerin, möchten die Bundeswehr zum
attraktivsten Arbeitgeber Deutschlands machen. Die
Frage ist: Erreichen Sie dieses Ziel mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf? Ich glaube, dass das nur die ersten
Schritte des Marathons sind, den Sie ansprachen; denn
der vorliegende Gesetzentwurf trägt nicht ausreichend
dazu bei, die Probleme der Bundeswehr wirklich zu lö-
sen.

Die Bundesregierung macht hier in erster Linie den
Versuch, den Soldatinnen und Soldaten ihre bitteren Ar-
beitsbedingungen mit finanziellen Entschädigungen zu
versüßen. Ich bin mir sicher, dass Sie damit das eigentli-
che Ziel, nämlich Frauen und Männer für eine Tätigkeit
in den Streitkräften zu gewinnen, nicht erreichen wer-
den.

Frau Ministerin, es ist ein Fehler, dass sie fast aus-
schließlich auf die finanzielle Besserstellung der Solda-
tinnen und Soldaten setzen; auch Kollege Arnold hat
diese Besserstellung erwähnt. Künftig soll es mehr
Wehrsold geben – schön! –, neue Zulagen werden einge-
führt – auch schön! –, und geschiedene Berufssoldatin-
nen und -soldaten dürfen sich darüber freuen, dass
mögliche Rentenabzüge im Rahmen des Versorgungs-
ausgleichs künftig vom Steuerzahler übernommen wer-
den. 14 Millionen Euro kostet diese Sonderregelung
jährlich.

Das ganze Konzept zur Attraktivitätssteigerung der
Bundeswehr ist finanziell jedoch absolut auf Kante ge-
näht. Wäre das Geld nicht viel besser an anderer Stelle
angelegt? Denn – und das ist doch noch wichtiger – der-
artige Geldgeschenke sind nicht geeignet, die Zufrieden-
heit der Soldatinnen und Soldaten dauerhaft zu steigern
oder neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Bun-
deswehr zu gewinnen.
Die Soldatinnen und Soldaten, insbesondere in den
unteren Dienstgraden, verdienen schon heute überdurch-
schnittlich gut, und sie müssen keine Beiträge zur Kran-
ken- und Rentenversicherung zahlen. Das Zentrum für
Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundes-
wehr hat aktuell eine Studie durchgeführt: Mehr als die
Hälfte der befragten Bundeswehrangehörigen geben an,
mit ihrem Einkommen durchaus zufrieden zu sein. Was
sich die Bundeswehrfamilien wünschen, ist doch nicht,
dass der Staat die finanziellen Folgen einer Eheschei-
dung trägt. Was sich die Soldatinnen und Soldaten wün-
schen, ist, dass es gar nicht erst zu einer solchen Schei-
dung kommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre Ansätze, Frau Ministerin, sind ja nicht ganz
falsch. Aber schauen wir doch einmal ein bisschen ge-
nauer hin:

Mit Ihrem Gesetzentwurf weiten Sie die Möglichkei-
ten zur Teilzeitbeschäftigung deutlich aus; das begrüße
ich ausdrücklich. Aber machen die neuen Regelungen
die Arbeitszeiten der Soldatinnen und Soldaten tatsäch-
lich flexibler, machen sie sie familienfreundlicher? Ich
habe da noch Zweifel. So können etwa Führungskräfte
nach dem Gesetzentwurf nur dann in Teilzeit gehen,
wenn sie die Arbeitszeit im Block reduzieren. Aber was
hilft mir denn ein ganz und gar arbeitsfreier Freitag,
wenn von Montag bis Donnerstag in der Kinderbetreu-
ung eine Lücke klafft? Was hilft mir der gesetzliche An-
spruch auf eine kürzere Wochenarbeitszeit, wenn die
Personaldecke am Standort derart dünn ist, dass ich mit
meinem Antrag auf Teilzeitarbeit zwangsläufig den Zorn
meiner Kolleginnen und Kollegen heraufbeschwöre?
Was hilft mir die Möglichkeit, in Teilzeit zu arbeiten,
wenn ich dann mit aller Wahrscheinlichkeit meinen
Dienstposten verlieren werde und mir an einem anderen
Ort eine neue Kita oder eine neue Tagesbetreuung su-
chen muss?

Sie sehen, meine Damen und Herren, mit einem ge-
setzlichen Anspruch auf Teilzeit alleine ist es nicht ge-
tan. Entscheidend ist doch, ob der Anspruch vor Ort
auch umgesetzt werden kann. Deshalb appelliere ich an
Sie, Frau Ministerin: Sorgen Sie bitte dafür, dass die Sol-
datinnen und Soldaten wirklich das Teilzeitmodell wäh-
len können, das ihren familiären und persönlichen Be-
dürfnissen am besten entspricht, und sorgen Sie bitte
dafür, dass der Dienstposten auch bei einer Arbeitszeit-
reduzierung erhalten bleibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mein zweites Beispiel ist die Pflegezeit. Um Men-
schen als Mitarbeiter zu gewinnen, reicht es nicht, über
moderne Konzepte zu sprechen. Zwar taucht der Begriff
der pflegebedürftigen Angehörigen schon heute in den
einschlägigen Vorschriften zur Teilzeitarbeit in der Bun-
deswehr auf. Tatsächlich sind die Soldatinnen und Sol-
daten von den Leistungen des Pflegezeitgesetzes aber
ausgeschlossen. Warum?, frage ich Sie. Ich kann keinen
sachlichen Grund für diese Schlechterstellung der Bun-
deswehrangehörigen erkennen. Der Bedarf ist doch vor-
handen: Schon jetzt pflegen 12 Prozent der über 46-jäh-





Doris Wagner


(A) (C)



(D)(B)

rigen Soldatinnen und Soldaten persönlich einen
Angehörigen. Unsere Gesellschaft altert rasant; das wis-
sen wir alle. Angesichts dessen ist es doch wesentlich, in
welchem Maße ein Arbeitgeber bereit ist, seine Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter bei der Pflege von Angehö-
rigen zu unterstützen. Deshalb, Frau Ministerin, bitte ich
Sie: Öffnen Sie das Pflegezeitgesetz auch für Soldatin-
nen und Soldaten! Geben Sie ihnen die Unterstützung,
die sie diesbezüglich brauchen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch ein letztes Beispiel anführen, das
zeigt, dass Sie mit Ihrem Gesetzentwurf den eigentlichen
Herausforderungen ausweichen. Frau Ministerin, Sie
selbst führen die Demografie gerne und oft im Munde,
meist im Zusammenhang mit der wachsenden Konkur-
renz um gutqualifizierte Arbeitskräfte. Was Sie hingegen
höchst selten erwähnen und was ich auch in Ihrem Ge-
setzentwurf vermisse, ist Folgendes: Genau wie all die
zivilen Unternehmen muss sich auch die Bundeswehr
allmählich etwas einfallen lassen, um das vorhandene
gute Personal möglichst lange zu halten. Die Bundes-
wehr war in den letzten Jahren hauptsächlich damit be-
schäftigt, Personal abzubauen; aber jetzt muss sie sich
von dieser Grundhaltung dringend verabschieden. Die
Streitkräfte können es sich immer weniger leisten, gute,
selbst ausgebildete Mitarbeiter massenhaft aufs Abstell-
gleis zu schieben, nur weil diese ein bestimmtes Alter er-
reicht haben. Es wird auf absehbare Zeit keine Nach-
wuchsschwemme mehr geben. Deshalb sollten Sie das
Personal, das Sie haben, besser und länger einsetzen.

Investieren Sie doch in Maßnahmen, damit Ihnen Ihre
Belegschaft möglichst lange und fit erhalten bleibt. Wa-
rum etwa werden Unteroffiziere automatisch mit 54 Jah-
ren in den Ruhestand versetzt? Sollte das nicht nur dann
passieren, wenn sie aufgrund ihrer individuellen Ver-
wendung tatsächlich besonderen Belastungen ausgesetzt
sind? Ich finde, wer länger im Dienst bleiben will, sollte
auch eine realistische Chance dazu bekommen.

Ich glaube, die Bundeswehr sollte grundsätzlich stär-
ker als bisher versuchen, ehemalige Soldaten in zivilen
Funktionen weiterzubeschäftigen. Die Bundeswehr
muss auch deutlich flexibler werden, was die Möglich-
keit zum Laufbahnwechsel angeht. Schließlich muss die
Bundeswehr viel mehr in die physische und psychische
Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in-
vestieren. Was wir dringend brauchen, sind Phantasie,
Reformbereitschaft und vorausschauende Investitionen,
um Soldatinnen und Soldaten deutlich länger zu halten
als bisher.

Frau Ministerin, werte Kolleginnen und Kollegen, es
gibt jede Menge Baustellen, an denen diese Regierung
ansetzen könnte, um die Bundeswehr zu einem moder-
neren, familienfreundlicheren und attraktiveren Arbeit-
geber zu machen. Leider hat sich das Bundesvertei-
digungsministerium in diesem Artikelgesetz dafür
entschieden, den derzeitigen und künftigen Soldatinnen
und Soldaten den Dienst in der Bundeswehr vor allem
durch finanzielle Anreize schmackhaft zu machen.
Ich finde diesen Weg falsch. Er führt nicht zu nach-
haltigen Verbesserungen. Deshalb wird dieses Gesetz
sein Ziel verfehlen. Das ist sehr bedauerlich. Das ist be-
sonders bedauerlich für diejenigen, die den Personal-
mangel in der Bundeswehr verwalten müssen, und vor
allem für die Soldatinnen und Soldaten; denn sie sind es,
die auch weiterhin unter den Arbeitsbedingungen in der
Bundeswehr zu leiden haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer seine Familie nur selten sieht, wer seine Eltern in
den letzten Lebensmonaten kaum begleiten kann, wer
sich mit Mitte 50, geschieden und ohne erfüllende Tätig-
keit, aussortiert fühlt, dem helfen leider auch die großzü-
gigsten Geldgeschenke nichts.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808300700

Henning Otte ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Henning Otte (CDU):
Rede ID: ID1808300800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute geht es
um einen sehr wichtigen Gesetzentwurf: um den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Steigerung der Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr. Es war für die Union ein
ganz besonders wichtiger Punkt, dies in den Koalitions-
vertrag einzubringen und nun auch umzusetzen. Wir ste-
hen immer an der Seite unserer Soldatinnen und Solda-
ten. Wir danken unserem Koalitionspartner dafür, dass er
uns bei dieser Arbeit unterstützt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht darum, die Vereinbarkeit von Dienst und Fa-
milie zu stärken. Den Kabinettsentwurf könnte man am
heutigen Zeugnistag mit einem glatten „sehr gut“ bewer-
ten.


(Zuruf von der LINKEN: Oberlehrer!)


Denn die wichtigen Dinge zur Verbesserung der Arbeits-
bedingungen, der sozialen Absicherung und auch der
Vergütung sind dort abgebildet. Das ist wichtig für die
Soldatinnen und Soldaten im Grundbetrieb, im Friedens-
betrieb, aber auch im Einsatz. Es ist klar festzustellen,
dass es für diesen Entwurf eines Gesetzes zur Verbesse-
rung der Vereinbarkeit von Dienst und Familie, sehr ge-
ehrte Frau Ministerin von der Leyen, durchaus nützlich
ist, dass Sie Ihre Erfahrungen als Familienministerin, als
Arbeitsministerin und jetzt als Verteidigungsministerin
hier sozusagen zusammenfassen. Dadurch ist ein Ent-
wurf für die bessere Vereinbarkeit von Dienst und Fami-
lie entstanden, der für unsere Soldatinnen und Soldaten
gut ist. Deswegen sage ich an dieser Stelle ein herzliches
Dankeschön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der LINKEN)






Henning Otte


(A) (C)



(D)(B)

Ich sage auch einen Dank an die mitberatenden
Ministerien, insbesondere an das Innenministerium. Wir
befinden uns in einem sehr konstruktiven und engen
Austausch über die Verbesserung der Situation.

Ja, es geht vor allem darum, die guten Kräfte in der
Bundeswehr zu halten. Wir brauchen motivierte Kräfte
und müssen auch weiterhin gute Kräfte mit verschiede-
nen Fähigkeiten und Talenten für verschiedene Fachrich-
tungen gewinnen. Hier müssen wir als großer Arbeitge-
ber mit 250 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
militärische wie zivile Kräfte, für uns werben. Wir müs-
sen attraktiv sein und uns dem Wettbewerb stellen. Das
Prädikat „Attraktiver Arbeitgeber“ wird nicht durch
Handauflegen erzielt, sondern durch die Umsetzung kla-
rer Attraktivitätsvorteile. Die Freiwilligenarmee Bun-
deswehr soll im Vergleich zur privaten Wirtschaft stand-
halten.

Wenn ich hier im Deutschen Bundestag mit Schul-
klassen diskutiere und frage, wer welche Vorstellungen
im Leben hat und wie sich die Schüler beruflich entwi-
ckeln wollen, dann gibt es auch immer wieder Schülerin-
nen und Schüler, die sich für die Bundeswehr interessie-
ren. Aber wir müssen die Vorteile, die die Bundeswehr
als Arbeitgeber mit sich bringt, noch weiter herausstel-
len. Dazu ist dieser Gesetzentwurf wichtig. Wir müssen
das Berufsfeld nachhaltiger und attraktiver gestalten.
Das wird mit dieser Attraktivitätsoffensive getan. Des-
wegen ist es wichtig, dass wir deutlich machen: Der Be-
ruf eines Soldaten ist kein Beruf wie jeder andere. Daher
ist es auch gut, dass es besondere Regelungen im Ver-
gleich zum Beamtenrecht gibt, die die besonderen Er-
schwernisse und Herausforderungen des Soldatenberu-
fes abbilden. Das gilt für den Grundbetrieb, aber eben
auch für den Einsatz. Allein in Afghanistan waren für ei-
nen erfolgreichen Einsatz für Frieden, Stabilität, Sicher-
heit und Entwicklung über 100 000 Bürgerinnen und
Bürger Deutschlands in Uniform im Einsatz. Dafür mei-
nen ganz herzlichen Dank!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist Ausdruck der Fürsorge für eine Parlamentsar-
mee, dass wir uns mit diesem Gesetzentwurf im Rahmen
der parlamentarischen Beratungen inhaltlich vertieft aus-
einandersetzen. Es wird hierzu am 23. Februar dieses
Jahres eine Anhörung geben, in der wir über die einzel-
nen Punkte miteinander sprechen wollen.

Es liegt ein Antrag der Fraktion der Grünen vor, in
dem es um den Stichtag geht. Ich kann nur sagen: Wer
ihn genau liest, stellt fest, dass die darin formulierten
Forderungen längst aufgegriffen worden sind. Deswe-
gen, glaube ich, ist dieser Antrag überflüssig. Ich möchte
dennoch, wenn auch in einem späten Stadium, nochmals
die Einladung an Sie aussprechen, sich an der Arbeit der
Kommission zur Parlamentsbeteiligung bei Auslands-
einsätzen zu beteiligen. Es ist schade, dass Sie dort nicht
mitgemacht haben. Das wäre, glaube ich, ein gutes Si-
gnal gewesen.

Meine Damen und Herren, Attraktivität hat auch et-
was mit dem Wohnumfeld zu tun. Deswegen war es
wichtig, dass wir auf Anregung des Jahresberichts des
Wehrbeauftragten in dieser Woche auch über die Kaser-
nen gesprochen haben. Es ist gut, dass die Verteidi-
gungsministerin dieses Thema sofort aufgegriffen und
gesagt hat: Das ist für die Soldatinnen und Soldaten
wichtig. – Deswegen hat sie 750 Millionen Euro in Aus-
sicht gestellt, um die Situation zu verbessern. In Zeiten
des Einsatzes in Afghanistan mussten wir Schwerpunkte
bei der Ausrüstung setzen. Aber jetzt ist es an der Zeit,
wieder zu investieren, auch in das Wohnumfeld, also vor
allem in die Kasernen, die noch nicht den Standard ha-
ben, den wir uns wünschen.

Attraktivität, Ausbildung und Ausrüstung sind drei
ganz wesentliche Faktoren für einen erfolgreichen
Dienst. Es ist eine gute Maßnahme, dass genau dieses
Thema im Rahmen der KPMG-Studie aufgegriffen wird.
Die Ausrüstung muss zielgerichtet zum vereinbarten
Preis und zum vereinbarten Zeitpunkt geliefert werden.
Die Soldaten müssen sich, wenn sie in einen Einsatz ent-
sandt werden, darauf verlassen können, dass sie ihre
Ausrüstung bekommen.

Wir haben am Beispiel des A400M mit Schrecken
festgestellt, dass sich die Industrie nicht an die Zusagen,
von denen wir dachten, sie seien verbindlich, gehalten
hat. Durch so etwas geht Vertrauen verloren. Wir müssen
uns schon die Frage stellen, ob nationale Interessen im
Rahmen der Zusammenarbeit mit einem europäischen
Konsortialpartner vielleicht nicht in der Form berück-
sichtigt werden, wie wir uns das in Deutschland und als
deutsches Parlament vorstellen. Die Verantwortung für
unsere Soldatinnen und Soldaten und für ihre Ausrüs-
tung tragen in allererster Linie wir als Parlamentarier,
aber auch die Industrie. Die Soldatinnen und Soldaten
brauchen die Ausrüstungsgegenstände. Ich kann nur hof-
fen, dass die Zusagen seitens der Industrie auf diesem
Gebiet in Zukunft verbindlicher eingehalten werden;
denn Verlässlichkeit darf keine Einbahnstraße sein.

Attraktivität, Ausrüstung und Ausbildung sind – ich
habe es gesagt – wichtig für die Zufriedenheit im Grund-
betrieb, aber auch notwendig für die erfolgreiche Arbeit
im Einsatz, beschlossen durch unser Parlament.

Wir haben im Koalitionsvertrag deutlich gemacht:
Wir stellen uns einer Verantwortungskultur. Wir haben
auch deutlich gemacht, dass die Attraktivitätsoffensive
im Rahmen der Neuausrichtung der Bundeswehr von be-
sonderer Bedeutung ist. Das Personal ist das höchste
Gut. Der Mensch steht im Mittelpunkt, auch bei der
Bundeswehr. 22 konkrete Maßnahmen werden im Ge-
setzentwurf aufgeführt. Dabei geht es zum Beispiel um
Zulagen und um die Verbesserung der Nachversiche-
rung. Ziel ist es, die Planbarkeit des Dienstes zu erhö-
hen. Wir werden jede einzelne Maßnahme bewerten.

Insgesamt wird dafür in den nächsten vier Jahren
circa 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt. Das ist
eine Anerkennung für den Dienst für unser Land. Das ist
auch ein richtiger Weg zur Steigerung der Attraktivität.
„Wir. Dienen. Deutschland.“ lautet die Aussage im Hin-
blick auf den Dienst in der Bundeswehr. Die Soldatinnen
und Soldaten leisten einen Beitrag zu Sicherheit und Sta-





Henning Otte


(A) (C)



(D)(B)

bilität in unserem Land und zu Frieden und Sicherheit
auf unserer Erde.

Dafür brauchen wir einen attraktiven Arbeitgeber.
Dafür brauchen wir motivierte Soldatinnen und Solda-
ten. Dafür brauchen wir eine gute, zukunftsfähige Per-
spektive und vor allem die Rückendeckung der Bürge-
rinnen und Bürger und auch die Rückendeckung dieses
Parlaments. Deswegen bitten wir als Union um die Zu-
stimmung zu diesem Gesetzentwurf.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808300900

Das Wort hat nun der Kollege Michael Leutert für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Leutert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808301000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Ministerin, Sie haben im Frühjahr letzten Jahres
eine Attraktivitätsoffensive angekündigt und das Ziel
formuliert, dass die Bundeswehr der attraktivste Arbeit-
geber im Lande werden soll. Heute liegt uns ein Gesetz-
entwurf vor, durch den über zehn Gesetze und Verord-
nungen geändert werden sollen, Kostenpunkt: zwischen
250 und 300 Millionen Euro im Jahr im Durchschnitt,
also die nächsten vier Jahre ungefähr 1 Milliarde Euro.
Im Kern geht es – das ist hier schon gesagt worden – um
Arbeitsbedingungen, höhere Vergütung bzw. Erschwer-
niszuschläge, soziale Absicherung.

All das – Frau Ministerin, Sie haben das selber ge-
sagt – sind allerdings Dinge, bei denen sich in den letz-
ten Jahren etwas angestaut hat und jetzt notwendiger-
weise Abhilfe geschaffen werden muss. Sie haben selber
gesagt, Sie arbeiten sich auf Normalmaß vor. Die letzte
Wehrsolderhöhung zum Beispiel gab es im Jahr 2008,
damals um 2 Euro. Dieses Mal soll es wieder eine
Wehrsolderhöhung geben, wieder um 2 Euro – pro Tag
im Übrigen; das muss man dazusagen. Ich bin mir nicht
sicher, ob das dazu beiträgt, die Bundeswehr attraktiver
zu machen.

Auf die wirklich aktuellen Probleme gehen Sie nicht
ein; die sind aber im Bericht des Wehrbeauftragten, der
diese Woche vorgestellt wurde, klar benannt. Manches
wurde hier angesprochen, ich möchte noch einmal einige
Punkte herausgreifen:

Erstens. Die Bundeswehr hat massive Ausrüstungs-
probleme, insbesondere was Großgeräte wie das Trans-
portflugzeug A400M und den Hubschrauber NH90 be-
trifft.


(Zuruf von der CDU/CSU: Der wird im Gesetzentwurf gar nicht erwähnt!)


Es wird alles zu spät geliefert, es wird alles viel teurer
als vereinbart wurde, und die Fähigkeiten, die bestellt
wurden, sind in der Lieferung nicht enthalten. Hinzu
kommen massive Fehler im Normalbetrieb. Sie hatten
vorhin davon gesprochen, dass die Bürgerinnen und
Bürger, wenn sie heute einen Computer bestellen, nicht
mehr die Katze im Sack kaufen – die Bundeswehr kauft
immer noch die Katze im Sack.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Transportflugzeug A400M zum Beispiel – ein
Exemplar ist geliefert; wann die nächsten kommen, weiß
niemand – kann weder Personal noch Material aus der
Luft absetzen, er kann auch nicht in die sogenannten hei-
ßen Zonen, also in Kampfgebiete, fliegen,


(Rainer Arnold [SPD]: Das soll er doch auch nicht aus Ihrer Sicht!)


weil er über Selbstverteidigungsfähigkeiten erst 2016/17
verfügen wird.

Der Transporthubschrauber NH90 rostet, es gibt
Rauchentwicklung im Cockpit und er hat Triebwerks-
probleme, was schon zum Absturz einer Maschine ge-
führt hat. Ich habe mich im Zusammenhang mit den Er-
schwerniszuschlägen gefragt, ob diese Mängel vielleicht
der Grund sind, warum Hubschrauberpiloten 210 Euro
mehr bekommen als Fallschirmjäger. Fakt ist: Die Nach-
rüstung dieser Hubschrauber – das wurde diese Woche
im Verteidigungsausschuss mitgeteilt – übernimmt na-
türlich nicht die Industrie, sondern auch das muss wieder
vom Steuerzahler bezahlt werden, obwohl in der Indus-
trie bei der Konstruktion geschlampt wurde.

Selbst bei Standardausrüstungsgegenständen wie dem
G36 gibt es Probleme; da warten wir noch auf einen Be-
richt, in dem geklärt wird, warum dieses Standardge-
wehr, wenn es heiß ist, nicht mehr zuverlässig trifft.


(Rainer Arnold [SPD]: Interessant, dass Sie jetzt über diese Waffe reden und nicht über die Menschen!)


Auf der anderen Seite ist das Personal völlig überlas-
tet: Die Regelung, dass nach einer Auslandsverwendung
von 4 Monaten eine Pause von 20 Monaten folgen soll,
kann bei vielen Soldatinnen und Soldaten nicht eingehal-
ten werden.

Auf die maroden Kasernen ist hier auch schon einge-
gangen worden: 38 Prozent der Unterkünfte haben grö-
ßere Mängel, 269 Gebäude sind eigentlich nicht nutzbar,
aber trotzdem bewohnt. Es wird von Rost- und Schim-
melbefall, von nicht funktionierenden Heizkörpern, von
Kloakengeruch berichtet.

Fakt ist: Sie haben diese Zustände erkannt und gesagt:
Es werden neue Mittel bereitgestellt. Aber wenn solche
Zustände herrschen, dann ist es völlig unbegreiflich, wa-
rum man nicht auch ohne Mittel notwendige Maßnah-
men ergreift, zum Beispiel indem man sagt: Sanierte
Kasernen werden nicht geschlossen – wenn Kasernen
geschlossen werden müssen, dann kann man auch die
maroden Kasernen schließen.

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist, was in der
Öffentlichkeit derzeit das Bild der Bundeswehr be-
stimmt: eine ziemlich desolate Truppe. Diese Truppe
wird auch nicht attraktiver, wenn man 2 Euro mehr Sold
am Tag zahlt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)






Michael Leutert


(A) (C)



(D)(B)

Ihr Ziel ist – so wurde das formuliert –: Jeder Soldat soll
in der Kaserne ein Einzelzimmer mit Bad bekommen, es
soll eine ordentliche soziale Absicherung und Aufstiegs-
chancen geben, Familie und Dienst sollen miteinander
vereinbar sein, zum Beispiel durch Teilzeitarbeit usw.
usf.

Das sind aber nur die Rahmenbedingungen für einen
attraktiven Arbeitsplatz. Entscheidend ist ja letztlich, ob
auch die Aufgabe attraktiv ist. Darüber, Frau Ministerin,
haben Sie hier aber überhaupt nicht gesprochen.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Für Frieden und Freiheit zu kämpfen, ist doch attraktiv!)


Ich kann mir zumindest vorstellen, dass die Soldatin-
nen und Soldaten, die an dem Einsatz zur Vernichtung
der syrischen Chemiewaffen beteiligt gewesen sind, in
dieser Aufgabe einen gewissen Sinn gesehen haben und
auch davon überzeugt gewesen sind, dass das richtig ist.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie hoffentlich auch!)


Bei den gestern hier im Bundestag beschlossenen
Einsätzen zum Irak und zur Türkei bin ich mir da aber
nicht mehr so sicher; denn im Kern sieht die ganze Sa-
che doch so aus: Wir schicken Ausbilder in den Irak, die
die Kurdinnen und Kurden befähigen sollen, nachdem
die Waffen geliefert wurden, sich gegen die Islamisten
und gegen den „Islamischen Staat“ zu verteidigen. Auf
der anderen Seite schickt der NATO-Partner Türkei lo-
gistisches Material und Waffenlieferungen genau an
diese Islamisten, die mit unserer Unterstützung be-
kämpft werden sollen. Wir aber schicken Soldatinnen
und Soldaten in die Türkei, die die Türkei vor den Fol-
gen der Situation bewahren sollen, die sie dort schafft.

Ich glaube schon, dass vor diesem Hintergrund bei ei-
nigen Soldatinnen und Soldaten die Frage nach dem
Sinn dieser Einsätze aufkommt. Wenn eine Aufgabe aber
als sinnlos empfunden wird, dann ist sie auch nicht mehr
attraktiv. Sie hätten meines Erachtens der Attraktivität
der Bundeswehr einen viel größeren Gefallen getan,
wenn gestern der Einsatz in der Türkei nicht verlängert
worden wäre.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Eine absolute Minderheitsmeinung!)


Das Hauptziel, die Bundeswehr zu einem der attrak-
tivsten Arbeitgeber zu machen, werden Sie damit nicht
erreichen. Das Hauptziel muss darin bestehen, die Auf-
gabe der Bundeswehr zu verändern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808301100

Der Kollege Felgentreu hat nun für die SPD-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Fritz Felgentreu (SPD):
Rede ID: ID1808301200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Program-

matische Äußerungen zur Attraktivität des Dienstes in
der Bundeswehr sind so alt wie die Truppe selbst. Ich
denke da an Sätze, wie ich sie als aktiver Soldat vor
25 Jahren in der Truppe öfter gehört habe, zum Beispiel
den Klassiker „Klagt nicht! Kämpft!“ oder auch solche
Sätze wie „Ein Offizier beschwert sich nicht!“


(Lachen bei der LINKEN)


oder so etwas wie „Schreiben Sie doch einen Brief: Lie-
ber Herr Wehrbeauftragter...“

Zusammengefasst wurde das alles in einem durchaus
ernstgemeinten Grundsatz, dem ich seine allgemeine
Berechtigung auch gar nicht absprechen will: „Der Sol-
dat ist immer im Dienst.“ „Der Soldat ist immer im
Dienst“ – das galt für eine Bundeswehr, die als große
Wehrpflichtigenarmee mit hoher Bereitschaft in der Zeit
der Blockkonfrontation oft eher damit Probleme hatte,
ihre vielen Soldaten sinnvoll zu beschäftigen, als mit der
Frage, woher sie gute Leute bekommen sollte. Denn un-
ter den vielen fanden sich fast immer genug, die fest-
stellten, dass ihnen der Soldatenberuf liegt, und aus de-
ren Reihen kommen die erfahrenen Offiziere und
Unteroffiziere der Generation um die 50, die heute in
vorderster Verantwortung stehen.

Die Zeiten und die Bundeswehr haben sich aber
gründlich geändert. Sie war damals eine große Armee,
sie hatte den Auftrag, einen mächtigen Gegner abzu-
schrecken und so den Frieden in Europa zu sichern,
schlimmstenfalls das Land zu verteidigen. Daraus ist
heute eine für ein 80-Millionen-Volk in der Mitte Euro-
pas wirklich sagenhaft schlanke, kleine Truppe gewor-
den. Heute konzentriert sich die Bundeswehr vor allem
auf ihre Fähigkeit, gemeinsam mit Partnernationen inter-
nationale Einsätze durchzuführen.

Die Wehrpflicht, die das deutsche Militär seit den Be-
freiungskriegen geprägt hatte, ist praktisch abgeschafft.
Schon die beiden ersten Worte des alten Grundsatzes
„Der Soldat ist immer im Dienst“ passen nicht mehr.
Heute muss es heißen: „Der Soldat und die Soldatin …“

Aber bisher haben wir als Gesellschaft, als Gesetzge-
ber, als Dienstherr aus diesen Veränderungen weder
mental noch in der Ausgestaltung die notwendigen Kon-
sequenzen gezogen, damit diese veränderte Armee in ei-
ner veränderten Welt ihren Auftrag auf Dauer zuverläs-
sig erfüllen kann.

Wir haben eine Freiwilligenarmee. Das bedeutet – ich
habe jetzt einfach einmal den Mut zur Banalität –: Wir
brauchen Freiwillige. Die Freiwilligen stehen aber nicht
allein vor unseren Karrierecentern Schlange.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Die kommen nicht freiwillig!)


Es gibt sicherlich junge Leute, die auch aus patriotischer
Gesinnung und aus hoher Identifikation mit der Bundes-
republik Deutschland wenigstens eine Zeit lang Soldaten
werden wollen. Aber es sind wohl kaum genug; und in
einer Zeit, in der die Bevölkerung kontinuierlich
schrumpft, werden es Jahr für Jahr weniger.





Dr. Fritz Felgentreu


(A) (C)



(D)(B)

Das bedeutet, die Bundeswehr muss als Arbeitgeberin
in Zukunft mit anderen Bereichen des öffentlichen
Dienstes und mit der freien Wirtschaft um kluge Köpfe
und starke Arme konkurrieren. Dafür muss sie etwas an-
zubieten haben; etwas anzubieten, das hinreichend viele
junge Leute jedes Jahr wieder davon überzeugt, sich als
Soldat oder als Soldatin zu verpflichten.

Deswegen rede ich heute einmal – anders als der Kol-
lege Leutert eben – über den eingebrachten Gesetzent-
wurf der Bundesregierung; er ist ein wichtiger Baustein
für den Aufbau einer modernen und attraktiven Freiwil-
ligenarmee.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Die Ministerin hat ja auch nicht darüber gesprochen!)


Er ist ein Ergebnis des Nachdenkens, des Hinhörens be-
zogen auf die Bedürfnisse der Menschen – nicht nur der
Soldatinnen und Soldaten, sondern auch ihres familiären
Umfeldes, ihrer Angehörigen – und der Gespräche mit
den Fachleuten und Organisationen, wie dem Bundes-
wehrVerband oder dem Reservistenverband.

Nun ist ja so ein dienstrechtliches Artikelgesetz eine
wirklich hocherotische Angelegenheit, die gerade von
den Gemeinden sicherlich mit glühenden Ohren gelesen
wird: reich an scheinbar zusammenhanglosen Einzel-
bestimmungen und Querverweisen und verfasst in
schönstem Juristendeutsch, das gerne zugunsten der
Eindeutigkeit auch mal auf Verständlichkeit verzichtet.
Die Leitgedanken des Entwurfs sind klar und für alle
nachvollziehbar: Es geht zum einen um die Vereinbar-
keit von Familie und Dienst und zum anderen um soziale
Sicherheit für die Soldatinnen und Soldaten.

Meine Damen und Herren, vor allem der erste Punkt
ist eine kleine Revolution. Die Koalition wird mit die-
sem Gesetz zum ersten Mal die 41-Stunden-Woche für
Soldatinnen und Soldaten festschreiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hier ist der falsche Ort, um auf Details einzelner Aus-
nahmen und Streitfragen einzugehen.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Aber die Ausnahmen sind entscheidend!)


Entscheidend ist das klare Bekenntnis der Bundesregie-
rung und des Gesetzgebers, dass wir die 41-Stunden-
Woche als den militärischen Normalfall durchsetzen
wollen.

Das wird den Truppendienst verändern. Das bedeutet
nichts anderes, als dass die Bundeswehr ihren alten
Grundsatz an den veränderten militärischen Alltag an-
passt. Der Soldat und die Soldatin sind in Zukunft eben
nicht immer im Dienst. Im Einsatz, wo unsere Soldatin-
nen und Soldaten das tun, wofür sie ausgebildet worden
sind, wo sie sich schnell und aktiv auf eine veränderte
Lage einzustellen haben, sind sie selbstverständlich im-
mer im Dienst, auch dann, wenn sie schlafen. Aber an
Standorten, wo die Voraussetzungen für erfolgreiche
Einsätze geschaffen werden, haben sie einen Anspruch
auf geregelte Arbeitszeiten und planbare Freizeit.

(Beifall bei der SPD – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Warum gibt es dann auch Ausnahmen?)


Gleichzeitig verbessern wir die Möglichkeit, in Teil-
zeit zu gehen, um Kinder oder pflegebedürftige Angehö-
rige zu betreuen. Die Soldatinnen und Soldaten sollen
dabei in Zukunft nicht schlechtergestellt sein als Be-
amte. Uns allen muss klar sein – das ist heute ja auch
schon problematisiert worden –, dass das eine für die
Personalplanung denkbar unbequeme Lösung ist. Wer
zwölf Jahre in Teilzeit geht, fällt zwölf Jahre lang für
den Einsatz aus und muss dort durch andere ersetzt wer-
den. Es ist aber die richtige, die für die Soldatinnen und
Soldaten wichtige Lösung, die es ihnen leichter macht,
Ja zur Familie und Ja zum Dienst, zum Beruf, zu sagen.

Meine Damen und Herren, knapp 70 Prozent unserer
Dienstleistenden sind Soldaten auf Zeit. Für diese Män-
ner und Frauen werden Rentenbeiträge für den Zeitraum
nachträglich eingezahlt, in dem sie als Beamte auf Zeit
keine Beiträge geleistet haben. Bei dieser Nachversiche-
rung sind Soldatinnen und Soldaten bisher schlechterge-
stellt als die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffent-
lichen Dienstes, die zusätzlich zu ihrer Rente eine
Zusatzversorgung des Bundes und der Länder bekom-
men. Wir werden hier Gerechtigkeit schaffen.

Der Gesetzentwurf sieht vor, bei der Berechnung der
Nachversicherung nicht nur von 100 Prozent, sondern
von 115 Prozent der Soldatenbezüge auszugehen. Die
SPD-Fraktion hat diese Zahlen einmal geprüft. Nach un-
serer Berechnung reichen 15 Prozent noch nicht aus, um
die Soldatinnen und Soldaten wirklich gleichzustellen.
Wir halten 21 Prozent für notwendig und angemessen.
Über die Höhe der Anhebung der Berechnungsgrundlage
werden wir im Ausschuss und bei der geplanten Anhö-
rung deshalb noch einmal miteinander reden müssen.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Machen wir, Fritz!)


– Ja, das machen wir.

Es ist eine Besonderheit der Bundeswehr, dass viele
Berufssoldatinnen und Berufssoldaten schon mit 53 Jah-
ren, also relativ jung, in Pension gehen. Das liegt daran,
dass viele Verwendungen einfach körperliche Anforde-
rungen stellen, die der menschliche Körper ab einem be-
stimmten Alter nicht mehr erfüllen kann. Eine ausrei-
chende Zahl von Anschlussverwendungen kann es aber
nicht geben. Deshalb entlassen wir diese Soldatinnen
und Soldaten qua Gesetz in einen frühen Ruhestand.

Nun handelt es sich bei den Betroffenen in der Masse
um Unteroffiziere und die unteren Offiziersränge, die
alle eine relativ niedrige Pension beziehen. Also gerade
in einem Alter, in dem die Kinder ins Studium gehen, in
dem das Haus oft noch gar nicht abbezahlt ist, müssen
sie auf einmal mit 70 Prozent des bisherigen Einkom-
mens auskommen. Wenn sie sich deshalb in einem zivi-
len Beruf etwas dazuverdienen, wird dieses Einkommen
ab einer bestimmten Höhe von der Pension abgezogen.
Bei ehemaligen NVA-Soldaten, die in die Bundeswehr
übernommen worden sind, ist das sogar alles oberhalb
von 450 Euro.





Dr. Fritz Felgentreu


(A) (C)



(D)(B)

Das ist ungerecht, weil sich die Betroffenen gar nicht
dafür entscheiden können, länger zu dienen und auf
diese Weise mehr zu verdienen. Sie müssen die Bundes-
wehr verlassen und sind damit schlechtergestellt als an-
dere Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, die erst jen-
seits der 60 in den Ruhestand gehen.

Wir wollen deshalb die Obergrenze für zusätzlich ver-
dientes Geld mindestens bis zu dem Alter aufheben, in
dem auch Bundespolizisten in den Ruhestand entlassen
werden. Bei den untersten Dienstgraden der Bundespoli-
zei liegt dieses Alter bei knapp 61 Jahren. Das Alter
steigt allmählich, und auch in der Bundeswehr wird das
Alter entsprechend angepasst. Aber an dieser Zeitgrenze
wollen wir uns für die Begrenzung der Zuverdienstmög-
lichkeiten orientieren.

Noch härter wirkt sich der frühe Ruhestand bisher bei
Geschiedenen aus. Sie teilen sich ihren Pensionsan-
spruch mit dem geschiedenen Partner. Mit anderen Wor-
ten: Ihre Pension wird gekürzt. Um wie viel, legt das Fa-
miliengericht bei der Scheidung fest. Das bedeutet,
Soldatinnen und Soldaten, die das von uns gemachte
Dienstrecht in einen frühen Ruhestand zwingt, haben
nicht nur früher ein niedrigeres Einkommen. Wenn sie
geschieden sind, müssen sie auch acht bis zwölf Jahre
länger als andere die Kürzung ihrer Versorgung hinneh-
men.

Soldaten, liebe Kolleginnen und Kollegen, erleben
leider überdurchschnittlich oft das Scheitern ihrer Ehe,
auch weil ihr Beruf durch seine Dienstzeiten, durch die
Auslandseinsätze und die vielen Versetzungen das Fami-
lienleben bisher stark belastet hat. Es ist deshalb gerecht,
auch den Versorgungsausgleich, oder auf Deutsch: die
Kürzung der Pension, mindestens bis zu dem Zeitpunkt
hinauszuschieben, zu dem das gleiche Schicksal auch
unsere Polizistinnen und Polizisten ereilt.

Sie können nun fragen: Was haben Versorgungsrege-
lungen für Ruheständler mit der Attraktivität der Bun-
deswehr beim Berufseinstieg zu tun? Fragen 19-Jährige
wirklich danach, wie sie versorgt sind, wenn ihre Ehe
scheitern sollte? Nein, meine Damen und Herren, das tun
sie wahrscheinlich nicht. Aber die Unzufriedenheit der
Älteren über die mangelnde Fürsorge bekommen sie
sehr schnell mit. Wenn wir Soldaten auf Zeit als Berufs-
soldaten gewinnen wollen, dann tun wir gut daran, auch
die Älteren gerecht und angemessen zu versorgen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


In jedem Fall ist unser Weg in eine moderne und at-
traktive Bundeswehr mit diesem Gesetz nicht zu Ende.
Am Standort und im Einsatz können wir an vielen Stel-
len mehr für die Zufriedenheit der Soldatinnen und Sol-
daten tun – mein Kollege Thomas Hitschler wird darauf
gleich noch eingehen –: durch Gesetzgebung und Finan-
zierung, aber auch dadurch, wie der rechtliche Rahmen
mit Leben erfüllt wird. Jeder Kommandeur sollte den
Ehrgeiz haben, dass die Bundeswehr immer die attrak-
tivste Arbeitgeberin an seinem Standort ist.

Die Anforderungen an Soldatinnen und Soldaten sind
hoch, und sie werden hoch bleiben; das ist auch richtig
so.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808301300

Herr Kollege, könnten Sie mit diesem wunderschönen

Gedanken Ihre Rede allmählich beenden?


Dr. Fritz Felgentreu (SPD):
Rede ID: ID1808301400

Letzter Satz. – Wenn es uns gelingt, Jahr für Jahr eine

ausreichende Zahl tüchtiger junger Leute für den an-
spruchsvollen Dienst in einer modernen und attraktiven
Bundeswehr zu gewinnen, dann ist mir um die Zukunft
unserer Freiwilligenarmee und auch um die Sicherheit
unseres Landes nicht bange. – Herr Präsident, ich danke
für Ihre Geduld.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808301500

Geht doch.


(Heiterkeit)


Nun hat die Kollegin Brugger für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Hoch-
glanzbroschüre ist längst verteilt, der Showroom an der
Berliner Friedrichstraße ist eingerichtet und mehr oder
weniger gut besucht.


(Wilfried Lorenz [CDU/CSU]: Sehr gut besucht!)


Die Pressekonferenzen und auch zahlreiche Interviews
sind gegeben. Nun, Frau Ministerin, erreicht das Artikel-
gesetz, das Kernstück Ihrer Attraktivitätsoffensive, end-
lich nach langem Warten den Bundestag.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach dem Ende der
Wehrpflicht, aber auch vor dem Hintergrund des demo-
grafischen Wandels kann es uns nicht egal sein, wer sich
mit welcher Motivation und mit welcher Qualifikation
für den Dienst bei der Bundeswehr entscheidet, und des-
halb ist das Thema Attraktivität auch so wichtig. Ebenso
wie ich wissen viele Kolleginnen und Kollegen aus di-
rekten Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten,
dass die Attraktivität und insbesondere die Vereinbarkeit
von Familie und Dienst von zentraler Bedeutung sind
und dass es eine große Unzufriedenheit gibt, weil die
Bundeswehr in diesem Bereich der Gesellschaft und
dem Standard, der dort herrscht, an vielen Stellen hinter-
herhinkt.

Wir Grünen haben jahrelang Verbesserungen gefor-
dert, und auch jetzt müssen wir an einigen Details der
Regelungen im Gesetzentwurf Kritik üben. An manchen
Stellen ist mehr möglich. Aber es gibt eine Kritik, mit
der wir uns nicht gemein machen wollen. Damit meine
ich den Unmut, den einige ältere Herren mit Bundes-
wehrhintergrund in den letzten Monaten geäußert haben,
die offensichtlich meinen, dass eine Scheidung automa-
tisch zu einer Bundeswehrlaufbahn dazugehört und es
sich dabei nur um ein weinerliches Wellness-Wohl-





Agnieszka Brugger


(A) (C)



(D)(B)

fühlthema handelt. Diese Herren haben von der Lebens-
realität junger Menschen und auch von der Lebensreali-
tät der Soldatinnen und Soldaten keine Ahnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch wenn mit dem Attraktivitätssteigerungsgesetz
an einigen Schrauben gedreht wird, können Sie das
Thema nicht von Ihrer To-do-Liste streichen, Frau
Ministerin. Nicht nur aus den vielen Rückmeldungen,
die wir als Abgeordnete von Bundeswehrangehörigen
erhalten, sondern auch aus zahlreichen wissenschaftli-
chen Untersuchungen und Umfragen wissen wir, dass
die Stimmung in der Bundeswehr schlecht ist, wenn es
um die Bundeswehrreform und ihre Umsetzung geht.
Das fängt nicht erst bei den Beschaffungsdesastern und
den Problemen beim Altgerät an; es setzt sich mit maro-
den Stuben und unnötigen Versetzungen fort und hört
auch nicht bei der extremen Einsatzbelastung von Solda-
tinnen und Soldaten mit bestimmten Fähigkeiten auf, bei
denen die vorgeschriebenen Ruhezeiten nicht eingehal-
ten werden. Davon zeichnet der Bericht des Wehrbeauf-
tragten aus der letzten Woche ein ziemlich drastisches
Bild, und er äußert auch deutliche Kritik an der Neuaus-
richtung der Bundeswehr.

Diese Probleme sind nicht alle vom Himmel gefallen,
und die Reform hat dabei versagt, sie zu lösen. Sie hat
sogar im Endeffekt dazu beigetragen, sie noch zu ver-
stärken. Statt zukunftsfähige Strukturen zu schaffen,
wurde einfach alles abgeschmolzen. Das hat dann die
Überbelastung der Soldatinnen und Soldaten zur Folge.
Das hat zur Folge, dass Gerät nur noch in unzureichen-
der Quantität und mangelhafter Qualität zur Verfügung
steht und langfristig in vielen Bereichen die Durchhalte-
fähigkeit infrage gestellt wird. Von der Finanzierbarkeit
will ich gar nicht sprechen.

Insofern muss man feststellen: Das Prinzip „Breite
vor Tiefe“, auf dem die ganze Bundeswehrreform be-
ruht, hat versagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


An der Stelle frage ich mich, wo die angekündigte Eva-
luation der Bundeswehrreform bleibt, gerade weil man
so viele Probleme erkennen könnte.

Sie müssen also umdenken und umsteuern. Sie müs-
sen sich in Abstimmung mit den europäischen Partnern
auf bestimmte Fähigkeiten konzentrieren. Denn wenn
Sie es mit dem Thema Attraktivität ernst meinen, dann
darf man die überfälligen Kurskorrekturen nicht länger
auf die lange Bank schieben.

Meine Damen und Herren, wie die Soldatinnen und
Soldaten die Bundeswehr und ihren Dienst dort wahr-
nehmen, hat auch mit einem anderen Thema zu tun: mit
der Fürsorge, also mit dem Umgang mit den Soldatinnen
und Soldaten, die der Bundestag mit seiner Mehrheit in
einen gefährlichen Auslandseinsatz entsendet hat und
die verwundet oder an der Seele geschädigt zurückge-
kehrt sind. Damit komme ich wieder zu den konkreten
Regelungen im Artikelgesetz. Denn bisher sind die Ent-
schädigungszahlungen für diejenigen, die einen Einsatz-
unfall nach dem Jahr 2002 erlitten haben, höher als für
diejenigen, die Vergleichbares vorher erlebt haben. Das
ist Willkür und auch ungerechte Ungleichbehandlung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grünen fordern in unserem Antrag, über den
nachher abgestimmt wird, diesen Stichtag aufzuheben
und dieses Problem komplett zu beseitigen. Denn die un-
eingeschränkte Fürsorgepflicht des Dienstherrn muss
unabhängig vom Status der Soldatinnen und Soldaten
und von irgendeinem willkürlich gewählten Stichtag gel-
ten.

Das Artikelgesetz sieht in diesem Punkt eine Ände-
rung vor: Der Stichtag wird auf den 1. Juli 1992 zurück-
datiert. Damit wird auch der Kreis der Betroffenen, die
diese Ungerechtigkeit erleben, verkleinert. Aber auch Ihr
neuer Stichtag war sehr willkürlich gewählt. Wir haben
Sie nicht nur bei der ersten Beratung unseres Antrages
darauf hingewiesen, dass es auch vor diesem Zeitpunkt
Soldaten im Auslandseinsatz gab, zum Beispiel im Rah-
men der UN-Mission in Kambodscha, sondern wir ha-
ben es auch im Ausschuss diskutiert und entsprechend
nachgefragt. Das Ministerium hat beteuert, es gebe keine
Fälle.

Deshalb freue ich mich, dass Sie – wenn ich den Kol-
lege Otte richtig verstanden habe – diese Anregung auf-
gegriffen haben, auch wenn Sie sicherlich gleich wieder
gegen unseren Antrag stimmen werden, und den Stich-
tag jetzt wenigstens noch weiter zurückdatieren wollen,
damit diese Ungerechtigkeit endgültig beseitigt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition, nicht nur von mir, sondern auch von der
Kollegin Wagner wurden viele der Schrauben angespro-
chen, an denen man noch drehen muss, wenn man es mit
dem Thema Attraktivität ernst meint. Wir hoffen, dass
Sie sich im Rahmen der Beratungen auch an anderen
Stellen für die guten Anregungen aus der Opposition of-
fen zeigen. Denn, Frau von der Leyen, wenn Sie es mit
der Attraktivitätsoffensive ernst meinen, dann müssen
Sie erkennen, dass es noch einige Baustellen gibt, und
zwar nicht nur im Rahmen des Artikelgesetzes, sondern
insbesondere auch darüber hinaus.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808301600

Michaela Noll ist die nächste Rednerin für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michaela Tadjadod (CDU):
Rede ID: ID1808301700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn ich meinen
Blick nach oben richte, sehe ich Herrn Wüstner und
Herrn Schönmeyer vom BundeswehrVerband. Ich möchte
Ihnen sagen: Vielen Dank für Ihre Anregungen! Vieles





Michaela Noll


(A) (C)



(D)(B)

von dem, was wir hier heute diskutieren, war Gegen-
stand des Dialogs zwischen Ihnen und uns.

Ich weiß, dass Sie circa 200 000 Mitglieder haben.
Ich befürchte aber, dass nicht alle heute vor dem Fernse-
her sitzen und diese Debatte verfolgen. Deswegen würde
ich Sie bitten, das, was Sie heute aus dieser Debatte mit-
nehmen, an die Soldatinnen und Soldaten vor Ort weiter-
zutragen, damit diese wissen: Es ist ein sehr guter Tag
für die Soldatinnen und Soldaten.

Auf der Besuchertribüne sehe ich eine gemischte Al-
tersgruppe. Vielleicht gelingt es uns, den einen oder an-
deren anzuregen, darüber nachzudenken, dass die Bun-
deswehr wirklich attraktiv ist. Ich werde mich an dieser
Stelle redlich darum bemühen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Verderben Sie den jungen Leuten nicht die Zukunft!)


Dass heute ein guter Tag für die Soldatinnen und
Soldaten ist, haben wir eben gehört. Die Attraktivitäts-
offensive teilt sich auf in zwei Teile: die „Agenda At-
traktivität“ und das Artikelgesetz. Das eine betrifft die
Sichtweise nach innen, also diejenigen, die wir anwer-
ben wollen, und das andere betrifft diejenigen, die be-
reits in der Bundeswehr sind. Dafür ist es verdammt
noch mal auch Zeit!

Insbesondere durch die Neustrukturierung der Bun-
deswehr hat sich das Leben vieler Soldaten massiv geän-
dert. Wenn wir wollen, dass die Neuausrichtung ein Er-
folg wird, dann müssen wir diejenigen mitnehmen, die
es tatsächlich tangiert, und das sind die Soldaten.

In Gesprächen ist mir bewusst geworden: Viele Sol-
daten „schwimmen“. Sie sagen: Es muss sich alles noch
einspielen. Vieles ist noch unklar. – Deswegen ist jetzt
der richtige Moment für die Attraktivitätsoffensive. Sie
stellt den Menschen in den Mittelpunkt und bewirkt kon-
krete Verbesserungen.

Das Vertrauen in die Bundeswehr als Arbeitgeber ist
an der einen oder anderen Stelle ein bisschen verloren
gegangen. Ich bin sicher, dass dies die Chance ist, dieses
Vertrauen zurückzugewinnen.

Ich möchte an dieser Stelle ein herzliches Danke-
schön an unsere Verteidigungsministerin richten. Sie ha-
ben eine ehrliche Analyse gemacht und aufgeführt, wo
Handlungsbedarf besteht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte etwas erwähnen, was den Soldaten, aber
nicht all denjenigen, die hier im Saal sind, vertraut ist:

Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu
zu dienen und das Recht und die Freiheit des deut-
schen Volkes tapfer zu verteidigen.

Das ist der Diensteid, den die Berufssoldatinnen und -sol-
daten und die Soldaten auf Zeit leisten. Ich habe ihn be-
wusst wiedergegeben, um zu transportieren, über was
und über wen wir hier wirklich sprechen. Es geht um die
Menschen, die bereit sind, im schlimmsten Fall ihr Le-
ben für uns, für unsere Sicherheit und für unsere Freiheit
einzusetzen.

Ich mache einmal einen kleinen Abstecher. Ich war
diese Woche Montag im „Wald der Erinnerung“; Gene-
ral Fritz hat mich durchgeführt. In diesem Wald sieht
man an den Stelen und Bäumen die Namen der gefalle-
nen und gestorbenen Soldaten. Ich denke, diese Gedenk-
stätte ist ein deutliches Zeichen gegen das Vergessen. Er
ist auf Wunsch der Hinterbliebenen entstanden. Es ist ein
Ort der Stille und der Trauer. Deswegen sage ich: Soldat
ist kein Beruf wie jeder andere. Denn die Soldatinnen
und Soldaten sind bereit, alles zu geben.

Dass Freiheit und Sicherheit nicht mehr selbstver-
ständlich sind, haben jetzt und heute, glaube ich, alle be-
griffen. Die weltweite Sicherheitslage hat sich komplett
verändert. Überall in der Welt gibt es Krisen und Instabi-
lität. Es gibt Auseinandersetzungen, zum Beispiel in der
Ukraine oder in Form des Vormarsches des IS und der
Anschläge in Paris. Freiheit und Frieden sind keine
Selbstverständlichkeit mehr.

Die Generation, die heute hier oben und unten im Saal
sitzt, ist die Generation, die letztendlich noch nie einen
Krieg erlebt hat. Wir kennen ihn nur aus den Erzählun-
gen unserer Eltern und unserer Großeltern. Deswegen
sage ich: Sicherheit ist nicht zum Nulltarif zu haben. Wir
müssen Geld für die Bundeswehr in die Hand nehmen;
denn die Ansprüche an die Bundeswehr und an ihr Per-
sonal werden weiter zunehmen. Rund 120 Millionen
Euro zusätzlich werden allein im Jahr 2015 zur Verfü-
gung gestellt. Das ist ein Anfang.

Viele haben genauso wie Herr Leutert die mangel-
hafte Ausrüstung angesprochen. Natürlich ist das ein
Problem; die KPMG-Studie hat das gezeigt. Aber wir
haben dieses Problem erkannt und arbeiten an einer Lö-
sung. Gute Ausrüstung ist wichtig und für viele Soldaten
sogar überlebenswichtig. Attraktiv ist sicherlich all das,
was die Arbeit sicherer macht. Aber wir müssen auch die
Gesamtheit der Soldaten im Blick haben und darauf ach-
ten, dass sie einsatzfähig und motiviert sind, die Arbeit
gut und gewissenhaft zu erledigen.

Der Kollege Fritz Felgentreu hat eben darauf hinge-
wiesen, dass es sich bei der Bundeswehr um eine Frei-
willigenarmee handelt. Das heißt, niemand muss mehr
Dienst tun. Oft wird gesagt, dass die Bundeswehr die
Besten haben will. Ich will diesen Bogen weiter span-
nen. Ich möchte gerne auch diejenigen für die Bundes-
wehr gewinnen, die sozial kompetent, teamfähig und
verantwortungsvoll sind; gerade angesichts vieler kom-
plexer Tätigkeiten bei der Bundeswehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir brauchen qualifizierte Leute, die mit komplizierter
Technik umgehen können. Damit stehen wir in Konkur-
renz zu vielen Großunternehmen. Die Wirtschaft und das
Handwerk suchen händeringend Leute. Der vieldisku-
tierte Fachkräftemangel macht auch vor der Bundeswehr
nicht halt. Ich habe an der Schule meines Sohnes erlebt,
dass die Unternehmen durch gezielte Kooperation mit
der Schule die Schüler, die als Leistungskurs Informatik





Michaela Noll


(A) (C)



(D)(B)

belegt haben oder gute Noten in naturwissenschaftlichen
Fächern haben, mit attraktiven Angeboten regelrecht ab-
fischen. Wenn die Bundeswehr hier nicht mit dem Rü-
cken zur Wand stehen will, muss sie sich warm anziehen
und sich bewegen. Die entsprechenden Maßnahmen
dazu haben Sie mit der Attraktivitätsoffensive auf den
Weg gebracht. Danke, Frau Ministerin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


An den Berufsberatungstagen stehen die jungen Leute
Schlange am sogenannten Karrierebus. Aber wir müssen
auch erreichen, dass sie bei der Bundeswehr bleiben. Sie
bleiben dann, wenn die Bundeswehr attraktiv ist. Darum
müssen wir uns kümmern. Wir verlangen viel von den
Soldaten. Daher verlange ich, dass die Soldaten die best-
möglichen Rahmenbedingungen bekommen. Dafür wer-
den wir mit dem nun zur Beratung anstehenden Gesetz
sorgen.

In der Presse ist oft von maroden Unterkünften und
Überbelegungen die Rede. Ist das attraktiv für junge
Leute? Ich glaube, eher weniger. Deswegen war es rich-
tig, dass Sie, Frau Ministerin, gesagt haben: Wir nehmen
nun Geld in die Hand. – Von den insgesamt 3 000 Unter-
künften werden erst einmal 500 geschlossen. 800 Sofort-
maßnahmen sind bereits abgeschlossen. Das heißt, es
geht aufwärts. Das gigantische Schiff Bundeswehr in der
Fläche zu bewegen, ist sicherlich kein einfacher Job.
Aber ich bin sicher, dass Sie, Frau Ministerin, das schaf-
fen werden. Sie haben gesagt, dass Sie mit Hochdruck
daran arbeiten, und auf Ihre Aussage ist Verlass.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Fritz Felgentreu [SPD])


Ist es attraktiv, jedes Wochenende Hunderte Kilome-
ter zu pendeln und in der Regel fernab von der Familie
zu leben? Nein, das ist es nicht. Ist es attraktiv, die Frei-
zeit nicht mehr richtig planen zu können? Nein, das ist es
nicht. Laut der 2013 veröffentlichten Studie über die At-
traktivität der Mannschaftslaufbahnen lehnen viele junge
Leute unregelmäßige Arbeitszeiten ab und möchten
mehr Zeit für die Familie haben. Mit den 29 untergesetz-
lichen Maßnahmen der „Agenda Attraktivität“, die dazu
dienen, Verlässlichkeit und Planbarkeit für die Soldaten
zu schaffen, und den im Artikelgesetz aufgeführten
22 Maßnahmen wird es uns gelingen, mehr Nachwuchs
für die Bundeswehr zu rekrutieren.

Wie ich sehe, habe ich mich zeitlich verkalkuliert.
Deshalb muss ich meinen Redebeitrag radikal kürzen.
Nur noch so viel: Es gibt etwas, was nur die Bundeswehr
lebt. Das ist Kameradschaft. Das finden Sie in kaum ei-
nem anderen Unternehmen. Als ich im Mai letzten Jah-
res in Masar-i-Scharif war, habe ich mit den Soldaten
und vor allem mit den Soldatinnen gesprochen. Eine
Soldatin hat mir auf meine Frage, warum sie bei der
Bundeswehr sei, geantwortet: „Kameradschaft im Ein-
satz so wie hier finden Sie nirgendwo anders!“ Hier ist
die Bundeswehr einmalig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808301800

Ein ermutigendes Beispiel dafür, dass ein Debatten-

beitrag auch durch radikale Kürzung des Manuskripts
nicht an Wirkung verlieren muss.


(Heiterkeit)


Nächster Redner ist der Kollege Thomas Hitschler für
die SPD-Fraktion.


Thomas Hitschler (SPD):
Rede ID: ID1808301900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die öffentliche Aufmerksamkeit für sicher-
heits- und verteidigungspolitische Themen hat im ver-
gangenen Jahr deutlich zugenommen. Die dramatischen
Veränderungen im Weltgeschehen und die Frage nach
unserer eigenen Rolle und Verantwortung auf der einen
Seite sowie der Zustand der Ausrüstung unserer Truppe
auf der anderen Seite haben für viel Aufsehen gesorgt.

Die Vielzahl der Bilder und Karikaturen mit sicher-
heitspolitischen Themen in unseren Zeitungen ist ein In-
dikator für die gesteigerte Aufmerksamkeit. Das wurde
mir gerade in dieser Woche bei der Veranstaltung „Rück-
blende 2014“ in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz
deutlich vor Augen geführt. In einer zentral platzierten
Karikatur hüpft beispielsweise ein junger Soldat hände-
klatschend durch eine Waldorfkaserne und freut sich da-
rüber, dass dort gesungen, geklatscht und gebastelt wird.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Reformpädagogi-
schen Ansätzen stehe ich prinzipiell offen und positiv
gegenüber, aber Karikaturen überspitzen natürlich. Ge-
rade in diesen Tagen muss man unterstreichen: Das dür-
fen, müssen und sollen sie auch. Das Bild der Waldorf-
kaserne spiegelt aber auch wider, wie überspitzt und
manchmal auch etwas schief die Debatte über die At-
traktivität der Bundeswehr in der Öffentlichkeit geführt
wird. Die etwas abschätzig gemeinte Vokabel der Wohl-
fühltruppe ist von der Waldorfkaserne so weit nicht ent-
fernt. Sie unterstreicht das bei vielen noch vorherr-
schende Bild: Der Soldat wärmt sich am Eisblock.

Damit verbunden ist die Unterstellung, die Attraktivi-
tät der Bundeswehr sei ein weiches Thema und in der
harten Welt der Verteidigungspolitik damit eher unwich-
tig. Das Gegenteil ist der Fall. Wir können den alten und
neuen Herausforderungen der Sicherheitspolitik nur be-
gegnen, wenn wir unsere Truppe bestmöglich aufstellen.
Angesichts des demografischen Wandels, des Fachkräf-
temangels und der starken Konkurrenz auf dem Arbeits-
markt ist es absolut essenziell, dass die Bundeswehr als
attraktiver und moderner Arbeitgeber wahrgenommen
wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Attraktivitätsoffensive ist für die Zukunftsfähig-
keit der Bundeswehr von enormer Bedeutung. Das Bun-
deswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz, über das wir
heute beraten, ist ein zentraler und auch ein wichtiger
Baustein in dieser Offensive, aber auch nicht der letzte
und einzige. Die Verbesserungen im Zulagewesen und
bei der Besoldung, bei den Dienstzeitregelungen und im





Thomas Hitschler


(A) (C)



(D)(B)

Versorgungsrecht sind absolut zu begrüßen. Das wurde
heute eigentlich von allen verdeutlicht. Aber die Attrak-
tivität hört da noch lange nicht auf.

Wir haben in den letzten Monaten auch einiges von
Flachbildschirmen, W-LAN und Kühlschränken gehört.
Von einigen „Eisblockwärmern“ wurden diese Vor-
schläge zwar belächelt, dennoch sind auch das sinnvolle
Maßnahmen, wenn wir im Konkurrenzkampf um die
besten Köpfe bestehen wollen. Aber eines muss man
hier auch unterstreichen: Das alles ist nichts wert, wenn
einem gleichzeitig die Bude unter den Füßen wegschim-
melt.

Im Jahresbericht des Wehrbeauftragten nimmt der Zu-
stand vieler Kasernen erneut eine zentrale Stelle ein.
Kein Wunder; denn fast die Hälfte der Unterkünfte gilt
als marode. Beinahe jede zehnte Kaserne gilt als unbe-
wohnbar. Meinen herzlichen Dank für diesen scho-
nungslosen Bericht, lieber Herr Königshaus, er hilft auch
uns in der Politik sehr weiter.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn es schon am Fundament bröckelt, dann muss
man deutlich mehr für die Attraktivität machen, als nur
die Fassaden zu streichen. Gerade in Westdeutschland
schieben wir einen enormen Sanierungsstau vor uns her.
Das konnte ich bei meiner Sommertour selbst an vielen
Bundeswehrstandorten beobachten. Ein konkretes Bei-
spiel bildet dabei die General-Sponeck-Kaserne in Ger-
mersheim, eine Kaserne mit den besten Voraussetzungen
dafür, ein Paradebeispiel für eine attraktive Bundeswehr
zu sein – und das nicht nur, weil sie im schönsten Wahl-
kreis der Republik liegt.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Beifall des Abg. Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Zustimmung vom Kollegen Lindner, vollkommen zu
Recht.

Die General-Sponeck-Kaserne beherbergt das mittler-
weile einzige Ausbildungsbataillon unserer Luftwaffe
und gilt als deren Visitenkarte; denn dort werden die Sol-
datinnen und Soldaten der Luftwaffe auf Auslandsein-
sätze vorbereitet. Eine tolle Truppe und ein motivierter
Kommandeur leisten vor Ort eine Spitzenarbeit. Aber
auch dieses Aushängeschild hat mit den gleichen Proble-
men zu kämpfen wie viele andere Kasernen auch: ma-
rode Gebäude, Baumängel und enorme Verzögerungen
bei den Sanierungsmaßnahmen.

Um den einfachen Antworten gleich einmal eines ent-
gegenzuhalten: Am Geld allein liegt das nicht. 61 Mil-
lionen Euro an Bundesmitteln stehen für die Baumaß-
nahmen bereit, weitere 4 Millionen Euro für kleinere
Baumaßnahmen. Aber die Umsetzung geht nur schlep-
pend voran. Woran liegt das? Für den Neubau müssen
einige Gebäude abgerissen werden. Dort waren aber bis
vor kurzem noch Soldatinnen und Soldaten unterge-
bracht. Der Bau eines Wohngebäudes, das übergangs-
weise als Ausweichquartier dienen sollte, hat sich jedoch
massiv verzögert und konnte erst jetzt, nach fast fünf
Jahren Bauzeit, übergeben werden. Fünf Jahre, liebe
Kolleginnen und Kollegen!

Gleich zwei Baufirmen sind in dieser Zeit bankrottge-
gangen. Alle Folgeprojekte haben sich entsprechend mit
verzögert und aufgestaut. Wie auch bei den vielen Män-
geln in der Rüstung lässt sich also auch hier feststellen:
Es fehlt nicht unbedingt am Geld, sondern an verlässli-
cher Planung und gutem Management. Wer genau wann
wo was verbockt hat, halte ich dabei erst einmal für
zweitrangig. Die Truppe interessiert sich nämlich nicht
dafür, wer gerade wem den Schwarzen Peter zusteckt.
Sie wollen, dass ihre maroden Kasernen endlich saniert
werden.


(Beifall bei der SPD)


Auf unsere Initiative hin haben wir deshalb im letzten
Haushalt beschlossen, dass das Verteidigungsministe-
rium dem Parlament jährlich Fortschrittsberichte über
die Sanierung der einzelnen Liegenschaften zu übersen-
den hat. Darauf werden wir jetzt auch pochen.


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen nämlich keinen blinden Aktionismus,
sondern verlässliche Analysen als Grundlage einer bes-
seren Planung. Wir brauchen mehr Transparenz, aber
auch Planungssicherheit. Dazu ist eine engere Abstim-
mung mit den zuständigen Baubehörden der Bundeslän-
der nötig. Darüber hinaus braucht es weitere konkrete
Maßnahmen. Ein zentrales Projektcontrolling soll Risi-
komanagement, Terminplanung und Kostenkontrolle
vereinen. Die einzelnen Verfahren sollten transparenter
und einfacher gemacht werden. Ich meine, Bürokratie-
abbau könnte gerade in diesem Bereich einiges erleich-
tern.

Mir leuchtet beispielsweise nicht ein, warum Kleinst-
aufträge nicht auch unkompliziert von der Truppe vor
Ort bearbeitet werden können. Gerade die kleinen und
kleinsten Aufträge müssen besser gebündelt werden, da-
mit es an zentralen Stellen der Planungsverfahren nicht
zu Verstopfungen kommt.

Punktuell sind auch personelle Verstärkungen zu prü-
fen. Das gilt sowohl für die Landesbaubehörden als auch
im militärischen Infrastrukturbereich auf Bundesebene.
Der in der letzten Legislaturperiode beschlossene Abbau
von Personal im Zuge der Neuausrichtung machte sich
gerade im Sanierungsstau bemerkbar, und darunter lei-
den am Ende alle.

Deshalb möchte ich an dieser Stelle unsere Aufforde-
rung aus dem Haushaltsantrag an das Ministerium erneu-
ern: Erhöhen Sie die Stehzeiten für die Infrastrukturoffi-
ziere vor Ort. Denn nur, wo eine echte Baubegleitung
der Maßnahmen möglich ist, kann am Ende auch effek-
tiv gebaut werden.


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen gleichzeitig in den zentralen Bereichen
zusätzliches Personal für die Infrastrukturbearbeitung;
denn nur so kann der unsägliche Sanierungsstau abge-
baut und aufgelöst werden. „Überbelegung von Stuben,





Thomas Hitschler


(A) (C)



(D)(B)

Rost- und Schimmelbefall, Kloakengeruch und im
Winter defekte Heizkörper in Sanitärbereichen“, diese
Punkte bezeichnet der Jahresbericht 2014 des Wehrbe-
auftragten als exemplarisch für die vernachlässigte Infra-
struktur. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gleicht
kein noch so großer Flachbildschirm aus.

Wenn wir also über die Attraktivität der Bundeswehr
sprechen, dann sind wir mit dem heutigen Gesetz noch
lange nicht am Ziel. Es ist noch ein langer Weg, ein Weg,
den wir aber gehen müssen. Wir schicken unsere Solda-
tinnen und Soldaten in gefährliche Einsätze, bei denen
sie nicht weniger riskieren als ihr Leben. Es liegt in
unserer Verantwortung, dass sie ordentlich vorbereitet,
ausgerüstet und versorgt werden. Es liegt in unserer Ver-
antwortung, dass sie hier bei uns in ordentlichen und
modernen Unterkünften untergebracht werden. Wenn
wir diese Verantwortung nicht ernst nehmen, müssen wir
über mehr Verantwortung in der Welt gar nicht erst re-
den.

Sei es bei der Ausrüstung, sei es bei den Kasernen, sei
es bei den Themen, die wir nun mit dem Attraktivitäts-
gesetz konkret anpacken – ich ermutige uns alle: Lassen
wir uns nicht von etwas Spott und Häme über Wohlfühl-
truppen und Waldorfkasernen davon abbringen. Denn
dafür ist dieses Thema viel zu wichtig.

Vielen Dank.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808302000

Das Wort erhält nun die Kollegin Julia Obermeier für

die CDU/CSU-Fraktion.


Julia Bartz (CSU):
Rede ID: ID1808302100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Soldatenberuf ist kein Beruf wie jeder an-
dere. Der Dienst in den Streitkräften ist fordernd, außer-
gewöhnlich und manchmal lebensgefährlich. Ob Piloten
von Kampfjets, U-Boot-Fahrer, Scharfschützen, Instand-
setzungsfeldwebel, Flugzeugmechaniker oder Sanitäter,
alle Angehörigen der Bundeswehr haben den Auftrag,
uns und unser Land zu verteidigen. Diese für die äußere
Sicherheit unseres Staates wesentliche Aufgabe legen
wir Tag für Tag in ihre Hände.

Ich habe die Bundeswehr bei vielen Truppenbesuchen
erlebt. Vor allem im Ausland wurde mir deutlich vor Au-
gen geführt, welch herausragende Leistungen unsere
Frauen und Männer in Uniform bei der Erfüllung ihres
Dienstes erbringen.

Die Attraktivität dieses einzigartigen Berufs fußt glei-
chermaßen auf zwei Säulen:

Die erste Säule sind gutes Gerät, Material und Aus-
rüstung. Auch wenn die Industrie nicht immer liefert:
Unser Anspruch ist und bleibt bestes und modernstes
Gerät für unsere Bundeswehr. Deshalb streben wir auch
eine moderate Erhöhung des Wehretats und die richtige
Balance zwischen investiven Ausgaben und Betriebs-
kosten an.

Damit eine Mission erfüllt werden kann, braucht man
aber mehr als das richtige Gerät; es kommt vor allem auf
die Menschen an. Damit kommen wir zur zweiten Säule,
zu den attraktiven Arbeitsbedingungen. Genau hier setzt
die Attraktivitätsoffensive unserer Ministerin an. Diese
Initiative kommt zum rechten Zeitpunkt: 2015 wird die
Umsetzung der Bundeswehrreform für die Truppe im-
mer greifbarer. Der erste Schritt der Offensive war die
Agenda „Bundeswehr in Führung – Aktiv. Attraktiv. An-
ders.“ mit wichtigen Maßnahmen wie modernen Ar-
beitszeitmodellen, Angeboten zur Kinderbetreuung und
modernen Unterkünften.

Das Gesetzesvorhaben, über das wir heute beraten,
stellt den zweiten Schritt der Attraktivitätsoffensive dar
und umfasst die Teilbereiche: bessere Arbeitsbedingun-
gen, attraktive Vergütung und bessere soziale Absiche-
rung der Angehörigen der Bundeswehr. Zu den insgesamt
22 Maßnahmen gehören zum Beispiel eine Erhöhung
des Wehrsolds, eine deutliche Steigerung bei Zulagen für
besonders fordernde Aufgaben oder neue Teilzeitbe-
schäftigungsmodelle, um die Vereinbarkeit von Dienst
und Familie zu verbessern.

Wir brauchen dieses Bundeswehr-Attraktivitätssteige-
rungsgesetz, damit einer der größten öffentlichen Arbeitge-
ber Deutschlands auch künftig seinen hohen Personalbedarf
decken kann. Wie der Vorsitzende des Bundeswehr-
Verbandes, André Wüstner, richtig festgestellt hat, ist
der Gesetzentwurf zentral, um qualifizierten Nachwuchs
für die Truppe zu gewinnen. An dieser Stelle möchte ich
dem BundeswehrVerband noch einmal herzlich für sei-
nen vielfältigen Einsatz für die Soldatinnen und Soldaten
danken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der vorliegende Gesetzentwurf lässt keinen Zweifel:
Wir befinden uns hier auf dem richtigen Weg, auch wenn
noch nicht alles erreicht ist, was im Koalitionsvertrag
steht. Wir werden uns auf alle Fälle auch weiterhin für
eine Steigerung der Attraktivität des Arbeitgebers Bun-
deswehr einsetzen. Aus zahlreichen Gesprächen mit Sol-
datinnen und Soldaten weiß ich um Wünsche nach wei-
teren Verbesserungen beim Versorgungsausgleich oder
bei der nachträglichen Versicherung von Soldaten auf
Zeit.

Ich hoffe, dass wir in den nun beginnenden parlamen-
tarischen Beratungen noch die eine oder andere Verbes-
serung umsetzen können, zum Beispiel im Bereich des
Berufsförderungsdienstes oder bei der Stichtagsregelung
für die Entschädigung bei Einsatzunfällen. Konkret
würde ich mir hier eine Rückdatierung auf 1991 wün-
schen, sodass auch der Einsatz in Kambodscha abge-
deckt ist.

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind mit einem
hohen Risiko für unsere Soldatinnen und Soldaten be-
haftet. Deshalb setzen wir uns besonders für eine weitere
Verbesserung der Versorgung von Einsatzgeschädigten
und Hinterbliebenen ein, auch wenn die Fälle möglicher-
weise weit in der Vergangenheit liegen.

Die Würdigung der Arbeit unserer Soldatinnen und
Soldaten liegt mir ganz besonders am Herzen. Sie neh-
men für unser Land eine schwere Belastung auf sich. Ihr





Julia Obermeier


(A) (C)



(D)(B)

Einsatz für unser Vaterland verdient unser aller Anerken-
nung und unser aller Respekt.


(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Wir Parlamentarier – insbesondere spreche ich hier für
meine CDU/CSU-Fraktion – stehen an der Seite unserer
Streitkräfte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Arnold [SPD] – Zuruf des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Das Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz ist
ein wichtiger Beitrag, um diese Leistung der Soldatinnen
und Soldaten anzuerkennen. Ich danke unserer Verteidi-
gungsministerin für diese wichtige Initiative und freue
mich auf die weiteren parlamentarischen Beratungen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808302200

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Oswin Veith, auch für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Oswin Veith (CDU):
Rede ID: ID1808302300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten auf der Besu-
chertribüne! Zum Schluss der Debatte will ich noch ein-
mal daran erinnern: Vor knapp sechs Monaten haben Sie,
Frau Bundesministerin von der Leyen, Ihren Anspruch
formuliert, die Bundeswehr zu einem der attraktivsten
Arbeitgeber in Deutschland zu machen. Von vielen
damals belächelt, lassen Sie mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf im Rekordtempo Taten folgen. Das ist vor-
bildlich und zeigt den hohen Stellenwert und die Wert-
schätzung der Leistungen unserer Soldatinnen und
Soldaten, und das begrüße ich und begrüßt meine Frak-
tion außerordentlich.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn es denn richtig ist, dass wir eine zukunftssichere
Bundeswehr mit leistungsfähigen, loyalen und hoch-
motivierten Soldaten wollen, dann ist Ihre Initiative,
Frau Ministerin, genau die richtige zur richtigen Zeit.

Danken möchte ich an dieser Stelle auch dem Bun-
desminister des Innern und seinem ganzen Hause, das in
engem Schulterschluss den Gesetzentwurf mit ausgear-
beitet hat. In der Tat ist so sehr schnell ein großer Wurf
gelungen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Attraktivität darf in
Zeiten des demografischen Wandels keine leere Wort-
hülse sein. Das gilt für den Soldatenberuf ebenso wie für
das Beamtentum und den öffentlichen Dienst insgesamt.
Attraktivität ist konkret, und sie ist auch messbar. Sie
zeigt sich zum Beispiel in Bewerberzahlen oder dem
Image eines Arbeitgebers.

Die Opposition hat heute viel zu diesem Thema ge-
sagt und dabei vieles unnötig schlechtgeredet. Ich will
diesen Worten Zahlen entgegensetzen: Polizei und Bun-
deswehr sind im aktuellen Schülerbarometer die belieb-
testen Arbeitgeber. Bemerkenswert ist dabei, dass die
Bundeswehr bei dieser repräsentativen Umfrage beson-
ders in der Gunst der Mädchen zugelegt hat. Klasse, sage
ich da nur. Darüber hinaus konnte am Anfang dieser Wo-
che ein neuer Rekord mit 11 000 freiwillig Wehrdienst-
leistenden verzeichnet werden; ein Spitzenwert. Ich
finde, das sind alles erfreuliche Entwicklungen, die zei-
gen, dass die Richtung stimmt. Das sollte auch die Op-
position zur Kenntnis nehmen.

Liebe Opposition, das heißt auch, dass es sich dabei
eben nicht um Zufälle handelt. Vielmehr ist es das Er-
gebnis der unter Bundesminister de Maizière begonne-
nen Maßnahmen, die nun von unserer amtierenden
Verteidigungsministerin konkretisiert und intensiviert
werden.


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die soll mal korrigieren!)


Viele Details sind bereits von meinen Vorrednern er-
wähnt worden. Ich möchte im Wesentlichen drei Verbes-
serungen ansprechen, die ich gerade für die Zeit- und
Berufssoldaten für besonders wichtig erachte. Erstens.
Eine gesetzliche Arbeitszeitregelung klingt für viele Ar-
beitnehmer selbstverständlich. Für Bundeswehrsoldaten
gibt es sie nicht; noch nicht; denn nun soll sie im Grund-
betrieb eingeführt werden. Das klingt zunächst einmal
nicht spektakulär, jedoch verbessert es die Planbarkeit
des Dienstes und trägt damit zur besseren Vereinbarkeit
von Dienst und Privatleben bei.

Zweitens. Auch die Aufhebung der Hinzuverdienst-
grenzen ist eine wichtige Maßnahme. Auf Wunsch des
eigenen Dienstherren werden Berufssoldaten im Schnitt
fast acht Jahre früher als Beamte in den Ruhestand ver-
setzt. Das wirkt sich auch auf ihre Versorgungsbezüge
aus. Dabei haben die Soldaten aufgrund der besonderen
Altersgrenzen keine Möglichkeit, ihre Versorgungssitua-
tion durch längeres Dienen zu verbessern. Der Gesetz-
entwurf trägt dem Rechnung und streicht die bestehen-
den Grenzen für Hinzuverdienst, der in dieser Phase
privatwirtschaftlich erzielt wird. Wir befördern damit
den Leistungswillen und stärken die Möglichkeiten der
Altersversorgung für unsere Berufssoldaten – eine wich-
tige und richtige Botschaft, wie ich finde.

Drittens. Durch die speziellen Altersgrenzen für Be-
rufssoldatinnen und -soldaten greift im Falle einer Schei-
dung der Anspruch auf einen Teil der Pension wesentlich
früher als bei den Beamten. Es ist daher richtig, auch beim
Versorgungsausgleich die Altersgrenze auf 61 Jahre anzu-
heben. Das ist eine Angleichung, die ein Stück mehr Ge-
rechtigkeit bedeutet.

An den von mir vorgebrachten Beispielen wird deut-
lich: Wir reden hier nicht über Geschenke an die Solda-
tinnen und Soldaten, sondern über sinnvolle Anpassun-
gen an die Regelungen der übrigen Bundesbeamten und
des öffentlichen Dienstes.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Oswin Veith


(A) (C)



(D)

Daher darf der vorliegende Gesetzentwurf auch nicht als
Zurücksetzung der Beamten missinterpretiert werden;
denn viele der Änderungen zielen auf eine Angleichung
der Rechtslage der Soldaten an Standards, die für unsere
Beamten schon länger gelten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Staats-
sekretär Gerd Hoofe hat in einem Interview gesagt
– auch die Frau Bundesministerin hat dies heute hier an-
gesprochen –, dass die Attraktivitätsagenda mehr ein
Marathon denn ein Sprint sei. Recht hat er. Und trotzdem
haben die zur Debatte stehenden Maßnahmen eines ge-
meinsam: Sie können schnell Wirkung entfalten. Ich
freue mich daher, dass wir bereits jetzt einen wichtigen
Baustein zur Attraktivitätssteigerung des Dienstes in der
Bundeswehr beraten können. Für mich ist das jetzt schon
ein gelungenes Werk.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808302400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 18/3697 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall, dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Unter dem Zusatzpunkt 7 kommen wir zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungs-
ausschusses zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Mehr Gerechtigkeit bei der Ent-
schädigung von Einsatzunfällen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
18/3126, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/2874 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Antrag-
steller bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für die
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern an Führungspositionen in der Pri-
vatwirtschaft und im öffentlichen Dienst

Drucksache 18/3784
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Zweiter Erfahrungsbericht der Bundesregie-
rung zum Bundesgleichstellungsgesetz

(Berichtszeitraum 1. Juli 2004 bis 30. Juni 2009)


Drucksache 17/4307
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Fünfter Gremienbericht der Bundesregierung
zum Bundesgremienbesetzungsgesetz

(Berichtszeitraum: 30. Juni 2005 bis 30. Juni 2009)


Drucksache 17/4308 (neu)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache wiederum 96 Minuten vorgesehen. –
Das ist offenkundig unstreitig. Also verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Manuela Schwesig.


(Beifall bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Schwesig, Herr Kauder ist nicht da! Er sitzt irgendwo und weint!)


Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:

Aber Herr Lammert ist da. Das ist doch auch toll. Ein
Präsident, der zuhört.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Chef!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808302500

Er ist gelegentlich schon einmal hier. Ich bedanke

mich ausdrücklich für die freundliche Erwähnung.

Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete!

Männer und Frauen sind gleichberechtigt.

So steht es im Grundgesetz, Artikel 3 Absatz 2 Satz 1.
Die Lebenswirklichkeit sieht anders aus. Frauen haben
im letzten Jahrzehnt den Arbeitsmarkt erobert, aber sie
bekommen immer noch weniger Lohn für die gleiche
Arbeit. Sie kommen trotz bester Ausbildung weniger in
Führungsetagen an. Sie tragen immer noch die Last für

(B)






Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)

die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das muss sich
ändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im letzten Jahr haben wir drei Gesetze auf den Weg
gebracht, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie
für Männer und Frauen zu verbessern. In diesem Jahr be-
schäftigen wir uns mit den Themen: Beseitigung von
Lohnungerechtigkeit und mehr Frauen in Führungsposi-
tionen.

Gut die Hälfte der jungen Menschen, die die Schule
mit der allgemeinen Hochschulreife abschließen, sind
Mädchen. Gut die Hälfte der jungen Menschen, die ei-
nen Hochschulabschluss machen, sind Frauen. Im Bil-
dungssystem sind Männer und Frauen auf den ersten
Blick gleichberechtigt: dem Ergebnis nach. Aber nicht in
der Arbeitswelt. Der Anteil von Frauen in den Aufsichts-
räten der 200 größten Unternehmen in Deutschland be-
trägt 18 Prozent, in den Vorständen nur 5 Prozent. Das
sind die aktuellen Zahlen aus dem Managerinnen-Baro-
meter des DIW.

In Artikel 3 unseres Grundgesetzes heißt es weiter:

Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.

In dieser Verantwortung stehen wir, sehr geehrte Damen
und Herren. Wir müssen dafür sorgen, dass die im
Grundgesetz formulierte Gleichberechtigung von Frauen
und Männern auch tatsächlich in der Lebenswirklichkeit
vorhanden ist.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In dieser Verantwortung legen der Bundesjustizminis-
ter Heiko Maas und ich Ihnen heute einen Gesetzentwurf
für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Män-
nern an Führungspositionen vor. Dieser Gesetzentwurf
verpflichtet mehr als 100 Unternehmen zu einer festen
Geschlechterquote. Über 3 000 Unternehmen müssen
sich verbindliche Zielvorgaben geben und damit ihre
Unternehmenskultur und die Chancen von Frauen in den
Mittelpunkt rücken.

Darüber hinaus wird dieses Gesetz einen Kulturwan-
del in der Arbeitswelt einleiten. Wenn es an der Spitze
eines Unternehmens oder an der Spitze der öffentlichen
Verwaltung keine Gleichberechtigung gibt, wer glaubt
dann, dass es im Rest des Unternehmens oder der Ver-
waltung Gleichberechtigung gibt? Sobald es aber mehr
Frauen in Führungspositionen gibt, werden gleiche
Chancen in Unternehmen und Verwaltungen selbstver-
ständlicher.

Es war immer so, dass sich Frauen Gleichberechti-
gung hart erkämpfen mussten. Es ist heute immer noch
so. Es ist ein Kampf um Macht, Geld und Einfluss. Das
gibt niemand freiwillig ab.

Schauen wir auf ein Unternehmen der DAX-Gruppe.
Es ist in der Gesundheitswirtschaft tätig und hat im letz-
ten Geschäftsbericht einen Jahresumsatz von 20 Milliar-
den Euro angegeben. Auf die Anteilseigner entfiel ein
Konzernergebnis von gut 1 Milliarde Euro. Erwirtschaf-
tet wurde dieses Ergebnis von 178 000 Beschäftigten
weltweit, davon 54 000 in Deutschland. Zwei Drittel da-
von sind Frauen. Das Unternehmen bekennt sich im La-
gebericht zur Förderung der Frauen, aber im Vorstand
arbeitet keine einzige Frau; auch im Aufsichtsrat: keine
einzige Frau!


(Thomas Oppermann [SPD]: Zu wenig!)


Obwohl Frauen dieses brillante Ergebnis erarbeitet,
diese Umsätze erwirtschaftet und diese Gewinne erzielt
haben, sind sie nicht dort vertreten, wo über Arbeits- und
Lohnbedingungen entschieden wird. Das ist ungerecht!
Das muss sich ändern!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ende November hat eine Frau auf Facebook Folgen-
des gepostet: „Der Denkfehler der Quoten-Gegner be-
steht darin, dass sie annehmen, ohne Regelung würden
sich die Qualifiziertesten durchsetzen. Egal ob Mann
oder Frau.“ Das ist auch das Argument des eben be-
schriebenen Unternehmens, warum es keine Frauen-
quote will. Die Frau auf Facebook schreibt weiter: „In
der idealen Welt wäre das auch so, aber nachgewiesener-
maßen ist das nicht der Fall. Solange die Welt nicht ideal
ist, hilft die Quote.“ Ich finde, die Frau hat recht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Solange Gleichberechtigung nicht verwirklicht ist, brau-
chen wir Gesetze, die sie voranbringen.

Das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von
Männern und Frauen an Führungspositionen ist auch ein
Innovationsgesetz. Wer auch heute noch davon spricht,
dass wir damit die Wirtschaft belasten, der sollte sich die
Studien von Unternehmensberatungen angucken, zum
Beispiel die von McKinsey oder dem Karlsruher Institut
für Technologie. Beide sind sich einig: Unternehmen mit
gemischten Führungsteams sind erfolgreicher. Eine
Schweizer Bank hat errechnet, dass sich die Aktienkurse
von Unternehmen mit Frauen im Aufsichtsrat zwischen
2005 und 2011 um 26 Prozent besser entwickelt haben.
Anders gesagt – hier zitiere ich gerne eine Abgeordnete
der CSU, die ihre Zustimmung zur Quote anlässlich der
Berliner Erklärung so begründet hat –: „Manchmal muss
man die Leute zu ihrem Glück zwingen.“


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Situation in der Privatwirtschaft unterscheidet
sich nicht groß vom öffentlichen Dienst. Ja, wir haben
im öffentlichen Bereich mehr Frauen in Führungsposi-
tionen; das ist angesichts der Zahlen der Wirtschaft aber
nicht wirklich schwierig. Deshalb muss sich auch hier
etwas ändern. Wir werden die Vorschriften, die für die
Wirtschaft gelten, eins zu eins im öffentlichen Bereich





Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)

umsetzen. Das, was wir der Wirtschaft vorgeben, müs-
sen wir auch selbst einhalten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeord-
nete, 1982 war ich sechs Jahre alt und dieses Gebäude
lag für mich hinter einer scheinbar unüberwindbaren
Mauer. Ich wusste damals nichts von meinem Glück,
dass ich ein solches Gesetz einmal durchkämpfen darf.
Ich wusste auch nichts von dem Glück, dass ich einen
toughen Mann, und zwar unseren Justizminister, an der
Seite haben würde, der mir dabei hilft.

1982 hat die damalige Bundesministerin für Jugend,
Familie und Gesundheit, Antje Huber, in Bonn eine
Sachverständigenanhörung zur Situation von Frauen in
der Arbeitswelt organisiert. Diskutiert wurde unter ande-
rem, ob eine Quotierung helfen würde. Seitdem ist viel
passiert: Die Mauer ist niedergerissen worden. Aber die
Teilhabe von Frauen in Führungspositionen hat sich
nicht wirklich verbessert.

Jetzt kommt Bewegung rein. Allein die Diskussion
über den Gesetzentwurf hat dazu geführt, dass sich die
Unternehmen darüber Gedanken machen, wo die Hemm-
nisse in der Arbeitswelt liegen. Sie fragen sich: Was kön-
nen wir dafür tun, dass die qualifizierten Frauen, die wir
haben, auch tatsächlich in den Führungsetagen ankom-
men? – Wer Sorge hat, dass wir diese Frauen nicht
haben, dem sage ich: Es geht ganz konkret um 174 Füh-
rungspositionen in Unternehmen. Wir haben 40 Millio-
nen Frauen in Deutschland, und man darf sich auch in-
ternational umschauen. Ich glaube, das wird zu schaffen
sein.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Der Kulturwandel, den dieses Gesetz befördern wird,
geht weit über den Geltungsbereich des Gesetzes hinaus.
Das zeigt zum Beispiel der Deutsche Caritasverband, der
nicht direkt von diesem Gesetz betroffen ist, der aber für
sich selbst feststellt: 80 Prozent der Beschäftigten bei
der Caritas sind Frauen – klar, da wird die soziale Arbeit
gemacht; von der Kita bis zum Pflegeheim: Wer macht
den Job? Die Frauen (!) –, aber nur 20 Prozent sind in
den Führungsetagen vertreten. Dort, wo über Arbeits-
und Lohnbedingungen entschieden wird, sind wenig
Frauen vertreten, obwohl sie die Arbeit machen; genau
wie in der Wirtschaft. Der Präsident des Deutschen Cari-
tasverbandes sagt dazu: Das muss sich ändern; wir brau-
chen mehr Frauen in Führungspositionen. – Sie sehen
also: Dieses Gesetz wirkt, bevor es da ist; dieses Gesetz
bewirkt einen Kulturwandel, weit über die Grenzen des
Gesetzes hinaus.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich möchte mich ganz herzlich bei den Frauen und
den Männern bedanken, die über alle Fraktionsgrenzen
hinweg in der letzten Legislaturperiode die Berliner Er-
klärung formuliert haben. Sie haben sich aufeinander zu-
bewegt und gesagt: Wir wollen etwas bewegen für die
Frauen. – Der Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt, ist von
diesem Geist getragen. Wir haben verschiedene Positio-
nen zusammengebracht, um etwas für die Frauen, für die
Gleichberechtigung in unserem Land zu tun. Ich hoffe,
dass wir in diesem Geist die parlamentarischen Beratun-
gen durchführen werden. Es wurde viele Jahre darüber
diskutiert. Seit 30 Jahren wurde viel gestritten. Jetzt
müssen wir uns auf den Weg machen. Ich freue mich auf
die parlamentarischen Beratungen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1808302600

Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808302700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Über ein Jahr wird nun schon lauthals und öf-
fentlich über die Frauenquote für die Privatwirtschaft
diskutiert. Es wurde zäh verhandelt, und es gab sage und
schreibe sechs verschiedene Referentenentwürfe. Die
Wirtschaftsvertreter warnten vor unzumutbaren Belas-
tungen für die deutsche Wirtschaft, und Herr Kauder, der
Fraktionschef der CDU/CSU-Fraktion, machte sich auch
noch einen Namen als Obermacho des Deutschen Bun-
destages, als er Frau Schwesig als weinerlich be-
schimpfte; dabei hatte Herr Kauder – ich sehe ihn gerade
nicht – wirklich harte Konkurrenz.


(Beifall bei der LINKEN)


Warum das ganze Geschrei? Warum, um im Bild von
Herrn Kauder zu bleiben, die ganze Heulerei? Ich könnte
auch fragen: Wovor eigentlich die ganze Angst? Ja, es
geht um schätzungsweise 180 Frauen, die von dieser fes-
ten Quote profitieren sollen. Sie hören richtig: Es geht
um gerade einmal 180 Frauen in 108 Unternehmen. We-
gen dieser kleinen Zahl von Frauen gehen die Union und
die deutsche Wirtschaft seit Monaten auf die Barrikaden.
Ich finde, das ist ein völlig lächerlicher Vorgang.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was Sie hier heute vorlegen, Frau Schwesig, das ist
leider keine effektive Frauenquote. Das ist maximal ein
kleines Frauenquötchen, über das sich die Aufregung
und der Widerstand gar nicht gelohnt haben. Mal abge-
sehen davon, dass diese Frauenquote gar nicht für alle
Unternehmen gelten soll, legen Sie nicht eine Quote von
50 Prozent fest, sondern von gerade einmal 30 Prozent.
Sie soll auch nicht für die Vorstände gelten, sondern le-
diglich für die Aufsichtsräte. Eine 30-Prozent-Quote, das
ist maximal eine Herausforderung für die CDU/CSU-
Fraktion, die hier im Haus mit 25 Prozent die geringste
Frauenquote hat; aber an diesem niedrigen Niveau dür-
fen wir uns doch nun wirklich nicht messen lassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen ist jede Selbstbeweihräucherung bei diesem
Gesetzentwurf völlig fehl angebracht. Das ist kein gro-
ßer Durchbruch für die Frauen. Das ist bestenfalls ein





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

Stillstand. Dieser ganze Vorgang belegt für mich, ehrlich
gesagt, nur, dass die Männerbündelei in Deutschlands
Vorstandsetagen und auch in der CDU/CSU-Fraktion
leider immer noch ziemlich gut funktioniert. Das müssen
wir endlich einmal ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Was soll denn in den anderen 3 500 Unternehmen
passieren? Ja, sie sollen sich Zielgrößen geben, die sie
selbst definieren. Was passiert eigentlich, wenn sie sie
nicht einhalten? Oh, dann passiert gar nichts. Das ist
doch im Kern nichts anderes als eine freiwillige Selbst-
verpflichtung, die schon in der Vergangenheit nichts,
aber auch gar nichts gebracht hat. Wir können das nicht
akzeptieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Selbst die kleinen Fortschritte, die wir für Frauen in
der Privatwirtschaft erreichen, erkaufen wir uns mit Ver-
schlechterungen für Frauen im öffentlichen Dienst. Hier
gilt jetzt eine 50-Prozent-Quote. Das Problem ist ja nicht
die Quote, sondern die schlechte Umsetzung in der Pra-
xis. Anstatt sich zu überlegen, wie wir das ändern kön-
nen, wie wir das verbessern können – dazu gibt es kluge
Vorschläge –, hängen Sie einfach die Latte niedriger.
Statt einer Quote von 50 Prozent soll jetzt eine Quote
von nur noch 30 Prozent gelten, um sie in ein paar Jah-
ren wieder auf 45 Prozent anzuheben. Da lobt man sich
eigentlich Frau Merkel, die vor 20 Jahren die 50-Pro-
zent-Quote eingeführt hat. Jetzt wollen wir es wieder ab-
schwächen. Das ist doch völlig absurd. Ich finde, hier
könnte die Kanzlerin ein Machtwort sprechen.


(Beifall bei der LINKEN)


In der Kritik steht ja auch das Bundesgleichstellungs-
gesetz, das jetzt – ich finde, ohne Not – in einem Auf-
wasch mit geändert werden soll, übrigens zum Schlech-
teren. Bislang galt das Prinzip der Frauenförderung, jetzt
soll es geschlechtsneutral gestaltet werden. Das soll si-
cherlich schön modern daherkommen: Man ist jetzt nicht
für mehr Frauen, sondern vielleicht für mehr Geschlech-
tergerechtigkeit. Man ist vielleicht zur Einschätzung ge-
kommen, dass Feminismus out ist, und hat einen neuen
Begriff erfunden: die Geschlechteransprache. Was sich
für mich wie eine Wortneuschöpfung aus einem Satire-
magazin anhört, soll jetzt offiziell in einem Gesetz des
Deutschen Bundestages enthalten sein. Das kann ich ein-
fach nicht glauben.

Wissen Sie: Mehr männliche Grundschullehrer, mehr
Kitaerzieher, das fände ich wirklich richtig gut. Das Pro-
blem ist aber nicht, dass Männer bei der Einstellung dis-
kriminiert werden, das Problem ist doch, dass dieser Be-
ruf für Männer offenbar viel zu wenig attraktiv ist.
Deswegen sagen wir als Linke: Verbessern Sie endlich
die Bezahlung in diesen Berufen – dann werden diese
Berufe vielleicht auch für Männer attraktiver –, aber las-
sen Sie die Finger von der Frauenquote.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Aufstiegschancen für Grundschullehrer sind übri-
gens ziemlich gut. Denn in den Schulleitungen sind
Männer ja deutlich überrepräsentiert.
Wir fragen uns nach der Notwendigkeit dieser Neure-
gelung: Frauenquote weg, dafür aber die Geschlechter-
ansprache einführen. Das ist doch wirklich eine Verken-
nung der Tatsache, dass Frauen in unserer Gesellschaft
immer noch strukturell benachteiligt werden: 20 Prozent
verbeamtete Staatssekretärinnen in den Bundesministe-
rien, 23 Prozent Abteilungsleiterinnen, nur jede fünfte
Professur ist mit einer Frau besetzt. Da fragt Kristin
Rose-Möhring, die Gleichstellungsbeauftragte in Ihrem
Ministerium, Frau Schwesig, völlig zu Recht in einem
Schreiben an uns: Es erschließt sich nicht, warum ein
grundsätzlich gutes Gesetz einem schlechteren weichen
soll. – Mir erschließt es sich auch nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Um zum Abschluss den Blick von den Führungseta-
gen wegzulenken, schauen wir uns einmal an, wie es bei
den normalen Beschäftigten aussieht. Seit vielen Jahren
und noch immer verdienen Frauen für die gleiche Arbeit
im Schnitt 22 Prozent weniger als Männer. Damit liegt
Deutschland im europäischen Vergleich auf dem dritt-
letzten Platz. Ich finde, in Sachen Gleichstellung ist
Deutschland ein Entwicklungsland. Es wird höchste
Zeit, dass wir das ändern. Mit diesem Gesetzentwurf
wird es nicht gelingen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir könnten es in diesem Hohen Hause ändern. Die
SPD hat mehr gewollt. Die Grünen wollen mehr. Wir als
Linke wollen sowieso mehr.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wie Gysi! O-Ton Gysi: Wir wollen immer mehr!)


Ich hoffe, ehrlich gesagt, auf ein paar mutige Frauen in
der CDU/CSU-Fraktion. Machen Sie mit! Helfen Sie
uns, diesen Murks zu verändern und zu verbessern, da-
mit am Ende doch noch ein gutes Gesetz dabei heraus-
kommt. Die Frauen in diesem Land hätten es verdient.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808302800

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Marcus

Weinberg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Christina Jantz [SPD] und Dr. Carola Reimann [SPD])



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1808302900

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ja, das kennen wir von den Linken: mehr,
mehr, mehr.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Besser! Besser!)






Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Man fragt sich nur, woher. Diese Frage sollten Sie auch
mal beantworten.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Millionärssteuer! Vermögensabgabe! Die Vorschläge liegen doch auf dem Tisch!)


Ich will am Anfang ein Thema aufgreifen, das die
Ministerin skizziert hat: die Idealwelt. Ich mache kein
Geheimnis daraus – ich glaube, das gilt für viele Kolle-
ginnen und Kollegen hier –: Von unserer Überzeugung
her wäre es natürlich das Beste, wir müssten diese Dis-
kussion gar nicht führen,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der Position sind wir schon lange!)


weil wir eine Gesellschaft hätten, in der das Geschlecht,
die Herkunft, Frau Künast, und andere Dinge keine
Rolle spielen, eine Gesellschaft, in der das Individuum
mit seinen Kompetenzen, mit seinen Fähigkeiten das
Entscheidende ist


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann geben Sie ja zu, dass das so nicht ist bei den Männern!)


und in der auch bei der Auswahl in Gesellschaft, Politik
und Wirtschaft nur diese Eigenschaften zählen und nicht
das Geschlecht. Es wird das Ziel des Kulturwandels sein,
den wir herbeiführen wollen, dass wir diese Diskussion
in 10, 15 Jahren nicht mehr führen müssen, weil wir mit
Blick auf die Führungspositionen in der Wirtschaft und
anderswo eine Situation erreicht haben werden, in der
wir strukturell bedingte Benachteiligungen nicht mehr
erleben.

Das Grundgesetz gibt uns eine klare Anweisung. Es
ist unser Auftrag, Artikel 3 des Grundgesetzes Rechnung
zu tragen. Das heißt, der Staat bzw. die Politik hat den
Auftrag, die Gleichberechtigung und ihre Durchsetzung
zu fördern und insbesondere Benachteiligungen zu be-
seitigen. Dieser Gedanke muss uns in den nächsten Jah-
ren leiten, wenn es um die Individualität des Menschen
und um die Beantwortung der Geschlechterfrage geht.

Dazu zwei Vorbemerkungen:

Erstens. Diese Diskussion führen wir seit vielen Jah-
ren. Es war übrigens die Union, die diese Diskussion
2005 noch einmal angeschoben hat,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt „noch einmal“? – Caren Lay [DIE LINKE]: Das war mit der Selbstverpflichtung!)


zunächst einmal in dem klaren Verständnis, dass es im-
mer darum gehen muss, dieses Thema gemeinsam mit
den betroffenen Akteuren anzugehen: im Rahmen von
Freiwilligkeit, Appellen und Aufforderungen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kommt Ihnen ein Geisterfahrer entgegen! – Einer? Hunderte!)


– Frau Künast, das Prinzip des Dazwischenquatschens
mag bei Ihnen Gültigkeit haben. Wir aber denken, man
sollte erst einmal zuhören, bevor man sich äußert. Daran
sollten auch Sie sich halten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Junger Mann, das ist der parlamentarische Zwischenruf! Sagen Sie das mit dem „Dazwischenquatschen“ doch mal dem Kauder! Dann werden Sie gegendert! – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht so gereizt, Herr Weinberg! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Dazwischenquatschen“ – das ist typisch Mann gegenüber Frauen! – Gegenruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ach was! Das würde er auch zu einem Mann sagen! – Gegenruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das würde er eben nicht! Das ist wie mit dem „weinerlich“ von Kauder!)


Frau Lay, Sie haben zwei Aspekte, die ich gerne auf-
greifen möchte, angesprochen. Sie haben die Anzahl der
Abteilungsleiterinnen erwähnt. Da stimme ich Ihnen zu:
Das ist nicht in Ordnung. Sie haben die Anzahl von
Frauen in der mittleren Führungsebene angesprochen,
auch und gerade im Apparat der Verwaltung. Es stimmt:
Da gibt es zu wenige Frauen. Aber ich sage Ihnen auch
eines: 40 Prozent der Regierung – ich verweise nur auf
die Kanzlerin und die Ministerinnen – sind weiblich.
Das heißt, diese Regierung setzt das, was sie fordert, be-
reits um, und das ist auch gut so.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Lay, Sie haben uns wieder einmal vorgeworfen
– das sage ich ganz deutlich, weil das Schimpfen auf die
Union nicht nur bei Frau Künast Konjunktur hat –, dass
wir Frauen nicht fördern. Ich will nur daran erinnern:
Die erste Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutsch-
land wird von der CDU gestellt, die erste Verteidigungs-
ministerin der Bundesrepublik Deutschland wird von der
CDU gestellt, und die Landesgruppe der ach so konser-
vativen CSU wird von einer Frau geführt. Darauf sind
wir stolz. Ich glaube, da sind wir auch Vorbild.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie ist Merkel das denn geworden? Spendenskandal! – Gegenruf des Abg. Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Frau Künast, nun beruhigen Sie sich doch mal! – Gegenruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen schon die ganze Wahrheit sagen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Frau Künast, jetzt bleiben Sie doch mal beim Thema!)


– Frau Künast, es geht auch um Haltung und Stil in die-
sem Haus.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Marcus Weinberg das will ich ja gerade von Ihnen! Das wollen wir ja gerade bewahren!)





(A) (C)


(D)(B)


In einer neueren Untersuchung des Deutschen Insti-
tuts für Wirtschaftsforschung kam man zu dem Ergebnis
– die Ministerin hat das angesprochen –, dass nach vie-
len Jahren der Appelle und der Freiwilligkeit in den
200 größten deutschen Unternehmen die Vorstände ge-
rade einmal zu 5 Prozent und die Aufsichtsräte nur zu
18 Prozent mit Frauen besetzt sind. Offensichtlich gilt
für die Politik ebenso wie für die Wirtschaft, dass Frauen
in Toppositionen nicht genauso gut sein müssen wie
Männer, sondern dass sie wesentlich besser sein müssen.
Das entspricht nicht dem Grundgesetz. Dieses Problem
müssen wir angehen. Diese gläserne Decke müssen wir
endlich durchbrechen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Caren Lay [DIE LINKE]: Ja, dann machen Sie es doch endlich!)


An zwei Dingen kann das nicht liegen. Das kann ers-
tens nicht an den Kompetenzen und an der Bildung lie-
gen. Denn wir wissen, dass die Frauen in den letzten
Jahren gerade im Bildungs- und im Hochschulbereich
nicht nur aufgeholt, sondern die Männer in weiten Teilen
sogar überholt haben. Wir werden uns mit Blick auf das
Schulsystem mehr Gedanken darüber machen müssen,
wie wir uns um Jungen, die abgehängt sind, kümmern
können.

Wenn Frauenmangel gerade in MINT-Berufen der
Grund dafür wäre, dass in den obersten Etagen von
MINT-Unternehmen keine Frauen vertreten sind, dann
müssten ja wenigstens in den Vorständen und Aufsichts-
räten anderer Unternehmen wie Banken oder Versiche-
rungen mehr Frauen vertreten sein. Tatsache ist aber,
dass die Posten in den Chefetagen zu 95 Prozent von
Männern besetzt werden. Wenn man sich die Aufsichts-
räte sogenannter MINT-Unternehmen anschaut, dann
stellt man fest, dass die Anzahl der Männer, die eine na-
turwissenschaftliche Ausbildung haben, sehr überschau-
bar ist. Es sind auch hier in erster Linie Juristen und
Kaufleute, die diese Positionen besetzen. Was nicht ge-
gen Männer spricht, darf auch nicht als Argument gegen
Frauen missbraucht werden; ich glaube, dieser Grund-
satz muss gelten.

Zweitens – auch dies wurde von der Ministerin be-
reits angesprochen – kann man das Erklärungsmuster
bzw. die Behauptung, dass Frauen aufgrund ihrer fami-
liären Verpflichtungen nicht in Führungspositionen kom-
men können, relativ schnell empirisch widerlegen. Al-
lein die Tatsache, dass weder Frauen mit Kindern noch
Frauen ohne Kinder in relevanter Zahl in Aufsichtsräten
oder Vorständen vertreten sind, zeigt: An Kindern und
an Zeiten der Kindererziehung kann es nicht liegen.

Schon in den ersten Berufsjahren, in denen viele Be-
schäftigte noch keine Familie gegründet haben, werden
Männer schneller befördert als Frauen. Nach einer Un-
tersuchung des Hochschul-Informations-Systems HIS
steigen 40 Prozent der Männer, aber nur 24 Prozent der
Frauen schon in den ersten fünf Jahren nach ihrem Uni-
versitätsabschluss auf. Fazit: Es gibt keine Benachteili-
gung, die individuell zu erklären ist. Es gibt aber ein Er-
klärungsmuster, das auf strukturelle Defizite verweist.
Hier muss die Politik ansetzen. Wir sagen: Nach der Zeit
der Appelle, der Freiwilligkeit und der Flexi-Quote müs-
sen wir nun einen Schritt weiter gehen. Wir nutzen die
Quote, um sie irgendwann überflüssig zu machen.

Worum geht es uns? Ich möchte eines noch einmal
klarstellen: Es geht uns nicht darum, dass schlechter
qualifizierte Frauen gut qualifizierten Männern vorgezo-
gen werden sollten, sondern es geht uns darum, dass
gute, geeignete Frauen die gleichen Chancen bekom-
men; das ist das Mindeste, was wir garantieren müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dafür müssen gute Frauen aber erst einmal sichtbar wer-
den, sie müssen in der Hierarchie von Unternehmen
nach oben kommen, sie müssen ermutigt und aufgefor-
dert werden. Genau diesen Kulturwandel soll der vorlie-
gende Gesetzentwurf bewirken.

Bei „Mehr Frauen in Führungspositionen“ geht es
nicht nur um die Umsetzung des Auftrages des Grundge-
setzes und um Gerechtigkeit, sondern auch um die Wett-
bewerbsfähigkeit der Unternehmen selbst. Es hat sich
nämlich gezeigt – Studien haben das festgestellt –, dass
gemischte Teams – mit Männern und Frauen – ein höhe-
res Potenzial an Kreativität haben, dass sie erfolgreicher
sind, Unternehmen eher zum Erfolg führen als aus-
schließlich mit Personen ein und desselben Geschlechts
besetzte Teams.

Wir müssen uns vor Augen führen – auch vor dem
Hintergrund des Fachkräftemangels –, dass es angesichts
der immer besseren, bereits heute exzellenten Ausbil-
dung, Qualifikation von Frauen eine nahezu unglaubli-
che Ressourcenverschwendung ist, wenn topausgebil-
dete Frauen, die für den Arbeitsmarkt bereitstehen, nicht
auch Topverantwortung übernehmen können; das wider-
spricht doch allen Grundsätzen guten Unternehmertums.
Da müssen wir rangehen!

Mehr als dreizehn Jahre haben wir darüber diskutiert.
Es gab immer wieder Appelle an die Wirtschaft, auf frei-
williger Basis Frauen zu fördern. Ich glaube, die jetzt
vorliegenden Maßnahmen im Bereich der Privatwirt-
schaft sind gut und richtig, wobei wir aber auch immer
eines feststellen: Wir werden darauf achten, dass wir
beim Thema Bürokratie nicht das Kind mit dem Bade
ausschütten. Wir sagen ganz klar: Es muss für die Wirt-
schaft auch machbar und vertretbar sein. Bei der festen
Quote geht es um börsennotierte und mitstimmungs-
pflichtige Unternehmen und bei der flexiblen Zielquote
um börsennotierte oder mitstimmungspflichtige Unter-
nehmen, also um Unternehmen mit mehr als 500 Mitar-
beitern. Ich glaube, dass die gefundenen Regelungen für
diese Unternehmen machbar und tragbar sind, zumal
– das wurde im Koalitionsvertrag beschrieben – Unter-
nehmen in dem Lagebericht nach dem HGB sowieso an-
geben müssen, wie sie es mit der Frauenförderung hal-
ten. In diesem Teil sind wir mit dem Koalitionspartner
einig.





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Aber – auch das muss eine Zielfunktion sein – Frau-
enförderung betrifft nicht nur die Privatwirtschaft. Was
wir der Privatwirtschaft vorschreiben wollen, müssen
wir in der öffentlichen Verwaltung selbst erfüllen; sonst
werden wir unglaubwürdig, sonst nimmt man unsere
Ziele nicht ernst. Das heißt, es gibt noch den öffentlich-
rechtlichen Teil, einmal im Hinblick auf das Bundesgre-
mienbesetzungsgesetz und einmal im Hinblick auf das
Bundesgleichstellungsgesetz. Da sehen wir in der Union
bei der konkreten Ausformulierung noch Bedarf, ge-
meinsam mit unserem Koalitionspartner, in den schönen
Farben Schwarz-Rot sozusagen, genauer darüber nach-
zudenken, ob das, was im momentanen Entwurf für das
Bundesgleichstellungsgesetz steht, das Richtige ist; denn
Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes fordert die Beseiti-
gung von Nachteilen für ein Geschlecht. Wenn Frauen
benachteiligt werden, ist Frauenförderung also verfas-
sungsrechtlich gefordert und gerechtfertigt.

Gleiches gilt übrigens auch für Männer, wenn sie in
gewissen Bereichen, nämlich auf Leitungsebene, unter-
repräsentiert sind. Dies ist uns eine Verpflichtung.

Der Entwurf des Bundesgleichstellungsgesetzes sieht
für die Bundesverwaltung aber das Ziel der Parität nicht
nur auf Leitungsebene vor, sondern auf allen Ebenen. Da
müssen wir uns ernsthaft Gedanken machen, wie das in
der Umsetzung funktionieren soll. Parität in der Lei-
tungsebene heißt: Nachteile müssen abgebaut werden.
Aber es kann nicht das Ziel sein, vom Grundsatz der Pa-
rität auf allen Ebenen auszugehen. Mit Verlaub, der Sinn
von Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes ist unseres Er-
achtens die Beseitigung bestehender Nachteile.

Wir halten den Gesetzentwurf, der vorliegt, für rich-
tig. Wir werden nach den Anhörungen in den Ausschüs-
sen die letzten Debatten mit dem Koalitionspartner füh-
ren. Wir bleiben hinsichtlich der gesetzlichen Vorgaben
für die Privatwirtschaft insgesamt maßvoll, verlassen
uns aber nicht mehr nur auf reine Freiwilligkeit; nach
vielen Jahren ist diese Zeit jetzt vorbei. Wir sorgen da-
für, dass die Bundesgremien und die Bundesverwaltung
mit gutem Beispiel vorangehen; denn diese Regelung ist
tatsächlich an der Zeit.

Ich schließe mit dem, was ich am Anfang gesagt
habe: Es ist unser Idealbild, dass wir über Quoten, Quo-
ren und Sonstiges in dieser Gesellschaft nicht mehr re-
den müssen, weil alle verstanden haben, dass weder das
Geschlecht noch die Herkunft noch die Rasse, sondern
nur das Individuum zählt. Wenn wir das erreicht haben,
ist das Ziel dieses Gesetzes erfüllt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808303000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Dörner für

Bündnis 90/Die Grünen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808303100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Wir haben in den vergangenen Jahren
hier im Bundestag häufig über die Quote diskutiert, aber
heute sprechen wir erstmals über einen Gesetzentwurf,
der aller Voraussicht nach nicht nur beschlossen werden
wird, sondern auch in Kraft treten wird. Deshalb, finde
ich, ist heute die richtige Gelegenheit, Danke zu sagen
all denen, die jahrelang dafür geackert haben, dass eine
gesetzliche Quote für die Aufsichtsräte jetzt tatsächlich
in greifbarer Nähe ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Das sind allen voran die Frauen von FidAR, aus dem
Verband deutscher Unternehmerinnen, vom Juristinnen-
bund, von den Business and Professional Women, den
Landfrauen, aber auch von vielen anderen Frauenorgani-
sationen, die jahrelang gesagt haben: Es muss Schluss
damit sein, die Potenziale von Frauen zu vergeuden.
Selbstverpflichtungen nutzen uns nichts; wir brauchen
eine gesetzliche Quote, um die männlichen Monokultu-
ren in den Unternehmen zu knacken. – Ich finde, dieses
jahrelange Engagement hat den Applaus des gesamten
Hauses verdient.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will mich auch bei meinen jetzigen und auch ehe-
maligen Kolleginnen hier aus dem Bundestag bedanken.
Von meiner Fraktion will ich dabei insbesondere Ekin
Deligöz und Renate Künast nennen, die gemeinsam mit
den Frauen aus den Verbänden mit der Berliner Erklä-
rung dem Thema Quote so richtigen Drive eingehaucht
haben, weil sie gezeigt haben, dass das Thema nicht das
Thema einer Partei oder einer Fraktion ist, sondern dass
man gewinnen kann, wenn Frauen an einem Strang zie-
hen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mein Dank gilt auch den Journalistinnen und Journa-
listen, die 2012 mit ihrem Aufruf „Pro Quote“ deutlich
gemacht haben, dass es auch bei der sogenannten vierten
Gewalt Nachholbedarf beim Thema Gleichstellung gibt;
er gilt auch den klugen Männern, die schon lange wis-
sen, dass Führungsfrauen den Unternehmen guttun, und
die deshalb die Frauen in ihrem Kampf für die Quote un-
terstützt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir ernten heute
die Früchte jahrelanger Arbeit, und ich möchte an die
Adresse aller, die gesät, begossen, gehegt und gepflegt
haben, sagen: Danke für dieses Wahnsinnsengagement!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, eine 30-Prozent-
Quote für die Aufsichtsräte, da haben wir durchaus einen
anständigen Spatz in der Hand. Aber Sie wissen, wir
Grünen wollen mehr. Unser Gesetzentwurf fordert eine





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)

Quote von 40 Prozent ein. 40 Prozent wären weiß Gott
keine Taube auf dem Dach, sondern das ist das gute
Recht der Frauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Aber ich will mich bei den 30 Prozent nicht aufhalten.
Schon in der Berliner Erklärung hat es geheißen: 30 Pro-
zent können ein erster Schritt sein.

Was mich aber an dem Regierungsentwurf wirklich
stört und was leider zeigt, dass Frau Schwesig doch auf
einer Schnecke reitet, ist, dass die 30-Prozent-Quote ge-
rade einmal für mickrige 108 Unternehmen gelten soll.
Die Quote nur für börsennotierte und mitbestimmte Un-
ternehmen, das ist uns Grünen definitiv zu wenig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer wirklich will, dass sich für die Frauen etwas ändert
und dass die Quote ausstrahlt, der muss die rund 3 500 bör-
sennotierten oder mitbestimmungspflichtigen Unterneh-
men mit ins Boot holen. Das wollen wir.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will aber auch
einen Blick auf das Bundesgremienbesetzungsgesetz
werfen, also auf die Führungspositionen in den öffentli-
chen Unternehmen. Da klingen mir noch die vielen Re-
den von Frau Schwesig im Ohr nach dem Motto: Die öf-
fentlichen Unternehmen müssen mit gutem Beispiel
vorangehen. – Wie sieht es denn bei den öffentlichen
Unternehmen aus? Da gibt es schon seit 1994 – einge-
führt von der damaligen Frauenministerin Angela
Merkel – eine ganz klare Regelung: Vorstände, Beiräte,
Verwaltungs- und Aufsichtsräte müssen paritätisch be-
setzt sein. Das ist also quasi eine 50-Prozent-Quote. Um-
gesetzt ist die nicht. Die Nichteinhaltung hat keinerlei
Konsequenzen – eben mit der Folge, dass der Frauenan-
teil in den Aufsichtsgremien gerade einmal bei 25 Pro-
zent liegt. Klar ist: Hier muss sich etwas ändern.

Nun passiert aber mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf etwas ziemlich Absonderliches. Es werden nämlich
nicht etwa Maßnahmen implementiert, um eine paritäti-
sche Besetzung zu gewährleisten und damit das beste-
hende Gesetz wirklich einzuhalten, nein, die geforderte
Quote wird zunächst auf 30 Prozent abgesenkt und da-
mit einfach – salopp gesagt – der Realität angepasst. Von
einer Vorreiterrolle kann hier tatsächlich keine Rede
sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was das Thema Vorbild angeht, erlaube ich mir einen
kleinen Exkurs. Wie sieht es denn mit der Bundesregie-
rung aus?


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: 40 Prozent!)


Ich habe im vergangenen Herbst abgefragt, wie die Füh-
rungsjobs in den Ministerien seit der Bundestagswahl
vergeben wurden. Die Antwort: Gerade einmal ein Vier-
tel aller Führungsjobs ging an Frauen, und bei den neu
eingestellten beamteten Staatssekretären sind es gerade
einmal 3 von 18.
Liebe Bundesregierung, ich finde das wirklich pein-
lich. Wer Frauen in Führungspositionen fördern will, der
muss sich auch an die eigene Nase fassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: 40 Prozent!)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, so schön es ist,
endlich eine gesetzliche Quote zu bekommen, so schade
ist es, dass der vorliegende Gesetzentwurf eine ganze
Reihe Pferdefüße hat. Dazu gehören auch die Änderun-
gen am Bundesgleichstellungsgesetz, über die die
Gleichstellungsbeauftragten sagen: Lieber keine Ände-
rung als die jetzt geplanten Verschlimmbesserungen. –
Das sehen wir Grünen auch so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Das wird mit die-
sem Gesetzentwurf sehr deutlich. Wir werden die Dis-
kussion dazu in den kommenden Wochen vertiefen, und
ich freue mich auf die Beratungen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808303200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth

Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1808303300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich über die
schöne Debattenzeit, die wir dieses Mal haben. Weder
als Rechtspolitiker noch als Frauenpolitiker sind wir es
gewöhnt, hier am Freitagmorgen zur besten Sendezeit zu
debattieren.

Ich freue mich auch über die Reihenfolge der The-
men. Beim ersten Tagesordnungspunkt haben wir heute
über die Personalpolitik der Bundeswehr gesprochen,
und jetzt sprechen wir über Frauenförderung mit Blick
auf Führungspositionen. Früher hätte man gedacht: Grö-
ßer kann der Gegensatz gar nicht sein: zuerst die Män-
nerdomäne, dann die Frauenpolitik. Heute reicht ein
Blick ins Ministerium, in die Truppe und auf das, was
sich das Ministerium vornimmt, damit die Bundeswehr
weiterhin attraktiv ist, um zu wissen, dass auch hier eine
andere Zeit angebrochen ist und dass beides zusammen-
hängt, dass nämlich Frauen auch Führungspositionen in
vermeintlichen Männerdomänen einnehmen können.
Das ist ein gutes Zeichen auch für das Thema, das wir
jetzt debattieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Petra Crone [SPD])


Es geht um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen
und Männern an Führungspositionen in der Privatwirt-
schaft und im öffentlichen Dienst. Es ist gut, dass beides
in einem Atemzug genannt wird. Der Privatwirtschaft





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)

wird vorgegeben, wie sie zu handeln hat. Mit dem, was
ihrer unmittelbaren Einflussnahme unterliegt, müssen
der öffentliche Dienst und die Politik der Privatwirt-
schaft das vorleben. Für die Privatwirtschaft geht es da-
bei vor allem um die Geschlechterquote. Herzstück ist
die Regelung, dass wir für die Zukunft einen Mindest-
anteil von 30 Prozent Frauen in den Aufsichtsräten der
größten Unternehmen in Deutschland vorschreiben wer-
den.

Heute setzen wir eine lange Debatte fort; wir haben
sie schon mehrfach geführt. Ich selber habe auch schon
oft dazu gesprochen, und ich hätte eigentlich nur eine
frühere Rede wieder hervorziehen müssen, um sie hier
zu halten; denn vieles ist genauso aktuell und wahr wie
in den vergangenen Jahren. Ich glaube, wenn man sich
die Debattenbeiträge hier angehört hat, dann wird klar,
dass wir uns in dieser Analyse einig sind.

Es ist aber eben nicht nur ein bloßes Déjà-vu, sondern
jetzt liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor.
Das ist der ganz entscheidende Unterschied; denn dieser
Gesetzentwurf, der heute hier vorgelegt wird, hat wirk-
lich sehr gute Aussichten, in Deutschland Realität und
geltendes Recht zu werden und die Wirklichkeit zu ver-
ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Petra Crone [SPD])


Meine Kollegin Katja Dörner hat den vielen Verbän-
den und den Protagonistinnen, die das in den vergange-
nen Jahren mitbewirkt haben, schon gedankt. Eine Per-
son ist aber vergessen worden; diese möchte ich hier
noch einmal ausdrücklich nennen: Unsere frühere Kolle-
gin Rita Pawelski hat sich in dieser Diskussion wirklich
verdient gemacht und immer wieder dafür gesorgt, dass
das Thema auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Das ist,
denke ich, einen Applaus wert.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Falls du uns zuguckst: Viele Grüße von dieser Stelle aus,
Rita.

Der Gesetzentwurf hat auch deshalb gute Chancen,
Realität zu werden, weil wir es mit wirklich ausgewoge-
nen Regelungen zu tun haben, die wir schon im Koali-
tionsvertrag vereinbart haben. Sie werden die Wirkung
haben, in dem Bereich, für den sie formuliert worden
sind, etwas zu verändern – aber auch weit darüber hi-
naus. Sie haben eine Ausstrahlungskraft in die gesamte
Wirtschaft und auch in die Gesellschaft hinein. Das ist
ein Feld mit sehr hoher symbolischer Bedeutung für
Frauen und Mädchen, und das wird auch darüber hinaus
wirken. Auf der anderen Seite werden wir mit dieser Re-
gelung nicht übers Ziel hinausschießen, sonst wäre sie
ein unverhältnismäßiger Eingriff und damit auch verfas-
sungswidrig. Das schließen wir mit dieser Regelung, die
wir heute beraten, aus.

Mit dieser Regelung werden Frauen mehr gerechte
Chancen eingeräumt, aber es werden auch nicht zu hohe
Hürden errichtet, die dann wieder nur die Akzeptanz be-
hindern würden und in Einzelfällen ein Scheitern provo-
zieren könnten. Das würde uns allen auf die Füße fallen.

Man kann hier fast von einem Meilenstein sprechen,
etwa in einer Reihe mit der Einführung des Wahlrechts
für Frauen, mit Artikel 3 des Grundgesetzes und vielen
anderen Gesetzen, die in diesem Zusammenhang verän-
dert worden sind. In ein paar Jahren werden wir uns im
Rückblick fragen: Wo war eigentlich das Problem?
Wieso haben wir das nicht schon längst gemacht?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich mich schon letzte Woche gefragt!)


– Genau. – Was hat uns davon abgehalten, das früher zu
machen?

Vor allem aber ist diese Regelung aus meiner Sicht in
einem Punkt mit diesen Meilensteinen gleichzusetzen:
Neu ist nämlich, dass wir den Verfassungsauftrag aus
Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes „Der Staat fördert
die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung
von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung
bestehender Nachteile hin“ zum ersten Mal explizit auch
in der Privatwirtschaft umsetzen. Im öffentlichen Dienst
haben wir längst die positive Gleichstellung. In der Pri-
vatwirtschaft ist es neu, dass nicht nur gesetzliche Hür-
den abgebaut werden, sondern dass wir mittels einer ge-
setzlichen Regelung hindernde faktische Strukturen
abbauen, dass wir die Closed Shops in den Führungsgre-
mien endlich öffnen, sodass das Prinzip der Bestenaus-
lese endlich Platz greifen kann.

Es geht hier nicht nur um Gleichberechtigung, son-
dern es geht auch darum, dass die Wirtschaft von mehr
Frauen in Führungspositionen profitiert. Es ist ein Vor-
teil für die Wirtschaft selbst, wenn unterschiedliche Le-
benserfahrungen eingebracht werden, wenn nicht alle
den gleichen Hintergrund, die gleiche Meinung und die
gleiche Denke haben.

Ein gutes und aktuelles Beispiel – leider nicht aus
Deutschland, sondern aus den Vereinigten Staaten – ist
Mary Barra. Sie ist die erste Frau an der Spitze eines Au-
tomobilkonzerns, bei General Motors. Eine ihrer ersten
Maßnahmen war es, sich eines technischen Problems an-
zunehmen, das bei General Motors zehn Jahre lang unter
der Decke gehalten worden war. Es geht um defekte
Zündschlösser, die teilweise von alleine in die Aus-Posi-
tion springen, was auch schon zu Unfällen geführt hat.
Man hat das immer unter der Decke gehalten, statt das
Problem offensiv anzugehen.

Mary Barra hatte den Mut, dieses Problem transparent
zu machen und es offensiv anzugehen. Sie hat die Autos
in die Werkstatt zurückrufen lassen. Sie hat dazu gestan-
den und sich entschuldigt. Sie hat es damit geschafft,
Vertrauen für ihren Konzern zurückzugewinnen. Dieses
Verhalten hat dem Konzern nicht geschadet. Ganz im
Gegenteil: Die Absatzzahlen sind sogar in die Höhe ge-
gangen. Sie ist an das Problem anders herangegangen,
als es vorher mit den etablierten Führungsstrukturen
möglich war.





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


– Ich denke, das ist einen Applaus wert.

Die nackten Zahlen sind hier schon mehrfach genannt
worden. Das DIW hat uns gerade rechtzeitig zu dieser
Debatte frische Zahlen geliefert. Nur 5 Prozent in den
Vorständen der 200 größten Unternehmen sind Frauen,
also 95 Prozent Männer. In den Aufsichtsräten ist das
Verhältnis 18 Prozent Frauen zu 82 Prozent Männern.
Das Verhältnis ist in der Bundesverwaltung tendenziell
besser, aber auch noch nicht wirklich überzeugend. In
den obersten Bundesbehörden sind 27 Prozent Frauen in
Führungspositionen, im nachgeordneten Bereich 21 Pro-
zent. Also ist das Verhältnis Pi mal Daumen ein Viertel
zu drei Viertel.

Die Erklärungsversuche dafür sind heute genauso un-
zureichend, wie sie es auch in den vergangenen Jahren
waren. Es wird immer wieder gesagt: Frauen sind in den
MINT-Berufen nicht so stark vertreten. – Frauen sind
aber genauso stark in den Berufen vertreten, auf die es
letztendlich zumeist ankommt: in den juristischen Aus-
bildungsgängen und in den wirtschaftlichen Ausbil-
dungsgängen, BWL und VWL. Diese Ausbildungsgänge
vor allem haben diejenigen durchlaufen, die in den Auf-
sichtsgremien sitzen. Hier gibt es keinen Grund, zu sa-
gen, dass Frauen weniger qualifiziert seien.

Aber eines ist auch klar: Was wir hier verbindlich vor-
schreiben, ist schon ein Eingriff in die Eigentumsposi-
tion der Anteilseigner. Sie müssen sich demnächst bei
Ihrer Personalauswahl auf die verbindliche Berücksichti-
gung beider Geschlechter einlassen. Wenn Sie das nicht
tun, dann ist die quotenwidrige Besetzung nichtig; dann
bleibt der Stuhl leer. Das ist zwar eine gravierende
Folge, aber anders geht es nicht. Das, was wir ins Ge-
setzblatt bringen, ist notwendig.

Was den zeitlichen Ablauf angeht, sind seit der frei-
willigen Vereinbarung der Wirtschaft mit Kanzler
Schröder bis heute 14 Jahre vergangen. Bis zum Inkraft-
treten des Gesetzes im nächsten Jahr werden es 15 Jahre
sein. Viele werden erst im Jahr 2018 einen neuen Auf-
sichtsrat wählen. Wer es bis dahin nicht geschafft hat,
genügend Frauen für seine Führungspositionen zu fin-
den, der muss die Schuld eher bei sich selber suchen als
in einer gesetzlichen Regelung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben auch immer gesagt, dass 30 Prozent rei-
chen, um die Strukturen aufzubrechen. Wir wünschen
uns – und es wird nach meiner Auffassung sicherlich
dazu kommen –, dass noch deutlich mehr Frauen in Füh-
rungspositionen kommen. Aber 30 Prozent reichen, um
die Hindernisse abzubauen. Alles andere können wir
dann dem Talent der qualifizierten Frauen überlassen.
Dann wird sich alles von alleine ergeben. Zugleich be-
deutet die 30-Prozent-Regelung definitiv keine Überfor-
derung der Unternehmen. Es geht um wenige Hunderte
Frauen. Insofern wird es kein Problem sein, in Deutsch-
land oder darüber hinaus entsprechende qualifizierte und
motivierte Frauen zu finden.
Die weitere Regelung für die sonstigen börsennotier-
ten und mitbestimmungspflichtigen Unternehmen –


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808303400

Frau Kollegin Winkelmeier-Becker, denken Sie bitte

an die vereinbarte Redezeit.


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1808303500

– das tue ich – wird auch diese nicht überfordern. Wir

erwarten allerdings, dass diese Unternehmen ihre Pflich-
ten sehr ernst nehmen und eine entsprechende Motiva-
tion an den Tag legen, um mehr Frauen in Führungsposi-
tionen zu bekommen, und werden das, soweit sie das
transparent machen müssen, sehr aufmerksam verfolgen.
Ich freue mich auf unsere weiteren Beratungen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808303600

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine

Zimmermann für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808303700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir reden heute wieder einmal über die
gleichberechtige Teilhabe von Frauen und Männern in
der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst. Meine Da-
men und Herren, wie lange wollen wir noch darüber re-
den? Es sind schon Jahrzehnte, und im Wesentlichen
werden die Frauen immer wieder auf die Zukunft ver-
tröstet. Das darf doch nicht wahr sein. Wir müssen end-
lich einmal zu Potte kommen. Wie lange soll das noch
gehen?


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bitte die Herren in diesem Hause, einen Moment zu
überlegen, ob sie sich eine solche Benachteiligung über
so eine Ewigkeit hätten bieten lassen. Ich glaube, nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich bin es auch leid, immer und immer wieder klarzuma-
chen, dass Frauen genauso an Führungspositionen teil-
haben wollen wie Männer, am Arbeitsmarkt und an der
Gesellschaft. Ich denke, das ist wichtig und richtig. Des-
halb sagen wir als Linke: Wir brauchen eine Frauen-
quote von 50 Prozent, und zwar im gesamten öffentli-
chen Dienst und in der gesamten Wirtschaft.


(Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist die Kollegin von Gysi? Ich habe den Namen vergessen! Das ist doch eine offene Stelle!)


Wir Frauen stellen 51 Prozent der Bevölkerung; aber wir
sind bescheiden und fordern nur eine Quote von 50 Pro-
zent.

Wir sagen zugleich: Die Gleichstellung der Ge-
schlechter braucht mehr als eine Quote. Es muss darum
gehen, die systematische Benachteiligung der Frauen in





Sabine Zimmermann (Zwickau)



(A) (C)



(D)(B)

allen Bereichen der Arbeitswelt und der Gesellschaft ab-
zubauen. Antworten dazu sucht man bei der Regierung
vergeblich; denn ihr Gesetzentwurf trifft so wenige
Frauen. Deshalb frage ich mich: Was tun Sie für die
Frauen in Pflegeberufen, die Erzieherinnen, Kranken-
schwestern und die anderen Frauen, die in der Arbeits-
welt unterwegs sind? Ihr Gesetzentwurf ist nichts ande-
res als ein Schaufensterentwurf.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Traurige ist: Selbst die Quote bekommt diese Re-
gierung nicht hin. Zu Recht hagelt es breite Kritik: von
den Gleichstellungsbeauftragten über den Deutschen
Gewerkschaftsbund bis zur Vereinigung der deutschen
Juristinnen. Die Ziele für die Privatwirtschaft sind mehr
als bescheiden. Eine feste Quote von 30 Prozent soll es
nur für die Aufsichtsräte von etwa 100 Großunterneh-
men geben. Für den Rest der 3 500 börsennotierten oder
mitbestimmungspflichtigen Unternehmen sind es nur
Glaubensregelungen. Glauben Sie daran, dass diese Un-
ternehmen einmal die Frauenquote einführen werden?
Ich glaube es nicht. Im öffentlichen Dienst des Bundes
wird sogar ein Schritt zurück gemacht. Die Quote soll
hier nur noch für wenige Aufsichtsgremien gelten.

Aber damit nicht genug. Die Regierung will es poli-
tisch besonders korrekt machen. Sie will beide Ge-
schlechter ansprechen und in Berufen mit einem gerin-
gen Anteil von Männern diese fördern. Hier wird die
Frauenquote auf den Kopf gestellt. Nur weil Männer in
einem Bereich unterrepräsentiert sind, sind sie noch
lange nicht diskriminiert. In der Grundschule zum Bei-
spiel sind die Lehrenden in der Mehrheit Frauen; trotz-
dem treffen wir oft auf Schulleiter, nicht auf Schulleite-
rinnen. Meine Damen und Herren von der Großen
Koalition, Sie betreiben eine Politik aus dem Elfenbein-
turm. Sie nehmen die wirklich wichtigen gesellschaftli-
chen Themen nicht ernst und auch nicht zur Kenntnis;
Sie verdrängen sie anscheinend. Wenn die Bundesregie-
rung mehr Männer in typisch weibliche Berufsbilder
bringen will, muss sie dafür sorgen, dass dort die Ar-
beitsbedingungen und die Löhne verbessert werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hier denke ich an die Gastronomie, an den Handel und
an weite Teile des Sozial- und Gesundheitswesens. Das
wäre für die Frauen dort ein großer Schritt vorwärts und
würde die Berufe auch für Männer attraktiver machen.

Das bringt mich zum zweiten Punkt. Anders als die
Bundesregierung sagen wir: Zur Gleichstellung gehört
mehr als nur die Frauenquote. Warum wird zum Beispiel
die Arbeit einer ausgebildeten Erzieherin schlechter be-
zahlt als die Arbeit einer Fachkraft in der Automobilin-
dustrie? Sind Erziehung und Bildung unserer Kinder we-
niger wert als das Bauen von Autos? Gibt es dazu
Initiativen der Regierung? Fehlanzeige!

Wir wissen: Frauen sind fast doppelt so stark von
Niedriglöhnen betroffen wie Männer. Nun gibt es end-
lich einen Mindestlohn, auch wenn er sehr mager ist.
Aber die Koalition arbeitet daran, diesen noch weiter
auszuhöhlen. Die Union will die Umsetzung des Min-
destlohns bei den Minijobs einschränken, wohl wissend,
dass mehrheitlich Frauen in Minijobs arbeiten und An-
zeigen vorliegen, weil Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer jetzt schon, in diesem Monat, um ihren Mindest-
lohn geprellt werden. Gleichstellungspolitik sieht anders
aus. Ich frage Sie wirklich, Frau Ministerin Schwesig:
Wo bleibt hier Ihr Anspruch als Vorkämpferin für die
Rechte der Frauen? Ich kann nichts erkennen.

Es wurde heute schon mehrfach gesagt: Wir haben
eine Frau als Kanzlerin. Ich frage Sie: Ist es in ihrer Re-
gierungszeit für Millionen Frauen einfacher geworden,
Arbeit und Familie zu vereinbaren?


(Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Ja, so ist es! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ja, eindeutig!)


Stecken weniger Frauen in der Minijobfalle? Sind frau-
entypische Berufe aufgewertet worden? Ich denke da vor
allen Dingen an die Pflege- und Sozialberufe. Die Ant-
wort lautet: nein.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Falsch!)


Es ist offensichtlich: Von dieser Regierung sind keine
Initiativen für mehr Gleichstellung zu erwarten. Deshalb
steht die Linke gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdi
an der Seite der Beschäftigten in sozialen Berufen. Denn
das, was hier überwiegend Frauen leisten, ist harte Ar-
beit und richtig wichtig, richtig gut und richtig was wert.
Wer dafür kämpft und streikt, tut tausendmal mehr für
die Gleichberechtigung als die Bundesregierung mit ih-
rem Gesetzentwurf.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808303800

Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Dr. Carola

Reimann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1808303900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren!

Ob ein Mann mir seinen Platz in der Straßenbahn
anbietet, das ist mir egal, er soll mir einen Platz in
seinem Aufsichtsrat anbieten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Carola, sitzt der in der Straßenbahn? – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: Nicht jeder in der Straßenbahn hat einen Aufsichtsrat!)


Mit diesem Appell hat die erste Präsidentin des heutigen
Verbandes deutscher Unternehmerinnen die gleiche Teil-
habe von Frauen in Führungspositionen eingefordert. Sie
heißt Käte Ahlmann, und das war vor mehr als 50 Jah-
ren.





Dr. Carola Reimann


(A) (C)



(D)(B)

Seitdem hat sich unsere Welt spürbar verändert. Men-
schen sind zum Mond geflogen. Die Berliner Mauer ist
eingerissen, und das Internet hat unser Leben erheblich
verändert. Unverändert ist, dass Frauen in den Chefeta-
gen deutscher Unternehmen eine sehr seltene Spezies
sind, und das, obwohl Frauen selbst durch beste Studien-
abschlüsse und enorme Leistungsbereitschaft auf sich
aufmerksam gemacht haben, und das, obwohl Studien
belegen – das ist schon angeklungen –, dass gemischte
Teams besser sind, und das, obwohl die Politik seit na-
hezu 14 Jahren den Unternehmen die Chance eingeräumt
hat, mit freiwilligen Selbstverpflichtungen selber für
faire Chancen für Frauen zu sorgen.

Bis heute herrscht in den Führungszirkeln renom-
mierter deutscher Unternehmen eine männliche Mono-
kultur, mit fatalen Auswirkungen. Wenn Frauen es bis
nach ganz oben schaffen, sind sie nach wie vor mit Vor-
urteilen, Ressentiments und Hürden konfrontiert, die al-
lein für Frauen gelten. Das beginnt beim firmeneigenen
Fahrer, der die Vorstandsfrau nicht fährt, weil er sich
nicht vorstellen kann, dass eine Frau im Vorstand ist. Da
sind vor allem die vielen Führungsfrauen, die im krassen
Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen ihre steile Kar-
riere mit dem Verzicht auf Mann und Kinder bezahlen.

Mit all diesen Relikten aus den 50er-Jahren räumen
wir nun auf. Mit dem Gesetz von Manuela Schwesig und
Heiko Maas werden Frauen zu dem, was sie nach ihrer
Eignung und nach ihrer Qualifikation längst sein sollten:
eine Selbstverständlichkeit in Toppositionen.


(Beifall bei der SPD)


Mit dem Gesetz machen wir den Weg frei für einen Mo-
dernisierungsschub bei Volkswagen, Thyssen und Co.
Das ist auch gut so, auch für die Unternehmen selbst;
denn all das Gerede von Frauen als Belastung ist auf em-
pörende und beleidigende Art und Weise unverschämt,
aber auch dumm. Von der gesetzlichen Verpflichtung,
Frauen bei der Besetzung von Aufsichtsräten und Vor-
ständen in verstärktem Maße zu berücksichtigen, werden
zuallererst die Unternehmen selbst profitieren. Die Un-
ternehmen werden ihre Nachwuchs- und Führungskräfte
künftig aus allen Talenten auswählen können und nicht
mehr nur aus einer Hälfte. Sie werden sich bemühen, für
Frauen und auch für viele moderne Männer attraktiver
zu werden, indem sie verstärkt familientaugliche Arran-
gements und Karrierewege anbieten. Die Unternehmen
werden dabei feststellen, dass die Arbeitsproduktivität
wächst, dass sie sich im Wettbewerb um die so begehr-
ten Fachkräfte besser behaupten können und dass sie
durch Produkt- und Prozessinnovationen noch stärker
und konkurrenzfähiger werden.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU])


Darum geht es aber heute in erster Linie nicht. Dass
die Quote auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht Sinn
macht, ist schön. Entscheidend ist allerdings, dass sie für
mehr Gerechtigkeit sorgt. Für Frauen stehen die Wege in
höchste Positionen jetzt deutlich weiter offen. Damit er-
füllen wir ein Versprechen unseres Grundgesetzes ein
wenig mehr, nämlich das Versprechen, dass Chancen
nicht nach dem Geschlecht verteilt werden, das Verspre-
chen unseres Grundgesetzes, dass alle Menschen unab-
hängig davon, ob sie als Frauen oder Männer geboren
werden, in unserem Land aus dem gleichen Pool von Le-
bensmöglichkeiten wählen können.

Das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von
Frauen und Männern an Führungspositionen ist nicht ir-
gendein Gesetz. Es stellt eine historische Zäsur dar. Ge-
schafft haben das die Parteien nicht allein, erst recht
nicht eine einzelne Partei. Geholfen haben dabei Frauen
und Männer aus allen politischen Lagern. Geholfen ha-
ben Frauen und Männer aus unzähligen Verbänden und
Gewerkschaften; die Kollegin hat sie vorhin genannt.
Geholfen haben aber auch Tausende Bürgerinnen und
Bürger aus der Zivilgesellschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nur im gemeinsamen Schulterschluss und deshalb, weil
wir uns trotz parteipolitischer Unterschiede nicht haben
auseinanderdividieren lassen, wurde es ermöglicht, dass
die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungs-
positionen Gesetzesrang bekommt. Dafür danke ich al-
len.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Solidarität hat sich bewährt. Vielleicht ist das
ein gutes Politikmodell, das wir fortsetzen sollten; denn
bei der Gleichstellung von Frauen und Männern bleibt
auch nach Inkrafttreten dieses Gesetzes noch viel auf der
politischen Agenda.

Danke fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808304000

Vielen Dank, insbesondere auch für die präzise Ein-

haltung der Redezeit.
Jetzt erteile ich der Kollegin Renate Künast, Bünd-

nis 90/Die Grünen, das Wort.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808304100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geschenkt

worden ist uns Frauen nichts. Das knüpft vielleicht gut
an die Rede von Carola Reimann an, die am Ende über
die Solidarität geredet hat. Es waren am Ende immer die
Frauen, die ihre Rechte und ihre Möglichkeiten in dieser
Gesellschaft selbst erkämpft haben.

Wenn beim Parlamentarischen Rat, der das Grund-
gesetz 1949 erarbeitet hat, nicht eine Frau, nämlich
Elisabeth Selbert, die Bereitschaft gehabt hätte, allen an-
deren Herren auf die Nerven zu gehen, hätten wir die
Gleichstellung im Grundgesetz nie gehabt. Uns hätte ein
Ausgangspunkt gefehlt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben viele Frauen gehabt, Abgeordnete, aber
auch Juristinnen, ob Anwältinnen oder Richterinnen, die
in den Jahren danach zum Beispiel für eine Familien-
rechtsreform gekämpft haben, die, man glaube es kaum,
erst Ende der 70er-Jahre kam. Diese große Familien-
rechtsreform hat in der alten Bundesrepublik überhaupt
erst den Mann als Haushaltsvorstand und das Recht des
Mannes, den Arbeitsvertrag der Frau kündigen zu kön-
nen, abgeschafft. Das muss man bzw. frau sich einmal
überlegen. Das war hart erkämpft, weil es in der juristi-
schen Szene viele Frauen gab, die gesagt haben: Wir ma-
chen das gemeinsam und bleiben dran.

Oder denken Sie an das Thema der häuslichen Ge-
walt. Wie oft wurde in dieser Gesellschaft über Gewalt
geredet. Wie oft haben sich Männer über die Frauen lus-
tig gemacht, die gesagt haben, dass 60 Prozent der Ge-
waltdelikte, also die Mehrheit, im häuslichen Nahbe-
reich ausgeübt werden und nicht irgendwo. Sie haben
dafür gesorgt, dass Frauenhäuser und Frauenprojekte
finanziert werden und die Polizei entsprechend ausgebil-
det wird und diese diesbezüglich Schwerpunkte bildet.

Welche Mühen hat es gekostet, den § 218 in der jetzi-
gen Fassung hinzubekommen! Das ging auch nur, weil
sich Frauen innerhalb und außerhalb des Parlaments
zusammengetan und gesagt haben: Mein Bauch gehört
mir. – Welche Mühen hat es gekostet, ein Gleichstel-
lungsgesetz hinzubekommen! Auch das wurde von
Frauen erkämpft.

Und heute, nach all den jetzt benannten und vielfälti-
gen anderen strukturellen Benachteiligungen bis hin zur
mangelnden Entgeltgleichheit, reden wir über ein Quo-
tengesetz. Oder besser: Heute haben wir zwei. Ich bin
natürlich realistisch und weiß, dass das der Großen Ko-
alition, das 30 Prozent Frauen in Aufsichtsräten vorsieht,
das für circa 100 Betriebe gilt, ein wenig mehr Chancen
hat, durchzukommen, als das der Grünen mit 40 Prozent
Frauen in Aufsichtsräten für 3 000 Betriebe.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das glaube ich auch!)


Aber ich kann damit leben, weil ich mittlerweile gelernt
habe, dass man Politik auch über Umwege machen
muss. Insofern finde ich diesen Teil schon einmal gut.

Ich wundere mich, wie sich in dieser Debatte jetzt alle
loben. Herr Weinberg, es stimmt: Die erste Kanzlerin
kommt aus den Reihen der CDU.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Wir sind einfach Vorreiter!)


Aber, Herr Weinberg und alle die, die jetzt klatschen:
Wenn später Leute Bücher schreiben, dann werden sie
auch schreiben, wie sie es wurde. Sie wurde es nicht,
weil Herr Weinberg Mut hatte und gesagt hat: Es soll
einmal eine Frau werden. – Vielmehr wurde sie es, weil
es einfach keinen Mann in der Führungsetage gab, der
nicht mit dem Spendenskandal der CDU belastet war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da setzt sich mal eine Frau durch, und jetzt reden Sie das schlecht!)


Ich gebe zu: Wenn ich auch bei weitem nicht immer
mit ihr einer Meinung bin, so ist sie doch ein Rollenvor-
bild für viele Frauen, und sie ist eine starke Kanzlerin,
was in den heutigen Tagen in Europa nicht unwichtig ist.
Aber neun Jahre Merkel hieß auch, dass Merkel sich nie
für die Gleichstellung der Frauen eingesetzt hat. Es gibt
die eine oder andere Rede in dieser Richtung. Aber ich
will an der Stelle sagen: Es waren die Frauen selbst, die
das erkämpft haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch wenn andere es schon gelobt haben, so will ich es
doch noch einmal sagen: Hier in diesem Haus und drau-
ßen war es FidAR, Frauen in die Aufsichtsräte, mit
Monika Schulz-Strelow und Jutta von Falkenhausen, es
war der Deutsche Juristinnenbund mit Ramona Pisal an
der Spitze,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Business and Professional Women, auch die Landfrauen,
die in ihrer Szene wissen, wie es mit der Männerherr-
schaft ist, und viele andere.

Was mich eigentlich fasziniert, ist, dass dieser Monat
schon historisch ist, selbst wenn nur eine kleine Quote
beschlossen wird und bei der Gleichstellung eine Ver-
schlechterung eintritt. Denn wir haben den Blick ge-
schärft und eine gewisse Ermutigung in dieser Gesell-
schaft geschaffen. Die Frauen schauen überall hin. Als
das ARD-Studio nach Berlin umzog – ich weiß nicht ge-
nau, wann das war –, war ich dort zu Gast. Ich war ent-
geistert; denn dort waren nur Intendanten, nur Männer.
Nachdem fünf, sechs oder sieben Männer geredet hatten,
dachte ich: Jetzt kommt Musik, und dann spricht viel-
leicht eine Frau. Nein! Dann spielte eine Gruppe, die die
Comedian Harmonists imitiert hat; auch diese Gruppe
bestand nur aus Männern. All das hat sich geändert. Zum
Erfolg von Initiativen wie „Pro Quote“ und „Pro Quote
Medizin“ haben auch wir beigetragen. Mittlerweile sind
immer mehr Frauen in Aufsichtsräten vertreten, und da-
rüber hinaus gibt es Ermutigung in anderen Bereichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zur Liste derer, die für mehr Frauen in Führungsposi-
tionen eingetreten sind, gehört natürlich auch Manuela
Schwesig; sie war in der letzten Legislaturperiode noch
nicht hier. Wir alle wissen spätestens seit einer Äußerung
von Herrn Kauder, dass sie erfolgreich darin ist, sich
durchzusetzen. Glückwunsch!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Dinosaurier des Tages heißt Kramer und ist Präsi-
dent der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber-
verbände. Er hat gerade erst gesagt, die Quote müsse
entbürokratisiert werden. Ich bin bereit, über alles zu
diskutieren. Man lernt ja, dass man offen sein muss. Ich





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)

bin allerdings gespannt, wie er mir erklärt, inwiefern bei
dem Auftrag eines Vorstandsvorsitzenden „Suchen Sie
mir jemanden für den Aufsichtsrat!“ eine Entbürokrati-
sierung nötig ist. Mir erschließt sich das noch nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir sind wieder einmal einen Schritt weiter. Ich
denke, wir werden einen Dominoeffekt auslösen und für
eine Ermutigung sorgen, die Kultur zu ändern. Die gute
Botschaft, meine Damen und Herren, insbesondere
meine Damen, ist: Solidarität innerhalb und außerhalb
des Bundestages hat sich gelohnt. Wir sollten uns das für
die Zukunft bewahren; denn wir haben mit dem Kampf
um die Gleichstellung erst angefangen. Wenn wir dieses
Gesetz verabschiedet haben, könnten wir zum Beispiel
bei der Entgeltgleichheit weitermachen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808304200

Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Gudrun

Zollner.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gudrun Zollner (CSU):
Rede ID: ID1808304300

Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kolle-

gen! Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern an Führungspositionen, im Sprachgebrauch
kurz: Frauenquote, haben wir in den letzten Monaten im-
mer wieder kontrovers diskutiert, und wir debattieren
auch heute wieder darüber. Die Gleichberechtigung ist
zwar im Grundgesetz verankert; aber in der Realität ist
sie immer noch nicht angekommen.

Wir sind uns einig, dass Frauen in Führungspositio-
nen unserem Land guttäten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Spitzen-
positionen werden überwiegend von Männern besetzt.
Immer wieder ist in der Diskussion von Quotengegnern
zu hören: Niemand sollte allein wegen seines Ge-
schlechts in ein Gremium berufen werden. – Was heißt
das dann konkret im Umkehrschluss? Frauen, die bei
den nächsten Wahlen in einen Vorstand berufen werden,
sind nicht qualifiziert genug?

Dazu darf ich nochmals in Erinnerung bringen:
Frauen haben in Deutschland die Männer im Hinblick
auf die Schulbildung inzwischen überholt. Frauen haben
heutzutage meist höhere und bessere Bildungsabschlüsse
als Männer. Die Zahl der qualifizierten und topausgebil-
deten Frauen war noch nie so hoch wie heute.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Dennoch bleiben weibliche Führungskräfte in den deut-
schen Unternehmen die Ausnahme. Die Selbstverpflich-
tung der Wirtschaft aus dem Jahr 2001 hat in keinster
Weise den gewünschten Erfolg gebracht. Hierzu möchte
ich den Soziologen Ulrich Beck zitieren: Männer zeigen,
„verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhal-
tensstarre“.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


14 Jahre hatten die Unternehmen Zeit, eine konse-
quente Nachwuchsförderung in ihren Unternehmen zu
etablieren. Der Bund und die Länder haben ihre Zeit ge-
nutzt und die notwendigen und geforderten Rahmenbe-
dingungen wie Krippenausbau auf den Weg gebracht. In
den Vorständen der 200 größten deutschen Unternehmen
betrug der Anteil von Frauen in den Topetagen Ende ver-
gangenen Jahres laut dem Managerinnen-Barometer
2015 gerade einmal 5 Prozent. Was bei den meisten Mit-
telständlern und kleineren Familienbetrieben selbstver-
ständlich ist, sollte auch bei unseren größeren Unterneh-
men und Konzernen möglich sein. Als gutes Beispiel
möchte ich hier die Deutsche Telekom nennen, die be-
reits 2010 eine 30-Prozent-Quote in ihrem Unternehmen
beschlossen hat.

Dass auch in der Bundesverwaltung noch Handlungs-
bedarf besteht, zeigen die aktuellen Berichte zum
Bundesgleichstellungsgesetz und zum Bundesgremien-
besetzungsgesetz. Zwar sind Frauen bezogen auf den un-
tersuchten Zeitraum besser in den Leitungsfunktionen
im gesamten Bundesdienst vertreten; aber besonders in
den obersten Bundesbehörden immer noch unterreprä-
sentiert. Der Bericht zum Bundesgleichstellungsgesetz
kommt zu dem Schluss, dass auch in den Behörden
– ähnlich wie wir es von der Privatwirtschaft immer wie-
der hören – gläserne Decken bestehen. Wenn man die
Besetzung der Bundesgremien betrachtet, wird deutlich,
dass nur jedes vierte Mitglied weiblich ist. Rund 9 Pro-
zent der Gremien sind ausschließlich männlich besetzt.
In den Gremien des Bundes sind Frauen seit 1997 konti-
nuierlich besser vertreten. Allerdings ist mit einem An-
teil von 25 Prozent eine gleichberechtigte Teilhabe nach
wie vor nicht gegeben.

Das heißt: Trotz einiger positiver Trends in der Wirt-
schaft wie im Bundesdienst sind die Ziele der Gleichstel-
lung noch lange nicht erreicht.

Wie die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, stellt sich
die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen bei Führungs-
positionen nicht von selbst ein. Im Koalitionsvertrag ha-
ben wir deshalb vereinbart, dass wir jetzt handeln wer-
den, um den Anteil zu erhöhen. Der Gesetzentwurf sieht
vor, dass Aufsichtsräte von voll mitbestimmungspflichti-
gen und börsennotierten Unternehmen, die ab dem Jahr
2016 neu besetzt werden, eine Geschlechterquote von
mindestens 30 Prozent aufweisen sollen. Betroffen sind
davon rund 108 Unternehmen und circa 170 Frauen. Ich
bin mir sicher, dass unter den etwa 40 Millionen Frauen,
die wir in Deutschland haben, diese 170 Managerinnen
gefunden werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Unternehmen, die börsennotiert sind oder der Mitbe-
stimmung unterliegen, werden verpflichtet, verbindliche
Zielgrößen für die Erhöhung des Frauenanteils im Auf-





Gudrun Zollner


(A) (C)



(D)(B)

sichtsrat, im Vorstand und in den beiden obersten Füh-
rungsebenen festzulegen. Die betroffenen 3 500 Firmen
sollen einen größtmöglichen Handlungsspielraum erhal-
ten. Durch die Veröffentlichungspflicht wird der An-
sporn zu hohen Flexi-Quoten groß genug sein.

Was wir von der Wirtschaft einfordern, sollte aber
auch für den Bund gelten. Deshalb werden wir das Bun-
desgremienbesetzungsgesetz und das Bundesgleichstel-
lungsgesetz novellieren. Für Aufsichtsgremien, in denen
der Bund mindestens drei Sitze besetzen kann, soll ab
dem Jahr 2016 die feste Quote in Höhe von 30 Prozent
für alle Neubesetzungen gelten. Ab dem Jahr 2018 ist
das Ziel, diesen Anteil auf 50 Prozent zu erhöhen. Bei
den wesentlichen Gremien wird das Ziel verankert, eine
paritätische Vertretung von Frauen und Männern zu
schaffen.

Mit der Novellierung des Bundesgleichstellungsge-
setzes wollen wir Frauen aufgrund der immer noch exis-
tierenden strukturellen Benachteiligungen verstärkt för-
dern. Deshalb sollen die Dienststellen des Bundes
künftig verpflichtet werden, sich besonders für jede ein-
zelne Führungsebene konkrete Zielvorgaben für die Er-
höhung des Frauenanteils zu setzen.

Wir wollen mit der Novelle außerdem einen Gleich-
stellungsindex einführen und damit eine Vorgabe aus
dem Koalitionsvertrag umsetzen. Der Index zeigt bei-
spielsweise auf, wie hoch der Frauen- und Männeranteil
im höheren Dienst ist und wie stark Frauen auf den ein-
zelnen Führungsebenen vertreten sind.

Ziel unseres Gesetzes ist es, mehr Frauen in leitende
Positionen in der Wirtschaft sowie in der Bundesverwal-
tung zu bringen. Damit soll das verfassungsrechtlich
verankerte Grundrecht auf gleichberechtigte Teilhabe
von Frauen und Männern auch für den Bereich der Füh-
rungspositionen erfüllt werden. Mehr weibliche Füh-
rungskräfte bieten außerdem die Möglichkeit, die Frau-
enförderung im Mittelbau und auf den unteren Ebenen
der Unternehmen und der Bundesverwaltung konsequent
voranzubringen. Damit soll sichergestellt werden, dass
es künftig genügend weibliche Nachwuchskräfte gibt.

Zusammenfassend ist uns für die weitere Beratung
wichtig, dass das Gesetz verfassungs- und europarechts-
konform ist und die Interessen der Wirtschaft beinhaltet,
ohne dass das Ziel des Gesetzes infrage gestellt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das bedeutet auch, dass wir darauf achten müssen,
Rechtssicherheit zu schaffen und die Bürokratie auf das
wirklich Notwendige zu beschränken.

Das Gesetz allein wird aber kein Allheilmittel sein.
Auch wird der Prozess, Frauen bessere Aufstiegsmög-
lichkeiten zu bieten, nicht von heute auf morgen gelin-
gen. Die Quotenregelung ist nur einer von mehreren
Bausteinen. Es müssen auch die Rahmenbedingungen
weiter vorangetrieben werden. Ich sehe das Gesetz als
Türöffner für die Frauen. Es geht nicht darum, qualifi-
zierte Männer zu ersetzen, sondern qualifizierten Frauen
Karrierechancen zu ermöglichen,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


denn 75 Prozent aller Frauen sehen sich im Beruf be-
nachteiligt. Das muss sich ändern.

Wenn mehr Frauen in Führungspositionen Verantwor-
tung übernehmen, wird dies auch Einfluss auf die Unter-
nehmenskultur haben. Sobald weibliche Führungskräfte
zum Alltag gehören, erfüllen sie auch eine bisher nicht
vorhandene Vorbildfunktion für zukünftige Generatio-
nen und ermutigen Frauen zu höheren Zielen. Ich freue
mich auf die Zeit, wenn die Quotenregelung überflüssig
und eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern in Führungspositionen selbstverständlich ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808304400

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta-

rische Staatssekretär Christian Lange.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


C
Christian Lange (SPD):
Rede ID: ID1808304500


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! 96 Jahre nach Einführung des Frau-
enwahlrechts in Deutschland beenden wir mit dem Ge-
setz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und
Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft
und im öffentlichen Dienst der Bundesregierung eine
jahrzehntelange Auseinandersetzung darüber, wie wir
Artikel 3 Grundgesetz zum Durchbruch verhelfen kön-
nen. Ja, wir beenden quasi einen Kulturkampf.

Vor fast genau 96 Jahren, am 19. Februar 1919, sagte
die von mir geschätzte Marie Juchacz, nachdem sie in
die Weimarer Nationalversammlung gewählt wurde und
als erste Parlamentarierin nach Einführung des Frauen-
wahlrechts sprechen durfte – ich zitiere sie –:

Es ist das erste Mal, daß … die Frau als freie und
gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und
ich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv,
daß es die Revolution gewesen ist, die auch in
Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, heute machen wir in
Deutschland keine Revolution, sondern nur ein Gesetz
für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Män-
nern an Führungspositionen, aber es ist bitter notwendig.
Noch nie hatten wir in Deutschland eine so gut ausgebil-
dete Frauengeneration. Ob an Schulen oder Universitä-
ten, die Spitzenleistungen werden doch längst auch von
Frauen erbracht. Sie stellen 50,7 Prozent der Hochschul-
absolventen und machen im Schnitt bessere Examina.
Ich bin überzeugt, die Frauenquote wird zu einem Kul-
turwandel führen. Sie bedeutet nicht nur einen Meilen-
stein der Frauenrechte, sondern ist auch das bessere und
das beste Mittel gegen Fachkräftemangel.





Parl. Staatssekretär Christian Lange


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die Wirtschaft wird von
der Frauenquote profitieren; eben durch die faire Teil-
habe von Frauen und Männern. Die Gleichberechtigung
von Frauen kommt ohne Zweifel in vielen Bereichen vo-
ran: Im Bundestag hier bei uns mit 36,5 Prozent Frauen-
anteil, in der Bundesregierung mit 37,5 Prozent, in der
Rechtsanwaltschaft mit 33 Prozent und in der Richter-
schaft mit 40 Prozent. Nur in den Chefetagen der deut-
schen Wirtschaft kommen die Frauen zu kurz. Bei den
DAX-Vorständen sind die Zahlen sogar leicht rückläu-
fig, wir haben es schon mehrfach gehört. In keiner ande-
ren Wirtschaftsnation dieser Welt gibt es so wenig
Frauen in Führungspositionen wie bei uns, und das wer-
den wir ändern, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Zur Wahrheit gehört auch: Freiwillige Maßnahmen
der Unternehmen haben nichts gebracht. Der Deutsche
Corporate Governance Kodex mahnt schon seit fünf Jah-
ren zu mehr Vielfalt bei der Besetzung von Aufsichtsrä-
ten und Vorständen. Genützt hat es nichts. Die Zeit der
Appelle ist vorbei.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir nehmen den Auftrag des Grundgesetzes zur
Gleichstellung ernst. Seit 1994 steht im Artikel 3 Ab-
satz 2 Satz 2 unseres Grundgesetzes – ich zitiere –:

Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.

Genau das tun wir jetzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dafür haben wir zwei Instrumente in unseren Gesetz-
entwurf eingebaut: erstens eine fixe Geschlechterquote
von 30 Prozent für Aufsichtsräte der größten Unterneh-
men in Deutschland. Deutschland verfügt über so viele
hochqualifizierte und unter Einsatz von Steuergeldern
optimal ausgebildete Frauen wie noch nie. Wir wissen,
dass eine stärkere Beteiligung von Frauen in der Wirt-
schaft auf allen Ebenen langfristig sowieso kommen
muss. Das ist schon eine Konsequenz der demografi-
schen Entwicklung. Deutschland kann sich seinen Wohl-
stand nur bewahren, wenn wir die Produktivität weiter
erhöhen und die demografische Lücke schließen. Die
Quote beschleunigt diesen Prozess. In ein paar Jahren
wird sie selbstverständlich sein. Die Wirtschaft wird sich
fragen, wie so lange auf diese wertvolle Personalres-
source eigentlich verzichtet werden konnte. Ich glaube
auch, die erregten Diskussionen über die Quote der letz-
ten Jahre werden uns im Rückblick nahezu unverständ-
lich erscheinen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


An der Quote kommt auch niemand vorbei, und zwar
ohne Ausnahme. Zur Erfüllung der Quote in den Groß-
unternehmen werden circa 174 Frauen benötigt, und
zwar gestreckt über mehrere Jahre. Es bleibt ein Rätsel,
wie behauptet werden kann, dass diese Aufsichtsratspos-
ten unbesetzt bleiben würden. Ich prophezeie Ihnen hier
und heute: Am Ende wird kein einziger Sitz in einem
deutschen Aufsichtsrat unbesetzt bleiben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Zweitens. In Zukunft haben Unternehmen, die bör-
sennotiert oder mitbestimmt sind, die Pflicht, sich eine
klare Zielgröße zu setzen, wie viele Frauen künftig in
Vorstand, Aufsichtsrat und Management arbeiten. Auch
hier ist gesetzlicher Druck notwendig. Selbstverpflich-
tungen und Empfehlungen des Deutschen Corporate
Governance Kodex haben keine Wirkung gezeigt. Durch
die vorgesehenen Berichtspflichten wird auch die Öf-
fentlichkeit sehen können, wie sich die Gremien und
Führungsebenen zusammensetzen und wie ernst es die
Unternehmen mit der Förderung von Frauen meinen. An
dieser Stelle will ich ausdrücklich sagen: Die Öffentlich-
keit ist ein scharfes Schwert der Kontrolle. Wir werden
alle darauf schauen, wie sich der Anteil der Frauen in
den Führungsebenen dieser Unternehmen entwickelt hat.

Es geht dabei um Unternehmen mit mehr als 500 Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern. In der Summe werden es
circa 3 500 Unternehmen sein, die sich diese Zielgrößen
setzen müssen. Zur Erreichung der Zielgrößen haben die
Unternehmen auch Fristen festzulegen, welche maximal
fünf Jahre betragen dürfen. Über die Zielgrößen, Fristen
und deren Erreichung müssen sie öffentlich berichten.

Meine Damen und Herren, Frauen sind ein Gewinn
für die Wirtschaft. Deutschlands Unternehmen schaden
sich selbst, wenn sie dieses Potenzial nicht nutzen. Wir
beklagen einen Fachkräftemangel und lassen das enorme
Potenzial der Frauen ungenutzt. Ich meine, das passt
nicht zusammen. Genau deswegen brauchen wir die
Frauenquote; denn sie sorgt nicht nur für mehr Gleichbe-
rechtigung, sondern sie wird auch der Wirtschaft neue
Impulse geben, von denen wir alle profitieren.

In diesem Sinne freue ich mich auf eine konstruktive
Beratung in den Ausschüssen, und am Ende freue ich
mich über Ihre Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808304600

Der Kollege Professor Heribert Hirte ist der nächste

Redner für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Heribert Hirte (CDU):
Rede ID: ID1808304700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörer! Vor allen Dingen: Liebe Schülerinnen
und liebe Schüler! Der hier vorgelegte Gesetzentwurf ist
ein richtiges Signal, das zur Verbesserung der Chancen-
gleichheit von Frauen und Männern in Führungspositio-
nen beiträgt; denn in deutschen Aufsichtsräten und Vor-
ständen sind zu wenige Frauen vertreten. Es ist richtig,
wenn wir gemeinsam daran arbeiten, dies zu verbessern.
Aber es ist auch nur ein Signal. Das erklärt auch, warum





Dr. Heribert Hirte


(A) (C)



(D)(B)

das Gesetzesvorhaben in Teilen meiner Fraktion durch-
aus auch kritisch gesehen wird.

Denn wenn wir eine Quote einführen, durch die eine
kleine dreistellige Zahl von Frauen in Führungspositio-
nen gelangen wird, blenden wir einen großen Teil der
Schwierigkeiten aus, die gerade Frauen auf dem Weg
dorthin zu gewärtigen haben. Das betrifft, was im mo-
mentanen Gesetzestext noch nicht so richtig zum Aus-
druck kommt, vor allen Dingen Frauen mit Kindern.
Empirische Studien belegen, dass gerade solche Frauen
– aber eben nur solche – mit teilweise erheblichen Ein-
kommens- und Karrierenachteilen zu rechnen haben.
Kinderbetreuung in den Zeiten, in denen sie für die Tä-
tigkeit als Vorstand oder Aufsichtsrat erforderlich ist, ist
unverändert nicht leicht zu organisieren, schon gar nicht
legal. Deshalb ist es nachdrücklich zu begrüßen, dass vor
allen Dingen große Unternehmen diese Aufgabe selbst
übernehmen. Das erklärt dann vielleicht auch, warum
bei kleinen und mittelständischen Unternehmen –
SDAX, MDAX usw. – der Frauenanteil in Führungs-
positionen nicht ganz so groß ist wie bei den ganz gro-
ßen Unternehmen.

Wenn der entsprechend größere Aufwand für die Kin-
derbetreuung dann auch steuerlich nur begrenzt geltend
gemacht werden kann, „rechnet“ sich für viele rational
denkende Eltern der Aufwand einer doppelten Karriere
mit Kindern nicht. Ich bin deshalb auf den Fortgang eini-
ger finanzgerichtlicher Prozesse gespannt, in denen El-
tern diese Abzugsbeschränkungen zu Fall bringen wol-
len. Wenn zudem gerade Kindergärten „mit besonderer
Liebe“ bestreikt werden, konterkariert auch dies die Be-
reitschaft von Müttern – übrigens auch von Vätern – zur
Übernahme von Führungspositionen.

Es ist – anders ausgedrückt – noch deutlich mehr zu
tun, und dies an anderer Stelle, um die Familienkompati-
bilität von Führungspositionen herzustellen. Anderer-
seits: Ein bisschen Sog von oben schadet eben auch
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Kommen wir zu einem zweiten Punkt. Frau Ministe-
rin, Sie begründen die Quotenvorgaben damit, dass die
Zahl qualifizierter Frauen in den letzten Jahren stetig zu-
genommen habe. Das ist richtig, aber unvollständig;
denn im Aufsichtsrat – Gleiches gilt für die Führungs-
ebenen darunter – gilt es, ganz unterschiedliche Fähig-
keiten und Profile zusammenzuführen, wie etwa die
Kenntnis bestimmter Branchen, ausländischer Märkte
oder von Organisationsfragen einschließlich der Daten-
verarbeitung.

Der Aufsichtsrat ist eine Fußballmannschaft und kein
Elferrat. Deshalb kommt es schon sehr darauf an, ob
man sich gerade für Bilanzrecht oder Steuerrecht interes-
siert oder – wie die Tochter unserer rechtspolitischen
Sprecherin – für Maschinenbau, das sie nämlich studiert.
Wir brauchen Stürmerinnen, Mittelfeldspielerinnen und
Verteidigerinnen mit jeweils unterschiedlichen Qualifi-
kationen. Ich würde mir wünschen, wenn sich mehr
Frauen für diese wirtschaftsnahen Detailqualifikationen
über die schlichte Wahl des Studienfaches hinaus inte-
ressieren würden; aber die Realität sah – jedenfalls bis
vor kurzem – noch ganz anders aus.

Ich erinnere mich noch sehr genau an die Diskussio-
nen in der wirtschaftsrechtlichen Abteilung des Deut-
schen Juristentages vor zwei Jahren – im Übrigen auch
vor einem Jahr –, bei denen der Frauenanteil bei 10 Pro-
zent lag, und das, obwohl sich Frauen wie Männer glei-
chermaßen hätten anmelden können. Es waren – aus
welchen Gründen auch immer – nicht mehr Frauen da.
Deshalb ist ein Kulturwandel, Frau Ministerin, schon
wichtig und richtig, aber der Kulturwandel muss an ver-
schiedenen Stellen ansetzen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Aber auch bei den Männern!)


– Sie waren auch nicht in der wirtschaftsrechtlichen Ab-
teilung; aber dies nur am Rande.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kann ja nicht überall dazwischenrufen!)


– Frau Künast, ich sage das ganz deutlich. Die Männer
machen ja da mit, aber es ist ein bisschen komplizierter,
als nur eine Quote von oben zu verordnen.

Das bringt mich zurück zu der Frage nach den Grün-
den. Denn es stößt natürlich – ich meine, zu Recht – auf
Unverständnis, dass vor allen Dingen die Wirtschaft für
diese Lage verantwortlich gemacht wird. Es ist aus mei-
ner Sicht auch eine Frage des gesellschaftlichen Klimas,
das Wirtschaft und Unternehmertum grundsätzlich kri-
tisch gegenübersteht, wenn Menschen sich gegen eine
Tätigkeit in der Wirtschaft entscheiden. Wer wie die
Linken und die Grünen freien Handel – ich sage nur
„TTIP“ – ablehnt, darf sich nicht wundern, wenn Men-
schen keine Lust haben, in ebendiesen Handelsunterneh-
men zu arbeiten. Diesen Zusammenhang sollte man
nicht vergessen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dieser Zusammenhang erschließt sich keinem Menschen! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Zusammenhang muss man erst einmal verstehen!)


– Ja, Sie reden auch im Rechtsausschuss ununterbro-
chen; ich kenne das schon.

Umgekehrt gilt: Es ist gut, richtig und wichtig, wenn
sich auch Frauen – ich sage es noch einmal – für wirt-
schaftsnahe Berufe entscheiden, die dann vermehrt auch
eine Übernahme von Führungsverantwortung ermögli-
chen; aber das sollte dann doch freiwillig geschehen.

Diese Lage – die unterschiedlichen Anforderungspro-
file – wirkt sich umso stärker aus, je kleiner ein Auf-
sichtsrat oder ein sonstiges Führungsgremium ist; denn
hier kann eine fehlende Expertise bei einer Person nicht
einfach durch einen Kollegen kompensiert werden. Das
gilt gleichermaßen für Frauen und für Männer.





Dr. Heribert Hirte


(A) (C)



(D)(B)


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb wollen wir es ja verbessern! Weil da jetzt so große Lücken sind!)


Aber die Beschränkung der Auswahlfreiheit durch eine
Genderquote wiegt bei solchen kleinen Unternehmen
deutlich stärker. Deshalb wird zu Recht die Frage aufge-
worfen, ob der Entwurf nicht gerade in diesem Zusam-
menhang in seiner Ausgestaltung verfassungsrechtlich
bedenklich ist.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was meinen Sie damit?)


Richtig ist genau vor diesem Hintergrund, dass die Mög-
lichkeit der Gesamterfüllung vorgesehen wird, dass also
die beiden Quoten zusammengerechnet werden. Darüber
hinaus müsste man meines Erachtens über die Berück-
sichtigung weiterer branchenspezifischer Besonderhei-
ten nachdenken.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit großer Akribie hat die Bundesregierung den mit
dem Gesetzesvorhaben verbundenen Erfüllungsauf-
wand berechnet: 257 000 Euro kostet das pro Jahr. Über-
raschend ist dabei, dass für Vorstands- und Aufsichts-
ratsmitglieder ein Stundensatz von 47,30 Euro pro
Stunde zugrunde gelegt wird – vor Steuern. Das ist etwas
mehr als der Mindestlohn. Ich selbst würde mich nicht
trauen, einer Frau eine Tätigkeit in einem Aufsichtsrat
oder einem Vorstand zu diesen offenbar von Ihnen als
angemessen angesehenen Sätzen anzubieten. Der Natio-
nale Normenkontrollrat hat das zu Recht richtiggerückt.

Zu Recht – damit bin ich bei meinem letzten Punkt –
sind die Quotenvorgaben, oder besser: die Signalwirkun-
gen des Gesetzes, auch auf den öffentlichen Dienst er-
streckt worden. Es wurde zu Recht kritisiert, dass der
Staat der Privatwirtschaft keine Vorgaben machen sollte,
die er selbst nicht beachtet. Aber: Dort führt die Unter-
schreitung der vorgegebenen Quote lediglich zu einer
Begründungspflicht, während sie in der Privatwirtschaft
zur Nichtigkeit der Wahl und zum Verlust der Aufsichts-
ratsmehrheit führt. Angesichts der verfassungsrechtli-
chen Positionen ist das eine vielleicht nicht ganz zu
rechtfertigende Differenzierung.

Möglicherweise zum Ausgleich soll der bürokratische
Überwachungsaufwand dramatisch nach oben gefahren
werden: Insgesamt circa 100 neue Stellen für Gleichstel-
lungsbeauftragte, Stellvertreter und Mitarbeiter in der
Bundesverwaltung und noch einige weitere personalin-
tensive Maßnahmen werden einen Kostenaufwand von
20 Millionen Euro pro Jahr auslösen. Wenn es vorne im
Gesetzentwurf heißt, das alles sei haushaltsneutral, dann
fragt man sich natürlich, wie das geschehen soll.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie vorher angefangen hätten, wäre es jetzt auch nicht so teuer!)


Es kann doch nur so laufen, dass zunächst umgesetzt
wird, die Verwaltung verschlechtert wird und im nächs-
ten Jahr die entsprechenden Haushaltsforderungen kom-
men. Da kann ich nur sagen: Das kennen wir von ande-
ren Stellen. – Wir wollen schon eine Quote – das sage
ich ganz deutlich –, aber wir wollen keine Gleichstel-
lungsüberwachungspolizei; denn eine „Glüpo“ habe ich
im Koalitionsvertrag nicht gefunden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie uns das deshalb in den Beratungen in den
nächsten Wochen korrigieren. Ich bin zuversichtlich,
dass das gelingt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen schon, dass Sie in einer Koalition mit denen sind? Sie torpedieren das ganze Gesetz!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808304800

Für die SPD hat jetzt das Wort die Kollegin Christina

Jantz.


(Beifall bei der SPD)



Christina Jantz (SPD):
Rede ID: ID1808304900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Professor
Hirte, eingangs möchte ich mich insbesondere im Na-
men meiner Fraktion, aber, wie ich denke, auch im
Namen vieler anderer Kolleginnen hier im Plenarsaal da-
gegen verwehren, Gleichstellungsbeauftragte als Büro-
kratieaufbau zu bezeichnen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich muss Ihnen nicht sagen – das ist in vielen Reden
schon angeklungen –, welch große Beiträge Frauen bis-
lang für unsere Gesellschaft geleistet haben und dass sie
diese selbstverständlich auch zukünftig leisten werden.
Dennoch, der freie Zugang zu gut bezahlten Berufen und
Positionen ist für Frauen heutzutage aber nicht nur eine
Frage der Gerechtigkeit. Er hat auch gesellschaftspoliti-
sche Auswirkungen auf viele unserer Lebensbereiche.
Es wurde schon oft betont und nachgewiesen, dass
Frauen in Spitzenpositionen – auch das klang heute
schon an – die Unternehmen maßgeblich voranbringen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


ganz egal ob in der freien Wirtschaft oder im öffentli-
chen Dienst. In vielen Ländern hat sich diese Einstellung
bereits manifestiert, und sie wird dort entsprechend auch
gelebt. In Deutschland – Christian Lange hat es gesagt –
brauchen wir uns gar nicht zu verstecken. Denn auch bei
uns gilt: Die Grundlage haben wir. Qualifizierte, hoch-
kompetente Frauen gibt es genug. In Deutschland absol-
vieren mehr Frauen als Männer ein Hochschulstudium,
und das mit sehr guten Ergebnissen.


(Beifall bei der SPD)


Sie streben zunehmend insbesondere in die stark boo-
menden Branchen. Frauen wollen vorankommen, sich





Christina Jantz


(A) (C)



(D)(B)

einbringen und entscheiden. Sie wollen von der zweiten
und dritten Reihe nach vorne treten und ihr Können be-
weisen. Doch der Alltag zeigt uns nach wie vor:
Deutschland lässt sie nicht. Wir sind trauriges Schluss-
licht. Denn in keiner anderen Wirtschaftsnation – auch
das hatte Christian Lange vorhin angesprochen – gibt es
im Vergleich weniger Unternehmen mit mindestens ei-
ner Frau in einer Spitzenposition als bei uns. Lediglich
in jedem dritten Unternehmen lassen sich Frauen an der
Spitze finden. Während andere Länder gezielt unsere
weiblichen Fach- und Führungskräfte abwerben und uns
viele Staaten überholen, prallen die Frauen bei uns in
Deutschland immer noch viel zu häufig an die – bildlich
gesprochen – gläserne Decke. Meine Damen und Her-
ren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir es
endlich schaffen, zumindest einen Teil dieser Decke brü-
chig zu machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dafür danke ich insbesondere unseren SPD-Ministern
Manuela Schwesig und Heiko Maas. Sie haben einen be-
sonnenen, guten Gesetzentwurf ausgearbeitet, der für
eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Män-
nern in Führungspositionen sorgen soll. Die Weichen
werden nun endlich richtig gestellt.


(Beifall bei der SPD)


Damit setzen wir nicht nur den Koalitionsvertrag und
unsere Ziele, insbesondere unsere lang erkämpften For-
derungen um, sondern wir lenken auch Artikel 3 Absatz 2
unseres Grundgesetzes in gesetzlich untermauerte Bah-
nen. Nun wird es Rechtsfolgen, also Konsequenzen, ge-
ben, sollte die Geschlechterquote nicht eingehalten wer-
den. Der sogenannte leere Stuhl droht. Zum ersten Mal
in der deutschen Geschichte wird es eine Geschlechter-
quote von mindestens 30 Prozent in Aufsichtsräten ge-
ben. Ich möchte betonen: So sieht nicht nur aktive, pra-
xisorientierte Frauen- und Rechtspolitik aus, sondern so
sieht auch eine fortschrittliche Wirtschaftspolitik aus.


(Beifall bei der SPD)


Seien wir doch ehrlich: Eigentlich ist es schon ein
bisschen kurios, Unternehmen zu ihrem Glück zwingen
zu müssen. Denn die zahlreichen Studien, die uns alle
vorliegen, belegen doch immer wieder: Vielfalt in Unter-
nehmen bringt Fortschritt und spült auch Geld in die
Kassen. Gleichzeitig mussten wir erkennen, dass der Ap-
pell an die Unternehmen, freiwillig zu handeln, kläglich
gescheitert ist. Würden wir es nämlich gänzlich unseren
Unternehmen überlassen, die Gleichstellung voranzu-
treiben, würde es noch Jahrzehnte benötigen, nein – was
sage ich? –, an die 150 Jahre dauern, bis wir eine 30-Pro-
zent-Quote hätten, wenn wir mit dem bestehenden
Tempo fortfahren würden.

Sie sehen, meine Damen und Herren, Handlungsbe-
darf ist unverkennbar gegeben. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf schaffen wir den notwendigen motivie-
renden Druck, stärken natürlich die Frauen, stärken die
wirtschaftliche Entwicklung und stärken insgesamt un-
sere Gesellschaft. Packen wir es also endlich an!
Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808305000

Als Nächstes hat das Wort der Kollege Oswin Veith

für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Oswin Veith (CDU):
Rede ID: ID1808305100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Seit 66 Jahren garantiert unser Grundgesetz in
Artikel 3 die gleichberechtigte Teilhabe von Männern
und Frauen. Um das zu erreichen, haben wir in den letz-
ten Jahren bereits vieles auf den Weg gebracht. Mit der
Privatwirtschaft haben wir freiwillige Selbstverpflich-
tungen vereinbart und für den öffentlichen Dienst das
Bundesgremienbesetzungsgesetz und auch das Bundes-
gleichstellungsgesetz verabschiedet.

Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun eine Quo-
tenregelung zur Verbesserung der Chancengleichheit für
Frauen und Männer bei der Besetzung von Führungs-
positionen vor. Für börsennotierte Unternehmen, die der
paritätischen Mitbestimmung unterliegen, gilt damit zu-
künftig für ihre Aufsichtsräte eine Geschlechterquote
von mindestens 30 Prozent. Zudem wird es verbindliche
Zielvereinbarungen für börsennotierte und mitbestim-
mungspflichtige Unternehmen geben. Ich bedaure es
ausdrücklich, dass es nicht gelungen ist, gemeinsam mit
der Privatwirtschaft dieses freiwillige Ziel zu erreichen.

Weil wir als Bund mit gutem Beispiel vorangehen
wollen, wird es für den öffentlichen Dienst vergleichbare
Regelungen geben. Die Bundesverwaltung wird künftig
verpflichtet, sich für jede Führungsebene konkrete Ziel-
vereinbarungen zur Erhöhung des Frauen- bzw. Männer-
anteils zu setzen. Darüber hinaus soll bei der Besetzung
von Aufsichtsgremien, bei denen der Bund mitbestim-
men kann, ab 2016 eine Quote von 30 Prozent gelten,
mit dem Ziel, diese Vorgabe ab dem Jahre 2018 auf
50 Prozent zu erhöhen. Im Koalitionsvertrag haben wir
uns auf eine gezielte Gleichstellungspolitik auf Ebene
des Bundes geeinigt. Wir wollen den Anteil der Frauen
in Führungspositionen erhöhen und Entgeltungleichhei-
ten beseitigen. Dafür stehen wir als Union.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Für die Bundesverwaltung haben wir daher im Koali-
tionsvertrag eine proaktive Umsetzung des Bundes-
gleichstellungs- und Bundesgremienbesetzungsgesetzes
gefordert. Mit den Quotenregelungen für den öffentli-
chen Dienst geht der vorliegende Gesetzentwurf aber
klar über die Vorgaben unseres Koalitionsvertrages hi-
naus. So enthält der Gesetzentwurf aus dem Familienmi-
nisterium für die Geschlechterquote bei der Besetzung
von Aufsichtsgremien im Einflussbereich des Bundes
weder Öffnungs- noch Härtefallklauseln. Als Konse-
quenz muss bei einer Gremienbesetzung durch den Bund
streng auf diese Quote geachtet werden, losgelöst von
der jeweiligen persönlichen und fachlichen Eignung und





Oswin Veith


(A) (C)



(D)(B)

Qualifikation der potenziellen Gremienmitglieder. Das
kann nicht gutgehen. Auch fehlt es in dem Gesetzent-
wurf an einer Möglichkeit zur Abweichung von der
Quotenregelung in den Fällen, in denen eine funktions-
bezogene Besetzung der Gremien erfolgt. Vor allem vor
dem Hintergrund, dass wir im öffentlichen Dienst bereits
über einen sehr hohen Standard verfügen, erscheinen mir
diese starren Quoten für zu weitgehend.

Lassen Sie mich die aktuelle Situation kurz aufzeigen.
Der Frauenanteil an Führungspositionen in den obersten
Bundesbehörden im Jahre 2012 betrug rund 30 Prozent.
Der Frauenanteil an Gremienmitgliedern im Einflussbe-
reich des Bundes stieg von 1997 bis 2013 von 12,4 auf
25,7 Prozent. Das sind gute Zahlen, wie ich meine. Wir
liegen damit weit vor der Wirtschaft. Auch das gilt es an-
gemessen zu berücksichtigen.

Das sagt auch vieles über den öffentlichen Dienst als
Arbeitgeber:

Erstens. Er ist auf einem sehr guten Weg, um die
Chancengleichheit für beide Geschlechter zu verbessern.
Auch deshalb ist der öffentliche Dienst ein attraktiver
Arbeitgeber.

Zweitens. Im Vergleich zur Privatwirtschaft arbeitet
der öffentliche Dienst konsequent an der Verbesserung
der Vereinbarkeit von Beruf, Pflege und Familie. Diese
Problematik ist erkannt. Wir haben in der letzten Legis-
laturperiode gemeinsam zum Beispiel mit dem Fachkräf-
tegewinnungsgesetz darauf reagiert. Damit haben wir
viele positive Maßnahmen zur Verbesserung der Famili-
enfreundlichkeit auf den Weg gebracht, zum Beispiel
den Personalgewinnungszuschlag, Kinderbetreuungs-
und Pflegezeiten, die Anerkennung von Erfahrungszei-
ten, Wehrdienst- und Freiwilligendienstzeiten oder die
Einführung einer Verpflichtungsprämie für polizeiliche
Auslandsverwendungen. Ferner wurde die Übertragung
ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht
auf Lebenspartnerschaften beschlossen, und der Eintritt
in den Ruhestand wurde insgesamt flexibler ausgestaltet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gleichberech-
tigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungs-
positionen ist ein wichtiges Anliegen. Wir als Union be-
kennen uns klar zu diesem Ziel. Nicht zuletzt durch die
von der Union beschlossenen Maßnahmen ist der öffent-
liche Dienst hier bereits Vorreiter in unserer Gesell-
schaft. Wenn es denn richtig ist, wie es in Artikel 3 Ab-
satz 2 unseres Grundgesetzes heißt: „Der Staat fördert
die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung
von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung
bestehender Nachteile hin“, dann ist der vorliegende Ge-
setzentwurf der Familienministerin ein weiterer Schritt
auf einem richtigen Weg. Dennoch müssen wir im weite-
ren Beratungsverfahren noch den einen oder anderen
Stein beiseiteräumen, damit alles rund wird. Darauf
freue ich mich.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808305200

Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-

punkt ist der Kollege Metin Hakverdi, SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Metin Hakverdi (SPD):
Rede ID: ID1808305300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Endlich – nicht im Sinne von heute, sondern im Sinne
von: nach so vielen Jahren des Debattierens, der getrof-
fenen Selbstverpflichtung durch Wirtschaft und Politik,
der politischen Auseinandersetzung – hat sich die Ein-
sicht durchgesetzt: Eine gerechte Gesellschaft, bei der
alle – Frauen und Männer gleichermaßen – in Wirtschaft
und Verwaltung Aufstiegschancen haben und Führungs-
positionen besetzen können, ist ohne eine gesetzlich ver-
bindliche Quote offensichtlich nicht zu erreichen: Ob-
wohl Frauen heute besser qualifiziert sind als Männer,
obwohl Frauen über 50 Prozent der Bevölkerung aus-
machen, liegt der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der
160 größten deutschen Unternehmen unter 20 Prozent,
bei den Vorständen sogar unter 6 Prozent.

Der eine oder andere, die eine oder andere findet ei-
nen Eingriff des Gesetzgebers unangemessen. Denen
sage ich: Gesetzgeberisches Handeln ist immer dort er-
forderlich, wo die gesellschaftlichen Mechanismen nicht
in der Lage sind, eine offensichtliche Ungerechtigkeit zu
überwinden. In diesem Fall muss der Gesetzgeber han-
deln: Männlich dominierte Strukturen lösen sich offen-
sichtlich nicht freiwillig auf; das ist die Erkenntnis der
letzten Jahre. Deshalb lasse ich weder das Argument un-
nötiger Bürokratie noch das eines unzulässigen Eingriffs
in die unternehmerische Freiheit gelten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Den anderen geht der Gesetzentwurf nicht weit ge-
nug. Denen sage ich: Dieser Gesetzentwurf – die Kolle-
gin Künast hat auch das Wort „historisch“ benutzt – ist
eine historische Zäsur. Eine verbindliche Quote für Auf-
sichtsräte wird nunmehr gesetzlich festgeschrieben. Au-
ßerdem werden Aufsichtsräte verpflichtet, Zielgrößen
für die Vorstände zu beschließen; die Vorstände wiede-
rum müssen Zielgrößen für die beiden Führungsebenen
unterhalb des Vorstandes festlegen. Für diese Zielgrößen
sind Fristen festzulegen und in Lageberichten zu veröf-
fentlichen.

Das schafft Transparenz und Öffentlichkeit. Ich bin
überzeugt, dass diese Transparenz und Öffentlichkeit
eine ganz besondere Dynamik auslösen können: Ich
kann mir vorstellen, dass sich Organisationen allein zu
dem Zweck gründen, die einzelnen Unternehmen auf
diesen Aspekt hin zu überwachen. Ich kann mir vorstel-
len, dass solche Organisationen Ungerechtigkeiten in
einzelnen Unternehmen öffentlich machen und anpran-
gern. Diese Unternehmen müssten dann der Öffentlich-
keit erklären, warum der Frauenanteil in ihren Führungs-
ebenen nicht der gesellschaftlichen Realität entspricht.
Genügt – das ist auch an die Opposition heute gerichtet –
dieser öffentliche Druck nicht, liebe Kolleginnen und





Metin Hakverdi


(A) (C)



(D)(B)

Kollegen, dann wird der Gesetzgeber wieder in der
Pflicht sein. Es ist ungerecht und unserem Gemeinwesen
unwürdig, dass Frauen in den Führungsetagen der deut-
schen Wirtschaft derzeit so stark diskriminiert sind.

Einigen – auch heute hier in diesem Haus – reicht
diese Feststellung nicht als Grund dafür, Unternehmen in
Deutschland zu mehr Gleichberechtigung zu verpflich-
ten. Diese weise ich auf die vielen internationalen Stu-
dien hin, die alle ein Ergebnis haben: Unternehmen mit
einem höheren Frauenanteil in Führungsgremien haben
mehr Erfolg. – Deshalb ist es mir unverständlich, warum
die Unternehmerverbände jetzt nicht die Fahnenträger
dieser Gesetzesinitiative sind. Mit diesem Gesetz sorgen
wir nämlich nicht nur für mehr Gerechtigkeit in unserer
Gesellschaft, mit diesem Gesetz tun wir auch etwas für
den Wirtschaftsstandort Deutschland: Wir machen den
Wirtschaftsstandort Deutschland leistungsfähiger. Kolle-
ginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz brechen wir
Strukturen auf, die bisher die wirtschaftliche Prosperität
in unserem Land behindert haben. Wir beseitigen ein
Marktversagen. Die nachhaltige Entwicklung des Wirt-
schaftsstandorts Deutschland braucht dieses Gesetz.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808305400

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache zu

diesem Tagesordnungspunkt.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/3784, 18/4307 und 18/4308

(neu) an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-

schüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, dass sich kein Wider-
spruch erhebt, Sie also alle damit einverstanden sind.
Dann ist diese Überweisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Hans-Christian Ströbele, Luise
Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bericht über das Inhaftierungs- und Verhör-
programm der CIA vollständig und unge-
schwärzt übermitteln
Drucksache 18/3558

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
auch hier keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
ter Rednerin der Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808305500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein erns-

tes Thema. Es geht um einen Antrag, bei dem meines Er-
achtens eigentlich niemand in diesem Haus dagegen sein
kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Ich denke, alle können unterschreiben und sagen:

Der Deutsche Bundestag verurteilt Folter. Niemand
darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unter-
worfen werden.

Wir alle wollen doch wohl, dass Folter abgestellt wird
und Foltervorwürfe rechtsstaatlich aufgeklärt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Eigentlich haben wir bei diesem Thema doch alle die
gleiche Meinung, zum Beispiel gerade gestern bezüglich
des Bloggers in Saudi-Arabien. Der Kollege Tom
Koenigs, der zum Beispiel dazu geredet hat, sitzt jetzt
auch hier. Logisch. Aber wenn das so ist, meine Damen
und Herren, muss doch der Deutsche Bundestag jetzt ge-
meinsam begrüßen, dass – erstens – der Geheimdienst-
ausschuss des US-Senats unter Leitung von Dianne
Feinstein diese Aufklärung über das Inhaftierungs- und
Verhörprogramm der CIA, über Jahre mühevoll betrie-
ben hat, und müsste – zweitens – logischerweise dann
auch zustimmen, wenn wir heute beschließen wollen:
Wir ersuchen die zuständigen Stellen in den USA, uns
den vollständigen Bericht von 6 000 Seiten unge-
schwärzt zu übermitteln. Das alles gehört logisch zusam-
men, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir kennen ja nun alle die Zusammenfassung, die
mittlerweile auf Deutsch – auf meinem Tisch liegt sie –
erschienen ist, 500 Seiten.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] hält ein Buch hoch mit dem Titel „Der CIA-Folterbericht“)


Aber der Bericht hat eben 6 000 Seiten. Selbst bei dieser
Zusammenstellung auf 500 Seiten – wenn man sie liest –
kann man verzweifeln. Es ist unglaublich, dass so etwas
in den USA geschehen ist, dass sich dieses politische
System, vermeintlich um Freiheit zu verteidigen, dahin
versteigen kann:

Waterboarding. – Ich kann mir gar nicht vorstellen,
wie sich ein Mensch physisch und psychisch dabei fühlt.
Man ist dann doch zerstört, im wahrsten Sinne des Wor-
tes zerstört – schon nach dem ersten Mal. Hier war es
mindestens 18-mal.

Entzug von Schlaf. – Meine Damen und Herren, das
ist mit einem Land, dessen Verfassung anfängt mit „We
the People“, eigentlich gar nicht vereinbar.

Ich meine, was jetzt nicht passieren darf, ist, dass
nach diesem Bericht die Straflosigkeit folgt, meine Da-
men und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)

Es gibt viele Staaten auf der Welt, in denen Folter an
der Tagesordnung ist: Saudi-Arabien – davon haben wir
gestern geredet –, Syrien, Iran, auch Russland, meine
Damen und Herren. Aber von der US-Justiz erwarte ich,
dass sie hier wirklich aufarbeitet und es nicht mit der
Veröffentlichung des Berichts oder des Teilberichts be-
wenden lässt. Die USA haben sich doch eigentlich völ-
ker- und menschenrechtlichen Standards verpflichtet,
wenn sie auch nicht alles unterschrieben haben, zum
Beispiel bei dem Internationalen Strafgerichtshof.

Klar ist aber auch: Auch wenn die US-Justiz untätig
bleibt und Obama schon gesagt hat: „Wir reagieren da
nicht mit strafrechtlichen Maßnahmen“, kann das für uns
nicht heißen, dass wir, die wir sagen, Folter ist verboten
– einen anderen Weg gibt es nicht; wir haben es im Fall
des Polizisten Daschner richterlich bestätigt bekom-
men –, meinen: Das gilt jetzt für uns auch. Nein, das
Strafrecht hat ein Weltrechtsprinzip: Folter ist verboten –
was nichts anderes heißt, als dass jedes Land Folter, wo
auf dieser Welt und an wem auch immer sie verübt wird,
bei sich selbst einem Strafverfahren unterziehen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Deshalb sage ich: Das Ganze muss Folgen haben. Die
deutsche Justiz muss doch zumindest in der Lage sein,
Taten mit Bezug zu Deutschland zu verfolgen, zum Bei-
spiel bei Entführungen, die über unser Territorium er-
folgt sind, bei denen deutsche Behörden beteiligt waren
– etwa bei der Ermittlung persönlicher Daten oder von
Aufenthaltsorten – oder wo die Opfer deutsche Staatsan-
gehörige waren.

Stellen Sie sich jetzt einmal vor, jemand, dem das
passiert wäre, hieße Fritz Müller oder Meier. Wäre dann
der Aufschrei eigentlich größer gewesen, als wenn man
einen ganz anderen Namen gehabt hätte, zum Beispiel
Murat Kurnaz oder Khaled el-Masri? Überlegen Sie ein-
mal – der Untersuchungsausschuss hat das ja gezeigt –,
ein deutscher Bürger aus Bremen wird in Mazedonien
festgenommen, nach Afghanistan verschleppt, gefoltert
– wir haben es gesehen; selbst in diesem Bericht steht
das –, misshandelt, erniedrigt und geschlagen. Ihm wer-
den Drogen verabreicht und verschiedene rektale Ein-
läufe verpasst. Wenn wir nicht einmal in der Lage sind,
bei solchen Straftaten und einer solchen Folter gegen-
über deutschen Staatsangehörigen zu sagen: „So nicht“,
dann frage ich: Wo denn dann?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich sage das auch für den Deutschen Khaled el-Masri,
der von der CIA eben auch gefoltert wurde. In München
war man mutig, und es gibt dort Haftbefehle. Aber wo
funktioniert denn der deutsche Rechtsstaat, wenn diese
Haftbefehle gegen CIA-Agenten von der Regierung
nicht einmal an die USA weitergeleitet werden? Hier
geht es doch auch um die eigene Würde und die Glaub-
würdigkeit, dass wir wirklich einen Rechtsstaat vertre-
ten. Denken Sie allein auch an die Entführten, die nach
der Folter in ihren Zellen von Geheimdienstmitarbeitern
vernommen wurden, wodurch diese quasi die Früchte
des verbotenen Baumes geerntet haben.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns nicht an ei-
nem System Straflosigkeit beteiligen dürfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wie betreiben wir eigentlich – das sehen wir in diesen
Tagen – Terrorismusbekämpfung? Wie können wir bei
all der Strafverfolgung und all den Maßnahmen, die wir
hier in dieser Zeit strittig diskutieren, jungen Männern
und Frauen sagen: „Schließt euch nicht den Dschihadis-
ten an, habt Respekt vor anderen Menschen, tötet nicht
andere, geht nicht diesen Weg“, und wie können wir ih-
nen eigentlich in die Augen schauen? Sie sehen uns an
und sagen: Gleiches Recht für alle!

Ich will diese Taten gar nicht voll gleichstellen, aber
wenn etwas eine Straftat ist, dann ist etwas eine Straftat,
und der deutsche Rechtsstaat und der Deutsche Bundes-
tag sind nur glaubwürdig, wenn sie ohne Ansehen der
Person und ohne Ansehen der Staaten sagen: Solche
Straftaten werden von uns verfolgt. – Darum geht es.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808305600

Frau Kollegin Künast, ich darf Sie um Ihren letzten

Satz bitten.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808305700

Ja, ich komme zum Schluss. – Meine Damen und

Herren, wenn wir bei der Prävention und Bekämpfung
von Folter erfolgreich sein wollen, dann muss der Deut-
sche Bundestag diesen Bericht – 6 000 Seiten, unge-
schwärzt – fordern. Ich meine, wenn wir in unserem
Rechtsstaat wirklich gegen Folter kämpfen wollen, dann
müssen wir die Frage nach diesem Bericht immer wieder
stellen. Wir werden nie aufhören, nach diesem Bericht
zu fragen – bis wir ihn haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808305800

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Frank

Heinrich.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1808305900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Am 17. Dezember 2014 haben wir an dieser
Stelle über die Foltermethoden der CIA debattiert und
waren uns über die Parteigrenzen hinweg einig – das
wurde von Frau Künast in ihrer Rede gerade auch ge-
sagt –, diese grausamen Praktiken zu verurteilen. Ich sel-
ber habe zu Beginn meiner Rede damals gesagt:
„Schämt euch, Freunde in den USA …!“

Wir haben von sogenannten erweiterten Verhörtechni-
ken gehört. Das ist eine grobe Verharmlosung von Folter.





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

Lassen Sie mich einige der gravierendsten Verstöße ein-
fach einmal ins Gedächtnis rufen: Verhaftungen auf Ver-
dacht ohne jede Anklage, Abschottung von der Außen-
welt in Geheimgefängnissen, Drohungen gegen die
Familie, zum Beispiel die Drohung, die Mutter zu verge-
waltigen, Eintauchen in eine Tonne mit Eiswasser,
Schlafentzug über drei Tage. Man könnte das noch wei-
ter fortsetzen.

Der Bundesregierung lag bisher nur ein Teil des
6 000-seitigen Berichts vor, der von Frau Feinstein so
toll und mit großer Ausdauer vorbereitet wurde, 500 Sei-
ten, und diese sind an vielen Stellen geschwärzt. Man
bekommt Angst, wenn man sich vorstellt, was auf den
restlichen Seiten oder unter diesen geschwärzten Stellen
des Berichts noch verborgen sein könnte.

Wir verlangen von den Freunden in den USA eine
vollständige Aufklärung. Insofern stimme ich dem An-
liegen des Antrags zu.

Am gleichen Tag, als die Debatte im Dezember statt-
fand, wurde der Rechtsausschuss durch Generalbundes-
anwalt Harald Range informiert. Er hat an die USA den
Antrag gestellt, der Bundesregierung den kompletten
und ungeschwärzten Bericht zu liefern. Der Antrag, über
den wir heute debattieren, übrigens mit dem gleichen
Datum wie damals versehen, erübrigt sich deswegen


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Der Bundestag muss zeigen, dass er das einfordert! Das ist eine Frage der Ehre! Wir müssen das fordern!)


und wirkt schon auf eine gewisse Weise wie ein Schau-
fensterantrag.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie ja auch zustimmen!)


Zudem müssen Sie doch wissen, dass nicht nur wir al-
leine, sondern auch die anderen Staaten der EU – das
wird im nächsten Monat im Europäischen Parlament der
Fall sein – darüber debattieren. Trotzdem gibt es – das
habe ich im Eingang gesagt – Elemente in Ihrem Antrag,
die wir als CDU vollständig mittragen.

Die erneute inhaltliche Debatte, auch angesichts der
Geschehnisse seit Dezember, ist sinnvoll. Deshalb
möchte ich den ersten Absatz Ihres Antrags vorlesen:

Der Deutsche Bundestag verurteilt Folter. Niemand
darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unter-
worfen werden ...

Danach werden mehrere Paragrafen dazu angeführt.
Dieser Forderung können wir absolut, unmissverständ-
lich und vollumfänglich zustimmen.

Gestern haben wir hier an der gleichen Stelle, wie Sie
gerade gesagt haben, über den Blogger Raif Badawi aus
Saudi-Arabien debattiert. Er wurde vor zwei Jahren we-
gen Beleidigung des Islams verhaftet, im November
letzten Jahres zu zehn Jahren Haft, einer Geldstrafe und
1 000 Peitschenhieben verurteilt, was durch die Medien
ging. Die ersten 50 Schläge sind ihm verabreicht worden
oder wurden, wie man dort wahrscheinlich sagt, voll-
streckt. Daraufhin hatte er so starke Verletzungen, dass
ihm, auch aufgrund des politischen Drucks, bisher keine
weiteren Schläge verabreicht wurden.

Saudi-Arabien hat das Attentat in Paris als „feigen
Terrorakt“ verurteilt, „der gegen den wahren Islam ver-
stößt“ – so viel zur einen Seite der öffentlichen Wahr-
nehmung. Nur zwei Tage später hat Saudi-Arabien den
Blogger in Dschidda öffentlich auspeitschen lassen. Ich
suche immer noch denjenigen, der das versteht.

Die Bundesrepublik und die gesamte westliche Welt
haben gegen diese Form der Folter ihre Stimme erhoben –
mit Erfolg. Eine weitere Bestrafung wurde – das habe
ich eben gesagt – vorerst ausgesetzt. Damit wir aber un-
sere Stimme gegen jede Form von Menschenrechtsver-
letzung, gegen Einschränkungen von Meinungsfreiheit,
Pressefreiheit, Religionsfreiheit, gegen Diskriminierung
von Minderheiten, gegen unfaire Gerichtsverfahren und
gegen Folter glaubwürdig erheben können, müssen wir
auch vor der eigenen Haustür kehren.

Die USA sind unsere Freunde. Diese Freundschaft
darf nicht dazu führen, dass die Glaubwürdigkeit der
Weltgemeinschaft beeinträchtigt und beschädigt wird.
Dafür müssen die Daten vollständig und ungeschwärzt
vorliegen. Der Generalbundesanwalt geht an dieser
Stelle den richtigen Weg. Natürlich müssen wir zusi-
chern, was unter Punkt IV in Ihrem Antrag steht:

Der Deutsche Bundestag versichert, dass er etwaige
Maßgaben der Vereinigten Staaten zur Geheimhal-
tung beachten wird und den Bericht – wenn von den
USA gewünscht – nur in seiner Geheimschutzstelle
zugängig machen wird.

Es ist das Wesen eines demokratischen Rechtsstaates,
vollumfänglich aufzuklären und juristische Konsequen-
zen zu ziehen. Nur so gewinnt Politik an Glaubwürdig-
keit, möglicherweise auch Glaubwürdigkeit bei den poli-
tikverdrossenen Bürgern zurück, die in unserem Land
auf die Straße gehen.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Dem stimmen wir zu, ja!)


Das gilt auch nicht minder für die Glaubwürdigkeit
bei Konflikten zwischen Staaten. So hat Deutschland un-
ter anderem eine Vermittlerrolle zwischen den wider-
streitenden Kräften in der Ukraine übernommen. Wir ha-
ben eine führende Rolle in der wirtschaftlichen und
demokratischen Stabilisierung innerhalb der EU und vie-
ler anderer Länder. Wir tun das in enger Verbundenheit
mit den Partnern, auch mit den USA. Um dieser Glaub-
würdigkeit willen brauchen wir einen Zugang zum voll-
ständigen Bericht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Andrej Hunko [DIE LINKE]: Also stimmen Sie zu!)


Wohin politische Geheimniskrämerei im Zeitalter von
Wikileaks führen kann, hat uns der Fall Snowden ziem-
lich deutlich vor Augen geführt. In diesen Tagen wird
immer wieder das christlich-jüdische Abendland und
Menschenbild beschworen. Lassen Sie mich an dieser
Stelle als Christ ein Stück aus der Bibel zitieren, in der





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

genau davon die Rede ist, als Jesus sagt: „... die Wahr-
heit wird euch frei machen“. – Das galt damals, und das
gilt heute, auch und gerade in einem Land und für ein
Land, das die Freiheit für einen seiner größten Werte
hält, die USA.

Wir fordern Offenlegung. Gerechtigkeit beginnt mit
dem Aufdecken der Wahrheit. Wenn es der Bericht nötig
macht, unterstützen wir den Generalbundesanwalt darin,
Ermittlungen aufzunehmen: zum Schutz der Menschen-
rechte.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808306000

Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. André Hahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808306100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Die Linke wird sich natürlich keinem Antrag entge-
genstellen, dessen erster Satz lautet: „Der Deutsche Bun-
destag verurteilt Folter.“


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich sage ganz klar: Auch ein vermeintlich noch so gu-
ter Zweck heiligt nicht alle Mittel, auch nicht in den Ver-
einigten Staaten von Amerika.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Geheimgefängnisse in aller Welt, Guantánamo, wo Men-
schen zum Teil seit über einem Jahrzehnt ohne jedes Ge-
richtsverfahren inhaftiert sind, und dann auch noch die
Anwendung schlimmster Foltermethoden bei Gefange-
nen: Das sind konkrete Beispiele, die von meinen Vor-
rednern schon genannt wurden. Für all das gibt es nicht
die geringste Rechtfertigung.

Mein Kollege Stefan Liebich hat das in der De-
zemberdebatte als Verbrechen im Staatsauftrag bezeich-
net. Ich stimme ihm darin ausdrücklich zu und hätte mir
eine solche klare Aussage im Übrigen auch im Antrags-
text von Bündnis 90/Die Grünen gewünscht.

Überhaupt ist der Antrag eher freundlich formuliert.
Aber ob das ausreicht, die Koalition zur Zustimmung zu
bewegen, vermag ich nach den Ausführungen von Herrn
Heinrich nicht ganz nachzuvollziehen. Sie haben nicht
gesagt, was Sie wollen. Sie haben das Anliegen unter-
stützt. Dann sagen Sie doch klipp und klar: Auch die Ko-
alition wird zustimmen. – Das wäre eine klare Aussage.
Diese habe ich von Ihnen leider nicht gehört.


(Beifall bei der LINKEN)


Dabei sollte doch das Grundanliegen des Antrags, näm-
lich die Aufforderung an die US-Behörden, den Bericht
des US-Senats über das Inhaftierungs- und Verhörpro-
gramm an den Bundestag zu übermitteln, eigentlich von
allen Fraktionen dieses Hauses mitgetragen werden kön-
nen.
Für meine Fraktion, die Linke, will ich noch einmal
betonen, wie froh wir sind, dass es diesen Bericht über-
haupt gibt und die stattgefundenen Misshandlungen da-
durch bekannt geworden sind und dass er zumindest in
Teilen veröffentlicht wurde und nicht komplett in der
Versenkung verschwunden ist, wie es Teile der US-Re-
gierung und nicht wenige Senatoren gern gesehen hät-
ten.

Dass es dazu nicht gekommen ist, haben wir vor al-
lem dem jahrelangen Engagement der Senatorin Dianne
Feinstein zu verdanken, die kurz vor Ablauf ihrer Amts-
zeit als Vorsitzende des Geheimdienstausschusses die
Veröffentlichung dieses Berichtes trotz erheblicher Wi-
derstände durchsetzte. Das sollten wir auch in der heuti-
gen Debatte noch einmal ausdrücklich würdigen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Punkt III des Antrags der Grünen beinhaltet das Ersu-
chen, dem Bundestag den Bericht vollständig und unge-
schwärzt zu übermitteln. Auch diese Forderung findet
unsere Zustimmung. Denn bislang sind – das ist gesagt
worden – lediglich knapp 500 Seiten übermittelt worden
und öffentlich zugänglich, während der offizielle Bericht
mehr als 6 000 Seiten umfassen soll. Man braucht daher
kein Prophet zu sein, um davon auszugehen, dass die
schlimmsten Verbrechen bislang nicht einmal ansatz-
weise bekannt geworden sind. Auch um Unterstützungs-
handlungen und Straftaten, die von deutschem Boden
ausgegangen sind, umfassend aufklären und strafrecht-
lich verfolgen zu können, brauchen wir die unge-
schwärzte Fassung.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn ich an die umfänglichen Schwärzungen denke,
dann habe ich gleich wieder die Akten aus dem NSA-
Untersuchungsausschuss vor Augen, in dem auch sehr
wichtige und für die Aufklärung zentrale Passagen unle-
serlich gemacht worden sind. Es scheint bei Regierun-
gen offenkundig Methode zu sein, Dinge verheimlichen
oder verbergen zu wollen, die Missstände, kompromit-
tierende Sachverhalte, Rechtsverstöße oder gar Strafta-
ten aufdecken könnten. Doch damit darf sich ein Parla-
ment nicht abspeisen lassen, sondern es muss immer
wieder seiner Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive
umfassend nachkommen. Das gilt im Übrigen sowohl
für die Koalitionsfraktionen wie für die Opposition, auch
wenn das offenbar noch nicht alle Kollegen von Union
und SPD verinnerlicht haben.

Doch zurück zum vorliegenden Antrag. In der Be-
gründung wird unter anderem auf den Fall des deutschen
Staatsbürgers el-Masri hingewiesen, der im Bundestag
schon häufiger diskutiert wurde. Es ist mit Sicherheit da-
von auszugehen, dass es in dem Gesamtbericht noch
weitere Bezüge zu Deutschland geben wird. Für mich als
Abgeordneten aus Sachsen ist beispielsweise interessant,
welche Rolle der Flughafen Leipzig/Halle beim Trans-
port rechtswidrig festgenommener oder verschleppter
Menschen in die USA gespielt hat und ob dies mit Ein-
willigung deutscher Behörden geschah.





Dr. André Hahn


(A) (C)



(D)(B)

Das und vieles andere bedarf einer Klärung. Der An-
trag kann dazu einen Beitrag leisten. Deshalb werden
wir ihm zustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808306200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Glöckner

für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Glöckner (SPD):
Rede ID: ID1808306300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben uns vor wenigen Wochen hier im
Deutschen Bundestag mit dem gleichen Thema befasst,
mit dem Bericht des US-Senats zu den Folterpraktiken
des amerikanischen Geheimdienstes CIA.

„Folter“ ist in der Tat – da gebe ich allen Vorrednern
recht – der treffende Begriff; denn um nichts anderes
handelt es sich hier bei den von der CIA als verschärfte
Verhörmethoden bezeichneten Praktiken. Ich betone
ebenfalls noch einmal: Diese Folterpraxis der CIA ist
grauenhaft und vollkommen inakzeptabel. Dass es Folter
gab, wissen wir seit der Veröffentlichung der Kurzfas-
sung des Berichts des US-Senats im Dezember 2014.
Der vollständige Bericht umfasst – das wurde bereits
mehrfach gesagt – 6 000 Seiten. Der veröffentlichte Be-
richt umfasst rund 500 Seiten, die teilweise geschwärzt
sind.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, bereits die
Lektüre der Kurzfassung versetzt mich in tiefe Bestür-
zung aufgrund der Deutlichkeit und des Ausmaßes der
Menschenrechtsverstöße, aber vor allem wegen des be-
rechnenden Vorgehens der amerikanischen Sicherheits-
behörden, indem sie versuchten, ihre Verbrechen zu
rechtfertigen, ja sogar mit geltendem Recht in Einklang zu
bringen. Besonders deutlich wurde dies beim sogenannten
Waterboarding – es wurde bereits angesprochen –, einer
Foltermethode, bei der ein Tuch über Mund und Nase
gelegt wird und das Opfer durch ständige Wasserzufuhr
an den Rand des Ertrinkens gebracht wird, einer Folter-
methode, die in aller Regel keine körperlichen, aber un-
sagbare psychische Schäden verursacht.

Im Juli 2002 wurde diese Foltermethode durch den
obersten Rechtsberater der US-Regierung zunächst als
zulässige Foltermethode vermieden, aber nur wenige
Tage später durch Vorspiegelung falscher Tatsachen
durch die CIA letztendlich doch zugelassen. Allein
schon dieses Beispiel dokumentiert, wie sehr sich der Si-
cherheitsapparat der USA nach dem Anschlag auf das
World Trade Center im Jahr 2001 im Kampf gegen den
Terrorismus sozusagen verselbstständigt hat. Bisher
hatte ich dies in Demokratien und erst recht in den USA
für unmöglich gehalten.

Die Täter, die in das Folterprogramm des amerikani-
schen Geheimdienstes eingebunden waren, müssen ju-
ristisch verfolgt werden. Das gilt natürlich auch für jene,
die die politische Verantwortung für dieses Folterpro-
gramm tragen. Die USA haben sowohl den Internationa-
len Pakt über bürgerliche und politische Rechte als auch
die UN-Antifolterkonvention unterzeichnet und ratifi-
ziert und 1994 in nationales Recht umgesetzt. Damit ist
der rechtliche Rahmen geschaffen für strafrechtliche
Verfolgung von Folter in den USA. Eine Verfolgung der
Straftaten ist sogar zwingend geboten.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808306400

Frau Kollegin Glöckner, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Ströbele?


Angelika Glöckner (SPD):
Rede ID: ID1808306500

Bitte schön.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1808306600

Bitte sehr.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Frau Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. –
Vielleicht zunächst eine kleine Korrektur. Wir wissen
nicht erst seit dem Folterbericht von dieser Folter, son-
dern spätestens seit sich ein Untersuchungsausschuss des
Deutschen Bundestages in den Jahren nach 2004 inten-
siv mit den Foltermethoden und auch mit dem Fall el-
Masri und dem Fall Kurnaz beschäftigt hat. Wir haben
also schon genügend Zeit gehabt. Aber das ist nicht
meine Frage.

Sie fordern völlig zu Recht, dass das juristische Kon-
sequenzen haben muss, dass nur, wenn dies tatsächlich
juristisch geahndet wird, wir Hoffnung haben können,
dass das so schnell nicht wieder passiert. Der Bundesjus-
tizminister hat das ja auch schon gefordert. Leider ist er
heute nicht hier.

Ich frage Sie und frage den Bundesjustizminister:
Was tun Sie dafür, dass, wenn die USA in den USA das
nicht verfolgen, dann deutsche Behörden, insbesondere
der Generalbundesanwalt, tätig werden, um diese Straf-
verfolgung einzuleiten? Da die USA inzwischen Straf-
freiheit beschlossen haben – Herr Obama hat Straffrei-
heit für seinen Vorgänger und alle, die damit zu tun
hatten, erklärt –, bleibt nichts anderes übrig, als dass
diese Taten außerhalb der USA vor Gericht gebracht
werden. Der Generalbundesanwalt hat – so die Auskunft
auf eine Frage von mir vom 23. Dezember, also kurz vor
Weihnachten – geantwortet, er prüfe noch.

Ich frage Sie: Warum erteilt der Bundesjustizminister
dem Generalbundesanwalt nicht die Anweisung, endlich
Ermittlungen insbesondere gegen die von der US-Presse
so genannte Folterlady bzw. Folterkönigin der USA ein-
zuleiten, die im Bericht erwähnt wird und die beispiels-
weise im Fall el-Masri Verschleppung und Folter aus-
drücklich angeordnet haben soll? Das ist mir ein großes
Rätsel. Alle Reden, in denen gesagt wird, dass hier eine
Strafverfolgung stattfinden muss und dass das nicht
straffrei bleiben darf, sind wohlfeil, solange man selbst
nicht alles tut, um die Strafverfolgung sicherzustellen.
Meine Frage an Sie lautet: Was tun Sie, was tut Ihr Jus-





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

tizminister dafür, dass endlich die Strafverfolgung be-
ginnt?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Da muss man den Justizminister fragen!)



Angelika Glöckner (SPD):
Rede ID: ID1808306700

Danke, Herr Ströbele. – Ich vertrete die Auffassung

– das entspricht vielleicht nicht ganz Ihrer Auffassung –,
dass es Sache des Generalbundesanwaltes ist, hier tätig
zu werden. Ich gebe Ihnen insoweit recht, als dass dieses
Parlament bestimmte Aufgaben hat – wenn Sie gestat-
ten, werde ich in meinen weiteren Ausführungen darauf
noch zu sprechen kommen –, die aber nicht so aussehen,
wie Sie sich das vorstellen. Wir können nicht von hier
aus ermitteln. Das ist Sache der Jurisdiktion und nicht
Sache des Parlaments. Ich vertrete hier eine andere Auf-
fassung als Sie.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie unserem Antrag zustimmen, damit der GBA weiß, was wir wollen! Das ist doch klar! – Uli Grötsch [SPD]: Das entscheiden wir auch selbst!)


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, Präsident Obama hat auf einer Pressekon-
ferenz im Juni 2014 die durch den Senatsbericht aufge-
deckten Folterungen bestätigt. Dieser Bestätigung muss
eine juristische Aufarbeitung folgen. Ich halte das des-
halb für so wichtig, weil hiervon die Glaubwürdigkeit
der USA, aber auch der gesamten Weltgemeinschaft ab-
hängt. Wir wollen uns auch künftig international glaub-
haft für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen.
Deshalb dürfen erst recht Menschenrechtsverletzungen
innerhalb unserer eigenen Wertegemeinschaft nicht un-
gestraft bleiben. Gerade wenn es um so elementare Men-
schenrechte wie Menschenwürde, Leben, körperliche
Unversehrtheit geht, dürfen wir nicht mit zweierlei Maß
messen.

Wir als Parlamentarier wie auch die Bundesregierung
müssen den USA deutlich machen, dass wir Menschen-
rechtsverletzungen in keinem Fall hinnehmen. Sehr ge-
ehrte Frau Künast, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
das ist unsere Aufgabe. Darauf müssen wir hier hinwir-
ken. Insofern bin ich für den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen ganz dankbar.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])


Er gibt uns Gelegenheit, dies heute noch einmal klar
zum Ausdruck zu bringen.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Und zuzustimmen!)


Doch auch hierbei gilt es, Maß zu halten.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was heißt das denn? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie kann man bei Folter Maß halten?)

Es hilft meiner Meinung nach in der Sache nicht weiter,
wenn wir Forderungen aufstellen, die den Aufklärungs-
prozess insgesamt gesehen nicht unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Aufklärungsbericht des US-Senats hat in der
amerikanischen Öffentlichkeit eine große Debatte ausge-
löst. Nicht nur bei uns, sondern auch in ganz Amerika
wurde der Ruf nach einer Strafverfolgung laut. Ram-
stein, der größte amerikanische Luftwaffenstützpunkt
außerhalb der USA, liegt zufällig in meinem Wahlkreis,
und ich kenne viele Menschen, die dort arbeiten und mir
berichtet haben, wie betroffen die ganze Affäre die Ame-
rikaner selbst macht. Als ich in der letzten Woche auf
der Air Base beim Neujahrsempfang zu Besuch war,
habe ich nichts anderes gehört.

Amerika ist ein Land, das über alle erforderlichen Ins-
trumentarien und Institutionen verfügt,


(Zurufe des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


die sicherstellen, dass die berechtigten Rufe der Ameri-
kaner nach Aufklärung realisiert werden können. Dieses
Anliegen gilt es zu unterstützen, meine Damen und Her-
ren.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Peinliche Rede!)


Inwiefern eine Überweisung des ungekürzten Berichts
des US-Senats an den Deutschen Bundestag, wie es im
Antrag gefordert wird, bei diesem Anliegen helfen soll,
erschließt sich mir nicht.

Wir alle wollen die Aufklärung der Foltervorwürfe;
das steht außer Frage.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Dann stimmen Sie doch zu!)


Wir als SPD-Fraktion haben dies wiederholt betont und
gefordert. Aber ich betone es noch einmal: Nur eine ju-
ristische Aufklärung führt zu diesem Ziel. Sie muss im
Vordergrund stehen und nicht die politische Debatte;
diese muss es zugegebenermaßen auch geben, aber mit
Blick in die Zukunft. Dabei müssen wir uns die Frage
stellen, wie so etwas künftig vermieden werden kann.


(Beifall des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])


Die vollständige Berichtsveröffentlichung würde in-
ternational eine mediale und politische Debatte auslösen.
Dies gilt im besonderen Maße für alle Personennamen,
die in unterschiedlichsten Zusammenhängen diskutiert
und möglicherweise verurteilt würden.


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind doch geständig!)


Nach meiner Auffassung käme das einer außergerichtli-
chen Vorverurteilung gleich,


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Oh! Was ist das denn? – Weitere Zurufe von der LINKEN)






Angelika Glöckner


(A) (C)



(D)(B)

die gerade wir in der westlichen Wertegemeinschaft
nicht unterstützen können.

Zudem stellt sich die Frage, wie realistisch die Forde-
rung nach einer vollständigen Veröffentlichung des Se-
natsberichts wirklich ist. Der Weg bis zur heutigen Auf-
klärung der Vorwürfe war sehr steinig. Das zeigt sich
daran, dass zwischen dem ersten Vorlegen des Gesamtbe-
richts und der ersten Veröffentlichung der Kurzfassung
immerhin zwei Jahre harter innenpolitischer Auseinan-
dersetzungen lagen. Am Ende fanden die Konfliktpar-
teien in Amerika den Kompromiss, dass eine Zusam-
menfassung veröffentlicht werden sollte, bei der mit
Blick auf die nationale Sicherheit jene Namen und Stel-
len geschwärzt wurden, die auf die Identität der Täter
hinweisen könnten. Diese Verhandlungsergebnisse soll-
ten wir nicht einfach ignorieren, meine Damen und Her-
ren.

Die amerikanische Regierung hat bereits mehrfach
klargestellt, dass sie aus Gründen der nationalen Sicher-
heit der Herausgabe des vollständigen Berichts eben
nicht zustimmen wird. Vor diesem Hintergrund wäre im
günstigsten Fall mit einer Übergabe unter Geheimhal-
tungspflicht zu rechnen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808306800

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von

Herrn Liebich?


Angelika Glöckner (SPD):
Rede ID: ID1808306900

Ja.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808307000

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen,

Frau Kollegin. – Das Bild, das Sie hier von den Verei-
nigten Staaten zeichnen, scheint mir doch etwas verein-
facht zu sein. Es ist nämlich nicht so, dass dort massen-
weise der Ruf nach Strafverfolgung erschallt, und es ist
auch nicht so, dass es einen politischen Kompromiss ge-
geben hat. Vielmehr haben die Demokraten im Kongress
gegen den massiven Widerstand der Republikaner
durchgesetzt, dass es diesen Bericht überhaupt gibt. Bis
auf wenige Ausnahmen kämpfen die Republikaner bis
heute dagegen, dass er überhaupt veröffentlicht wird. Da
reden wir überhaupt nicht von Strafverfolgung.

Nun gab es inzwischen Wahlen. Inzwischen sind die-
jenigen in der Mehrheit und in den entsprechenden Posi-
tionen, die gar nicht wollten, dass dieser Bericht veröf-
fentlicht wird. Ist es deshalb nicht umso wichtiger, dass
wir als deutsches Parlament ein Signal senden, dass wir
mit diesem Weg nicht einverstanden sind?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Angelika Glöckner (SPD):
Rede ID: ID1808307100

Ich sagte es ja, Herr Kollege: Ich glaube, das tun wir

heute. Ich habe insofern auch den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen begrüßt.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Indem Sie ihn ablehnen!)

Ich lehne den Antrag vom Inhalt her nicht ab, nur den
Weg, der mit diesem Antrag verfolgt wird, halte ich
nicht für den richtigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich komme zur Übergabe des Berichts unter Geheim-
haltungspflicht zurück. Hier stellt sich doch die Frage,
ob dies für eine weitere Fallaufklärung hilfreich wäre
bzw. zur juristischen Aufarbeitung der Vorwürfe beitra-
gen kann. Beides scheint mir eher nicht der Fall zu sein.

Abschließend möchte ich, wie auch Vorredner von
mir, noch einmal auf den Fall Khaled el-Masri eingehen.
Dieser Fall findet besondere Beachtung, weil hier wo-
möglich Verhöre mit deutscher Unterstützung im Raum
stehen. Auch hier gilt: Es bedarf einer strafrechtlichen
Aufarbeitung. Nach meinen Informationen prüft derzeit
der Generalbundesanwalt Range – das wurde auch ge-
sagt – die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und
möchte selbst den ungeschwärzten Komplettbericht an-
fordern.

Dieses Vorgehen im Rahmen eines juristischen Ver-
fahrens erscheint mir als der deutlich bessere Weg und
auch als der richtige Weg, die Menschenrechtsverletzun-
gen im Rahmen des CIA-Programms aufzuklären. Ich
finde, gerade hier sollte dem verfassungsgemäßen Grund-
satz der Gewaltenteilung besondere Beachtung zukom-
men. Denn eines sollte bei der Aufklärung und Verfol-
gung der Foltervorwürfe des US-Sicherheitsdienstes
keinesfalls geschehen: eine Politisierung und Instrumen-
talisierung von Menschrechtsverletzungen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Alle von mir aufgeführten Gesichtspunkte berück-
sichtigt der Antrag nicht. Ich empfehle daher, den An-
trag abzulehnen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Andrej Hunko [DIE LINKE]: Peinliche Rede! – Gegenruf des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Frechheit!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808307200

Danke, Frau Kollegin. – Einen schönen guten Tag

von mir für Sie und die Gäste auf der Tribüne.

Die nächste Rednerin in der Debatte ist Andrea
Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1808307300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Bereits am 17. Dezember letzten
Jahres hat sich der Bundestag in diesem Haus differen-
ziert zu den Berichten über Folter durch die CIA geäu-
ßert. Dieser Debatte lässt sich heute kaum noch etwas
hinzufügen.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Konsequenzen!)






Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)

Auch mich hat der Bericht schockiert, und man er-
schrickt angesichts der perversen Perfektionierung von
Folter. Ausgerechnet in einer der ältesten Demokratien
der Welt wurde versucht, brutale Folter mit rechtsstaatli-
chen Mitteln zu legitimieren. In einem Rechtsstaat des
21. Jahrhunderts darf Folter niemals legitimiert werden.

Es waren die Bürgerrechte, die Rechte des Einzelnen
gegenüber der Gemeinschaft, die dem amerikanischen
Gesellschaftsmodell seine einzigartige Ausstrahlung
verliehen haben. Nicht ohne Grund hat die Verfassung
der USA, so wie sie 1787 in Philadelphia niederge-
schrieben wurde, heute noch Bestand, und sie diente
auch den Demokratien in Europa als Orientierung. Die
grauenvollen Einzelheiten des Berichtes machen erneut
deutlich, wie tief der 11. September 2001 die amerikani-
sche Gesellschaft verstört hat. Als Demokrat möchte
man den USA heute zurufen: Besinnt euch auf eure
Wurzeln, und vergesst auch angesichts des Terrors nicht
euer großes demokratisches Erbe.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Veröffentlichung des Berichtes zeigt aber auch,
dass die rechtsstaatlichen Prinzipien in den USA funk-
tionieren. Keine Diktatur, kein autoritäres Regime würde
eine so schonungslose und öffentliche Aufklärung be-
treiben, wie es der US-Senat getan hat.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Aber ohne Strafverfolgung!)


Als Demokrat hat man die Pflicht, Folter kompro-
misslos zu verurteilen und Aufklärung zu fordern. Ge-
rade wir als Deutsche sollten aber nicht in eine morali-
sche Überheblichkeit verfallen. Allein das Gedenken in
dieser Woche hier im Bundestag an die Befreiung von
Auschwitz vor 70 Jahren verbietet das.

Auch das moderne Deutschland ist nicht über jeden
Zweifel erhaben.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das stimmt!)


Seit 1989 befragt zum Beispiel der Strafrechtsprofessor
Streng seine Erst- und Zweitsemester in Erlangen und in
Konstanz zu ihren rechtsstaatlichen Überzeugungen. Im
Oktober letzten Jahres ergab die Befragung, dass jeder
zweite seiner Jurastudenten Folter und jeder dritte die
Todesstrafe in Deutschland befürwortet.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Schlimm!)


– Ja, das ist schlimm. – Die Stichprobe ist zwar nicht re-
präsentativ, aber sie ist ein deutliches Warnsignal. Auch
in Deutschland müssen wir das absolute Folterverbot
konsequent verteidigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch ich möchte heute an die Diskussion um den
Mörder des kleinen Jakob von Metzler erinnern. Natür-
lich ist es kaum zu ertragen, dass ein verurteilter Kinds-
mörder für die Androhung von Folter entschädigt und
ein Polizist, der ein Kind retten will, bestraft wird. Trotz-
dem ist es für einen Rechtsstaat unerlässlich, dass be-
stimmte Werte absolute Geltung besitzen. Zu diesen
Werten mit absoluter Geltung muss das Folterverbot ge-
hören. Denn die Würde des Menschen darf niemals rela-
tiviert werden; sie ist unantastbar.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es reicht auch nicht aus, Folter nur zu verurteilen. Ein
Rechtsstaat muss Verbrechen aufklären, und er muss
auch die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. In-
sofern ist das Grundanliegen des Antrages richtig. In der
Vergangenheit wurde in Deutschland und in Europa be-
reits an der Aufklärung gearbeitet. Der Fall el-Masri und
der Fall Kurnaz wurden im sogenannten BND-Untersu-
chungsausschuss behandelt. Der Europäische Gerichts-
hof für Menschenrechte hat bereits in einigen Fällen
Schadensersatzansprüche durchgesetzt. Angesichts des
nun vorliegenden Berichtes vom 9. Dezember 2014 zu
den Verhör- und Foltermethoden aus den Jahren 2001 bis
2009 durch die CIA müssen auch wir uns fragen: Wie
können wir zur weiteren Aufklärung beitragen?

Einen nationalen Alleingang – ich komme zur Be-
gründung der Ablehnung des Antrages – halte ich für
aussichtslos. Anstatt Schaufensteranträge zu stellen,
brauchen wir eine europäische Initiative.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Dann machen Sie mal!)


Europa sollte gemeinsam auf die Freigabe des vollstän-
digen Berichtes drängen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie doch machen! Das schließt sich doch nicht aus! Wenn Sie zustimmen, verschicken wir es gleich europaweit!)


Das Europaparlament wird voraussichtlich im Februar
genau zu dieser Frage eine Entscheidung treffen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Entscheidung sollten wir zunächst abwarten.


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihren Antrag im Europaparlament möchte ich mal sehen!)


Ebenfalls sollte sich der Rat der EU-Außenminister da-
mit befassen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können wir nächste Woche einen neuen Antrag stellen, dass die Bundesregierung eine EU-Initiative macht! Dann können Sie ja zustimmen!)


In Ihrem Antrag fehlt jeder Hinweis auf die Europäische
Union; denn nicht nur Deutschland, sondern ganz Eu-
ropa muss aufklären, ob und inwiefern Mitgliedstaaten
beteiligt waren. Wir sollten daher unseren Einfluss in
Europa geltend machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Uli Grötsch [SPD] – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können wir doch nach Grundgesetz hier beauftragen!)






Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)

Die Strafverfolgung in den USA obliegt zunächst der
amerikanischen Justiz.


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die machen das nicht!)


In Deutschland hat der Generalbundesanwalt bereits an-
gekündigt, dass er versuchen wird, über die diplomati-
schen Kanäle Einblick in den vollständigen Bericht zu
erhalten. Wir sollten ihm und unserer Judikative daher
nicht mit einem vorschnellen Antrag vorgreifen.


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran vorschnell?)


Ich bin mir auch sicher, dass die Bundesregierung auf
diplomatischem Weg alles versuchen wird, damit der
vollständige Bericht in ganz Europa und nicht nur in
Deutschland vorgelegt wird. Daher lehnen wir einen
deutschen Alleingang ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja jetzt feige! – Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Alles nur peinlich!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808307400

Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz. – Nächster und

letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Egon Jüttner für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1808307500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Seit Dezember liegt der Untersuchungsbericht
des Geheimdienstausschusses des Senats der Vereinigten
Staaten von Amerika über die Behandlung von Terror-
verdächtigen vor. Es bedarf dringend einer Aufarbeitung
dieses Skandals.


(Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Schuldigen müssen strafrechtlich verfolgt und vor
Gericht gestellt werden,


(Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


nicht nur die kleinen Handlanger, auch die Verantwortli-
chen in höchsten politischen Positionen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die sind geständig!)


Liest man den öffentlich zugänglichen Teil des Be-
richts, dann sollte man nicht meinen, dass es sich dabei
um den Geheimdienst der Vereinigten Staaten handelt.
Man mag es kaum glauben, dass solche Exzesse des Ge-
heimdienstes von einem Land angewandt wurden, das
auf eine lange demokratische Tradition zurückblicken
kann und das den entscheidenden Beitrag geleistet hat,
Europa von Tyrannei mit all ihren unmenschlichen Aus-
wüchsen im 20. Jahrhundert zu befreien.

Als demokratisches Land, dem die Einhaltung der
universellen Menschenrechte wichtig ist, und als Ver-
bündeter der USA muss Deutschland betroffen und
schockiert sein über die Verhörmethoden des amerikani-
schen Geheimdienstes. Diese sind einer freien Gesell-
schaft und eines Landes, das die Werte der Freiheit pro-
klamiert, unwürdig. Sie stellen den Anspruch der USA,
Vorbild und moralische Instanz zu sein, infrage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Waterboarding, Kälteschocks, Morddrohungen und
Scheinexekutionen, um nur einige der brutalen Folter-
methoden zu nennen, sind Maßnahmen, die wir eigent-
lich nur aus Diktaturen kennen und die wir dort zu Recht
anprangern. Sie als „erweiterte Verhörmethoden“ zu be-
zeichnen, wie es der amerikanische Geheimdienst tut, ist
mehr als zynisch. Sie sind keine Mittel, deren sich eine
der ältesten Demokratien der Welt bedienen sollte, um
von Verdächtigen Geständnisse zu erpressen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Rechtsstaatlichkeit ist immanent, dass auch denjeni-
gen mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnet wird, die es
sich zur Aufgabe gemacht haben, den Rechtsstaat zu be-
kämpfen.

Als CDU/CSU-Fraktion begrüßen wir es, dass die in
dem Bericht bekannt gewordenen Methoden inzwischen
nicht mehr angewandt werden. Wir begrüßen ebenfalls
die Erstellung des Berichts, zeigt dies doch, dass das alt-
bewährte System von „checks and balances“, also der
gegenseitigen Kontrolle von Verfassungsorganen, in den
Vereinigten Staaten weiterhin funktioniert. Hier wird ein
fundamentaler Unterschied zu Staaten wie etwa Russ-
land, China oder dem Iran deutlich.


(Zuruf des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten ist es dort un-
denkbar, dass der Ausschuss eines frei gewählten Parla-
ments die Verfehlungen des eigenen Geheimdienstes un-
tersucht und sogar veröffentlicht.

Wir teilen die im Antrag gestellte Forderung, dass der
Bericht Deutschland nicht nur in Teilen, sondern voll-
ständig und ungeschwärzt zugänglich gemacht werden
muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Dies ist insbesondere hinsichtlich der Taten, die einen
direkten Zusammenhang zur Bundesrepublik Deutsch-
land aufweisen, für uns von großer Bedeutung. Wir be-
grüßen es deshalb, dass der Generalbundesanwalt die
komplette Fassung des Berichts anfordert und auf Basis
der veröffentlichten Kurzfassung prüft,





Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



(D)(B)


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Er hat ihn ja noch nicht bekommen! – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Dann haben wir ihn noch nicht!)


ob er im Zusammenhang mit dem Folterbericht förmli-
che Ermittlungen aufnimmt. Wir sollten – das ist unsere
Auffassung – dieses Verfahren abwarten und uns als Le-
gislative nicht in die Arbeit der Exekutive bzw. Judika-
tive einmischen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ein Parlamentspapier! Kontrolle! – Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch unser Auftrag!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808307600

Vielen Dank, Dr. Jüttner.

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3558
mit dem Titel „Bericht über das Inhaftierungs- und Ver-
hörprogramm der CIA vollständig und ungeschwärzt
übermitteln“. Wer stimmt für den Antrag? – Wer stimmt
dagegen? –


(Zuruf der Linken: Gewonnen!)


Enthaltungen? – Der Antrag ist abgelehnt. Auch wenn
Sie sich etwas anderes wünschen, der Antrag ist abge-
lehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und
Die Linke, abgelehnt haben die CDU/CSU-Fraktion und
die SPD-Fraktion. – Vielen Dank.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist eine Niederlage der Demokratie! – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Begreift niemand draußen, was die hier veranstalten?)


Wenn Sie beim Tagesordnungspunkt 19 nicht hier
sein wollen, dann bitte ich Sie, zügig die Plätze freizuge-
ben. Bei der SPD bleibt alles, wie es ist.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Beständigkeit!)


– Gut, dann fangen wir jetzt an.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Personalaus-
weisgesetzes zur Einführung eines Ersatz-
Personalausweises und zur Änderung des
Passgesetzes
Drucksache 18/3831
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich bitte Sie, Platz zu nehmen und dem ersten Redner
in der Debatte zuzuhören. Das ist unser Minister
Dr. Thomas de Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Uli Grötsch [SPD])


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Europa und damit auch Deutschland stehen im er-
klärten Zielgebiet des internationalen Terrorismus. Das
haben uns die Anschläge von Paris mit schrecklicher
Klarheit vor Augen geführt. Die Bundesregierung, un-
sere Sicherheitsbehörden, treten dieser Bedrohung seit
längerem entgegen: wachsam, ruhig, entschlossen und
mit einem ganzheitlichen Ansatz. Dazu gehört Präven-
tion; dazu gehört Deradikalisierung; dazu gehören Maß-
nahmen unserer Sicherheitsbehörden, teils verdeckt, teils
offen – Beobachtung, Ansprache, Durchsuchungen,
Festnahmen, Ermittlungsverfahren, Verurteilungen –;
dazu gehören auch gut ausgestattete Sicherheitsbehörden
in Bund und Ländern; und dazu gehören natürlich auch
gesetzgeberische Maßnahmen. Einen wichtigen Bau-
stein hierbei stelle ich Ihnen heute in der ersten Lesung
des vorliegenden Gesetzes vor.

Wir wollen nicht, dass aus Deutschland der Terroris-
mus nach Syrien und in den Irak exportiert wird. Und
wir wollen erst recht nicht, dass Menschen, die dort in
Kämpfe verwickelt waren, unerkannt wieder einreisen
und gegebenenfalls hier Anschläge planen oder verüben.
Deswegen müssen wir entsprechende Ausreisen verhin-
dern. Und deswegen müssen wir Wiedereinreisen ver-
hindern oder erkennen. Bisher haben sich – Sie kennen
die Zahlen – ungefähr 3 400 Kämpfer aus Europa dazu
entschlossen, für den sogenannten Islamischen Staat zu
kämpfen. Allein aus Deutschland sind es rund 600, viel-
leicht etwas mehr, die daran beteiligt sind. Etwa
200 Personen sind nach Deutschland zurückgekehrt,
35 davon als kampferprobte Fundamentalisten.

Nach der bisherigen Rechtslage können wir deut-
schen Staatsbürgern den Reisepass entziehen und ihnen
die Ausreise untersagen. Das ist unstreitig, das wird häu-
fig gemacht. Niemand erhebt dagegen bisher verfas-
sungsrechtliche Bedenken. Die Wirksamkeit dieser
Maßnahme setzt aber voraus, dass die Personen einen
Reisepass benötigen oder nutzen, weil das Ziel- oder
Transitland die Vorlage eines solchen Reisepasses ver-
langt. Das ist aber heutzutage oft gar nicht mehr der Fall.
Häufig reicht der Personalausweis zur Aus- und Einreise
aus. Deswegen fahren oder fliegen viele, obwohl ihnen
die Ausreise untersagt ist, mit ihrem Personalausweis zu
einer Schengen-Außengrenze und gelangen dann in
Kampfgebiete und/oder kommen mit dem Personalaus-
weis wieder zurück.

Die verhängte Ausreiseuntersagung, die durch den
Entzug des Passes sozusagen teilweise dokumentiert
wird, sieht man dem Personalausweis nicht an. Auch der
Grenzbeamte eines anderen Staates kann die Sperre an-
hand des Ausweises nicht erkennen. Trotzdem müssen
wir sicherstellen, dass kein Zweifel darüber besteht, ob





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)

ein Ausweisinhaber ausreisen darf oder nicht. Deswegen
beinhaltet der Gesetzentwurf vor allem zwei Maßnah-
men: Erstens soll nicht mehr nur der Reisepass, sondern
auch der Personalausweis entzogen werden können.
Zweitens soll in diesen Fällen ein Ersatz-Personalaus-
weis ausgestellt werden, mit dem man sich in Deutsch-
land ausweisen und identifizieren kann.

Die Entziehung dieses Ausweises soll möglich sein,
wenn Tatsachen vorliegen, die den Verdacht begründen,
dass eine Person einer terroristischen Vereinigung ange-
hört oder eine solche unterstützt, Gewalt als Mittel zur
Durchsetzung ihrer politischen oder religiösen Überzeu-
gung anwendet, unterstützt oder hervorruft oder eine
staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet. Die Maß-
nahme unterliegt natürlich der sofortigen Vollziehung,
um effektiv zu sein.

Der Ersatz-Personalausweis sieht ungefähr so aus wie
das Ersatzdokument, das jemand erhält, der seinen Per-
sonalausweis oder Reisepass im Ausland, in den Ferien
zum Beispiel, verloren hat. Er entspricht damit optisch
im Wesentlichen einem solchen behelfsmäßigen Reise-
ausweis, den man in diesen Fällen von deutschen Konsu-
laten erhält. Viele werden ihn schon einmal gesehen ha-
ben. Er ist allerdings nicht ganz identisch, weil auf
diesem Ausweis natürlich auch vermerkt ist, dass man
damit den Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht ver-
lassen darf, und zwar in den neun wesentlichen Sprachen
des Schengen-Raums.

Was passiert, wenn ein Ausweisinhaber entgegen die-
ser Maßnahme die Bundesrepublik Deutschland trotz-
dem verlässt? Das war ja eines der Gegenargumente von
einem Teil der Grünen, während andere es gefordert ha-
ben. Wenn das bekannt wird, weil sich zum Beispiel der-
jenige im Internet damit brüstet, im Ausland aktiv zu
sein, dann werden – so sieht das der Gesetzentwurf vor –
die Reisedokumente, auch dieser Personalausweis, kraft
Gesetzes ungültig. Dies ermöglicht den Behörden nun
eine sofortige Ausschreibung des Ausweises im Schen-
gener Informationssystem und in der „Stolen and Lost
Travel Documents“-Datenbank von Interpol. Damit er-
höhen wir deutlich die Wahrscheinlichkeit des Aufgrei-
fens des Reisenden bereits in Transitländern oder bei der
Rückkehr.

Das Gesetz, meine Damen und Herren, ist eine von
mehreren Maßnahmen, die wir in diesem Zusammen-
hang national ergreifen, noch ergreifen werden und für
die wir uns international einsetzen. Ich nenne beispiel-
haft: die Strafbarkeit des Reisens und der Versuch des
Reisens in terroristischer Absicht – hierzu wird mein
Kollege Maas in der nächsten Sitzungswoche einen ent-
sprechenden Gesetzentwurf im Kabinett vorstellen –, die
Änderung des Schengener Informationssystems, damit
jeder Grenzbeamte an der Schengen-Außengrenze er-
kennt, ob er einen terroristischen Gefährder vor sich hat
oder nicht, den von der Bundesregierung angestrebten
Kompromiss über das europäische Fluggastdatenabkom-
men, einen verbesserten Informationsaustausch mit un-
seren Partnern, insbesondere auch mit der Türkei. Dann
gibt es noch einige Gesetzesvorhaben, über die wir dis-
kutieren müssen und über die noch nicht vollständig Ei-
nigkeit besteht.

Auch dieses Gesetz, das ich hier vorstelle, wird die
Ausreise oder die unerkannte Wiedereinreise nicht voll-
ständig verhindern können. Wir haben aber die Pflicht,
alles zu tun, was in unseren Kräften steht, um die Gefahr
von Terroranschlägen und die Beteiligung Deutschlands
daran im In- und Ausland so klein wie nur irgend mög-
lich zu halten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger ist
und sollte uns allen ein kostbares Gut sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808307700

Vielen Dank, Dr. de Maizière. – Nächster Redner in

der Debatte: Frank Tempel für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808307800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr

Minister! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Gefahr
von Terroranschlägen kann gerade mit Blick auf viele in-
ternationale Konflikte in keinem Land der Welt vollstän-
dig ausgeschlossen werden. Auch hier bei uns besteht
diese latente Gefahr. Natürlich ist es Aufgabe der Bun-
desregierung, diese Gefahr zumindest so gering wie
möglich zu halten. Damit dies gelingt, müssen wir uns
zuallererst fragen, was Terroristen mit ihren Anschlägen
hier erreichen wollen. Sie wollen hier bei uns kein Terri-
torium erobern, keine Rohstoffe erbeuten und keine un-
liebsame Regierung stürzen. Sie wollen uns in unserer
freiheitlichen demokratischen Grundordnung angreifen.
Sie wollen Angst schüren, um uns unsere Freiheit Stück
für Stück zu nehmen. Wenn es dann unsere Antwort ist,
aus Angst vor Terroranschlägen Bürgerrechte zu be-
schränken, Grundrechte einzuschränken, entspricht un-
ser Handeln genau dem, was Terroristen mit ihren An-
schlägen erreichen wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir mit Gesetzen reagieren, die unsere Freiheit
einschränken, senden wir das Signal, dass Terror erfolg-
reich ist und dass wir in unserer Freiheit durch Terroran-
schläge angreifbar sind. Unsere Antwort muss stattdes-
sen sein: mehr Demokratie und mehr Freiheit. Wir lassen
uns nicht einschüchtern.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Natürlich brauchen wir trotzdem Gesetze, anhand de-
rer Sicherheitsbehörden effektiv ihren Beitrag zur Si-
cherheit in unserem Land leisten können. Das wird auch
die Linke nie in Abrede stellen. Aber die Messlatte muss
eben sehr hoch sein.





Frank Tempel


(A) (C)



(D)(B)

Wenn wir Bürgerrechte und Grundrechte einschrän-
ken, dann muss ein deutlich nachvollziehbarer Sicher-
heitsgewinn für die Allgemeinheit zu erzielen sein. Un-
ter diesem Aspekt haben wir Ihren Vorschlag geprüft,
möglichen Gefährdern den Personalausweis zu entzie-
hen und ein Ersatzdokument auszustellen, das sie als Ge-
fährder identifiziert, aber natürlich auch stigmatisiert.

Denn machen wir uns nichts vor: Ein Personalaus-
weis – und das ist der Unterschied zum Reisepass, Herr
Minister – dient auf vielfältige Art und Weise, und sei es
nur, um sich in einem Hotel einzuchecken, ein Konto zu
eröffnen oder ihn bei der EC-Kartenzahlung vorzulegen
usw. Der Rechtseingriff wäre also schwerwiegend;
schwerwiegender als der Entzug des Reisepasses.

Hinzu kommt, dass der vorliegende Gesetzentwurf
nicht auf erwiesene Straftäter abzielt. Vielmehr soll be-
reits der bloße Verdacht auf zukünftige gewaltbereite
Handlungen ausreichen, um Menschen ihren Ausweis zu
entziehen. Aber wer definiert diesen Verdacht? Die
Hemmschwelle zum Grundrechtseingriff wird in der
Praxis also sehr gering sein.

Nur zur Erinnerung: Der Reisepass kann bereits ent-
zogen werden. Deswegen müssen wir wissen: Ist we-
nigstens die Größenordnung so, dass eine rechtliche Ver-
schärfung notwendig ist? Wir haben dazu die
Bundesregierung für die Jahre 2012, 2013 und 2014 be-
fragt. Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung
auf Drucksache 18/3673 – hören Sie zu –:

In mindestens 20 Fällen kann nachvollzogen wer-
den, dass eine Ausreise trotz bestehender Verfü-
gung, Deutschland nicht zu verlassen, und entspre-
chenden Entzugs des Reisepasses erfolgte und
diesen Personen ein Personalausweis zur Verfügung
stand.

20 Personen!

Jetzt frage ich Sie: Verhindern Sie deren Ausreise
durch den Entzug des Personalausweises? Funktioniert
das? Sie müssen schon verzeihen: Ich war nun einmal
lange Polizeibeamter, und ich blicke ganz besonders da-
rauf, ob eine geplante Maßnahme überhaupt funktionie-
ren kann.

Wie stellen Sie sich den Entzug des Ausweises vor?
Was ist, wenn der Ausweis einfach als gestohlen oder
verloren gemeldet wird? Ein Personalausweis behält
zehn Jahre seine Gültigkeit. Hausdurchsuchungen wer-
den in diesem Fall wahrscheinlich auch nicht sehr er-
folgreich sein.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Der wird doch ausgeschrieben!)


– Herr Binninger, natürlich wird der Verlust im Register
vermerkt. Dort steht dann, dass der Ausweis ungültig ist.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ja, genau!)


Das wird aber bei Grenzkontrollen nur festgestellt, wenn
der Ausweis mit dem Register, also mit der Datenbank,
abgeglichen wird. In diesem Register können aber auch
statt der Ungültigkeit Ausreisebeschränkungen eingetra-
gen werden. Das hätte den gleichen Effekt, auch ohne
Entzug.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Nein! Nein!)


Natürlich kann man auch das regeln, Herr Binninger.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Da haben ausländische Behörden keinen Zugriff drauf! Das ist doch falsch! In der Sache falsch!)


– Ja, aber das wäre eine mögliche rechtliche Änderung,
ohne den Ausweis zu entziehen, Herr Binninger. Wir re-
den doch immer davon, das mildeste Mittel anzuwenden
und nicht das schärfste Mittel.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ich sage es nachher!)


In diesem Fall würde der Ausweis nicht entzogen wer-
den müssen, und wir hätten trotzdem entsprechende
Möglichkeiten.

Wir wissen doch – gerade wenn wir auf die Türkei
schauen –, dass bei Grenzkontrollen nicht immer ein Da-
tenabgleich erfolgen kann. Das heißt, wir müssen auch
mit unseren Partnern reden, um uns darüber zu informie-
ren, wie dort Grenzkontrollen ablaufen. Ganz nebenbei:
In einer Welt, in der eine illegale Ausreise oder eine ille-
gale Einreise möglich ist, wird der Entzug des Auswei-
ses keinerlei Beschränkungen darstellen.

Meine Damen und Herren, wenn die Regelungen, die
im vorliegenden Gesetzentwurf formuliert sind, gar
nicht funktionieren: Was wollen wir dann mit diesem
Gesetzentwurf? Auch wenn die Terrorgefahr wieder ta-
gesaktuell ist: Gesetzentwürfe, die Terrorbekämpfung
und damit mehr Sicherheit vortäuschen, am Ende aber
lediglich einen Aktivitätsnachweis der Bundesregierung
darstellen, brauchen wir nicht.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Forcieren Sie deswegen weiter die Prävention, investie-
ren Sie noch mehr in Aufklärung und Dialog, und be-
kämpfen Sie die Ursachen des Terrorismus, statt ihm
nachzugeben und so unsere Freiheit und Demokratie
weiter zu beschneiden.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808307900

Vielen Dank, Herr Kollege Tempel. – Nächste Redne-

rin in der Debatte: Gabriele Fograscher für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1808308000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Der islamistisch motivierte Terrorismus ist eine
Bedrohung für Deutschland und die westliche Staaten-
gemeinschaft und eine Herausforderung für die Sicher-
heitsbehörden und die Politik. Nicht erst seit dem grau-
samen und abscheulichen Terroranschlag auf die





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)

französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo und auf
einen jüdischen Supermarkt zu Beginn dieses Jahres
wissen wir, dass wir unsere freiheitlich-demokratische
Grundordnung gegen Terroristen verteidigen müssen.
Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus
ist nicht auf die islamischen Staaten beschränkt. Sie ist
schon lange im Westen, in Europa, in Deutschland ange-
kommen. Auch wenn es zum Glück in Deutschland noch
keine Anschläge gab, so sind wir doch im Visier des in-
ternationalen islamistischen Terrorismus.

Aus Europa sind inzwischen 3 400 Menschen – der
Minister hat die Zahlen genannt – Richtung Syrien und
Irak gegangen, um sich dem „Islamischen Staat“ anzu-
schließen. Davon kommen etwa 600 Islamisten aus
Deutschland. Mehr als die Hälfte davon besitzen die
deutsche Staatsangehörigkeit. Von diesen rund 600 so-
genannten Foreign Fighters aus Deutschland haben sich
10 als Selbstmordattentäter in Syrien in die Luft ge-
sprengt, 150 bis 180 sind radikalisiert zurückgekehrt,
und 30 von ihnen gelten als kampferprobt und gewaltbe-
reit.

Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wird ein
zusätzliches Instrument geschaffen, um den Export von
Terror möglichst zu verhindern; wir haben über diese
Änderung schon vor den Anschlägen in Paris diskutiert.
Die Reisetätigkeit von Gefährdern soll eingeschränkt
werden. Herr Tempel, wenn es mit diesem Gesetz ge-
lingt, auch nur einen Anschlag zu verhindern und Men-
schenleben zu retten, dann ist das Gesetz gerechtfertigt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Frank Tempel [DIE LINKE]: Genau das wird wahrscheinlich nicht passieren!)


Schon heute ist es möglich – das wird auch prakti-
ziert –, zum Beispiel gewaltbereiten Islamisten, die
deutsche Staatsangehörige sind, den deutschen Reise-
pass zu entziehen. Dies ist gemäß § 8 Passgesetz mög-
lich, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme begrün-
den, dass der Passinhaber unter anderem die innere oder
äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der
Bundesrepublik Deutschland gefährdet.

Der Personalausweis hingegen kann nach geltender
Rechtsgrundlage nicht entzogen werden. Zwar ist bei
Einzug des Reisepasses der Geltungsbereich des Perso-
nalausweises auf die Bundesrepublik Deutschland be-
schränkt, dies ist aber nicht auf dem Personalausweis
vermerkt und somit bei Kontrollen nicht sofort zu erken-
nen. Islamisten können mit dem Personalausweis in die
Türkei und von dort aus weiter über die grüne Grenze
nach Syrien oder in den Irak reisen. Ohne Reisepass, nur
mit dem Personalausweis ist es ihnen somit möglich, das
Land ohne großes Aufheben zu verlassen. 20 Islamisten
soll das schon gelungen sein.

Deshalb wollen wir die Möglichkeit des Entzugs des
Personalausweises in § 6 a Personalausweisgesetz schaf-
fen, eine Maßnahme, die an bestimmte Voraussetzungen
geknüpft ist: Tatsachen müssen die Annahme begrün-
den, dass der Ausweisinhaber einer inländischen terro-
ristischen Vereinigung oder einer ausländischen kri-
minellen oder terroristischen Vereinigung angehört oder
diese unterstützt. Der Entzug ist möglich, wenn die Per-
son rechtswidrig Gewalt gegen Leib oder Leben als
Mittel zur Durchsetzung international ausgerichteter
politischer oder religiöser Belange anwendet, solche Ge-
waltanwendung unterstützt oder vorsätzlich hervorruft.
Diese beiden Voraussetzungen treffen auf die sogenann-
ten Foreign Fighters zu. Die Maßnahme ist deshalb ver-
hältnismäßig und geeignet, deren Reisetätigkeit zu un-
terbinden.

Nach dem Entzug des normalen Personalausweises
wird dem Betroffenen auf dessen Kosten ein Ersatz-
Personalausweis ausgestellt. Die Gültigkeitsdauer des
Ersatz-Personalausweises ist auf maximal drei Jahre
begrenzt. Diese Lösung halten wir für besser als die, den
normalen Personalausweis mit einem roten Balken
– „Gilt nur für die Bundesrepublik Deutschland“ – oder
mit einem Aufkleber, der leicht zu entfernen wäre, zu
versehen. Der Ersatz-Personalausweis entspricht dem
Ersatzdokument, das man erhält, wenn einem zum Bei-
spiel der Personalausweis im Ausland verloren geht. Da-
mit wird die Stigmatisierung der Betroffenen möglichst
gering gehalten. Auf dem Ersatz-Personalausweis ist in
mehreren Sprachen vermerkt, dass dieses Dokument
nicht zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland
berechtigt. Dies erleichtert die Kontrolle durch ausländi-
sche Grenzbeamte.

Der Entzug des Personalausweises ist nicht die ein-
zige Maßnahme, um Reisebewegungen von Terrorver-
dächtigen zu erschweren oder besser gar zu verhindern.
Der Bundesjustizminister wird zeitnah einen Gesetzent-
wurf vorlegen, der Reisen in Länder, in denen es Terror-
camps gibt, unter Strafe stellt.

Eine weitere Maßnahme ist die Einführung des Tat-
bestandsmerkmals „Terrorism-related Activity“, also
terrorbezogene Aktivitäten, im Schengener Informa-
tionssystem. Darüber sind sich die europäischen Innen-
minister einig. Diese Neuregelung wird dazu führen,
dass bei Kontrollen des Ausweises und des Abgleichs
mit dem System festgestellt werden kann, ob es sich um
einen Dschihadisten handelt. Derzeit wird geprüft, wie
diese Änderung im SIS möglichst schnell umgesetzt
werden kann.

Darüber hinaus brauchen wir einen intensiveren Aus-
tausch mit den Sicherheitsbehörden anderer Länder über
Gefährder bzw. gefährliche Personen.

Nicht zuletzt müssen wir die Prävention verstärken
und alles tun, um zu verhindern, dass sich vor allem
junge Männer radikalisieren, einem fanatischen Islamis-
mus hinterherlaufen, Religion missbrauchen, um in den
Krieg zu ziehen und Menschen zu ermorden. Rückkeh-
rer müssen wir nicht nur im Auge behalten, sondern es
muss auch Angebote geben, sie von ihrem Fanatismus
abzubringen.

Die Prüfung und Überprüfung von Gesetzen und auch
neue gesetzgeberische Initiativen sind wichtige Maßnah-
men im Kampf gegen den Terror. Daneben aber gilt es,
die gesellschaftliche Debatte über Respekt vor Religio-
nen und anderen Kulturen zu führen und die Kräfte zu
stärken, die sich für den Zusammenhalt in der Gesell-
schaft und ein friedliches Zusammenleben einsetzen.





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808308100

Vielen Dank, Gabi Fograscher. – Nächste Rednerin in

der Debatte: Irene Mihalic für Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808308200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Natürlich: Nicht erst die schrecklichen
Anschläge von Paris machen Maßnahmen gegen den
Terrorismus notwendig; das ist völlig richtig. Das ist
eine Debatte, die wir schon viel länger und auch völlig
zu Recht führen. Dabei ist aber eine Sache ganz beson-
ders wichtig: eben nicht in Aktionismus zu verfallen,
sondern die Terrorgefahr sauber zu analysieren, Kräfte
und Kompetenzen in der Sache zu bündeln und sorgfäl-
tig Maßnahmen zu entwickeln, die wirklich greifen, Herr
Minister.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Leider geht Ihr Gesetzentwurf zum Terroristen-Perso-
nalausweis völlig am Thema vorbei. Sie betreiben hier
eine unausgegorene Symbolpolitik, mit der Sie hektisch
zu überdecken versuchen, dass Sie weder gründlich ana-
lysieren noch die Maßnahmen irgendwie koordinieren
und dass Sie alles in allem keine richtige Antiterrorstra-
tegie haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Der Ersatz-Personalausweis für Terroristen ist nicht
nur sicherheitspolitisch vollkommen nutzlos und rechts-
staatlich fragwürdig, sondern das Ganze ist auch noch
gefährlich. Ich will Ihnen ein praktisches Beispiel nen-
nen: Angenommen, Sie haben einen Gefährder ermittelt,
also einen mutmaßlichen Terroristen; es soll ja eine statt-
liche dreistellige Anzahl von Personen geben, die die
Absicht haben, nach Syrien auszureisen. Jetzt fordern
Sie diese Person auf Grundlage des neuen Gesetzes auf,
den alten Personalausweis abzugeben und gegen einen
Ersatz-Personalausweis einzutauschen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen Gebühr!)


Was glauben Sie denn, was dann passiert? Glauben
Sie denn tatsächlich, er geht dann brav zum Bürgeramt,
um dort seinen Personalausweis abzugeben? Wohl eher
nicht. Glauben Sie, dass der mutmaßliche Terrorist völ-
lig geknickt seine Pläne einfach so aufgeben wird? Wohl
kaum. Er wird doch vielmehr sagen: Jetzt oder nie. Er
wird versuchen, alles, was er vorhatte, also eben auch
die Ausreise, sofort in die Tat umzusetzen, und zwar vor
dem Zugriff der Sicherheitsbehörden. Das kann nicht in
unserem Interesse sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Es gibt noch ein weiteres praktisches Problem. Neh-
men wir einmal an, der mutmaßliche Terrorist geht
tatsächlich zum Amt, um sich diesen Ersatz-Personal-
ausweis abzuholen. Ohne große Fantasie lässt sich vo-
raussehen – das hat Kollege Tempel schon angespro-
chen –, dass der richtige Personalausweis dann plötzlich
verloren gegangen ist, gestohlen gemeldet wird, auf je-
den Fall irgendwie abhandengekommen ist. Jedenfalls
können Sie ganz sicher sein, dass der verschwundene
Ausweis wieder auftaucht und die Person ihn munter
weiter nutzen und auch bei der Ausreise an der Grenze
vorlegen wird. Es wird wohl kaum einen mutmaßlichen
Dschihadisten geben, der an den EU-Außengrenzen die-
sen Terror-Ersatzausweis vorlegen wird.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht wirklich!)


Das glauben Sie doch nicht ernsthaft. Dieser Gesetzent-
wurf ist völlig realitätsfern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Sie bewirken mit diesem Ersatz-Personalausweis im
Wesentlichen zwei Dinge:

Erstens. Sie desensibilisieren die Grenzbeamten.
Denn wieso sollte ein Kontrolleur einen richtigen Perso-
nalausweis in den Datenbanken, zum Beispiel in der Da-
tenbank verlorener oder gestohlener Reisedokumente,
überprüfen, wenn er erwartet, dass er einen Terroristen
gleich am Ersatz-Personalausweis erkennt?


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Zweitens. Sie fördern mit diesem Gesetz die Radikali-
sierung solcher Leute. Denn am Ende sind die Gefährder
vielleicht sogar noch stolz darauf, mit einem amtlichen
Dokument endlich als IS-treue Dschihadisten eingestuft
zu werden. Mit der Übergabe des Ersatz-Personalaus-
weises machen Sie aus einem Gefährder einen staatlich
anerkannten Terroristen. Das muss so manchem ja wie
eine Auszeichnung vorkommen. Aber das ist das Gegen-
teil von Gefahrenabwehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Statt diesem Irrweg weiter zu folgen, sollten Sie Ihre
Hausaufgaben machen. Sorgen Sie endlich dafür, dass
die Sicherheitsbehörden vor allen Dingen personell ver-
nünftig ausgestattet sind.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Gewährleisten Sie möglichst dichte Kontrollen bei der
Ausreise aus dem Schengen-Gebiet. Legen Sie endlich
ein mit den Ländern wirklich abgestimmtes Präventions-
und Deradikalisierungskonzept vor. Die Länder haben
dazu ja schon Initiativen angekündigt. Deswegen: Ver-
harren Sie da bitte nicht in der Zuschauerrolle, sondern
gestalten und koordinieren Sie diesen Prozess aktiv mit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)






Irene Mihalic


(A) (C)



(D)(B)

Und: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf bitte schnellst-
möglich zurück, damit er keinen Schaden anrichtet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die innere Sicher-
heit ist ein hohes Gut. Sie darf nicht durch aktionistische
Symbolpolitik, die auch noch rechtsstaatlich fragwürdig
ist, in Gefahr gebracht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Da müssen Sie ja selber lachen!)


Eine Sache möchte ich gerne noch ansprechen, weil
ich sie zugegebenermaßen recht amüsant fand. Man
konnte neulich auf Twitter sinngemäß die Frage lesen:
Wir haben biometrische Ausweise wegen der Terrorge-
fahr, und mutmaßlichen Terroristen nehmen wir sie jetzt
weg?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Frage!)


Ich finde, sie bringt die Widersprüchlichkeit Ihrer Anti-
terrorpolitik richtig schön auf den Punkt. Vielleicht den-
ken Sie auch darüber noch einmal nach.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808308300

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der

Debatte – jetzt sind Sie dran –: Clemens Binninger für
die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1808308400

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Man überlegt sich ja immer, wie man in eine Rede
einsteigt. Ihr Beitrag, Frau Kollegin Mihalic, veranlasst
mich dazu, mein Konzept zu ändern und gleich auf Ihre
Rede einzugehen.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür bin ich sehr dankbar! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, die hat gesessen! Das fand ich auch!)


Man kann ja in der Sache unterschiedlicher Meinung
sein; das wird nie ganz ausbleiben. Dass Sie aber in die-
ser Art und Weise, so ironisierend, über eine Bedro-
hungslage, die uns allen Sorgen macht, und über dieses
Gesetzesvorhaben reden,


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo war denn da die Ironie?)


die Gefahrenlage mit keinem Wort beschreiben und so
tun, als ob wir hier einfach irgendetwas machen, geht
völlig an der Realität und an der Bedrohungslage vorbei.
Völlig!

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber so ist es doch! Genau so ist es! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Scheinpolitik!)


Dann haben Sie auch noch munter alles Mögliche
durcheinandergeworfen. Sie haben zum Beispiel das
Thema Biometrie angesprochen. Der biometrische Rei-
sepass ist unter Rot-Grün auf den Weg gebracht worden,
und zwar von Otto Schily mit dankbarer Unterstützung
der Grünen;


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie das jetzt etwa zurückholen, oder was?)


damals haben Sie noch eine vernünftige Innenpolitik ge-
macht. Das Thema Biometrie haben Sie mit dem Ersatz-
ausweis vermischt. Das passt nicht. Es geht hierbei näm-
lich auch darum – vielleicht finden Sie ja, da sollte man
auch ironisieren –, eine Resolution des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen umzusetzen, in der alle Staaten
aufgefordert werden, alles Mögliche zu tun, um Reisebe-
wegungen von Terrorverdächtigen zu erschweren bzw.
zu unterbinden. Genau das tun wir mit diesem Gesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann verstärken Sie doch die Kontrollen an den Schengen-Außengrenzen! – Frank Tempel [DIE LINKE]: Das ist ungeeignet!)


Da Sie immer wieder auf unseren gemeinsamen Be-
rufsstand abheben, sage ich Ihnen: Sie alle wissen – da
sollten wir redlich miteinander umgehen –, dass es kein
Gesetz gibt, mit dem man alle Ziele erreichen kann;


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann tun Sie nicht so!)


das behauptet auch niemand. Da wir aber wissen, dass es
in Europa 3 500 Terrorverdächtige gibt, die in die
Kampfgebiete des IS reisen und dort mutmaßlich mit-
kämpfen, dass es alleine in Deutschland


(Frank Tempel [DIE LINKE]: 20 in Deutschland!)


– wenn wir nur 20 entdeckt haben, macht es das nicht
besser – 600 Gefährder gibt, die dorthin reisen – Ten-
denz zunehmend –, dass für diese Reise kein Reisepass
mehr notwendig ist, weil diese Krisenregion nicht am
Hindukusch, sondern direkt am Mittelmeer liegt und für
die Reise dorthin der Personalausweis ausreicht, muss
man doch darüber nachdenken, wie man diese Reisebe-
wegungen erschweren oder – noch besser – verhindern
kann, indem man im Hinblick auf den Personalausweis
etwas verändert. Genau das tun wir. Da gibt es doch kei-
nen Grund, zu ironisieren. Ich sehe einen solchen Grund
nirgends.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Jetzt zu der Frage: Was tun wir? Kollege Tempel, ich
habe vorhin einen Zwischenruf gemacht, weil Sie sugge-
riert haben, man könne die Ausreise heute schon unter-
sagen





Clemens Binninger


(A) (C)



(D)(B)


(Abg. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– ich habe heute keine Zeit; sonst immer gerne –


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kann ja Herrn Mayer fragen! – Frank Tempel [DIE LINKE]: Ich habe nicht gesagt: „heute schon“!)


und man müsse, da das ja gespeichert sei, den Personal-
ausweis nicht entziehen.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Ich habe nicht gesagt: „heute schon“! Das ist falsch!)


– So klang es aber. – Das stellt uns vor ein Problem:
Wenn wir auf EU-Ebene etwas dagegen tun wollten,
würde das zweieinhalb Jahre dauern. Deshalb ist der
richtige Weg: Es muss aus dem Dokument ersichtlich
sein, dass eine Person nicht reisen darf. Dafür ist die
Ausstellung eines Ersatzausweises bei Entziehung des
alten Personalausweises genau das richtige Instrument.
Das wird funktionieren; das ist der richtige Ansatz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den legt er doch gar nicht erst vor!)


Vor allen Dingen aber, Frau Kollegin, ist dies ein An-
satz, der sofort umgesetzt werden kann. Wenn Sie den
Schengen-Kodex ändern wollten, müssen Sie dafür min-
destens zweieinhalb Jahre veranschlagen. Das können
wir uns angesichts der Bedrohungslage nicht erlauben;
das wäre unverantwortlich.

Richtig ist: Das ist nur ein Baustein, so wie die UN-
Resolution auch verlangt, Fluggastdaten auszutauschen.
Das wollen Sie ja auch nicht; aber die UN-Resolution
verlangt es. Es ist eine Reihe von Bausteinen notwendig,
um dieser Terrorgefahr Herr zu werden. Heute debattie-
ren wir über einen Baustein, der wichtig ist und der
funktionieren wird.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zeigen Sie mal die Stelle in der Resolution, wo ein Ersatzausweis gefordert wird!)


Natürlich reicht das allein nicht aus, natürlich gehören
andere Dinge dazu: Terrorabwehrzentrum, Antiterrorda-
tei und andere Maßnahmen, über die wir noch zu spre-
chen haben. Aber es muss uns doch eines leiten, Kolle-
gen: Wir müssen als Gesetzgeber die Voraussetzungen
dafür schaffen, dass die Sicherheitsbehörden in der Lage
sind, Terrorverdächtige ins Visier zu nehmen – nicht Un-
beteiligte, sondern Terrorverdächtige. Von denen müssen
wir dann so viel wissen wie möglich – mit wem sie tele-
fonieren, wohin das Geld fließt –, und wir müssen ihnen
das Reisen erschweren. An diesem Ansatz kann man ei-
gentlich nicht herumkritteln. Deshalb habe ich Ihren
Beitrag wirklich hinten und vorne nicht verstanden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie noch einmal im Protokoll nachlesen! – Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Für dich gilt das Gleiche: Ich habe heute keine Zeit.

Der vorliegende Gesetzentwurf ist, wie gesagt, ein
wichtiger Schritt auf dem Weg zur Bekämpfung des Ter-
rorismus, andere werden folgen. Die Ausstattung der Si-
cherheitsbehörden gehört natürlich immer mit dazu, Prä-
vention gehört ebenfalls dazu. Es geht um ein Paket an
Maßnahmen. Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung
hier einen guten und wichtigen Schritt gemacht hat.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808308500

Vielen Dank, Herr Binninger. – Er hat wirklich keine

Zeit – selbstverständlich sagt er die Wahrheit –; er hat
schon mit Herrn Mayer getauscht. – Kommen Sie gut
wohin auch immer!

Uli Grötsch für die SPD ist der nächste Redner in der
Debatte.


(Beifall bei der SPD)



Uli Grötsch (SPD):
Rede ID: ID1808308600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sicherheitspolitik darf nicht reaktiv sein, Sicherheits-
politik muss zuallererst präventiv sein. Neue Gesetze zur
Terrorabwehr dürfen nicht erst dann beschlossen wer-
den, wenn es zu einem Anschlag gekommen ist. Unser
Ziel muss es sein, dort Lücken zu schließen, wo die Si-
cherheit und damit die Freiheit der Menschen in
Deutschland gefährdet ist.

Der heute vorliegende Gesetzentwurf regelt die Be-
dingungen eines Entzuges des Personalausweises bei
solchen Bundesbürgern – und nur bei solchen Bundes-
bürgern –, bei denen der dringende Tatverdacht besteht,
dass sie sich im Ausland einer terroristischen Vereini-
gung anschließen oder an solchen Handlungen teilneh-
men werden.

Der vorliegende Gesetzentwurf bildet nur eine von
mehreren Maßnahmen in der Sicherheitspolitik, die die
Bundesregierung auf den Weg gebracht hat und noch auf
den Weg bringen wird. Das ist kein politischer Aktionis-
mus und auch keine unmittelbare Reaktion auf die
Anschläge von Paris. Es ist auch keine Symbolpolitik,
sondern aktive Sicherheitspolitik, was wir mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf betreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wie wir alle wissen, war dieser Gesetzentwurf schon
lange vor den Anschlägen von Paris auf dem Weg. Wir
sind uns der Bedrohung durch den internationalen Terror
nicht erst seit diesen Anschlägen bewusst, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen. Wir alle tragen Verantwortung für
die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutsch-
land. Wir alle müssen wachsam sein und sinnvolle Ge-
setzesänderungen dort vornehmen, wo es notwendig ist.





Uli Grötsch


(A) (C)



(D)(B)


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Sinnvoll“ ist das Stichwort!)


Es kann ja nicht sein, dass wir

– in Deutschland –

Terrorismus exportieren, und es kann auch nicht
sein, dass wir potenziellen Terroristen ermöglichen,
in einem Ausbildungslager oder sogar in Kriegsge-
bieten ihr Handwerk zu lernen.

Der mögliche Entzug des Personalausweises von ausrei-
sewilligen Dschihadisten schließe hier eine „Schwach-
stelle“. – Das ist die Aussage des BKA-Präsidenten
Holger Münch. Das sehe ich ganz genauso wie der Präsi-
dent des Bundeskriminalamtes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bislang gibt es in unseren Gesetzen nur die Möglich-
keit, den Reisepass zu entziehen. Aber auch mit dem
Personalausweis reisen nachweislich Dschihadisten über
die Türkei nach Syrien aus. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, wenn Sie tatsächlich nicht wissen sollten, dass
verlorene oder als gestohlen gemeldete Personalaus-
weise, die Originalpersonalausweise also, im Sachfahn-
dungssystem ausgeschrieben werden


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Aber nicht geprüft werden! Das ist doch praxisfremd!)


und im Falle einer versuchten Grenzüberschreitung mit
diesen Ausweisen natürlich dann festgestellt werden,
dann erkläre ich es Ihnen nach diesem Tagesordnungs-
punkt von Herzen und aus Interesse an der Sache gern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber die werden doch gar nicht abgefragt, Herr Grötsch!)


Diese Ausreisen sollen künftig nicht mehr möglich
sein. Minister de Maizière hat es eben gesagt: Diese Lü-
cke schließen wir.

Natürlich müssen wir bei einem solchen Gesetz sorg-
sam abwägen. Es handelt sich um einen Eingriff in die
Persönlichkeitsrechte der Betroffenen; das ist unstrittig.
Aber angesichts der uns allen bekannten Gefahrenlage
halte ich diesen Grundrechtseingriff auch für gerechtfer-
tigt.

Im Vergleich zu dem im letzten Jahr diskutierten Vor-
schlag, nämlich den Personalausweis zu markieren, stellt
ein Ersatz-Personalausweis einen weitaus geringeren
Grundrechtseingriff und erst recht keine Stigmatisierung
der Inhaber dar. Stellen Sie sich vor, dass auf Ihrem Per-
sonalausweis ein dicker roter Balken quer über das
ganze Dokument verläuft. Das wäre doch viel auffälli-
ger, und Sie würden in Ihrem täglichen Leben viel stär-
ker eingeschränkt sein als mit einem Dokument, auf dem
der Ausreisesperrvermerk nicht direkt neben den perso-
nenbezogenen Daten angebracht ist, liebe Kolleginnen
und Kollegen.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Wir haben den Blödsinn auch nicht vorgeschlagen!)

Und natürlich betrifft der mögliche Personalausweis-
entzug nur eine geringe Anzahl von Personen, und zwar
solche, die im dringenden Verdacht stehen, dass sie einer
terroristischen Vereinigung angehören. Das sind ja keine
Touristen, die ihren Urlaub in Syrien verbringen wollen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.

Eines sage ich ganz deutlich: Bei dieser Klientel, bei
denen, die den Krieg von Deutschland aus in die Welt
tragen wollen, bei denen, die wieder nach Deutschland
zurückkommen wollen und uns womöglich Gewalt und
Terror mitbringen, zählt jeder Einzelne.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Zum Schluss meiner Rede sage ich noch etwas zum
Thema Prävention; das wurde hier schon öfter angespro-
chen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion halten eine prä-
ventive Sicherheitspolitik natürlich nach wie vor für ef-
fektiver. Deshalb ist das von Bundesfamilienministerin
Manuela Schwesig gerade auf den Weg gebrachte Pro-
gramm zur Radikalisierungsprävention gegen gewalt-
orientierten Islamismus ohne Zweifel der richtige Weg,
liebe Kolleginnen und Kollegen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808308700

Danke, Herr Kollege Grötsch. – Nächster Redner in

dieser Debatte vor der spannenden Beratung im Aus-
schuss ist Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1808308800

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Das Gesetz zur Ände-
rung des Personalausweisgesetzes und des Passgesetzes
ist zwar nur ein Baustein, aber es ist ein durchaus nicht
unwesentlicher Baustein im Kampf gegen den islamisti-
schen, dschihadistischen Terrorismus. Ich lege auch
Wert auf die Feststellung, dass wir hier fernab von jegli-
chem Aktionismus und von jeglicher Symbolpolitik
sind. Dieses Gesetz ist keine unmittelbare Reaktion auf
die barbarischen Anschläge von Paris.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat auch keiner behauptet!)


Dieser Gesetzentwurf ist noch vor Weihnachten im Bun-
deskabinett verabschiedet worden und ist aus meiner
Sicht angemessen und verhältnismäßig.

Ich muss ganz ehrlich sagen, meine sehr verehrte Kol-
legin Mihalic und sehr geehrter Kollege Tempel: Ich war
schon etwas verwundert über Ihre Argumentation. Man
muss ja nicht alles teilen, was die Bundesregierung vor-
bringt, und natürlich müssen Sie sich als Oppositions-
fraktionen irgendwelche Argumente aus den Fingern
saugen, um dieses Gesetz abzulehnen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808308900

Herr Mayer, erlauben Sie eine direkte Frage?






(A) (C)



(D)(B)


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1808309000

Selbstverständlich. Sehr gern.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808309100

Gut. – Frau Mihalic.


Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808309200

Vielen Dank, Herr Mayer, dass Sie die Zwischenfrage

zulassen. – Sie haben vorhin gesagt, das Gesetz sei ver-
hältnismäßig, es sei angemessen. Also, Sie sind zutiefst
davon überzeugt, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf das
Richtige tun. Deswegen würde mich einfach nur einmal
interessieren, womit Sie das begründen.

Wir werden das Ganze ja auch noch im Innenaus-
schuss miteinander erörtern. Offen gestanden war ich
aber doch ein bisschen überrascht, als ich zur Kenntnis
genommen habe, dass ausgerechnet Ihre Fraktion zu die-
sem Gesetzentwurf eine Ausschussanhörung beantragt
hat. Ich habe mich gefragt, ob Sie sich vielleicht doch
nicht ganz sicher sind, dass das, was Sie mit diesem Ge-
setzentwurf vorhaben, verhältnismäßig und angemessen
ist.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1808309300

Sehr verehrte Frau Kollegin Mihalic, ich danke Ihnen

und nehme stellvertretend für den Kollegen Binninger
auch gerne Fragen entgegen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte ich ihn auch fragen können!)


Ich beantworte Ihre Frage aber sehr gerne sehr ernsthaft.

Ich glaube, es gehört zum guten parlamentarischen
Ton, dass man bei wichtigen Gesetzgebungsvorhaben
– es handelt sich hierbei zweifelsohne um ein wichtiges
Gesetzgebungsvorhaben – auch eine Sachverständigen-
anhörung durchführt.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hätten wir auch beantragt!)


Ich bin auch deshalb sehr dankbar für die Frage, weil sie
es mir ermöglicht, klarzumachen, dass wir als Koali-
tionsfraktionen den parlamentarischen Auftrag unheim-
lich ernst nehmen und uns im Wege einer ausführlichen
Sachverständigenanhörung mit den Vor- und Nachteilen
dieses Gesetzentwurfs intensiv auseinandersetzen wer-
den.

Hätten wir diese Sachverständigenanhörung nicht
proaktiv von uns aus beantragt,


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätten wir es gemacht!)


dann hätten Sie mit Sicherheit behauptet: Die Regie-
rungskoalition will diesen Gesetzentwurf durch den
Bundestag peitschen. Es geht hier wieder nur um Eilbe-
dürftigkeit und nicht um Qualität. – Wir haben diese
Sachverständigenanhörung jetzt beantragt, und das ist
Ihnen, sehr verehrte Frau Kollegin Mihalic, auch nicht
recht.

(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da schauen Sie aber in die Glaskugel!)


Mit Verlaub: Das verwundert mich schon etwas.

Ich finde es schön, dass Sie sich mit dem Antrag, den
wir gestellt haben, beschäftigen, aber Sie können sich
sicher sein, dass es uns hier um eine hohe Qualität der
Gesetzgebung geht. Deswegen legen wir als Koalitions-
fraktionen Wert darauf, sich im Wege einer Sachverstän-
digenanhörung intensiv mit diesem Gesetzentwurf ausei-
nanderzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Qualität ist also noch verbesserungsbedürftig! Das habe ich mir schon gedacht!)


Liebe Frau Kollegin Mihalic, daran darf ich gleich
einmal anknüpfen: Mich haben Ihre Ausführungen
schon etwas verwundert, weil aus Ihrer Fraktion, näm-
lich von Ihrem Kollegen Beck, im Herbst letzten Jahres
der Vorschlag kam, dass man nicht ein Ersatzdokument
einführen, sondern sogar eine Kennzeichnung des Perso-
nalausweises von potenziellen Dschihadisten vornehmen
sollte.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das hat er nicht gesagt!)


Mich wundert es, dass Sie in Ihrer Kritik an dem Ge-
setzentwurf nicht auch auf den Vorschlag Ihres Frak-
tionskollegen eingegangen sind, und ich frage mich, wa-
rum er heute als Mitglied des Innenausschusses nicht an
dieser Debatte teilnimmt.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ist ihm nicht wichtig!)


Ihr Kollege Beck wäre ja noch sehr viel weiter gegan-
gen, und bei seinem Vorschlag wäre der Vorwurf der
Stigmatisierung vielleicht sogar gerechtfertigt gewesen,
weil er eben klar die Auffassung vertreten hat, man
müsse den Personalausweis sogar kennzeichnen und
markieren.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Das ist ein weitaus weiter gehender Vorschlag als der,
den wir heute vorlegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
darf auch ein paar Worte zum Kollegen Tempel sagen:
Es ist ja schön, dass Sie Ihren Schwerpunkt auf Präven-
tion und Deradikalisierung legen. Das ist auch wichtig,
und das möchte ich auch gar nicht negieren und ver-
harmlosen. Ich halte es aber, mit Verlaub, Herr Kollege
Tempel, schon für reichlich fahrlässig, dass Sie sagen:
Bei diesem durchaus sehr ernst zu nehmenden Kampf
gegen den islamistischen und dschihadistischen Terroris-
mus verlegen wir uns einseitig nur auf den Bereich der
Prävention und der Deradikalisierung. – Das ist aus mei-
ner Sicht zu kurz gegriffen.






(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808309400

Herr Mayer, erlauben Sie eine Frage oder einen Kom-

mentar von Herrn Tempel?


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1808309500

Selbstverständlich, sehr gerne.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808309600

Gut.


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808309700

Da Sie mich angesprochen haben: Sie haben hoffent-

lich vernommen, dass ich gesagt habe, dass die Sicher-
heitsbehörden durch entsprechende Gesetze natürlich ein
Rüstzeug an die Hand bekommen müssen, um wirksam
und aktiv arbeiten zu können, und ich habe auch gesagt,
dass die Messlatte dabei sehr hoch liegen muss. Es muss
also auch überprüft werden, ob die Maßnahmen geeignet
sind.

Ich frage Sie: Wie kommen Sie dazu, zu behaupten,
dass wir einseitig nur mit Prävention arbeiten wollen,
obwohl ich doch sehr deutlich gesagt habe, dass wir na-
türlich entsprechende Gesetze brauchen, die aber auf
ihre Wirksamkeit, Geeignetheit, Erforderlichkeit und
Angemessenheit hin überprüft werden müssen?


(Beifall bei der LINKEN)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1808309800

Herr Kollege Tempel, ich habe Ihren Äußerungen klar

entnommen, dass Sie die Gefahren des Terrorismus nicht
bagatellisieren, sich aber eindeutig darauf verlegt haben,
zu sagen: Man muss viel mehr tun, um zu verhindern,
dass es überhaupt zu einer Radikalisierung kommt. Da-
rauf muss doch der Schwerpunkt gelegt werden. – Dem
möchte ich schon entgegentreten. Beides ist erforderlich:
Wir brauchen ein großes Maßnahmenpaket, und wir sind
sehr wohl auch der festen Überzeugung, dass es wichtig
ist – hier sind vor allem die Länder gefordert –,


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so, das müssen dann die Länder machen, oder was?)


im Rahmen von Präventionsprogrammen mehr dafür zu
tun, dass jugendliche und heranwachsende Moslems erst
gar nicht radikalisiert werden.

Um es aber auch noch einmal klar und in aller Deut-
lichkeit zu sagen: Ich bin der festen Überzeugung, dass
dieser Gesetzentwurf, den wir heute in der ersten Lesung
beraten, angemessen und verhältnismäßig ist, weil die
Voraussetzungen dafür, dass es zu einem Entzug des Per-
sonalausweises kommen kann, außerordentlich hoch
sind. Es muss nachgewiesen werden, dass jemand einer
ausländischen oder inländischen terroristischen Organi-
sation angehört, dass er das Staatswohl gefährdende Ge-
walttaten vorbereitet


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gehört er vor Gericht!)


und damit die Sicherheit anderer Staaten oder internatio-
naler Organisationen gefährdet oder deutsche Verfas-
sungsgrundsätze beeinträchtigt, dass er rechtswidrig Ge-
walt gegen Leib und Leben als Mittel zur Durchsetzung
religiöser oder politischer Belange anwendet oder unter-
stützt. Es gibt ganz konkrete hohe Voraussetzungen, die
erfüllt sein müssen, damit es zum Entzug des Personal-
ausweises kommen kann. Vor diesem Hintergrund bin
ich der festen Überzeugung, dass dieses Gesetz verhält-
nismäßig und angemessen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
möchte noch weiter gehen. Wir sollten nicht so tun, als
sei allein dieses Gesetz ein Allheilmittel. Ich bin Ihnen,
sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, sehr dankbar,
dass Sie sich gestern bei dem informellen JI-Rat in Riga
insoweit durchsetzen konnten, als der informelle JI-Rat
gestern beschlossen hat, das Schengener Informations-
system dahin gehend zu verändern, dass in Zukunft die
Kontrolle an den Schengen-Außengrenzen intensiviert
wird, dass es Grenzbeamten erleichtert wird, Dokumente
ungültig zu stempeln und ein- oder ausreisewillige
Dschihadisten an den Grenzen festnehmen zu lassen.
Das ist ein weiterer wichtiger Fortschritt im Kampf ge-
gen den islamistischen Terrorismus. Dafür danken wir
Ihnen sehr herzlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der
Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist aus meiner
Sicht ein wichtiger Baustein. Das Ersatzdokument wird
mit einer Gültigkeit von maximal drei Jahren ausge-
reicht. Wichtig ist mir, zu sagen, dass die immer wieder
behauptete stigmatisierende oder diskriminierende Wir-
kung durch das Ersatzdokument nicht zutrifft. Hier
wurde gefragt: Was ist, wenn jemand mit einem Ersatz-
dokument ein Bankkonto eröffnen oder eine Wohnung
mieten will? Natürlich legitimiert ihn das ausgereichte
Ersatzdokument, diesen Dingen in Deutschland weiter-
hin in vollem Umfang nachzugehen. Also, der Vorwurf
der stigmatisierenden oder der diskriminierenden Wir-
kung dieses Ersatz-Personalausweises geht ins Leere.

Wir werden diesen Gesetzentwurf zügig beraten. Wir
werden ihn aber auch intensiv beraten, auch im Rahmen
der von Ihnen, Frau Kollegin Mihalic, angesprochenen
Sachverständigenanhörung.

Ich freue mich auf diesen konstruktiven Austausch
bezüglich dieses wichtigen Gesetzes, möchte aber noch
einmal betonen, auch eingedenk dessen, dass man unter-
schiedliche Haltungen zu diesem Gesetz einnehmen
kann: Bitte lassen Sie uns auch nach dieser Debatte wei-
terhin seriös und verantwortungsbewusst mit dieser doch
sehr intensiven und gestiegenen Bedrohung umgehen.
Ich glaube, das erwarten auch die Bürgerinnen und Bür-
ger in Deutschland.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fangen Sie einmal an mit seriös!)







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808309900

Danke, Herr Mayer. – Ich schließe damit die Ausspra-

che.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Frau Präsidentin, ich hatte gesagt, ich brauche eine Minute für eine Kurzintervention!)


– Das tut mir leid. Das war aber nicht ganz eindeutig. –
Also gut, eine ganz kurze Kurzintervention von Herrn
Frank Tempel von einer Minute. Dazu haben Sie natür-
lich das Recht.


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808310000

Meine Kurzintervention ist wirklich ganz kurz. – Da

nach Herrn Binninger nun auch der Kollege Mayer wie-
derholt erklärt hat, ich hätte etwas gesagt, was ich aber
nicht so gemeint habe, was aber anders geklungen haben
soll, möchte ich auf Folgendes hinweisen: Hier im Bun-
destag gilt bitte schön das gesprochene Wort. Bitte neh-
men Sie das, was gesagt wurde, und interpretieren Sie
nicht einfach, wie es klang.

Ich spreche hier für meine Fraktion. Wir in unserer
Fraktion entscheiden selber, was wir sagen wollen. Wir
bitten darum, das zu respektieren und so zur Kenntnis zu
nehmen und nicht irgendwelche Klangtöne hineinzuin-
terpretieren.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808310100

Danke schön, Herr Tempel. Entschuldigung, ich habe

nicht verstanden, was Sie mir sagen wollten.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wir auch nicht!)


Herr Mayer, bitte.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1808310200

Sehr geehrter Herr Kollege Tempel, ich nehme Ihre

Äußerungen mit großem Respekt zur Kenntnis, möchte
aber schon betonen: Ich hatte aufgrund Ihrer Rede den
klaren Eindruck, dass Sie an dem Gesetz Kritik üben.
Das steht Ihnen zu, das ist Ihnen unbenommen; keine
Frage.

Aber von Ihnen und auch von der gesamten Fraktion
Die Linke kommt kein einziger gesetzgeberischer Vor-
schlag, wie wir die gestiegene Bedrohung angehen sol-
len. Von Ihnen kommt kein einziger Vorschlag, was wir
denn konkret tun können, um den islamistisch-dschiha-
distischen Terrorismus in Deutschland zu bekämpfen.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Wir haben konkrete Haushaltsanträge eingebracht!)


Sie haben sich darauf verlegt, zu sagen, man müsste
mehr für Prävention und für Deradikalisierung tun. Da-
rin sind wir uns alle einig. Das ist keine große Weisheit,
um das klar zu sagen.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Wir haben konkrete Haushaltsentwürfe gemacht!)


Aber darüber hinaus bezeichnen Sie jeden gesetzge-
berischen Vorschlag, den wir einbringen, als unverhält-
nismäßig, nicht angemessen und untauglich. Wo bleiben
denn Ihre konkreten Vorschläge? Die Bevölkerung er-
wartet Ihre Vorschläge.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808310300

Vielen Dank, liebe Kollegen. Damit schließe ich die

Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3831 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich wünsche
Ihnen eine sehr lebendige Aussprache und Debatte in
den Ausschüssen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die wird es geben! Das ist sicher!)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg (Hamburg), Christina Schwarzer,
Ursula Groden-Kranich, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
ordneten Sönke Rix, Susann Rüthrich, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Aufarbeitung von sexuellem Kindesmiss-
brauch sicherstellen

Drucksache 18/3833
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Ich bitte wie vorher, die Plätze einzunehmen oder den
Saal zu verlassen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich gebe das Wort dem ersten Redner Marcus
Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1808310400

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen

und Kollegen! Es sind nicht selten in der Geschichte
Briefe, die Steine ins Rollen bringen. Es war auch dies-
mal ein Brief des Rektors einer Berliner Bildungsein-
richtung im Jahr 2010, der einen Stein ins Rollen ge-
bracht hat. Er hat sich bei ehemaligen Schülerinnen und
Schülern für das Leid, für die sexuellen Übergriffe ent-
schuldigt, die diesen angetan wurden.





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Anfang 2010 wurde das weitere Ausmaß des sexuel-
len Kindesmissbrauchs in Deutschland in einer Reihe
von Bildungseinrichtungen bekannt: im Westen wie
auch in Kinderheimen und Jugendwerkstätten im Osten.
Wir alle waren damals schockiert, und wir alle sind
heute noch darüber erschüttert, was sich damals abge-
spielt hat und wie weit verbreitet sexuelle Gewalt an
Kindern ist. Heute noch müssen wir darüber sprechen,
weil mehr als ein Zehntel der Bevölkerung betroffen ist.

Im Jahr 2013 wurden 14 800 Taten registriert. Bera-
tungsstellen sprechen von bis zu 100 000 betroffenen
Mädchen und Jungen pro Jahr. Diese Betroffenen leiden
ihr ganzes Leben an den Folgen dieser traumatischen Er-
lebnisse. Ich gebe die Gedanken einer Betroffenen wie-
der, die ihren Leidensweg öffentlich gemacht hat:

Ich hatte diese Bilder nicht unter Kontrolle, es
schmerzte sehr, ich war unausgeglichen, wütend,
hatte Zweifel und bekam starke Selbstmordgedan-
ken. Ich dachte, dass ich es nicht mehr aushalten
kann, und wollte dem Schmerz für immer entflie-
hen.

Diese Betroffene hat ihre Erlebnisse öffentlich ge-
macht. Sie hat öffentlich gemacht, wie sie nach und nach
ihr Schweigen gebrochen und so gelernt hat, mit den Er-
innerungen zu leben. Das Aussprechen des Erlebten ist
oft von großer Bedeutung für die betroffenen Personen.
Es ist aber auch für uns gesellschaftlich in der Aufarbei-
tung dieser Prozesse wichtig gewesen, dass Menschen
sich geäußert und die Debatte damit auch angestoßen ha-
ben.

Ich möchte auch ausdrücklich die vielen Vertreter von
Opferverbänden begrüßen, die heute an der Debatte teil-
nehmen. Herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind!


(Beifall im ganzen Hause)


Ich möchte mich bei Ihnen für Ihr Engagement bedanken
und dafür, dass Sie diese Debatte angestoßen haben und
mit viel Mut die traumatischen Erinnerungen öffentlich
kundtun. Ihnen ist es zu verdanken, dass das Thema se-
xueller Missbrauch Minderjähriger nicht länger tabui-
siert wird. Politik und Gesellschaft müssen dafür sensi-
bilisiert werden. Denn wir wissen aus der Psychologie
und der Psychoanalyse: Wer sich nicht erinnert, der ver-
drängt, vergisst und wiederholt. Das ist auch ein gesell-
schaftliches Problem bei diesem Thema. Deswegen sind
die Aufarbeitung des Unrechts und der Schmerz der be-
troffenen Mädchen und Jungen für uns Christdemokra-
ten ein Thema, das ganz oben auf der Agenda steht.

Was haben wir getan? Wir haben, nachdem die De-
batte 2010 ins Rollen gebracht wurde, im März 2010
Frau Dr. Christine Bergmann zur Unabhängigen Beauf-
tragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmiss-
brauchs ernannt. Dies wird fortgeführt durch Johannes-
Wilhelm Rörig, den ich auch hier begrüßen darf, dem
unser Dank für seine hervorragende, engagierte Arbeit in
diesem Bereich gilt. Sie sind ein Lobbyist, dem wir ver-
trauen. Sie sind ein Lobbyist, der wichtig ist. Arbeiten
Sie so engagiert weiter! Sie haben unsere volle Unter-
stützung.

(Beifall im ganzen Hause)


Wir haben auch viele einzelne Maßnahmen und Kam-
pagnen entwickelt, zum Beispiel die Kampagne „Spre-
chen hilft“, eine Anlaufstelle des Unabhängigen Beauf-
tragten. 27 000 Telefongespräche sind in diesem
Rahmen geführt worden und über 5 000 Briefe einge-
gangen.

Im März 2010 wurde der Runde Tisch „Sexueller
Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhält-
nissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im
familiären Bereich“ von der Bundesregierung eingesetzt.
Im April 2013 fand ein Hearing statt. Seit dem 1. Mai
2013 gibt es den Fonds „Sexueller Missbrauch im fami-
liären Bereich“, für den der Bund 50 Millionen Euro be-
reitgestellt hat.

Wir diskutieren – gerade auch im letzten Jahr – über
sehr viele einzelne Maßnahmen und weitere Gesetzes-
vorhaben, die die Rechte von Opfern stärken sollen, die
Aufarbeitungsprozesse begleiten sollen und die Kinder
schützen sollen. Dazu gehören das Bundeskinderschutz-
gesetz, das in diesem Jahr evaluiert wird, das Gesetz zur
Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs,
aber auch die ergänzenden Hilfssysteme für von sexuel-
lem Missbrauch betroffene Menschen. Am 22. Septem-
ber wurde das Gesamtkonzept zum Schutz von Kindern
und Jugendlichen vor sexueller Gewalt vorgestellt. Für
uns war und ist diese Debatte, auch zu diesem Zeitpunkt,
wichtig, um der Erinnerungskultur Rechnung zu tragen;
denn sie ist unsere gesellschaftliche Aufgabe in der
Folge der damaligen Diskussionen.

Neben diesen wichtigen Schritten zum Schutz von
Kindern und Jugendlichen muss auch die Aufarbeitung
sexuellen Kindesmissbrauchs der Vergangenheit fortge-
führt und intensiviert werden. Daher unterstützen wir die
Einrichtung einer unabhängigen Kommission und for-
dern die Bundesregierung im Antrag entsprechend auf,
den Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des
sexuellen Kindesmissbrauchs bei seiner Arbeit zu unter-
stützen. Entscheidend ist dabei für uns, dass im Rahmen
der Arbeit der Kommission Betroffene angehört werden
und es nicht länger zu Verschleierungen kommt. Denn
auch die Institutionen sind nicht aus ihrer Pflicht zu ent-
lassen; sie müssen sich weiterhin beteiligen. Es gilt für
uns, dass die Arbeit nicht ersetzt werden soll, sondern er-
gänzt werden muss. Die betreffenden Institutionen haben
sich daran zu beteiligen.

Darüber hinaus muss das Ziel aber auch darin beste-
hen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen: bei
der Frage der Strukturen, bei der Frage, wie man
Schwachstellen frühzeitig identifizieren kann, um Miss-
brauch in Zukunft wirksamer zu verhindern.

Die Einrichtung einer unabhängigen Aufarbeitungs-
kommission ist ein wichtiger erster Schritt. Entscheidend
ist aber, dass wir hier nicht verharren. Die Aufarbeitung
von Unrecht ist ein langwieriger Prozess – das wissen wir
aus vielen anderen Aufarbeitungsprozessen –, der auch in
den kommenden Jahren mit großer Intensität vorange-
trieben werden muss. Deshalb war und ist es wichtig und
richtig, die Aufarbeitung zu stärken und vor allen Din-





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

gen uns selbst wieder den Anstoß zu geben, darüber
nachzudenken, was wir jeden Tag, jede Woche tun kön-
nen, damit sich solche Vorkommnisse nicht wiederholen.
In diesem Sinne bitten wir um Unterstützung für unseren
Antrag.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808310500

Vielen Dank, Marcus Weinberg. – Nächster Redner in

der Debatte: Norbert Müller für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Norbert Müller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808310600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Es ist
Teil der menschlichen Zivilisationsgeschichte, es sollte
fraktionsübergreifend unser aller Ziel sein, Gewalt aus
zwischenmenschlichen, aus politischen und aus gesell-
schaftlichen Beziehungen zu verdrängen. Sexueller
Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist eine be-
sonders schreckliche Form von Gewalt; er ist ein funda-
mentaler Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit und körperliche Unversehrtheit und steht
damit in eklatantem Widerspruch zu unserer Verfassung
und zur UN-Kinderrechtskonvention.

Sexueller Missbrauch von Kindern ist dabei kein Pro-
blem, das nur in – ich zitiere Pastor Klaus Mertes –
„männerbündisch verengten homosozialen Strukturen
des Klerus“ stattfindet; er ist ein gesellschaftliches Pro-
blem mit vielen Gesichtern. Er kann an staatlichen Ein-
richtungen wie an privaten Einrichtungen stattfinden. Ja,
wir wissen auch: Die meisten Fälle betreffen am Ende
den familiären Raum.

Strafrechtlich werden sexueller Missbrauch von Kin-
dern und Misshandlung von Schutzbefohlenen aus Sicht
der Linken angemessen geahndet – sofern die Tat be-
kannt ist; Sie haben völlig zu Recht die hohe Dunkelzif-
fer angesprochen.

Der Missbrauch von Schutzbefohlenen verursacht
gravierende seelische Wunden, verursacht Scham und
Angst. Die Betroffenen leiden meist im Stillen. Nur we-
nige finden den Mut und die Kraft, sich als Kind oder
später im Erwachsenenalter anderen anzuvertrauen. Dies
ist jedoch die Voraussetzung dafür, betroffenen Men-
schen Unterstützung dabei zu bieten, Traumata zu verar-
beiten und einen Umgang mit dem Erlebten zu finden.
Was die Schaffung einer Kultur angeht, die es den Men-
schen ermöglicht, sich zu offenbaren und einen Umgang
zu finden, sind wir in den letzten Jahren sicherlich wei-
tergekommen.

Erst durch das Bekanntwerden der Tat haben Strafver-
folgungsbehörden – bei aller Verschärfung des Straf-
rechts – die Chance, die Täter anzuklagen und die Kons-
titutionsbedingungen der Tätersysteme zu analysieren
und diese abzuschaffen. Hierfür braucht es Institutionen,
die einen transparenten politischen und gesellschaftli-
chen Diskurs überhaupt erst ermöglichen und anhand der
Bearbeitung konkreter Fälle die systematischen Bedin-
gungen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugend-
lichen überwinden.


(Beifall im ganzen Hause)


Mit dem Bekanntwerden der Missbrauchsstrukturen
am Berliner Canisius-Kolleg, an der Odenwaldschule,
aber auch an den Jugendwerkhöfen, der Nordkirche und
in vielen weiteren Fällen in den letzten fünf Jahren trat
der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität ekla-
tant zutage. Die daraufhin seit 2010 geführte Debatte
über Aufklärung, Opferinteressen, Täterbestrafung, Ur-
sachenforschung, Entschädigung, Institutionswandel
und eine offene Kultur, aber auch über Prävention haben
wir immer unterstützt und befördert. Durch die Arbeit
des Runden Tisches und des Unabhängigen Beauftragten
wurden erste notwendige Reformen initiiert. Ich schließe
mich dem Dank an Herrn Rörig an.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es hat sich allerdings gezeigt, dass beide Instrumente
dem Umfang der notwendigen Aufarbeitung alleine
nicht gewachsen waren. Hier, Herr Weinberg, gibt es
noch ein Stück weit Differenz zwischen uns. Die Aufar-
beitung von Missbrauch in Institutionen stellt diese
selbst und ihren soziopolitischen Kontext infrage. Das
ist notwendig und auch gut so, führt aber auch zu Ab-
wehrreaktionen bzw. Abwehrreflexen. Betroffene Insti-
tutionen verweigern noch immer die Aufarbeitung von
Unrecht unter dem eigenen Dach. Aufklärungsprozesse
werden durch zu schwache Untersuchungsrechte er-
schwert, Akteneinsichten verwehrt oder Unterlagen ver-
nichtet.

Den vom Unabhängigen Beauftragten erarbeiteten
Vorschlag für eine Kommission zur Aufarbeitung von
Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendli-
chen begrüßen wir als Linke ebenfalls. Damit diese
Kommission mit der dem Thema angemessenen Schlag-
kraft ausgestattet wird, bedarf es folgender vier Ergän-
zungen bzw. Änderungen Ihres Antrags, liebe Kollegin-
nen und Kollegen der Koalition.

Erstens. Die Kommission muss auf gesetzlicher
Grundlage konstituiert werden. Dies stärkt die Unabhän-
gigkeit und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit. Not-
wendig ist eine Evaluation der Handlungsspielräume
und Grenzen einer solchen Kommission zu Beginn der
19. Legislaturperiode.

Zweitens. Die Kommission benötigt eine tragfähige
und langfristige Finanzierungsgrundlage zur Bewälti-
gung ihrer Aufgaben.

Drittens. Die angedachte Befristung der Arbeit der
Kommission bis zum März 2019 ist völlig unzureichend,
genauso wie die Formulierung in Ihrem Antrag, dass es
nur um Fälle der Vergangenheit geht; denn sexueller
Missbrauch ist auch nach 2010 Thema geblieben und
wird es auch in Zukunft sein. Die Linke spricht sich des-
wegen für die Einrichtung einer dauerhaften Kommis-





Norbert Müller (Potsdam)



(A) (C)



(D)(B)

sion zur Bearbeitung auch gegenwärtiger und zukünfti-
ger Fälle aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Viertens. Sexueller Missbrauch von Kindern ist ein
umfangreiches Problemfeld. Die Kommission muss ihre
Arbeit auf Themenbereiche konzentrieren – darin sind
wir uns einig – und diese in Zusammenarbeit mit dem
Unabhängigen Beauftragten und dem Betroffenenbeirat
regelmäßig überprüfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn diese vier Bedingungen Eingang finden, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Koalition, wird die Linke
Ihre Forderung nach Aufarbeitung als Ziel anerkennen
und ein gemeinsames Vorgehen mittragen. Wir freuen
uns auf die Beratungen im Ausschuss.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808310700

Vielen Dank, Norbert Müller. – Nächste Rednerin in

der Debatte ist Susann Rüthrich von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Susann Rüthrich (SPD):
Rede ID: ID1808310800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Vor allem liebe Gäste! Liebe Betroffene! Vie-
len Dank, dass Sie heute an unserer Debatte teilnehmen.

Vor fünf Jahren hallte ein Aufschrei durch das Land.
Der Leiter einer Berliner Bildungseinrichtung entschul-
digte sich bei seinen Schülern für die jahrelange sexuelle
Gewalt, die ihnen in dieser Einrichtung angetan wurde.
Viele weitere Opfer fanden daraufhin den Mut, das ihnen
angetane Leid ebenfalls öffentlich zu machen. Ich denke,
ich spreche für uns alle: Wir erschraken über diese Art
von Beziehungstaten von Menschen, die ein enges Ver-
hältnis zu Kindern und Jugendlichen hatten. Da wären
eigentlich Schutz und Begleitung beim Erwachsenwer-
den zu erwarten gewesen. Stattdessen missbrauchten
diese Erwachsenen ihre Macht und taten ihren Schützlin-
gen furchtbare Gewalt an. Opfer wurden sichtbar, Täter
und Täterinnen ebenfalls. Doch oft wussten viel mehr
Menschen im Umfeld von dem, was geschah. Doch auch
sie schützten die Kinder nicht.

Warum? Warum schaut man weg? Warum macht man
offene Geheimnisse nicht zum Thema? Warum sind
Schweigen und Tatenlosigkeit offenbar leichter zu ertra-
gen, als Verantwortung zu übernehmen und Kindern das
Leid zu ersparen, Opfer sexueller Gewalt zu werden?
Antworten auf diese Fragen zu finden, das ist für mich
der Grund, eine unabhängige Aufarbeitungskommission
einzurichten.

Wie wichtig das ist, zeigt sich, wenn wir kurz darüber
nachdenken, was passieren würde, wenn wir nicht zu-
rückschauen würden. Weitere Kinder würden Opfer, und
zwar auf genau dieselbe Art und Weise, wie es viel zu
viele vor ihnen wurden. Täter und Täterinnen könnten
sich weiter sicher sein, dass unsere Scham, unsere blin-
den Flecken und unser Nicht-Wahrhaben-Wollen sie de-
cken.

Der Schutz und die Hilfe für die heutigen Kinder wä-
ren ohne sicheres Fundament, und die Prävention wäre
an vielen Stellen zwar gut gemeint, aber nicht gut. Herr
Rörig, der Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung
des sexuellen Kindesmissbrauchs, sagte dazu an diesem
Montag:

Solange nicht alle uns bekannten Handlungsmög-
lichkeiten ausgeschöpft werden, bleibt Missbrauch
weiterhin ein Skandal in Deutschland!

Genau so ist es.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Kommission wird zeigen, wo und wie wir unsere
Möglichkeiten besser ausschöpfen können, um sexuelle
Ausbeutung und Gewalt zu verhindern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir versetzen also
den Unabhängigen Beauftragen in den Stand, die Aufar-
beitung zu starten, ein Konzept zu erstellen, Fachleute
aus verschiedenen Professionen zu benennen und uns bis
zum Ende seiner aktuellen Amtszeit 2019 Empfehlungen
zu geben, was praktisch und politisch getan werden
muss, um sexuelle Gewalt an Kindern zu verhindern,
und zwar in allen Bereichen, in Familien, im sozialen
Umfeld, in Institutionen, bei Menschen mit und ohne
Behinderung.

Es wird Anhörungen geben. Bisher vorgelegte Stu-
dien und Aufarbeitungsakten werden gesammelt, gebün-
delt, ausgewertet. Es wird selbst geforscht und recher-
chiert, und am Ende wird uns ein Ergebnis vorgelegt.
Doch es ist nicht nur wichtig, dass das gemacht wird,
sondern es kommt darauf an, wie es gemacht wird. Da
kommt es eben nicht nur auf das Konzept an, das jetzt
erarbeitet wird, sondern es kommt auf uns an. Dabei rede
ich noch nicht einmal davon, dass die Aufarbeitung Geld
kosten wird, Geld, das wir alle werden aufbringen müs-
sen, weil es sich um eine gesamtgesellschaftliche Auf-
gabe handelt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Viel mehr als vom Geld rede ich aber davon, dass die
Kommission unsere dauerhafte und starke Unterstützung
brauchen wird, und zwar gerade dann, wenn es schwer
wird, sich dem zu stellen, was da auf den Tisch kommt.
Es ist heute kaum absehbar, was genau zum Vorschein
kommen wird. Allein die Aufarbeitung von einzelnen
Fällen in einzelnen Institutionen ist schnell viel funda-
mentaler geworden, als sich das die Beteiligten vorher
gedacht haben.

Wie wird es dann erst sein, wenn wir alles zusammen
betrachten, wenn der gesellschaftliche Rahmen ange-
schaut wird, in dem sexuelle Gewalt an Kindern möglich
wird? Genau dann werden wir stark sein müssen, und





Susann Rüthrich


(A) (C)



(D)(B)

zwar nicht in der Abwehr, sondern indem wir Verant-
wortung übernehmen.


(Beifall im ganzen Hause)


Am Ende steht für mich noch eines: Auch wenn die
Arbeit der Kommission zeitlich begrenzt ist, haben wir
hier eine Daueraufgabe vor uns, wenn wir den Skandal,
den ich anfangs erwähnte, tatsächlich beenden wollen;
denn es wird wohl neue Fälle geben – leider. Es wird
aber auch gesellschaftliche Veränderungen geben, viel-
leicht zum Glück. Es wird zu prüfen sein, wie und ob die
gewonnenen Erkenntnisse wirken. Um dem gerecht zu
werden, braucht es den Unabhängigen Beauftragten zur
Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs unab-
hängig von Legislaturen und Amtszeiten auf Dauer.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808310900

Vielen Dank, Susann Rüthrich. – Nächste Rednerin in

der Debatte ist Katja Dörner für Bündnis 90/Die Grünen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808311000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich
bin wirklich froh, dass wir heute über die Einrichtung ei-
ner Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kin-
desmissbrauch hier diskutieren. Obwohl in den letzten
Jahren Betroffene über ihren persönlich erlebten Miss-
brauch gesprochen haben und auch Institutionen sich auf
den Weg der Aufarbeitung gemacht haben, haben wir in
Deutschland immer noch keine wirklich systematische
und weitreichende Aufarbeitung. Genau dafür brauchen
wir eine solche Kommission.

Eine solche Kommission hat nicht nur der Unabhän-
gige Beauftragte schon lange gefordert, sondern insbe-
sondere die Betroffenen. Deshalb finden wir Grünen es
gut, dass die Kommission jetzt auf den Weg gebracht
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich will aber auch nicht verhehlen, dass ich etwas un-
schön finde, wie dieses Anliegen hier zu uns ins Parla-
ment gebracht worden ist, nämlich in Form eines Koali-
tionsantrags.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde, das Thema „sexueller Kindesmissbrauch“ ver-
bietet die übliche Aufstellung Opposition versus Regie-
rung. Wir haben uns als Grüne in den letzten Wochen
sehr bemüht, mit den Koalitionsfraktionen ins Gespräch
zu kommen. Das ist leider nicht gewünscht gewesen. Ich
finde das sehr schade, weil sexueller Kindesmissbrauch
die gesamte Gesellschaft angeht, weil sie den gesamten
Bundestag angeht. Es wäre wichtig, dass von uns ge-
meinsam ein politisches Signal ausgeht: Ja, wir wollen
diese Kommission.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wenn man über die Aufarbeitung von sexuellem Kin-
desmissbrauch spricht, steht oft im Vordergrund, Struk-
turen zu erkennen, die Missbrauch möglich gemacht ha-
ben, die Missbrauch befördert haben, und zwar mit dem
Ziel, zukünftigen Missbrauch zu verhindern und best-
mögliche Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Diese
Dimension der Aufarbeitung ist natürlich extrem wich-
tig.

Genauso wichtig ist aber auch die Dimension der in-
dividuellen Aufarbeitung, also die Möglichkeit für die
Opfer, in einem geschützten Raum über erlebten Miss-
brauch zu sprechen, gehört zu werden und ernst genom-
men zu werden. Wir als Grüne haben die Vorstellung
und auch den Anspruch, dass die Aufarbeitungskommis-
sion, die jetzt eingerichtet werden soll, einen solchen
Raum darstellt.

Ich habe am Montag am Fachgespräch des Unabhän-
gigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindes-
missbrauchs genau zu dieser Thematik teilgenommen, in
dem vor allem die Erfahrungen mit den Prozessen der
Aufarbeitung verschiedener Institutionen zusammenge-
tragen und diskutiert wurden. In diesem Fachgespräch
ist sehr klar formuliert worden – mir ist sehr wichtig, das
in diesem Rahmen noch einmal zu sagen –, dass es be-
sonders darum gehen muss, denen Gehör zu verschaffen,
die sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gut
ausdrücken können, die nicht über das Erlebte gespro-
chen haben, die nicht gut darüber sprechen können und
deren Leid in der Öffentlichkeit deshalb nicht wahrge-
nommen worden ist. Das sind beispielsweise Menschen
mit Behinderung. Das sind Heimkinder. Das sind aber
auch Menschen, die sehr jung waren, als der Missbrauch
geschah. Auch für diese Menschen soll die Aufarbei-
tungskommission aus unserer Sicht einen Raum des Ge-
hörtwerdens sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Da der Auftrag der Kommission, den wir heute bera-
ten, im Antrag nur sehr knapp benannt wird, hoffe ich,
dass die Kommission in ihrer Arbeit den unterschiedli-
chen Dimensionen der notwendigen Aufarbeitung ent-
sprechen kann. Wir erwarten, ehrlich gesagt, dass sie da-
für auch ausgestattet wird.

Im Fachgespräch, das ich schon erwähnt habe, ist sehr
deutlich geworden, dass es von großem Vorteil wäre,
wenn die Kommission eine gesetzliche Grundlage hätte,
also gesetzlich verankert würde. Das würde für den
Handlungsspielraum der Kommission einfach eine deut-
liche Erweiterung zur Folge haben, beispielsweise was
das Recht der Akteneinsicht angeht, aber auch, was die
Befragung von Zeugen angeht.

In die Aufarbeitungskommission werden große Hoff-
nungen gesetzt. Ich finde, zu Recht. Ich habe allerdings
die Sorge, dass es dieser Kommission ohne diese gesetz-
liche Verankerung schwerfällt, diesen Hoffnungen und
Anforderungen tatsächlich gerecht zu werden. Wenn ich
es richtig sehe, ist eine gesetzliche Verankerung bei den





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)

Koalitionsfraktionen noch nicht vorgesehen. Ich hoffe,
dass wir in den Beratungen des Antrags hier vielleicht
noch zu einer anderen Lösung kommen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wie so oft ist die Finanzierung der Knackpunkt; das
ist schon angesprochen worden. Da heißt es im Antrag:
„im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten“. Das ist
natürlich auf der einen Seite selbstverständlich; auf der
anderen Seite lässt es aber auch nicht ganz so viel Gutes
vermuten. Ich habe aus den Reden der Kolleginnen und
Kollegen noch nicht wirklich heraushören können, was
das in diesem Fall bedeutet. Für uns ist ganz klar – das
möchte ich für die Grünen sagen –, dass es zusätzliche
Mittel geben muss. Die Mittel für die Aufarbeitungs-
kommission dürfen nicht aus dem Etat des Kinder- und
Jugendministeriums herausgeschnitten werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich hoffe, dass wir im Rahmen der Beratungen auch hier
zu einer gemeinsamen Lösung kommen.

Für uns ist klar: Wir begrüßen die Einrichtung der
Aufarbeitungskommission ganz ausdrücklich; aber na-
türlich müssen auch die Rahmenbedingungen stimmen.

Zum Abschluss möchte ich noch Folgendes anspre-
chen: Herr Weinberg, Sie haben sich eben auf das Ge-
samtkonzept bezogen, das die Ministerin anlässlich des
Empfangs des Unabhängigen Beauftragten vorgestellt
hat. Darin war eine ganze Reihe von guten und interes-
santen Vorschlägen enthalten. Meine Kollegin Brantner
hat vor zwei oder drei Monaten in einer Kleinen Anfrage
abgefragt, welche der konkreten Vorhaben mittlerweile
angegangen worden sind. Die Beantwortung dieser An-
frage war leider sehr mau: Quasi nichts von dem, was
die Ministerin an dieser Stelle angekündigt hat, wurde
bis dato umgesetzt. Ich finde, da haben wir eine gemein-
same Baustelle, nämlich da nachzuhaken und dafür zu
sorgen, dass die guten Vorschläge, die im Raum stehen,
dann auch umgesetzt werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808311100

Vielen Dank, Katja Dörner. – Nächste Rednerin in der

Debatte: Christina Schwarzer für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Christina Schwarzer (CDU):
Rede ID: ID1808311200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Das weiße
Kreuz hier an meiner Jacke steht für Sicherheit und
Schutz. Die Farbe Weiß symbolisiert Verletzlichkeit, die
Verletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen, die ge-
schützt werden müssen. Das weiße Kreuz ist Symbol-
träger einer bundesweiten Kampagne zum Thema „Se-
xuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“. Ich trage
es heute zur Erinnerung für uns alle. Uns muss bewusst
sein, dass wir hier im Deutschen Bundestag auch zu-
künftig Teil einer großen Verantwortungsgemeinschaft
sind.

Aber nicht nur mit dem Tragen des weißen Kreuzes
leisten wir unseren Beitrag dazu, dass die so wichtige
Debatte zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im in-
stitutionellen und privaten Bereich nicht verstummt. Es
darf nicht nur eine Bundestagsdebatte, sondern muss
auch eine gesellschaftliche Debatte sein und bleiben.
Das sind wir den Opfern schuldig, die vor fünf Jahren ei-
nen unbeschreiblichen Mut aufgebracht haben und mit
ihren Qualen an die Öffentlichkeit gegangen sind.

Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, welche Kraft
es braucht, diesen Schritt zu gehen, welche Belastungen
an den Menschen zerren. Allein schon die Angst vor Un-
verständnis, Bagatellisierung, Ignoranz oder Leugnung
hält viele Opfer davon ab, zu sprechen. Da Angst kein
gutes Gefühl ist, schweigen viele. Das Wort „Danke“ ist
heute schon oft gefallen. Ich glaube, man kann es nicht
oft genug sagen: Danke für den Mut, den Sie bewiesen
haben!


(Beifall im ganzen Hause)


Dieser Mut hat nicht nur dazu geführt, dass wir heute
im Bundestag über dieses Thema sprechen; er ist auch
Grundlage dafür, dass wir beim Unabhängigen Beauf-
tragten eine Aufarbeitungskommission einrichten wer-
den. Ich kann für meine Fraktion, aber sicherlich auch
für das ganze Haus sagen, dass wir das sehr unterstützen
– nicht nur heute, sondern über den gesamten Prozess
hinweg. Ich kann Ihnen sagen – Frau Rüthrich und Herr
Weinberg können das sicherlich auch –: Wir alle haben
in den letzten Tagen viele E-Mails und Briefe bekom-
men. Ich glaube, wir lassen diese sicherlich auch Ihnen,
Herr Rörig, zukommen. Vielleicht haben wir gemeinsam
noch weitere Ideen dazu, wie wir vorankommen.

Nachdem 2010 der Stein ins Rollen gebracht worden
ist, sind über 16 000 Gespräche mit Betroffenen geführt
worden. In 4 500 Briefen legten Opfer Zeugnis über ihre
Leiden ab. Das zeigt: Viele Opfer wollen sprechen. Sie
sagen aber auch: Danke, dass ihr uns endlich eine
Stimme gegeben habt! – Wir müssen weiterhin zuhören
und natürlich auch helfen. Wir müssen Zeugen sein und
als Gesellschaft Verantwortung übernehmen.

Ich bin optimistisch gestimmt, dass diese Kommis-
sion, so wie sie vorbereitet und geplant ist – ich bin sehr
beeindruckt –, eine große Stütze für die Opfer, aber auch
für die Institutionen sein wird. Sie ist sorgfältig und effi-
zient geplant und kann konkrete Ergebnisse liefern. Im
Prozess der Aufarbeitung, aber auch im Bereich der Prä-
vention kann sie uns einen großen Schritt nach vorn
bringen.

Die Betroffenen berichten, dass sie in eine zweite Di-
mension des Leidens geführt werden, wenn sie über das
Erlebte sprechen. Dies bestärkt nur meine Anerkennung





Christina Schwarzer


(A) (C)



(D)(B)

für ihre Offenheit. Sie sagen aber auch, dass diese Ge-
spräche helfen, die Erinnerung und den Schmerz anzu-
erkennen und aufzuarbeiten.

Eine unabhängige Kommission ist meiner Ansicht
nach ein guter Ansprechpartner. Ihre Mitglieder werden
sorgfältig ausgewählt. Sie müssen sehr integer, vertrau-
enswürdig und unabhängig sein. Für die extrem intensi-
ven und sensiblen Gespräche und Aufgaben sind diese
Voraussetzungen unerlässlich.

Eine Aufarbeitungskommission hilft aber auch den
Institutionen, in denen Kinder und Jugendliche zu Op-
fern wurden. Sie müssen weiter – manchmal noch inten-
siver – daran arbeiten, Fälle aus der Vergangenheit auf-
zuarbeiten, um dadurch zukünftiges Leid vielleicht zu
verhindern. Die Kommission nimmt ihnen diese Auf-
gabe nicht ab. Sie kann sie dabei nur unterstützen und
Prozesse in Gang setzen.

Aber auch viele andere Institutionen, viele Schulen
oder Vereine haben noch wichtige Aufgaben zu meis-
tern. Hier geht es darum, Missbrauch zu verhindern oder
im Missbrauchsfall so schnell wie möglich zu helfen, da-
mit Taten nicht über 30 Jahre verdrängt oder gar igno-
riert werden. Wir brauchen Konzepte zum Umgang mit
Fällen sexuellen Missbrauchs. Das hat unter anderem
auch der Runde Tisch empfohlen. Wie verhalte ich mich
als Lehrer, wenn ein Schüler von sexuellen Übergriffen
berichtet? Wie reagiere ich, wenn ich mich als Trainer zu
einem Schutzbefohlenen vielleicht hingezogen fühle?
Was tue ich, wenn ich den Verdacht hege, dass in mei-
nem Freundeskreis sexuell missbraucht wird? – Die In-
stitutionen, Schulen oder Vereine brauchen ein Konzept
zur Prävention und Intervention, das ist ganz wichtig. So
erhalten Verantwortliche mehr Handlungssicherheit
beim Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuel-
lem Missbrauch. Der Unabhängige Beauftragte kann
hier helfen und Anleitungen geben; aktiv werden müssen
jedoch die Einrichtungen selbst. Von dort wissen wir
aber auch, dass Überforderung herrscht. Das müssen und
wollen wir ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das Zuhören und der Versuch, die richtigen Antwor-
ten zu finden, sind ganz besonders wichtige Punkte auf
dem Weg der Aufarbeitung. Es gehört aber noch mehr
dazu. Wir müssen uns auch fragen: Wie können wir ver-
hindern, dass solche Fälle in Zukunft wieder passie-
ren? – Hier gibt es keine Garantie, das gehört leider zur
traurigen Wahrheit.

Die Hilflosigkeit der Institutionen, in denen Kinder
und Jugendliche zu Opfern wurden, muss in eine Bewäl-
tigungsstrategie umgewandelt werden. Dennoch dürfen
und werden wir nicht aufhören, dagegen anzukämpfen,
dass Kinder und Jugendliche in unserem Land von Er-
wachsenen, manchmal von den Erwachsenen, die sie ei-
gentlich beschützen sollen, sexuell missbraucht werden.
Der Kollege Marcus Weinberg hat vorhin schon einige
Maßnahmen genannt. Ich möchte an dieser Stelle noch
ergänzend die Verschärfung des Sexualstrafrechts nen-
nen oder auch die Förderung des Netzwerkes „Kein Tä-
ter werden“ an der Berliner Charité, bei dem es um Prä-
vention geht.

Natürlich ist die Aufarbeitung selbst nicht nur Hilfe
für diejenigen, die bereits zu Opfern geworden sind. Ich
wiederhole mich: Es gibt hier keine Garantie. Aber ich
bin fest davon überzeugt: Je lauter eine Gesellschaft über
dieses Thema diskutiert, je deutlicher sie macht, dass sie
solche Abscheulichkeiten nicht duldet, desto mehr po-
tenzielle Täter können abgeschreckt werden und sich
hoffentlich Hilfe suchen. Auch darum ist die Aufarbei-
tung so wichtig.

Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass diese
Debatte nicht verstummt, damit der Mut der Opfer nicht
umsonst war, damit ihr Mut nicht umsonst war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808311300

Vielen Dank, Christina Schwarzer. – Nächste Redne-

rin in der Debatte ist die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Caren Marks.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


C
Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1808311400


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir de-
battieren heute über ein Thema, das die gesamte Gesell-
schaft bewegt, bewegen muss. Sexuelle Gewalt gegen
Kinder und Jugendliche bedeutet körperliche und seeli-
sche Qualen für die Betroffenen. Sie leiden, sie leiden
ein Leben lang.

Wir wissen, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Viele
zeigen den oder die Täter nicht an, und wenn Betroffene
ihr Schweigen brechen, dann oftmals erst viele Jahre
später als Erwachsene. Was ich ganz besonders erschüt-
ternd finde: Wenn Missbrauch stattfindet, dann in einem
hohen Maße im unmittelbaren Umfeld dieser Kinder und
Jugendlichen; in Einrichtungen, in Familien. Vertrauens-
verhältnisse werden missbraucht. Sie werden zerstört,
und das bereits im Kindesalter.

Wir müssen uns heute hier vergegenwärtigen: Das
Aufdecken von Missbrauchsskandalen vor fünf Jahren
hat nicht dazu geführt, dass der Missbrauch ein Ende hat.
Davor und danach fand und findet sexuelle Gewalt ge-
gen Kinder und gegen Jugendliche statt; mitten unter
uns. Die Öffentlichkeit nimmt dies aber nicht immer
gleich stark wahr.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vor fünf
Jahren wurde der Runde Tisch „Sexueller Kindesmiss-
brauch“ eingerichtet, der ressortübergreifend arbeitete
und interdisziplinär besetzt war. Der Runde Tisch erar-
beitete einen Abschlussbericht mit konkreten Empfeh-
lungen zum Thema Missbrauch. Zudem nahm damals
die Unabhängige Beauftragte, Frau Dr. Christine Berg-
mann, im Auftrag der Bundesregierung ihre Arbeit auf.
Seitdem ist einiges geschehen. Beispielsweise wurden in
den vergangenen Jahren Regelungen zum Schutz von





Parl. Staatssekretärin Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)

Kindern und Jugendlichen weiterentwickelt, im Straf-
recht Verjährungsfristen ausgeweitet sowie die Rechte
von Opfern in Strafverfahren verbessert.

Die Bundesregierung hat die Arbeit des Unabhängi-
gen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kin-
desmissbrauchs, Herrn Rörig, in dieser Legislaturpe-
riode abgesichert. Ich begrüße Sie, Herr Rörig, sowie die
Betroffenen ganz herzlich auf der Besuchertribüne. Sie
verfolgen die Debatte heute. Ich sage Danke für Ihre
wertvolle Arbeit und das großartige Engagement. Den
Betroffenen danke ich für den Mut und den Einsatz, den
sie zeigen. Auch wir sind alle darauf angewiesen in un-
serer Gesellschaft. Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)


Es ist einiges geschehen, aber wir haben auch noch ei-
niges vor. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig
hat ein Gesamtkonzept zum Schutz von Kindern und Ju-
gendlichen vor sexualisierter Gewalt vorgestellt. Es be-
ruht auf dem Gedanken, dass wir gemeinsam daran ar-
beiten müssen, Missbrauch wirksamer zu verhindern
und die Unterstützungsangebote und Hilfen für Betrof-
fene zu verbessern.

Meine Kolleginnen und Kollegen, in den vergange-
nen Jahren wurden Missbrauchsskandale in einigen Ein-
richtungen untersucht. Es ist aus Sicht der Betroffenen,
aber auch aus Sicht der gesamten Gesellschaft ganz we-
sentlich, dass sich Institutionen mit ihrer Vergangenheit
beschäftigen und sich der Verantwortung stellen, dass
Schweigen gebrochen wird. Daher ist sehr gut nachvoll-
ziehbar, dass es aus dem Kreis der Betroffenen die starke
Forderung nach einer unabhängigen Aufarbeitung gibt.
Gewollt ist eine unabhängige, aber nicht unparteiische
Aufklärungskommission; eine Kommission, die Partei
für die Betroffenen ergreift.

Der Koalitionsvertrag greift die Forderung nach einer
unabhängigen Aufarbeitung ebenso auf wie der heute
debattierte Antrag. Betroffene von sexualisierter Gewalt
machen in diesen Tagen deutlich, dass sie ein starkes
Mandat vom Bundestag erwarten. Die heutige Plenarde-
batte ist ein starkes Signal, weil das Parlament dem An-
liegen der Betroffenen öffentlich Rechnung trägt, die
Aufarbeitung bzw. eine Aufarbeitungskommission öf-
fentlich einfordert und nach der Einbringung des Antra-
ges heute das Thema weiter debattieren wird. Die
Bundesregierung ist ressortübergreifend in der Verant-
wortung, diesen Antrag umzusetzen.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen,
Expertinnen und Experten betonen, dass die Aufklä-
rungsarbeit nicht den Institutionen überlassen werden
dürfe; denn „Täternetzwerke“ und Institutionen würden
sich immer noch vereinzelt vor den Informationen schüt-
zen, die sie infrage stellen. Zudem ist es ganz besonders
wichtig, den Betroffenen zuzuhören. Auch das gehört zu
einer Aufarbeitung dazu. Eine unabhängige Aufarbei-
tungskommission, die Empfehlungen ausspricht und
systematische Fehler benennt, bringt Erkenntnisse, die
auch zu einem verbesserten Schutz von Kindern und Ju-
gendlichen vor sexualisierter Gewalt beitragen. Sie ist
damit auch ein wichtiger Teil der Präventionsarbeit. Nur
so schaffen wir auch eine Kultur des Hinsehens und kön-
nen Rahmenbedingungen, die Missbrauch begünstigen,
erkennen und ihnen wirksam entgegenwirken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808311500

Vielen Dank, Caren Marks. – Letzter Redner in dieser

Debatte ist Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1808311600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Es wurde von meinen Vorrednern schon
sehr viel Zutreffendes ausgeführt. Ich will das Positive
der heutigen Debatte direkt voranstellen: Wir sind frak-
tionsübergreifend, losgelöst von Koalition und Opposi-
tion, in diesem Punkt ziemlich einig und auf einem guten
Weg. Wir haben konsensual den Schutz der Betroffenen
im Fokus. Dafür allen Vorrednern ein herzliches Wort
des Dankes.


(Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Dort möchte jemand eine Frage stellen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808311700

Das habe ich schon gesehen, Herr Lehrieder. Keine

Angst. Meine Augen sind überall.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1808311800

Ja, ich wollte Sie nur höflich darauf hinweisen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808311900

Wollen Sie die Frage zulassen?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1808312000

Natürlich, ja.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808312100

Frau Keul, bitte.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808312200

Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. – Sie haben ge-

rade zu Recht gesagt, dass wir konsensual dieses Vorge-
hen begrüßen. Ich habe noch nicht die Antwort auf die
Frage meiner Kollegin Dörner gehört, warum die CDU/
CSU-Fraktion darauf bestanden hat, das im Parlament
nicht gemeinsam zu machen und die Opposition auszu-
schließen. Was ist die Antwort darauf?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1808312300

Frau Kollegin, wir werden Sie natürlich an den De-

batten beteiligen. Wir ziehen Sie natürlich mit. Sie dür-
fen sich an diesem Werk entsprechend konstruktiv ein-
bringen. Sie dürfen versichert sein, so wie früher bei





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

Rot-Grün, dass eine Regierungskoalition ein gewisses
Maß an Verantwortung für die Bevölkerung trägt und ein
Initiativrecht hat, zu sagen: Wir bringen etwas auf den
Weg, und die anderen Parteien nehmen wir dann später
mit. Von daher sollten wir das nicht in parteipolitischem
Klein-Klein zerreden, Frau Kollegin – Sie können stehen
bleiben, ich bin noch nicht fertig –, sondern das große
Ganze sehen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben!)


Das wäre wichtig, im Interesse der Betroffenen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schutz von Kin-
dern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir alle
müssen uns jedoch eingestehen – die Vorredner haben
bereits darauf hingewiesen –, dass wir in der Vergangen-
heit beim Thema „sexuelle Gewalt gegen Kinder und Ju-
gendliche in pädagogischen Kontexten“ in vielen Berei-
chen versagt haben. Ende dieses Monats jährt sich zum
fünften Mal das Bekanntwerden der Missbrauchsskan-
dale in Bildungseinrichtungen; alle Vorredner haben be-
reits darauf hingewiesen.

Die 2010 in Gang gesetzte Aufklärungswelle in Be-
zug auf sexuellen Missbrauch in Heimen und Schulen
und die Berichte der Betroffenen haben uns alle zutiefst
erschüttert und beschämt. Das ganze Ausmaß der leid-
vollen Erfahrungen wurde uns erst nach und nach be-
wusst. Die gesellschaftliche und politische Debatte zu
diesem Thema mag noch relativ jung sein, hinter vielen
Betroffenen liegen jedoch lange Jahre, wenn nicht sogar
Jahrzehnte des Schweigens und des Leidens: nicht verar-
beitete Traumata, fehlendes Vertrauen – von der Kolle-
gin wurde bereits darauf hingewiesen – zu Personen, die
mit der Erziehung, mit der Betreuung dieser Kinder be-
auftragt waren. Personen, denen man ein erhöhtes Maß
an Vertrauen entgegengebracht hat, haben das Vertrauen
erschüttert, was zu erheblichen Verletzungen in den See-
len und Körpern der betroffenen Kinder geführt hat. Das
ist ganz großes Leid. Jemand, der das nicht erlitten hat,
kann das wahrscheinlich nur sehr schwer nachvollzie-
hen.

Die betroffenen Kinder, Jugendlichen und auch Er-
wachsenen sind in den letzten Jahren zum Teil ein zwei-
tes Mal Opfer geworden, nämlich dann, wenn sie sich
jemandem anvertraut haben. So ist es gut, dass insbeson-
dere in den letzten fünf Jahren eine gesellschaftliche De-
batte in Gang gekommen ist, in der genau dieses Leid
nicht stigmatisiert, sondern in der klargestellt wird: Du
bist nicht schuld, wenn dir so etwas passiert ist, das ist
auch anderen Kindern passiert. – Nun traut man sich,
über ein Thema zu sprechen, das vor sieben, acht oder
zehn Jahren gesellschaftlich noch stärker ausgegrenzt
war.

Wie es den Betroffenen in all den Jahren ergangen ist,
vermag kaum einer von uns nachzuempfinden. Die
Opfer leiden oftmals ein Leben lang unter den Folgen
des Missbrauchs – hierzu können unter anderem Flash-
backs, Depressionen, Panikattacken, Suchterkrankun-
gen, selbstverletzendes Verhalten sowie ein generelles
Misstrauen gegenüber Menschen gehören –; das wird
durch die Schilderungen der Menschen deutlich, die sich
an die Missbrauchsbeauftragten gewendet haben. Die
Betroffenen schaffen es erst zum Teil Jahrzehnte später,
das Schweigen zu brechen und sich jemandem anzuver-
trauen.

Ich weiß, dass viele Opfer von sexuellen Übergriffen
und sexueller Gewalt diese heutige Debatte verfolgen,
zum Teil live vor dem Fernseher oder auf der Besucher-
tribüne. Ihre Courage, ihre traumatischen Erfahrungen
der Vergangenheit mit der Öffentlichkeit zu teilen, ver-
dient allerhöchste Anerkennung. Die geschilderten Er-
lebnisse lassen uns erschüttert und oft sprachlos zurück.

Ihre Berichte haben andere Betroffene dazu ermutigt,
den Missbrauch in Institutionen, Schulen und kirchli-
chen Einrichtungen zu thematisieren. Von vielen Kolle-
gen wurde auf das Fachgespräch mit dem Unabhängigen
Beauftragten, Herrn Rörig, im Familienministerium am
vergangenen Montag hingewiesen. Wir haben uns am
Rande dieser Veranstaltung darauf verständigt, Herr
Rörig, dass wir den Betroffenenrat, der im März seine
Tätigkeit aufnehmen wird, anhören werden, ich hoffe,
noch vor der Sommerpause. Wir müssen uns überlegen,
wo wir – neben der Tätigkeit in der neu einzurichtenden
unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung – helfen
können.

Herr Rörig, herzlichen Dank für Ihre segensreiche Ar-
beit. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, herzlichen
Dank für Ihr konstruktives Mitarbeiten an der Lösung
dieses gesamtgesellschaftlichen Problems. Wir sind auf
einem guten Weg. Liebe Frau Kollegin Dörner, wir wer-
den uns im weiteren Verfahren die guten Vorschläge der
Grünen und auch der Linken sehr gerne anhören.

Herzlichen Dank und schönes Wochenende.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808312400

Danke, Paul Lehrieder. – Ich schließe diese intensive,

fraktionsübergreifend sehr bewegende Aussprache und
wünsche Ihnen gute Weiterarbeit an diesem Thema.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3833 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich warte noch einen Moment, bis die Plätze einge-
nommen wurden. – Ich danke auch Ihnen auf der Besu-
chertribüne, dass Sie an dieser Debatte teilgenommen
haben. Vielen herzlichen Dank!

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Eva Bulling-Schröter, Kerstin Kassner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Übernahme der Energienetze durch Stadt-
werke erleichtern

Drucksache 18/3745
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Kein Wider-
spruch, dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Caren
Lay für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808312500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Privatisierungswelle, die sich seit den 90er-
Jahren vollzieht, neigt sich nun hoffentlich bald ihrem
Ende zu. Viele Kommunen wollen die Netze für Strom-
und Gasversorgung, die sie an private Betreiber überge-
ben, zum Teil verhökert haben, nun wieder zurück. Der
Zeitpunkt dafür ist genau richtig; denn bis zum Jahr
2016 werden über 2 000 Netzverträge auslaufen. Das ist
also eine Riesenchance für die kommunalen Stadtwerke.


(Beifall bei der LINKEN)


Netze in öffentlicher Hand haben so manchen Vorteil:
Die Preise können im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher moderat gestaltet werden, die Gewinne
bleiben bei den Kommunen und können sinnvoll rein-
vestiert werden. Wir als Linke sind überzeugt: Auch für
die Energiewende ist es gut und richtig, die Netze zurück
in öffentliche Hand zu bringen; denn dezentraler Ener-
gieversorgung gehört die Zukunft.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Demokratisch kontrollierte Stadtwerke sollen aus unse-
rer Sicht eine ganz zentrale Rolle bei der Energiewende
spielen.

Das wollen auch immer mehr Kommunen. Leider
werden sie durch die derzeitige Rechtslage viel zu oft
daran gehindert. Die privaten Betreiber und die Energie-
konzerne denken überhaupt nicht daran, auf dieses ein-
trägliche Geschäft zu verzichten, und ziehen vor Gericht –
selten ohne Erfolg. Eine Vielzahl von Vergabeverfahren
wurde aufgehoben. Teilweise wurden die Rekommunali-
sierungen rückabgewickelt, so geschehen beispiels-
weise in Meschede und in Olsberg sowie in der Ge-
meinde Bestwig. Das Oberlandesgericht Düsseldorf
hatte hier die Konzessionsvergabe der Städte an die je-
weiligen Stadtwerke gekippt.

Ein anderes Beispiel, das derzeit durch die Presse
geht, ist die Stadt Berlin. Deswegen freue ich mich, dass
der Antrag, den wir heute in den Bundestag einbringen,
über den wir heute diskutieren, auch von der Fraktion
der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus eingebracht
wird mit der Zielstellung, dass die Länder endlich ein-
mal eine Bundesratsinitiative auf den Weg bringen.


(Beifall bei der LINKEN)


Man muss sagen, dass der Bund bisher nicht gerade
hilfreich ist, das Bundeskartellamt und die Bundesnetz-
agentur jedenfalls nicht. Ja, das Selbstverwaltungsrecht
der Kommunen existiere, aber bei der Konzessionsver-
gabe, so sagen sie es, eben nur im Rahmen des Wettbe-
werbs. Andere Kriterien – regionale Wirtschaftskreis-
läufe, Bürgernähe, ökologischer Anspruch – fallen
hinten herunter. In der Praxis sind die Privaten dann häu-
fig im Vorteil. Grundlage dafür ist ein gemeinsamer
Leitfaden der beiden Bundesbehörden aus dem Jahr
2010. Das ist zwar kein Gesetz, sondern nur ein Leitfa-
den, aber aufgrund der unklaren Rechtslage wird dieser
Leitfaden häufig wie ein Gesetz behandelt.

Auch ein Urteil des BGH vom Dezember des letzten
Jahres bestätigt diese Auffassung. Ich muss dazu einfach
einmal sagen, dass ich das völlig absurd finde: Das
Grundgesetz garantiert den Vorrang der kommunalen
Selbstverwaltung, und wir müssen im Bundestag durch
Schaffung einer klaren Rechtslage dafür sorgen, dass
dieser Vorrang der kommunalen Selbstverwaltung end-
lich eingehalten werden kann.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt, ehrlich gesagt, überhaupt keinen Grund dafür,
dass die deutsche Interpretation übereifrig über das hin-
ausgeht, was die Europäische Union vorschreibt. Ich bin
sehr froh, dass wenigstens dagegen jetzt Klage beim
Bundesverfassungsgericht eingereicht wurde, in diesem
Fall von der Stadt Titisee-Neustadt. Ich hoffe, dass diese
Klage erfolgreich ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bevor es weitere Klagen gibt und wir auf die Ent-
scheidungen warten müssen, sollten wir im Bundestag
schnellstmöglich für Rechtssicherheit sorgen. Ich finde,
wir brauchen schnellstmöglich eine rechtliche Klarstel-
lung; denn es kann nicht sein, dass Kommunen, die öf-
fentliche Stadtwerke und öffentliche Netze wollen,
durch eine unklare Rechtslage auf Bundesebene daran
gehindert werden. Diesbezüglich müssen wir endlich
Rechtssicherheit herstellen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Frage ist doch, ob die Kommunen tatsächlich
selbst entscheiden können, ob sie Aufgaben der Daseins-
vorsorge selbst erbringen oder an Dritte vergeben. Des-
wegen fordern wir hier auch, dass die Möglichkeit der
Inhouse-Vergabe ganz klar rechtlich geregelt wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Deutsche Städtetag, der Deutsche Städte- und
Gemeindebund und auch der Verband kommunaler
Unternehmen sehen das genauso. Sie protestieren seit
Jahren gegen diese eben erläuterte erhebliche Einschrän-
kung. Auch Sie vertreten die Auffassung, dass die EU-
Konzessionsrichtlinie Inhousevergaben direkt an die
kommunalen Stadtwerke eindeutig ermöglicht. Ich darf





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

hier aus einer Erklärung von Februar 2012 zitieren; diese
ist jetzt nun schon drei Jahre alt. Dort heißt es:

Beim Wettbewerb um Strom- und Gasnetzkonzes-
sionen darf das Recht auf kommunale Selbstver-
waltung nicht eingeschränkt werden. Wir fordern
im Rahmen der derzeitigen Novelle des Energie-
wirtschaftsgesetzes klare Regelungen für eine
rechtssichere Konzessionsvergabe, die auch kom-
munale Netzübernahmen ermöglichen.

In einer Presseerklärung des Deutschen Städte- und Ge-
meindebundes vom letzten November wurde diese For-
derung noch einmal ganz klar wiederholt. Ich finde, zu
Recht; denn auch im Koalitionsvertrag wurde verspro-
chen, an dieser Stelle Rechtssicherheit herzustellen.
Aber auf diese Rechtssicherheit warten die Kommunen,
warten die Stadtwerke bis heute. Ich finde, das kann so
nicht bleiben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Laut Presseberichten ist es Bundeswirtschafts- und -ener-
gieminister Gabriel selbst, der angeblich hinter den Ku-
lissen auf die Bremse tritt, vielleicht um Zeit für die pri-
vaten Betreiber und die Energiekonzerne zu schinden.
Zeit ist hier im wahrsten Sinne des Wortes Geld, Geld,
das die Kommunen derzeit gut gebrauchen könnten. Ge-
lingt es nicht jetzt, die Netze in öffentliche Hand zu
übernehmen, ergibt sich die nächste Chance erst in
20 Jahren. Das geht so nicht. Wir brauchen schnellst-
möglich eine rechtliche Klarstellung.

Ich bitte daher um Unterstützung unseres Antrags.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808312600

Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1808312700

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wir reden über die Rekommunalisierung
der Energienetze. Beim Durchlesen des Antrages – ich
lese Ihre Anträge tatsächlich – habe ich festgestellt, dass
er mir unwahrscheinlich bekannt vorkommt. Nach einer
kurzen Recherche fand ich heraus, dass Sie in der Tat
vor fünf Jahren den Antrag „Energienetze in die öffentli-
che Hand“ gestellt hatten.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, wir bleiben am Ball! Wenn Sie es gemacht hätten, hätten wir heute keinen Antrag gestellt! – Caren Lay [DIE LINKE]: Wir stellen den Antrag auch in Berlin, weil es richtig ist!)


– Genau. – Beim Lesen beider Anträge habe ich festge-
stellt: Der jetzige Antrag ist eine Blaupause. Es gibt
leichte Veränderungen, aber letztendlich müssen wir Ih-
nen genau das, was wir Ihnen vor fünf Jahren schon ge-
sagt haben, auch dieses Mal sagen.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht haben Sie ja etwas dazugelernt!)


In dem Antrag, Frau Kotting-Uhl – es ist nicht Ihr An-
trag; aber ich spreche Sie an, weil Sie sich gerade einmi-
schen –, geht es um Folgendes.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Was sagen Sie denn jetzt zur Sache?)


– Locker, ich habe neun Minuten Redezeit.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Ja!)


Sie fordern mehr Staat, weniger Markt, eine verklausu-
lierte Verstaatlichung von Netzbetreibern und eine Re-
kommunalisierung ohne Risikobewertung. Das können
wir natürlich aus den folgenden drei Punkten nicht mit-
tragen.

Der erste Punkt ist: Das Modell „Mehr Staat und we-
niger privat“ ist kein Erfolgsmodell.


(Zuruf der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])


Ich kenne keine Volkswirtschaft auf der Welt, in der die-
ses Modell wirklich zum Erfolg geführt hat. Ich selbst
habe 28 Jahre lang in einer Volkswirtschaft gelebt, in der
man sich in der Tat redlich darum bemüht hat. Es hat
aber nicht zum Erfolg geführt, hat nicht dazu geführt,
dass dieses Modell „Staat vor Markt“ gegriffen hat. Eine
Verstaatlichung ist keine Garantie für Erfolg, ganz im
Gegenteil.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Und Privatisierung schon gar nicht!)


Rekommunalisierungen müssen immer die Ausnahme
bleiben. Sie haben vorhin auf die kommunale Selbstver-
waltung abgehoben.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Genau!)


Kommunale Selbstverwaltung heißt aber nicht, dass eine
Kommunalisierung per se dort erfolgt, wo es in irgendei-
ner Art und Weise möglich ist. Deswegen haben wir das
Subsidiaritätsprinzip.


(Zuruf der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


– Lassen Sie mich doch einmal ausreden, dann werden
Sie vielleicht klüger. Dann müssen Sie den Antrag nicht
ein drittes Mal stellen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wenn Sie es machen, dann müssten wir unseren Antrag nicht mehr stellen!)


Das Subsidiaritätsprinzip besagt eindeutig, dass die
Aufgabenverteilung, die Aufgabenerledigung so erfolgt,
dass zuerst der Private mit seiner privaten Initiative, mit
seiner privaten Eigenverantwortung dran ist. Erst dann,
wenn das nicht möglich ist, wenn das nicht greift, ist die
öffentliche Hand an der Reihe.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist nicht der Kern der Subsidiarität!)


Die Kommunalverfassungen der Länder lassen eine
Rekommunalisierung schon jetzt zu. Es gibt nämlich





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)

eine schwache und eine starke Subsidiarität. Die schwa-
che Subsidiarität besagt, dass Kommunen es genauso gut
machen müssen wie private Unternehmen. Die starke
Subsidiarität besagt, dass es Kommunen besser machen
müssen als private Unternehmen. Das müssen wir be-
achten. Wenn Sie dieses System infrage stellen, stellen
Sie generell die Systemfrage. Das wollen wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, das hat doch mit diesem Inhalt überhaupt nichts zu tun! – Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Stadtwerke und die Systemfrage? Also wirklich!)


Der zweite Grund dafür, dass dieser Antrag überflüs-
sig ist: Stadtwerke haben bereits jetzt die Möglichkeit,
Netze zu übernehmen. Wenn Sie sich einmal die Mühe
machen würden, zu recherchieren, welche Stadtwerke
welche Netze übernommen haben – das ist übrigens in
großer Zahl geschehen –, dann würden Sie sehr schnell
fündig werden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. In der
Kreisstadt Prenzlau in der Uckermark gibt es ein Stadt-
werk, und es wurden natürlich auch Netze übernommen.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Wer ist denn da Bürgermeister? – Weiterer Zuruf von der LINKEN)


– Das ist falsch, junge Frau. Da sind Sie aber richtig auf
dem Holzweg. Seit dem dritten Energiebinnenmarktpa-
ket gibt es die Entflechtung zwischen Betrieb und Erzeu-
gung; das wird Ihnen ja bekannt sein. Wenn Sie sagen:
„Es gibt keine rechtlichen Grundlagen“, muss ich Ihnen
antworten: Die rechtliche Grundlage ist das Energiewirt-
schaftsgesetz.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Ja! Das müsste geändert werden!)


Aus Ihrer Sicht muss eine Novelle her, aus unserer Sicht
nicht, weil dort alles Notwendige geregelt ist.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Koalitionsvertrag steht aber was anderes bei Ihnen! – Gegenruf des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Im Koalitionsvertrag steht viel! – Gegenruf der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, nehmen Sie etwa Abstand von Ihrem Koalitionsvertrag?)


Sie sagen: Es muss keine Risikobewertung geben. –
Aber im Energiewirtschaftsgesetz ist ganz klar geregelt:
Es muss eine Risikobewertung geben, und es gilt das
Prinzip der Subsidiarität. Das heißt, das Stadtwerk muss
es nachweislich besser machen als ein privater Dritter,
und zwar zum Vorteil des Kunden. Wenn diese Voraus-
setzung erfüllt ist, kann das Stadtwerk natürlich einen
Antrag stellen und das Netz übernehmen.

Sie haben auf die Transparenz abgehoben. In der Tat
wünscht sich das eine oder andere Stadtwerk bei der
Übernahme, dass es mehr Transparenz gibt und dass die
Daten offengelegt werden: die Kundendaten, die Daten
zum Netzbetrieb, zu den Kosten und zu allem, was dazu-
gehört. Aber die Gefahr besteht natürlich darin, dass es
zu Rosinenpickerei kommt. Denn wenn man alle Daten
offenlegt und sagt: „Das ist ein Netz, das gut läuft“, dann
entscheidet man aufseiten des Stadtwerkes vielleicht:
Dies wird nicht übernommen; aber das, was gut läuft,
wird übernommen. – Das geht natürlich nicht. Hier be-
steht also die Gefahr der Rosinenpickerei. Auch aus die-
sem Grund müssen wir Ihren Vorschlag ablehnen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was erzählen Sie denn da?)


Drittens. Die Netze sind nicht per se eine Cashcow.
Einen Goldesel mit Netzen wird es bei einer Übernahme
nicht geben. Es besteht die Möglichkeit – das sagen die
Stadtwerke, die Netze übernommen haben –, eine zu-
sätzliche Säule aufzubauen. Aber das ist keine Garantie
für Gewinn. Man braucht definitiv ein gutes Manage-
ment, man braucht unternehmerische Abwägung, und
man muss vor allen Dingen mit einem großen Investi-
tionsbedarf rechnen. Damit, dass man einfach nur sagt:
„Ich übernehme ein Netz, damit ist es gut, und ich ma-
che einen großen Gewinn“, ist es nicht getan. Es besteht
das Risiko eines großen Investitionsbedarfs, eines Inves-
titionsbedarfs, der in die Millionen geht. Deswegen muss
hier genau abgewogen werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird alles reguliert von der Bundesnetzagentur! Haben Sie davon schon mal was gehört?)


Außerdem muss man die Versorgungssicherheit ge-
währleisten; auch das ist nicht ganz einfach. Man muss
völlig neue Strukturen, Servicebereiche und Abteilungen
aufbauen und Mitarbeiter einstellen. Man hat ganz an-
dere Fixkosten und Lohnkosten. All das muss abgewo-
gen werden. Damit, dass man einfach nur sagt: „Ich
übernehme ein Netz“, ist es nicht getan.

Auch ein Scheitern ist möglich. Wenn ein Stadtwerk
scheitert, dann haben die Verluste Auswirkungen auf die
anderen Aufgaben der Verwaltung, nämlich auf die Auf-
wendungen für Kitas, Schulen, Vereine, Musikschulen,
Infrastruktur usw. Das alles muss beachtet werden.

Mein Fazit im Hinblick auf Ihren Antrag lautet: Stadt-
werke sind natürlich keine karitativen Einrichtungen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808312800

Kollege Koeppen, gestatten Sie eine Frage oder Be-

merkung der Kollegin Lay?


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1808312900

Bitte schön.


Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808313000

Verehrter Herr Kollege Koeppen, ich möchte Sie ers-

tens fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass
ich nicht die Ansicht vertreten habe, dass sich alle Kom-
munen zwingend um eine Neuvergabe bemühen müssen.

Zweitens. Sind Sie, wie ich, der Auffassung, dass die
Kommunen, wenn sie es wollen – in der Stadt Titisee-
Neustadt beispielsweise ist man parteiübergreifend der





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

Auffassung, dass die Netze in kommunale Hand über-
führt werden sollten –, wenigstens nicht durch eine un-
geklärte Rechtslage auf Bundesebene behindert werden
sollten? Das Stichwort „Energiewirtschaftsgesetz“ ha-
ben Sie genannt, den Leitfaden der beiden Bundesbehör-
den habe ich erwähnt. Durch diese Regelungen wird eine
rechtssichere Übernahme offenbar behindert. Sonst
würde es nicht so viele Urteile geben, die zur Folge ha-
ben, dass eine Rekommunalisierung rückabgewickelt
werden muss. Insofern frage ich mich, ehrlich gesagt, ob
Sie diese Position verstanden haben und ob Sie mir zu-
stimmen, dass schnellstmöglich eine Novelle zum Ener-
giewirtschaftsgesetz kommen muss.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1808313100

Ich habe die Position natürlich verstanden; aber ich

kann ihr nicht zustimmen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In den Koalitionsvertrag haben Sie etwas anderes geschrieben!)


Ich habe Ihnen doch gesagt: Es gibt viele Stadtwerke,
die Netze übernommen haben. Sie müssen sich einmal
die Mühe machen, zu recherchieren, wie viel Netze
– auch erfolgreich – übernommen wurden. Natürlich
gibt es hier und da Klagen; da müssen Sie schauen, wa-
rum geklagt wird. Aber wenn Stadtwerke aus welchen
Gründen auch immer ein Netz nicht übernehmen können
– das wird vielleicht eine Handvoll Stadtwerke betreffen,
vielleicht auch mehr –, dann können Sie doch nicht das
Energiewirtschaftsgesetz, das sonst hervorragend funk-
tioniert und die Übernahme von Netzen erlaubt,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es funktioniert an der Stelle überhaupt nicht!)


dafür verantwortlich machen, dass es in dem betreffen-
den Fall nicht läuft. Das funktioniert so nicht. Deswegen
kann ich Ihre Auffassung nicht teilen.

Ich bin auch nicht der Meinung, dass es generell eine
Rekommunalisierungswelle geben muss. Warum auch?
Es ist doch nicht so, dass ein privater Netzbetreiber per
se schlechter arbeitet als Stadtwerke – wo steht denn das
geschrieben? Ich habe doch vorhin gesagt, was alles be-
achtet werden muss. Deswegen muss man alles genau
abwägen und darf eine Rekommunalisierung nur durch-
führen, nachdem wirklich das gesamte Risiko bewertet
wurde.

Stadtwerke sind auch nicht prinzipiell und per se –
auch wenn das immer so dargestellt wird; Sie haben ja
aufgezählt, was da alles Tolles entstehen kann – karita-
tive Unternehmen,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Behauptet das jemand?)


sie sind keine Eier legenden Wollmilchsäue, sie dürfen
auch keinen riesigen Bauchladen vor sich her tragen,
sondern Stadtwerke sind im Prinzip für die Daseinsvor-
sorge da.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Dazu gehört die Energieversorgung!)


Wenn ich beobachte, was in den Stadtwerken teilweise
passiert, drängt sich mir der Eindruck auf: Das hat etwas
mit der Daseinsberechtigung zu tun: Viele Leute werden
in die Verwaltung eingestellt; man übernimmt die Müll-
versorgung, den Rettungsdienst, die Spaßbäder, die Ki-
nos, die Friseurläden, macht Catering. Das ist nicht die
Aufgabe der Stadtwerke!


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Da kann ich Ihnen sehr viele Stadtwerke benennen,
insbesondere im Bundesland Brandenburg, wo so etwas
immer wieder gemacht wird.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schaffen Sie doch die Stadtwerke generell ab!)


Das mit einem solchen Bauchladen muss auch nicht im-
mer gutgehen. Deswegen sage ich Ihnen ganz deutlich,
dass unter dem Deckmantel der Rekommunalisierung
eine Verstaatlichung der Netze und eine Enteignung der
Netzbetreiber nicht stattfinden darf und auch nicht statt-
finden wird; da sind wir davor!


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ideologe pur! Das ist doch Ideologie, was Sie da ablassen!)


Damit es nicht zu einem dritten Antrag kommen
muss, mache ich Ihnen einen Vorschlag: Am 20. März
– entweder Sie fahren selbst hin oder schicken Ihre Re-
ferenten – findet in Düsseldorf ein Praxisseminar vom
Behörden Spiegel – also frei jeglicher Lobbyistendiskus-
sion – zur Vergabe von Strom- und Gaskonzessionen
statt.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Behörden Spiegel ist frei von jeder Lobbyistendiskussion? Ist ja toll! – Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Da können wir doch Frau Lay hinschicken!)


Da wird unter anderem beraten: Was für rechtliche Be-
dingungen gibt es? Sind die notwendig?


(Caren Lay [DIE LINKE]: Nachhilfe brauchen wir nicht, aber ein besseres Gesetz!)


Reichen die aus? – Mir wurde gesagt: Das jetzige Gesetz
ist völlig ausreichend.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen das erzählt?)


Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei diesem Seminar.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Machen Sie doch einfach ein gutes Gesetz!)


Ihnen allen ein schönes Wochenende.


(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Lay [DIE LINKE]: Mein Gott!)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808313200

Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808313300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Koeppen, ich habe gedacht, am Freitagnachmittag
haben wir hier einen Punkt, wo man vielleicht mal eine
gemeinsame große Linie findet. Den Vortrag von Ihnen,
den ich gerade gehört habe, werde ich allen CDU-Bür-
germeistern, die ich kenne, empfehlen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch den CSU-Bürgermeistern! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nicht den Bürgermeistern, den Wählern muss man das sagen! Den CDUWählern!)


dass die mal lesen, was Sie hier erzählen. Das hat erstens
mit der Sache überhaupt nichts zu tun und zweitens auch
nichts mit den Debatten in den Kommunen, wo es um
die Frage geht: Was machen wir, wenn ein Konzessions-
vertrag ausläuft? – Da kann ich Ihnen eines sagen: Sie
haben im Jahr 2011 ein Energiewirtschaftsgesetz verab-
schiedet, in dessen § 46 – darum geht es, das ist der
Punkt an der Stelle – geregelt ist, dass die Kommune das
Wegerecht, das sie besitzt, nutzen kann, indem sie das
Netz selber betreibt oder jemand anders damit beauftra-
gen kann, ein anderes Stadtwerk oder, von mir aus, auch
einen Energiekonzern.


(Zuruf von der CDU/CSU: Kann sie doch machen! Ist doch Gesetzeslage!)


Das ist verfassungsrechtlich verankert. Uns geht es da-
rum, dass die Kommune selber frei entscheiden kann,
was sie tun will: Will sie ein eigenes Stadtwerk gründen
– was wir als Grüne immer wieder unterstützen würden;
das soll sie tun! – oder wechselt sie den Energiekon-
zern? – Das geht aber im Moment nicht. Sie haben näm-
lich 2011 das Gesetz so geändert, so verunklart, dass bei
jedem Fall, wo ein Energiekonzern heute der Netzbetrei-
ber ist und die Kommune sich entscheidet, einen anderen
Netzbetreiber zu beauftragen oder die Netze selber in die
Hand zu nehmen, das Ganze vor Gericht landet. Ich
kenne keinen einzigen Fall in Deutschland – keinen ein-
zigen Fall –, wo das aufgrund Ihrer schwarz-gelben No-
velle ohne Gerichtsprozesse gelaufen ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Unfug!)


Das führt im Ergebnis dazu, dass es eine totale
Rechtsunsicherheit gibt.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Denken Sie an Pinocchio!)


Dass Sie das selber erkannt haben, kann ich ja Ihrem Ko-
alitionsvertrag entnehmen; denn darin steht ja, dass die
Rechtsunsicherheit beim Übergang der Netze beseitigt
werden soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Caren Lay [DIE LINKE]: Richtig! Das steht da drin!)


Also: Gibt es nun ein Problem, oder haben Sie einen Ko-
alitionsvertrag unterschrieben, den Sie überhaupt nicht
verstanden haben?

Ich sage Ihnen ehrlich eines: Wir haben Sie 2011, zu-
sammen mit den Kollegen von den Sozialdemokraten
und den Linken, nach vielen Sachverständigenanhörun-
gen – das war die Debatte um den Atomausstieg und die
Energiegesetze, die dann nachfolgten – darauf hingewie-
sen: So geht das nicht. – Sie haben keine Regelung dazu
geschaffen: Wie ist der Kaufpreis? Wenn ein Netz über-
geht, was muss der zahlen, der das Netz vom anderen
übernimmt? – Das ist völlig unklar.

Sie haben keine Kriterien festgelegt, sondern haben
sich allgemein auf § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes
bezogen. Da stehen widersprüchliche Aussagen dazu,
was ein Energienetz erbringen soll. Das führt zu Rechts-
unsicherheit. Am Ende ist an jeder Stelle geklagt wor-
den.

Das ist Ihnen gesagt worden. Das haben Ihnen alle
Sachverständigen gesagt. Das hat Ihnen damals die Op-
position gesagt. Das ist in den Protokollen alles nachzu-
lesen. Und es ist genau so eingetreten. Sie können zum
Behörden Spiegel gehen, zu anderen Veranstaltungen
– die gibt es im Dutzend in diesem Land –, und da wer-
den Sie überall die gleiche Antwort bekommen: So, wie
es jetzt ist, ist es völlig untragbar, weil es ein Beschäfti-
gungsprogramm ist für Gerichte, für Berater und für An-
wälte. Daran haben manche vielleicht Spaß, weil sie da-
mit Geld verdienen. Aber den Kommunen nutzt es
nichts. Die können nicht frei entscheiden, was sie mit ih-
rem Netz machen wollen, ob sie die Energieversorgung,
das Netz in die eigene Hand nehmen oder ob sie einen
Dritten beauftragen wollen.

Jetzt habe ich die Hoffnung an die Kollegen der SPD
– wir haben hier in der letzten Wahlperiode sogar ge-
meinsame Gesetzesinitiativen vorgelegt –, dass an der
Stelle jetzt auch umgesetzt wird, was im Koalitionsver-
trag steht. Aber nachdem ich den Vortrag vom Kollegen
Koeppen gehört habe, scheint das ja noch eine größere
Überzeugungsaufgabe zu werden. Wir werden Sie da
nicht aus der Verantwortung entlassen. Auch an der
Stelle müssen Sie liefern, was Sie in der letzten Wahl-
periode versprochen haben. Das werden Ihnen auch die
kommunalen Spitzenverbände sagen, die unisono mei-
nen: So, wie es jetzt ist, muss sich das an der Stelle än-
dern.

Ich sage Ihnen auch noch: Ich glaube, dass die Rege-
lung damals in § 46 nicht nur miese Gesetzgebung war;
es war nicht einfach nur schlecht, es war mit Absicht
schlecht. Denn Sie verfolgten ein ganz bestimmtes Ziel.
Da war der Ausstieg aus der Atomkraft; es gingen den
Energiekonzernen Geschäftsfelder verloren. Da haben
Sie ganz bewusst gesagt: Wir machen ein schlechtes Ge-
setz, das Rechtsunsicherheit schafft, weil das nämlich
dazu führt, dass dann, wenn Gemeinderäte, Bürgermeis-
ter sagen: „Wir wollen einen anderen Netzbetreiber, wir





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

wollen weg von dem Energiekonzern, der das Netz heute
betreibt“, sie sich vor Ort rechtfertigen müssen, ob sie
jahrelange Gerichtsauseinandersetzungen eingehen wol-
len, ob sie sich mit der Rechtsabteilung eines Konzerns
auseinandersetzen wollen. Viele tun das nicht – das gilt
gerade für kleine Gemeinden im ländlichen Raum; eben
wurden hier auch Namen genannt; ich könnte da Dut-
zende Beispiele aus Nordrhein-Westfalen aufzählen –,
weil sie das einfach nicht verantworten können. Sie kön-
nen diese Auseinandersetzung nicht auf sich nehmen.

Ich sage Ihnen: Sie haben das mit voller Absicht ge-
macht. Nachdem ich Ihre Rede heute gehört habe, kann
ich daraus nur den Schluss ziehen: Sie wollen das genau
so weitertreiben. Sie wollen eben nicht zulassen, dass
eine Kommune frei über ihr Strom- und Gasnetz ent-
scheiden kann. Sie wollen es bei der Rechtsunsicherheit
belassen, damit das Netz am Ende bei einem der von Ih-
nen offensichtlich immer noch geliebten Energiekon-
zerne bleibt und nicht die Kommune die Handlungsmög-
lichkeiten hat. Da haben wir einen völlig anderen
Ansatz.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Kann schon sein! Deswegen regieren Sie auch nicht!)


Wir wollen, dass die Kommunen frei entscheiden kön-
nen, wie sie ihre Netze betreiben wollen, ob sie es selber
machen oder ob sie ein anderes Stadtwerk damit beauf-
tragen oder ob sie sich am Ende für den Verbleib bei ei-
nem Energiekonzern entscheiden. Das sollen die dann
selber wissen. Aber dazu muss das Energiewirtschafts-
gesetz in § 46 geändert werden.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808313400

Kollege Krischer, achten Sie bitte auf die Zeit.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808313500

Wenn Sie den Antrag der Linken ablehnen, werden

wir in nächster Zeit noch einmal eine konkrete Gesetzes-
initiative im Rahmen einer EEG-Novelle einbringen.


(Florian Post [SPD]: Wir sind schon dabei!)


Dann haben Sie die Debatte wieder. Das wird Ihnen
nicht verloren gehen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808313600

Der Kollege Johann Saathoff hat für die SPD-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Lay [DIE LINKE]: Jetzt bin ich echt gespannt!)



Johann Saathoff (SPD):
Rede ID: ID1808313700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren von den Linken,
ich freue mich, dass wir heute darüber sprechen, wie wir
die Kommunen bei der Vergabe von Netzkonzessionen
unterstützen können. Bevor ich Bundestagsabgeordne-
ter wurde, war ich nämlich nicht nur Bürgermeister einer
Gemeinde in Ostfriesland, sondern auch Geschäftsführer
einer Gesellschaft, die die Energienetze rekommunali-
sieren sollte, als der Konzessionsvertrag nach zwölf Jah-
ren auslief. Deshalb kann ich Ihnen sagen: Die Entschei-
dung für die Übernahme der Energienetze darf man sich
auf keinen Fall leicht machen.

Die Sympathie der Räte für die Rekommunalisierung
der Energienetze wächst. Mit der Übernahme des Netz-
betriebes durch Kommunen verbinden sich viele Hoff-
nungen – manchmal sogar die letzte Hoffnung. Mit Ih-
rem Antrag springen Sie genau auf dieses Pferd.

Man darf eine solch weitreichende Entscheidung aber
keinesfalls übereilt treffen.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im schlimmsten Fall kommen auf die Kommune finan-
zielle Lasten zu, die sie jahrelang handlungsunfähig ma-
chen.

Aus meinen Erfahrungen kann ich berichten, dass ein
Ausschreibungsverfahren auch Vorteile haben kann: Die
Gemeinde muss sich erst einmal ausführlich mit dem
Netz beschäftigen


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, völlig klar! Das tut sie auch!)


und entsprechende Netzdaten erheben. Erst dann erfährt
die Gemeinde, wie viele Meter Leitung auf einen Ab-
nehmer kommen, welche Kosten für den Netzbetrieb
und die Instandhaltung entstehen,


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr solltet euch mit dem Koalitionsvertrag beschäftigen!)


und natürlich auch, was bei welchem Risiko verdient
werden kann.

Um die Position der Kommune zu stärken, wollen wir
in der Koalition dafür sorgen, dass die Altkonzessionäre
ihrer Pflicht zur Datenübermittlung an die Gemeinden
auch nachkommen.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Absolut!)


Durch mehr Transparenz fällt es den Kommunen leich-
ter, in den Verhandlungen mit dem Netzbetreiber ein für
sie positives Ergebnis zu erzielen, und das ist unser Ziel.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Ja, genau!)


In diesem Fall gibt es auch kein Schwarz-Weiß. Sie
stellen es in Ihrem Antrag so dar, als würde immer ein
großer Energiekonzern – ein Privater, wie Sie ihn nen-
nen – gegen die kleine Gemeinde stehen. Tatsächlich
gibt es aber eine ganze Reihe von Kooperationsmöglich-
keiten, durch die die Gemeinde Teil einer Netzbetriebs-
gesellschaft wird, ihre Ziele verfolgen und zusätzlich ei-
nen größeren finanziellen Nutzen aus dem Netzbetrieb
ziehen kann als vorher.

Das Geschäftsmodell der Rekommunalisierung be-
steht schließlich einzig und allein aus der Zinstransfor-





Johann Saathoff


(A) (C)



(D)(B)

mation. Es gibt für von der Bundesnetzagentur akzep-
tierte Investitionen im Netz 9,05 Prozent Verzinsung.
Geld auf dem Kapitalmarkt bekommt man bekanntlich
wesentlich günstiger. Außerdem können die kommuna-
len Belange auch heute schon in den Ausschreibungen
berücksichtigt werden. Die vielen neuen Stadtwerke ha-
ben sich in den letzten Jahren ja trotz der aktuellen
Rechtslage gegründet.

Bei der Gewichtung von Ausschreibungskriterien
sehe ich noch deutlich mehr Spielraum als bei der In-
house-Vergabe an Eigenbetriebe. Wie schon mehrfach
gesagt, haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, dass
wir in diesem Bereich etwas tun werden.

Beim Bewertungsverfahren sehe ich auch einen drin-
genden Handlungsbedarf – gerade im Fall einer Rekom-
munalisierung. Egal ob die Kommune einen viel zu ho-
hen Betrag an den Altkonzessionär zahlen muss oder ob
dieser sie wegen eines vermeintlich viel zu niedrigen Be-
trages verklagt: Beide Fälle bedeuten für die Städte und
Gemeinden ein enormes finanzielles Risiko, und von
diesem Damoklesschwert wollen wir sie befreien.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie sich ganz be-
wusst sind, was Ihr Antrag in der Praxis bedeuten kann.
Ich will hier einmal aus meinen Erfahrungen berichten:
Die Rekommunalisierung zu erleichtern, kann nämlich
auch bedeuten, dass man die Privatisierung der Netze er-
leichtert.

Um die Netze übernehmen zu können, benötigen die
allermeisten Kommunen Partner, und zwar auf zwei
Ebenen: Zum einen macht es Sinn, Kommunalverbünde
zu gründen, um eine gewisse Mindestgröße zu haben,
damit man Marktmacht hat und bei der Auftragsvergabe
angemessen auftreten kann. Zum anderen benötigen die
Kommunen aber auch ausreichend Eigenkapital für den
Kauf und vor allen Dingen für die Finanzierung der
Netze.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Ja, das ist doch gut!)


Das besorgen sich die in der Regel klammen Kommu-
nen, indem sie sogenannte strategische Partner mit in die
Netzgesellschaft aufnehmen, und das ist natürlich ein
Partner aus der Privatwirtschaft.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808313800

Kollege Saathoff, gestatten Sie eine Frage oder Be-

merkung des Kollegen Krischer?


Johann Saathoff (SPD):
Rede ID: ID1808313900

Aber selbstverständlich, Frau Präsidentin.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Aber nur, wenn es etwas Schlaues ist! – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das ist aber wahrscheinlich nichts! – Gegenruf der Abg. Sylvia KottingUhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist immer was Schlaues!)


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808314000

Herr Kollege Saathoff, ich verstehe, ehrlich gesagt,

Ihren Vortrag nicht ganz.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Er versteht es nicht!)



Johann Saathoff (SPD):
Rede ID: ID1808314100

Das kann ich nachvollziehen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1808314200

Sie reden hier darüber, was der Rat einer Gemeinde,

einer Stadt diskutieren muss, wenn der Konzessionsver-
trag ausläuft. Dieser wird dann entweder verlängert, oder
er wählt einen neuen Konzessionsnehmer. Dabei muss er
sich all diese Fragen stellen: Habe ich das technische
Know-how? Kann ich das selber machen? Habe ich das
Kapital? Will ich das überhaupt? Gehe ich das Risiko
ein? – Das alles ist richtig.

Das ist hier aber gar nicht unser Punkt; darum geht es
hier gar nicht. Es geht allein um die Frage: Wollen Sie
den Kommunen die Möglichkeit eröffnen, wie es eigent-
lich im Energiewirtschaftsgesetz angelegt und verankert
ist, selbst frei zu entscheiden, indem Sie die rechtlichen
Hürden und die Rechtsunklarheit, die 2011 durch die
letzte große EnWG-Novelle hervorgerufen wurden und
Übertragungen unmöglich machen, beseitigen, oder wol-
len Sie im Grunde genommen alles so lassen, wie es ist?


Johann Saathoff (SPD):
Rede ID: ID1808314300

Herr Kollege Krischer, als erste Nachfrage zu einer

meiner Reden hätte ich mir schon eine etwas intelligen-
tere Frage gewünscht.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn? – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben es ja gleich gesagt!)


Ich sage Ihnen auch, warum. Ich habe deutlich gemacht,
dass es bestimmte Bereiche gibt, in denen wir Hand-
lungsbedarf sehen, zum Beispiel bei der Frage der Be-
wertung der Netze: Nach welchen Verfahren bewerten
wir die Netze? Wie müssen die Preise ermittelt werden?
Das können Sie aus meiner Sicht durchaus bemängeln
und sagen: Da besteht für die Kommunen eine Rechtsun-
sicherheit. Da muss Abhilfe geschaffen werden. – Das
habe ich gerade vorgetragen.

Als Sie mich mit Ihrer Frage unterbrochen haben,
ging es darum: Was passiert eigentlich, wenn man nicht
ausreichend über das, was man vorhat, nachdenkt und
die Rahmenbedingungen nicht ausreichend berücksich-
tigt?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wollen Sie das nicht den Kommunen überlassen?)


Ein Beispiel aus der Praxis möchte ich Ihnen gerne mit-
geben, damit Sie sehen, dass es nicht automatisch richtig
ist, Netze zu privatisieren.





Johann Saathoff


(A) (C)



(D)(B)


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das behaupte ich ja gar nicht! Nur die, die es wollen!)


Das kann durchaus richtig sein, aber es muss nicht auto-
matisch richtig sein; das sage ich Ihnen noch einmal in
aller Deutlichkeit.

Wir von der SPD-Fraktion sind natürlich dafür, dass
die Kommunen bei der Beantwortung der Frage: „Wol-
len wir die Netze selber betreiben, oder soll das eine
Netzgesellschaft machen?“ freier sind als bisher.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Die noch bestehenden Beschränkungen wollen wir auf-
heben. Ich habe Ihnen von dem Bewertungsergebnis be-
richtet.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das hat er nicht gehört!)


Aber auf der anderen Seite muss diese Entscheidung gut
abgewogen werden, man muss schon ganz genau nach-
denken. Von daher ist es richtig, Zeit zu haben, sich mit
dem bisherigen Energieversorger auseinanderzusetzen
und sich über die Übertragung Gedanken zu machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt berichte ich über meine Erfahrungen, warum Re-
kommunalisierung – Herr Krischer, es wäre schön, wenn
Sie dann nicht auf Ihr Handy guckten – auch eine Priva-
tisierung bedeuten kann.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie aufhören, abzulesen!)


Um die Netze übernehmen zu können, benötigen die al-
lermeisten Kommunen auf zwei Ebenen Partner. Zum ei-
nen sind das die Kommunalverbünde; das habe ich ge-
rade gesagt. Zum anderen brauchen die Kommunen für
die Finanzierung der Netze Eigenkapital. Das machen
sie in dem Fall so, dass sie sich einen strategischen Part-
ner besorgen. Das heißt, sie suchen sich einen Partner
aus der Privatwirtschaft.

Dieser Partner will in der Regel um die 50 Prozent ha-
ben. Manche sagen: 49 Prozent reichen mir. – Es gibt
aber auch welche, die sagen: Es ist mir wichtig, 51 Pro-
zent zu haben. – Das heißt, dieser Partner aus der Privat-
wirtschaft liefert das Eigenkapital und hat damit die Si-
cherheit, dass 50 Prozent dessen, was am Netz verdient
werden kann, in die private Hand geht.

Im Fall Ostfriesland sah die Situation so aus, dass der
Altkonzessionär ein Unternehmen im Besitz der Land-
kreise war. Durch die Rekommunalisierung wären die
Netze auch in die Hände eines Privatunternehmens ge-
langt, wären also zu 50 Prozent in den Händen einer
Kommune, aber eben auch zu 50 Prozent in den Händen
eines Privatunternehmens. Damit liegt eher eine Privati-
sierung als eine Kommunalisierung vor. Was das für Ar-
beitsplätze usw. bedeutet hätte, brauche ich hier nicht
vorzustellen. Es hat gutgetan, sich die Angelegenheit im
Verfahren mehr als einmal durch den Kopf gehen zu las-
sen und mit dem privaten Versorger eine Lösung zu fin-
den, damit das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet
wird.

„Sacht loopen kummt van sülmst“ bedeutet, dass man
mit einiger Erfahrung eher gründlicher als zügiger wird.
In diesem Fall ist das auch gut so. Daher wollen wir den
Kommunen durch die Vergaberegeln Gelegenheit geben,
sich ausreichend Gedanken vor der endgültigen Ent-
scheidung zu machen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eher Lebensberatung als Rechtsberatung, was Sie gemacht haben!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808314400

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege

Karl Holmeier.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1808314500

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Mit dem Antrag der Fraktion Die Linke soll die Über-
nahme der Energienetze durch Stadtwerke erleichtert
werden. Wieder einmal suggeriert die Linke den Men-
schen, dass sie der Bundesregierung die politischen The-
men diktiert. Genau das Gegenteil ist der Fall.


(Lachen bei der LINKEN)


Wir bestimmen den Weg, und Sie laufen uns hinterher.


(Lachen bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Lay [DIE LINKE]: Aber beim Mindestlohn war es genau umgekehrt!)


Das Thema der Rekommunalisierung beschäftigt uns
schon seit vielen Jahren. Es wurde bereits gesagt, dass es
absehbar ist, dass in der nächsten Zeit viele Netzkonzes-
sionen auslaufen, die vor 20 Jahren vergeben wurden.
Wir haben das Thema daher in unserem Koalitionsver-
trag aufgegriffen. Es heißt dort – das wurde schon ein-
mal angesprochen –:

Wir werden das Bewertungsverfahren bei Neuver-
gabe (z. B. bei der Rekommunalisierung) der Ver-
teilernetze eindeutig und rechtssicher regeln sowie
die Rechtssicherheit im Netzübergang verbessern.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Dann machen Sie es doch auch!)


So steht es in unserem Koalitionsvertrag. Aus diesem
Grund arbeitet die Bundesregierung aktuell an einem
entsprechenden Gesetzentwurf zur Novellierung des
Energiewirtschaftsgesetzes.

Sie fordern in Ihrem Antrag, die Energienetze wieder
in die Hände der Kommunen zu geben, Stichwort
„Rekommunalisierung“. Als langjähriger Bürgermeister
kann ich Ihnen umfassend über die Stärken der Kommu-
nen berichten. Die Kommunen nutzen nämlich die Mög-





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)

lichkeiten, die sich ihnen bieten. Ich habe zum Beispiel
in meiner Gemeinde ein eigenes kommunales Breitband-
netz aufgebaut. Das war eine richtige Entscheidung.

Sehr verehrte Damen und Herren, ich traue unseren
Kommunen sehr viel zu und kann jede Kommune nur
beglückwünschen, wenn sie den Wettbewerb mit ande-
ren Marktteilnehmern sucht und sich dem auch stellt.
Kommunen übernehmen zum Teil auch eine tragende
Rolle in der Energieerzeugung. In meiner Heimat betrei-
ben viele Kommunen Hackschnitzelkraftwerke und Bio-
massekraftwerke, alle mit großem Erfolg. Es kann daher
für alle Beteiligten nur von Vorteil sein, wenn sich Kom-
munen zum Beispiel auf der Ebene von Zweckverbän-
den zusammenschließen und über das Thema diskutieren
und wenn Möglichkeiten geschaffen werden, selbst ein
Stromnetz zu betreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aus meiner Sicht machen energiewirtschaftliche Tä-
tigkeiten von Kommunen aber nur dann Sinn, wenn sie
tatsächlich geeignet sind, Marktstrukturen zu verbessern.
Das muss geprüft werden. Eine Rekommunalisierung
um jeden Preis darf es nicht geben. Rekommunalisie-
rung darf keine Flucht in öffentlich-rechtliche Rechtsfor-
men sein, um die Kartellaufsicht zu unterlaufen und von
den Bürgern höhere Gebühren einzufordern.

Eine Kommune muss wirtschaftlich arbeiten. Daher
kommt eine Konzessionsübernahme für mich nur in Be-
tracht, wenn sie tatsächlich wirtschaftlich ist und nicht
zulasten der Effizienz geht. Eine Zersplitterung der
Netze muss verhindert werden. Je kleinteiliger die Netze
sind, desto höher ist der Regulierungsaufwand. Ein ho-
her Regulierungsaufwand birgt die Gefahr von Kosten-
steigerungen. Diese werden am Ende beim Endverbrau-
cher abgeladen. Auch dazu darf es nicht kommen.

Es gibt also eine Menge zu beachten, wenn wir die
Rahmenbedingungen gesetzgeberisch neu auf den Weg
bringen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass uns die Bun-
desregierung bald einen ausgewogenen Regelungsent-
wurf vorlegen wird.

Was ich ablehne, ist die von den Linken geforderte In-
house-Vergabe der Netze an kommunale Unternehmen.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Warum?)


Die Übernahme eines bisher privatwirtschaftlich betrie-
benen Energienetzes durch die Kommune selbst würde
erhebliche europarechtliche Probleme aufwerfen. Sie
könnte der EU-Kommission den Anlass bieten, die gel-
tende sogenannte De-minimis-Regelung in der EU-Ener-
giebinnenmarktrichtlinie grundsätzlich infrage zu stel-
len.

Meine Damen und Herren, die De-minimis-Regelung
ist vor Jahren auf deutschen Wunsch in die EU-Energie-
binnenmarktrichtlinie aufgenommen worden. Sie ist für
die Kommunen, die Stadtwerke haben, von ganz großer
Bedeutung. Durch die Sonderregelung werden die über-
wiegend kleineren und mittleren Stadtwerke im Gegen-
satz zu den großen Energieversorgungsunternehmen von
einer Reihe aufwendiger Pflichten, zum Beispiel der
Gründung einer separaten Netzgesellschaft, befreit.

Es muss also sehr wohl abgewogen werden, welchen
Weg wir in dieser Sache einschlagen wollen. Ich freue
mich daher schon jetzt auf den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung und auf die inhaltliche Diskussion im
Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen allen ein schö-
nes Wochenende.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808314600

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Florian Post

das Wort.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Florian Post (SPD):
Rede ID: ID1808314700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Ich hätte nie erwartet, dass am Freitag-
nachmittag zu diesem Punkt so eine doch aufgeheizte
Debatte stattfindet.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich auch nicht!)


Aber es geht um ein wichtiges Thema. Denn das sonst
vielleicht langweilig erscheinende Thema Konzessions-
vergabe rückt in der ganzen Energiewendedebatte und
auch in der Diskussion um die Rekommunalisierung im-
mer mehr in den Blickpunkt.

Seit 2007 haben über 80 Kommunen eigene Stadt-
werke neu gegründet und 200 Gemeinden selbst Konzes-
sionen für Stromnetze übernommen. Dazu zählen Groß-
städte wie Stuttgart, Dresden und Hamburg, aber auch
kleinere Kommunen wie Putzbrunn in Bayern mit 6 300
Einwohnern. Allein in Bayern laufen bis 2017 mehr als
200 Konzessionsverträge aus. Wir sagen deutlich, dass
Kommunen ebenso für eine preiswerte, sichere und effi-
ziente Stromversorgung sorgen müssen wie ein privater
Mitbewerber.

Der Kollege Holmeier hat schon aus dem Koalitions-
vertrag zitiert. Ich hoffe, dass dieser Punkt im Koali-
tionsvertrag nach wie vor Gültigkeit hat. Da steht ein-
deutig, dass wir die rechtlichen Rahmenbedingungen der
Netzübergabe konkretisieren, damit es keine Rechtsunsi-
cherheit für die Kommunen gibt. Insofern kommen wir
Ihrer Forderung, Frau Kollegin Lay, nach. Sie haben ja
nichts anderes gefordert, als hier Rechtssicherheit herzu-
stellen.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Nur wann?)


Der Koalitionsvertrag – zum Nachlesen: Seite 59 –, ist
da sehr eindeutig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Das ist ja noch kein Gesetz! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann macht es auch!)






Florian Post


(A) (C)



(D)(B)

Wir werden noch in diesem Jahr das Gesetzesvorhaben
auf den Weg bringen


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr habt gerade aber etwas anderes erzählt!)


und es mit Ihnen zusammen, Herr Krischer, verabschie-
den; ich freue mich schon auf die Diskussionen im Wirt-
schaftsausschuss. Dann werden wir auch klarstellen,
dass die kommunalen Betriebe bzw. die Kommunen
schon jetzt Vorteile bei der Vergabe von Konzessionen
haben, beispielsweise durch die Gewichtung der in § 1
des Energiewirtschaftsgesetzes definierten Kriterien der
Versorgung, nämlich möglichst sicher, preisgünstig, ver-
braucherfreundlich, effizient und umweltverträglich.

Es kann nicht sein – auch das wurde schon richtig be-
merkt –, dass private Konkurrenten oder auch Kommu-
nen mit zu hoch angesetzten Kaufpreisen, überzogenen
Entflechtungskosten und damit verbundenen jahrelangen
Rechtsstreitigkeiten solche Verfahren und Prozesse in
die Länge ziehen. Diesem ungerechten Abschreckungs-
verhalten werden wir mit rechtlichen Klarstellungen und
Informationspflichten entgegentreten. Es ist für uns
wichtig, dass ein gesunder, offener und diskriminie-
rungsfreier Wettbewerb zwischen Kommunen und priva-
ten Betreibern herrscht und dass die Bürgerinnen und
Bürger einen optimalen Netzbetrieb in Städten und Ge-
meinden erhalten.

Einen Blankoscheck für Kommunen, der darin be-
stünde, einem kommunalen Unternehmen grundsätzlich
den Vorrang zu geben, lehne ich allerdings ab. Wenn ein
kommunales Unternehmen in das Bieterverfahren ein-
tritt, muss das kommunale Unternehmen selbstverständ-
lich mindestens genauso gut wie der private Anbieter
sein, um den Zuschlag erhalten zu können. Denn der
kommunale Betrieb ist kein Selbstzweck, sondern muss
immer dem Wohle der Bürger dienen und sich an objek-
tiven Kriterien messen lassen.

Wir wollen einen gesunden, offenen und diskriminie-
rungsfreien Wettbewerb herstellen, der keine Gräben
zwischen öffentlicher und privater Wirtschaft schafft.
Durch Wettbewerb und oft auch durch Kooperationen
können wir die Effizienzpotenziale der freien Wirtschaft
nutzen und sie mit gemeinwohlorientierten kommunalen
Zielen wie Verbraucher- und Umweltschutz verbinden.
Eine Stadt oder Gemeinde, für die eine diskriminie-
rungsfreie Ausschreibung mit selbstgewählter Gewich-
tung der Versorgungsziele und kommunalem Eigeninter-
esse als Nebenziel allerdings eine zu hohe Hürde für den
neu zu gründenden Netzbetreiber darstellt, ist dann viel-
leicht nicht unbedingt der beste Akteur, um das Netz zu
betreiben. Das muss man natürlich einsehen.

Die energiepolitische Kernfrage nach dem richtigen
Betreiber eines Stromnetzes hat viele verschiedene rich-
tige Antworten. Für die optimale Lösung ist es wichtig,
dass wir die rechtlichen Rahmenbedingungen, wie im
Koalitionsvertrag eindeutig festgelegt, konkretisieren
und den Kommunen hier Rechtssicherheit geben.

Ich bin mir sicher, dass wir hier in der Koalition, aber
auch in der AG Wirtschaft und Energie und im Aus-
schuss gut zusammenarbeiten werden; denn es ist ein
wichtiges Thema, das sich nicht für Parteiengezänk eig-
net.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Ja, das stimmt allerdings!)


Ich muss zugeben – das fällt mir schwer –: Der Kollege
Krischer hat schon viel Richtiges zu diesem Thema ge-
sagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das möchte ich ausdrücklich loben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!)


Ich bin mir sicher, dass wir hier eine intelligente und zu-
kunftsfähige Lösung im Sinne der kommunalen Daseins-
vorsorge finden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1808314800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3745 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 4. Februar 2015, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute.