Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsereTagesordnung eintreten, möchte ich an ein historischesEreignis erinnern, das für die Geschichte unseres Landesund für die Parlamentsgeschichte im Besonderen zwei-fellos von herausragender Bedeutung ist.Morgen, am 23. März 2013, jährt sich der 80. Jahres-tag der Verabschiedung des sogenannten Ermächti-gungsgesetzes. In der Krolloper, wo der Reichstag nachdem verheerenden Brand vom 27. Februar zusammen-trat, beschlossen am 23. März 1933 die Abgeordnetendas sogenannte Gesetz zur Behebung der Not von Volkund Reich – mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit,allein gegen die Stimmen der Sozialdemokraten unter ih-rem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Otto Wels. Des-sen denkwürdige und heldenhafte Rede war, in den Wor-ten seines Kollegen Wilhelm Hoegner, ein – ich zitiere –„letzter Gruß an das verblichene Zeitalter der Mensch-lichkeit und des Menschenrechts“. Bei der Abstimmungim Reichstag fehlten damals bereits 107 Abgeordnete:neben 26 Sozialdemokraten die 81 Fraktionsmitgliederder KPD, die bereits in Haft genommen waren oder sichaus berechtigter Angst um ihr Leben auf der Flucht be-fanden.Mit der Übertragung der gesetzgebenden Gewalt vomParlament auf die Exekutive wurde die Gewaltenteilungaufgehoben, die parlamentarische Demokratie aufgege-ben und der Weg in die Diktatur zementiert, der seit dem30. Januar 1933 mit beispiellosem politischem Terroreingeschlagen worden war.Siegestrunken, aber in der Sache leider nicht einmalfalsch triumphierte der Völkische Beobachter über die,so wörtlich, „Kapitulation des parlamentarischen Sys-tems“. Richtig ist: Der 23. März steht für die mutwilligeZerstörung einer Demokratie, die freilich nicht erst andiesem Tag begonnen hat. Das Ermächtigungsgesetz be-deutete nach der Auslieferung des Staates durch die kon-servativ-reaktionären Machteliten Ende Januar dieSelbstaufgabe des Parlamentes, dessen verfassungs-rechtliche Kompetenz und Verantwortung am Ende nurnoch von einer einzigen Partei hochgehalten wurde. Be-gleitet wurde dies, wie Sebastian Haffner im bitterenRückblick festhielt, von einem in der Gesellschaft – ichzitiere – „sehr weit verbreiteten Gefühl der Erlösung undBefreiung von der Demokratie“.Tatsächlich litt die politische Kultur der WeimarerRepublik von Beginn an unter der Skepsis gegenüberdem parlamentarischen System, den Vorbehalten gegen-über dem Prinzip der Repräsentation und dem Miss-trauen in die pluralistisch-demokratischen Entschei-dungsprozesse. Zur historischen Wahrheit gehörtdeshalb: Die Republik ging keineswegs nur an ihren vie-len Gegnern zugrunde, die es zweifellos gab, sondernauch und gerade durch das Versagen der Demokraten.Die Doppelerfahrung des Scheiterns von Weimar undder nationalsozialistischen Diktatur prägt den Geist un-seres Grundgesetzes; aus ihr folgt der Gedanke einerwehrhaften Demokratie. Der Parlamentarismus inDeutschland ist auch heute nicht völlig unangefochten,aber er erweist sich auch und gerade bei Herausforderun-gen als robust und vital, getragen von der Einsicht vonDemokraten, dass sie eine gemeinsame Verantwortunghaben, die noch wichtiger ist als der legitime jeweiligepolitische Ehrgeiz.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bit-ten, sich für einen Augenblick von den Plätzen zu erhe-ben. – Wir verneigen uns heute vor allen Opfern der na-tionalsozialistischen Diktatur und erinnern uns dankbarall derer, die während und nach der brutalen Zerstörungder ersten deutschen Demokratie durch ihren Mut undihre Tatkraft den politischen, sozialen und moralischenWiederaufbau unseres Landes ermöglicht haben. – Vie-len Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie daraufaufmerksam machen, dass die für heute ursprünglichbeantragte Aktuelle Stunde zum Thema „Umvertei-lungspläne der Koalition und Auswirkungen auf Durch-
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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schnittsverdiener und sozial Benachteiligte – Schul-denfinanzierte Steuersenkungen und Rente mit 69“ nichtstattfindet. Der entsprechende Antrag ist zurückgezogenworden.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung zum Stand derAufarbeitung der SED-Diktatur– Drucksache 17/12115 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Staatsminister bei der Bundeskanzlerin,Bernd Neumann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Imnächsten Jahr feiern wir den 25. Jahrestag des Mauer-falls in Berlin, der eine entscheidende Wegmarke amEnde der unseligen kommunistischen Diktatur in Ost-deutschland war. 40 Jahre lang hatten 17 MillionenDeutsche in der DDR unter der SED-Diktatur gelitten,waren ihrer Freiheit beraubt; Menschenrechte wurdenmit Füßen getreten, Hunderttausende von Bürgern wur-den bespitzelt, Andersdenkende und Regimekritiker wa-ren inhaftiert und wurden drangsaliert – auch dann,wenn sie nur die DDR verlassen wollten. Millionen vonMenschen wurden also ihrer Zukunft beraubt.Auch über 20 Jahre nach der deutschen Einheit ist dieAufarbeitung der kommunistischen Diktatur in der SBZund in der DDR eine für Staat und Gesellschaft notwen-dige und herausragende Aufgabe. Einen Schlussstrichunter das begangene Unrecht kann und wird es nicht ge-ben.
Die 40-jährige DDR-Diktatur darf nicht verdrängt,nicht vergessen und schon gar nicht verharmlost undverniedlicht werden. Dies sind wir nicht nur den Opfernschuldig, sondern auch den Werten unserer Demokratie,aber auch den Menschen, die die friedliche Revolution1989 erst möglich machten.Die Regierungsparteien hatten sich daher für die17. Wahlperiode vorgenommen, die Aufarbeitung weiterzu verstärken, um einer Verklärung und Verharmlosungder SED-Diktatur entgegenzuwirken. Der von der Bun-desregierung vorgelegte Bericht zum Stand der Aufar-beitung der SED-Diktatur, der heute erstmals Gegen-stand der Debatte ist, dokumentiert in umfassender undeindrucksvoller Weise auf fast 300 Seiten, was in denletzten Jahren an Aufarbeitung geleistet wurde.Beigetragen haben verschiedene Bundesressorts undzentrale Einrichtungen des Bundes für die Aufarbeitungder SED-Diktatur, die zu meinem Geschäftsbereich ge-hören, so etwa die Bundesstiftung zur Aufarbeitung derSED-Diktatur, der Bundesbeauftragte für die Unterlagendes Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, dasHaus der Geschichte, das Deutsche Historische Museumsowie das Bundesarchiv, aber auch alle 16 Länder,Opferverbände wie auch Einrichtungen von Gedenkstät-ten. Der Bericht belegt, dass die Bundesregierung demAuftrag des Koalitionsvertrags, die Aufarbeitung zu ver-stärken, umfänglich nachgekommen ist.Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich jetzt nur dieAktivitäten des Bundes kurz darlege:Grundlage dafür bildet die 2008 vorgelegte Gedenk-stättenkonzeption des Bundes. Ich habe in meiner Amts-zeit bewusst die Mittel für die Aufarbeitung beider deut-scher Diktaturen um 50 Prozent erhöht. Fast alle indieser Konzeption thematisierten Maßnahmen sind be-reits abgeschlossen oder befinden sich in der Umset-zung.So wurden – um nur einige Beispiele zu nennen – dieGedenkstätten Berliner Mauer, Deutsche TeilungMarienborn, Leistikowstraße – also das ehemalige sow-jetische Untersuchungsgefängnis – wie auch die Erinne-rungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in die institu-tionelle Förderung des Bundes aufgenommen. An derBernauer Straße öffnete 2009 das Besucherzentrumseine Pforten. 2010 konnte der erste Abschnitt der Open-Air-Ausstellung auf dem ehemaligen Mauerstreifen fol-gen. Im September 2011 eröffnete die Bundeskanzlerindie Dauerausstellung zum Alltag der deutschen Teilungim „Tränenpalast“ am Bahnhof Friedrichstraße. Im Ja-nuar 2012 konnte Haus 1 in der Normannenstraße, dieehemalige Zentrale des Ministeriums für Staatssicher-heit, nach denkmalgerechter Instandsetzung der Öffent-lichkeit wieder zugänglich gemacht werden. Darüber hi-naus wurden unter anderem Sanierungsmaßnahmen mitKosten in Millionenhöhe wie auch Projekte finanziert,etwa beim ehemaligen Stasiknast in Hohenschönhausen,im Zuchthaus Cottbus, in der „Runden Ecke“ in Leipzigwie im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau.Auch an der ehemaligen Zonengrenze bzw. am soge-nannten Todesstreifen, der die DDR abtrennte, findenmit Mitteln des Bundes wichtige Aktivitäten statt. Ichnenne nur Beispiele wie das Grenzlandmuseum Eichs-feld, das Deutsch-Deutsche Museum Mödlareuth undPoint Alpha.Meine Damen und Herren, alle genannten Einrichtun-gen arbeiten dagegen an, die Verbrechen vergessen zumachen und das System der DDR schönzureden. Zeit-zeugen können dem am eindrucksvollsten etwas entge-gensetzen. Daher haben wir im Juni 2011 das Koordinie-rende Zeitzeugenbüro eingerichtet – eine Anregung der
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Staatsminister Bernd Neumann
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FDP, die in den Koalitionsvertrag aufgenommen wordenist –, bei dem die Gedenkstätte Hohenschönhausen, dieBundesstiftung Aufarbeitung und die Stiftung BerlinerMauer zusammenarbeiten. Allein im letzten Jahr gab esbundesweit 514 Zeitzeugeneinsätze. Insgesamt wurdenüber 22 000 Teilnehmer erreicht. Dieses werden wir dau-erhaft fortsetzen.
Insgesamt gibt der Bund für die geschichtliche Aufar-beitung der SED-Diktatur jährlich etwa 100 MillionenEuro aus. Aber, meine Damen und Herren, trotz allerAktivitäten des Bundes, aber auch der Länder haben wirbeunruhigende Befunde in verschiedenen Studien zumhistorischen Wissen von Jugendlichen. Das muss alleVerantwortlichen in Deutschland wachrütteln, die An-strengungen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, insbe-sondere in den Schulen, noch weiter zu verstärken. Bei-tragen können dazu auch Schülerprojekte wie das, dasRoland Jahn im Januar unter dem Titel „Stasi – Was gehtmich das an?“ durchgeführt hat und an dem sich über300 Schülerinnen und Schüler aus vier Bundesländernbeteiligt haben. Das Gelände des ehemaligen Stasiquar-tiers auf diese Weise auch als authentischen außerschuli-schen Lernort zu nutzen, finde ich unterstützenswert.
Das Ziel eines „Campus der Demokratie“, das RolandJahn hat, finde ich dem Grundsatz nach eine gute Idee.Ob der Name optimal ist, können wir ja noch einmal inRuhe diskutieren.Lieber Kollege Thierse, laut Zeitungsberichten habenSie zu dieser Idee des Campus kritisch gesagt – ich zi-tiere –:Es kam ja auch niemand auf die Idee, ein NS-Kon-zentrationslager in einen Campus der Demokratieumzuwandeln.Finden Sie nicht, dass Ihr Vergleich inkorrekt und ge-schmacklos ist, Konzentrationslager und Stasizentralegleichzusetzen? Ich finde das unmöglich.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle auch eine Anmer-kung zur sogenannten Perspektivkommission für denBStU, die die SPD ja wieder für sich entdeckt zu habenscheint. Ihre Argumentation, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der SPD, ist doch – ja – etwas scheinheilig.Warum? In der Großen Koalition waren es – zugegeben –einige Politiker der Union, die sich auf eine alsbaldigeÜberführung der Behörde in die Zuständigkeit des Bun-desarchivs verständigen wollten. Sie, die SPD, und dieGrünen waren damals einstimmig dagegen. Nun habenwir in der christlich-liberalen Koalition das Stasiunterla-gengesetz novelliert und alle entsprechenden Überprü-fungsfristen bis 2019 verlängert. Wir sind uns mittler-weile alle einig, dass vor diesem Datum eine Integrationins Bundesarchiv auf keinen Fall infrage kommt. Aberunabhängig davon steht doch fest, dass, ob integriertoder nicht integriert, die Aufarbeitung auch darüber hi-naus weitergeht.
Deshalb unser Vorschlag: Wir sollten in der nächsten Le-gislaturperiode in Ruhe über die Zukunft der Behördeberaten.Meine Damen und Herren, die Aufarbeitung derdunklen Kapitel unserer Geschichte ist uns Verpflich-tung. Das gilt im besonderen Maße für die Zeit der natio-nalsozialistischen Terrorherrschaft und ihrer singulärenVerbrechen.
Aber auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur ist allerAnstrengungen wert. Der Bericht zeigt: Die Bundes-regierung hat sich dieser Aufgabe umfassend und auf ho-hem Niveau gestellt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Um an dieser Stelle unnötige Missverständnisse zu
vermeiden: Ich hatte keine Informationen, dass die Sit-
zung der FDP-Fraktion, die etwas später als die der
CDU/CSU-Fraktion unter Beteiligung der Bundeskanz-
lerin stattgefunden hat, noch nicht beendet war, als wir
das Plenum pünktlich eröffnet haben. Insofern ist es ab-
wegig, aus der Nichtanwesenheit der FDP-Fraktion zu
Beginn der Sitzung irgendeine Schlussfolgerung auf die
Relevanz der vorgenommenen historischen Erinnerung
herzuleiten.
Das Wort hat nun der Kollege Thierse für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich er-laube mir trotzdem eine Bemerkung: Es bleibt ein be-dauerlicher Umstand, dass während der Worte der Erin-nerung des Bundestagspräsidenten an den Untergang derWeimarer Demokratie und an den Mut von Otto Welsund anderen Sozialdemokraten kein Minister anwesendwar.
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– Dann sage ich also: Es ist bedauerlich, dass die Bun-desregierung so gut wie gar nicht durch Minister vertre-ten war. Dies bleibt ein bedauerlicher Umstand.
Sie können zumindest so viel Respekt erweisen, dass Siedieses Gefühl der sozialdemokratischen Fraktion und deranderen Fraktionen der Opposition entgegennehmen.
Meine Damen und Herren, die Regierungsfraktionenhaben in ihrem Koalitionsvertrag einen Bericht der Bun-desregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Dik-tatur angekündigt; jetzt liegt er endlich vor. Diese Auf-arbeitung – das will ich betonen – bleibt eine wichtigegesellschaftliche Herausforderung, auch 23 Jahre nachdem Ende der DDR. Sie gehört zum verpflichtendenErbe der friedlichen Revolution. Ein Schlussstrich istweder möglich noch überhaupt sinnvoll.Der Titel des Berichts lässt Großes erwarten, Antwor-ten auf grundsätzliche Fragen: Welche Aufgaben hat diePolitik zur Aufarbeitung der SED-Diktatur übernom-men? Was wurde erreicht? Was bleibt zu tun? – Zu-nächst einmal ist Erfreuliches zu berichten: Es passiertwirklich viel. Es ist in den vergangenen 23 Jahren einevielfältige Aufarbeitungslandschaft – wie man das nennt –entstanden: Unzählige Forschungsarbeiten wurden pu-bliziert. Gedenkorte und Museen tragen zur Aufklärungüber die SED-Diktatur bei. Hier hat der Bund, Bundes-regierung und Bundestag, bei der Unterstützung undFinanzierung viel geleistet. Ebenso viele ehrenamtlicheund private Initiativen sind aktiv. Aufarbeitung – daswird deutlich – ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe imweiten und vernünftigen Sinn dieses Wortes, die in ihrerganzen Breite nur gelingt, weil engagierte Bürgerinnenund Bürger sich dafür einsetzen.
Detailliert zählt der Bericht Gedenkstätten und Mahn-male, Initiativen und Einrichtungen auf. Er leuchtet vieleAspekte der Aufarbeitung aus, von der Rehabilitierungs-gesetzgebung, der Wiedergutmachung über Archive undForschung bis hin zu Bildungsprojekten. Er bildet dasbreite Spektrum der Gruppen ab, für die Aufklärung undAufarbeitung von besonderer Bedeutung sind, nicht nurim Bund, sondern auch in den Ländern. Man wird immerauch sagen können – ich weiß das von mancherlei Aus-landsreisen –, dass Deutschland hier durchaus vorbild-lich mit der Hinterlassenschaft einer Diktatur oder, wennman so will, sogar zweier Diktaturen umgeht. All dies istlobenswert. Jedem, der sich einen Überblick über beste-hende Einrichtungen verschaffen will, sei der Berichtdeshalb empfohlen, auch wenn die Gewichtungen nichtimmer stimmen: Man hat gelegentlich den Eindruck,dass die Berichte der aufgeforderten Institutionen ein-fach zusammengeheftet worden sind.
Diesem Bericht fehlt – so bewerte ich es nach meinerLektüre – etwas Entscheidendes, leider: Dieser Berichtkennt und nennt keine Kriterien, um den Stand der Auf-arbeitung zu bewerten. Aktuelle und länger bekannteProbleme blenden Sie einfach aus. Doch Probleme zuignorieren, bringt keine Lösung; das wissen Sie, und daszeigen die vergangenen vier Jahre Ihrer Regierungszeit.Ich will zwei Beispiele nennen; das eine betrifft dieRehabilitierung von Haftopfern, das andere die Entwick-lung der Stasiunterlagenbehörde.Kürzlich traf ich mich mit Frauen des SüddeutschenFreundeskreises „Hoheneckerinnen“, eines Zusammen-schlusses ehemaliger politischer Häftlinge – eine sehrbeeindruckende, mich bewegende Begegnung. DieseFrauen erzählten mir von ihren Erlebnissen. Im Gefäng-nis Hoheneck erfuhren sie die ganze Härte des Unrechts,dessen der Justizapparat der DDR fähig war. Die Haftwirkt bis heute nach; die Frauen leiden unter schlimmenSpätfolgen, unter schweren Traumata, Schlafstörungenund physischen Folgeerscheinungen, die behandelt wer-den müssen.Diese Frauen haben einen Forderungskatalog aufge-stellt. Eine der Forderungen lautet: Sie wollen für ihreRehabilitierung und Opferrente nicht jahrelang mit einerBürokratie kämpfen müssen, die ihnen mit peinlichenHürden zusetzt. Sie wollen nicht um jeden Cent, der ih-nen zusteht, kämpfen.
Sie fordern deshalb eine Professionalisierung, Vereinfa-chung und Vereinheitlichung des behördlichen Umgangsmit den Opfern. Ich finde, darüber sollten wir nachden-ken. Der vorgelegte Bericht liefert dafür keinerlei nützli-che Informationen.Auch bei der Stasiunterlagenbehörde scheint nachdiesem Bericht alles in Ordnung zu sein. Der Berichtspart die zentrale Frage völlig aus: Wie geht es weitermit dieser Behörde und ihren Aufgaben? Der Staats-minister für Kultur und Medien sagt dazu nichts, wäh-rend sich öffentlich besorgte Stimmen mehren: Kommtdie Behörde ihrem eigentlichen Hauptauftrag angemes-sen nach, nämlich Bürgerinnen und Bürgern Einsicht inihre Akten zu gewähren? Reagieren Politik und Behör-den angemessen und rechtzeitig auf die Veränderungen,die mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Gegen-stand der DDR-Geschichte für Aufklärung und Aufar-beitung entstehen?Der jüngst vorgelegte 11. Tätigkeitsbericht des Beauf-tragten für die Stasiunterlagen ist da sehr deutlich. Dezi-diert beklagt er personelle Schwierigkeiten bei der Ak-tenbereitstellung. Die Wartezeiten für Antragstellerverlängern sich. Das ist nicht akzeptabel, und da läuftdoch etwas falsch. Im Bericht findet sich dazu nichts.
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Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Das Personalproblem aber ist nicht isoliert zu sehen.Der gegenwärtige Bundesbeauftragte, Roland Jahn, legtekürzlich erste Pläne vor, den einstigen Sitz der Stasizent-rale in der Normannenstraße zu einem „Campus der De-mokratie“ umzugestalten. Er forderte richtigerweise eineöffentliche Debatte darüber. Diese Debatte versagt ihmdie Regierungskoalition.
Das entsprechende Debattengremium, eine Experten-kommission, die die Koalition für diese Legislatur-periode angekündigt hatte, ist bis heute nicht eingesetzt.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich for-dere Sie auf: Setzen Sie diese Kommission endlich ein!Sie muss Vorschläge erarbeiten und öffentlich diskutie-ren, wie und in welcher Form die verschiedenen Aufga-ben dieser Behörde mittel- und langfristig zu erfüllensind. Darum geht es.
Dies haben Sie schließlich selbst in Ihrem Koalitionsver-trag festgelegt. Dies steht auch in der Gedenkstättenkon-zeption des Bundes, auf die Sie sich beziehen.Nur nebenbei: Wenn ich in dem Bericht lese, alle inder Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption be-schlossenen Maßnahmen wurden – wörtlich – „erfolg-reich umgesetzt oder befinden sich in der Schlussphaseihrer Realisierung“, dann trifft dies eben auf diesesThema gewiss nicht zu.Die Debatte über die Zukunft der BStU ist aber unbe-dingt zu führen, und sie ist jetzt zu führen. Die Idee des„Campus der Demokratie“ führt nämlich nach meinerÜberzeugung in die Irre. Es ist ein Irrtum, zu glauben,die bloße Anschauung der Diktatur bringe Demokratenhervor.
Dies geschieht ebenso wenig, wie die Betrachtung desLasters die Tugend mehrt, um hier Richard Schröder zuzitieren.
Der Titel ist nicht der entscheidende Punkt. Vielwichtiger noch ist: Die Idee des „Campus der Demokra-tie“ beinhaltet grundlegende und langfristige Weichen-stellungen weg von der zentralen Aufgabe der Gewäh-rung von Akteneinsicht und hin zur Etablierung derStasiunterlagenbehörde als dauerhafter Bildungseinrich-tung. Die Frage ist aber doch: Wollen und brauchen wirgenau dies? Das sollte uns beschäftigen, gerade auch mitBlick auf die anderen politischen Bildungseinrichtungenim Lande und auf die vielfältige Landschaft der Aufar-beitung.Indem die Regierungskoalition schweigt statt zu han-deln, stiehlt sie sich – das meine ich schon ernst – aus ih-rer politischen Verantwortung. Sie verschleppt die not-wendige Diskussion zur Perspektive der BStU,
sie missachtet die Gestaltungspflicht und Gestaltungs-freiheit des Parlaments.
Dieses Vakuum kann der Behördenleiter nicht adäquatfüllen.Die BStU-Behörde war und ist aus gutem Grundeeine Institution des Bundestages, über deren Zuschnittund Aufgaben sich das Parlament zu verständigen hat.Weil strukturelle Veränderungen der Behörde notwendi-gerweise auch personelle Konsequenzen nach sich zie-hen, lassen sich langfristige Planungen einerseits und derUmgang mit heute auftretenden personellen Problemenandererseits nicht voneinander isolieren.
Die Untätigkeit der Regierungskoalition im Bundes-tag führt zu einer weiteren Schieflage, nämlich zur Ver-unsicherung in der Öffentlichkeit. Wer es wagt, öffent-lich die Tatsache auszusprechen, dass die Behörde desBeauftragten für die Stasiunterlagen vor über 20 Jahren– ich war dabei, als wir sie gefordert und erfunden ha-ben – aus guten Gründen als befristetes, also endlichesProjekt geplant war, wer daran erinnert, dass sie eineAusnahmeinstitution in unserem Rechtsstaat ist, dersetzt sich dem Vorwurf aus, die BStU-Behörde zerschla-gen und die SED- und Stasiaufarbeitung in toto beendenund einen Schlussstrich ziehen zu wollen. Das Gegenteilist der Fall. Jedenfalls ist das ganz und gar nicht meineAbsicht.
– Nein; im Unterschied zu Ihnen, Kollege Vaatz.
Ich erinnere mich noch sehr gut an Vorschläge aus IhrenReihen, bestimmte Dinge zu beenden.
Die BStU-Behörde leistet – ich betone es noch einmal –wichtige Arbeit und verfügt zu Recht über hohes Anse-hen.
Damit dies in Zukunft so bleibt, müssen wir sie weiter-entwickeln. Ich will vier Dinge nennen, über deren zu-künftige Verwirklichung wir diskutieren müssen:Erstens. Die Stasiüberprüfungen werden im Jahr 2019enden. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer ist es weder
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Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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politisch noch menschlich angemessen, dass dann weitzurückliegende Stasiverwicklungen noch ein Hinde-rungsgrund für Anstellungen und Berufungen darstellensollen.Zweitens wird der Bedarf schwinden, eine behörden-eigene Spezialforschung zu unterhalten. Sukzessive er-schließt die Behörde ihre Archivbestände mit dem Ziel,externen Wissenschaftlern den Zugang zu den Akten zuerleichtern. Über kurz oder lang werden deshalb ein-schlägige zeitgeschichtliche Institute diese Forschungenweiterführen können.Bei allen Veränderungen muss drittens die Möglich-keit der Akteneinsicht für Betroffene unbedingt erhaltenbleiben. Diese Kernaufgabe ist dauerhaft sicherzustellen,auch für die Zeit nach 2019. Der Aktenzugang bleibt fürdie Aufarbeitung elementar, auch wenn das Stasiarchiv,in welcher Weise auch immer, dem Bundesarchiv ange-gliedert werden sollte.Viertens. Auch die historische und politische Aufar-beitung wird selbstverständlich nicht abgeschlossensein. Allerdings ist ernsthaft darüber nachzudenken, wel-che der bestehenden Einrichtungen diese Aufgabe über-nehmen können. Ich denke an die Bundesstiftung zurAufarbeitung der SED-Diktatur oder die Bundeszentraleund die Landeszentralen für politische Bildung. Der Be-richt der Bundesregierung breitet übrigens die ganzeFülle der bereits existierenden kompetenten Einrichtun-gen sehr schön aus.Über all diese Punkte müssen wir sprechen. Doch an-statt Fachleute und Interessierte einzuladen und zur Dis-kussion zu ermuntern, damit in diesen Fragen ein öffent-licher Konsens erreicht wird, herrscht koalitionäresSchweigen. Wir brauchen eine grundsätzliche Debatteüber Zuschnitt, Qualität und Zukunft der Aufarbeitungund nicht eine Tabuisierung einer solchen Debatte. Sonstverlieren wir uns in kleinteiligen finanziellen Vertei-lungskämpfen. Der Bericht der Bundesregierung ist da-für nur begrenzt hilfreich.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Patrick Kurth für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Herr Thierse, niemand wirft hier irgendjeman-dem etwas vor. Wir werfen Ihnen nicht vor, dass bei dieserwichtigen Debatte, die wir gerade führen, der Spitzenkan-didat der SPD nicht anwesend ist, der Parteivorsitzendeder SPD nicht anwesend ist, der Fraktionsvorsitzende derSPD nicht anwesend ist.
– Er telefoniert hinten in der Ecke. Herr Gabriel, telefo-nieren Sie bitte draußen! Hier ist der Deutsche Bundes-tag und nicht irgendein Kindergarten. Wir führen hiereine wichtige Debatte.
Außerdem, Herr Thierse: Wir alle haben die Ho-heneckerinnen getroffen, jede einzelne Fraktion, nichtnur Sie. Der Deutsche Bundestag, die Verwaltung, hattezu einer entsprechenden Veranstaltung eingeladen. Ein-geladen waren SPD, Linke, Grüne, CDU/CSU und FDP.Alle Fraktionen des Hauses haben diese Veranstaltungbegleitet. Ich persönlich kam hinzu, als der Vertreter derLinken seine Ausführungen gerade beendet hatte. Durchseine Einlassungen hatte er bei den Hoheneckerinnen be-sondere Emotionen hinterlassen. Ich konnte dann einigeswiedergutmachen.
Die Veranstaltung hat mir gezeigt, dass Demokratie,Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit keine selbstver-ständlichen Werte sind. Darauf wird auch im Bericht derBundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur in aller Deutlichkeit hingewiesen. Wir lebenheute in Freiheit und Wohlstand. Die tristen Zuständeder DDR und der SED-Mief erscheinen sehr fern. Siesind – auch das muss man deutlich sagen – für viele aberauch nicht mehr greifbar; denn die Mauer ist vor immer-hin 24 Jahren und 4 Monaten eingerissen worden. Vielehaben aufgrund ihres biologischen Alters gar nicht mehrdie Möglichkeit, sich ein Bild davon zu machen, wie esin der DDR ausgesehen hat, wie es dort gerochen hat,wie dort die Umstände waren usw. usf. Das ist die ei-gentliche Herausforderung für die Aufarbeitung. Es gehtheute nicht mehr um juristische Aufarbeitung, sonderndarum, dass junge Menschen urteilsfähig bleiben gegen-über Unrecht und Unfreiheit, den Wert der Freiheit alssolchen erkennen und die Freiheit auch verteidigen wol-len. Darum geht es: Die Menschen müssen urteilsfähigbleiben.
Auch eine zivilisierte Gesellschaft kann durch Unfreiheiterdrückt werden.Insofern können wir stolz darauf sein, was die DDR-Aufarbeitung bei uns darstellt. Wir hatten im OstenDeutschlands die Kraft, uns der eigenen Aufarbeitung zustellen. Das ist nicht die Regel; es ist die Ausnahme, undzwar weltweit. Andere postkommunistische Diktaturenhaben eine solche Aufarbeitung nicht durchgeführt.Aber auch innerhalb Deutschlands müssen wir genauhinschauen, inwiefern manche Dinge bei der Aufarbei-tung schiefgelaufen sind.Wir haben vor 20 Jahren gewissermaßen auf Druckder Linken sehr intensiv über Stasiunrecht gesprochen.Die Linke hat es geschafft, den Fokus weg vom DDR-Unrechtsstaat sozusagen hin zu einer staatsterroristi-schen Einheit, nämlich der Stasi, zu verschieben undsich damit selber aus der Verantwortung zu nehmen, die
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Patrick Kurth
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SED ein wenig reinzuwaschen und die gesamte Verant-wortung der Stasi zuzuschreiben.
Die DDR war ein SED-Unrechtsstaat, und die SED warüberall und hat dieses Unrecht begangen. Das müssenwir auch heute deutlich sagen.
Auch das will ich Ihnen sagen, Herr Thierse: UnterRot-Grün ist die Erinnerungsarbeit erlahmt. Sie ist ge-bremst worden. Sie wurde akademisiert und ist dadurchnicht mehr greifbar – ich sage nicht: angreifbar –; das istdas Entscheidende. Bei der Aufarbeitung ist es entschei-dend, verstanden zu werden, und das ist Ihnen nicht ge-lungen. Die FDP nimmt für sich in Anspruch – ich hoffe,die Union spricht uns da weiterhin zu –, dass wir 2009 indie gesamte SED-Aufarbeitung neuen Schwung hinein-gebracht haben, nicht aus Rachegelüsten oder Ähnli-chem, was Sie uns manchmal unterstellen, sondern umnach vorne zu zeigen und Zukunftsfähigkeit zu bewei-sen.
– Da braucht man nicht abzuwinken, Herr Lenkert. Siekommen aus Jena. Wissen Sie, wie schwierig es ist, inJena politische Überzeugungsarbeit zu leisten, was Frei-heit ist usw.?
– Der Oberbürgermeister von Jena a. D. sitzt in unserenReihen und weiß genau, wie schwierig es im Osten ist,mit Demokratie und Freiheit umzugehen.
Das sind besondere Herausforderungen. Das ist letztlichIhr Erbe.Herr Staatsminister, Sie haben noch einmal überzeu-gend deutlich gemacht, welche Erfolge wir hatten. Wirvon der FDP sind große Optimisten, aber dass das Koor-dinierende Zeitzeugenbüro ein solcher Erfolg wird, hat-ten wir nicht geglaubt. Es ist ein ungeheuer erfolgreichesProjekt. Weiter so! Wir haben die Stasiopferrente gleicham Anfang verbessert. Wir haben 40 Millionen Euro füreinen Fonds für DDR-Heimkinder bereitgestellt. Wir ha-ben mehrere Stasiunrecht-Gedenkstätten und auch kom-munistische Gedenkstätten saniert wie das Haus 1 in derNormannenstraße und das ehemalige KGB-Untersu-chungsgefängnis – das letzte sowjetische KGB-Untersu-chungsgefängnis überhaupt in Osteuropa – in Potsdam inder Leistikowstraße. Das kennt kaum jemand, weil dieBrandenburger Landesregierung alles getan hat, damitdas Kapitel einigermaßen unter der Decke bleibt.
Wir haben das behoben. Jetzt ist die Leistikowstraße sa-niert und im Rahmen der Möglichkeiten wieder offen fürdie Bevölkerung. Es ist wichtig, zu zeigen, wohin Kom-munismus bzw. Diktatur führen kann.
Meine Damen und Herren, wir, die Koalition, habensehr bedauert, dass die Opposition an der Stelle im Bun-destag nicht zugestimmt hat: Wir haben das Stasiunterla-gengesetz noch einmal verlängert. Wir sagen: Solange esbiologisch möglich ist, dass sich Opfer und Täter im Ar-beitsleben begegnen, befördern oder behindern können,muss es nach unserer Auffassung möglich sein, dassman in die Stasiakten Einblick nehmen und nachlesenkann, ob jemand Opfer oder Täter war. Das ist ausge-sprochen wichtig.
Ich habe nicht verstanden, warum ostdeutsche Bun-desländer der Novelle zum Stasiunterlagengesetz nichtzugestimmt haben. Letztlich ist es dem SPD-regiertenHamburg und dem grün-rot regierten Baden-Württem-berg, die im Bundesrat zugestimmt haben, zu verdanken,dass diesem wichtigen Gesetz die Freigabe erteilt wurde.In diesen beiden Bundesländern ist die Weitsicht zumin-dest in der Frage offensichtlich angekommen. Herr Mi-nisterpräsident, trotzdem herzlichen Dank, dass Sieheute hier sind. Es ist nicht üblich, dass die Bundesrats-bank bei solchen Themen besetzt ist. Meistens geht esum Geld, wenn dort jemand sitzt. Heute sind Sie bei ei-nem solchen Thema anwesend. Insofern sage ich: Herz-lich willkommen bei uns hier im Deutschen Bundestag!
Wir als Koalition haben Roland Jahn zum Behörden-leiter gemacht. Das ist ein ungeheurer Fortschritt. HerrThierse, ich möchte daran erinnern, dass Sie, als FrauBirthler die Behördenleitung innehatte, die Behörde un-begrenzt erhalten wollten. Sie haben gesagt: Die Be-hörde kann bis in alle Ewigkeit bestehen. – Jetzt herrschtdort ein anderer Wind. Frau Birthler hat nicht allesschlecht gemacht; aber Roland Jahn fasst die Dinge ebenanders an. Er hat eine andere Biografie und geht mit demThema anders um. Plötzlich gibt es bei Ihnen einen Mei-nungsumschwung. Plötzlich sagen Sie: Schluss mit demganzen Stasiunterlagen-Behördensystem! Wir müssenjetzt eine Trennung herbeiführen; wir wollen das auslau-fen lassen. – Was gilt denn nun? Wollen wir wieder FrauBirthler ins Amt holen? Sind Sie dann wieder dafür, dasses weitergeht? Wie machen wir das? Diese Koalitionsorgt dafür, dass an der Stelle Rechtssicherheit herrschtund wir die Dinge politisch in ihrer ganzen Tragweitebegutachten können.
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29010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Patrick Kurth
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Leider bleibt mir nicht genügend Zeit, um darauf ein-zugehen, dass wir auch heute für Freiheit und Ähnlicheseinstehen müssen. Ich habe es außerordentlich bedauert,dass der Kollege Steinbrück von Herrn Kuhn von denGrünen zum Neujahrsempfang der SPD in Stuttgart eineMao-Zedong-Fibel bekommen hat, eine rote Bibel, wieman sie auch nennt. Ich finde es unglaublich, dass je-mand, der Deutschland regieren will, dieses Geschenküberhaupt angenommen hat.
So geht das nicht. Wir müssen in der täglichen Arbeit fürFreiheit und gegen Unfreiheit einstehen. Das macht sichauch bei solchen Dingen bemerkbar.Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Kollege Dr. Dietmar Bartsch für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um dasklar und deutlich vorweg zu sagen: Natürlich wollenauch wir eine seriöse, eine wissenschaftliche Aufarbei-tung; natürlich bleibt das auch weiterhin eine gesell-schaftliche Aufgabe. Deshalb ist parteipolitische Instru-mentalisierung in dieser Frage wirklich fehl am Platz,Herr Kurth.
Sonst muss man auch einen Halbsatz zu den Blockpar-teien sagen. Wenn es eine Frage der Aufarbeitung seinsoll, wenn jemand eine Mao-Fibel geschenkt bekommt,dann sind wir wirklich nicht sehr weit gekommen.
Ich will – das ist ganz klar – sowohl zum Bericht alsauch zur Rede des Herrn Staatsministers Widerspruchanmelden. Zunächst einmal will ich darauf hinweisen– und das hat nichts mit Verklärung zu tun –, dass dieDDR-Geschichte natürlich zuallererst auch eine Ge-schichte der deutschen Teilung und ein Teil der deut-schen Geschichte ist. Die DDR ist doch nicht vom Him-mel gefallen. Der Bundestagspräsident hat heute auf dasErmächtigungsgesetz vom 23. März 1933 hingewiesen.Die DDR ist eben auch ein Ergebnis der größten Kata-strophe, die wir in Deutschland hatten. Hitler-Deutsch-land, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust – das alleshat dazu geführt, dass es eine sowjetische Besatzung undim Ergebnis die Gründung der DDR gegeben hat. Auchdeshalb lehnen wir als Linke jeden Versuch der Delegiti-mierung der DDR von Anbeginn ab, und das wird auchso bleiben.
Wer, wie es auch im Bericht steht, von kommunisti-scher Diktatur in der SBZ und in der DDR redet, der be-weist sowohl, dass er vom Kommunismus wenig Ah-nung hat, als auch, dass er die damaligen Abläufe nichtverstanden hat. Es ist doch kein Zufall, dass viele Intel-lektuelle nach dem Zweiten Weltkrieg ebendiesen Staatausgewählt haben.
Das ist kein Zufall; dafür gab es Gründe. Thomas Mann,Stefan Heym, Friedrich Wolf – ich kann Ihnen ganz vieleNamen nennen –, die sind alle dorthingekommen, undsie hatten Gründe dafür.
Ich will auch daran erinnern, dass nach der Zerschla-gung Hitler-Deutschlands in der Sowjetischen Besat-zungszone die SPD, die KPD und die CDU als Parteienzugelassen worden sind. Eine Lehre aus der Geschichtewar der Auftrag: Nie wieder Faschismus! Nie wiederKrieg! – Das war das Motto aller Parteien dort. Wer diesbei der Geschichtsaufarbeitung nicht zur Kenntnisnimmt, der kommt nicht ans Ziel.
Ich will daran erinnern, dass die DDR schon 1949 den8. Mai 1945 als Tag der Befreiung angesehen hat. In derBundesrepublik hat dies Richard von Weizsäcker 1985zur Staatsräson gemacht. Auch das gehört mit zur Wahr-heit.
Ein zweiter Punkt: Es ist ganz klar und eindeutig, dasskein Mensch einen Schlussstrich will. Auch wir wollendie Auseinandersetzung mit der Geschichte. Keine Par-tei hat das so kritisch, so selbstkritisch wie die damaligePDS gemacht.
– Herr Kurth, da geht es nicht um Reinwaschen. Das istdoch einfach nur dummes Zeug. – Ich will vom außer-ordentlichen Parteitag 1989 – er war die Wiege der da-maligen PDS – zitieren:Die Delegierten des Sonderparteitages sehen es alsihre Pflicht an, sich im Namen der Partei gegenüberdem Volk aufrichtig dafür zu entschuldigen, dassdie ehemalige Führung der SED unser Land indiese existenzgefährdende Krise geführt hat.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29011
Dr. Dietmar Bartsch
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Wir sind willens, diese Schuld abzutragen. … Deraußerordentliche Parteitag hat den Bruch mit dermachtpolitischen Überhebung der Partei über dasVolk, mit der Diktatur der Führung … vollzogen.
Diesen Weg sind einige gegangen, viele nicht. Bei Ih-nen ist das ganz einfach: Diejenigen, die am Tag danachwussten, dass alles falsch war, und sich sofort woandersengagiert haben, sind die Guten. Diejenigen, die sich aufden schwierigen Weg gemacht haben, persönlich die Ge-schichte und Verantwortung selbstkritisch aufzuarbeitenund Schlussfolgerungen zu ziehen, sind für Sie die Bö-sen, weil Sie das parteipolitisch instrumentalisieren.Ich werfe Ihnen das überhaupt nicht vor; aber Sie wis-sen gar nicht, unter welchen Auseinandersetzungendiese Aufarbeitung in der PDS bzw. in der Linken statt-gefunden hat. Das ist eine sehr, sehr kritische, schmerz-hafte Auseinandersetzung – auch unter Tränen – gewe-sen.
Es ist das Kuriose, dass teilweise selbst diejenigen, dienach 1989 geboren wurden, für alles zuständig sein sol-len, was die Vergangenheit – seit dem Bauernkrieg – be-trifft. Das nehmen wir gerne an; das ist in Ordnung. Wirwollen auch diese Zuständigkeit und diese Auseinander-setzung. Nehmen Sie aber zur Kenntnis: Die SED hatte2,3 Millionen Mitglieder. Weniger als 1 Prozent davonsind heute in der Linken, und es ist so, dass diese dieAuseinandersetzung vorangetrieben haben.
Ein dritter Punkt: Wir setzen uns nicht Ihretwegen mitder Geschichte auseinander, sondern um unserer selbstwillen.
Wir wollen sie aus unserem Interesse, und zwar um derZukunft einer demokratisch-sozialistischen Partei wil-len. Nichts anderes kann der Maßstab sein.Ich will noch ein Zitat anführen, weil das Thema„Mauer“ da eine Schlüsselfrage ist. Wir haben zum40. Jahrestag des Mauerbaus erklärt:An der bitteren Erkenntnis, dass der Staatssozialis-mus in der DDR am Ende war, als die Mauer gebautwurde und es kein Konzept zu ihrer Überwindunggab, führt kein Weg vorbei.
Und weiter:Ein Staat, der sein Volk einsperrt, ist weder demo-kratisch noch sozialistisch.
Was immer die konkreten … Umstände waren, diezu dem Ereignis … führten – diese Lehre ist … un-umstößlich.Ich möchte noch zwei Bemerkungen machen. Ers-tens. Es ist wirklich inakzeptabel, wenn, wie im Berichtgeschehen, eine Gleichsetzung der DDR mit dem fa-schistischen Hitler-Regime erfolgt.
Das ist wirklich inakzeptabel. Ich will dazu Egon Bahrzitieren, der sagte: Die Millionen Leichen sind ebennicht mit Millionen von Aktenbergen zu vergleichen. –Mögen wir doch bitte gemeinsam dabei bleiben. DieseGleichsetzung ist in keiner Weise zu akzeptieren.
Wer die DDR-Geschichte nicht als Teil der deutschenGeschichte und als Teil der Geschichte der deutschenEinheit sieht, der begreift nicht,
dass es andere Ursachen für diese Entwicklung gegebenhat. Wer nicht bereit ist, zu verstehen, dass Menschenaus der DDR Erfahrungen und Lebensleistung in diedeutsche Einheit einbringen, auf die sie stolz sein dürfenund auf die sie stolz sind, der wird Geschichte nie verste-hen und leistet keinen Beitrag zur deutschen Einheit.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu denSED-Millionen sage ich diesmal nichts, da darf ich Sieberuhigen.
Der Kollege Bartsch hat leider Stichworte genug gelie-fert.Ich beginne mit dem Stichwort „inakzeptabel“, das erhier einige Male gebraucht hat. Es ist völlig inakzepta-bel, dass der Vertreter einer Partei, die das alles ange-richtet hat – SED-Diktatur –, sich hier hinstellt und sagt:Wir machen die Aufarbeitung primär um unserer selbst,um unserer Partei willen.
Ja, wenn es denn eine Aufarbeitung wäre! Sie haben sichvon Anfang an gegen die Delegitimierung der DDR ge-wandt. Was soll das denn heißen? Die Gruppe Ulbricht
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29012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Wolfgang Wieland
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kam, und von Ulbricht, Ihrem früheren Parteivorsitzen-den, kennen wir den Satz:
Genossen, es muss alles schön demokratisch aussehen. –Es sollte so aussehen, aber das war es nie. Wer wider-sprach, wer Widerstand leistete, landete in den Kerkerndes KGB; so war es.
Die DDR war von der ersten Minute an ein Unterdrü-ckungsstaat, Herr Kollege Bartsch.
Da Sie gesagt haben: „Wir haben den 8. Mai als Tagder Befreiung gefeiert, bevor es die alte Bundesrepubliktat“ – als sei das sozusagen ein historischer Vorsprung –,frage ich Sie: Auf was für einen Geschichtsrevisionis-mus haben Sie sich da eigentlich eingelassen?
Mich macht das wütend.Als der Kollege Kurth geredet hat, kam der Zwi-schenruf „LDPD!“. Die Staffage der Blockparteien ha-ben Sie aufgebaut. Das war Ihre Staffage.
Welches Gefängnis hat denn die LDPD betrieben? Wel-chen Geheimdienst hat denn die Ost-CDU gehabt? Sa-gen Sie mir das einmal! Das hat alles Ihre Partei ge-macht. Nach viermaliger Umbenennung sitzen Sie hierwie Forscher, wie Wissenschaftler, die sich irgendeinGebilde ansehen, mit dem sie gar nichts zu tun haben.
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen!
Ihr Lothar Bisky hat Ulbricht einen großen Patriotengenannt; Ihr Ehrenvorsitzender Hans Modrow, GenosseHans, hat den 17. Juni einen konterrevolutionärenPutsch genannt – das alles im vereinten Deutschland,nicht zu DDR-Zeiten. Das sind Ihre Erkenntnisprozesse.Ein Wort zu Sahra Wagenknecht. Sie mag in jedeTalkshow gehen, sie mag von der Liebe ihres Lebens re-den,
vom Turbokapitalismus und von der Euro-Krise; das al-les ist ihr gutes Recht. Aber sie sollte auch einmal etwaszu folgenden Sätzen sagen – ich zitiere –:
– die ist nie hier; aber sie äußert sich –Die DDR war das friedfertigste und menschen-freundlichste Gemeinwesen, das sich die Deutschenim Gesamt ihrer bisherigen Geschichte geschaffenhaben.
Erich Honecker gebühre deshalb „unser bleibender Res-pekt“.
Die Mauer ist für sie eine Maßnahme „zur Grenzbefesti-gung …, die dem lästigen Einwirken des feindlichenNachbarn ein längst fälliges Ende setzte“. Das ist Ihrehistorische Aufarbeitung!
– Diese Sätze hat sie als Erwachsene bei klarem Ver-stand im wiedervereinigten Deutschland geschrieben.
Dazu würde ich von ihr gerne etwas hören.Ich möchte nicht von Ihnen, Herr Bartsch, hören: Un-ser Parteitag hat 1989 beschlossen, dass wir Fehler ge-macht haben. Wir entschuldigen uns. Damit ist es ein füralle Mal gut.
Das ist doch lächerlich! Das ist doch kein Eingeständnis.
Das ist doch keine Reue. Das ist doch nichts, was denOpfern je geholfen hätte. Keine müde Mark, keinen mü-den Euro haben Sie selber je dafür ausgegeben.
Sie haben das Geld beiseitegeschafft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29013
Wolfgang Wieland
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Wenn man von Opferentschädigung redet, muss manauch einmal die Frage stellen: Wer wäre denn primär da-für zuständig gewesen? Sie wären primär dafür zustän-dig gewesen. – Es tut mir leid; aber nach diesem Rede-beitrag musste das sein.
– Es sind die Getroffenen, die bellen; das wissen wir.Das ist auch gut. Aber Sie sollten solche Auseinander-setzungen auch einmal öffentlich führen.
– Hallo? Uns hier zu erzählen, die DDR sei irgendwievom Himmel gefallen und nicht ohne die deutsche Ge-schichte verstehbar, das ist doch keine Auseinanderset-zung mit dem Unrecht, das Sie begangen haben!Der Bericht – das wurde gesagt – ist vielfältig; daswar eine Fleißarbeit. Er stellt eine gute Diskussions-grundlage dar; das muss man sagen. Er sollte ursprüng-lich jedes Jahr erscheinen. Nun erscheint er ein Mal injeder Legislaturperiode; auch das ist so akzeptabel. Da-mit kann man leben. Der Bericht zeigt, dass die Auf-arbeitung der DDR-Vergangenheit so vielfältig ist, wiedas Leben in der DDR war. Im Mittelpunkt steht natür-lich die Unterdrückung, stehen authentische Orte desZerstörens von Menschen wie Berlin-Hohenschönhau-sen, wie Bautzen, wie Hoheneck, wie Torgau – ohne je-den Anspruch auf Vollständigkeit. In dieser Aufzählungfehlen immer noch Orte; ich denke an das Militärgefäng-nis in Schwedt. „Wer in Schwedt war, schweigt“, hieß esin der DDR. Das zeigt: Bei so vielen Orten der Unterdrü-ckung braucht man wirklich einen langen Atem. Ichdenke, wir haben ihn.Es ist richtig, dass auch die Alltagskultur in der DDRin Museen ausgestellt wird, dass man sich damit aus-einandersetzt. Es gab in der DDR nämlich auch das, wo-für sich der Begriff „gelebtes Leben“ herausgebildet hat.Wir dürfen nicht den Fehler machen, das zu übersehen.Niemand akzeptiert, wenn seine Biografie nur negativgesehen wird, nur abgewertet wird. Von daher sehe ichmich mit Roland Jahn durchaus auf einer Linie, wenn ersagt: Wir müssen die ganzen Kreisläufe erklären. Wirmüssen erklären, wer die Stasi warum eingerichtet hat,was sie bewirkt hat und wie sie sich auf das Leben derMenschen ausgewirkt hat. – Es wurde schon gesagt: Dieheute 20-Jährigen kennen das alles nicht mehr. Sie wol-len auch wissen: Wie habt ihr in der DDR gelebt? Waswaren eure Ängste? Was waren eure Träume? – Auchdas gehört zur Aufarbeitung. Da sind wir, denke ich, tat-sächlich auf einem guten Weg.Andere Dinge – das kann ich Ihnen nicht ersparen,Herr Staatsminister – müssen noch geklärt werden: DieExpertenkommission zur Entwicklung der Stasiunterla-genbehörde sollte kommen; das steht ohne jede Bedin-gung in der Koalitionsvereinbarung. Sie ist nicht gekom-men. Vier Jahre wurden nicht genutzt. Das ist schlecht.Wir Grüne haben immer gesagt: Wir weisen die Mäkelei,die es bei Marianne Birthler gab, zurück. Wir könnenauch nicht verstehen, warum man Roland Jahn nun ähn-lich behandelt. Das mag zum Teil auch Gründe haben,die in den Personen liegen.Für uns steht im Vordergrund: Die Stasiunterlagenbe-hörde ist eine großartige Einrichtung: Das erste Mal hatsich ein Volk der Akten seiner Unterdrücker bemächtigt.
Wir müssen das Beispielgebende dieser Institution beto-nen. Wir müssen diskutieren: „Welchen Weg soll sie ge-hen?“, aber doch bitte schön nicht in ganz kleinerMünze; das findet nicht unsere Zustimmung. Wir Grünewissen: Den Königsweg wollen wir nicht, können wirgar nicht vorzeichnen. Deswegen muss diese Experten-kommission jetzt eingesetzt werden. Hier gibt es eineklare Reihenfolge. Zuerst muss geklärt werden: „Wielange und in welcher Form hat sie die Aufgaben zu erfül-len?“, dann: „Was kommt danach?“ – wenn denn danachetwas kommt. Danach erst kann man überlegen: Wasmachen wir mit den Gebäuden? – „Campus der Demo-kratie“, dieser Begriff wird nicht gehen. Man kann einenOrt der Täter nicht in „Campus der Demokratie“ umbe-nennen. Aber die Idee von Roland Jahn finden wir rich-tig. Die Errichtung einer Jugend- und Begegnungsstättewar auch ein Prüfauftrag in der Koalitionsvereinbarung.In Roland Jahns Konzept ist das enthalten.
Kollege Wieland, gestatten Sie eine Bemerkung oder
Frage des Kollegen Sharma?
Ja, bitte.
Herr Kollege Wieland, Sie hatten freundlicherweisegesagt, dass Sie nichts zu den SED-Millionen sagen wer-den – das fand ich schon einmal sehr sympathisch –, ha-ben dann trotzdem entsprechende Andeutungen ge-macht.Bei uns reden Kolleginnen und Kollegen, die im Os-ten geboren und groß geworden und politisiert sind. Ich
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Raju Sharma
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selber bin im Westen geboren und zwölf Jahre lang Mit-glied der SPD gewesen. Ich war auch nicht – anders alsandere hier – Maoist oder Pol-Pot-Anhänger, wie Siemöglicherweise, sondern immer ein ordentlicher Demo-krat. Weil ich insoweit unverdächtig bin,
will ich sagen: Man kann vieles kritisieren, was die da-malige Parteiführung der SED gemacht hat.
Ich selber gehöre zu denen, die auch vieles kritisieren,was unsere jetzige Parteiführung macht; ich nehme ei-gentlich kein Blatt vor den Mund. Aber was man denMenschen in der SED und den Mitgliedern der Linkennicht vorwerfen kann, ist, dass sie sich mit ihrer Vergan-genheit nicht auseinandergesetzt hätten. Der KollegeBartsch hat nicht umsonst auf den Sonderparteitag 1989hingewiesen. Herr Wieland, Sie fordern eine öffentlicheAuseinandersetzung mit der Vergangenheit ein. Ich kannIhnen sagen: Diese Auseinandersetzung läuft permanent.Auch bei dem Grundsatzprogramm, das wir in Erfurt be-schlossen haben, haben wir uns auseinandergesetzt mitder Vergangenheit und mit dem Unrecht gegenüber denMenschen in der DDR, was auch von unserer Partei zuverantworten gewesen ist.
Das alles haben wir getan.Ich bitte Sie einfach einmal, das nicht permanent zuignorieren, weil das einfach komplett falsch ist und weilSie dadurch hier diese Selbstkritik und diese enormemenschliche Leistung auch derjenigen, die durch diesentiefen Tunnel gegangen sind und den Mut aufgebrachthaben, sich damit auseinandersetzen, negieren.
Damit negieren Sie eine wirklich große Leistung vonMenschen.
Das ist eine Verachtung, die nicht angemessen ist.
Herr Kollege Sharma, ich sehe diese Leistung nicht;das tut mir leid.
Der Kollege Bartsch hat hier vorgetragen: Es war einFehler, die Mauer zu bauen; das war nicht demokratisch. –Meine Güte, was heißt das denn?
Heißt das: Wir werden nie wieder eine Mauer bauen? –Soll das als richtige Kritik der Partei durchgehen, diediese Mauer gebaut hat? Soll das als Verbeugung vor denOpfern durchgehen?
– Ich habe sehr genau zugehört und habe das gelesen. –Das ist nicht ausreichend; das sage ich Ihnen hiermit.
Gerade wenn man in seiner Vergangenheit Fehler ge-macht hat, muss es einen radikalen Bruch geben. Auchich habe welche gemacht.
– Ja, gar keine Frage. Daraus habe ich nie einen Hehl ge-macht. – Es gibt dann immer zwei notwendige Dinge:Erstens. Man muss der Vergangenheit gegenüber ehr-lich sein und darf nichts beschönigen.Zweitens. Man muss es radikal anders und besser ma-chen.Das ist wichtig.
– Das machen Sie nicht.
Passen Sie auf: Der Herr Sharma als Schatzmeistersagte ja – nun hat er mich doch auf die Milliarden ge-bracht –,
da seien Milliarden verschwunden. – Wenn ich gefragtwerde, dann antworte ich. – Trotz Einsetzens einer unab-hängigen Kommission und trotz der Beauftragung vonDetektiven ist dieses Geld, das Sie beiseite gebracht ha-ben, nicht gefunden worden. Dieses Geld hätte den Op-fern und nicht in Ihre dunklen Kanäle gehört.
Schließlich und endlich: In Bezug auf die Entschädi-gung der Opfer gab es Fortschritte, die die Große Koali-tion erreicht hat, zum Beispiel durch die Opferrente. Daskann aber noch nicht das letzte Wort sein. Wir müssenauch zu einer Ehrenpension und zu einer Anerkennungvon Verfolgungsschicksalen kommen. Das wäre eine
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29015
Wolfgang Wieland
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Weiterentwicklung. Es kann nicht sein, dass es nur einebessere Haftentschädigung gibt, die auch noch von einerBedürftigkeit abhängig ist. Das ist noch unzureichend.
Es gibt viele Opfergruppen, zum Beispiel zwangsver-setzte Schüler und Zwangsumgesiedelte, die noch immerauf eine entsprechende Entschädigung warten. Auch dakann es keinen Schlussstrich geben. Auch da sind wirnoch mitten in der Umgestaltung und dabei, das zu leis-ten, was notwendig ist.
Abschließend ein Satz von Willy Brandt, den er un-mittelbar nach der friedlichen Revolution gesagt hat:Nichts vergeben, nichts vergessen. – Das war sehrapodiktisch. Vergessen dürfen wir tatsächlich nicht. DasVergeben hängt davon ab, ob die Opfer dazu bereit sind.Nur sie können es. Das kann man nicht einfordern.
Die Bereitschaft der Opfer dazu setzt voraus, dass dieTäter Einsicht zeigen, und da, Freundinnen und Freunde,müsst ihr noch ganz gewaltig wachsen.
Der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt,Reiner Haseloff, hat das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und HerrenAbgeordnete! Wie wir gerade gehört haben, werden unsdie Debatten um den Charakter des SED-Staates und umseine Hinterlassenschaften noch sehr lange beschäftigen.Die untergegangene DDR hat tiefe Spuren hinterlassen.Einen Schlussstrich kann und wird es nicht geben.
Sicherlich hat manch einer ein großes Interesse an ei-nem schnellen Vergessen. Wer mittel- oder unmittelbarfür den Überwachungs- und Unterdrückungsstaat Ver-antwortung trug, stellt sich nicht gerne kritischen Fra-gen. Andere wiederum plädieren für ein Ende der Debat-ten, weil sie der Konfrontation mit dem Unbequemenausweichen wollen.Bei aller Dringlichkeit unserer alltäglichen Aufgabendürfen wir die Vergangenheit nicht auf sich beruhen las-sen. Vergessen stiftet keinen dauerhaften Frieden. DieErrichtung der Stasiunterlagenbehörde war wichtig, undihre Arbeit muss fortgesetzt werden. Sie schützt vor derGefahr, den SED-Staat nostalgisch zu verklären und sei-nen diktatorischen Charakter auszublenden.Ich habe die DDR-Wirklichkeit tagtäglich erlebt. Ichhabe mich in einem atheistischen Staat zum Christentumbekannt. Deshalb weiß ich: Der SED-Staat und sein Ap-parat waren alles andere als harmlos. Die Debatte um dieAufarbeitung der DDR-Geschichte darf sich nicht aus-schließlich auf die Rolle der Stasi fokussieren.
Das MfS war ein konstitutives Herrschaftsinstrumentder SED, ihr „Schild und Schwert“. Die SED prägte dieDDR: von der Gründung bis zum Untergang. Der Füh-rungsanspruch dieser Partei erstreckte sich auf alle Be-reiche von Staat und Gesellschaft. Die DDR war ihrStaat. Jeder SED-Kreissekretär war mächtiger als einKreisdienststellenleiter der Staatssicherheit. Vorsitzen-der der Bezirkseinsatzleitung war der erste Sekretär derSED-Bezirksleitung. Für den Ernstfall waren Isolie-rungslager für mehr als 84 000 unliebsame DDR-Bürgergeplant. Mit den Vorbereitungen waren zwar MfS-Mitar-beiter befasst. Sie erfüllten aber als Schild und Schwertder Partei nur einen Auftrag der SED.Das wahre Ausmaß von Überwachung und Unterdrü-ckung wurde erst nach Öffnung der Archive allmählichsichtbar. Noch längst sind nicht alle Fragen gestellt, ge-schweige denn beantwortet. Insbesondere die Opfer desRegimes haben einen Anspruch auf umfassende Aufklä-rung. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur bleibt einenotwendige Aufgabe.
Schließung oder Vernichtung der Akten würde wenigzum inneren Frieden beitragen, aber sehr viel zu einerVerdrängung und Verharmlosung dieser Diktatur.Die Geschichte der DDR ist auch die Geschichte derSED und ihrer Versuche, das Leben der Menschen bisweit in ihre Privatsphäre hinein zu kontrollieren und zubestimmen. In diesem Zusammenhang ist zu Recht vonder DDR als einer „Erziehungsdiktatur“ gesprochenworden. Wer weiß das heute von den Heranwachsenden?Eine 2008 durchgeführte Befragung von Schülerinnenund Schülern aus Bayern, Nordrhein-Westfalen, Berlinund Brandenburg hat gravierende Wissenslücken offen-bart. Je geringer das Wissen über die DDR war, destopositiver wurde sie beurteilt. Deshalb ist Aufklärungwichtig.
Deshalb sind Symbole, Gesten und Jahrestage wich-tig. Unter ihnen hat der 17. Juni sein eigenes Gewichtund seine eigene Symbolik. Deshalb sind Orte wichtig,die die Gegenwart der Vergangenheit deutlich machen.Wir müssen uns der Geschichte stellen, vorbehaltlos undaufrichtig. Zur Aufrichtigkeit gehört vor allem, die Per-spektive der Opfer nicht auszublenden. Ihre Schicksaledürfen uns nicht gleichgültig sein oder gleichgültig wer-den.
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29016 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff
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Wie viele Menschen Opfer der SED-Diktatur wurden,wissen wir bis heute nicht genau. Wir kennen nur unge-fähre Zahlen. Was wir aber mit Sicherheit wissen: DieSED-Diktatur schreckte vor Mord nicht zurück. Sie ließLebensentwürfe scheitern, stellte Identitäten infrage undzerstörte Beziehungen.Die Aufarbeitung dieser Diktatur schützt vor Legen-denbildung. Die DDR war keine Nischengesellschaft.Sie ließ keine autonomen Gesellschaftsmodelle zu. DieDDR war ein totalitärer Staat. Er kannte weder Gewal-tenteilung noch politischen Pluralismus. Die Macht derSED gründete auf Zwang und Gewalt. Das von der SED-Führung installierte und perfektionierte Grenzregimeversinnbildlichte die fehlende Legitimation des Staatesund war Symbol für eine Menschen- und Freiheitsrechteverachtende Politik.Im Innern herrschte der Verdacht. Die SED misstrautedem eigenen Volk. Nur mittels eines gigantischen Si-cherheitsapparates konnte die SED ihre Herrschaft auf-rechterhalten. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehlsind Geschichte. Sie müssen aber einen Platz in unsererErinnerungskultur behalten. Einen Schlussstrich darf esdeshalb nicht geben.
Er wäre nämlich eine unverantwortliche Flucht aus derGeschichte. Geschichte endet nicht mit einer neuen Ge-neration, und Unrecht bleibt Unrecht; es verjährt nicht.Unsere Vergangenheit bürdet uns eine große Verant-wortung auf. Sie macht vor niemandem halt, weder vorder Erlebnisgeneration noch vor den später Geborenen;denn neben die unmittelbare Zeitzeugenschaft tritt diemoralische. Sie erfordert Engagement und Empathie.Engagement und Empathie sind wir vor allem den Op-fern der SED-Diktatur schuldig, deren Schicksale wirimmer wieder persönlich erleben. Wir sind es aber auchuns selbst und den kommenden Generationen schuldig;denn eine gemeinsame Zukunft lässt sich nicht auf Irrtü-mern, Legenden und Beschönigungen aufbauen. Ebensowenig eignet sich politisch-historische Gleichgültigkeitfür eine gute Zukunftsgestaltung. Vergessen wir nicht:Wir alle tragen Verantwortung für unsere gesamte Ge-schichte. Wir haben die Pflicht, zu erinnern. Wir habendie Pflicht, aus unserer Geschichte zu lernen, und wir ha-ben die Pflicht, dem Vergessen zu wehren.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Siegmund Ehrmann für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Ministerpräsident Haseloff, ich gebe Ihnen aus-drücklich recht: Diese Aufgabenstellung, dieses Themabedarf des Engagements und der Empathie. Im Gegen-satz dazu steht das, was Herr Kurth hier abgeliefert hat.Es ist auf keinen Fall ein Thema, an das man als Eiferermit einer selbstgerechten Haltung herangehen kann. Daswar total daneben, Herr Kurth.
Das macht es unheimlich schwer, eine Linie fortzufüh-ren, die seit 1989/90 in einem breiten Konsens in diesemHaus immer wieder gefunden wird. Das erschweren Siedurch eine derartige Haltung.In der Sache selbst einen kleinen Hinweis: Da Siedargelegt haben, unter Rot-Grün sei die Erinnerungspoli-tik erlahmt, gebe ich Ihnen nur das Stichwort „Gedenk-stättenkonzept“ oder erinnere an die Änderungen imBundesvertriebenengesetz. Setzen Sie sich bitte einmaldamit auseinander! Dann werden Sie zu anderen Ergeb-nissen kommen.Ich finde es ausgesprochen hilfreich, dass uns dieserBericht vorliegt. Er bietet eine sehr gute Gesamtschau.Problematisch ist es allerdings, wenn der Bericht denEindruck erweckt, als sei die Aufarbeitung der SED-Ge-schichte als abgeschlossener Prozess zu bewerten. Ichleite das deshalb ab, weil der Bericht an einer Stelleextrem schwächelt. Er enthält nämlich relativ wenige,nahezu keine Empfehlungen und keinen Blick in die Zu-kunft, der deutlich macht, was zu tun ist. Da gibt es enor-men Handlungsbedarf. Gleichwohl ist sehr beeindru-ckend, wie viele Einrichtungen und Initiativen in Bundund Ländern sich der Aufarbeitung widmen. Doch dieAnzahl der Institutionen allein gibt keine Auskunft da-rüber, ob unsere Gesellschaft das Erbe der DDR in all ih-ren Facetten wirklich verarbeitet hat. Insofern bleibt dieAufarbeitung des begangenen Unrechts eine fortwäh-rende Aufgabe, die sich allein durch Zeitablauf auf kei-nen Fall erledigt.Eine viel beachtete Studie des Forschungsverbundes„SED-Staat“ der Freien Universität Berlin hat unter demTitel Später Sieg der Diktaturen? festgestellt, dass Schü-lerinnen und Schüler in ganz Deutschland insgesamt einsehr geringes historisches und politisches Wissen haben.Das gilt gleichermaßen für die Geschichte der DDR wiefür die Geschichte des Nationalsozialismus. Insofernlautet die zentrale Frage: Wie kann es in Zukunft bessergelingen, Wissen und Erfahrungen so zu vermitteln, dasssie auch nachfolgenden Generationen präsent sind? Daserreicht man eben nicht allein durch große Aufarbei-tungsinstitutionen, sondern durch eine Fülle kleinteili-ger, qualitativ guter Angebote im Bereich der politisch-historischen Bildung. Beispielhaft möchte ich an dieserStelle die Bundesstiftung Aufarbeitung nennen, diedeutschlandweit zahllose Ausstellungen, Konferenzenund Veranstaltungen organisiert, unermüdlich Publika-tionen und Dokumentarfilme fördert und erstellt und aufdiese Art und Weise zu einer intensiven Auseinanderset-zung mit den kommunistischen Diktaturen in Deutsch-land und in Europa anregt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29017
Siegmund Ehrmann
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In diesem Zusammenhang möchte ich an die wichti-gen Vorarbeiten erinnern, die in einer Enquete-Kommis-sion in den Jahren 1992 bis 1997 geleistet wurden. Einezentrale Forderung dieser Enquete-Kommission war1997, ebendiese Stiftung zu gründen und sie langfristigmit der Auseinandersetzung mit den Folgen der DDR-und SED-Diktatur zu beauftragen.Natürlich haben wir daneben weitere wichtige Institu-tionen. Sie sind hier genannt worden: die Bundeszentralefür politische Bildung und die jeweiligen Landeszentra-len, aber auch der Bundesbeauftragte für die Stasiunter-lagen. Überall wird gute Arbeit geleistet. Daneben dür-fen wir allerdings die vielen kleinteiligen, ehrenamtlichgetragenen Einrichtungen im ganzen Land nicht verges-sen. Deren Engagement möchte ich an dieser Stelle aus-drücklich würdigen und anerkennen.
Was es aber jetzt braucht, ist gewissermaßen ein Bo-xenstopp. Wir müssen danach fragen, wie wir all dieseAkteure noch effektiver vernetzen und die Angebotevielleicht noch genauer aufeinander abstimmen können,damit sie besser wirken. Darüber hinaus gibt es Finan-zierungsprobleme. Gerade was die politische Bildung inden Schulen anbelangt, gibt es einen enormen Bedarf,authentische Orte zu besuchen. Aber die Finanzierungsolcher Aktivitäten leidet Not. Dabei fällt enorm ins Ge-wicht, dass gerade die Bundesstiftung Aufarbeitung auf-grund der aktuell niedrigen Zinsrate eine Schrumpfungihrer Projektmittel um rund 1,3 Millionen Euro erwartenmuss. Hier wünschte ich mir seitens der Bundesregie-rung ein deutlicheres Bekenntnis, das aufzufangen.Einen weiteren Anhaltspunkt möchte ich nennen, wa-rum die Aufarbeitung eine fortwährende Aufgabe bleibt:der Umgang mit dem politischen Erbe der friedlichenRevolution von 1989. Diesen Umbruch habe ich persön-lich damals sehr intensiv beobachten und begleiten kön-nen aufgrund meiner Kontakte zu unserer Partnerge-meinde in Falkenhagen in Brandenburg. Der unbändigeWille der Menschen, der aufgebracht wurde, um das Le-ben und die neue Zeit zu gestalten und die Verfehlungendes Systems und seiner Akteure offenzulegen, hat michtief beeindruckt. Selbstverständlich geschah damals daseine oder andere überstürzt – eine Revolution kennt ebenkeine Blaupause. Umso erfreulicher, beinahe wunder-sam ist es, dass ein Großteil der Akten des ehemaligenStaatssicherheitsdienstes gesichert werden konnte.Aus diesem Gefühl von Aufbruch und Aufbrechenheraus hat sich eine Vielzahl von Vereinen und Initiati-ven entwickelt, die sich des historischen Erbes an au-thentischen Orten, in Gedenkstätten und anderswo ange-nommen haben. Aus den ganz aktuellen Protesten fürden Erhalt der East Side Gallery hier in Berlin sprichtauch eine Aneignung des politischen Erbes durch dieBevölkerung. Zugleich wird aber auch deutlich, dasssich mit der Zeit die Bedürfnisse verändern und sich dieBetrachtungsweisen des Erbes, also bestimmter Institu-tionen und Ereignisse, ein Stück weit wandeln.Wurde nach 1990 zunächst viel über die Repressionund ihre Instrumente in der DDR-Diktatur diskutiert,sind mittlerweile auch andere Aspekte der Aufarbeitungwichtig geworden. Ich erwähne die Sabrow-Kommis-sion, deren Ergebnisse in dem vorliegenden Berichtüberhaupt nicht erwähnt werden, obwohl sie eine sehrgrundlegende und wichtige Arbeit erbracht hat. Die Di-mensionen von Aufarbeitung – Alltag, Widerstand undOpposition, Ideologie, Teilung und Grenze – sind viel-fältig. Aufarbeitung ist folglich deutlich mehr als nur dieBeschäftigung mit der Stasi. Insofern erinnere ich nocheinmal an die Bundesstiftung Aufarbeitung, die einensehr breiten Auftrag hat, der weit über die Betrachtungder Stasiunterlagenbehörde hinausgeht.Ich habe beispielhaft zwei Bereiche von Aufarbeitunggenannt, die einer konzeptionellen Weiterentwicklungbedürfen. Zudem hängen damit auch Fragen der besse-ren Vernetzung der Akteure und Einrichtungen, der wei-teren Professionalisierung und natürlich der Finanzie-rung ihrer Aufgaben zusammen. Umso wichtiger ist esdeshalb – hier erinnere ich an die Einlassungen vonWolfgang Thierse –, dass wir eine nach vorne gerichteteDebatte über die Zukunft und den Anspruch der Aufar-beitung in Deutschland organisieren.Die im Gedenkstättenkonzept und im Koalitionsver-trag der schwarz-gelben Regierung verankerte Experten-kommission, die sich mit genau diesem Thema aus-einandersetzen soll, ist bis heute nicht realisiert. Das istangesprochen worden. Das fordern wir massiv ein. Ichhoffe, dass wir auf Grundlage eines solchen Diskurseszu einer Neujustierung der Erinnerungspolitik, auch imZusammenhang mit dem SED-Staat, kommen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es gibt eine Debatte hier im Haus, die sozusa-gen auf einer Ebene stattfindet. In dieser Debatte setzenwir uns mit den Kolleginnen und Kollegen der FraktionDie Linke auseinander. Dazu haben Herr Wieland, aberauch andere Redner das Notwendige, wie ich finde, sehrtreffend gesagt. Sie, liebe Kollegen von der Linken, ver-passen leider eine Chance, wenn Sie in diese Debattenimmer diejenigen senden, die es durchaus schaffen, mitwohlabgewogenen Worten einen gewissen Eindruck zuerwecken – ich denke dabei an Herrn Sharma, den ichpersönlich in der Tat für sehr glaubhaft halte, aber auchan Herrn Bartsch, den viele hier im Hause schätzen –,während diejenigen, die sich immer wieder Punkten ih-rer eigenen Vergangenheit nicht stellen, in diesen Debat-
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29018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Dr. Stefan Ruppert
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ten nie ein öffentliches Bekenntnis zum Ausdruck brin-gen, obwohl ihnen das Glaubwürdigkeit verschaffenwürde.
– Wo ist denn Frau Wagenknecht? Wo sind denn diejeni-gen, die Urheber der Zitate sind, die Herr Wieland denLinken vorgehalten hat? Von ihnen hören wir in diesenDebatten leider nie irgendeinen Ton. Gesprochen habenvielmehr immer diejenigen, die durchaus eine gewisseAuseinandersetzung mit ihrer eigenen Vergangenheitpflegen. Das war meine erste Bemerkung.
Zweite Bemerkung. Herr Ehrmann, gerade weil ichIhren Beitrag in vielen einzelnen Punkten sehr geschätzthabe: Wenn jemand, der in der ehemaligen DDR gelebthat, über ein solches Thema redet, ist die Herangehens-weise natürlich anders, als wenn Sie oder ich als Menschaus Westdeutschland es tun. Es ist für mich immer sehrglaubwürdig, wenn ich jemanden wie Herrn Kurth hierreden höre, der einfach aus eigener Erfahrung berichtethat. Reden von Menschen mit einem entsprechenden fa-miliären Hintergrund, Reden von Menschen, die die Artund Weise kennen, wie man mit Christen umgegangenist, mit Personen, die einen Glauben hatten, Reden vonMenschen, die erfahren mussten, dass es die Trennungzwischen Privatem und Öffentlichem in einem solchenUnrechtsstaat eben nicht gegeben hat, sind – das gehörtzur Aufarbeitung der Geschichte – von anderer Emotio-nalität geprägt, als wenn wir beide darüber reden. Ichglaube, wir erleben hier kein Eiferertum, sondern ein-fach eine andere Form des Umgangs mit der Vergangen-heit.
Ich will zwei weitere Punkte nennen:Erster Punkt. Herr Bartsch hat sich hier zur frühenDDR geäußert. Ich erinnere mich an Abende mit unse-rem verstorbenen Kollegen Wolfgang Mischnick, in de-nen er über die frühen Jahre der DDR geredet hat. Ich er-innere mich auch an Gespräche mit Wolfgang Knoll.Auch in der Sozialdemokratie und in der Christdemokra-tie gibt es Menschen, die in Dresden und andernorts leb-ten und die DDR aus Angst, politisch verfolgt zu wer-den, schon in den allerersten Jahren verlassen haben.Insofern ist Ihr Versuch, Verständnis für den Anfang derDDR zu wecken, glaube ich, zutiefst misslungen.
Zweiter und letzter Punkt. Mir ist wieder deutlich ge-worden, dass es nicht nur um die großen Themen gehenkann. Ich habe neulich das Buch von Inga Markovits Ge-rechtigkeit in Lüritz gelesen. Darin sind einfach einmaldie Akten eines Gerichts in der ehemaligen DDR, diealltäglichen Fragen des Umgangs mit Gerechtigkeit, bei-spielsweise mit dem Christentum, mit Menschen, die et-was glauben, aufgearbeitet worden. Dieses Dokument istso frappant und so beängstigend, dass man immer wie-der daran erinnern muss. Es ist eine weitere Aufgabe vonuns allen, auch in Zukunft in der BundesrepublikDeutschland das Verständnis für Unrecht im Kleinen wieim Großen nicht nur wissenschaftlich aufzuarbeiten,sondern auch durch Pädagogik zu fördern. Ich gestehe:Einzelne von Ihnen sind daran durchaus beteiligt. Leiderverpassen Sie regelmäßig die Chance einer Debatte wieder heutigen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Der Alterspräsident des 13. Deutschen Bundestages,Stefan Heym, dessen 100. Geburtstag wir in wenigen Ta-gen begehen, schrieb in seinem Buch 5 Tage im Juni:
Die Arbeiterklasse, sagen wir, sei die führendeKlasse und die Partei die führende Kraft der Klasse.Offensichtlich muß es Menschen geben, die stell-vertretend auftreten für die führende Klasse und de-ren führende Kraft. Aber wer verhindert, daß sie,stellvertretend, nur noch sich selbst vertreten?Dieses Buch von Stefan Heym wurde 1965 in derDDR von Erich Honecker kritisiert und durfte bis zumEnde der DDR dort nicht erscheinen.Ich finde es gut, dass wir uns heute mit der Vergan-genheit eines Teils unseres Landes befassen. Und natür-lich richten sich in dieser Debatte viele Augen auf unsereFraktion – wie könnte es anders sein. Ich verstehe das.Unsere Partei Die Linke ist Rechtsnachfolgerin der PDS,und diese ist aus der SED hervorgegangen.
Wir leugnen das nicht. Wir sind vor unserer Vergangen-heit nicht einfach davongelaufen, und wir tun das auchheute nicht.
Der Vorwurf allerdings, wir würden uns mit unsererVergangenheit nicht auseinandersetzen, ist nun wirklichnachweisbar falsch.
In unserem Parteiprogramm, das wir im Oktober 2011beschlossen haben, heißt es:
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Stefan Liebich
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Ein Sozialismusversuch, der nicht von der großenMehrheit des Volkes demokratisch gestaltet, son-dern von einer Staats- und Parteiführung autoritärgesteuert wird, muss früher oder später scheitern.Ohne Demokratie kein Sozialismus.
Deshalb formulierten die Mitglieder der SED/PDS…: „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinis-mus als System.“
Dieser Bruch mit dem Stalinismus gilt für DIELINKE ebenso.
So weit unser Grundsatzprogramm.Ja, unsere Partei kommt aus der SED. Aber eines mussauch gesagt werden, Herr Wieland, Herr Kurth: Wir sindnicht mehr die SED. Über 90 Prozent der SED-Mitgliederhaben die Partei bereits 1989/90 verlassen. Und schondamals kamen neue hinzu: Halina Wawzyniak, AngelaMarquardt oder auch ich selbst seien hier erwähnt.Und auch wenn es eher die Ausnahme als die Regelwar – ich will es an dieser Stelle erwähnen –: Auch Ver-treter der DDR-Opposition stritten seit der Wende an un-serer Seite,
Marion Seelig zum Beispiel, unsere langjährige Abge-ordnete im Abgeordnetenhaus von Berlin, deren Tod wirerst kürzlich beklagen mussten. Herr Wieland, Ihre Redewar deshalb für mich so erstaunlich, weil Sie es besserwissen.
Sie, Herr Wieland, haben mit Marion Seelig viele Jahreim Abgeordnetenhaus von Berlin im Innenausschuss zu-sammengearbeitet. Sie wissen ganz genau, welche De-batten Marion Seelig bei uns in der Partei und in derFraktion angestoßen hat. Trotzdem bauen Sie hier so ei-nen Pappkameraden auf.
Marion Seelig hat in der DDR in der „Kirche von Un-ten“ gearbeitet und war Teilnehmerin am Zentralen Run-den Tisch. Sie war sowohl in der DDR als auch in derBundesrepublik eine wirkliche Bürgerrechtlerin – ohnedas heute so gern verwendete „ehemalig“ davor. Abernicht nur wegen Menschen wie Marion Seelig ist uns derBlick zurück wichtig und schätzen wir die Arbeit jener,die hierzu ernsthaft forschen, dokumentieren und infor-mieren.Sehr geehrte Damen und Herren, der Bericht, überden wir hier sprechen, enthält allerdings auch Leerstel-len. Über die Blockparteien der DDR erfährt man, an-ders als über die Rolle der SED, die sehr ausführlich dar-gestellt wird, fast nichts.
Richtig ist, Herr Kauder, dass die SED die führendeRolle in der DDR innehatte; falsch ist hingegen die An-nahme, dass es sich bei der CDU der DDR und der De-mokratischen Bauernpartei der DDR, mit der sich dieCDU am 2. Oktober 1990 vereinigt hat, oder bei derLDPD und der NDPD der DDR, Herr Kurth, mit denensich die FDP vereinigt hat, um Oppositionsbewegungenhandelte. Das ist falsch.
Alle vier Parteien – Herr Ministerpräsident Haseloff,ich möchte es an dieser Stelle sagen – waren bis zum bit-teren Ende der DDR 1990 mit 208 von 500 Abgeordne-ten in der Volkskammer vertreten. Alle Parteien, HerrHaseloff – Sie sind 1976 der Ost-CDU beigetreten, alsich vier Jahre alt war –,
stellten bis zum Schluss Minister in der DDR – ganz amSchluss die Minister für Umwelt, Post und Justiz. Inso-fern möchte ich Roland Jahn recht geben, der sagte, dieUnion könnte mehr zur Erforschung ihrer Vergangen-heit, der DDR-Blockpartei CDU, beitragen.
Apropos Roland Jahn: Wir sind natürlich dafür, dassdie Einsicht in die Akten des ehemaligen Ministeriumsfür Staatssicherheit gewährleistet bleibt. Unter welchemNamensschild dies passiert, ist hierbei nicht das Ent-scheidende.Sehr geehrte Damen und Herren, wir Linke duckenuns vor den Debatten über die Vergangenheit nicht weg,
auch wenn Sie hier wider besseres Wissen immer wiederetwas anderes behaupten. Der Sozialismus, für den wirstreiten, der liegt nicht hinter uns, der liegt vor uns. Undes kann nur ein demokratischer Sozialismus sein.
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Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Es ist nicht ganz einfach, nach so einem Ausfall an dasRednerpult zu treten. Ich will mich auch nicht an dieserArt von Geschichtsklitterung beteiligen.
Ich habe an der Stelle nämlich den Eindruck, dass Unbe-lehrbarkeit herrscht. Eine Unterrichtung durch die Bun-desregierung sollte man eigentlich als Unterricht nutzen,statt sich hier hinzustellen und zu sagen – Sie wissen esdoch besser als jeder andere in diesem Raum; ich meineda auch die Kollegen aus der CDU/CSU und der FDP –,dass erst dieses System eigentlich demokratische Par-teien zu seinem Bestandteil gemacht hat, indem sie un-terwandert und missbraucht wurden.
Das als Argument in die Debatte einzuführen, ist eigent-lich pure kommunistische Dialektik.
Das sollten Sie besser wissen. Das entbehrt auch jederGrundlage.Und, Herr Liebich, in dieser Art und Weise mit demWort „Pappkamerad“ zu operieren –
Kollege Wieland, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze;ich nehme Sie da auch in Schutz –, zeigt, wes GeistesKind Sie sind,
wenn es um die Art und Weise der Auseinandersetzunggeht.
Wer wie die Linke in der Tradition der PDS und der SEDsteht und die Verantwortung für Tod und Stacheldrahtund Mauer hat, der sollte sich nicht hinstellen und ande-ren, die kritisieren, das Wort „Pappkamerad“ vorhalten.Ich glaube, da wäre eine Entschuldigung notwendig.
Herr Staatsminister, was untergeht, ist die Auseinan-dersetzung über die Unterrichtung durch die Bundes-regierung. Der Bericht ist eine Bestandsaufnahme; zu-gleich geht er weit darüber hinaus. Ich bedanke mich fürdie CSU innerhalb der CDU/CSU herzlich für diesenBericht. Ich will deutlich machen, dass es sich bei die-sem Bericht – manchmal habe ich den Eindruck: dieSPD agiert mittlerweile sehr obsessiv, wenn es um dieFrage der Kritik geht – um ein Kompendium handelt, indem wirklich ein kollektiver Bewusstwerdungsprozessdeutlich wird. Auf der einen Seite handelt es sich umeine Chronik; es wird ein chronologischer Fortgang be-schrieben. Auf der anderen Seite handelt es sich um ei-nen Katalog des politisch Möglichen und des politischMachbaren. Wir wissen, dass die Beispiele aus der Pra-xis die Voraussetzung dafür sind, dass ein Gesamtpro-zess in der Bundesrepublik stattfinden kann, in dem dieAufarbeitung das Wesentliche ist. Es handelt sich um ei-nen gesamtgesellschaftlichen Prozess, und genau dasbildet dieser Bericht ab.Wie schon zu Recht betont wurde, ist eine Aufarbei-tung weder allein durch den Staat möglich, noch ist siezu verordnen.
Wir brauchen die Menschen, und wir brauchen die Be-reitschaft der Menschen, diesen Weg mitzugehen.
Deshalb ist es ganz wichtig, dass die Opferverbände,UOKG natürlich, Forschung und Lehre in die Darstel-lung eingebunden wurden. Auch die Gedenkstättenkon-zeption wird angesprochen. Dass Politik, Verwaltungund Enquete-Kommissionen dafür den Boden bereiten,die Rahmenbedingungen setzen, ist das eigentlich Ent-scheidende, das Wesentliche.Die CDU/CSU hat ihren Beitrag geleistet und ihrenStempel mit aufgedrückt bei all den Entscheidungen, diegetroffen wurden, etwa zum Stasi-Unterlagen-Gesetz,zur Opferrente und zur Stiftung zur Aufarbeitung derSED-Diktatur.So exzeptionell der Vorgang einer friedlichen, gewalt-freien Revolution und des damit einhergehenden Um-bruchs war, so dramatisch ist natürlich auch die Aus-einandersetzung über das Ungewöhnliche dieses Weges.Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich als Jugend-licher an der S-Bahn-Station Friedrichstraße am Grenz-übergang stand, nur einen Steinwurf von hier entfernt,mit dem Gefühl der Überwachung im Genick, der greif-baren Pression. Deshalb verletzt es mich fast, wenn ichlesen, erfahren und feststellen muss, dass sich geradejunge Leute in einer erschreckenden Art und Weisedurch Nichtwissen auszeichnen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Nichtwis-sen führt immer zu „nicht wissen“: nicht wissen, wieman mit Menschen umgeht, nicht wissen, wie man Pro-bleme angeht, nicht wissen, wie man anderen gegen-übertritt, um Probleme aus dem Weg zu schaffen, wieman andere, die Leid und Unrecht erfahren haben, umVergebung bitten kann. Das ist etwas, was tatsächlichfehlt. Das ist der Grund für die Ausbildung von Ostalgie.Die Zahl der Besucher in Hohenschönhausen aus den al-ten Bundesländern: gigantisch; aus den neuen Bundes-ländern: besorgniserregend. Darauf sollten und müssenwir achten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29021
Michael Frieser
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Als Integrationsbeauftragter meiner Fraktion wün-sche ich mir, dass diese Aufarbeitung im demokratischenProzess auch dazu führt, dass – ich sage einmal – demo-kratische Wurzeln von Menschen mit Migrationshinter-grund gestärkt werden, die oftmals selber in ihrer Bio-grafie Unrecht und Willkür eines Landes, eines Staateserlebt haben. Diese Unterrichtung kann ein beispielge-bender Anlass sein, den Menschen deutlich zu machen,dass man auch so damit umgehen kann.
Herr Bartsch, ich muss auch deutlich sagen, dass esnicht angeht, dass man sich unter Berufung auf die Tat-sache, dass Unrecht in sich nicht vergleichbar ist, beidiesem Thema immer wieder vom Acker macht. Die Be-zugnahme auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts istimmer schwierig, dieser Weg führt nur ganz selten zumErfolg, weil er entweder das Unrecht des einen relati-viert oder das Unrecht des anderen bagatellisiert. Dieje-nigen, die Verantwortung tragen, müssen aber deutlichmachen, dass man mit diesen Folgen leben muss. Eswäre jedoch aberwitzig, wenn man Fehler, die bei derAufarbeitung dieser Phase des 20. Jahrhunderts began-gen wurden, erneut machen würde. Deshalb sage ich andieser Stelle: Es war nach dem Zweiten Weltkrieg ein re-volutionärer Akt, die Wiege eines modernen Völker-strafrechtes aus den Nürnberger Prinzipien zu entwi-ckeln. Jetzt könnten wir genauso beispielgebend für dieWelt sein. Der Prozess der Aufarbeitung könnte auch fürandere beispielgebend sein.
Wenn Hohenschönhausen einlädt, dann kommen120 Botschafter. Ein Projekt mit Tunesien ist bereits an-gestoßen. Das kann etwas sein. Das verhindern Sie,wenn Sie engstirnig immer sagen, es dürfe doch umGottes Willen nichts relativiert werden. Wenn Sie sichder Aufarbeitung stellen, wären wir in der Lage, ein Bei-spiel zu geben und den Menschen, statt ihnen den Wegzu verstellen, eine Perspektive zu eröffnen.Bedeutend in diesem Aufarbeitungsprozess ist immerdie Absicht, dass man den Menschen, denen Unrechtund Leid geschah und die heute noch daran leiden, einePerspektive gibt, aber auch denjenigen, die am Unrechtbeteiligt waren. Das ist die Grundlage für ein Zusam-menleben, für ein gedeihliches Morgen, für ein Mitei-nander in einem demokratischen Staat. Wer immer dasKlischee der Siegerjustiz bedient, wird nichts anderes er-reichen als eine Blockade im Kopf, eine Blockade in denHerzen, die die Menschen voneinander fern hält, sie abernicht aufeinander zubewegt. Das sollten Sie bei der Ge-schichte Ihrer Partei überdenken.
Auch ich glaube, dass Aufarbeitung immer einschwieriger und schmerzvoller Prozess ist. Das liegt imWesen der Dinge. Dass dieser Prozess aber möglich ist,zeigt die vorliegende Unterrichtung durch die Bundes-regierung. Deshalb, Herr Staatsminister, vielen herzli-chen Dank dafür, dass hier Unterrichtung zum Unterrichtin Geschichte wird.
Das Wort hat der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen
für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! In der Tagesordnung steht: Stand der Aufarbei-tung der SED-Diktatur. Ich glaube, sagen zu dürfen, dassdiese Debatte leider zeigt – insbesondere die Debatten-beiträge der Linken –, dass wir dabei noch am Anfangsind. Das haben Sie sehr klar dargestellt. Es reicht keinLippenbekenntnis eines Bundesparteitages, dass Sie sichvon der Vergangenheit abwenden. Das ist ein Prozessund kein einzelner Beschluss, lieber Herr Bartsch.
Die Zeit der deutschen Teilung ist Teil des kollektivenGedächtnisses unserer Republik. Auch wenn sich derFall der Mauer in diesem Jahr zum 24. Mal jährt, sindwir mit der Aufarbeitung nicht am Ende. Ganz im Ge-genteil. Wir sind noch mittendrin, wie diese Diskussionzeigt. Am 12. Juni 1987 sagte der US-Präsident RonaldReagan: „Mister Gorbatschow, tear down this wall!“26 Jahre später, am letzten Sonntag, steht wieder einAmerikaner am Rest der Berliner Mauer und wirbt ausmeiner Sicht zu Recht: Das letzte Stück der Mauer sollteunantastbar sein, damit wir daran erinnert werden. – DieGeschichte der deutschen Teilung bewegt nicht nur uns,sondern auch weltweit, wie wir sehen, die Menschen.Im damaligen Westen waren rund 40 000 Personenüber die Jahre für die Stasi tätig. Vielen von ihnen warenBürgerinnen und Bürger der BRD, die keinem sozialenDruck ausgesetzt waren; sie haben aus freien Stückenmit der Stasi kooperiert.
Viel zu lange wurde die Aufarbeitung der SED-Diktaturim öffentlichen Bewusstsein nur als ostdeutsche Auf-gabe begriffen. Es ist endlich an der Zeit, den Blick zuweiten und auch die gesamtdeutsche Dimension in denVordergrund zu stellen.
So haben auch westdeutsche Unternehmen Waren imStrafvollzug der DDR fertigen lassen, ohne sich ausrei-chend über die Arbeitsbedingungen informiert zu haben.Teilweise wurde sogar auf die Zwangsarbeit politischerHäftlinge zurückgegriffen. Auch bei diesem Thema ste-hen wir erst am Anfang. Tiefergehende Forschung istnotwendig, um die Zusammenhänge aufzudecken. Wirsind es den Opfern, den Häftlingen schuldig, dass diesesThema nicht vergessen wird.
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29022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Burkhardt Müller-Sönksen
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Für uns ist der Bericht der Bundesregierung keines-falls eine abschließende Bilanz. Die Arbeit der Aufarbei-tungsinstitutionen wird sich in den nächsten Jahrenweiterentwickeln, um den Anforderungen einer Gesell-schaft, in der immer mehr Bürgerinnen und Bürger auf-grund ihres Alters keine eigenen Erfahrungen mehr mitder deutschen Teilung haben, gerecht zu werden.Um die junge Generation zu erreichen, braucht es Zeit-zeugenarbeit, authentische Erinnerungsorte und – dies istmir besonders wichtig – einen offenen und ehrlichenUmgang mit unserem eigenen Handeln in der Zeit derdeutschen Teilung. Neue Formen der Vermittlung sindnotwendig. Daher ist in meinen Augen die Idee einesCampus der Demokratie – oder wie immer man es nen-nen möchte –, in dem Archiv, Forschung und Bildungunter einem Dach zusammenkommen, besonders zu-kunftsweisend. Wir unterstützen dieses Projekt.Abschließend möchte ich sagen: Lieber HerrEhrmann, Konsens bei diesem Thema: „Ja, sehr gerne“,aber Konsenssoße mit der Linken: „Nein!“ Es wäre mirlieber gewesen, Sie hätten sich den Ausführungen derGrünen angeschlossen, anstatt sich sehr kleinlich anHerrn Kurth abzuarbeiten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst einmal danke ich dem Ältestenrat da-für, dass er diese Debatte heute in die Kernzeit gelegthat. Dort gehört sie hin.
Ich danke auch dem Vorsitzenden meiner Fraktion,Volker Kauder. Er ist der einzige Fraktionsvorsitzende,der dieser Debatte von Anfang bis Ende beiwohnt.
Als Abschlussredner ist es an mir, ein Stück weit aufmeine Vorredner einzugehen. Das will ich gerne tun.Als Erstes zu Ihnen, lieber Herr Wieland: Sie habenmir mit jedem Satz, den Sie hier gesagt haben, aus demHerzen gesprochen;
das wird Sie nicht überraschen. Aber vielleicht erlaubenSie mir eine Frage. Denn es gibt eine Sache, die ich nochnicht verstehen kann, nämlich wie angesichts derschrecklichen Geschichte, die seit Hitler auf Deutsch-land lastet, ausgerechnet in der westdeutschen Linken,ausgerechnet in den Kreisen, in denen man ein für alleMal mit solchen Dingen Schluss machen wollte, einMassenmörder wie Mao Zedong, eines der schlimmstenUngeheuer der neueren Menschheitsgeschichte,
zum Idol einer ganzen Jugendbewegung werden konnte.Das verstehe ich bis heute nicht.
Die Frage muss beantwortet werden. Man muss meinesErachtens auch einmal aufarbeiten, warum eine ganzeReihe von Menschen aus Ihren Kreisen dieses Idol auf-gebaut hat. Auch das gehört dazu.
Zweitens. Verehrter Herr Ehrmann, ich habe Ihnenaufmerksam zugehört. Ich muss sagen: Ich fasse esnicht, wie es möglich sein kann, dass Sie, der Sie dasGlück hatten, die DDR nicht am eigenen Leibe erlebenzu müssen, heute zum Kollegen Kurth sagen, er sei hierselbstgerecht aufgetreten, obwohl er im Grunde nur vonseinen Erlebnissen berichtet hat und dabei selbstver-ständlich etwas leidenschaftlich und temperamentvollgeworden ist.
Wissen Sie, wenn Sie sich in dieser Art und Weise alsBesserwisser von außen hinstellen, werden Sie in Ost-deutschland, jedenfalls unter denjenigen, die die DDR-Diktatur abgelehnt haben, niemals Akzeptanz finden;das ist der Punkt.
Meine Damen und Herren, hauptsächlich muss ichmich natürlich mit den Beiträgen der Linken befassen.
– Selbstverständlich. – Herr Bartsch, Sie haben so ein-drucksvoll gesagt, dass Sie eine Delegitimierung derDDR ablehnen.
Ich sage für mich und für meine Fraktion: Wir habenniemals, zu keinem Zeitpunkt, die Legitimitätsbeteue-rungen der DDR akzeptiert.
– Ich gehe auf alle Vorwürfe ein. Sie können sich IhreZwischenrufe sparen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29023
Arnold Vaatz
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– Ja, dürfen können Sie alles, aber Sie können es sichauch sparen, wenn Sie wollen. Das ist Ihnen anheimge-stellt.
Herr Wieland hat eben den entscheidenden Satz vonUlbrich genannt: Es muss alles schön demokratisch aus-sehen, aber wir müssen alles in der Hand haben. Das istaus dem Buch Die Revolution entlässt ihre Kinder vonWolfgang Leonhard. Hinter diesem Satz verbirgt sich:Man nutzt die Demokratie, um sie abzuschaffen.
Das war von der ersten Minute an die Kernbestrebungder DDR.Sie haben gesagt, wir sollen vor unserer eigenen Türkehren. Die CDU, die LDPD etc. seien alles Blockpar-teien gewesen, sie hätten das Lied der DDR gesungenusw. Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Es ist richtig, dassder Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministrationvom 1. Juli 1945 gelautet hat, die alten bürgerlichen Par-teien wiederherzustellen. Es gab Personen, die dieserEinladung gefolgt sind und das geglaubt haben.Einer derjenigen, die den Gründungsaufruf der CDUunterschrieben haben, war Andreas Hermes; zu HitlersZeiten zum Tode verurteilt, da vom Widerstand alsLandwirtschaftsminister auserkoren. Dieser Mann stelltesich an die Spitze der CDU. Wissen Sie wie lange? EinJahr! Dann kam die sowjetische Besatzungsmacht inKumpanei mit der SED und hat ihn erst einmal abge-setzt. Dann kamen Jakob Kaiser und Ernst Lemmer. Wielange haben sie die CDU geführt? Zwei Jahre! Dann pas-sierte dasselbe. So hat die SED nicht locker gelassen, bisdie CDU gleichgeschaltet war. Die CDU ist Opfer undnicht Täter gewesen.
Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Ich habe 1990auch gedacht: Diese CDU ist viel zu nahe an der SED,hier muss wirklich etwas verändert werden. Nachdemich in die CDU eingetreten bin, habe ich allerdings dieSchicksale derjenigen kennengelernt, die 1945 in dieserCDU gelandet sind und über diese ganze Zeit versuchthaben, ihre Existenz zu retten.
Sie mussten aber mit ansehen, wie die CDU von obenherab umgekrempelt wurde, und zwar von Ihnen.
Es ist nicht so, dass die CDU die SED gleichgeschaltethat, sondern die SED hat die CDU vergewaltigt und ka-puttgemacht. Das war das Ziel.
Das ist das, was Sie unter Demokratie verstehen.
Kollege Vaatz, gestatten Sie eine Bemerkung oder
eine Frage des Kollegen Thierse?
Nein.
– Ich will noch gerne ein paar Bemerkungen machen.Lieber Herr Bartsch, Sie haben uns bezichtigt, wirwollten die DDR und das Hitler-Regime gleichsetzen.Ich muss Sie auf eine Sache aufmerksam machen: DieDDR und das Hitler-Regime gleichzusetzen hat hier nie-mals, in keiner Sekunde, jemand versucht.
Allerdings gibt es das Recht auf Vergleich mit dem Ziel,Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beidenherauszuarbeiten.Sie fragen sich, weshalb die DDR über lange Jahre re-lativ ruhig überlebt hat, weshalb die Menschen das im-mer akzeptiert haben, sich jedenfalls den Anschein gege-ben haben. Eine Möglichkeit, um das herauszufinden, istin diesem Zusammenhang beispielsweise, einen Ver-gleich mit Norwegen anzustellen. Ich weiß nicht, ob Ih-nen der Name Vidkun Quisling bekannt ist. Dieser Mannhat bestimmt nicht dieselben Verbrechen wie Hitler be-gangen, man kann ihn nicht mit Hitler gleichsetzen – umGottes Willen. Aber das Schreckensregime, das er inNorwegen aufgebaut hat, konnte auf dem Abschre-ckungspotenzial, das Hitler in Deutschland errichtethatte, aufbauen.Oder lesen Sie das Buch von Jörg Baberowski Ver-brannte Erde über den Stalinismus in der Sowjetunion.Da lesen Sie, dass vor dem Krieg Quoten festgelegt wur-den, wie viele Menschen ein Parteisekretär in seiner Re-gion umbringen muss. Diese Praxis ist damals auch inDeutschland nicht verborgen geblieben. Wer als Ausläu-fer eines solchen Terrorregimes regiert, der verschafftsich selbstverständlich Respekt, aber nicht mit demokra-tischen Mitteln, sondern mit Angst und Schrecken. Unddas hat die SED gemacht.
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29024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Arnold Vaatz
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Meine Damen und Herren, es wäre noch viel zu sa-gen, aber ich muss leider abbrechen. Zuvor, Frau Präsi-dentin, muss ich noch eine Kritik loswerden. Die betrifftim Grunde das ganze Haus. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit darf sich nicht nur auf die Dimension derMenschenrechte und auf die Dimension der Vergewalti-gung der Demokratie beschränken. Wir haben nochmehr aufzuarbeiten, so zum Beispiel das ganze Kapiteldes wirtschaftlichen Versagens, der Planwirtschaft. Dennwir sind – das befürchte ich – in einigen Punkten genauauf dem Weg, auf dem die DDR gescheitert ist.
Deshalb lohnt auch die Aufarbeitung des wirtschaftli-chen Versagens der DDR.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/12115 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 c auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme,Josip Juratovic, weiteren Abgeordneten und derFraktion der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Durchsetzung des Entgeltgleich-
– Drucksache 17/9781 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 17/12782 –Berichterstattung:Abgeordnete Nadine Schön
Christel HummeNicole Bracht-BendtCornelia MöhringMonika Lazarb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem An-trag der Abgeordneten Dorothee Bär, MarkusGrübel, Ingrid Fischbach, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-ordneten Nicole Bracht-Bendt, Miriam Gruß,Rainer Brüderle und der Fraktion der FDPEntgeltgleichheit für Frauen und Männer ver-wirklichen – Familienfreundliche Unterneh-men als Beitrag zur Gleichstellung der Ge-schlechter– Drucksachen 17/12483, 17/12782 –Berichterstattung:Abgeordnete Nadine Schön
Christel HummeNicole Bracht-BendtCornelia MöhringMonika Lazarc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Renate Künast, Beate Müller-Gemmeke, EkinDeligöz, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFrauen verdienen mehr – Entgeltdiskriminie-rung von Frauen verhindern– Drucksachen 17/8897, 17/12575 –Berichterstattung:Abgeordneter Paul LehriederNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
– Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an der fol-genden Beratung nicht teilnehmen können, ihre Gesprä-che doch bitte außerhalb des Plenums zu führen, damitich die Aussprache eröffnen kann.Ich eröffne die Aussprache. Für die Unionsfraktionhat die Kollegin Nadine Schön das Wort.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gestern, am 21. März, haben wieder zahlrei-che Frauen und Männer am Brandenburger Tor eineKundgebung abgehalten. Eine Kundgebung, die dazudiente, auf den nach wie vor vorhandenen Entgeltunter-schied zwischen Männern und Frauen aufmerksam zumachen. Dieser beträgt 22 Prozent. Wenn man die Teilewegrechnet, die zu erklären sind, dann kommt man aufWerte zwischen 2 Prozent und 7 Prozent.Auch unsere Partei hat sich an dieser Kundgebung be-teiligt. Ich will mich herzlich bei allen bedanken, diegestern, aber auch schon in den Tagen und Wochen zu-vor in ganz Deutschland auf diese Entgeltunterschiede ineigenen Veranstaltungen, Kundgebungen und Diskus-sionsveranstaltungen aufmerksam gemacht haben.Wir, die Koalitionsfraktionen, haben bereits zumWeltfrauentag am 8. März einen Antrag vorgelegt, der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29025
Nadine Schön
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sich schwerpunktmäßig mit den Entgeltunterschiedenzwischen Männern und Frauen in Deutschland befasst.Dabei haben wir aber im Gegensatz zu Ihnen nicht ver-sucht, den Eindruck zu erwecken, man brauche nur eineinziges Gesetz und schon wäre man den Kampf gegendie Lohnlücke beherzt angegangen.
Leider ist die Wirklichkeit komplexer; denn der Entgelt-lücke liegen zahlreiche Ursachen zugrunde. Alle mussman angehen. Und das tun wir.
Durch den Ausbau der Kinderbetreuung und die Ini-tiativen für familienfreundliche Arbeitszeiten sorgen wirfür eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Dadurch werden die Auszeiten kürzer, die Teilzeitquotewird geringer, und wer Vollzeit oder vollzeitnah arbeitet,hat natürlich auch ein höheres Einkommen.
Wir werben mit zahlreichen Programmen und Projek-ten für mehr Frauen in technischen Berufen; denn mehrFrauen in diesen Branchen bedeutet weniger Entgeltun-terschiede.Wir wollen, dass mehr Frauen in Führungspositionenkommen.
Da gilt es schon einmal festzuhalten: Seit die CDU/CSU-Frauen dieses Thema lautstark aufgegriffen haben,hat sich in den Führungsetagen der deutschen Unterneh-men einiges bewegt. Da ist wirklich Bewegung hinein-gekommen. Daran hat auch unser Engagement seinenAnteil. Höhere Positionen bedeuten auch höhere Ein-kommen.Das alles sind strukturelle Maßnahmen, die dazu bei-tragen werden, dass die Entgeltlücke kleiner werdenwird. Und es sind gute Maßnahmen; denn sie sind nach-haltig.
Nachhaltig heißt in der Konsequenz, dass sie sich auchpositiv auf die Rentenlücke auswirken. Denn die Ent-geltlücke ist nicht das einzige Problem. Ein viel größeresProblem, das in meinen Augen noch viel dramatischerist, ist die Rentenlücke. Sie liegt teilweise bei über50 Prozent, und das ist wirklich dramatisch.
Deshalb sagen wir: Man muss gezielt etwas dafür tun,dass Frauen sich eine eigene Altersvorsorge aufbauenkönnen.Genau aus diesem Grund kämpfen wir auch dafür,
dass die Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben,mehr Rentenpunkte bekommen.
Das ist ein wichtiger Punkt, liebe Kollegen von der Op-position. Zu diesem Thema habe ich von Ihnen noch nieetwas gehört. Wir sind fest entschlossen, in der nächstenLegislaturperiode dafür zu sorgen, dass die Frauen, dievor 1992 Kinder bekommen haben, mehr Rentenpunktebekommen. Denn es ist nicht einzusehen, dass hier soein großer Unterschied gemacht wird.Ich würde mich freuen, Sie würden uns bei diesenganz konkreten Vorschlägen unterstützen. Das würdeden Frauen mehr bringen als solche Placebogesetze wieder Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben.
Außerdem haben wir durch den Bonus beim Betreu-ungsgeld nun die Möglichkeit, dass diejenigen, die ihrKind betreuen und deshalb ihre Berufstätigkeit reduzie-ren, mit 115 bzw. 165 Euro monatlich privat vorsorgenkönnen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht: Mehr als dieHälfte der Frauen reduziert ihre Berufstätigkeit, wenndas Kind noch im zweiten oder dritten Lebensjahr ist.Diesen Frauen haben wir die ganze Zeit gesagt – Sie sa-gen es nach wie vor –: Da habt ihr halt Pech gehabt;dann fehlen halt diese Punkte bei der Rente. – Genau daswollen wir nicht. Deshalb haben wir beschlossen, dassab Sommer diese Frauen 115 bzw. 165 Euro für die pri-vate Altersvorsorge anlegen und somit einiges für dieRente tun können.
Das ist gut; das ist richtig; das ist ein ganz wichtigerSchritt beim Thema Entgeltungleichheit und Rentenlü-cke im Alter.
Sie, liebe Kollegen der Opposition, versuchen aller-dings mit Ihren heute vorgelegten Gesetzentwürfen, denEindruck zu erwecken, man brauche nur ein kleines Ge-setz zu machen und schon wären Rentenlücke und Ent-geltlücke bekämpft. Ein Entgeltungleichheitsgesetz ha-ben Sie vorgelegt. Ich dachte zunächst: Das ist vielleichtganz interessant; denn alles, was uns hilft, diese Lückezu bekämpfen, ist erst einmal gut. Aber wenn man sichanschaut, was Sie genau vorschlagen, kriegt man wirk-lich das kalte Grausen.
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29026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Nadine Schön
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Nach Ihren Vorstellungen sollen Unternehmen ab 15 Be-schäftigten regelmäßig detailliert über ihre Lohnstruktu-ren Rechenschaft ablegen. Das heißt, alle Unternehmenab 15 Mitarbeitern müssen einen eigenen Bericht ferti-gen und die komplette Lohnstruktur ihres Unternehmensoffenlegen. Zum obersten Sittenwächter wird dann dieAntidiskriminierungsstelle. Sie soll prüfen, ob es in Tau-senden von Betrieben gleiche Bezahlung für gleichwer-tige Arbeit gibt.In der Anhörung ist schon deutlich geworden, dass essehr schwer ist, gleichwertige Arbeit zu definieren.
Ihr Gesetzentwurf gibt auf diese Frage auch überhauptkeine Antwort. Sie schreiben, die Antidiskriminierungs-stelle soll das bewerten. Letzte Instanz soll nicht etwaein Gericht sein, sondern die Antidiskriminierungsstelle.Sie soll als letzte Instanz darüber entscheiden, ob Unter-nehmen bestraft und Sanktionen verhängt werden. Auchdas wurde in der Anhörung kritisiert. Das alles zusam-mengenommen ist nicht nur rechtlich äußerst bedenk-lich, sondern es ist auch gar nicht umsetzbar.
Fakt ist: Was Sie vorschlagen, bringt eine ganzeMenge Bürokratie für die Unternehmen. Jedes Unter-nehmen ab 15 Mitarbeitern muss künftig Berichte ferti-gen. Seien wir ehrlich: Wer fertigt diese Berichte? Meis-tens die Frauen, die in den Büros sitzen. Sie dürfen dasnoch zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit machen.
Das bringt nur Mehrbelastung. Es ist zugleich aber nichterwiesen, dass uns das beim Bekämpfen der Entgeltun-gleichheit auch nur einen Schritt weiterbringt.Ich bin mir sicher, dass die Frauen in Deutschlandnicht auf dieses durchschaubare Manöver hereinfallenwerden. Das ist der Versuch, Ihren Spitzenkandidaten,der offensichtlich einige Probleme mit Frauen hat, etwasaufzuhübschen.
Er ist leider heute auch nicht anwesend. Das ist sehrschade. Die Kehrtwende, die jetzt versucht wird, wirdaber nicht einmal von den eigenen Frauen aufgenom-men. In der Presseberichterstattung der letzten Tage istnachzulesen, dass, als er das Thema auf einer Veranstal-tung angesprochen hat und eine Frau kritisch nachge-fragt hat, sie gefragt wurde, ob sie denn wirklich in derrichtigen Partei sei. – So geht man mit Kritik in IhrenReihen um. So geht man mit Frauen in Ihren Reihen um,wenn sie einmal kritische Nachfragen stellen.
Das ist ein wirklich sehr durchschaubares Wahlkampf-manöver. Darauf werden die Frauen in diesem Landnicht hereinfallen. Wir wollen gemeinsam erfolgreichdaran arbeiten, dass die Entgeltlücke kleiner wird undvor allem auch die Rentenlücke im Alter kleiner wird.
Das Wort hat der Kollege Dr. Frank-Walter
Steinmeier für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Schön, Lesen hätte geholfen.
Über dem Gesetzentwurf steht nicht „Gesetz zur Entgelt-ungleichheit“, sondern „Engeltgleichheitsgesetz“; dasGesetz soll nämlich zur Entgeltgleichheit führen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, zehn Wo-chen bzw. 57 Arbeitstage innerhalb dieser zehn Wochen –so lange müssen Frauen dieses Jahr länger arbeiten, umauf den gleichen Lohn zu kommen wie die Männer. Bisgestern, bis zum Equal Pay Day, waren alle erwerbstäti-gen Frauen in Deutschland allein damit beschäftigt, denLohnrückstand aus dem letzten Jahr aufzuholen. Ichhoffe, dass wir uns bei allen Unterschieden wenigstensüber eines einig sind: Jeder Tag dieser zehn Wochen isteiner zu viel, und deshalb muss das aufhören.
Wenn wir uns darüber einig sind, dann müssen wir auchetwas tun. Lamentieren allein – das stellen wir gelegent-lich auch auf anderen Feldern fest – hilft nicht. In denletzten Jahren hat sich nur leider kaum etwas bewegt.Sie haben es zitiert, allerdings falsch ausgewertet: Im-mer noch verdienen erwerbstätige Frauen 22 Prozentweniger Lohn als die Männer. Das sind pro Stunde im-merhin 4 Euro weniger Lohn. Damit sind wir europaweitSchlusslicht bei der Entgeltgleichheit. Das darf dochnicht so bleiben.
Es geht hier nicht um die Probleme Einzelner. Schuldsind nicht die Frauen, die – das liest man gelegentlich –bei Lohnverhandlungen entweder zu bescheiden sindoder nicht genügend streng verhandeln können. DieLohnlücke zwischen Männern und Frauen – das wissenwir doch alle – ist kein individuelles Problem. Da gibt essystematische Benachteiligungen:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29027
Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Erstens werden typische Frauenberufe nach wie vorschlechter vergütet als klassische Männerberufe, obwohlverdammt noch mal in der Altenpflege viel und hart ge-arbeitet wird.
Zweitens sind es eben vor allen Dingen Frauen, diedie Erwerbstätigkeit gelegentlich unterbrechen, entwe-der um die Kinder zu erziehen oder um die Pflege vonAngehörigen zu leisten. Je länger die Auszeit ist – auchdas zeigt die Erfahrung –, desto höher sind anschließenddie Einbußen beim Lohn.Drittens sitzen Frauen zu oft in der Teilzeitfalle.Viertens sind die Führungsetagen immer noch Män-nerdomänen.Und selbst da, wo es Frauen geschafft haben, gleicheTätigkeiten auszuüben, ist bei gleicher Qualifikation undgleicher Tätigkeit immer noch schlechterer Lohn für dieFrauen an der Tagesordnung. Wenn wir nichts tun, dannwird das so bleiben, und genau das darf nicht sein.
Nun ist das keine völlig neue Diagnose. Diese Dia-gnose liegt schon länger auf dem Tisch. Aber nicht nurdas: Auch Rezepte liegen schon länger auf dem Tisch,zum Beispiel der Entwurf eines Gesetzes für mehrFrauen in Aufsichtsräten und Vorständen,
zum Beispiel der Entwurf eines Gesetzes für den Ausbauvon Kindertagesstätten. Zu all dem haben wir Vorschlägeunterbreitet. Hinzu kommt der Vorschlag, den wir Ihnenheute unterbreiten, der Entwurf eines Entgeltgleichheits-gesetzes. Das Traurige ist: Nichts von dem können wirmit dieser Regierung machen. Alles, was Ihnen in letzterZeit eingefallen ist, ist ein Betreuungsgeld, das mehr Pro-bleme schafft als beseitigt. Das ist aus meiner Sicht – las-sen Sie es mich einmal so sagen – eine zynische Antwortfür Frauen, die arbeiten müssen und verzweifelt nach ei-nem Kitaplatz suchen. Das ist bildungspolitisch eine Ka-tastrophe, es ist familienpolitisch falsch, und es ist zy-nisch. Deshalb ist das die falsche Antwort für Familien,die falsche Antwort für Kinder und erst recht die falscheAntwort für Frauen.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das war schon dieForderung der ersten weiblichen Abgeordneten der Wei-marer Republik. Ich weiß nicht, ob die sich hätten träu-men lassen, dass wir 90 Jahre später noch immer überdasselbe Thema, noch immer über dasselbe Problem,noch immer über Lohnungleichheit in dieser Dimensionreden.
Weil das so ist, weil wir noch immer darüber redenund das Reden nichts geholfen hat, brauchen wir einegesetzliche Regelung. Appelle allein – das haben wir ge-sehen – sind nicht geeignet, um die Welt zu verändern.Die Verantwortlichen sowohl in den Unternehmen alsauch, wie ich glaube, die Tarifpartner brauchen einen ge-setzlichen Rahmen, in dem Lohndiskriminierung zu-nächst einmal offengelegt wird, um sie dann zu beseiti-gen. Nur so erreichen wir – davon bin ich überzeugt –endlich unser Ziel. Das Ziel ist, dass der Equal Pay Daynicht irgendwann Mitte März, sondern in Zukunft am1. Januar stattfindet. Darum geht es.
Die FDP äußert sich zu diesen Dingen überhauptnicht; das hat sie auch am Brandenburger Tor nicht ge-tan.
Die CDU/CSU war, wie in den vergangenen Jahren,auch diesmal vertreten. Deshalb sage ich an die Uniongerichtet: Wenn auch Sie der Meinung sind, dass dieLohnunterschiede überholt sind und dass man etwas ma-chen muss, dann machen Sie bitte in Zukunft keine fal-schen Versprechungen am Brandenburger Tor, sondernzeigen Sie, dass Sie Kreuz haben, und stimmen Sie unse-rem Gesetzentwurf zu.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier. –
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion der FDP unsere Kollegin Frau Nicole Bracht-Bendt.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! HerrSteinmeier, wir waren nicht am Brandenburger Tor, aberwir waren am Hauptbahnhof und intensiv im Gesprächmit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes.
Zweitens frage ich mich, was Sie denn in den vergan-genen Jahren gemacht haben. Sie hatten doch die Mög-lichkeit, einen Gesetzentwurf dazu vorzulegen, aber Siehaben nicht gehandelt.
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29028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Nicole Bracht-Bendt
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Männer und Frauen arbeiten auf Augenhöhe: Das istin der FDP-Fraktion das Leitmotto.
– Hören Sie zu! – Das war auch gestern bei unserer Ak-tion am Hauptbahnhof zum Equal Pay Day so. Wir allewissen, dass es immer noch Defizite bei der Entgelt-gleichheit gibt. Der im Grundgesetz verankerte Art. 3Abs. 2 und 3, wonach niemand wegen seines Geschlech-tes benachteiligt werden darf, ist immer noch nicht über-all umgesetzt. Das ist bedauerlich.Wenn Männer und Frauen unterschiedlich hohe Ge-hälter bekommen – das haben auch Sie, Herr Steinmeier,angesprochen –, obwohl sie die gleiche Qualifikationund Berufserfahrung haben, besteht Handlungsbedarf.
Das steht für uns außer Frage.Wir sollten aber endlich mit der leidigen Geschlech-terkampfdebatte aufhören.
Ich halte es für unredlich, wenn neue Zahlen über dieVerdienste von Frauen und Männern veröffentlicht wer-den und jedes Mal so getan wird, als würden Frauen inDeutschland generell bei gleicher Qualifikation und Be-rufserfahrung 22 Prozent weniger als ihre männlichenKollegen aufs Gehaltskonto überwiesen bekommen.
Das ist eine reine Irreführung und Stimmungsmache, dieskandalös ist.
Fakt ist: Den größten Anteil an der Gehaltslücke ha-ben die Erwerbsunterbrechungen. Eine Frau, die sichnach der Geburt eines Kindes dafür entscheidet, einigeJahre zu pausieren, um sich ausschließlich ihrem Kindoder mehreren Kleinkindern zu widmen, tut dies ausfreien Stücken. Hier hat sich der Staat herauszuhalten.
Wir sollten auch mit dem Märchen von den ach soschlimmen Minijobs aufhören. Die Minijobs sind nichtper se schlecht.
– Hören Sie zu! – Problematisch wird es, wenn die Frauzu lange zu Hause bleibt. Längere familienbedingte Aus-zeiten bremsen häufig die Karriere von Frauen aus.Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft machenallein familienbedingte Erwerbsunterbrechung und Teil-zeitarbeit 56 Prozent des Lohnunterschiedes aus. Zielmuss sein, die Babypause möglichst kurz zu halten. Je-der Monat länger weg vom Beruf oder ein Teilzeitjobmachen es Frauen schwerer, im AufstiegswettbewerbErfolg zu haben.
Dass die SPD-Fraktion reflexartig sagt, dass ein Ge-setz hermuss, überrascht uns nicht mehr. Denn die SPD-Fraktion glaubt, ohne Gesetz funktioniert in unseremLande nichts. Ich denke, wir beweisen das Gegenteil.Das ist eben der elementare Unterschied zwischen Ihnenund uns.
Mit einem Entgeltgleichheitsgesetz käme auf die Unter-nehmen ein neues Bürokratiemonster zu. Mit Bürokra-tieabbau, den wir immer anstreben, hat das wahrlichnichts zu tun.Was mich ehrlich verblüfft, ist, dass die Gewerkschaf-ten die Füße so still halten. Sie sind es doch, die zusam-men mit den Arbeitgebern am Tisch sitzen und ihre Un-terschrift unter Tarifverträge setzen.
Wenn wir über ungerechte Lohnlücken reden, ist esQuatsch, die Tarifautonomie auszuhebeln. Hier sind dieGewerkschaften in der Pflicht, sich für die Rechte undInteressen der Frauen einzusetzen.
Ein anderes Thema sind die sogenannten traditionel-len Frauenberufe. Sie werden ja bekanntlich meistensschlechter besoldet als traditionelle Männerberufe. Wirsollten darüber reden, warum das so ist. Auch hier ver-misse ich eine klare Ansage der Gewerkschaften.Wir haben schon in den vorausgegangenen Debattenfestgestellt:
Um Entgeltgleichheit herzustellen, müssen wir die Ursa-chen für die Unterschiede aufdecken und handeln. Wirsind dabei. Wir tun dies.
Der Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP
hat die Verwirklichung der Entgeltgleichheit mit Blickauf die Ursachen in Zusammenarbeit mit der Gesell-schaft, den Tarifpartnern, Frauen- und Wirtschaftsver-bänden zum Gegenstand.
Für uns Liberale ist Transparenz – ich wiederhole es –die zentrale Herausforderung. Unternehmen, in denenMitarbeiterinnen für gleiche Leistung und bei gleicher
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29029
Nicole Bracht-Bendt
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Qualifikation weniger Gehalt bekommen als die Mitar-beiter, werden spätestens dann, wenn der Fachkräfte-mangel richtig losgeht, den Kürzeren ziehen.Es ist ja auch nicht so, dass die Bundesregierung inSachen Entgeltgleichheit noch nichts unternommen hat.
Das Lohntestverfahren Logib-D und das Unternehmens-programm „Erfolgsfaktor Familie“ gewährleisten auf dereinen Seite rechtliche Grundlagen, um Entgeltgleichheitdurchzusetzen. Auf der anderen Seite werden die Öffent-lichkeit, die Unternehmen und die Tarifpartner aktiv indie Strategie eingebunden.
Um die Lohnlücke zu schließen, müssen wir also dieUrsachen im Blick behalten:Erstens. Frauen sind in Berufszweigen, in denen esnur geringe Aufstiegsmöglichkeiten gibt, überrepräsen-tiert.
Zweitens. Frauen entscheiden sich häufig für Berufeauf einem unteren Einkommensniveau.
Eine Diplompädagogin verdient heute durchschnittlich2 500 Euro im Monat, während schon das Einstiegsge-halt eines Absolventen eines Studienganges für Umwelt-technik oder Maschinenbau 1 000 Euro darüber liegt.
Die Berufswahl ist immer noch eines der entscheidendenKriterien für die Gehaltsentwicklung.Wir können und wollen Frauen nicht dazu zwingen,sich beruflich anders zu orientieren und statt Philosophieoder Pädagogik besser Mathematik oder Ingenieurswis-senschaften zu studieren.
Wir müssen aber dafür sorgen – vielleicht hören Sie aucheinmal zu –, dass junge Frauen wissen, dass die Berufs-wahl für die Karrieremöglichkeiten und das spätere Ein-kommen ausschlaggebend sein kann.
– Ja, Mindestlohn; nur diese Antwort kommt für Sie jainfrage.Die dritte Ursache ist bekannt – aber ich wiederholesie, weil ich sie für ursächlich und für die gravierendstehalte –:
Je länger die Familienphase, in der die Frau aus dem Be-ruf aussteigt, desto schwieriger wird auch der Wieder-einstieg.
Junge Frauen müssen sich die Konsequenzen klarma-chen: Die Lohnlücke, die während der Familienphaseentsteht, kann nicht mehr geschlossen werden. Abgese-hen davon bedeutet weniger Gehalt automatisch auchweniger Rente.Die Politik der Liberalen folgt dem Grundsatz:
Frauen und Männer arbeiten auf Augenhöhe.
Gleiches Gehalt für gleiche Arbeit muss deshalb selbst-verständlich sein. Auch wenn Sie es nicht hören wollen:Wir wollen dasselbe wie Sie, nur ohne Gesetz.
Politik, Unternehmen und Frauen müssen gemeinsaman einem Strang ziehen. Ein weiteres Gesetz, wie es dieSPD plant, ist aus Sicht der FDP-Fraktion, wie Sie sichdenken können, nicht der richtige Weg. Deshalb werdenwir Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. – Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die
Linke unsere Kollegin Frau Diana Golze. Bitte schön,
Frau Kollegin Diana Golze.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, dergestrige Equal Pay Day markierte eine der größten Un-gerechtigkeiten, die es in diesem Land gibt. Denn ges-tern – das wurde bereits angesprochen – endete die Zeit-spanne, die Frauen im Jahr 2013 länger arbeitenmussten, um genauso viel zu verdienen, wie der Durch-schnittslohn eines Mannes im Jahr 2012 betrug. Für diegleiche Bezahlung 80 Tage länger arbeiten müssen,80 Tage für lau arbeiten müssen, das ist eine riesige Un-gerechtigkeit und ein Beweis für den Unwillen zu politi-schem Handeln.
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29030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Diana Golze
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Häufig heißt es – dieser Gedanke hat in dieser De-batte schon eine Rolle gespielt –, die Entgeltungleichheitliege daran, dass Frauen eben schlechter bezahlte Berufeergriffen. Das ist ein Satz, der schnell dahingesagt istund den viele aus ihren Alltagserfahrungen heraus viel-leicht bestätigen würden. Aber dieser Satz ist gefährlich,in mehrerlei Hinsicht:Zum einen verschleiert er, dass Frauen auch in densogenannten Männerberufen schlechter bezahlt werdenals ihre männlichen Kollegen,
dass selbst nach Berücksichtigung von Teilzeitbeschäfti-gung und Babypausen immer noch eine Lohnlückebleibt.Zum anderen macht eine solche Aussage die Frauenzu Anwältinnen in eigener Sache, ohne dass sie etwas anden Ursachen ändern könnten. Mit der Zuweisung derVerantwortung für schlechtere Bezahlung an die Frauenselbst stiehlt sich die Politik, stiehlt sich die Gesellschaftaus der eigenen Verantwortung.
Die Politik hat damit einen schönen Vorwand dafür, wes-halb sie die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmennicht ergreift, und in der Öffentlichkeit wird dieser Miss-stand als individuelles Problem und nicht als gesell-schaftliche Ungerechtigkeit wahrgenommen.Es ist aber kein individuelles Problem, wenn Ge-haltseinstufungen von Arbeitgebern intransparent vorge-nommen werden. Es ist kein individuelles Problem,wenn Lücken in der Erwerbsbiografie, die durch Erzie-hungszeiten oder das Muttersein an sich entstanden sind,als nicht kalkulierbares Ausfallkriterium eingeschätztwerden. Es ist auch kein individuelles Problem, wennvon Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Ar-beitswelt immer mehr Flexibilität gefordert wird, wasein Familienleben fast unmöglich macht.Nein, meine Damen und Herren, es ist ein riesengro-ßes gesellschaftliches Problem, wenn die sogenanntenFrauenberufe – die Berufe der Alten- und Krankenpfle-gerinnen, der Friseurinnen, der Frauen im Gesundheits-wesen, der Grundschullehrerinnen, der Erzieherinnen inder Kita – die schlecht bezahlten Berufe sind.Solange der Beruf der Erzieherin ein reiner Frauenbe-ruf war, hat sich für dessen schlechte Bezahlung kaumjemand interessiert. Nun aber, da unsere Ministerin fürFrauen, Kristina Schröder, gern auch mehr Männer indie Kitas locken möchte, kommt das Thema Bezahlungganz plötzlich auf den Tisch.
Insofern finde ich es schade, Frau Ministerin, dass Siesich in dieser Debatte heute gar nicht zu Wort gemeldethaben.
Ich frage Sie, liebe Damen und Herren: Wer hat dasRecht, die Arbeit dieser Frauen durch eine schlechtereBezahlung derart herabzuwürdigen?
Und wer hat das Recht, auch noch mit dem Finger aufdie Frauen zu zeigen und ihnen vorzuhalten: „Hättet ihreinen Männerberuf gewählt! Dann hättet ihr das Problemnicht“? Niemand hat dieses Recht!
Was tun die Bundesregierung und die sie tragendenFraktionen, um die Einkommenssituation der Frauen zuverbessern? Schauen wir einmal auf den gestrigen Tagzurück: Bei der Aktion des Deutschen Gewerkschafts-bundes vor dem Brandenburger Tor, Frau Bracht-Bendt,war die FDP weder mit einem Stand noch mit einer Red-nerin vertreten.
– Ich habe Ihnen zugehört: Sie waren am Hauptbahnhof;zu welchem Thema, haben Sie uns nicht verraten.
Es ist zumindest konsequent, dass man sich, wenn mannichts zu sagen hat, an solchen Aktionen auch nicht be-teiligt.
Zu diesem Entschluss konnte sich die CDU/CSU lei-der nicht durchringen. Im Gegenteil, sie hatte sogar einebesonders tolle Idee. Sie ist mit Plakaten gekommen, aufdenen die bahnbrechende Ankündigung „Mütterrentekommt!“ zu lesen war.
Respekt! Derart am Thema vorbei zu plakatieren, dasmuss man erst einmal hinbekommen.
Einmal ganz davon abgesehen, dass Sie einem diesbe-züglichen Antrag meiner Fraktion gerade erst nicht zu-gestimmt haben, ist festzuhalten: Es ging gestern um dieungleiche Bezahlung von Frauen und Männern im Be-rufsleben. Sie haben also das Thema verfehlt.So verwundert es mich auch nicht, dass es keinen ent-sprechenden Gesetzentwurf der Regierung gibt. Warum
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29031
Diana Golze
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sollten Sie sich auch in persönliche Aushandlungspro-zesse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitgebern einmi-schen? Warum sollten Sie auch politische Verantwortungfür individuelle Probleme von Frauen übernehmen? Ichsage Ihnen, warum: Weil es Ihre Pflicht und Schuldigkeitals Regierung wäre.Könnten Sie nach der Ablehnung einer Frauenquotefür Führungspositionen, nach dem Festhalten am Ehe-gattensplitting, nach der Einführung des Betreuungsgel-des nicht wenigstens einmal so tun, als wenn die Gleich-stellung der Geschlechter für Sie ein Thema wäre?
Werte Kolleginnen und Kollegen, der Handlungsbe-darf für die Politik liegt auf der Hand. Ich möchte nurdrei Beispiele nennen:Erstens. Wir brauchen gesetzliche Regelungen zurDurchsetzung der Entgeltgleichheit. Unternehmen müs-sen verpflichtet werden, ihre Entgeltpraxis geschlechter-gerecht zu gestalten, und dies muss für alle Beschäftig-ten transparent erfolgen.
Zweitens. Ja, wir brauchen endlich – Frau Bracht-Bendt wartet ja schon darauf, dass ich es sage – einengesetzlichen Mindestlohn als Lohnuntergrenze,
weil besonders Frauen von Dumpinglöhnen betroffensind und sie gerade deshalb von einem Mindestlohn ammeisten profitieren würden.
Drittens. Auch die Forderung nach einem Rechtsan-spruch auf Rückkehr aus Teilzeit- in Vollzeitbeschäfti-gung teilen wir. Er gehört dazu, damit Frauen ihre Ar-beitszeit nach einer familienbedingten Reduzierungwieder aufstocken können. Die Frauenministerin hat die-sen Rechtsanspruch beim Familiengipfel vor wenigenTagen angesprochen und geäußert, sie würde sich dafüreinsetzen. Dieser Ankündigung müssen nun aber auchTaten folgen.
Verehrte Damen und Herren, auf dem Weg zu wirkli-cher Gleichberechtigung der Geschlechter gibt es viel zutun. Solange die Mehrheit dieses Hauses ihre Verweige-rungshaltung aber leider nicht aufgibt, bleibt der Weg fürviele Frauen eine Sackgasse.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. – Nächste Redne-rin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Katrin Göring-Eckardt. Bitte schön, Frau Kollegin Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esgibt die aktuelle Studie des Statistischen Bundesamtes,die sagt, Frauen verdienen im Schnitt 22 Prozent weni-ger als Männer. Vor kurzem – so steht es auch noch inunserem Antrag – waren es noch 23 Prozent. Die Regie-rung sagt an einer solchen Stelle dann gerne: Wir sindauf einem guten Weg; das ist ein großer Schritt voran.
Aber Spaß beiseite. Tatsache ist: Deutschland liegt inder EU ganz am Ende, was die Lohnunterschiede zwi-schen Frauen und Männern angeht. Das ist ein Skandal,und es zeigt übrigens auch, dass es nicht an den Frauenliegt, sondern an der Struktur: an fehlender Gesetzlich-keit und an falschen Vereinbarungen.
Frau Schön, wenn man sich das, was Sie hier gesagthaben, im Protokoll noch einmal anschaut, dann liestman: wir wollen, wir wollen, wir wollen, wir kämpfenfür. – Meine Güte! Wer regiert hier eigentlich? Sie regie-ren doch! Sie hätten das doch längst tun können! Siemüssen nicht wollen, Sie müssen machen!
Frau Bracht-Bendt, ich finde es in besonderer Weisedoppelt diskriminierend, wenn Sie sich hier hinstellenund sagen: Die Frauen sind doch selber schuld. Sie er-greifen einfach die falschen Berufe. – Nein, die Frauensind nicht selber schuld. Die Politik hat die Verantwor-tung, dafür zu sorgen, dass es Entgeltgleichheit gibt; siedarf diese Verantwortung nicht den Frauen zuschieben,die dann doppelt gestraft sind.
Über die Gründe der Lohndiskriminierung ist schonviel geredet worden. Selbstverständlich sind die fami-lienbedingten Erwerbsunterbrechungen der Haupt-grund. Das Stichwort „Gläserne Decke“ gehört dazu.Das ist ein ganz entscheidender Faktor.Hinzu kommt natürlich auch die Alltagsdiskriminie-rung, nach dem Motto: Frauen können es eben nicht sogut wie Männer. – Danach wird in vielen Betrieben nachwie vor verfahren. Das ist eine plumpe Diskriminierung.Es ist richtig: Hier brauchen wir eine andere Unterneh-menskultur.Meist ist es aber noch viel subtiler. Die Kranken-schwester verdient weniger als der Müllmann, die Erzie-herin verdient weniger als der Automechaniker. Die Er-zieherin in Mecklenburg-Vorpommern verdient unter
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29032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Katrin Göring-Eckardt
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7 Euro pro Stunde. Das hat mit Respekt überhaupt nichtsmehr zu tun. Gleichwertige Arbeit muss endlich gleichbezahlt werden.
Wir müssen darauf achten, welches Signal wir hiersetzen. Wir reden über demografische Entwicklung, überPflegenotstand und über einen drastischen Mangel anErzieherinnen und Erziehern. Es ist absurd, zu glauben,das würde sich irgendwie regeln, solange diese Berufe inDeutschland nicht endlich besser bezahlt werden. Dafürhaben wir als Politiker eine Verantwortung.
Ich finde, man muss sich auch noch einmal genau an-gucken, was Angela Merkel und ihre Koalition machen.Das alles ist eine Als-ob-Politik nach dem Motto: einefreiwillige Verpflichtung, eine freiwillige Selbstver-pflichtung, auf der Basis der Freiwilligkeit. Die von die-ser Regierung gern bemühte Freiwilligkeit ist ein Code-wort für nur eines: abwarten und nichts tun. – DieGeduld der Frauen in diesem Land ist am Ende. Sie ver-dienen endlich mehr Geld statt irgendwelcher warmerWorte hier.
Deswegen ist es notwendig, dass wir das Gesetz zurEntgeltgleichheit bekommen. Deswegen ist es notwen-dig, dass es klare Sanktionen und klare Pflichten zurÜberprüfung und zur Beseitigung der Diskriminierunggibt. Wir wollen ein Gesetz für Lohngleichheit mit ver-bindlicher Durchsetzung und wirklichen Sanktionen.Wir brauchen endlich eine verbindliche Regelung stattirgendwelches Gerede. Dafür werden wir auch kämpfen.
Natürlich brauchen wir andere Rahmenbedingungen.Ja, wir brauchen den Mindestlohn. Wir sollten uns hiernicht hinstellen und so tun, als ob die Teilzeitarbeit dieFalle wäre. Nein, Frauen verdienen auch in Teilzeit we-niger als Männer.
Das ist doch absurd. Ja, wenn man über den Gender PayGap redet, darf man auch über den Gender Pension Gapnicht schweigen. Wenn Sie von Mütterrente und von Le-bensleistungsrente reden, haben Sie genau die Frauen,die es betrifft, nicht im Blick.
Sie machen nichts anderes, als jahrzehntelang ein fal-sches Familienmodell zu subventionieren und hinterhererschreckt zu sagen: Meine Güte, das könnte für dieMütter im Alter finanziell eng werden. – Nein, das istfalsch. Altersarmut wird auch mit Ihren Vorschlägenweiblich bleiben. Deswegen braucht es hier eine andereLösung, eine echte Garantierente, mit der die Altersar-mut von Frauen wirklich bekämpft wird. Das, was beiIhrem Koalitionsgeschwurbel am Ende herausgekom-men ist, kann vielleicht für Sie gut sein, damit endlichRuhe herrscht; aber es ist nicht gut für die Frauen, denenAltersarmut droht.
Zum Schluss: Ja, Frauen bekommen schlechtere Ge-hälter, auch im gleichen Job. Ja, Frauen wechseln ihreJobs nicht so oft wie Männer. Wenn sie es endlich ge-schafft haben, die Kitaöffnungszeiten, die Arztsprech-stunden, den Klavierunterricht und das Fußballtrainingmit dem eigenen Job zusammenzubringen, dann werdensie nicht dauernd von einem Job zum anderen wechseln.Auch das führt dazu, dass sie weniger verdienen.Frauen machen übrigens auch weniger Fortbildung inDeutschland. Warum? Weil sie sie seltener vom Arbeit-geber bezahlt bekommen als Männer, nicht etwa, weilsie sagen, sie hätten dafür keine Zeit. Ja, es bleibt ab-surd, dass beim Müllmann die körperliche Belastungzählt und bei den Pflegekräften eben nicht. Ja, es bleibtabsurd, dass wir keine vernünftigen Rahmenbedingun-gen dafür haben, dass Frauen tatsächlich wieder in denBeruf zurückkehren und Vollzeit arbeiten können. So-lange Sie auch nur 1 Euro für das sinnlose Betreuungs-geld ausgeben, tun Sie nichts dafür, dass sich an der Si-tuation der Frauen etwas ändert.
Man muss ganz einfach sagen: An einem Tag im Jahrgeht es um Equal Pay. Eigentlich müsste an 365 Tagenim Jahr in dieser Frage politisch aktiv gehandelt werden.Die notwendige gesellschaftliche Debatte gehört dazu.Aber es gehört eben auch ganz knallharte Politik dazu.Vor allem ist es aber absurd, nur noch einen Tag längeranzunehmen, mit dieser Regierung würde sich zumWohl der Frauen irgendetwas ändern.
Vielen Dank, Frau Kollegin Katrin Göring-Eckardt. –
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Elisabeth
Winkelmeier-Becker. Bitte schön, Frau Kollegin
Winkelmeier-Becker.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Wir sind uns in der Tat in vielen Punkten einig.Herr Steinmeier, dass im Schnitt Frauen fast drei Monatelänger arbeiten müssen als Männer, um so viel zu verdie-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29033
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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nen wie das, was Männer schon am Silvesterabend in derKasse haben, ist empörend und ungerecht. Es ist klar,dass das ein wichtiges Handlungsfeld der Politik seinmuss.Es sind viele Punkte angesprochen worden, die indem Ursachengeflecht eine Rolle spielen. Auch die An-hörung hat da keine wirklich große Überraschung ge-bracht. Die Zusammenhänge, die dort dargestellt wur-den, waren bekannt: Erwerbsunterbrechungen wegenfamiliärer Sorgearbeit, Reduzierung der Arbeitszeit,Teilzeit, Minijobs, die Rollenklischees, das Berufswahl-verhalten. All diese Themen kennen wir seit langem,auch in ihrem Zusammenspiel. Es zeigt, dass die Aus-ganssituation sehr schwierig ist.Ich möchte drei Sätze dazu sagen, wie es dazu ge-kommen ist. Die Bundesrepublik hat einfach mit einem– in Anführungszeichen – „normalen“ Familienbild be-gonnen, das sich über die Jahrzehnte etabliert hat. Da-rum herum haben sich das Steuerrecht und das Bildungs-system entwickelt. In diesem Modell haben Frauen nurdazuverdient. Das wurde damals gar nicht als Defizitempfunden. Das sehen wir heute natürlich ganz anders.Das ist heute so nicht mehr denkbar. Da haben sich dieSituation, die Erwartungshaltung und auch die – berech-tigten – Ansprüche der Frauen deutlich verändert.Der Verweis auf die historische Entwicklung machtdas Ergebnis, mit dem wir heute konfrontiert sind, nichterträglicher, sondern ist als Aufforderung zu verstehen,uns dieser großen Aufgabe zu stellen.
Es handelt sich wirklich um eine große Aufgabe. Ichhabe nicht die Hoffnung, dass sie sich mit einem auf Be-triebe beschränkten Entgeltgleichheitsgesetz wuppenlässt.Ich habe noch eine Bitte. Wir sollten die Diskussionnicht so führen, dass sich diejenigen, die das beschrie-bene Modell gelebt haben, diskriminiert oder in ihrer Ar-beit nicht gewürdigt fühlen. Viele Frauen hatten damalskeine andere Wahl. Sie haben eine tolle Arbeit geleistet,haben ihre Familien gut versorgt und Kinder erzogen.Aber am Ende sehen sie sich mit dem Gender PensionGap konfrontiert. In der Tat sollten wir hier etwas tun.Die Anerkennung von Erziehungszeiten kann ein Ele-ment sein. Damit sind an dieser Stelle sicherlich nichtalle Probleme gelöst. Aber so kann durchaus ein relevan-ter Beitrag geleistet werden.Ich kann nicht auf alle Punkte eingehen, die anzuspre-chen wären. Ich möchte aber auf den Zusammenhangzwischen Berufsunterbrechung und der Entwicklung vonBerufschancen eingehen. Ich möchte ausdrücklich sa-gen: Es geht mir nicht nur um Berufschancen, sondernauch um Karrierechancen. Das ist ein Unterschied. DieFrauen wollen nicht nur in den Beruf zurückkehren, son-dern sie wollen auch dort wieder anknüpfen, wo diejeni-gen stehen, mit denen sie zusammen im Beruf begonnenhaben und die keine Unterbrechung hatten. Das ist derAnspruch.Die Grünen verweisen in ihrem Antrag zu Recht da-rauf: Wird die Erwerbstätigkeit wegen Familienarbeitunterbrochen oder reduziert, hat das Einkommenseinbu-ßen zur Folge, die später nicht wieder auszugleichensind. – Das stimmt und ist erschütternd. In der Anhörungwurde das sogar näher beziffert. Wer ein Jahr aussetzt,hat im Durchschnitt 4,8 Prozent weniger Lohn pro Jahrzu erwarten und wird damit sogar mehr abgestraft als je-mand, der ein Jahr wegen Arbeitslosigkeit aussetzt. Dassdas so ist, hat mich sehr erschüttert.Deshalb ist klar: Alles, was die Rückkehr in den Be-ruf sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf er-leichtert, ist gut und entspricht im Übrigen auch den Er-wartungen, die die Arbeitgeber vor dem Hintergrund desFachkräftemangels formulieren. Die Möglichkeiten fürFrauen, in den Beruf zurückzukehren, sind also eigent-lich ganz gut, sofern sie denn Kinderbetreuungsmöglich-keiten haben.Man muss das aber auch aus einer anderen Perspek-tive sehen. Ich weiß aufgrund meiner eigenen Lebenser-fahrung – das lässt sich auch im Gleichstellungsberichtund im Achten Familienbericht finden –, dass es immerwieder einmal Phasen gibt, in denen beide Elternteilenicht durchgängig Vollzeit arbeiten können. Ich selbsthabe drei Kinder. Als diese null, drei und viereinhalbJahre alt waren, habe ich mir eine komplette Auszeit vonzwei Jahren genommen. Es wäre nicht zielführend ge-wesen und hätte auch nicht der Lebensqualität genutzt,wenn auch ich damals Vollzeit gearbeitet hätte. Es warschon kompliziert genug, als ich zwei Jahre später wie-der angefangen habe.Wir müssen dafür sorgen, dass es jederzeit möglichist, einmal eine begrenzte Zeit auszusetzen, ohne dabeiden Anspruch zu verlieren, beim beruflichen Wiederein-stieg dort anzuknüpfen, wo man ohne die Unterbrechungwäre.
Um es vielleicht noch anschaulicher zu machen: Ichfinde, man muss beispielsweise im Alter von 30 Jahreneinmal zwei Jahre aussetzen und trotzdem mit 50 oderauch mit 40 Jahren Führungspositionen bekleiden kön-nen. Die berufliche Entwicklung sollte jedenfalls alters-gerecht und ohne den nachhängenden Nachteil einerKindererziehungsphase verlaufen. Auch das müssen wirberücksichtigen.
Dazu gehört, dass Familienarbeit und die dabei er-worbenen Kompetenzen besser gewürdigt werden. Dasheißt, wir brauchen eine gezielte Förderung beim beruf-lichen Wiedereinstieg. Für mich gehört dazu auch – dasist sicherlich keine Neuigkeit – eine verbindliche Ziel-quote in der Frauenförderung, gerade wenn es um Füh-rungspositionen geht. Denn das kann das Vertrauen indie Überzeugung stärken, dass man ruhig einmal eineAuszeit nehmen kann, wenn sie zur eigenen Life WorkBalance gehört, ohne Karrierechancen zu verlieren.
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29034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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Jetzt wollen Sie sicherlich wissen, warum wir IhrenAntrag ablehnen.
– Das fällt mir nicht schwer zu sagen.Ein Punkt stört mich wirklich. Ich finde, dass dasEhegattensplitting – auch wenn diese Phasen nicht einganzes Leben lang oder 15 Jahre dauern, sondern viel-leicht nur 2 oder 3 Jahre – die angemessene steuerlicheBehandlung darstellt. Wer in dieser Zeit Alleinverdienerist, während der Partner mit den Kindern zu Hause ist,darf steuerlich nicht so veranlagt werden, als hätte er dasGeld für sich alleine. Es muss vielmehr steuerlich aner-kannt werden, dass er sein Geld mit dem anderen Partnerteilt.Mich hat nie das Argument überzeugt, dass das Ehe-gattensplitting der große Hemmschuh bei dem Wieder-einstieg in den Beruf sein soll.
Wenn wir ordentliche Stellen und eine ordentliche Be-treuung haben, dann ist für den Wiedereinstieg das Split-ting kein Hemmschuh. Denn das zusätzliche Einkom-men wird immer den größeren Effekt haben als derVorteil durch das Splitting.
– Nein, die Einkommensunterschiede werden nicht ho-noriert, sondern im Steuerrecht wird nur der Nachteilausgeglichen,
sodass man sich nicht schlechter steht als das Paar, dasgleiche Einkommen hat.
Sie sehen auf die Uhr, Frau Kollegin?
Ja. – Ich wünsche mir, dass wir noch viele Equal Pay
Days im Schnee feiern, aber dass das nicht an einem au-
ßergewöhnlich kalten März liegt, sondern daran, dass
wir demnächst den Equal Pay Day im Januar, am liebs-
ten an Neujahr, feiern können.
Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker. –
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion der SPD unsere Kollegin Elke Ferner. Bitte schön,
Frau Kollegin Elke Ferner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmuss wirklich sagen: Die Debattenbeiträge der schwarz-gelben Koalition zeigen – so kommt es mir vor –, dassSie nach dem Motto verfahren: Ich habe zwar keine Lö-sung, aber ich bewundere das Problem.
Nach der rechtlichen Situation – das wissen wir ganzklar – ist die Entgeltdiskriminierung bereits verboten.Dazu braucht man eigentlich kein neues Gesetz.
Das Härteste an Forderungen in Ihrem Antrag ist– ich will das hier allen zur Kenntnis geben –, dass dieBundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehen-den Haushaltsmittel sich weiterhin für die Überwindungder Entgeltunterschiede zwischen Frauen und Männerneinsetzen und Benachteiligungen von Frauen in Wirt-schaft und Arbeitswelt beseitigen soll. Das ist ein Ap-pell. Aber wir leben in einem Rechtsstaat und nicht in ei-ner Bananenrepublik. Eine Regierung muss geltendesRecht durchsetzen. Ein Parlament muss, wenn das Rechtnicht ausreicht, neues Recht schaffen und dafür sorgen,dass dieses durchgesetzt wird.
Aber das sehen Sie anders. Die ganzen Analysen, dieSie hier zu Markte tragen, zielen auf eines ab, nämlichzu beweisen, dass die Frauen im Prinzip selber daranschuld sind. Warum haben wir ein Recht ohne Praxis?Das Recht ohne Praxis haben wir deshalb, weil jede ein-zelne Frau ihren Arbeitgeber auf Zahlung gleichenLohns verklagen muss. Jetzt braucht man keine Prophe-tin zu sein, um vorauszusagen, wer so etwas macht. Dasmachen keine Frauen, die ihren Job behalten wollen,sondern das machen vielleicht die, die sich mit dem Ge-danken an eine Kündigung tragen oder schon gekündigthaben. Genau das ist das Problem. Die Kollegin, die amArbeitsplatz nebenan arbeitet, muss ihr Recht ebenfallsindividuell einklagen. Deshalb ist klar: Das geltendeRecht führt nicht zum Ziel der Entgeltgleichheit. Des-halb muss man etwas ändern.
Sie haben gesagt, die Ursachen seien Teilzeitarbeit,die Auszeiten wegen der Familie oder eine geringere Ta-rifbindung in den kleineren Betrieben, in denen Frauenüberwiegend beschäftigt seien. Das ist alles richtig, abernicht nur Frauen mit Kindern und Auszeiten haben weni-ger Einkommen als ihre männlichen Kollegen. AuchFrauen ohne Kinder und ohne Auszeit verdienen imDurchschnitt weniger als ihre männlichen Kollegen.Also sind die Gründe für die Ungleichbezahlung nichtallein diejenigen, die Sie nennen.Ich sage Ihnen: Die Regierung und die Regierungsko-alition sind dazu da, Problemlösungen zu finden, undnicht, Problemanalysen zu betreiben. Sie bleiben immerbei den Problemanalysen stehen. Dafür brauchen wir Sieaber nicht. Die Probleme analysieren können wir selber.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29035
Elke Ferner
(C)
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Wenn das, was Sie als Gründe für die Ungleichbezah-lung anführen, die tatsächlichen Gründe wären, dannsollte man da ansetzen. Aber was machen Sie? Sie ma-chen im Prinzip genau das Gegenteil: Sie verstärken das,was Sie für ebendiese Gründe halten. Sie haben be-schlossen, das Betreuungsgeld einzuführen. Dadurchwerden die Auszeiten der Frauen nicht verkürzt, sondernverlängert. Sie haben mit Ihrer Mehrheit beschlossen,die Verdienstgrenze für die Minijobs auf 450 Euro zu er-höhen. Das verringert nicht die Entgeltungleichheit, son-dern vergrößert sie. Sie haben verbal immer wieder be-teuert, dass Sie für Berufsrückkehrer gerne einenRechtsanspruch auf die alte Arbeitszeit wollen. Aber woist denn das entsprechende Gesetz, Frau von der Leyenund Frau Schröder? Sie sind doch an der Regierung. Le-gen Sie hier doch einen Gesetzentwurf vor. Dann könnenwir ihn einstimmig im Deutschen Bundestag verabschie-den.Nein, Sie machen nichts, auch nicht beim Steuerrecht.Stattdessen kommen Sie mit den absurdesten Argumen-ten, wenn es darum geht, das Ehegattensplitting, daswirklich von vorvorgestern ist, zu verteidigen.Frau Schön, schönreden und schönrechnen helfennicht weiter. Sie sind da ganz auf der Linie Ihres Landes-verbandes: Links blinken, wenn es um das Reden geht,aber rechts abbiegen, wenn es um das konkrete Handelngeht.
Was wir brauchen, ist mehr Transparenz. Österreichhat beispielsweise ein Transparenzgesetz. Wir brauchenEntgeltberichte. Wir brauchen vor allen Dingen einMessverfahren, das wirkt. Was ich nun wirklich nichtverstehen kann, liebe Kollegen und Kolleginnen von derUnion: Sie beschreiben in Ihrem Antrag das Lohntest-verfahren Logib-D und bezeichnen gleichzeitig die Aus-zeiten als das Hauptproblem. Ist Ihnen nicht klar, dassdieses Messverfahren an der Person und auch an denAuszeiten ansetzt und damit eine Entgeltdiskriminierungauch noch rechtfertigt? Gleicher Lohn muss für gleicheArbeit und nicht für die gleiche Anzahl an Berufsjahrengezahlt werden.Letzter Punkt. Wir brauchen ein Gesetz zur Herstel-lung der Entgeltgleichheit, weil die jetzigen gesetzlichenRegelungen nicht funktionieren. Wir brauchen ein Ge-setz, mit dem auch diejenigen, die die typischen Frauen-berufe ausüben, mehr Respekt und auch eine bessere Be-zahlung erhalten. Wer das ändern will, der mussSchwarz-Gelb abwählen und muss dafür sorgen, dasswir eine rot-grüne Mehrheit bekommen.
Dann können wir ein vernünftiges Gesetz machen. Sokönnen wir zur Entgeltgleichheit zwischen Frauen undMännern nicht nur auf dem Papier, sondern auch in derWirklichkeit kommen.Schönen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Elke Ferner. – Nächste Redne-
rin für die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin Miriam
Gruß. Bitte schön, Frau Kollegin Gruß.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Frau Ferner, wer hat denn elf Jahre inDeutschland regiert? Wo war denn in Ihrer Regierungs-zeit, Herr Steinmeier, ein Entgeltgleichheitsgesetz? Dasmuss man an dieser Stelle einmal fragen.
– Da Sie jetzt dazwischenrufen, darf ich einmal nachfra-gen: Wer waren die Ersten, die das Betreuungsgeld mitbeschlossen haben? Das waren ja wohl Sie von der SPD.
– Ja, selbstverständlich.
Wahrheiten müssen hier genannt werden.Kommen wir zum Thema. Es ist unbestritten: Ja, esbestehen immer noch Unterschiede in der Bezahlungvon Frauen und Männern. Wir alle hier sind uns doch ei-nig, dass dies ungerecht ist. Die Fakten sind genannt;aber man muss in der Diskussion auch korrekt bleiben.Es bringt nämlich gar nichts, einen 30-jährigen IT-Spe-zialisten mit einer gleichaltrigen Erzieherin zu verglei-chen. Vielmehr müssen wir die Bruttostundenlöhne inden gleichen Jobs anschauen. Dann wird deutlich, dasses hier nicht um 22 Prozent Lohnungleichheit geht, son-dern um etwa 10 Prozent. Das ist immer noch genug,aber deutlich weniger, als die ganze Zeit behauptet wor-den ist.Lassen Sie uns die Polemik einmal beiseiteschiebenund uns um die tatsächlichen Probleme kümmern, näm-lich um die Ursachen der Lohnungleichheit. Prinzipiellgilt: Wenn es um die Lohnfindung geht, haben wir inDeutschland ein sehr gut funktionierendes Tarifsystem,das sich bewährt hat.
Hier sind doch vor allem die Tarifpartner gefordert. Sielegen die Löhne fest. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten.Es geht in der Lohnfindung nämlich nicht nur darum,Lohnerhöhungen zu beschließen, sondern auch darum,Löhne gerecht auszutarieren. Wann erlebt man es bei-spielsweise einmal, dass Lohngruppen, in denen insbe-sondere Frauen zu finden sind, bei den Verhandlungen inden Mittelpunkt gestellt werden, meine Damen und Her-ren?
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29036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Miriam Gruß
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Die Unternehmen haben ihrerseits erkannt, dass sie inder Arbeitswelt der Gegenwart und Zukunft gut ausge-bildete Frauen brauchen. Vor Ort werden Lösungen ge-sucht und gefunden, um Arbeit und Familie besser ver-einbaren zu können. Diesen Prozess unterstützen wirpolitisch.
Mit den Programmen „Erfolgsfaktor Familie“, „auditberufundfamilie“ und „Betrieblich unterstützte Kinder-betreuung“ sprechen wir gezielt Unternehmen an. Dennin den Unternehmen geht es darum, die Vereinbarkeitvon Beruf und Familie zu verbessern – nicht hier imBundestag.Da Sie gestern am Brandenburger Tor auf der DGB-Veranstaltung groß getönt haben, möchte ich noch sa-gen: Auch die Gewerkschaften sind gefordert, meineDamen und Herren von der SPD und von den Linken.
Die Vertreter der Arbeitnehmer müssen nämlich bei denTarifverhandlungen noch stärker typische Frauenberufein den Mittelpunkt stellen. Davon habe ich in der Ver-gangenheit wenig gesehen. Bisher galt doch eher: Män-ner werden hoch anerkannt und gut bezahlt, wenn sieharte körperliche Arbeit verrichten, wie etwa im Stra-ßenbau, als Drucker oder bei der Müllabfuhr. BeiFrauen, beispielsweise in der Altenpflege, ist das hinge-gen immer noch nicht der Fall.Von politischer Seite unterstützen wir den Prozess derGleichstellung so früh wie möglich – und früh muss manansetzen –, beispielsweise in der frühkindlichen Bil-dung.
Hier gilt es, Rollenbilder aufzubrechen und Jungen undMädchen nach ihren Talenten zu fördern, nicht nach ih-rem Geschlecht. Stereotypen muss endlich entgegenge-wirkt werden. Deshalb führen wir Mädchen und jungeFrauen schon früh an neue Berufsfelder und Interessen-gebiete heran, beispielsweise mit „Komm, mach MINT.“oder dem „Girls‘ und Boys‘ Day“.
In der Familienphase unterbrechen Frauen wegen fa-miliärer Verpflichtungen immer noch deutlich häufigerihre Berufslaufbahn als Männer. Auch deshalb ist esrichtig, dass die Fraktionen von Schwarz-Gelb und dieBundesregierung endlich auch einmal den Fokus auf dieMänner gerichtet haben. Es ist richtig, dass wir eine ei-genständige Jungen- und Männerpolitik eingeführt ha-ben. Das lasse ich mir von Ihnen nicht schlechtreden,schon gar nicht von Ihnen von der Linken.
Es ist richtig, endlich dafür zu werben, dass mehrMänner in Erzieherberufe kommen, und Stereotype auf-zubrechen. Aber das, was Sie hier vertreten, ist Politikvon vorgestern, meine Damen und Herren von der Op-position.
Wir haben den Ausbau der Betreuungsplätze so starkvorangetrieben wie keine Bundesregierung zuvor. Vorallem gute und flexible Betreuungsmöglichkeiten sindein Schlüssel zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie,genauso wie die eigenständige Jungen- und Männerpoli-tik, die ich bereits angesprochen habe.Nicht zuletzt müssen wir weiter Anreize setzen, damites sich für Mütter und Ehefrauen lohnt, arbeiten zu ge-hen. Die Abschaffung der Steuerklasse V nehmen wirals FDP in unser nächstes Wahlprogramm auf. Dafürwerden wir uns einsetzen.Es gilt zudem, staatliche Leistungen, die der Rück-kehr in das Berufsleben im Wege stehen, zu überdenken.Ich freue mich deshalb auch auf eine Neuorientierungder ehe- und familienpolitischen Leistungen im Rahmender Gesamtevaluation, die auch unter diesem Aspekt inAngriff genommen werden muss.Um die Situation für Frauen in der Arbeitswelt zuverbessern, bedarf es also der Unterstützung von Wirt-schaft, Gewerkschaften, Gesellschaft und Politik. Es gibtviel zu tun. Alle Akteure sind gefordert, meine Damenund Herren.
Vielen Dank, Frau Kollegin Gruß. – Nächste Redne-
rin in unserer Aussprache ist unsere Kollegin Frau
Yvonne Ploetz für die Fraktion Die Linke. Bitte schön,
Frau Kollegin Ploetz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Immerdann, wenn ein Mann 1 Euro verdient, bekommt eineFrau nur 78 Cent. Frauen mussten bis zu diesem ver-schneiten Frühlingsanfang arbeiten, um das zu haben,was Männer bereits an Silvester bekommen haben. Ichglaube, wir alle sind uns einig: Fair und gerecht sieht an-ders aus. Leider habe ich in der gesamten Debatte vonden Regierungsfraktionen keine nennenswerten Vor-schläge dazu gehört, wie man dies beheben könnte.
Nur zwei kleine Beispiele: Nach drei Jahren Ausbil-dung verdienen Frauen 1 071 Euro netto – Männer ha-ben 500 Euro mehr. Arbeiten Frauen in Vollzeit – unddas kommt ja viel zu selten vor, wie wir wissen –, habensie 2 312 Euro brutto – Männer haben 600 Euro mehr.Wenn ich mir diese Zahlen so anschaue, dann frage ichmich ernsthaft, was denn los wäre, wenn es plötzlich öf-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29037
Yvonne Ploetz
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fentliche Verdienstlisten gäbe, wie das in Norwegen derFall ist, wenn Frauen schwarz auf weiß einsehen könn-ten, wie viel weniger sie – völlig zu Unrecht – verdie-nen. Lohntransparenz sollte in der gesamten Debattekein Tabuthema mehr sein.
Ich glaube, besondere Wirkung würde Lohntranspa-renz in Verbindung mit dem Verbandsklagerecht erhal-ten. Wir als Linksfraktion haben das gestern im Bundes-tag beantragt. Wir wissen doch alle: Eine Frau alleintraut sich kaum, Verbesserungen für sich einzuklagen.Aber viele Frauen, gemeinsam mit den Verbänden, wä-ren nicht mehr aufzuhalten. Ich glaube, dann würdenauch Sie von der Regierung sich bewegen.
Meine Damen und Herren, der diesjährige Equal PayDay stand unter dem Motto „Viel Dienst – wenig Ver-dienst“; es geht also um Frauen in Gesundheitsberufen.Ich finde es wirklich besonders schäbig, dass genaudiese Branche beispielhaft für das gesamte Dilemma derFrauen am Arbeitsmarkt steht. Nicht nur, dass dieseFrauen rund ein Viertel weniger verdienen als ihremännlichen Kollegen: Es ist auch so, dass die Gesund-heitsbranche zu den Branchen mit den meisten Frauenim Niedriglohnsektor gehört.Dankenswerterweise hat mir die Bundesagentur fürArbeit gestern die neuen Zahlen zu Minijobs in Gesund-heitsberufen zur Verfügung gestellt. Im Vergleich zumJahr 2000 hat sich hier die Zahl der Frauen in Minijobsauf 5 Millionen fast verdoppelt. Besonders betroffensind Altenpflegerinnen; hier gibt es eine Steigerung um73 Prozent. Meine Damen und Herren, ich muss Ihnenwirklich nicht mehr erklären, was Minijobs für Frauenbedeuten. Sie sind eine Sackgasse und müssen unbedingteingedämmt werden; sie müssen vom ersten Euro an insozialversicherungspflichtige Jobs umgewandelt wer-den.
Sicherlich haben Sie alle am Montag die Studie desFamilienministeriums zur Kenntnis genommen, in derganz klar gesagt wird: Minijobs sind – ich zitiere – „einProgramm zur Erzeugung lebenslanger ökonomischerOhnmacht und Abhängigkeit von Frauen“. Gerade ein-mal 14 Prozent aller Frauen schaffen den Absprung auseinem Minijob in eine Vollzeitstelle. Alle anderen kom-men aus diesem Teufelskreis von Dumpinglöhnen heuteund Armutsrenten morgen nicht mehr heraus. Nicht nur,dass Sie dem einfach so zusehen; nein, Sie weiten dasauch noch aus. Ich kann Ihnen wirklich nur sagen: Wennschon Ihr Gewissen Sie nicht einholt, werden Sie irgend-wann, hoffe ich, von den Wählerinnen die Quittung da-für bekommen.
Hinzu kommt, dass für die Frauen in Gesundheitsbe-rufen die Arbeitsbedingungen fast unerträglich sind. Esherrscht ganz starker Leistungsdruck und Termindruck.Die Arbeitsabläufe sind ganz streng getaktet. DieseFrauen – ich zitiere den Stressreport 2012 – „arbeiten ander Grenze der Leistungsfähigkeit“. Das ist der reinsteRaubbau an der pflegenden Frau und ist in keinsterWeise zu akzeptieren.
Was wir brauchen, liegt auf der Hand. Wir brauchenarmutsfeste Renten, Mindestlöhne, das Verbot von Leih-arbeit in so sensiblen Branchen, eine Humanisierung derArbeitsabläufe, das heißt eine gute Personalausstattung,und familienfreundliche Arbeitszeiten. Natürlich brau-chen wir Entgeltgleichheit per Gesetz.Doch das allein reicht noch nicht. Wir leben in einerGesellschaft, in der es mehr wert ist, 2 Zentner Zementam Bau zu heben, als einen kranken Menschen aus demBett zu heben. Es muss bei uns wirklich ein Umdenkenstattfinden. Der Dienst am Menschen, Kindererziehung,Pflege, Gesundheit, all das ist viel mehr wert.
Wenn Frau Schröder sagt – ich zitiere aus einem Bei-trag auf der Equal-Pay-Day-Homepage –: „Die schlechteBezahlung in frauendominierten Berufen, und dazu ge-hören Gesundheitsberufe, ist eine wesentliche Ursachefür den bestehenden statistischen Entgeltunterschied“,dann stimmt ihr jeder zu; das ist doch ganz selbstver-ständlich. Nur kaufen kann sich dafür keine Frau etwas.Sie, Frau Schröder, sind in der Verantwortung, hier et-was zu ändern. Sie müssen etwas ändern.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Ploetz. – Nächste Redne-rin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsereKollegin Frau Beate Müller-Gemmeke. Bitte schön,Frau Kollegin Müller-Gemmeke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich bin immer wieder verwundert understaunt über die Diskussion zum Equal Pay Day hier imBundestag. Sie von den Regierungsfraktionen singen inIhrem Antrag und auch in der Debatte hier ein Lobliedauf die – vermeintlich – gute Familienpolitik der Bun-desregierung. Sie führen eine Diskussion über dieGleichstellung von Frauen in der Arbeitswelt. Da geht esum Beschäftigungsdiskriminierung. Dieses Thema istwichtig. Heute gehen Sie damit aber schlicht am eigent-lichen Thema vorbei; denn heute geht es um Entgelt-gleichheit, also um den Grundsatz: Gleicher Lohn fürgleiche und gleichwertige Arbeit. Ich frage mich wirk-lich, ob Sie tatsächlich verstehen, warum all die Frauenund Männer gestern am Brandenburger Tor demonstrierthaben.
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29038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Beate Müller-Gemmeke
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Das Gleiche passierte unlängst bei der Anhörung.Auch dort haben wir phasenweise zwei Diskussionen pa-rallel geführt. Den Regierungsfraktionen ging es um dieErwerbsbeteiligung von Frauen, um Teilzeit, um Mini-jobs und darum, ob Frauen einfach zu wenig Lohn for-dern und sich nicht durchsetzen können. Das war allesrecht amüsant. Das Problem war nur, dass diese Diskus-sionen mit dem Gesetzentwurf der SPD und dem Antragvon uns Grünen so gar nichts zu tun hatten.
Es wurde auch gerätselt, wie die Frauen dazu bewegtwerden könnten, MINT-Studiengänge zu belegen. Auchheute haben Sie, Frau Bracht-Bendt, dieses Thema wie-der angesprochen. Natürlich verdienen Physikerinnenmehr als Pflegekräfte. Darum geht es aber nicht. DerSkandal ist doch vielmehr, dass die Physikerin wenigerverdient als ihr männlicher Kollege,
und die Pflege schlechter bezahlt wird als andere gleich-wertige Tätigkeiten. Genau deswegen wollen wir einegesetzliche Regelung gegen Entgeltdiskriminierung;denn es muss endlich Schluss sein, dass es Arbeit vonFrauen zum Schnäppchenpreis gibt.
Aber ich möchte nicht unfair sein: Bei der Anhörungund auch in der heutigen Debatte geht es auch um zweiAspekte, die sich tatsächlich mit den Anträgen auseinan-dersetzen. So wird ein Entgeltgleichheitsgesetz immerwieder als Angriff auf die Tarifautonomie bezeichnet.Das hieße, dass die Tarifparteien Frauen unbehelligt dis-kriminieren dürfen, als wären sie nicht an das Grundge-setz gebunden. Ein Gesetz zur Durchsetzung von Ent-geltgleichheit regelt lediglich, dass die Löhne aufEntgeltdiskriminierung überprüft werden müssen. WieEntgeltgleichheit hergestellt wird, ist natürlich Sache derTarifpartner. Und deshalb sind gesetzliche Regelungenin keinster Weise ein Angriff auf die Tarifautonomie.
Dann wird immer noch das Argument Bürokratie ge-nannt. Frau Schön hat es angesprochen. Das Recht aufEntgeltgleichheit ist im Grundgesetz verankert. Alleinschon das Abwägen zwischen Grundrecht und bürokrati-schem Aufwand ist für mich nicht akzeptabel. EinGrundrecht hat für uns selbstverständlich höchste Priori-tät. Alles andere geht gar nicht.Sehr geehrte Regierungsfraktionen:Die schlechte Bezahlung in frauendominierten Be-rufen, und dazu gehören Gesundheitsberufe, ist einewesentliche Ursache für den bestehenden statisti-schen Entgeltunterschied.Das sage nicht ich, sondern Ministerin Schröder. DieserSatz steht auch auf der offiziellen Internetseite des EqualPay Day. Mir scheint, dass die Ministerin wohl nicht ge-merkt hat, was ihr in den Text geschrieben wurde. Denngenau darum geht es, warum wir gleichen Lohn fürgleichwertige Arbeit fordern. Aber die Durchsetzungfunktioniert nicht mit Freiwilligkeit und Selbstverpflich-tung. Notwendig sind gesetzliche Regelungen; dennFrauen verdienen mehr.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. –
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion der CDU/CSU unser Kollege Paul Lehrieder. Bitte
schön, Kollege Lehrieder.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Was habenEstland, die Tschechische Republik, Österreich undDeutschland neben der EU-Mitgliedschaft gemeinsam?Sie alle bilden im europäischen Vergleich das Schluss-licht im Gender Pay Gap, dem prozentualen Unterschiedim durchschnittlichen Bruttostundenverdienst von Män-nern und Frauen. Der Durchschnitt der EuropäischenUnion liegt bei 16 Prozent. In Deutschland – die Vorred-ner haben bereits darauf hingewiesen – liegen wir mit22 Prozent deutlich darüber. Diese Zahl ist im Verlaufdieser Debatte bereits mehrfach genannt worden.Nur zum Vergleich: Das Land mit den europaweit ge-ringsten Unterschieden im Bruttostundenverdienst vonFrauen und Männern war im vorletzten Jahr Slowenienmit 2 Prozent. Auch unser Nachbarland Polen mit 5 Pro-zent und Italien mit 6 Prozent verzeichneten eher mode-rate Gehaltsunterschiede. Dabei gebietet es die Ehrlich-keit, darauf hinzuweisen, dass gerade in Italien sehr vieleFrauen nach der Babyphase nicht mehr ins Berufslebeneinsteigen und als Gehaltsempfängerinnen überhauptnicht auftauchen. Die Statistik muss hier fairerweise dif-ferenziert betrachtet werden.
– Ich rechtfertige hier gar nichts, Frau Ferner. Stellen Siemir eine Frage, dann kann ich länger reden.
In den letzten Tagen erreichten mein Büro anlässlichdes gestrigen Equal Pay Day zahlreiche Pressemitteilun-gen und Gesprächseinladungen. Bundesweit fanden indiesem Rahmen zahlreiche Aktionen statt. So machtenzum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus derPflege am Bundestag mit einer Tanzaktion auf ihre Si-tuation aufmerksam und sangen: „We work hard for themoney“. In der Altenpflege sind 80 Prozent des Perso-nals, wie Sie wissen, weiblich.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29039
Paul Lehrieder
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Auch in meinem Wahlkreis Würzburg war ein Bündniszum Equal Pay Day mit einem Informationsstand amSternplatz vertreten, um die bestehenden Entgeltunter-schiede zwischen Frauen und Männern anzuprangern undsomit zur Bewusstseinsbildung beizutragen. In diesemJahr standen die bundesweiten Aktionen unter demMotto: „Lohnfindung im Gesundheitswesen – viel Dienst,wenig Verdienst“. Frau Kollegin Müller-Gemmeke hatbereits darauf hingewiesen: Es geht um die schlechte Be-zahlung in frauendominierten Berufen.
Eine Entgeltlücke ist selbst bei Führungspositionenzu finden. Zwar ist die Gehaltslücke zwischen weibli-chen und männlichen Führungskräften in den letztenJahren etwas kleiner geworden; dennoch werden Frauenin Führungspositionen schlechter bezahlt als ihre männ-lichen Pendants.Erlauben Sie mir, mit einigen Sätzen auf die Vorred-ner einzugehen. Frau Kollegin Göring-Eckardt hat aus-geführt, es hätte schon längst etwas getan werden kön-nen. Es ist durchaus berechtigt, zu fragen: Was haben Siein der rot-grünen Regierungszeit für die Minderung desGender Pay Gaps, der ungleichen Bezahlung, getan?
Was haben Sie, Frau Ferner, gemacht? Was hat Rot-Grünin seiner Regierungszeit erreicht? Nichts. Wenn es soeinfach wäre, dieses Problem zu lösen, dann hätte Rot-Grün es tun können. Deshalb arbeiten wir noch daran.
Herr Kollege Steinmeier, Sie haben auf die WeimarerRepublik hingewiesen und ausgeführt, dass die Un-gleichheit schon vor 80 oder 90 Jahren ein Thema war.Ein berühmter Vertreter Ihrer Partei, der SPD, war amEqual Pay Day auch am Brandenburger Tor – das habeich heute der Presse entnommen –: Herr KollegeSteinbrück.
– Herr Gabriel war auch da; ich hoffe, Sie alle warenda. –
Herr Kollege Steinbrück hat sich zu Wort gemeldet undwird folgendermaßen zitiert – mit Erlaubnis des Präsi-denten darf ich das im O-Ton zitieren –:Wenn es nach mir und der SPD geht, ist nächstesJahr diese Veranstaltung nicht mehr notwendig.
Da dachte ich: Boah! – Die Medien schrieben:„Steinbrück zeigt Flagge für Frauen.“Ich habe mir dann Ihren Antrag angeschaut, FrauFerner. Im Antrag steht – –
Im Gesetzentwurf steht in § 18:Beginn des ersten Prüfzeitraumes
Die Verpflichtung zur Erstellung und Übermitt-
lung eines betrieblichen Prüfungsberichtes bestehtbei Unternehmen …mit mehr als 1 000 Beschäftigten bis zum letztenTag des 24. Monats nach Inkrafttreten des Geset-zes …für die übrigen Betriebe bis zum letzten Tag des60. Monats nach Inkrafttreten des Gesetzes.Das heißt, dieser Mann will das Problem innerhalb ei-nes halben Jahres lösen, das Sie nach einer Evaluation ge-mäß Ihrem Gesetzentwurf erst nach zwei bis fünf Jahrenumsetzen können. Da ist natürlich die Vollmundigkeit,das Wahlkampfgetöse des Kandidaten Peer Steinbrückmit Händen zu greifen.
Frau Göring-Eckardt, Sie haben ausgeführt, wir för-derten das falsche Familienmodell. Darf ich Sie als Bun-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Woher nehmen Sie denMut, zu entscheiden, welche Familie welches Modell zuleben hat?
Wir schreiben das nicht vor, Frau Göring-Eckardt.Sie haben ausgeführt, das Betreuungsgeld sei sinnlos;viele Vorredner von der Opposition haben dieses Themastrapaziert. Ich will es der Vollständigkeit halber für dasProtokoll wiederholen: Das Betreuungsgeld hindertkeine Frau daran, nach der Geburt eines Kindes berufstä-tig zu werden. Zum Mitschreiben, Frau Ferner: Das Be-treuungsgeld hindert keine Frau, in den Beruf einzustei-gen.
Meine Damen und Herren, Frau Göring-Eckardt hatvon der schlechten Bezahlung in den sozialen Berufengesprochen. Ich bin gespannt, was die Pressemitteilun-gen der EKD in den nächsten Tagen und Wochen dazuverlautbaren, wie viel mehr eine Altenpflegerin und eineKindergärtnerin in Zukunft verdienen wird.
Ich freue mich und bin sehr gespannt darauf, wie opti-mistisch die Meldungen der EKD in Zukunft ausfallen.
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29040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Paul Lehrieder
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(B)
– Hier hat jemand eine Frage, Herr Präsident.
Vielen Dank, Herr Lehrieder, dass Sie auch hier mit-
wirken.
Frau Kollegin, Sie haben das Recht zu einer Zwi-
schenfrage.
Dann sollten Sie die Uhr anhalten.
Das ist schon erfolgt. – Bitte schön.
Sie kommen doch aus Bayern. Ich habe eine Frage:
Ist es richtig, dass Frau Haderthauer denjenigen, die im
Hinblick auf das Betreuungsgeld gegebenenfalls an-
tragsberechtigt sind, bereits vorausgefüllte Anträge zu-
schicken will? Wie verträgt sich das mit der Einlassung,
die Sie gerade gemacht haben?
Welche Anträge? Sie müssen das schon präzisieren:
Was steht in den Anträgen?
Ich kenne diese Anträge nicht; aber ich kann sie mir gern
zuleiten lassen.
Geht es um einen Antrag, der die Frauen in Bayern daran
hindert, berufstätig zu sein? Mit Verlaub, man kann hier
natürlich Volksgruppen diskreditieren. Aber wenn Sie
uns Bayern für so rückständig halten, muss ich sagen:
Wir sind es nicht; wir tun das nicht; wir lassen die
Frauen arbeiten, auch wenn die häusliche Betreuung der
Kinder – –
– Frau Ferner, wir schreiben kein Familienmodell vor.
Wir haben durchaus Respekt vor der Lebensentschei-
dung der Familien, Respekt vor der Entscheidung der
Frau, entweder zu Hause zu bleiben oder berufstätig zu
sein.
War das jetzt die Beantwortung der Frage?
Ja.
Gut, dann lasse ich die Uhr weiterlaufen.
Entgeltgleichheit gehört zu den ältesten Forderungender Frauenbewegung. Der Grundsatz der gleichen Be-zahlung ist in der EU schon lange verankert: bereits seit1957 in Art. 141 des EG-Vertrages.
Dies wird auch in Art. 3 Abs. 2 unseres Grundgesetzesdefiniert. Das heißt im Klartext: Dieser Grundsatz hatbereits Verfassungsrang. Von meinen Vorrednern wurdekonzediert: Wir brauchen kein Gesetz, weil wir das ver-fassungsrechtlich schon normiert haben.
Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, ist ein bü-rokratisches Monstrum. Dieses Gesetz wird nicht hand-habbar sein, es wird nicht funktionieren. Deshalb werdenwir es – das wird Sie nicht überraschen – ablehnen.Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Im De-zember 2012 wurde eine dreijährige Forschungsphase„Tarifverhandlungen und Equal Pay“ gestartet. In Zu-sammenarbeit mit den Tarifpartnern und der Forschungsollen mögliche Ansatzpunkte für den Abbau der ver-bleibenden Lohnunterschiede im Rahmen kollektiverLohnverhandlungen identifiziert werden. Das Projektrichtet sich vorrangig an die Tarifpartner. Ziel ist, dassdas Thema Entgeltgleichheit künftig in den Tarifver-handlungen eine größere Rolle spielt.Lassen Sie mich auf die Rede von Frau KolleginGolze zurückkommen. Sie hat es nicht lassen können,das Thema Mindestlohn als Allheilmittel in diese De-batte einzubringen.
Liebe Frau Kollegin Golze, nehmen Sie bitte zur Kennt-nis, dass die Sachverständigenanhörung ergeben hat:Insbesondere im Bereich der höheren Bezahlung gehtder Gender Pay Gap auseinander. Der Lohnunterschiedist in den ungelernten Berufen mit 5 Prozent noch amgeringsten.
Bei Angelernten beträgt er 14 Prozent, bei Fachange-stellten 11 Prozent, bei herausgehobenen Arbeitnehmern15 Prozent und bei Arbeitnehmerinnen in leitender Stel-lung immerhin 24 Prozent.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29041
Paul Lehrieder
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Das heißt, ein Mindestlohn wird das Problem der unter-schiedlichen Bezahlung von Frauen und Männern leidernicht lösen.
Wir setzen neben dem Betreuungsgeld auf den ver-stärkten Ausbau von Betreuungseinrichtungen, FrauFerner. Wir haben in diesem Jahr zusätzlich 580,5 Mil-lionen Euro ausgegeben, weil viele, insbesondere sozial-demokratisch dominierte Regionen, in den letzten Jahrenihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Das ist wirk-sam.Im Übrigen haben wir im letzten Jahr in der Bundes-republik mit 71 Prozent die höchste Frauenerwerbsquotealler Zeiten erzielt,
und das auch ohne Ihre kritische Begleitung, liebe FrauKollegin Ferner. Wir werden auf diesem Weg weiterma-chen; denn damit helfen wir den Frauen und den Fami-lien.
Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihr geduldigesWarten.Danke schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Paul Lehrieder. – Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unsere Kollegin Christel Humme.
Bitte schön, Frau Kollegin Christel Humme.
Frau Schön – – Natürlich erst einmal: Herr Präsident!
– Entschuldigung.
So viel Zeit muss sein – vielen Dank.
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Schön undHerr Lehrieder, es bleibt dabei: Im 21. Jahrhundert ange-langt, und immer noch ist die Arbeit der Frauen wenigerwert als die Arbeit der Männer. Da müssen wir etwastun. Wir haben heute die Chance, diese Ungerechtigkeitendlich zu beenden. Stimmen Sie daher unserem Gesetz-entwurf zu!
Herr Lehrieder, Herr Steinbrück hat recht: Wir möch-ten gerne, dass der Equal Pay Day endlich überflüssigwird.
In Ihrem Antrag lese ich: Sie wollen, dass der Equal PayDay weiterhin vom Ministerium finanziell gefördertwird. Das signalisiert mir doch: Sie trauen Ihrer eigenenPolitik nicht über den Weg. Sie rechnen offensichtlichnicht damit, dass Ihre Politik die Lohnlücke schließt. IhrAntrag ist meiner Ansicht nach eine echte Offenbarung.
Wir von der SPD stellen uns an die Seite der Frauen.Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen den Grundsatz „Glei-cher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ tatsäch-lich durchsetzen. Das geht unserer Auffassung nach nurmit einer Verpflichtung, nur mit einem Gesetz. Appelleund Freiwilligkeit haben den Frauen bisher nicht gehol-fen und werden das auch in Zukunft nicht tun.
Frau Bracht-Bendt, Sie haben recht: Es gibt schonviele Gesetze. Ich will sie noch einmal nennen: das All-gemeine Gleichbehandlungsgesetz, das Betriebsverfas-sungsgesetz, seit 60 Jahren das Grundgesetz. In allenwird – auch das ist richtig – die Gleichbehandlung vonMännern und Frauen und damit auch gleiche Entlohnunggefordert.Aber kein Gesetz wirkt. Warum? Um gleichen Lohnherzustellen, bedarf es einer wichtigen Voraussetzung:Wir müssen wissen, wie der Betrieb insgesamt entlohnt,damit wir die Situation überhaupt verbessern können.Das heißt, wir brauchen Transparenz.
Nichts ist in Deutschland ein besser gehütetes Geheim-nis – das wissen wir doch alle – als das Gehalt der Kolle-gin und vor allem das des Kollegen. Es ist klar, dass esdamit einfach ist, ungleich zu bezahlen. Unser Gesetz –das ist wichtig – wird die Transparenz herstellen, die wirbrauchen, um für Gerechtigkeit zu sorgen.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die bestehendenGesetze funktionieren auch deshalb nicht, weil diese Ge-setze überhaupt kein Verfahren vorsehen, das gleichenLohn für gleiche Arbeit schafft und Diskriminierung be-seitigt. Wir wollen die Arbeitgeber verpflichten, gemein-sam mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und,falls vorhanden, mit dem Betriebsrat oder dem Personal-rat und den Gleichstellungsbeauftragten ihre Entgeltsys-
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Christel Humme
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teme eigenständig diskriminierungsfrei zu gestalten. Wirsetzen dabei auf ein eigenverantwortliches Handeln,quasi im Schatten des Gesetzes. Für das gesamte Verfah-ren ist im Gesetz ein angemessener Zeitraum von mehre-ren Jahren vorgesehen. Eine Gesetzeskeule, wie das FrauSchön immer wieder gerne sagt, sehe ich darin überhauptnicht.
Wir brauchen natürlich auch Sanktionen; das ist keineFrage. Denn ohne sie fehlt es an Durchsetzungskraft.Frau Ministerin Schröder – sie ist auch hier – will, so-weit wir wissen, ebenfalls eine Prüfung.
– Sie wollen das auch. – Sie bieten Logib-D zum Down-load an und hoffen, dass die Arbeitgeber es nicht nurherunterladen, sondern auch nutzen. Insgesamt sollen200 Unternehmen beraten werden. Das ist ein schönesVorgehen, allerdings mit großen Webfehlern:Erstens. Alles ist freiwillig und entzieht sich einer Er-folgskontrolle.Zweitens. Das Messverfahren ist überholt.
Drittens. Die Arbeitgeber entscheiden alleine, ob siedas machen oder nicht. Eine Mitbestimmung der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer ist im Gegensatz zu un-serem Gesetzentwurf nicht vorgesehen.Viertens. Sie beraten 200 Unternehmen, und das beiinsgesamt 3 Millionen Unternehmen. Was soll das brin-gen? Das bringt überhaupt nichts, aber es kostet eineganze Menge. 4,5 Millionen Euro stellen Sie dafür inden Haushalt ein. Lohngleichheit mit Ihnen? Ich sage:Fehlanzeige.
Frau Bracht-Bendt, ich habe es fast schon geahnt,dass der Vorwurf der Bürokratie erhoben wird.
Dahinter verstecken Sie sich immer dann gerne, wennSie keine gesellschaftspolitischen Veränderungen wol-len.
– Selbstverständlich, Frau Bracht-Bendt. Sobald es umgesellschaftspolitische Veränderungen geht, sagen Sie,das sei zu bürokratisch.
Verkehrsregeln einhalten, Verbraucher schützen undLebensmittelskandale verhindern – das alles ist doch nurmit Bürokratie möglich. Und das ist gut so; damit dienenwir doch dem Allgemeinwohl. Warum soll nicht dasGleiche für die Einhaltung der Grundrechte, also für dieGleichberechtigung von Männern und Frauen, gelten?Es kann doch nicht sein, dass Sie Bürokratie nur akzep-tieren, wenn es um Ihre Klientel geht, angefangen in die-ser Legislaturperiode mit der Hotelsteuer.
Das Betreuungsgeld ist genauso bürokratisch. Das ak-zeptieren Sie, aber wenn es um die Gleichstellung vonMännern und Frauen und wenn es um Menschenrechtegeht, dann kritisieren Sie alles.
Ich sage Ihnen: Unsere Geduld ist am Ende. Wenn wirdas derzeitige Tempo unterstellen – Abbau der Entgelt-ungleichheit um 1 Prozent in sechs Jahren –, sind es132 weitere Jahre, bis wir den Equal Pay Day tatsächlichabschaffen können. Es ist Zeit für Taten. Stimmen Sieheute unserem Gesetzentwurf zu!Danke schön.
Vielen Dank Frau Kollegin Christel Humme. –
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion von CDU/CSU unsere Kollegin Katharina Landgraf.
Bitte sehr, Frau Kollegin Landgraf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männernin der Arbeitswelt ist eine unendliche Geschichte. Da-rüber reden wir – auch ich – jedes Jahr wieder; leiderbislang ohne durchschlagenden Erfolg.Die Erwerbstätigkeit der Frauen nimmt seit Jahrenstetig zu, aber die tatsächliche Gleichstellung der Frauenin der Arbeitswelt ist noch lange nicht erreicht. Denn:Obwohl Frauen heute durchschnittlich höhere und bes-sere Bildungsabschlüsse als Männer erreichen, sind siein gut bezahlten Berufen und höheren Entscheidungs-positionen immer noch selten zu finden.Einen Lichtblick gibt es allerdings in den neuen Bun-desländern. Dort ist die Lohnlücke sehr viel kleiner. Siebeträgt zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern nur4 Prozent und in Sachsen 9 Prozent, während sie in Ba-den-Württemberg 27 Prozent beträgt. Dies liegt auch da-ran, dass die Männer im Osten durchschnittlich wenigerverdienen als ihre westdeutschen Kollegen und dass dieFrauen im Osten häufiger in Vollzeit arbeiten und selte-ner in Minijobs. Zudem unterbrechen sie ihre Berufstä-tigkeit seltener für längere Zeit – denn 50 Prozent allerZweijährigen gehen bei uns in eine Kinderkrippe –, undes gibt im Osten mehr Frauen, die Führungspositioneninnehaben.
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Katharina Landgraf
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Die SPD betont in ihrem Gesetzentwurf, dass sie dieEntgeltgleichheit mit einem Gesetz durchsetzen will. Ichsage hingegen: Der Staat als Handelnder soll sich hier soweit wie möglich zurückhalten. Das verträgt sich abernicht mit diesem Gesetzentwurf. Denn Sie fordern eineVerpflichtung zur Vorlage von Entgeltberichten, zumAufbau einer Behördenstruktur und einer Prüfungsin-stanz.
Sie fordern also den Aufbau einer ausladenden Bürokra-tie. Das widerspricht unseren ordnungspolitischen Prin-zipien und unserem Ziel des Bürokratieabbaus.
Wo bleibt außerdem die Tarifvertragsfreiheit?Wir haben schon eine Rahmengesetzgebung zumThema Entgeltgleichheit und brauchen kein neues Ge-setz. Ich erinnere an die vorhandenen Gesetze, zum Bei-spiel das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und dasGrundgesetz.
Ich versuche jetzt, nicht das zu wiederholen, wasmeine Kollegen schon vorgetragen haben. Ich will auchnicht noch einmal die Ursachen nennen; darin stimmeich mit Ihnen überein. Ich möchte bloß wiederholen,dass unser Ministerium schon lange auch bei den Ursa-chen ansetzt.Ich möchte zu den Aktivitäten nur einen Punkt nen-nen, den auch Kollege Lehrieder schon angesprochenhat: das Forschungsprojekt „Tarifverhandlungen undEqual Pay“. Zusammen mit den Tarifpartnern und derForschung werden – darauf setze ich große Hoffnung –Maßnahmen für einen Abbau von Lohnunterschieden imRahmen von Lohnverhandlungen benannt.
Das Projekt richtet sich vorrangig an die Tarifpartner.Ziel ist es, dass das Thema Entgeltgleichheit künftig inTarifverhandlungen eine größere Rolle als bisher spielt.
Im brandfrischen Antrag der Koalition fordern wir dieBundesregierung auf, weitere Maßnahmen zur Überwin-dung der Entgeltungleichheit zu ergreifen.
So werden zum Beispiel die Tarifpartner darin unter-stützt, die Stellen- und Arbeitsbewertungen zu verän-dern.
– Hören Sie gut zu, Frau Ferner. Das ist ein bisschen wasanderes als das, was andere gesagt haben. Denn ich findees wichtig, dass wir nicht nur in Sonntagsreden vomDienst am Menschen sprechen,
sondern dass sich das auch im Lohn auswirkt, den dieseMenschen bekommen. Ich denke zum Beispiel an unsereLehrerinnen, Erzieherinnen, Pflegerinnen und all die, diefür den Dienst am Menschen bisher noch zu wenig Geldbekommen.
Das trägt dazu bei, die Auswirkungen auf die Entgelt-gleichheit zwischen Männern und Frauen zu mindern.Einer der wichtigsten Punkte ist aber nach wie vor dieVereinbarkeit von Familie und Beruf.
Trotz eines veränderten Rollenverständnisses von Män-nern sind es nach wie vor die Frauen, die die Erziehungder Kinder übernehmen. Die Unternehmenskultur isttrotz jahrelanger Bemühungen und auch unserer Appellein der letzten Zeit nicht freundlicher geworden.
Die Erwerbstätigenquote von Frauen war im vorigenJahr zwar mit 71 Prozent auf dem Höchststand. Die Teil-zeitquote ist in Deutschland aber leider unverhältnismä-ßig hoch. Zahlreiche Studien und meine Erfahrungen be-legen, dass ein Teil dieser Frauen sehr gerne in Vollzeitarbeiten würde. Dass sie dies trotz oft sehr guter Qualifi-kation nicht können, liegt häufig an den bisher nochnicht ausreichenden Infrastrukturmaßnahmen für die Be-treuung von Kindern, an starren Arbeitszeiten, mangeln-der Flexibilität bei dem Wechsel zwischen Vollzeit undTeilzeit oder auch an mangelnden Gestaltungsmöglich-keiten. Nach wie vor ist es die Frau, die zu Hause bleibt,ihre Arbeitszeit reduziert, und das schlägt sich eben aufdas Entgelt und die Altersversorgung nieder.Wir fordern weiterhin innovative Arbeitszeitmodellein Form von Gleitzeit, Teilzeit, Telearbeit usw. Daswürde auch den Männern guttun. Das führt zu wenigerFehlzeiten, zu weniger Fluktuation und zu einer höherenMotivation. Wir werben in diesem Zusammenhang inunserem Antrag – gerade im Hinblick auf den Fachkräf-temangel – für eine Kultur der Vielfalt innerhalb der Un-ternehmen und dafür, dass das Potenzial von Berufsrück-kehrerinnen besser genutzt wird.
Die noch vorherrschende Präsenzkultur muss durch eineEffizienzkultur ersetzt werden, bei der es viel wenigerauf die Länge der Arbeitszeit als auf die Ergebnisse an-
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Katharina Landgraf
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kommt. Dazu muss auch die Charta für familienbe-wusste Arbeitszeiten ausgewertet und weiterentwickeltwerden.
Die Verbesserung der Vereinbarung von Familie undBeruf ist nicht nur ein gleichstellungs- und familienpoli-tisches Ziel. Es hilft allen. Es stünden dem Arbeitsmarktnach aktuellen Schätzungen rund 1,2 Millionen qualifi-zierte Frauen mehr zur Verfügung. Die bessere Verein-barkeit von Familie und Beruf hat einen starken Einflussauf die Erwerbsbeteiligung und trägt somit maßgeblichzur Verringerung der Lohnlücke bei.Ich appelliere daher an die Arbeitgeber und an die Ta-rifparteien,
auf die Frauen und deren Möglichkeiten einzugehen, da-mit uns deren Potenzial nicht verlorengeht, sondern esbestmöglich genutzt wird.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin aus
der Fraktion der Sozialdemokraten: unsere Kollegin
Frau Gabriele Hiller-Ohm. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es isttraurig und für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonCDU/CSU und FDP, beschämend, dass wir diese De-batte heute überhaupt führen müssen.
Sie könnten den unhaltbaren Zustand der unmittelbarenDiskriminierung von 17 Millionen erwerbstätigenFrauen mit Ihrer Regierung sofort ändern.
In Ihrem Antrag stößt man auf folgende richtige Ana-lyse: Das Grundgesetz verbietet es,Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit eingeringeres Entgelt zu zahlen als Männern. … Den-noch verharrt seit Jahren der durchschnittliche Ver-dienstunterschied zwischen Frauen und Männernnach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei22 Prozent.Ja, so ist es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie brin-gen die Wirklichkeit für 41 Millionen Frauen inDeutschland ganz genau auf den Punkt.
Was wollen Sie angesichts dieser 64 Jahre währendenGrundgesetzverstöße machen? Schauen wir in Ihren An-trag: Erst einmal freuen Sie sich über 200 von 3 Millio-nen Unternehmen in Deutschland, die das InstrumentLogib-D freiwillig nutzen. Diese Unternehmen könnenfreiwillig gegen Lohnunterschiede vorgehen und damitgenau 0,0014 Prozent der Lohnlücke schließen. Siefreuen sich über einen Familiengipfel, auf dem vielewarme Worte verloren wurden. Sie freuen sich über1 000 Unternehmen in Deutschland, die laut Hertie-Stif-tung Maßnahmen zur verbesserten Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf ergriffen haben. Toll! Das entspricht jaimmerhin einem Unternehmen von 3 000.
In Ihrem Antrag schreiben Sie dann im Forderungs-teil, dass Sie Werbung machen wollen: für mehr Fami-lienfreundlichkeit, für den verstärkten Einsatz von Ta-gesmüttern, weil diese so herrlich flexibel sind, für dieErleichterung des Wiedereinstiegs von Frauen nach derKinderphase, für eine Effizienzkultur statt einer Präsenz-kultur in der Arbeitswelt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,die Entgeltlücke zwischen Männern und Frauen wirdvon Feministinnen schon seit über 100 Jahren problema-tisiert. Sie hält sich in Deutschland trotz großen Pro-blembewusstseins noch viel hartnäckiger als in vielenanderen europäischen Ländern.
Diese Entgeltlücke wollen Sie als verantwortliche Re-gierung allen Ernstes mit „Freuen“ und „Werben“ schlie-ßen? Realitätsferner geht es ja wohl nicht.
So sieht Ihr Kampf gegen die Lohndiskriminierungaus: Ihre Ministerin, Kristina Schröder, Mutter des Be-treuungsgelds, geht in die Betriebe, freut sich über dieBelegplätze der Unternehmen bei einer Tagesmutter,wirbt für das große Potenzial von Berufsrückkehrerinnenund denkt, dass die netten Chefs ihren Arbeitnehmerin-nen nachher freiwillig ein Viertel mehr Gehalt zahlenwürden. In welcher Welt, so frage ich Sie, leben Sie?
Wir alle – das war auch unter Rot-Grün so – habendoch schon unsere Erfahrungen mit Freiwilligkeit ge-macht – viel zu lange. Nichts hat sich bis heute an derLohndiskriminierung geändert. Wir wollen endlich Ta-ten sehen.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonCDU/CSU und FDP: Würden Sie es hinnehmen, wennIhre Bank Monat für Monat widerrechtlich ein ViertelIhres Gehaltes einbehielte? Würden Sie nach 100 Jahren
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Gabriele Hiller-Ohm
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noch diskutieren und sich freuen, dass Ihr BankberaterIhren Unmut versteht? Würden Sie dafür werben, Ihnenwenigstens eine Chance zu geben, die ungerechtfertigtenAbzüge zu verringern?
Es geht nicht darum, langsam eine gesellschaftlicheStimmung für Lohngerechtigkeit zwischen den Ge-schlechtern zu erzeugen. Es ist richtig: Wir müssen dieVereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Aberdas allein löst das Problem nicht.
Wir müssen die systematische Diskriminierung beseiti-gen;
denn auch Frauen ohne Kinder, die überhaupt kein Pro-blem hinsichtlich der Vereinbarkeit zwischen Familieund Beruf haben, sowie Frauen in typischen Männerbe-rufen werden für gleiche Leistungen schlechter bezahltals Männer. Alle Frauen in Deutschland sind deshalb be-troffen.Sehenden Auges wird gegen unser Grundgesetz ver-stoßen, und mehr als die Hälfte der Bevölkerung wirdbis ins hohe Alter, bis zum Tod, krass benachteiligt. Das,liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Skandal. Wir je-denfalls werden es nicht länger hinnehmen, dass dieRechte von Frauen in unserem Land mit Füßen getretenwerden.
Wir wollen deshalb unseren Gesetzentwurf durchset-zen, mit dem wir diese Ungerechtigkeit ein für alle Malbeenden können. Die Gewerkschaften stehen dabei dichtan unserer Seite. Wir zeigen eine wirksame und unbüro-kratische Lösung auf, wie man Entgeltdiskriminierungunterbinden kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU undFDP, tun Sie endlich einmal etwas Richtiges, und stim-men Sie unserem Gesetzentwurf zu!
Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. – Letzter
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion von
CDU/CSU unser Kollege Eckhard Pols. Bitte schön,
Kollege Pols.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Sie kennen doch sicherlichalle den Satz: Bei uns ist jeder Tag Frauentag. – So wirbtder Zentralverband des Deutschen Handwerks nicht nurfür mehr Frauen im Handwerk, sondern er stellt Frauenund Männer hinsichtlich der Entlohnung gleich.Als Mittelständler und Handwerksmeister möchte ichals letzter Redner zum Thema „Entgeltgleichheit fürMänner und Frauen“ einen Blick auf das deutsche Hand-werk werfen, um auch einmal einen Praxisbezug herzu-stellen und aufzuzeigen, wie es funktionieren kann. Dasdeutsche Handwerk ist in vielen gesellschaftspolitischenBereichen sowieso einen Schritt voraus.In den vergangenen Jahren ist der Frauenanteil imHandwerk kontinuierlich gestiegen. Frauen haben in vie-len der fast 1 Million Handwerksbetriebe die Hosen– oder besser gesagt: die Schweißerjacke, die Lupen-brille oder die elektrisch ableitfähigen Handschuhe – an;denn Frauen sägen, löten, schweißen, hämmern, schrau-ben an Autos und decken Dächer. Mehr als ein Viertelder Auszubildenden im Handwerk sind Frauen, mehr als20 Prozent der Meisterprüfungen werden von Frauen ab-gelegt, und fast jeder vierte Gründer im Handwerk istweiblich. Bei diesen Zahlen gibt es sogar eine steigendeTendenz.
Diese erfreuliche Entwicklung zeigt, dass die freiwil-lige Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheitvon Männern und Frauen, die vor zehn Jahren zwischender Bundesregierung und den Spitzenverbänden derdeutschen Wirtschaft geschlossen wurde, sehr erfolg-reich ist. Frauen haben also längst die klassische Män-nerdomäne Handwerk erobert.
Diese Entwicklung muss – umgekehrt – auf die Dienst-leistungsbranche, insbesondere auf die Gesundheits- undPflegeberufe, übertragen werden. In diesen frauendomi-nierten Berufen brauchen wir mehr Männer, um nichtnur dem Fachkräftemangel, sondern auch dem demogra-fischen Wandel entgegenzuwirken. Ziel des Bundesfa-milienministeriums ist es daher, die Attraktivität der Ge-sundheitsbranche zu steigern,
zum einen durch eine gesellschaftliche und zum anderenvor allem durch eine finanzielle Aufwertung der Ge-sundheitsberufe.
Das sind Maßnahmen, um die Entgeltunterschiede zwi-schen Frauen und Männern zu verringern. Mit diesemThema, nämlich mit der Lohnfindung in den Gesund-heitsfachberufen, beschäftigt man sich auch im Rahmendes diesjährigen Equal Pay Day.Ich selbst kann nur schwer nachvollziehen, warumbeispielsweise der Umgang mit Maschinen oder mit demThema Finanzen im Hinblick auf die Entlohnung eineandere Bewertung erfährt als die hohe psychische undkörperliche Belastung im Umgang mit kranken oder
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29046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Eckhard Pols
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hilfsbedürftigen Menschen. Das widerspricht meinempersönlichen Gerechtigkeitsempfinden.
Ein gesellschaftliches Umdenken ist hier dringend erfor-derlich.
Für das Handwerk gilt: Wo Tarifverträge existieren,fällt die Entgeltlücke zwischen Frauen und Männern ge-ringer aus, weil die Entgeltpraxis an diesen Stellen trans-parenter ist.
Wichtig ist auch, dass man bei der Frage der Entgelt-gleichheit nicht Äpfel mit Birnen vergleicht.
Wenn eine Frau beim gleichen Arbeitgeber die gleicheArbeit leistet wie ein Mann, dann wird sie auch gleichentlohnt. Das ist im Handwerk gelebte Praxis und wirdauch nach Recht und Gesetz verlangt.
– Hören Sie doch erst einmal zu, Frau Ferner! Dann kön-nen Sie dazwischenrufen.
Es wäre auch ökonomisch unsinnig, Männern beigleicher Arbeit mehr zu zahlen als Frauen.
Dazu steht auch nicht im Widersprich, dass Männer undFrauen beim gleichen Arbeitgeber und im gleichen Be-ruf dennoch oftmals unterschiedlich viel verdienen.Denn bei der Lohn- bzw. Gehaltseinstufung werden auchindividuelle Vorkenntnisse und Fähigkeiten, der Gradder Belastung, die Verantwortung des Arbeitnehmersund die Art, Vielfalt und Qualität der Tätigkeit berück-sichtigt.
Dies erklärt zum Beispiel, warum nicht jeder Lehrer, je-der Krankenpfleger und jeder Verkäufer gleich entlohntwerden.Die viel diskutierte Entgeltlücke von 22 Prozent zwi-schen Frauen und Männern spiegelt das, was suggeriertwird, nicht wider. Da die Bruttostundenlöhne von Frauenum 22 Prozent unter denen von Männern liegen, wirdauf eine Diskriminierung von Frauen in Deutschland ge-schlossen. Bei dieser Argumentation bleiben jedoch ei-nige Faktoren, die die Vergütung sehr stark prägen, un-berücksichtigt, zum Beispiel die Berufswahl, die Dauervon Elternzeiten und die Häufigkeit von Teilzeittätigkei-ten.
Wie eben gesagt, macht es sich natürlich in der Vergü-tung von Frauen bemerkbar, dass sich viele von ihnenfür erzieherische, lehrende oder gesundheitsbezogeneBerufe entscheiden statt für technische oder gar inge-nieurwissenschaftliche. Das Institut der deutschen Wirt-schaft Köln hat dazu Berechnungen durchgeführt undfestgestellt, dass Elternzeiten von mehr als drei Jahrenmit Entgelteinbußen von durchschnittlich 12 Prozenteinhergehen. Dass Frauen häufiger als Männer in Mini-jobs arbeiten, senkt ihre durchschnittliche Vergütung.Der wesentliche Teil der Entgeltlücke zwischen Frauenund Männern lässt sich somit durch unterschiedliche Be-rufswahl und Verantwortung in der Familie erklären. Be-reinigt man diese Entgeltlücke um die genannten Fakto-ren, dann bleibt lediglich eine Lücke von 2 Prozentbestehen.
Dies sind, wie gesagt, Zahlen des Instituts der deutschenWirtschaft Köln. Dieser Wert, Frau Ferner, taugt nunwirklich nicht, um eine fundamentale Diskriminierungvon Frauen zu belegen. Dies ändert aber nichts an unse-rem grundsätzlichen, generellen Ziel, die Gleichstellungvon Frauen und Männern in der Arbeitswelt voranzutrei-ben.In unserem Antrag haben wir deshalb ein Bündel anMaßnahmen vorgeschlagen,
um dieses Ziel zu erreichen, zum Beispiel die Schaffungvon besseren Rahmenbedingungen zur leichteren Ver-einbarkeit von Familie und Beruf – das haben wir schonvon Frau Landgraf gehört –
und insbesondere eine flächendeckende und bedarfsge-rechte Kinderbetreuung. Frau Ferner, noch einmal ganzdeutlich: Wenn Ihre Tochter für ihr Kind Betreuungsgeldbezieht, dann heißt das noch lange nicht, dass Ihre Toch-ter währenddessen nicht auch arbeiten kann.
Wir arbeiten in unserer christlich-liberalen Koalition andiesem Bündel von Maßnahmen.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn meineHandwerkskollegen gefragt werden, dann sagen sie im-mer: Wir sind Handwerker, wir können das.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29047
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Vielen herzlichen Dank, Kollege Eckhard Pols.Kollege Pols war auch der letzte Redner in unsererAussprache,
die ich nun auch schließe.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion der SPD zur Durchsetzung des Ent-geltgleichheitsgebotes für Frauen und Männer. Der Aus-schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendempfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/12782, den Gesetzentwurf derFraktion der SPD auf Drucksache 17/9781 abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Das sind die Fraktion derSPD und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Werstimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen.Enthaltungen? – Das ist die Fraktion Die Linke. Der Ge-setzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damitentfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-tung.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/12782 empfiehlt der Ausschuss die An-nahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU undFDP auf Drucksache 17/12483 mit dem Titel „Entgelt-gleichheit für Frauen und Männer verwirklichen – Fa-milienfreundliche Unternehmen als Beitrag zur Gleich-stellung der Geschlechter“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen. Gegenprobe! – Das sind die drei Oppositionsfrak-tionen. Enthaltungen? – Niemand. Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen.Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Frauenverdienen mehr – Entgeltdiskriminierung von Frauen ver-hindern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/12575, den Antragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache17/8897 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge-genprobe! – Das sind die drei Oppositionsfraktionen.Enthaltungen? – Niemand. Die Beschlussempfehlung istangenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Endedieses Tagesordnungspunktes.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 d sowieden Zusatzpunkt 10 auf:32 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Joachim Pfeiffer, Eckhardt Rehberg, ThomasBareiß, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
, Torsten Staffeldt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDPDen Wandel in der maritimen Wirtschaft be-gleiten und ihre nationale Aufgabe für denWirtschaftsstandort Deutschland herausstel-len– Drucksache 17/12817 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweBeckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDUmsteuern in der Krise – Maritime Wirtschaftunterstützen– Drucksache 17/12723 –c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HerbertBehrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKESoziale Arbeitsbedingungen in der maritimenWirtschaft fördern – Flaggenflucht verhin-dern– Drucksache 17/12823 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungd) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungDritter Bericht der Bundesregierung über dieEntwicklung und Zukunftsperspektiven dermaritimen Wirtschaft in Deutschland– Drucksache 17/12567 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
VerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für TourismusZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms,Dr. Gerhard Schick, Bettina Herlitzius, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEuropäische Tonnagesteuer statt Steuerspar-modell– Drucksachen 17/12697, 17/12878 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergLothar Binding
Dr. Gerhard SchickNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Sie sind damiteinverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache.
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29048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Vizepräsident Eduard Oswald
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Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Bun-desregierung der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto. – Bitte schön, Kollege Hans-JoachimOtto.
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Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gleich eingangs meine zentrale Botschaft:Die maritime Wirtschaft in Deutschland ist eine strate-gisch unverzichtbare Zukunftsbranche mit einem über-durchschnittlichen Wachstumspotenzial. Wir brauchensie als drittgrößtes Exportland der Welt, und wir brau-chen diese Branche zur Lösung von zentralen Zukunfts-fragen
wie etwa der Energieversorgung, der Rohstoffversor-gung und des Klimawandels. Wir brauchen deshalb auchein starkes maritimes Cluster. Um das auch in der Zu-kunft zu erreichen, hat sich die maritime Wirtschaft ins-besondere im Bereich des Schiffbaus strategisch neu underfolgversprechend aufgestellt.Die Werften haben ihre Produktpalette konsequentangepasst, und inzwischen werden in diesem Bereichnach langer Zeit wieder zusätzliche Arbeitsplätze aufge-baut.Unterstützung brauchen die Werften bei der nach wievor schwierigen Finanzierung. Bund und Länder habeninsgesamt aber bewiesen, dass sie ihre Instrumente,nämlich Exportkreditgarantien, CIRR-Zinsausgleichsga-rantien und Landesbürgschaften, flexibel und erfolgreicheinsetzen.Ich begrüße es nachdrücklich, dass es uns gemeinsamgelungen ist, die Mittel für die Innovationsförderung auf13 Millionen Euro zu erhöhen. Die Länder stellen eineKofinanzierung in gleicher Höhe bereit, und vielleichtgelingt es uns ja, bei dieser Position auch noch ein biss-chen zuzulegen.Besonders schwierig – darüber gibt es keine Zwei-fel – ist weiterhin die Lage in der Seeschifffahrt. Esherrscht weltweit ein Überangebot an Tonnage vor. Diedringend notwendige Erholung der Charter- und Fracht-raten wird wohl kaum vor 2015 eintreten. Hier wird vonden Reedern, den Eigenkapitalgebern und den Bankenviel Engagement verlangt, um die Folgen der strukturel-len und konjunkturellen Krise bewältigen zu können.Die Bundesregierung setzt sich ihrerseits im Rahmendes Maritimen Bündnisses verlässlich dafür ein, denSchifffahrtsstandort Deutschland zu stärken. Instrumentewie Tonnagesteuer, Lohnsteuereinbehalt, Zuschüsse zuden Lohnnebenkosten und Arbeitsplatzförderung schaf-fen hier bestmögliche Rahmenbedingungen.
Mit der Erneuerung des Maritimen Bündnisses hat dieBundesregierung im vergangenen Jahr ein deutlichesund, wie ich finde, sehr wichtiges Signal gesetzt. Damithat die Bundesregierung Kontinuität und Verlässlichkeitbewiesen.
Zugleich haben wir erreicht, dass die deutschen Ree-der mit 30 Millionen Euro jährlich zusätzlich einen sub-stanziellen Eigenbeitrag zur Stärkung von Ausbildungund Beschäftigung in Deutschland erbringen. Auch daswill ich an dieser Stelle ausdrücklich gutheißen.Mit Erleichterung kann ich sagen, dass die Koalitionauch dafür sorgt, dass jetzt keine zusätzlichen Belastun-gen auf die Reeder zukommen. Ich danke – das tue ichhier durch besonderes Hervorheben – den Finanzpoliti-kern der Koalition dafür, dass sie sich auf eine gesetzli-che Klarstellung verständigt haben, wonach Erlöspoolsin der Schifffahrt nicht versicherungsteuerpflichtig sind.Ich bin sehr froh, dass dieses Thema noch vor derAchten Nationalen Maritimen Konferenz erledigt wer-den konnte. Diese Konferenz findet in zwei Wochen inKiel statt. Sie wird dort einer breiten Öffentlichkeit zei-gen, dass wir beispielsweise mit dem Zulassungsverfah-ren für private bewaffnete Sicherheitskräfte an Bord denReedern die notwendige Rechtssicherheit verschaffen,dass wir im Bereich Verkehrsinfrastruktur viel für Ha-fenanbindung und Ertüchtigung der Bundeswasserstra-ßen tun – ein Beispiel ist der Nord-Ostsee-Kanal –
und dass wir den Nationalen Masterplan Maritime Tech-nologien erfolgreich fortschreiben und umsetzen. FürZukunftsmärkte, zum Beispiel Offshorewind, maritimeSicherheit und Tiefseebergbau, konnten wichtige Ak-zente gesetzt und konkrete Aktivitäten angestoßen wer-den.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist heute ver-mutlich meine letzte Rede als Maritimer Koordinator vordiesem Hohen Haus. Ich will deshalb die Gelegenheitnutzen, um mich bei Ihnen allen für eine insgesamt sehrkonstruktive und erfolgreiche Zusammenarbeit in denvergangenen Jahren zu bedanken. Die maritime Koope-ration – so nenne ich das – über alle Fraktionsgrenzenhinweg ist viel sachorientierter und zielgerichteter ver-laufen, als es vermutlich die folgenden Redebeiträge derOpposition vermuten lassen.Ich freue mich darauf, möglichst viele von Ihnen in14 Tagen in Kiel wiedersehen zu können.Herzlichen Dank.
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Auch Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär,
ein herzliches Danke. – Nächster Redner in unserer Aus-
sprache für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Uwe Beckmeyer. Bitte schön, Kollege Uwe
Beckmeyer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren!
– Herr Fischer, haben Sie sich einmal Gedanken ge-macht, weshalb hier kein Minister sitzt? Ist das für dieMinister Rösler und Ramsauer kein Thema? Aber gut.Die maritime Wirtschaft schaut auch ohne die Minis-ter heute nach Berlin.
In der Vorbereitung der Konferenz in Kiel werden vonder Politik überzeugende Antworten erwartet,
die helfen können, die maritime Wirtschaft in schwieri-gen Zeiten zu unterstützen. Das gilt für die derzeitigeBundesregierung leider nicht. Sie hat in den Augen dermaritimen Wirtschaft schon auf der Konferenz in Wil-helmshaven kläglich versagt. Showeffekte sind kein Er-satz für eine stimmige und hilfreiche Politik.
Auch nach der letzten Maritimen Konferenz hat es dieRegierung nicht vermocht, das Steuer herumzureißen. Inwesentlichen Handlungsfeldern der maritimen Wirt-schaft sind von ihr keine Antworten geliefert worden.Die Folgen: Auf wichtigen Feldern, ob Offshorewind-energie, Maritimes Bündnis oder Hinterlandanbindung,ist weiterhin kein Land in Sicht. Die Aussichten verhei-ßen wenig Besserung, zumindest was die Politik vonUnion und FDP betrifft. Die Achte Nationale MaritimeKonferenz in Kiel fällt mit dem Ende dieser Wahl-periode zusammen. Oder sollte man besser sagen: Mitdem Ende der schwarz-gelben Regierungszeit?
Daher ist dies auch der Zeitpunkt für eine Bilanz vonvier Jahren Schwarz-Gelb. Das Ergebnis fällt nicht posi-tiv aus; denn eine Schlüsselbranche unserer Volkswirt-schaft ist unter der jetzigen Bundesregierung auf sich ge-stellt.
Die derzeitige Bundesregierung versteht sich, wie imBericht mehrfach nachzulesen, als moderierend. Han-deln ist nicht so ihr Ding. Sie setzt auf wichtigen Hand-lungsfeldern der maritimen Wirtschaft auf den Rückzugdes Staates, das Laisser-faire der Märkte – eine Haltung,die dem maritimen Standort insgesamt schadet. Wirbrauchen einen Kurswechsel in der maritimen Politik.Notwendig ist eine konsequente Innovationspolitik, umdie maritime Wirtschaft in der Krise aktiv zu unterstüt-zen.
Entscheidend wird sein, den Modernisierungsprozessder Branche aktiv zu steuern. Eine strategische Indus-triepolitik für den gesamten maritimen Bereich mussvier zentrale Bausteine enthalten: erstens die Finanzie-rung von maritimen Projekten, zweitens die Förderungzukunftsfähiger Arbeit, drittens eine umfassende Inno-vationsstrategie und -förderung und viertens die Stär-kung der Infrastruktur. Kurz gesagt: Ein Zukunftspaketfür die maritime Branche ist notwendig. Darauf setzenwir Sozialdemokraten.
Die Zukunftsfähigkeit der maritimen Branche hängtwesentlich vom technologischen Fortschritt und vonmarktfähigen Innovationen ab. Dies erfordert jedochhohe Investitionssummen. Angesichts der weltweit an-gespannten Lage auf den internationalen Kapitalmärktenund der wachsenden globalen Standortkonkurrenz ist diesolide Finanzierung absolut notwendig und eine wesent-liche Herausforderung der maritimen Erfolge und dermaritimen Projekte.Darum fordern wir die Bundesregierung auf, sich ge-genüber der BaFin für die Übernahme des sogenanntenLong Term Asset Value als alternatives Ertragswertver-fahren für die Schiffsfinanzierung einzusetzen – bis zumheutigen Tage ist da auf Ihrer Ebene nichts passiert –,gemeinsam mit den schiffsfinanzierenden Banken Mo-delle zu entwickeln, um die deutschen Reeder beim Ab-bau von Schiffskapazitäten zu unterstützen, und zwardurch Aufliegerprogramme oder durch Herausnahmevon Schiffen, die nicht energieeffizient sind oder älterals 15 Jahre, die bestehenden Finanzierungsinstrumentezu überprüfen und im Rahmen von Förderzielen neuePerspektiven für die Schiffbaubranche zu eröffnen.Ich will das abkürzen. Wir haben im Bereich der Off-shoreförderung ein KfW-Sonderprogramm. Bis zumheutigen Tage haben Sie, sehr geehrte Damen von derchristdemokratischen Union und der FDP, es abgelehnt,dies für den Bereich der Hafen- und Schiffskapazitätenzu öffnen. Das ist ein Umstand, der – ich sage es einmal –für die deutsche Küste schädlich ist.
Der maritime Arbeitsmarkt ist in den vergangenenJahren stark in Bewegung geraten. Vor diesem Hinter-grund sind Fragen der Verfügbarkeit und Qualifizierungvon Fachkräften sowie der Stellenwert und die Perspek-tive der traditionellen Industriearbeit zu diskutieren.Auch hier wurden Aufgaben nicht erfüllt. Deshalb for-dern wir Sozialdemokraten die Entwicklung von Maß-nahmen zur Sicherung des Nachwuchses in der Schiff-
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29050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Uwe Beckmeyer
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bauindustrie, die Erhöhung der Ausbildungsquote in derdeutschen Werftindustrie, die Verknüpfung der Förde-rung für den Bereich Schiffbau, Seeschifffahrt undOffshorewindenergie mit quantitativen und qualitativenZielen hinsichtlich Ausbildung, Übernahme und Ausge-staltung der Tarifverträge.Wir fordern ein Sicherheitskonzept Deutsche Küsteim Bereich des Rettungswesens auf Offshorewindener-gieanlagen und eine koordinierte Strategie einer mariti-men Sicherheitspartnerschaft aller Beteiligten ein. Nichtnur diejenigen, die vor der Küste technisch tätig sind,sondern wir alle müssen uns darum kümmern. Ich willmich auch hier kurzfassen. Die Langfassung können Siein unserem Antrag nachlesen. Wir fordern Sie des Weite-ren auf, auf europäischer Ebene beim Verzicht auf Aus-schreibungspflicht für Lotsdienste tätig zu werden. Hierist zu vermerken, dass Sie bislang alle Aktivitäten unter-lassen haben.Wir brauchen dringend Anstrengungen bei der be-schleunigten Modernisierung der Schiffsflotte zur ver-stärkten Emissionsminderung und Energieeffizienz. Wirbrauchen eine systematische Untersuchung der Vor- undNachteile von Flüssiggas und Flüssigerdgas. Auch hierhaben Sie in Ihrer Strategie einen absoluten Nullpunkterreicht. Wir brauchen die Entwicklung einer Exzellenz-strategie, die es der deutschen Werftindustrie ermöglicht,im Hightechsegment tätig zu werden. Wir brauchen zu-dem eine deutliche Aufstockung im Haushaltstitel „Ma-ritime Technologie der nächsten Generation“ zugunstender Werftindustrie in Deutschland.Wesentlicher Bestandteil einer Innovationsstrategiefür die maritime Wirtschaft muss auch eine gezieltestaatliche Infrastrukturpolitik sein; denn die logistischeAnbindung der deutschen Seehafenstandorte wird in denkommenden Jahren zu einem kritischen Wettbewerbs-faktor werden. Nur eine Politik der zwei Säulen – indus-trielle Entwicklung und Ausbau der Infrastruktur – wirddazu beitragen, die Wachstumsbasis der maritimen Bran-che in Deutschland nachhaltig zu sichern und zu stärken.Hierzu einige Stichworte: zuverlässige Abwicklung derHinterlandverkehre insbesondere durch den Ausbau derSchienen- und Wasserwege sowie den zügigen Ausbauder seewärtigen Zufahrten unserer Seehäfen inklusiveNord-Ostsee-Kanal; Kürzung der Verfahrensdauer beimBundesverwaltungsgericht in Leipzig durch eine deut-lich bessere Personalausstattung. Sie müssen das Prinzipder verkehrsträgerbezogenen Finanzierungskreisläufeaufgeben. Wir brauchen eine integrierte Finanzierungunserer Verkehrsinfrastruktur.
Wir brauchen endlich eine klarsichtige Politik bei derNeuordnung der Bundeswasserstraßen. Was Sie dort ak-tuell machen, ist schädlich für Deutschland. Sie bringenden ganzen Bereich in Unordnung. Wir wollen das been-den. Ich hoffe, dass es nach Abwahl dieser Regierung zueinem Neustart kommt.Sie sehen, meine Damen und Herren: Nichts ist gutauf diesem Feld in der Bundesrepublik Deutschland. DieBundesregierung versucht mit ihrer selbstgefälligen Art,die Fehlleistungen der vergangenen dreieinhalb Jahre zuübertünchen. Aber die maritime Industrie lässt sich nichtmehr hinter die Fichte führen. Sie wartet auf einen Neu-start. Diesen wird es allerdings mit dieser Bundesregie-rung nicht geben. Wir brauchen einen Kurswechsel inder maritimen Politik, vielleicht kommt er erst nach derBundestagswahl.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Uwe Beckmeyer. – Nächster
Redner für die Fraktion von CDU/CSU ist unser Kollege
Eckhardt Rehberg.
– Dieser Tausch ist bei mir, dem Präsidenten, nicht ange-
kommen. Es ist schön, dass die richtige Reihenfolge we-
nigstens auf dem Bildschirm erscheint. Aber beim Präsi-
denten ist es nicht angekommen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Kollege Enak Ferlemann. Bitte schön, Kollege Enak
Ferlemann.
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Sehr geschätzter, hochverehrter Herr Präsident, ent-schuldigen Sie, dass ich mich etwas vorgedrängelt habe.Aber die Geschäftsordnung sieht das so vor. Gleichwohlwerden alle Kolleginnen und Kollegen hier noch zuWort kommen.Wir haben gerade einen etwas erschütternden Berichtdes Kollegen Beckmeyer über ein Land, das ich garnicht kenne, gehört. Die Bundesrepublik Deutschlandkann das jedenfalls nicht sein.
Wir stehen vor der Achten Nationalen MaritimenKonferenz, einer wunderbaren Errungenschaft. Dieganze Branche mit ihren verschiedenen Facetten trifftsich, kann miteinander sprechen, Impulse setzen, überLösungsansätze diskutieren und hat die Möglichkeit, mitPolitik, Verwaltung und Gesellschaft in Austausch zutreten. Viele andere Branchen in Deutschland würdensich wünschen, dass es eine solche Gelegenheit gäbe,sich auszutauschen.Pünktlich zum Maritimen Bündnis legen die Koali-tionsfraktionen unter deiner Federführung, lieberEckhardt Rehberg, einen wiederum außerordentlich ge-lungenen Antrag vor,
der die maritime Politik exzellent beschreibt, der aberauch deutlich macht, welche Herausforderungen fürdiese Branche auf Deutschland und auf die Politik zu-kommen.
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Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
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Man kann allerdings feststellen, lieber KollegeBeckmeyer: Die maritime Wirtschaft und die maritimePolitik sind bei uns in sehr guten Händen.
Ich kann das nur betonen und darf mich an dieser Stellefür die exzellente Zusammenarbeit mit meinem Kolle-gen Otto aus dem Wirtschaftsressort bedanken. Ichglaube, die Erfolge der vergangenen Jahre können sichwahrhaft sehen lassen.Wir haben es hier mit einer Branche zu tun, in der esrund 400 000 Beschäftigte gibt und die einen sagenhaf-ten Jahresumsatz von rund 50 Milliarden Euro macht.Häufig wird maritime Politik als rein norddeutsche Poli-tik qualifiziert, die sie aber nicht ist; denn alle Auswir-kungen der maritimen Politik betreffen immer das ganzeLand. Maritime Politik ist nicht nur eine Politik für dieKüstenländer, sondern maritime Politik ist eine Politikfür das ganze Land, sie ist eine nationale Aufgabe.
Der Schwerpunkt der maritimen Politik liegt insbe-sondere auf den norddeutschen Ländern; aber genausowichtig ist die Anbindung der ZARA-Häfen. Auch dieZARA-Häfen sind wichtig für die maritime Politik, diewir in Deutschland machen müssen;
denn auch dort werden Hinterlandanbindungen ge-braucht, auch dort wird importiert und exportiert. Des-wegen muss man beides im Blick haben. Ich glaube,dass wir die Nordwestrange insgesamt sehen müssen.Die Konkurrenz dieser Häfen findet nicht untereinanderstatt, sondern das ist nur Wettbewerb; und das ist gut undrichtig so. Die Konkurrenz droht aus Süd- und Südost-europa. Darauf muss die Nordwestrange reagieren, unddarauf müssen die richtigen politischen Antworten gege-ben werden.In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nachder Anbindung der Seehäfen. Bei dem steigenden Wa-renumsatz, den wir durch die Globalisierung haben, sinddie Seehäfen die Einfallstore der Globalisierung. Deswe-gen ist es vordringliche Aufgabe des Verkehrsministe-riums, für eine ordnungsgemäße Anbindung der See-häfen zu sorgen. Das tun wir. Noch nie hat eineBundesregierung einen Schwerpunkt so sehr auf die See-hafenhinterlandanbindung gelegt wie diese. Im neuenBundesverkehrswegeplan, der von 2015 bis 2030 rei-chen wird, wird sie es wiederum tun.
– Herr Beckmeyer, ich denke, auch Sie sind mit großerFreude zwischen Bremen und Hamburg oder Hamburgund Bremen, wie auch immer Sie das sehen, auf der neugestalteten A 1 gefahren.
Da gibt es nicht einmal ein Tempolimit, so gut ist sieausgebaut.
So schnell sind Sie auf der Straße noch nie von Bremennach Hamburg gekommen. Wir sind mit dem Ausbauder A 7 weit vorangekommen, wir bauen den nächstenAbschnitt der A 21,
die A 14 ist begonnen worden, und die Planungen derA 20 und der A 39 gehen zügig voran. Trotz mancherKoalitionsversprechen, die Sie in den norddeutschenLändern gegeben haben, was diesen Projekten wahrhaftnicht guttut, werden wir sie trotzdem hinbekommen.Denken Sie an die Schiene und das Seehafenhinter-landanbindungsprogramm, das wir haben. Ich erinnerean die Knoten, die ertüchtigt und aufgebaut werden. Esstellt sich die Frage, ob wir die steigenden Mengen aufdem bestehenden Netz abwickeln können oder ob wirAlternativen brauchen – Stichwort: Y-Trasse. Die Unter-suchungen laufen.
Wir haben viele Projekte, zum Beispiel die Betuwe-Line, die wir auf nordrhein-westfälischer Seite aus-bauen. Alles das sind Punkte, die für eine exzellentePolitik sprechen. Sie haben zu Ihren Regierungszeitendavon geträumt, so etwas verwirklichen zu können.
Genauso ist es mit den seewärtigen Anbindungen.Alle seewärtigen Anbindungen sind von dieser Regie-rung in der Planung weit vorangetrieben worden. DiePlanfeststellungsverfahren sind häufig abgeschlossenund liegen jetzt dem Bundesverwaltungsgericht vor. Ichfinde, man sollte etwas bescheidener sein, wir als Exeku-tive und Sie als Legislative, wenn die Judikative Rechtsprechen soll. Warten Sie doch in Ruhe die Urteile ab.Ich vertraue darauf, dass unsere Mitarbeiterinnen undMitarbeiter einen hervorragenden Job gemacht habenund wir bei Gericht schon gewinnen werden. Ein biss-chen Geduld tut manchmal auch einem Bremer ganz gut.Der Blutdruck normalisiert sich dann. Warten wir dasalso ab. Dann gestalten wir die Dinge, die da kommen.Wir sehen allerdings am Nord-Ostsee-Kanal, so wiean vielen Stellen, dass wir mehr Geld für den Erhalt derSeehafenhinterlandanbindungen brauchen. Da haben wirdie Programme so umgestrickt, dass wir schon im ak-tuellen Investitionsrahmenplan einen größeren Schwer-punkt auf die Unterhaltung als auf Neuinvestitionen ge-legt haben. Das ist gut und richtig so.Wir werden auf dieser Maritimen Konferenz sicher-lich über die Krise der Seeschifffahrt, über die Finanzie-rungsfragen sprechen. Wir werden über das hervorra-gend ausgestaltete Maritime Bündnis sprechen, das nochnie so gut wie jetzt dastand.
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Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
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Ich freue mich darüber, dass wir das Seearbeitsgesetzfertiggestellt haben. Ich freue mich über die Modernisie-rung der Flaggenpolitik, und ich freue mich darüber,dass trotz mancher Diskussion in diesem Hause die Ton-nagesteuer nach wie vor eine der bedeutendsten Förder-möglichkeiten für die Reeder ist.
Wir werden über die Zukunft der Werften reden. Wirwerden über die sicheren Seewege reden, darüber, wasdie Operation Atalanta gebracht hat, darüber, was wirgemeinsam vereinbart haben, um Sicherheitskräfte auchan Bord deutsch geflaggter Schiffe nehmen zu können.
Wir werden über die leistungsfähigen Seehäfen reden,übrigens auch über die Binnenhäfen. Haben Sie das neueKonzept der Bundesregierung schon einmal gelesen,Herr Beckmeyer? Exzellente Arbeit! Das müssten Sie ei-gentlich zugestehen.In diesem Zusammenhang seien mir noch folgendeFragen erlaubt: Wie stellt Herr Beckmeyer sich vor,Seehäfen, die ausgebaut werden, zu fördern? HerrBeckmeyer, was machen Sie denn mit denen, die ausge-baut worden sind? Wie wollen Sie denn da fördern? DieUngleichheit der Wettbewerbsbedingungen hat er natür-lich nicht erwähnt, sondern er ruft nach Geld ohne Kon-zept, ohne Sinn und Verstand. Die Offshorewindindus-trie wird es schon genau zu werten wissen.Wir werden über Klima und Umweltschutz reden,über die maritime Sicherheit, über all diese Punkte.
Ich glaube, wir haben mit der Achten Nationalen Mariti-men Konferenz ein hervorragendes Diskussionsforum.Ich glaube, wir haben alle Möglichkeiten, die Zukunfts-fähigkeit der Branche für ganz Deutschland – maritimePolitik ist eine nationale Aufgabe – gut darzustellen undImpulse zu setzen. Ich freue mich, wenn wir uns in Kielwiedersehen und nachher die Ergebnisse bewerten undumsetzen können. Alles Gute der nächsten MaritimenKonferenz in Kiel!Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Jetzt ein paar Worte aus der real existierenden Bundesre-publik.
Die Schiffe unter deutscher Flagge werden von Monatzu Monat weniger. 600 sollten es mindestens sein – Siewissen es –; das wurde im Maritimen Bündnis vor zehnJahren vereinbart. Aktuell sind es halb so viele. Die Ver-suche der Bundesregierung seit der Siebten NationalenMaritimen Konferenz in Wilhelmshaven, die Reederwieder zu mehr Engagement zu bringen, sind weitge-hend gescheitert. Das Maritime Bündnis ist in Wirklich-keit kein Bündnis mehr. Die Reeder haben ihren Beitragan Ausbildung und Beschäftigung zwar erhöht, aber pa-radoxerweise wird dieser Beitrag zum Teil aus Gebührenfinanziert, die eingenommen werden, wenn Schiffe aus-geflaggt werden. Das heißt im Umkehrschluss: Je mehrSchiffe ausgeflaggt werden, umso mehr Geld können dieReeder zur Verfügung stellen, um Beschäftigung zu för-dern. Das kann doch kein Konzept sein.
Ein anderes Beispiel für diese falsche Politik findenwir beim Flaggenrecht. Die Bundesregierung behauptet,sie habe die maritime Ausbildung gestärkt. Aber was hatsie tatsächlich gemacht? Die Koalitionsfraktionen drück-ten durch, dass Flaggenflucht nur dann genehmigt wird,wenn die Reeder dafür einen Ausgleich leisten. Der Aus-gleich besteht darin, dass Ausbildungsplätze auch aufausgeflaggten Schiffen erhalten bleiben sollen. Aberkeine Regel ohne Ausnahme: Die Reeder können sichmit geringen Ausgleichszahlungen von der Ausbildungs-pflicht freikaufen. Mit dieser Politik muss Schluss ge-macht werden.
Wir fordern, die Arbeitsbedingungen in der maritimenWirtschaft zu verbessern, und dazu gehört, die Fluchtaus der deutschen Flagge zu verhindern.
Die Reeder oder, besser gesagt, die Finanzinvestorenund Fonds, die dahinterstecken, suchen ihre Anlagemög-lichkeiten immer dort, wo am meisten Profit erwirtschaf-tet werden kann. Ist es hier im Land zu wenig, dann ziehtman halt weiter. Verlierer ist der Staat, weil ihm Steuer-einnahmen wegbrechen; Verlierer sind insbesondere dieBeschäftigten, weil Konkurrenzvorteile immer auch zu-lasten von sozialen Standards, Arbeitsplätzen und Ein-kommen gehen. Darum müssen Wettbewerbsvorteile,die ausschließlich zulasten der Beschäftigten und derSteuerzahler gehen, abgeschafft werden.
Die Bundesregierung muss auf europäischer Ebenedahin gehend aktiv werden, den Subventionswettlauf zustoppen. Förderungen an Unternehmen darf es nur danngeben, wenn Ausbildung und Know-how verbindlich ge-sichert werden. Leistung ohne Gegenleistung darf es inder europäischen Schifffahrt nicht länger geben. Das for-dern wir in unserem Antrag.
Aber nicht nur auf See, sondern auch an Land sind dieArbeitsbedingungen schlechter geworden. Die Unter-nehmen nutzen die Krise und auch die Möglichkeiten
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Herbert Behrens
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der Agenda 2010, um Druck zu machen. Leiharbeit,Werkverträge, befristete Beschäftigungen sind Kennzei-chen einer falschen Arbeitsmarktpolitik.Auch wenn Unternehmen in die Krise geraten, wieSIAG in Emden oder P+S in Wolgast und Stralsund, gibtes mehr Möglichkeiten als Entlassungen und Lohnkür-zungen. Die Menschen dort müssen eine Perspektive fürihr Leben bekommen. Und wenn es den Unternehmenallein nicht möglich ist, das finanziell zu wuppen, dannmüssen durch staatliche Förderung, Qualifizierungs-gesellschaften, bessere Kurzarbeitsregelungen und Ar-beitszeitverkürzungen Arbeitsplätze erhalten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht derBundesregierung zeigt die Probleme der maritimenWirtschaft auf: Überkapazitäten im Schiffbau, sinkendeFrachtraten und dramatische Unterbeschäftigung inSchifffahrtsunternehmen und Werften. Aber Sie ziehenkeine Konsequenzen daraus. Sie predigen gebetsmüh-lenartig Ihre alte Idee – Sie warten darauf, dass die euro-päische Finanz- und Wirtschaftskrise endlich vorbeigeht,und hoffen, dass die strahlende Zukunft für Häfen, Werf-ten und Zulieferer an der Nord- und Ostseeküste durchdie Offshorewindenergie kommen wird. Aber Hoffenund Harren allein reichen doch nicht aus. Sie müssenhandeln!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,Sie listen in Ihrem Antrag mehr als ein Dutzend Maß-nahmen auf, die angeblich die Belange der maritimenWirtschaft gefördert hätten. Am Ende lassen sich dieseMaßnahmen auf zwei Begriffe reduzieren: Wir brauchenmehr Wachstum, wir brauchen mehr Markt. – Das kannes aber doch nicht sein! Zu Recht werden an 16 Stellenim Bericht der Bundesregierung „große Herausforderun-gen“ – so heißt es – erwähnt, denen man sich stellenmüsse. Aber wenn keine Prioritäten gesetzt werden,dann wird doch daraus nichts!„Das Meer ist Wirtschafts- und Lebensraum sowieNahrungs- und Ressourcenquelle zugleich.“ So steht essehr richtig in dem Antrag der Koalition. Aber diese teilsgegensätzlichen Funktionen des Meeres bergen Kon-flikte. Darum müssen Richtungsentscheidungen gefälltwerden. Neben der Schaffung guter Arbeit in der mariti-men Wirtschaft und auf Schiffen ist die Forschung undEntwicklung in zukunftsfähige, umweltverträglicheTechnologien ein sehr, sehr wichtiges Handlungsfeld fürstaatliche Technologiepolitik und auch für Forschungs-förderung.
Vordringlich ist die Senkung der Emissionen vonSchadstoffen in der Schifffahrt nicht nur auf hoher See.Eine der Hauptursachen der Feinstaubemissionen geradein Norddeutschland ist die Verbrennung von Schweröl inSchiffsmotoren. Inzwischen gibt es zwar gesetzlicheGrenzwerte für Schwefelemissionen, nicht aber beiSchwermetallen und Ruß. Hier besteht sofortiger Hand-lungsbedarf.
Im Bericht der Bundesregierung wird der Schutz dernatürlichen Umwelt aber unter den Vorbehalt von Wirt-schaftlichkeit und Konkurrenzfähigkeit der Produkte ge-stellt. Sie wollen mit Ihrer Forschungs- und Entwick-lungspolitik erreichen, dass Innovationszyklen drastischverkürzt werden, um der Konkurrenz immer einenSchritt voraus zu sein. Sie wollen erreichen, dass schnel-ler und billiger produziert wird. Aber sind das nicht auchdie Ursachen des internationalen Verdrängungswettbe-werbs, für die bestehenden Wahnsinnsüberkapazitätenauf den Weltmärkten? Zukunftsweisende Forschungs-und Technologiepolitik in der maritimen Wirtschaft siehtwirklich anders aus.
SPD und Grüne haben Anträge vorgelegt, in denen sieeine Umsteuerung in der maritimen Wirtschaft fordern.Die Kolleginnen und Kollegen der SPD haben erkannt,dass die Liberalisierung der Märkte und der Rückzug desStaates nicht dazu führen, dass maritime Standorte ge-stärkt werden – eine späte, aber richtige Erkenntnis, al-lerdings auch das Gegenteil dessen, was ursprünglichIhre Arbeitsmarktpolitik war.Wir unterstützen viele Ihrer Forderungen, können Ih-rem Antrag aber nicht zustimmen. Denn wieder setzenSie auf den Marineschiffbau und fordern von der Bun-desregierung, „den Marineschiffbausektor bei seinen Ex-portanstrengungen durch die Förderung von Referenz-projekten zu unterstützen“. Bau und Export vonKriegsschiffen und anderen Marineprodukten sind abernicht die Zukunft. Wir wollen Rüstungsexporte stoppen.
Beim Marineschiffbau muss mit intelligenter Konver-sionspolitik umgebaut werden; die darin steckenden fi-nanziellen Mittel müssen in zukunftsfähigen zivilenSchiffbau umgelenkt werden.
Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der SPD, sind wir dabei, wenn es darum geht, dieweitere Liberalisierung der Hafendienstleistungen zuverhindern. Auch wir fordern: Port Package III darf esnicht geben. Ich hoffe sehr, dass die Maritime Konferenzin Kiel die wesentlichen Fragen diskutieren und Schwer-punkte setzen wird. Passiert das nicht, bleibt die mari-time Wirtschaft in schwerer See.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms von der FraktionBündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Dass der maritime Wirt-schaftszweig Debattenthema hier im Bundestag ist,kommt nur alle zwei Jahre vor,
bedauerlicherweise; es gibt nämlich genug Probleme indem Sektor. Wir kommen hier mehr oder weniger nuralle zwei Jahre dazu, darüber zu diskutieren, weil dannwieder eine neue maritime Konferenz vor der Tür steht.
Kurz vorher machen wir hier wieder unsere übliche par-lamentarische Selbstbeweihräucherungsshow nach zweiJahren zwischenzeitlichen Stillstands.Nachdem wir uns 2011 auf der Baustelle des JadeWe-serPorts in Wilhelmshaven – ich sage einmal – zum poli-tischen Camping getroffen haben, ist die deutsche mari-time Wirtschaft immer weiter in die See hineingeflossen;sie ist beinahe verschwunden.
Wir sind zwar die weltgrößte Containerschiffnation– das hört sich zunächst einmal ganz gut an –, aber dieSchiffe fahren nicht unter deutscher Flagge, liebe Kol-leginnen und Kollegen. Wir haben einen dramatischenRückgang zu verzeichnen, nämlich von knapp 500 Schiffenauf jetzt nur noch knapp über 300 Schiffe.Was wir sehen, ist eine riesige Schiffsblase, die inKürze zerplatzen wird.
Die Banken, werter Kollege Staffeldt,
ziehen sich aus der Schifffahrt zurück. Vielleicht ist dassogar bei der FDP angekommen. Die Commerzbank hatdas angekündigt. Die HSH Nordbank, der ehemalsgrößte Schiffsfinanzierer der Welt, kann nur mit geradewieder auf 10 Milliarden Euro erhöhten staatlichenBürgschaften aus Schleswig-Holstein und Hamburg– um einmal im maritimen Bild zu bleiben – knapp überWasser gehalten werden.Wo bleibt die schonungslose Analyse des ach so kom-petenten Wirtschaftsministers?
Ich habe sie noch nicht gehört. Die gibt es nämlich nicht.Der Wirtschaftsminister stammt zwar aus der sogenann-ten Partei der Wirtschaft, aber Fehlanzeige im dickenBericht der Bundesregierung!
Ich kann mir auch durchaus vorstellen, warum das soist. Den ganzen Schlamassel – den können Sie auchnicht mit Träumereien über irgendwelche sich wieder er-höhenden Frachtraten und Ähnliches verdecken – hat diePolitik mit zu verantworten. Unsere Vorgängerinnen undVorgänger haben es zugelassen, dass sich diese Blase,diese riesige Schiffsmenge, bilden konnte. Mit dem In-strument des Schiffsfonds wurde eine prima Steuerspar-möglichkeit für Anleger geschaffen, angefeuert durchdie vereinfachte Tonnagegewinnermittlung – umgangs-sprachlich: Tonnagesteuer; es wurde schon angespro-chen –, die im Grundsatz sicherlich nicht ganz falsch ist.
Aber wir kennen das auch aus anderen Bereichen: DasInstrument ist falsch angewendet worden. Ich denke daan die Bauherrenmodelle aus früherer Zeit. Das ist abernur die eine Seite der Medaille.Die andere Seite der Medaille ist, dass wir mit diesemFinanzierungssystem ermöglicht haben, dass unterneh-merische Verantwortung und unternehmerisches Risikopraktisch voneinander entkoppelt sind.
Durch die Konstruktion der Schiffsfonds als KG zähltdas für die finanzierenden Banken bislang als Eigenkapi-tal, obwohl der Reeder gar kein eigenes Geld hinein-gesteckt haben muss. Als Eigenkapital steckt im Wesent-lichen nur das Geld der aufs Steuersparen fixiertenAnleger drin; Herr Staffeldt, das sollten auch Sie solangsam mal begriffen haben.
Der Reeder bekommt also ein Schiff, das er einsetzenkann, ohne dass er mit einem einzigen Euro Eigenkapitalin die unternehmerische Haftung gegangen ist. So habenwir die Blase geschaffen, meine Damen und Herren, ander die maritime Wirtschaft jetzt zugrunde zu gehendroht.
Was müssen wir jetzt machen? Vor allen Dingen mussdie Bundesregierung endlich aus ihrem maritimen Tief-schlaf aufwachen und wirksame Maßnahmen ergreifen.
– So nach hellwach sah das eben aber nicht aus, KollegeOtto. – Eine funktionierende Lösung haben wir in un-serem Antrag zur Tonnagesteuer präzise vorgeschlagen– die Finanzwelt sieht das mittlerweile auch so –:Erstens. Die Tonnagegewinnermittlung muss direktbei der Schiffsgesellschaft vorgenommen werden. Alsofür die Fachleute unter uns und den Zuschauern: Umstel-lung der Besteuerung der Schiffsfonds vom Transpa-renz- auf das Trennungsprinzip.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29055
Dr. Valerie Wilms
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Zweitens. Alle Schiffe eines Reeders müssen in des-sen konsolidierte Bilanz aufgenommen werden, unab-hängig vom Anteil der tatsächlichen finanziellen Beteili-gung des Reeders. Damit übernimmt er nämlich auchwieder Verantwortung für sein unternehmerisches Han-deln.
Drittens. Wir müssen unser Flaggenregister dringenddienstleistungsorientiert aufstellen oder müssen am bes-ten gleich ein solches dienstleistungsorientiertes euro-päisches Flaggenregister schaffen, also die Europa-flagge. Wir sind schließlich Bestandteil des vereinigtenEuropa.Es gibt noch einen weiteren Punkt, der zur unterneh-merischen Verantwortung passt: das Thema Ausbildungin der Seeschifffahrt. Junge Menschen bilden wir zuNautikern aus. Sie freuen sich und verlassen die See-fahrtsschulen, erhalten stolz ihr Patent, und dann kommtdas böse Erwachen: Sie finden keine Anstellung auf ei-nem Schiff mit deutscher Flagge, um ihre Patente aus-zufahren. Was ist die Folge? Nach drei Jahren sind sieschlicht und ergreifend ihr Patent wieder los, und dieganze teure Ausbildung war für die Katz.
Hier brauchen wir dringend Lösungen, die ein echtesmaritimes Bündnis aller Partner aus Wirtschaft, Gewerk-schaften und Politik schaffen könnten. Sonst stehen wirnämlich bald ganz ohne Nautiker aus deutscher Ausbil-dung da und brauchen dann für sie auch keine Tarifver-träge und gesetzlichen Regelungen mehr. Das will ichwirklich nicht.
Darum brauchen wir jetzt den echten Neustart des Mari-timen Bündnisses. Der 22. September ist dafür der rich-tige Stichtag.
Werter Kollege Otto, Sie schmücken sich mit demschillernden Titel „Maritimer Koordinator der Bundesre-gierung“. Toll! Doch ich frage mich: Wo sind Sie, wennes um die wichtigen Fragen der maritimen Politik geht?Schiffsfinanzierung? Abgetaucht. Hafenkonzept? Abge-taucht. Meeresschutz? Abgetaucht. Also komplett abge-taucht.
Zum Neustart des Maritimen Bündnisses nach derWahl gehört auch eine neue Rolle für den Maritimen Ko-ordinator. Es macht einfach keinen Sinn, wenn wir dasThemenfeld auf zwei oder mehr Ministerien aufteilen,die sich dann auch noch spinnefeind sind.
Der Maritime Koordinator muss mit der Fachebene sinn-voll verbunden sein. Er oder besser sie gehört dahin, wodie meisten Fachabteilungen sind: ins Verkehrsministe-rium. Mit der heutigen Konstruktion werden wir der Be-deutung der Branche nicht mehr gerecht.
Ein zukunftsfähiges Konzept ist von dieser Regierungnicht mehr zu erwarten.
Hier ist Abwracken angesagt. In genau sechs Monatenist der Stichtag.Herzlichen Dank.
Der Kollege Eckhardt Rehberg hat für die Unions-
fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Für einen hessischen Jungen, lieber Hans-Joachim, ist es am Anfang wahrscheinlich nicht ganzeinfach gewesen. Wenige Tage vor der Nationalen Mari-timen Konferenz will ich dir im Namen der Unionsfrak-tion danken. Es war heute wahrscheinlich deine letzteRede als Maritimer Koordinator.Lieber Uwe Beckmeyer, ich werde darauf eingehen,was geleistet worden ist, unter anderem bei der Bekämp-fung der Piraterie, beim Maritimen Bündnis. In den zehnJahren eurer Regierungszeit, in denen ihr die Verkehrs-minister gestellt habt, habt ihr nicht einmal ansatzweisedas geschafft, was wir auf die Reihe bekommen haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Säulender Schifffahrtsförderung in Deutschland sind die Ton-nagesteuer, der Lohnsteuereinbehalt und das MaritimeBündnis. Bei der Tonnagesteuer wird oft nur auf dieZahl der Schiffe geguckt, die unter deutscher Flagge fah-ren.
Natürlich wird es Probleme geben, wenn die Reeder mitStandort in Deutschland nicht zur Vernunft kommen. Esgibt nämlich zwei Kriterien: Entweder fahren 60 Prozentunter europäischer Flagge, oder es gibt einen Aufwuchsbei der eigenen Flagge. Auf der anderen Seite muss man
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Eckhardt Rehberg
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sehen, dass wir seit 1999 einen Zuwachs an Landarbeits-plätzen von 16 000 auf 23 000 zu verzeichnen haben,insbesondere in den norddeutschen Ländern. Das sindhochqualifizierte Arbeitsplätze. Deswegen hat auch dasZEW Mannheim der Tonnagesteuer bei einer Betrach-tung der 20 größten Subventionen im Bundeshaushaltnicht die rote Karte gezeigt, sondern die grüne.
Deswegen, Frau Kollegin Wilms, ist Ihre Kritik völligüberzogen und unangebracht.
Herr Kollege Beckmeyer, ich frage mich, in welchemLand Sie leben und ob Sie Fakten überhaupt zur Kennt-nis nehmen.
– Nein, Sie haben überhaupt nicht über Fakten gespro-chen. Wenn man Ihren Antrag liest, erkennt man: Siefordern die Bundesregierung auf, zu „untersuchen“ undzu „prüfen“, ohne sich wirklich einmal mit den Gege-benheiten zu befassen.Ich will einmal einen auch Ihnen bekannten Reederaus Hamburg bzw. Bremen, Claus Peter Offen, zitieren.Die Frage der Frankfurter Allgemeinen vom Augustletzten Jahres war:Sollte der Staat den Reedern helfen?Antwort:Nein. Es ist nicht Aufgabe des Staates, hier zu inter-venieren. Die Unternehmen sollten ihre Problemeselbst lösen.In der Ostsee-Zeitung vom 7. Januar heißt es:Im Kern aber sind die Reeder selbst verantwortlichfür ihre Misere: Sie bringen zu viele Schiffe an denMarkt.Dann wird Großreeder Peter Krämer zitiert:Wir Reeder waren blauäugig – dachten, der Boomder 2000er-Jahre hört nicht mehr auf, und habenentsprechend Schiffe bestellt, ohne konkreten Be-darf.Ein drittes Zitat bezieht sich auf Michael Behrendt,Vorstandsvorsitzender bei Hapag-Lloyd, nebenbei Präsi-dent des Verbandes Deutscher Reeder:Michael Behrendt hat den Glauben an die Vernunftseiner Branche längst verloren. „Es existiert wohlkeine andere Industrie, die derart irrational han-delt“, sagt der Vorstandsvorsitzende von Deutsch-lands größter Containerreederei Hapag-Lloyd.„Und leider betrifft diese Irrationalität ausnahmslosalle Reeder.“ Was den Manager in Rage bringt, sinddie andauernden Preiskämpfe der Linienreeder rundum den Globus.Glauben Sie, dass Sie mit Ihren Vorstellungen zu Auf-liegern und zu einer Abwrackprämie den Preiskampf dergroßen Linienreedereien in den Griff bekommen, dersich bis in die Charterreedereien durchzieht?
Schauen Sie sich die Zuläufe im Containerbereich imJahr 2013 an! Schauen Sie sich den Zuwachs im Bulk-carrierbereich, im Tankerbereich an! Das, was Sie hierden Reedern suggerieren, ist schon keine weiße Salbemehr; das ist Verhohnepipelung, das ist Sand-in-die-Augen-Streuen, das ist schlichtweg populistisch, HerrKollege Beckmeyer, und trägt nicht zur Lösung bei.
Wenn ich höre, dass die Sozialdemokratische ParteiDeutschlands kritisiert, wie wir jetzt das Maritime Bünd-nis gestaltet haben, denke ich daran, was Sie über einJahrzehnt versäumt haben. Ich war förmlich von den So-cken, als ich hörte, dass die Ausflaggungsgebühren nichteinmal 1 Million Euro betrugen. Wir haben sie jetzt ineinem ersten Schritt auf 10 Millionen Euro angehoben;die eingenommenen Mittel wurden direkt in den Haus-halt eingestellt und auch für die Senkung von Lohnne-benkosten verwendet.Wir haben eine Vereinbarung mit dem Verband Deut-scher Reeder zur Ausbildung und zum Ausfahren vonPatenten getroffen: Die Reeder müssen Ablösebeiträgezahlen, wenn sie nicht selber ausbilden. Das heißt, wir,die Christdemokraten und die Freien Demokraten, neh-men die Wirtschaft in die Pflicht: Wenn sie etwas nichttut, muss sie im Gegenzug zahlen. Wir sorgen uns umAusbildung, Beschäftigung und das Ausfahren von Pa-tenten; wir sorgen für Nachwuchs. Das heißt, öffentlicheHand und private Hand handeln gemeinsam. Das ist andieser Stelle wirklich eine öffentlich-private Partner-schaft.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass das, was wir imBereich der Piraterie machen, keine Lösung ist. Mankann ja vorschlagen, dass wir Tausende Bundespolizis-ten und Bundeswehrangehörige auf Schiffe unter deut-scher Flagge einsetzen. Man müsste dann schauen, wieman es macht, vielleicht unter europäischer Flagge. DieEigensicherung der deutschen Reeder wird von der Bun-despolizei massiv unterstützt. Das Bundesverkehrsmi-nisterium hat mit dazu beigetragen. Es gab hier einerechtliche Grauzone; wir haben eine rechtlich saubereBasis geschaffen. Es ist ein Verdienst von Hans-JoachimOtto, dass er die Initiative ergriffen hat, hier rechtlichsaubere Regelungen zu schaffen.
Meine Damen und Herren, die Verordnung ist jetztfertig, sie hat 60 Seiten.
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Eckhardt Rehberg
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Es war ein schwieriger Prozess. Das Problem privaterSicherheitsunternehmen auf Schiffen unter deutscherFlagge – unter dänischer oder norwegischer Flagge ver-hält es sich ähnlich – haben wir gelöst.
– Herr Kollege Beckmeyer, private Sicherheitsunterneh-men an Bord – das ist ein sehr sensibler Bereich. Wir ha-ben alles getan, um das durch Verordnung bzw. Gesetzabzusichern. Die Politik hat hier alles dafür getan, dassdas vernünftig und sauber läuft.
Da lassen wir uns von Ihnen nicht vorwerfen, dass wirnichts getan hätten.Letzter Punkt: Schiffsfinanzierung. Man hat geradegestern gesehen, dass die Finanzierungsinstrumente desBundes greifen: Die KfW IPEX-Bank als Konsortialfüh-rer finanziert zwei innovative Hightechschiffe für dieniederländische Reederei RollDock, die auf der WerftFlensburger Schiffsbau-Gesellschaft gebaut werden, zu-sammen mit zwei niederländischen Banken mit einemKredit von rund 75 Millionen Euro, CIRR-finanziert,Hermes-gedeckt. Das heißt: Unsere Förderinstrumenteund unsere Finanzierungsinstrumente tragen mit dazubei, dass auf deutschen Werften Hightechschiffe im Off-shorebereich gebaut werden. Dies zeigt: Unsere Instru-mente greifen, wenn wir sie flexibel und mobil einset-zen.
Wenn hier jemand behauptet – auch einige Haushältersind dabei –, dass wir nicht in der Lage sind, flexibel zuhandeln: Wir haben in den letzten Jahren, wenn es daraufankam, unsere Förderinstrumente so flexibel gehalten,dass Milliardenaufträge, über CIRR-Finanzierung undHermes-gedeckt, nach Deutschland gekommen sind.
Unter anderem eine Werft in Niedersachsen profitiertdavon in hohem Maße. Die Beschäftigungseffekte sindenorm. Wir konnten allein in einem Jahr 23 000 Men-schen beschäftigen, davon ein Viertel in der Region rundum Papenburg und die restlichen drei Viertel in ganzDeutschland. Wenn wir unsere Finanzierungsinstru-mente einsetzen, hilft das also nicht nur der Küste, son-dern ganz Deutschland.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch Folgendes sa-gen: Gerade was mein Heimatland Mecklenburg-Vor-pommern betrifft, ist festzustellen, dass der Bund in denletzten Jahren bis an die Grenze dessen gegangen ist,was verantwortbar war.
Jetzt werden Debatten losgetreten, der Bund solle sichstärker engagieren. Nur ein Hinweis dazu: Die 100-pro-zentige Tochter der KfW-Förderbank, die KfW IPEX-Bank, ist auch hier involviert und engagiert. Ich kann fürdie Bundesregierung mitsprechen, wenn ich sage: Wirsetzen alles daran, dass Schiffbauaufträge gerade derschwierigen Region Mecklenburg-Vorpommern zugute-kommen.Wir brauchen keine neuen Förderinstrumente, und wirbrauchen schon gar nicht, Herr Beckmeyer, dass der ma-ritime Standort Deutschland schlechtgeredet wird.Herzlichen Dank.
Der Kollege Ingo Egloff hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auf die Bedeutung der maritimen Wirtschaft
mit über 400 000 Arbeitsplätzen und 50 Milliarden Euro
Umsatz ist schon hingewiesen worden. Ich gebe der Kol-
legin Wilms recht, dass wir öfter – und nicht nur aus An-
lass der Nationalen Maritimen Konferenz – dies von die-
ser Stelle aus, vielleicht auch grundsätzlich, diskutieren
sollten. Letztendlich hat die Entwicklung der maritimen
Wirtschaft Auswirkungen auf Arbeitsplätze in ganz
Deutschland.
Diemaritime Wirtschaft stand noch nie so gut da wieheute. – Ich frage mich, in welcher Wirklichkeit HerrFerlemann lebt. Wer gestern das Handelsblatt zumThema Schiffsfinanzierung gelesen hat und auch weiß,dass wir seit 2008 eine Schifffahrtskrise haben, weiß ge-nauso: Man kann eine solche Behauptung nicht aufstel-len.
Herr Ferlemann, Sie loben die Projekte im Zusam-menhang mit dem Hafenhinterlandverkehr, die angeb-lich von Ihrer Regierung auf den Weg gebracht wordensind. Die Autobahn Bremen ist damals unter MinisterTiefensee in Angriff genommen worden. Die Planungs-mittel der Y-Trasse sind von drei norddeutschen Bundes-ländern zur Verfügung gestellt worden.
– Doch, von Hamburg, Bremen und Niedersachsen;sonst wäre überhaupt nichts passiert, Herr Ferlemann.Herr Rehberg, Sie haben eben Herrn Behrendt vonHapag-Lloyd zitiert. Natürlich hat Herr Behrendt als
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Ingo Egloff
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Linienreeder ein anderes Interesse als andere Reeder,weil er von niedrigen Charterraten profitiert. Aber ichdenke, man muss das Schiffsportfolio insgesamt sehen,das wir in Deutschland haben: 3 900 Schiffe, die in ir-gendeiner Weise von Deutschland aus gesteuert werden,über 400 Schiffe, die unter deutscher Flagge fahren. Wirmüssen feststellen, dass das Problem nicht gelöst ist.
– Nein, Herr Kollege, aber man muss sich diesen Proble-men zuwenden.
Vom Verband Deutscher Reeder, vom ZentralverbandDeutscher Schiffsmakler und von Schiffsfinanzierernhört man, dass die Führung des Wirtschaftsministeriumsam 30. August 2012 zugesagt hat, dass man über dieseFragen diskutieren will. Trotz mehrfacher Nachfragen istda aber nichts passiert. Das erinnert mich an dasTheaterstück Warten auf Godot. Der ist auch nie gekom-men.
Herr Kollege Otto, wir haben schon beim Thema Nord-Ostsee-Kanal darüber diskutiert, was Ihre Aufgabe alsMaritimer Koordinator ist. Ich werde mich dem Dankfür Ihre Arbeit nicht anschließen; denn ich finde, dassSie Ihre Arbeit als Maritimer Koordinator nicht gut ge-macht haben.
Bleiben wir einmal beim Thema Schiffsfinanzierung.Natürlich kann die Bundesregierung dieses Problemnicht in Gänze lösen; das verlangt auch keiner. Abernicht umsonst sprechen Sie in Ihrem gemeinsamen An-trag den Long Term Asset Value an und sagen, dass mitder BaFin über solche Dinge geredet werden muss, umeine andere Bewertung zu erreichen.Herr Rehberg, ich weiß, dass Sie sich in Bezug aufdie Versicherungsteuer sehr eingesetzt haben; ich bin Ih-nen auch dankbar dafür. Wenn 30 Container-Reedereien200 Schiffe in einen Erlöspool einbringen
und am Ende dabei herauskommt, dass das Finanzminis-terium darauf eine Versicherungsteuer erheben will, soist das nicht zielführend. Ich bin Ihnen dankbar dafür,dass Sie dieses Thema aufgenommen haben, dass Sie esangeschoben haben, dass die Überlegungen nun in dierichtige Richtung gehen; aber wir warten auf eine ent-sprechende Regelung in einer Verordnung oder in einemGesetz, um sicherzustellen, dass so etwas in Zukunftnicht wieder passiert.Meine Damen und Herren, Offshore ist eine unendli-che Geschichte. Nachdem Frau Merkel mit dem Aus-stieg aus der Atomenergie ihr Erweckungserlebnis hatte,hat das Wirtschaftsministerium ein Jahr gebraucht, umdie Frage der Netzanschlüsse zu klären, zumindest aufdem Papier. Zu fragen ist: Sind die Offshoreanlagen an-geschlossen? Nein, das sind sie zum Teil nicht. Warumsind EnBW, RWE und Dong ausgestiegen? Warum wur-den drei Projekte gestoppt? Wenn Sie mit den Unterneh-men reden, sagen die: Wenn bei dem Stauchungsmodellnichts geschieht, werden wir das auch später nicht nach-holen. – So kann man die Energiewende nicht betreiben.Herr Beckmeyer hat auf die Finanzierung der Errich-terschiffe im Offshorebereich hingewiesen; dies warnicht im KfW-Programm enthalten. In dem Bericht derBundesregierung lese ich nun, dass kein Mangel an Er-richterschiffen bestehe. Nein, natürlich nicht. Warumnicht? Weil sie fast alle in Dubai, in Korea und in Chinagebaut werden und nur zwei in Deutschland, nämlich beiSietas. Der Bau eines dieser beiden Schiffe ist sogarnoch gestoppt worden, weil RWE aus dem Projekt aus-gestiegen ist.
Meine Damen und Herren, wenn Sie von Wertschöp-fungsketten für Offshore in Norddeutschland reden,dann müssen Sie auch den Beweis dafür erbringen. Dashaben Sie nicht getan. Sie haben das Gegenteil gemacht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Torsten Staffeldt für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Beste an der Rede meines Vorredners waren diePausen.
Ich sage es einmal so: Wenn Fachkompetenz die Voraus-setzung dafür wäre, vor dem Hohen Hause über diesesThema reden zu dürfen, dann hätten ohnehin nur dieKollegen Otto, Ferlemann und Rehberg reden können.
– Danke. Das wollte ich hören.
Wir haben eine interessante Debatte gehabt. Ich freuemich darüber. Es war übrigens keineswegs die einzigeim Laufe von zwei Jahren. Wenn Sie zurückblicken, wis-
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Torsten Staffeldt
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sen Sie, dass wir schon häufiger über die Themen dermaritimen Wirtschaft geredet haben, natürlich insbeson-dere über die Bereiche Schiffbau, Schifffahrt und mari-time Meerestechnik, aber eben auch über andere Berei-che. Ich freue mich grundsätzlich, wenn wir über diesesThema reden, weil ich wie wohl der Großteil des Ple-nums der festen Überzeugung bin, dass man sich imDeutschen Bundestag generell mehr damit beschäftigensollte; denn Schiffbau, Schifffahrt und maritime Meeres-technik sind Zukunftsfelder, bei denen wir gut beratensind, Fördermittel zur Verfügung zu stellen und dafür zusorgen, dass die Innovationsfähigkeit der unterschiedli-chen Bereiche erhalten bleibt und ausgebaut wird.Glücklicherweise gibt es im Bereich des Schiffbausnach wie vor weltmarktfähige Unternehmen. Die Werf-ten in Papenburg und Flensburg wurden schon genannt.
Wir haben dort glücklicherweise starke Player, und diemüssen wir erhalten.
Dazu ist das Bundeswirtschaftsministerium aufgefor-dert. Deswegen haben wir auch den Maritimen Koordi-nator dem Wirtschaftsministerium und nicht dem Ver-kehrsministerium zugeordnet. Ich danke an dieser Stelleausdrücklich Hans-Joachim Otto für seine Arbeit, die erim Laufe der letzten Jahre im Deutschen Bundestag undin der Regierung für Schiffbau und Schifffahrt geleistethat.
Ich danke auch Enak Ferlemann und dem Verkehrs-ministerium, die zusammen mit uns, den interessiertenund begeisterten Parlamentariern, dafür gesorgt haben,dass die Zukunftsfähigkeit der deutschen Schifffahrt er-halten bleibt. Dem dient auch unser Antrag, den wirheute vorgelegt haben. Er listet noch einmal alles Guteauf, was wir im Laufe der letzten Jahre getan haben. DerAntrag der SPD zeigt, dass Sie im Grunde genommennicht wissen, wie Sie damit umgehen sollen. Es ist nurvon Prüfaufträgen die Rede. Eigentlich finden Sie gut,was wir gemacht haben. Das sollten Sie endlich zuge-ben, Herr Beckmeyer.
Wünschenswert erscheint mir, dass die Kompetenzendes Maritimen Koordinators im Hinblick auf die Durch-setzungsfähigkeit an der einen oder anderen Stellegestärkt werden. Denn es ist eine schwierige Aufgabe, inder Gemengelage zwischen den unterschiedlichenMinisterien wie Verkehrs- und Umweltministerium dieSicherheitsbelange sowohl im Inneren wie im Äußeren– ich denke dabei an den Zoll oder die Deutsche Marine –als auch im Ernährungsbereich, beispielsweise in derFischerei, zu berücksichtigen. Das sind alles Bereiche,die die maritime Wirtschaft betreffen, und ich wäredankbar, wenn wir als Parlament und in der Regierungdafür sorgen würden, dass die Kompetenzen dahin ge-hend gestärkt werden.Die maritime Sicherheit ist ein wichtiges Thema.Deswegen freue ich mich insbesondere, dass bei derkommenden Nationalen Maritimen Konferenz in Kieldas Thema „Maritime Sicherheit“ wieder als Work-shop VII auf der Tagesordnung steht. Letztes Mal wardas nicht der Fall. Ich denke, gerade im Hinblick auf dasThema Piraterie ist es wichtig, weiter daran zu arbeiten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, als wir mit derCDU/CSU die Regierung gebildet und die Aufgabenver-teilung vorgenommen haben, stand den Reedern undSchiffbauern das Wasser bis zum Hals. Auf meinemSchlips sehen Sie die sogenannte Plimsoll-Marke bzw.Freibordmarke. Sie zeigt, wie weit ein Schiff beladenwerden darf in Abhängigkeit zum Fahrtgebiet, beispiels-weise im Winter im Nordatlantik oder im Tropenfrisch-wasser. Zu dem Zeitpunkt, als wir in der Regierung dieVerantwortung übernommen haben, stand den Reedernund Schiffbauern das Wasser bis zum Hals. Sie warenkurz vorm Umkippen.
Durch unsere gute Arbeit, die wir als Parlamentarier undals Regierung in den letzten Jahren geleistet haben, ist esuns gelungen, dafür zu sorgen, dass Schiffbau, Schiff-fahrt und maritime Meerestechnik in Deutschland wei-terhin eine Zukunft haben.
Dafür bedanke ich mich recht herzlich.Ich bin froh und dankbar, dass es auch nach dem22. September so weitergehen wird; denn wohin rot-grünes Chaos führt, wenn es um Verkehrsinfrastrukturgeht, sehen wir in Nordrhein-Westfalen und jetzt in Nie-dersachsen. Das wollen wir für Deutschland nicht, meineDamen und Herren.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ingbert Liebing für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da wir heuteim Vorfeld der Achten Maritimen Konferenz diese De-batte über die maritime Wirtschaft führen und die Kon-ferenz in Kiel in meinem Heimatland Schleswig-Hol-
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Ingbert Liebing
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stein stattfindet, möchte ich zum Abschluss dieserDebatte gerne mit einem Thema beginnen, das uns inSchleswig-Holstein besonders am Herzen liegt, nämlichdem Nord-Ostsee-Kanal.Wir haben in dieser Woche bereits in der AktuellenStunde am Mittwoch Gelegenheit gehabt, über diesesThema zu debattieren.
Es ist gut, dass wir als Koalition mit unserem Antragauch ein klares Bekenntnis zum Nord-Ostsee-Kanal ab-legen. Damit machen wir deutlich, dass wir handeln unddie Versäumnisse der Vergangenheit bereinigen. DieKoalition hat mit dem Infrastrukturbeschleunigungspro-gramm bereits die notwendigen Haushaltsmittel bereit-gestellt, damit die fünfte Schleuse in Brunsbüttel gebautwerden kann.
Der Haushaltsausschuss hat mit den Stimmen der Koali-tion auch dafür gesorgt, dass mögliche Nachfinanzierun-gen unproblematisch erfolgen können.
Es ist gut, wenn die Ausschreibung noch vor Beginn derMaritimen Konferenz herausgeht. Ich bin sicher, dassdas Bundesverkehrsministerium, Bundesverkehrsminis-ter Ramsauer und Staatssekretär Ferlemann alles dafürtun werden, damit nach der Ausschreibung zügig dieVergabe erfolgt und mit dem Bau begonnen wird. Dasbrauchen wir. Das braucht die maritime Wirtschaft alsnationale Wirtschaft. Deswegen sind wir als Koalitionbei diesem Thema gut aufgestellt.
Anschließend müssen, parallel vorbereitet, die nächs-ten Maßnahmen folgen: die Reparatur der Schleusen, derAusbau der Oststrecke und die Vertiefung des Kanals.Wir wissen, dass das ein Milliardenprogramm ist, dasschwierig zu stemmen ist. Dafür müssen wir alle Kräftebündeln.
Deswegen ist es gut, wenn es jetzt ein Aktionsbündnisaller Beteiligten gibt. Das ist allemal mehr wert als dasWahlkampfgetöse, das wir von Ihnen zu diesem Themazu hören bekommen.
Auf der Achten Nationalen Maritimen Konferenzwird ein Schwerpunkt wieder auf dem Bereich der Um-welt liegen. Schiffe sind – die heutige Debatte ist einegute Gelegenheit, noch einmal darauf hinzuweisen – dassauberste Verkehrsmittel, wenn wir die Relation zwi-schen transportierter Ladung und Schadstoffausstoß zu-grunde legen. Auch deshalb, aus diesen ökologischenGründen, unterstützen wir als Union die Schifffahrt.Dabei beschreiten wir manchmal einen schmalenPfad. Ich denke zum Beispiel an die Schwefelemissions-sondergebiete in Nord- und Ostsee, an die SECAs.Einerseits ist es gut und ein großer ökologischer Fort-schritt, wenn der Schadstoffgehalt ab dem 1. Januar2015 in Nord- und Ostsee auf 0,1 Prozent reduziert wird.Andererseits müssen wir aufpassen, dass höhere ökolo-gische Standards nicht zu einer Verkehrsverlagerungvom Schiff auf die Straße führen; denn das wäre ökolo-gisch kontraproduktiv.
Deshalb appelliere ich an die Branche, die Zeit bis zum1. Januar 2015 – das ist nicht mehr viel Zeit – für Anpas-sungen zu nutzen. Die technologischen Möglichkeiten,die die Schifffahrtsindustrie und die Meerestechnik derBranche anbieten, müssen genutzt werden. Deutschlandverfügt in diesem Bereich über die modernsten Umwelt-technologien. Bei Neubauten ist das kein Problem; aberbei Bestandsbauten haben wir Probleme hinsichtlich derFinanzierung, wenn es darum geht, das wirtschaftlichdarzustellen. Deshalb ist es gut, dass die Bundesregie-rung mit der Innovationshilfe für neue Projekte hilft. Wirhaben in unseren Antrag aufgenommen, dass bestehendeKfW-Programme für Nachrüstungen optimiert werdensollen. Dies hilft ganz konkret.
Die maritimen Technologien und die Umwelttechno-logien im maritimen Sektor bieten gewaltige Chancenfür unsere deutsche maritime Wirtschaft. Das gilt insbe-sondere für den Bereich der Offshorewindkraft. Wir ha-ben aber auch erfahren müssen, dass manche Hoffnun-gen und Erwartungen, die mit der Offshorewindkraftverbunden wurden, überzogen waren.
Offshorewindkraft bringt besondere technologischeHerausforderungen und Anforderungen mit sich. DieEntwicklung dauert länger, und es wird auch teurer alszunächst erwartet. Deshalb werden wir bis 2020 wohlkaum die angepeilten 10 Gigawatt erreichen.
Ich greife gerne einmal auf, was die Sozialdemokra-ten zum Thema Offshore gesagt haben. In Ihrem Antragfordern Sie uns auf, mehr für den Bereich Offshore zutun.
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Ingbert Liebing
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– Herr Kollege Beckmeyer, ein Vorschlag: Seien Sie ein-mal ganz ruhig, und hören Sie zu! Hinterher können Sieimmer noch brüllen. – Der Kollege Egloff hat uns ebennoch einmal aufgefordert, sehr viel mehr im BereichOffshore zu tun.
Die norddeutschen Ministerpräsidenten – allesamt mitSPD-Parteibuch –
haben vor kurzem ein energiepolitisches Papier vorge-legt. Der SPD-Ministerpräsident von Mecklenburg-Vor-pommern, Herr Sellering, hat dieses Papier mit der Auf-forderung verbunden, sehr viel mehr für den BereichOffshore zu tun. Sein Kieler Kollege, Herr Albig, derdas gleiche Papier mitbeschlossen hat, wirft uns vor, wirwürden viel zu viel für den Bereich Offshore tun. MeineDamen und Herren Sozialdemokraten, was wollen Sienun eigentlich? Was stimmt denn jetzt? Sie wissen nicht,was Sie wollen, und Sie wissen nicht, was Sie tun. Ver-antwortungsvolle Politik ist das, was Sie hier bieten,nicht.
Wir dagegen handeln ganz konkret. Wir unterstützendie Offshorebranche, wo es notwendig und sinnvoll ist,
weil wir darin eine Zukunftsoption sehen, gerade für diemaritime Wirtschaft. Ich nenne vier Stichworte: das Kre-ditprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau – hie-rüber werden 5 Milliarden Euro für die Offshorewindparksbewegt –, die Regelungen in Bezug auf die Haftungsrisi-ken, mit denen wir Investitionsbremsen lösen, die Rege-lungen zum Netzanschluss, mit denen wir den Netz-anschluss verbessern und beschleunigen,
und die Raumplanung in der Ausschließlichen Wirt-schaftszone, die wir zum Abschluss gebracht haben, da-mit auch die Probleme hinsichtlich der Nutzungskonkur-renzen auf dem Meer, die mit der Offshorewindenergieverbunden sind, gelöst werden können. Das alles sindkonkrete Maßnahmen, die helfen. Für uns besteht keinGegensatz zwischen der Förderung von Offshorewind-energie und Onshorewindenergie. Wir brauchen beides:Wir brauchen Offshore und Onshore. Dafür stehen wir,und dafür sorgen wir.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, die Offshorewirtschaft kann und wird einWachstumstreiber der maritimen Wirtschaft in Deutsch-land sein.
Deshalb ist es auch verständlich, dass die maritime Wirt-schaft auf der Maritimen Konferenz mit besonderenErwartungen auf dieses Thema blickt. Wir als Unions-fraktion, wir als Koalitionsfraktionen unterstützen ge-meinsam mit der Bundesregierung diese Entwicklungmit ihren Herausforderungen und Chancen. Wir handelnganz konkret. So führen wir die maritime Wirtschaft ineine gute Zukunft.Ich bin sicher, dass die Maritime Konferenz, die in14 Tagen – im April – in Kiel stattfindet, den Beweis da-für liefern wird, wie gut diese Branche aufgestellt ist,dass sie in eine gute Zukunft gehen und mit Optimismusin die Zukunft schauen kann. Dies ist auch ein Ergebnisunserer guten Politik, die wir mit der Bundesregierungbzw. mit dem Maritimen Koordinator, Herrn Otto – demich auch herzlichen Dank sagen möchte –, gemeinsammachen. In diesem Sinne wünsche ich dieser MaritimenKonferenz alles Gute und der Wirtschaft entsprechendeinen guten Erfolg.Vielen Dank für diese Debatte.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache17/12817 mit dem Titel „Den Wandel in der maritimenWirtschaft begleiten und ihre nationale Aufgabe für denWirtschaftsstandort Deutschland herausstellen“. Werstimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktionund der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 32 b. Abstimmung über den An-trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12723 mitdem Titel „Umsteuern in der Krise – Maritime Wirt-schaft unterstützen“. Wer stimmt für diesen Antrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antragist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der FraktionDie Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab-gelehnt.Tagesordnungspunkte 32 c und 32 d. Interfraktionellwird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen17/12823 und 17/12567 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-weisungen so beschlossen.Zusatzpunkt 10. Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „EuropäischeTonnagesteuer statt Steuersparmodell“. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/12878, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/12697 abzulehnen. Wer stimmt
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Vizepräsidentin Petra Pau
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für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen?– Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten FrankTempel, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEEinrichtung einer Bundesfinanzpolizei alsWirtschafts- und Finanzermittlungsbehörde– Drucksache 17/12708 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Innenausschuss
HaushaltsausschussFederführung strittigNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeFrank Tempel für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Die Linke schlägt Ihnen vor, eine Bundesfi-nanzpolizei zu bilden, das heißt, aus der bisherigen Bun-deszollverwaltung die Zollfahndungseinheiten und dasZollkriminalamt herauszulösen. Die Grundlage unseresAntrags ist ein Thesenpapier der Gewerkschaft der Poli-zei, also der GdP. Ganz nebenbei: Vorschläge aus Be-rufs- und Fachverbänden sollten ruhig öfter den Weg insPlenum finden.
Der Zoll hat zwei zentrale Aufgaben: Erstens geht esin einem administrativen Teil um die Verwaltung derBundessteuern, um die Vollstreckung von Geldforderun-gen des Bundes und bundesunmittelbarer Körperschaf-ten und um die Überwachung der Einhaltung von Verbo-ten und Beschränkungen im grenzüberschreitendenWarenverkehr. Zweitens geht es – darum soll es hier undheute gehen – um polizeiliche Aufgaben, also um dieBekämpfung von Schmuggel, Außenwirtschaftskrimina-lität, international organisierter Geldwäsche, illegalerBeschäftigung, Subventionsbetrug und Steuerhinterzie-hung zum Nachteil der EU und ihrer Mitgliedstaaten.Diese Straftaten kosten den Staat – da dürften wir unswohl alle einig sein – sehr viel Geld. Schätzungen belau-fen sich auf einen Betrag von 4 Milliarden Euro – das isteine vorsichtige Schätzung – bis hin zu einem Betragvon 50 Milliarden Euro. Allein die Summe des illegal indie Schweiz verbrachten Geldes wird auf 150 MilliardenEuro geschätzt.Was soll nun anders werden? Gegenwärtig ist der Be-reich für Fahndung und Ermittlung in den 43 Zollfahn-dungsämtern zersplittert und nur zum Teil örtlich ausge-richtet, die Vernetzung ist sehr gering, und dann gibt esauch noch das Zollkriminalamt. Die Folge der Zersplit-terung ist das Fehlen von Synergieeffekten zwischen denErmittlungsstrukturen. Dies wiederum führt zu einer ge-ringeren Kontrolldichte. Dadurch kommt es zu mehr un-bemerkten Straftaten und letztendlich zu einem Ausfallvon Steuereinnahmen in erheblichem Umfang. Die Höhedieser Steuerausfälle bedient übrigens nicht ganz zu Un-recht das Bild: Die großen Fische dürfen – zumindestfast – ungestraft betrügen, die kleinen Fische dagegenverfolgt man mit großem Aufwand.
Lassen Sie uns doch in der kommenden Debatte darübernachdenken, wie wir auch den großen Fischen besser dasHandwerk legen können!
– Das steht in unserem Antrag gar nicht drin; das istBlödsinn. Stellen Sie doch eine Frage, wenn Sie fragenwollen!
Unser Vorschlag lautet, dieses Problem mit einerStraffung der Strukturen anzugehen. Es geht überhauptnicht darum, etwas völlig Neues zu schaffen. Der ganzeBereich der bisherigen Zollverwaltung bleibt im Verant-wortungsbereich des Bundesfinanzministeriums, auchdie Bundesfinanzpolizei. Es erfolgt jedoch eine Aufspal-tung der bisherigen Bundeszollverwaltung in einen fis-kalisch-administrativen Teil auf der einen Seite und ei-nen – ebenfalls selbstständig agierenden – Fahndungs-und Ermittlungsteil, die Bundesfinanzpolizei, auf der an-deren Seite. Die Vorteile liegen auf der Hand: stärkereVernetzung bei Zusammenarbeit und Informationsaus-tausch und damit mehr Ermittlungsbreite – es geht alsoum die kleinen und um die großen Fische – und eine spe-zialisiertere Ausbildung mit kriminalistischer Orientie-rung. Die Trennung von Verwaltung und Ermittlung ist– auch das ist wichtig – immer ein Fall für die Korrup-tionsprävention.
Eines möchte ich deutlich machen, weil es in der me-dialen Berichterstattung zu Missverständnissen gekom-men ist: Bei unserem Vorschlag geht es nicht darum, indie Zuständigkeiten und Befugnisse der Länder einzu-greifen. Es geht auch nicht darum, in die Befugnisse vonBundespolizei und Bundeskriminalamt einzugreifen; esgeht um Aufgaben, die bereits jetzt in der Zuständigkeitder Bundeszollverwaltung liegen. Es geht auch nicht da-rum, die Befugnisse und Eingriffsrechte staatlicher Be-hörden auszuweiten und Bürgerrechtsstandards zu be-schneiden; die bisherigen Befugnisse sind ausreichend.Es geht darum, durch verbesserte Strukturen bzw. durcheine einfache Strukturmaßnahme den finanziellen Scha-den durch Straftaten zu verringern. Jede Milliarde mehr,die dadurch eingenommen wird, kann Kürzungen in denBereichen Kultur, Bildung und Soziales verhindern hel-
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Frank Tempel
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fen, und das möchte doch hoffentlich jeder hier, auch dieFDP.
Das Wort hat die Kollegin Patricia Lips für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der
Umbau der Sicherheitsbehörden unter Berücksichtigung
der Zollverwaltung – Sie hatten das eben geschildert –
ist ein Gedanke, der immer mal wieder, auch heute durch
Ihren Antrag, in das politische Gespräch kam und teil-
weise noch kommt. Die Zielrichtung war, je nachdem,
ob es eine finanz- oder eine innenpolitische Schwer-
punktsetzung gab, unterschiedlich. Ich denke, wir be-
gegnen uns hier durchaus mit großem Respekt.
Im Mittelpunkt standen zumeist – Sie haben das ge-
rade geschildert – ein Stück weit die Herauslösung we-
sentlicher Bestandteile aus dem Gesamtgefüge des Zolls,
insbesondere im Vollzugsbereich, und der Aufbau einer
neuen, anders gearteten Behördenstruktur mit verstärkt
polizeilicher Ausrichtung; ich habe das jetzt einmal ver-
kürzt ausgedrückt.
Ich rede ausdrücklich in der Vergangenheit; denn ge-
nau deshalb hatten wir bereits zu Beginn der laufenden
Legislaturperiode eine eigene Kommission, die soge-
nannte Werthebach-Kommission, damit beauftragt, sich
mit der Struktur der Sicherheitsbehörden eingehend zu
beschäftigen. Ausweislich des Berichts der Werthebach-
Kommission von 2010 kommt eine entsprechende Um-
organisation, die aufgrund der Vielzahl entstehender
Schnittstellen keinen fachlichen Mehrwert hätte, bereits
aus verfassungsrechtlichen Erwägungen und aufgrund
der Kernaufgaben der Zollverwaltung – Sicherung der
Staatseinnahmen und der Sozialsysteme, Schutz von
Staat und Bürgern – nicht in Betracht.
Damit nicht genug: Der Wissenschaftliche Dienst des
Deutschen Bundestages kam kurz danach in einem eige-
nen Gutachten zu einem vergleichbaren Ergebnis, näm-
lich dass die vollzugspolizeiliche Komponente der Zoll-
verwaltung nicht von ihren steuerlich-administrativen
Aufgaben getrennt werden könne. Diese Komponente
stehe in einem unauflösbaren Zusammenhang mit den
Kernaufgaben der Zollverwaltung.
Unabhängig vom Inhalt des Gesagten ist festzuhalten:
Allein damit wird Ihre heutige Forderung nach einer er-
neuten – Sie beschreiben das in Ihrem Antrag – „Eva-
luierung der besonderen Befugnisse und Rechtsgrundla-
gen der Zollfahndung und des Zollkriminalamts“ zur
Feststellung von Schnittstellen mehr als entbehrlich.
Kolleginnen und Kollegen, Sie wärmen hier etwas auf,
was längst geklärt ist. Das Ergebnis – wie vorgetragen –
ist Ihnen auch bekannt.
Herr Tempel, man könnte es dabei bewenden lassen;
aber es ist an dieser Stelle einfach zu schön. Sie werfen
dem Zoll obendrein vor – Sie begründen Ihre Initiative
damit; das steht nicht wörtlich in Ihrem Antrag, aber an
anderer Stelle –, es handle sich bei ihm um eine „ineffi-
ziente Institution“, die mitverantwortlich sei an dem in
Ihren Augen massiven Einnahmeproblem in Deutsch-
land.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage zu-
lassen?
Ja, ich lasse die Zwischenfrage zu.
Dann halte ich die Uhr an, und der Kollege Tempel
hat das Wort für eine Zwischenfrage.
Frau Kollegin, Sie haben schon mitbekommen, dass
sich meine Äußerung eindeutig auf die Strukturen bezog
und nicht auf die Arbeit der Mitarbeiter?
Ich habe nur zitiert, was Sie in der Clara, Ausgabe 27vom 13. Februar 2013, geschrieben haben:Das liegt … an ineffizienten Institutionen … wiezum Beispiel dem Zoll.
– Ich habe sie gehört. – Schauen Sie, Herr Tempel, ichweiß nicht, was Sie damit bezwecken.
Sie wollen doch Mitarbeiter in Ihrem Sinne motivieren.Umso unverständlicher ist es, wenn Sie mit solchen Aus-sagen agieren.
Ich meine das gar nicht böse; ich sage nur, was Sie vor-haben. Es mag meine persönliche Ansicht sein; aber ichmuss schon sagen: Ich betrachte das als einen Schlag insGesicht der 40 000 Zöllnerinnen und Zöllner, die ihrertäglichen Arbeit mit einem gewissen Stolz nachgehen.
Herr Tempel, es geht Ihnen um die Einnahmen. Diese,wie Sie sie nennen, ineffiziente Institution nimmt jedes
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Patricia Lips
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Jahr immerhin die Hälfte der dem Bund zufließendenSteuern ein: rund 125 Milliarden Euro. Sie hat gefälschteWare im Wert von 127 Millionen Euro eingezogen. Siehat Schäden durch Schwarzarbeit im Umfang von750 Millionen Euro aufgedeckt. Sie hat 29 TonnenRauschgift beschlagnahmt. Sie hat 543 000 Personenund 66 000 Arbeitgeber überprüft. Sie hat 146 MillionenSchmuggelzigaretten eingezogen. Es muss Ihnen dochklar sein, dass die Zollverwaltung alles andere ist alseine ineffiziente Institution, dass hier Menschen sehr gutund effizient und prozessorientiert ihrer Arbeit nachge-hen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Bundespoli-zei wie Zoll leisten eine wertvolle Arbeit in einem oftschwierigen Umfeld.
Ihnen gebühren unsere Achtung und unser Respekt. Wirhaben uns aus den genannten Gründen dafür entschieden,bei gemeinsamen Schnittstellen die Zusammenarbeit derBehörden ganz unmittelbar vor Ort – ob im Einsatz, in derAusbildung, beim Training, bei der Ausstattung oder an-derem mehr – zu intensivieren und zu unterstützen. DieseZusammenarbeit ist vielleicht noch nicht in jedem Fallvorhanden. Aber ich habe zwischenzeitlich, gemeinsammit Kolleginnen und Kollegen, mehrfach die Gelegenheitwahrgenommen, mir das Wachsen dieser Strukturen vorOrt anzuschauen, und werde gerne weiter daran arbeiten.Diese Besuche, die Gespräche und die Unterstützungdurch dieses Haus dienen der Motivation deutlich mehr,als wenn bestehende, durchaus effiziente Strukturen auf-gelöst werden.
– Herr Tempel, es gibt ja auch andere Meinungen an an-derer Stelle.Ich habe mich von Anfang an gefragt, wieso ausge-rechnet die Linke einen solchen Antrag stellt. Immerhingeht es darin um die Gründung einer Bundesfinanzpoli-zei, deren Ausrichtung eng an der der Bundespolizei an-gelehnt ist – bis hin zu einer Verankerung in Gesetzenähnlich der der Bundespolizei. Allein in diesem Satzkam dreimal „Polizei“ vor.Ihnen persönlich nehme ich das sogar noch ab. Wiepasst das aber zu Folgendem – das sind nur drei Bei-spiele; gehen Sie ins Internet –: „… Linke attackierenChef der Bundespolizei“, „Linke kritisieren Kontrollpra-xis der Bundespolizei“, „Linke kritisieren Personenkon-trollen der Bundespolizei“. Dabei erwähne ich gar nichterst die zahllosen Meldungen unter den Stichworten„Die Linke“ oder einfach nur „Polizei“ oder Ihre ver-schiedenen und durchaus auch kritischen Anfragen zudieser Personengruppe hier im Deutschen Bundestag.
Herr Tempel, ich frage mich mit Erstaunen: Waswürde sich bei Einrichtung einer Bundesfinanzpolizei ei-gentlich an Ihrem Duktus ändern, und warum sollte sichin den Reihen Ihrer Partei etwas ändern? Nein, Sie habenes ja selber erwähnt: Dafür soll es jetzt einen eigenenBundesfinanzpolizeibeauftragten geben,
der die Einhaltung der gesetzlichen Regeln und bürgerli-chen Standards durch eine Bundesfinanzpolizei kontrol-lieren soll. So ganz scheinen Sie der von Ihnen beantrag-ten Behörde dann also doch nicht zu trauen, da Sie denBediensteten von Anfang an ein Misstrauen ausspre-chen; denn für die allgemeine Kontrolle fordern Sie par-lamentarische Kontrollgremien gleich noch dazu.Herr Tempel, wenn man an die ganz großen Fischewill, dann gilt am Ende des Tages doch eines: Auf harteJungs und Straftaten folgt im Rahmen unserer Gesetzezwangsläufig auch schon einmal eine harte Kante beimVollzug. Das geschieht bereits heute, ist aber nachweis-lich nicht gerade Ihre Linie.
Würde Ihrem Antrag gefolgt, dann hätte manch einermit großer Wahrscheinlichkeit seine helle Freude an Ih-nen – vermutlich vor allem die ganz großen Fische.Ich fasse zusammen:
Die Sicherung der finanziellen Leistungsfähigkeit ist inder Tat Grundlage für das Funktionieren unseres Staates.Es geht um Steuergerechtigkeit, es geht um die Wettbe-werbsfähigkeit unserer Unternehmen, und es geht natür-lich um den Vollzug. Bundes- und Zollkriminalamt,Bundespolizei und Zoll und auch die Landespolizeienmit ihren vielen Tausend Bediensteten arbeiten in die-sem Sinne effektiv und prozessorientiert.Durch eine Umstrukturierung entstünden nach Maß-gabe der genannten Gutachten nur neue Schnittstellen,die einen echten Mehrwert verhindern. Manchmal er-reicht man Effektivität auch mit flexiblen Einheiten inder Fläche.Keine dieser Behörden ist statisch verharrend ausge-richtet, sondern sie richten ihre Arbeit natürlich immerwieder neu auf die neuen Herausforderungen aus. Das istein dynamischer Prozess.Unser Ziel sind Formen der vertieften Zusammenar-beit, wo es notwendig ist bzw. Berührungspunkte gibt.Wir laden Sie herzlich ein, uns und die Arbeit vor Ort amweiteren Aufbau zu unterstützen.Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Martin Gerster für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
All das, was bisher gesagt wurde, ist weder in Gänze
richtig noch in Gänze falsch. Ich denke, es ist wichtig,
noch einmal herauszuheben, dass uns Wirtschaftskrimi-
nalität, Steuerbetrug, Korruption, Geldwäsche und orga-
nisierte Kriminalität vor gewaltige Probleme stellen und
dass sie gewaltige Herausforderungen darstellen, die wir
natürlich angehen müssen, und zwar noch intensiver und
effektiver als bisher.
Wir müssen hier maximal tätig werden. Es wird hier
nämlich ein immenser Schaden angerichtet, und zwar
letztendlich nicht nur vom Betrag her. Es geht hier um
nichts anderes als um die Integrität unserer Volkswirt-
schaften und unserer Staatsfinanzen und auch um das
subjektive Gefühl, dass wir die großen Fische in der Tat
nicht davonschwimmen lassen, sondern hier auch zu-
greifen, wenn es möglich ist.
Zweifelsohne wachsen die Anforderungen an die Be-
amtinnen und Beamten, die diese Kriminalitätsform und
ihre Folgen bekämpfen sollen. Das betrifft auch den Zoll
und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die trotz ge-
waltiger Arbeitsbelastung großartige Arbeit leisten. Ich
denke, das muss an dieser Stelle und in dieser Debatte
klar herausgearbeitet und erwähnt werden.
Der Antrag der Linksfraktion spricht – das will ich beto-
nen – Richtiges und Wichtiges an. Aber sinnvolle Lö-
sungen bietet er aus unserer Sicht nicht. Vieles bleibt un-
term Strich Stückwerk, das nicht zusammenpasst.
Wichtig erscheint mir der Hinweis, dass wir in der
letzten Legislaturperiode Strukturreformen bei der Zoll-
verwaltung in Angriff genommen haben. Jetzt ist die
Frage, ob wir an diesen Ergebnissen schon wieder he-
rumdoktern wollen oder ob wir nicht erst einmal detail-
liert erfassen wollen, wie sich die Reformen auf längere
Sicht bewähren. Ich meine, hier sollten wir in Ruhe ent-
sprechende Verbesserungsspielräume erörtern, ohne aber
auszuschließen, dass wir an den Schnittstellen die eine
oder andere Verbesserung benötigen.
Letztendlich sind Vorschläge in diesem Zusammen-
hang immer willkommen; denn – auch das erscheint mir
wichtig – zollintern sind natürlich noch längst nicht alle
Stellschrauben passend justiert. Das zeigt auch eine von
Verdi zitierte Erhebung aus dem letzten Jahr. Diese Er-
hebung, dieser Bericht sollte uns zu denken geben. Bei
der Mitarbeiterbefragung hat die Hälfte der Beschäftig-
ten auf die Frage, ob sie, wenn sie noch einmal die Ent-
scheidung treffen müssten, zum Zoll gehen würden oder
nicht, geantwortet, nein, sie würden nicht mehr zum Zoll
gehen. Deswegen meine ich, dass wir in der Tat überle-
gen sollten, was wir politisch dazu beitragen können, um
dienstebenenübergreifend für mehr Zufriedenheit zu sor-
gen.
Die Beamtinnen und Beamten brauchen – so ist
meine Meinung – zunächst einmal Erwartungssicherheit,
auch in organisatorischer Hinsicht, und keine unausge-
gorenen Rufe nach einer schnellen Neustrukturierung.
Dies wäre letztendlich weder Fisch noch Fleisch. Das
betrifft eben auch den Antrag der Linksfraktion, den wir
unter dieser Rubrik einordnen müssen. Darin wird nach
einer Bundesfinanzpolizei und nach einem Auflösen von
aufgeblähten Mittelbehörden gerufen. Dazu sagen wir:
Das scheint doch eher ein Schnellschuss zu sein als tat-
sächlich ein konsequent durchdachtes Konzept.
Ich kann das zusammenfassen, indem ich den Bund
Deutscher Kriminalbeamter zitiere, der uns über
Sebastian Fiedler heute seine Stellungnahme hat zukom-
men lassen: Die schwerwiegenden Kriminalitätspro-
bleme und komplexen Bedrohungen erfordern intelli-
gente Lösungen und keine unausgegorenen polemischen
Forderungen wie beispielsweise im Antrag der Links-
fraktion.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Natürlich sind wir unseinig, dass wir massiv gegen Steuerbetrug, gegen Wirt-schaftskriminalität vorgehen müssen. Dem Staat entste-hen jährlich Milliardenverluste durch Finanzkriminalitätund Wirtschaftskriminalität, durch Steuerhinterziehung,Subventionsbetrug, Geldwäsche, Korruption undSchmuggel.Allein circa 30 Milliarden Euro jährlich gehen demStaat durch Steuerhinterziehung verloren.Davon könnten rund 10 Milliarden Euro für denStaat gerettet werden, wenn die Steuerfahndung ih-ren Aufgaben angemessen ausgestattet wäre,schätzt die Deutsche Steuer-Gewerkschaft. Hier stehendie Länder in der Verantwortung. Hier müssen sie ihrerVerantwortung gerecht werden. Weitere zweistelligeMilliardenbeträge werden dem Staatshaushalt durchWirtschaftskriminalität entzogen. Dagegen geht diesechristlich-liberale Koalition mit aller Macht vor,
intensiver und konsequenter als je zuvor.
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29066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Dr. Birgit Reinemund
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Wir haben in dieser Legislatur eine ganze Reihe Ge-setze dazu auf den Weg gebracht, national umgesetztoder international angestoßen, zum Beispiel das Gesetzzur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche undSteuerhinterziehung, zum Beispiel die circa 90 Doppel-besteuerungsabkommen inklusive Informationsaus-tausch, die wir neu abgeschlossen oder auf den neuestenStand der OECD gebracht haben, zum Beispiel das Ab-kommen mit der Schweiz – Sie haben die Summe von150 Milliarden Euro deutscher Steuergelder in derSchweiz angesprochen –, das Sie im Bundesrat verhin-dert haben, mit dem erstmals sogar rückwirkend eineNachbesteuerung von illegalem Geld im Ausland ausge-handelt wurde.
Seit 1. Januar 2013 könnten wir bereits die Nachbe-steuerung auf Altvermögen haben plus eine Abgeltung-steuer auf alle künftigen Kapitalerträge
und damit eine Gleichbesteuerung mit Deutschland.
Seit Januar könnten Milliardeneinnahmen aus derSchweiz nach Deutschland fließen, und das Jahr für Jahr.Dieses Geld fehlt nun dem Bund, den Ländern und denKommunen. Es geht Ihnen doch um die Einnahmen,Herr Tempel.
Aber das haben SPD, Grüne und Linke im Bundesratverhindert.
Sie setzen lieber auf Zufallsfunde und Steuer-CDs alsauf eine flächendeckende Besteuerung.
Eine gleichmäßige Steuererhebung und das Durchset-zen von Steueransprüchen ist eine Frage der Steuerge-rechtigkeit; das sollte doch Ihr Thema sein. Gleichmäßigheißt in Deutschland auch einheitliche Auslegung, Um-setzung und Durchsetzung des Steuerrechts in allen Bun-desländern. Es wird immer wieder bemängelt, dass dieeinzelnen Landesfinanzdirektionen eine unterschiedlicheAnzahl an Steuerfahndern mit unterschiedlichen Fahn-dungsschwerpunkten einsetzen und Steuerrecht unter-schiedlich strikt auslegen. Deshalb forderte die FDP be-reits 2007 in der Föderalismuskommission II mehrWeisungsbefugnis der Bundesfinanzverwaltung gegen-über den Landesfinanzbehörden. Dies fand keine Mehr-heit, da SPD, Grüne und Linke schon damals lieber zen-tralisieren wollten und die Länder jede Veränderungablehnten.Die Forderung der Linken in ihrem Antrag ist alsonicht neu: eine Trennung der Zollverwaltung in eineBundesfinanzpolizei und in eine administrative Bundes-finanzverwaltung, beide dem BMF unterstellt. Wir dage-gen sehen keine Qualitätsverbesserung alleine durchZerschlagung, Zentralisierung und Umorganisation vonBehörden. Sinnvoller ist, die Zusammenarbeit der Bun-des- und Landesbehörden sowie zwischen Bundespolizeiund Zollverwaltung zu verbessern und unsere Behördenvor allem international noch stärker zu vernetzen.Schnittstellen müssen klarer definiert, Synergien geho-ben werden. Auch hier hat diese Koalition bereits gehan-delt. Die Bundesregierung hat 2010 die Werthebach-Kommission ins Leben gerufen,
genau mit dem Ziel, die Aufgaben sowie die Ablaufor-ganisationen der einzelnen deutschen Sicherheitsbehör-den auf Bundesebene darzustellen, zu vergleichen undVorschläge für eine bessere Verzahnung zu erarbeiten.Sie kam zu dem eindeutigen Ergebnis – Frau Lips hat esdeutlich ausgeführt –, dass ein Heraustrennen der poli-zeilichen Aufgaben des Zollvollzugs – was die Linke alsBundesfinanzpolizei bezeichnet – aus der Zollverwal-tung mehr Reibungsverluste erzeugen würde, als da-durch Verbesserungspotenzial zu erwarten wäre.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,auch Sie sollten diese Ergebnisse kennen. Sie stellen hiereine plakative Forderung auf, die längst geprüft und alsschlecht verworfen ist. Zudem hat das Bundesverfas-sungsgericht in seiner Entscheidung von 1998 zum Bun-desgrenzschutz eindeutig klargestellt, dass der Bundes-grenzschutz „nicht zu einer allgemeinen, mit denLandespolizeien konkurrierenden Bundespolizei ausge-baut werden“ darf. Der Vorschlag der Linken wäre dem-nach ebenfalls verfassungswidrig. Daran ist einfachnicht zu rütteln.Ohne Frage sehen wir die Notwendigkeit, Aufgabenzu straffen, Kompetenzen klar zu definieren und Doppel-zuständigkeiten abzubauen; darin sind wir uns einig.Doch genau dies ist Aufgabe und Ziel der im Januar die-ses Jahres neu eingerichteten Regierungskommission zurEvaluierung der Sicherheitsgesetze. Wir sollten die Er-gebnisse der Arbeit dieser Kommission abwarten.
Das ist allemal effektiver, als grundgesetzlich bedenkli-che Anträge und bereits als schlecht bewertete Vor-schläge immer wieder zu diskutieren.Im Ziel sind wir uns einig: Bekämpfung von Steuer-betrug und Wirtschaftskriminalität sichert dem Staat ihmzustehende Einnahmen – eine Frage der Haushaltssiche-rung und eine Frage der Steuergerechtigkeit. Machen Siemit!
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Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will nur ganz kurz auf das Abkommen mit der
Schweiz eingehen, das Sie, Frau Kollegin Reinemund,
angesprochen haben. Ihre Sicht ist interessant. Warum
haben denn gerade die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
aus der Steuerverwaltung und aus dem Justizbereich der
Länder massiv davor gewarnt, ein solches Abkommen
abzuschließen? Gerade weil es verhindert hätte, dass
zahlreiche Straftaten im Bereich der Wirtschaftskrimina-
lität aufgedeckt werden.
Das war einer der Gründe, warum wir dieses Abkommen
zu Recht abgelehnt haben, nämlich damit die Ermittlun-
gen möglich bleiben und nicht alles in der Anonymität
versinkt.
Konkret zu dem Antrag der Linksfraktion: Uns errei-
chen die Hinweise von den Beschäftigten, dass es eine
Unzufriedenheit gibt. Kollege Gerster hat auf die Um-
frage hingewiesen. Sie haben das Gefühl, dass sie ihre
Arbeit nicht so tun können, wie sie sie tun sollten. Das
ist zunächst einmal etwas, was wir auf jeden Fall ernst
nehmen sollten. Es gibt ein zweites Argument – das ist
am Anfang Ihres Antrags genannt –, nämlich dass es
wachsende Aufgaben in dem Themenbereich Wirt-
schaftskriminalität gibt. Tatsächlich können wir – das
zeigen verschiedene Ermittlungen zur Geldwäsche im
Rahmen der Finanzkrise, die teilweise nicht zum ge-
wünschten Erfolg führen – feststellen, dass eine struktu-
relle Unterlegenheit der Behörden besteht.
Jetzt muss man sich fragen, ob der Vorschlag geeignet
ist, diese Probleme wirklich zu lösen. Da gibt es eine
Reihe von Zweifeln. Ich glaube nicht, Frau Lips, dass
die Werthebach-Kommission da schon das abschlie-
ßende Wort gesprochen haben kann. Das ist eine rein
von der Exekutive besetzte Kommission gewesen, die
viele unabhängige Stimmen nicht berücksichtigt hat und
deswegen gerade nicht zu einer Befriedung dieser Dis-
kussion führen konnte.
Trotzdem: Es gibt eine verfassungsrechtliche Tren-
nung, und wir müssen die Frage stellen, ob mit der Ent-
wicklung einer Bundesfinanzpolizei nicht die Frage der
Zuständigkeit des Bundes und der Länder berührt ist. Im
Zweifelsfall sollen die polizeilichen Aufgaben bei den
Ländern sein. Das halten wir für verfassungsrechtlich
richtig und geboten. Man muss sich fragen, ob die Fol-
gen für die Beschäftigten mit dieser Strukturveränderung
dann schon wirklich positiv sind. Es erreichen uns von
den Beschäftigten anderer Institutionen warnende Hin-
weise, dass das Problem damit möglicherweise nicht ge-
löst, sondern verschärft wird. Auch diese Hinweise sind
ernst zu nehmen. Es stellt sich die Frage der Abgrenzung
zu den Aufgaben der Landespolizeien und die Frage, die
Herr Gerster angesprochen hat, nämlich ob man kurz
nach der Reform in der letzten Legislaturperiode jetzt er-
neut an eine Reform herangeht und in welcher Form das
geschehen soll.
Ich finde, dass Ihr Antrag genau diese Abwägung der
verschiedenen Aspekte nicht vornimmt und nicht zeigt,
wie die Strukturveränderung zu einer wirklichen Pro-
blemlösung führt, ohne neue Probleme aufzuwerfen. Ge-
nau deswegen glaube ich, dass dieses Thema einer wei-
teren Diskussion bedarf.
Es gibt tatsächlich ein Nebeneinander von verschie-
denen Institutionen. Uns erreichen Hinweise, dass es
teilweise schwierig ist, zu einer guten Zusammenarbeit
zu kommen. Aber lassen Sie uns das etwas gründlicher
anschauen und dann mit einem Diskussionsprozess be-
ginnen, der wirklich die verschiedenen Stimmen berück-
sichtigt und nicht nur auf wenige Stimmen Bezug nimmt
und damit keine Zufriedenheit bei den Beschäftigten
schafft. Da hat die Koalition meines Erachtens das Nö-
tige noch nicht getan. Darauf weisen Sie zu Recht hin.
Aber die Lösung, die Sie vorschlagen, ist unseres Erach-
tens noch nicht zustimmungsfähig.
Danke.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Michael Hartmann für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Es ist in der Tat vieles im Bereich unserer ge-samten Sicherheitsarchitektur nicht richtig sortiert undzugeordnet. Das gilt auch für den Zoll und in besonde-rem Maße für den sogenannten waffentragenden Zoll.Wenn man sich beispielsweise überlegt, dass immernoch, nachdem bekannt wurde, dass bei der Fracht inPassagiermaschinen vieles nicht so läuft, wie wir es unswünschen würden, der Kompetenzstreit um Stellen undZuordnung zwischen dem Finanzministerium, dem Ver-kehrsministerium und dem Bundesinnenministeriumtobt, wird klar, dass keiner sagen kann: Mit dem Zoll,seiner Aufgabenwahrnehmung und seiner Zuordnung istalles in Ordnung. Aber das haben nicht die Beamtinnenund Beamten am Frankfurter Flughafen oder anderswozu verantworten, sondern eine Bundesregierung, dienichts anderes tut, als um Stellen zu streiten und dasKompetenzgerangel auf dem Rücken der Beamtinnenund Beamten auszutragen.
Deshalb meine ich: Wir müssen gemeinsam den Muthaben, in Fragen der Sicherheitsarchitektur eine Aufga-benkritik überall und an jeder Stelle vorzunehmen. Dazugehört unbedingt der Zoll. Wenn nun immer wieder das
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29068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Michael Hartmann
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Stichwort „Werthebach-Kommission“ fällt, sei dazu ausmeiner Sicht eines gesagt: Fragen Sie doch bitte mal denHerrn Werthebach, was er heute von seinen damaligenAuftraggebern hält. Er wurde vorgeschoben, durfte zu-sammen mit anderen hochmögenden ehemaligen Präsi-denten von Sicherheitsbehörden nachdenken, musste be-stimmte Fragen tabubewusst ausklammern und wurdedann, nachdem das Ganze präsentiert worden war, sofortzurückgepfiffen. Es ist gar nichts daraus geworden.In der Frage des Zolls wurde die Aussage getroffen:Bitte gar nicht erst anfassen. Genau das ist verkehrt. Manmuss sich auch den Problemen der Abgrenzung stellen.Man darf nicht von vornherein Tabus schaffen und sa-gen, die Sache sei erledigt. In der Tat: Der Zoll ist einewichtige Sicherheitsbehörde unseres Landes.Wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern erklären wol-len, dass zum Beispiel die Bekämpfung von Drogen-schmuggel, die Bekämpfung von Schleuserkriminalität,die Bekämpfung von illegalen Aktivitäten organisierterKriminalität auch mit dem Instrument der Onlinedurch-suchung und mit verdeckten Ermittlern wahrgenommenwird, und dann fragen würden: „Wer macht das denn?“,würden, glaube ich, die meisten Bürgerinnen und Bürgerantworten: Das macht doch die Polizei. Ob Bundes- oderLandespolizei oder Bundeskriminalamt, sei einmal da-hingestellt. Nein, das alles macht der Zoll. Deshalb musses erlaubt sein, zu fragen, ob der Zoll, der so weit im Be-reich der Gefahrenabwehr, der unmittelbaren Gewalt,der verdeckten Maßnahmen tätig ist, nicht tatsächlichauch besser und geordneter als Polizei verstanden wer-den muss, als das in der Vergangenheit der Fall war. In-sofern ist die Fragestellung im Antrag der Linken unbe-dingt eine berechtigte.
Allerdings sind wir der Meinung, dass es sich lohnt,alles genau anzuschauen und nicht sofort Ergebnisse zupräsentieren; denn wir sind beispielsweise dann in einemFeld, das der intensiven Diskussion bedarf, wenn wirfragen: Was kann durch den Gesetzgeber eigentlich vor-gegeben werden? Wo sind wir in Bereichen, die der Or-ganisations- und Personalhoheit der Ministerien unter-liegen, in denen das Parlament gar nichts zu sagen hat?Wo kommen wir in Bereiche hinein, die durch dasGrundgesetz klar dem bisherigen Zoll zugewiesen sind?Jetzt ist mir völlig klar, dass – ganz gleich, wer regiertund wer wo Minister ist – niemand sich eine so schmu-cke Truppe so einfach aus dem Ressort herausschneidenlässt. Zugleich stellt sich allerdings die Frage, ob essachadäquat ist, allein dem Finanzminister bestimmteAufgaben einer eigentlich polizeilich orientierten Be-hörde zuzuordnen. Deshalb sind wir der Meinung, lieberFrank Tempel: Es ist nicht richtig, zu sagen: „Wir brau-chen ein Sonderkontrollgremium für diese Einheiten“,sondern das muss schon im klassisch parlamentarischenVerfahren weiterlaufen.Wir sind auch keineswegs der Meinung, dass die ge-samte Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität nun beidieser zukünftigen Bundesfinanzpolizei angesiedelt seinsollte, sondern wir meinen, eine strenge und an der Auf-gabe orientierte Kritik muss an der einzelnen Wahrneh-mung im Sicherheitsbereich erfolgen. Dann kann man zugescheiten und zielführenden Lösungen kommen.Insofern ist es gut, wenn wir mit den Freunden derGdP, der DPolG, des BDK reden. Aber wir sollten alsParlamentarier nie einfach deren Position übernehmen,sondern eigenständig in der Gesamtschau prüfen. Wirsollten im Übrigen auch nie sagen: Die Welt ist gut, sowie sie ist. Meine Damen und Herren von der Koalition,sie kann immer noch besser werden, auch beim Zoll.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/12708 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDPwünschen Federführung beim Finanzausschuss. DieFraktion Die Linke wünscht Federführung beim Innen-ausschuss.Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführungbeim Innenausschuss. Wer stimmt für diesen Überwei-sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegendie Stimmen der Fraktion Die Linke und der FraktionBündnis 90/Die Grünen abgelehnt.Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-schlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also Fe-derführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für die-sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mitden Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion undder SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGesetzes über die Zusammenarbeit von Bun-desregierung und Deutschem Bundestag inAngelegenheiten der Europäischen Union
– Drucksache 17/12816 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29069
Vizepräsidentin Petra Pau
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VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch, dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeBernhard Kaster für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Welch wunderbare Abkürzung – EUZBBG:Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierungund Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Euro-päischen Union. Für die Bürgerinnen und Bürger könnenwir das einfach übersetzen: Es geht um ein Mitsprache-gesetz, ein europäisches Mitsprachegesetz.Im vergangenen Jahr hat das Bundesverfassungsge-richt Leitsätze zu den Informationspflichten, zum Um-fang, Zeitpunkt und zu der Qualität der Unterrichtungzwischen Bundesregierung und Bundestag entwickelt.Wir haben damals dieses Urteil, so auch unser Fraktions-vorsitzender, ausdrücklich begrüßt.Eine Neufassung des bisherigen Beteiligungsgeset-zes forderte das Gericht nicht. Der Grundsatz des Bun-desverfassungsgerichts lautet: Je mehr Kompetenz aufdie europäische Ebene verlagert wird, desto mehr Kon-trollrechte der Parlamente muss es geben. – Das ist derHauptleitsatz des Verfassungsgerichtsurteils.Deshalb haben wir uns im vergangenen Jahr frak-tionsübergreifend darauf verständigt, ein neues Beteili-gungsgesetz in Angelegenheiten der EuropäischenUnion auf den Weg zu bringen. Es freut mich, dass esgelungen ist, heute einen gemeinsamen Vorschlag allerFraktionen in das Parlament einzubringen. An dieserStelle sage ich ein ausdrückliches Danke an alle, die da-ran mitgewirkt haben, an alle Beteiligten, die diesen Ge-setzentwurf in der Arbeitsgruppe erarbeitet haben. Herz-lichen Dank dafür!
Danke sage ich auch deshalb, weil dieser Gesetzent-wurf sowohl aus dem Blickwinkel des Bundestages wieauch der Regierung zu betrachten ist. Er ist ebenso unab-hängig vom derzeitigen Rollenverständnis zu betrachten,ob Regierungsfraktion oder Oppositionsfraktion – in derfernen Zukunft mögen die Rollen vielleicht auch einmalwechseln.
Aber um das an dieser Stelle klar zu sagen: Es gehtum die frühzeitige und vollständige Unterrichtung desganzes Parlamentes, um – wie es unser Bundestagspräsi-dent formuliert hat – der „zentralen Stellung des Bundes-tages als Ort der öffentlichen politischen Auseinander-setzung und der rechtsverbindlichen Entscheidung“gerecht zu werden. Es geht um unseren Beitrag zur „de-mokratischen Legitimation der EU“. Darum geht es auchhier im Deutschen Bundestag.
Herausgekommen ist ein Gesetz, das – und das halteich für sehr wichtig – die notwendige Balance wahrtzwischen der parlamentarischen Kontrolle und Mitwir-kung einerseits sowie der Eigenverantwortung undHandlungsfähigkeit der Exekutive andererseits. DieseBalance war uns auch ein Anliegen in den Gesetzes-beratungen. Wir schaffen damit mehr Transparenz durchstärkere Kontrolle und mehr demokratische Legitimationdurch parlamentarische Mitwirkung. Die Regierung– um das abschließend dazu zu sagen – benötigt Hand-lungsfähigkeit und parlamentarische Rückbindung glei-chermaßen. Beides gehört zusammen.
Einen besonderen inhaltlichen Hinweis will ich nochgeben: Auch die Beteiligung des Parlamentes beimThema Einführung des Euro in einem Mitgliedstaat istdurch eine Einvernehmensregelung in einem eigenenAbsatz noch einmal gestärkt worden. Ich denke, das istein wichtiges Element.Die wesentlichen Neuerungen liegen auch darin, dassdie Unterrichtungspflichten auf völkerrechtliche Ver-träge und Regierungsvereinbarungen ausgedehnt wordensind, sobald diese in einem besonderen Näheverhältniszur Europäischen Union stehen. Die Unterrichtungs-pflichten umfassen alle Ebenen. Dabei ist natürlich klar,dass die Informationsqualität, die Informationstiefe indem Maße zunehmen, in dem man sich im Laufe einesProzesses der politischen Entscheidungsebene nähert.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bürgerinnenund Bürger unseres Landes sind überzeugte Europäer.Sie stehen hinter Europa. Sie leben auch Europa, und sieleben es – das sehe ich auch in meiner Heimat – mit gro-ßer Selbstverständlichkeit. Aber gerade in den vergange-nen Jahren sind Themen zum Euro aufgekommen – dasbeschäftigt uns ja auch aktuell in dieser Woche – wieSchuldenkrise oder Rettungsschirm. Thema war aberauch manche Richtlinie, die wir diskutieren, etwa dieTrinkwasserrichtlinie oder aber auch die Richtlinie, inder es darum ging, wie Feuerwehrkräfte in die Arbeits-zeitrichtlinie zu integrieren sind. Hier wären viele The-men aufzuzählen.Wenn es um diese Themen geht, fragen viele der Bür-ger uns Bundestagsabgeordnete: Blickt ihr da nochdurch?
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Bernhard Kaster
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Seid ihr da genügend eingebunden? Bestehen da genü-gend Mitsprache- und Kontrollmöglichkeiten? Ichdenke, mit diesem Gesetz können wir zumindest einebessere Antwort auf diese Fragen geben, was Mitwir-kung, Unterrichtung und Kontrolle angeht.
Es ist auch unsere parlamentarische Aufgabe inDeutschland, für Europa Subsidiarität, gewollte Vielfaltwie auch nationale Besonderheiten im Blick zu behalten.Wenn erst einmal die Fristen für eine Subsidiaritätsrügeoder eine Subsidiaritätsklage zu laufen beginnen, ist esmeist schon zu spät. Deswegen muss das politische Han-deln des Bundestages frühzeitiger einsetzen; das bedingtentsprechende Informationen.Ich will zum Schluss nicht übertriebenes Pathos ver-breiten, aber ich möchte persönlich sagen, dass wir mitdiesem Gesetz sehr wohl, vielleicht auch modellhaft inEuropa, einen Weg aufzeigen, wie man parlamentarischeMitwirkung, parlamentarische Kontrolle und damit dievom Bürger ausgehende demokratische Legitimationeuropäischer Entscheidungen besser gestalten und stär-ken kann.Vielen Dank.
Der Kollege Axel Schäfer hat nun für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein besonderer Tag für unser Parlament, und
zwar aus vier Gründen:
Der erste Punkt ist: Es geht um das Selbstverständnis
unseres Hauses. Unser Selbstverständnis lautet: Wir
wollen und wir müssen und wir werden parlamentari-
sche Rechte gemeinsam wahrnehmen. Zu diesem Zweck
sind wir auch in der Lage, über Fraktionsgrenzen, über
die Konstellation von Regierung und Opposition hinaus-
zugehen. „Denken“ heißt auch immer „überschreiten“.
Wir haben das überschritten, indem wir es geschafft ha-
ben, dass ein gemeinsamer Gesetzentwurf von FDP,
CDU/CSU, Grünen, Linken und SPD vorgelegt wurde.
Das ist nicht nur ein Wert für uns; das ist auch ein Wert
an sich für die parlamentarische Demokratie. Darauf
sollten wir in diesem Hause gemeinsam stolz sein, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
Das ist auch ein Beispiel dafür, dass Gesetzgebung al-
lein durch Parlamentarierinnen und Parlamentarier mög-
lich ist – das heißt, es gab nicht irgendwelche Vorlagen,
die uns die Regierung oder wer auch immer geschrieben
hat – und dass wir in der Lage sind, Sachkompromisse
zu finden. Das ist ganz besonders wichtig: Sachkompro-
misse zu finden.
Jetzt möchte ich etwas machen, was im Parlament
sehr oft vergessen wird, nämlich mich einmal bei denen
bedanken – an dieser Stelle muss ich in mein Manuskript
gucken –, die für das Zustandekommen eine wichtige
Arbeit geleistet haben, nämlich bei unseren Referentin-
nen und Referenten, die uns wirklich ausgezeichnet un-
terstützt haben.
Namentlich sind zu nennen: Paul Göttke von der CDU,
Dr. Fabian Schulz von der SPD, Jakob Redl von den
Grünen, Jens Lorentz von der FDP und Janeta Mileva
von der Linkspartei. Ganz herzlichen Dank an dieser
Stelle!
Es wird ja sehr oft vergessen, aber wer sich mit europäi-
schen Zusammenhängen beschäftigt, erlebt das jeden
Tag: Unser Deutscher Bundestag ist deshalb so stark und
kann sich in einzelnen Fragen so stark machen, weil er
das bestausgestattete Parlament in der EU ist, und zwar
hinsichtlich unserer Strukturen und unserer Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter. Das kommt hinzu. Auch darauf
müssen wir achten und dürfen nicht nur das im Blick ha-
ben, was wir selbst machen und können.
– Gerne, Manuel. – Ach so, Frau Präsidentin.
Bei so viel Einigkeit habe ich nicht mit einer Meldung
gerechnet. Aber der Kollege Sarrazin hat für eine Be-
merkung oder Frage das Wort.
Herr Kollege Schäfer, sind Sie bereit, hier auch zu
würdigen, dass von unserer Fraktion auch das Justizia-
riat maßgeblich beteiligt war, vor allem in Person von
Herrn Tabbara?
Das mache ich gerne. Die anderen Namen hatte manmir aufgeschrieben. Ihr wisst ja: die lieben Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter. Vielleicht hat da jemand gefehlt.Der zweite Punkt nach dem Selbstverständnis ist dieSelbstkritik. Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht al-lein aus unseren Erkenntnissen und guten Ideen entstan-den,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29071
Axel Schäfer
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sondern auch aus schlechten Erfahrungen, respektive ei-ner Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, et-was zu tun.
Das ist schon eine klare Ohrfeige für die Haltung der Re-gierung, die uns weismachen wollte, ESM und anderewichtige Verträge wären keine europäischen Angelegen-heiten, weil sie in den europäischen Verträgen gemein-schaftlich nicht vorkommen. Das war falsch. Dass unserst ein Gericht darüber belehren musste, sollte – so rich-tig und wichtig es war – in Zukunft nicht mehr notwen-dig sein. Wir sollten schon Manns und Frau genug sein,gemeinsam darauf zu kommen, und zwar egal, in wel-chen Regierungs- und Oppositionskonstellationen wiruns befinden.Es gehört auch dazu, zu sagen: Jawohl, die Kollegin-nen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen haben ge-klagt. Zum einen Glückwunsch, dass sie es gemacht ha-ben, zum anderen Glückwunsch, dass dies zum Erfolgfür uns alle geführt hat. Vielen Dank!
– Es dürfen auch die Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU und der FDP klatschen. Ich finde, das gehörtauch dazu.
Der dritte Punkt: Aus dieser Erfahrung muss eineSelbstverpflichtung für das ganze Haus entstehen.Selbstverpflichtung heißt, dass wir in Zukunft die Dinge,die wir von der Regierung erwarten und die wir auchkontrollieren, immer zu unserer eigenen Sache machen.Das heißt, dass wir uns auf der Grundlage der Informa-tionen und der Berichte, die uns vorliegen, selbst zumehr Stellungnahmen dieses Hauses verpflichten. Dieentsprechenden Diskussionen müssen nicht immer nuran Fraktions- oder Koalitionsgrenzen entlang verlaufen.Wir müssen darüber hinaus überlegen, ob wir gemäßArt. 45 Grundgesetz dem Europaausschuss häufiger dieMöglichkeit einräumen, die Rechte des Bundestageswahrzunehmen; Stichwort: plenarersetzende Beschlüsse.Auch das ist ein wichtiger Punkt, der leider sehr oft ver-gessen wird.Es gehört aus meiner Sicht auch dazu, zu überlegen,ob wir auf der Grundlage des Art. 45 Grundgesetz einenneuen Querschnitts- oder Unterausschuss schaffen, umdas zu erreichen, was bei der Änderung des Grundgeset-zes vor über 20 Jahren noch nicht bedacht wurde, näm-lich neue parlamentarische Möglichkeiten der Kontrollebei Entscheidungen im Bereich der Finanzen und derWirtschaft in der EU zu schaffen. Es reicht ja nicht, dasswir uns immer über Zuständigkeiten – Unterrichtungenetc. – streiten, also sozusagen über die innere Architek-tur. Vielmehr kommt es auch auf die gemeinsame Hand-lungsfähigkeit nach außen an.Dazu gehört auch – die Vorsitzende des Haushaltsaus-schusses, Frau Merkel von der SPD, hat dies schon zuRecht eingefordert –, dass wir uns dafür einsetzen müs-sen, dass das Kalendarium innerhalb der EU zwischenden nationalen Parlamenten und dem EP so ausgestaltetwird, dass wir als Parlamente einmal im Jahr mindestenseine Woche gemeinsam tagen können, um uns zu beratenund zu positionieren. Auch das würde dazu führen, dasswir, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Europa gemein-sam besser handlungsfähig werden. Das sollten wir unsin diesem Hause überlegen.Es gibt auch immer Erinnerungen an bestimmte Er-fahrungen. Das will ich ganz offen sagen: Zu Zeiten derGroßen Koalition haben wir, CDU/CSU und SPD, eshinbekommen, dass sich alle Fraktionen gemeinsam aufdie Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bun-destag in EU-Angelegenheiten verständigt haben. In die-ser Legislaturperiode ist der vorliegende Gesetzentwurfübrigens der erste, bei dem das wieder möglich war.Am Ende, als alles beschlossen war, habe ich denVorsitzenden meiner Fraktion, den unvergessenen PeterStruck – ein Vollblutparlamentarier –, gefragt: Peter, wassagst du denn zu dem, was wir hier an Beteiligungsrech-ten für den Bundestag zustande gebracht haben? Er hatmir geantwortet: Axel, ich hätte euch nicht so viel zuge-standen. – Wie es der Zufall so will, habe ich an diesemTag auch den Kollegen Kauder getroffen. Da habe ichmir gedacht: „Na ja, wir sind ja in einer Koalition“, undfragte Herrn Kauder – auch ein Vollblutparlamentarier –:Was sagen Sie denn zu dem, was wir hier für den Bun-destag erreicht haben? Daraufhin antwortete er mir: Ichhätte Ihnen nicht so viel zugestanden. – Ich glaube, dasist jetzt sieben Jahre her. Es gibt insgesamt einen Be-wusstseinswandel, hoffentlich auch beim KollegenKauder, der zu der Einsicht führte: Wir müssen als Parla-ment in europäischen Angelegenheiten gemeinsamengagierter sein. Wir sollten nicht nur sagen: Oh, das istSache des Europaausschusses. – Es ist Sache des Parla-ments insgesamt.Europa wird nur demokratisch und damit auch parla-mentarisch gelingen. Lassen Sie uns, liebe Kolleginnenund Kollegen, diese neuen Möglichkeiten gemeinsamnutzen und es als Verpflichtung verstehen, andere in un-seren eigenen Fraktionen – das soll in allen fünf Fraktio-nen so sein – davon zu überzeugen. Auch diejenigen, dieab September an der Regierung sind – wir von SPD undGrünen wollen gemeinsam regieren –, sollen sich wirk-lich daran halten.Vielen Dank und Glück auf!
Der Kollege Dr. Stefan Ruppert hat für die FDP-Frak-tion das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Auch ich finde es gut – das sollten wir Parla-mentarier immer wieder herausstellen –, dass es uns ge-lungen ist, in dieser Frage einen ganz breiten parteipoli-tischen Konsens zu finden und die unterschiedlichenInteressen, aber auch die unterschiedlichen politischenVorstellungen vom Gelingen eines gemeinsamen Arbei-tens von Exekutive und Legislative unter einen Hut zubringen. Da er es nicht für sich selbst tun kann, ist es,wie ich finde, an der Zeit, Herrn Kaster zu danken, derall das ausgesprochen gut und kollegial koordiniert hat.Vielen Dank.
Jetzt könnte man sich überlegen, was eigentlich wäre,wenn diese Debatte – ich nehme ein Beispiel – am1. August 2009 stattgefunden hätte. Wer sich nicht mehrso genau erinnert, was da war, dem sei gesagt: Kurz zu-vor war das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsge-richts verkündet worden. Liebe Kollegen von SPD undGrünen, ich will es Ihnen jetzt ersparen, Ihnen Ihredamaligen Reaktionen auf das Lissabon-Urteil vorzuhal-ten. Wegen Äußerungen des Ihnen vermeintlich, wahr-scheinlich sogar tatsächlich nicht nahestehenden Bericht-erstatters haben Sie damals von „dumpfen nationalenTönen“ oder zumindest „Untertönen“ gesprochen. Siewaren darüber besorgt, ob nun wieder „am deutschenWesen die Welt genesen“ solle. Es gab breite Empörungin Ihren Reihen darüber, wie man darauf kommenkönne, etwas so Gutes wie die europäische Integrationdadurch zu behindern, dass man nationalen Parlamentenmehr Rechte einräumt.Von dieser Vorstellung, dass es ein Malus für dieeuropäische Integration sei, wenn man den DeutschenBundestag stärke, haben Sie sich zum Glück innerhalbkürzester Zeit wieder entfernt, mit einer 180-Grad-Dre-hung bei Ihren politischen Aussagen. Sie sind dann sehrschnell – wie ich finde, aus guten Gründen – auf die Sys-tematik eingestiegen, die mit dem Lissabon-Urteil ange-stoßen worden ist.Der Deutsche Bundestag hat sich viele Jahrzehntenicht um seine Beteiligungsrechte bei der europäischenIntegration gekümmert, anders als die Länder, die durch-aus schon früher einen Blick darauf hatten. Erst als unsdas Karlsruher Urteil diese Mitwirkungsrechte einge-räumt hatte – das Lissabon-Urteil ist hier zentral –, ha-ben wir uns verstärkt um unsere Teilhaberechte geküm-mert.
– Sie können eine schöne Gesetzeskommentierung vonmir dazu lesen. Ich kann Ihnen sagen, wann die erstenInitiativen aus Ihrer Fraktion dazu kamen und wie dieersten Debatten im Jahr 2009, kurz vor dem Lissabon-Urteil, noch verlaufen sind.
Heute sind wir zum Glück einen Schritt weiter. Aberwir stellen auch fest: Zahlreiche Möglichkeiten der Be-teiligung der nationalen Parlamente, über die wir heuteverfügen, erweisen sich bisher als relativ stumpfeSchwerter – ich nenne die Subsidiaritätsrüge, aber auchdie Subsidiaritätsklage –, weil wir feststellen, dass dieparlamentarischen Abläufe und die Koordinierung mitanderen europäischen Parlamenten faktisch so zeitauf-wendig sind, dass die dort vorgefundenen Fristen in derRegel nicht ausreichen, um etwas auf die Beine zu stel-len.Umso wichtiger ist es, dass wir im Gesetzentwurfzum EUZBBG nicht so sehr auf formale Mittel setzen.Sie sind auch wichtig, aber es geht mehr darum, dasseine Exekutive zu jedem Zeitpunkt einer Debatte unter-richtet. Sie informiert also das Parlament, den DeutschenBundestag; er nimmt diese Informationen auf und be-wertet sie politisch. So können die Koalitionsfraktionenihrer eigenen Regierung sagen oder auch die Opposi-tionsfraktionen signalisieren, inwieweit man bereit ist,den Weg auf europäischer Ebene mitzugehen. Diese Tei-lung von Kontrolle, Legitimation und Ermächtigung istim Gesetzentwurf zum EUZBBG genau richtig gewählt.Deswegen stimmen wir aus voller Überzeugung zu.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen weiterenPunkt ansprechen. Wir sollten die Schrauben nicht über-drehen. Es gibt durchaus Bereiche exekutiven Handelns,die von der Exekutive allein wahrgenommen werdenmüssen. Es gibt einen Kernbereich exekutiven Handelns,den wir ernst nehmen sollten. Wer schon einmal Ver-handlungen auf europäischer Ebene erlebt hat oder überdiese berichtet bekam, der weiß, dass man in solchenVerhandlungen nicht alles bis ins kleinste Detail deter-minieren, kontrollieren oder voraussagen kann.Insofern ist festzuhalten: Der heute vorgelegte Ge-setzentwurf findet auch hier ein ausgewogenes Verhält-nis zwischen exekutivem Kernbereich auf der einenSeite und parlamentarischen Kontrollrechten auf der an-deren Seite.Ich muss zugeben: Einmal wäre ich gerne Grüner ge-wesen.
Ich hätte das Gesetz, offen gesagt, lieber zu einem Zeit-punkt auf den Weg gebracht, als uns Karlsruhe nochnicht dazu aufgefordert hat. Es ist immer besser, wir ma-chen Gesetze selbst, als Handlungsaufträge aus Karls-ruhe zu bekommen.
Das war damals – das sage ich ganz versöhnlich – nochnicht gemeinsamer Verhandlungsstand. Wir sind etwasspäter aufgebrochen, aber dafür haben wir umso bessereErgebnisse erzielt.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29073
Dr. Stefan Ruppert
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Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir bringen den vorliegenden Gesetzentwurf nicht inden luftleeren Raum ein, sondern wir diskutieren diesesThema immer auch im Hinblick auf die konkrete Situa-tion in Europa. Wir kommen ja nicht drumherum, zuzu-geben, dass Europa tatsächlich in einer tiefen Krisesteckt und dass sich immer mehr Menschen von diesemEuropa abwenden. Ob Sozialabbau, Rekordarbeitslosig-keit, fehlende Investitionen in Bildung, Gesundheit oderInfrastruktur: Insbesondere in Südeuropa gehen immermehr Menschen auf die Straße, weil sie den Eindruckhaben, dass der Europäische Rat und die EU-Kommis-sion diese Politik der Europäischen Union diktieren. Siehaben auch das Gefühl, dass ihre nationalen Parlamentenicht in dem Umfang mitsprechen können, wie sie dasunter demokratischen Gesichtspunkten eigentlich gernesehen würden. Ich glaube also, wir müssen auch imLichte der aktuellen europäischen Entwicklung denheute vorliegenden Gesetzentwurf beraten.
Viele haben den Eindruck, dass nicht mehr die Parla-mente, sondern die Finanzmärkte, die Banken und dieGroßkonzerne über die Zukunft der Europäischen Unionentscheiden. Integration hält damit leider nicht Schritt.Wir als Linke haben von Anfang an gesagt: Europa wirdnur gelingen, wenn die Europäische Union sozialer unddemokratischer wird. Leider haben wir in den letztenJahren in dieser Hinsicht schwere Rückschläge erlebenmüssen. In dieser Woche beispielsweise hat keine ein-zige Brüsseler Entscheidung die Zustimmung Zypernserhalten. Das zeigt: Mit dieser Art europäischer Politikhaben wir Probleme, zu den Menschen durchzudringen.Dass wir heute darüber diskutieren – meine Vorrednerhaben es schon angesprochen –, ist auch keine Stern-stunde des Parlaments. Es war schon so – das gehört zurWahrheit dazu –, dass der Großteil des Parlaments dieseRechte eigentlich gar nicht mehr wollte, sondern vonKarlsruhe aufgefordert werden musste, sie sich als Parla-ment zurückzuholen.
Viele hier im Haus waren eher der Auffassung, mansolle die europapolitischen Entscheidungen, die die je-weilige Bundesregierung hier einbringt, abnicken. Ichdenke, man kann im Zusammenhang damit, dass Karls-ruhe uns hier auf einen anderen Weg gebracht hat, wirk-lich auch von einer Ohrfeige reden.
Es ist positiv zu bewerten – da schließen wir uns an –,dass es uns in den letzten Monaten gelungen ist, hier ei-nen fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf einzubrin-gen; denn dieser bedeutet selbstverständlich eine Verbes-serung des Status quo. Was die Gemeinsame Außen- undSicherheitspolitik bzw. die Gemeinsame Sicherheits-und Verteidigungspolitik anbelangt, hatten wir natürlichweitere Vorschläge.
Die anderen Fraktionen haben leider nicht mitgemacht,was wir schade finden. Aber das war für uns kein Grund,aus den Verhandlungen auszusteigen.Dazu möchte ich auch noch sagen: Natürlich hat manimmer wieder aufs Neue gemerkt, dass insbesondereSPD und Grüne immer auch aus dem Blickwinkel herausdiskutiert haben, dass es möglich sein kann, dass siemorgen wieder die Regierung stellen, und sich vor die-sem Hintergrund gefragt haben, ob man die Parlaments-rechte wirklich so weit ausbauen will. Wir hätten uns ge-wünscht, dass man noch einen Schritt weiter geht. Trotzalledem wurde eine Verbesserung des Status quo er-reicht.Wir dürfen aber an diesem Punkt nicht haltmachen,wenn es darum geht, europäische Politik transparenterzu machen, sie auch bürgernäher zu machen. Ich denke,über das Gesetz hinaus müssen wir uns in einem nächs-ten Schritt auch Gedanken darüber machen, bei wesent-lichen Entscheidungen der Europäischen Union Volks-abstimmungen einzuführen.
Damit sind wir nicht alleine. Im Süden gibt es einen Mi-nisterpräsidenten, der das auch immer gern diskutiert.Wir warten einmal ab, wann zumindest die CSU im Par-lament entsprechend agiert.
Denn die Europäische Union wird, wie gesagt, nur funk-tionieren, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass siemitentscheiden können, dass es demokratisch abläuftbzw. dass zumindest die Parlamentarier, die sie gewählthaben, in letzter Konsequenz entscheiden. Heute habenwir einen kleinen Schritt getan; aber es ist noch vielmehr möglich.Auch ich sage der Mitarbeiterebene und insbesondereauch Ihnen, Herr Kaster, Dank. Sie haben das sehr gutorganisiert. Das liegt wahrscheinlich weniger daran, dassSie von der CDU/CSU-Fraktion sind,
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Alexander Ulrich
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sondern eher daran, dass Sie wie ich Rheinland-Pfälzersind. Rheinland-Pfälzer haben manchmal richtig guteIdeen.Vielen Dank.
Der Kollege Manuel Sarrazin hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Eine bekannte Fernsehwerbung kann man auf-
grund der Debattenbeiträge abgewandelt so zitieren:
„Wer hat denn eigentlich die Parlamentsrechte vor Ge-
richt eingeklagt? – Die Grünen waren es.“
Auch wenn wir im Parlament eine lange gemeinsame
Geschichte seit der BBV haben – man kann eigentlich
sagen, dass die Urkompetenz für neue Rechte des Bun-
destages, die durch diese Gerichtsentscheidung und die-
ses neue Gesetz in einer ganz neuen Qualität ausgelegt
werden, die Einführung von Art. 23 im Rahmen der
Maastricht-Ratifikation ist –, muss man doch sagen, dass
es an der Stelle sehr wichtig war, dass wir Grüne – in
Stellvertretung des Parlaments, aber als einzige Frak-
tion – nach Karlsruhe gegangen sind und diese Rechte
eingefordert haben; die FAZ sprach in diesem Zusam-
menhang ja so treffend von der „Anatomie einer Hinter-
gehung“.
Die gemeinsamen Positionen des Parlaments haben
wir auch im Gesetzgebungsprozess gegen die Regierung
durchsetzen müssen. Insoweit möchte ich mich dem
Dank in alle Richtungen anschließen. Wir haben kon-
struktiv gearbeitet. Sie wissen auch, dass wir noch wei-
tergehende Vorstellungen hatten, zum Beispiel die Idee,
ein Comprehensive Law, ein Europagesetzbuch zu schaf-
fen, in dem alle Beteiligungsrechte zusammengeführt
sind. Dennoch war das ein gutes Geschäft für alle Seiten,
auch wenn man sich vor Augen hält, dass die Bundesre-
gierung in den Verhandlungen in Karlsruhe noch argu-
mentiert hat, dass die Bereiche wie der ESM, die EFSF
oder andere völkerrechtliche Verträge, die in einem
Nähe-Verhältnis zur Europäischen Union stehen, einfach
nur Völkerrecht seien und dem Bundestag nur per Letzt-
entscheidungsrecht zugänglich wären. Dass wir diese
Baustelle schließen konnten, ist sehr wichtig für die Par-
lamentsrechte, gerade auch in Zeiten einer Krise, wie wir
sie momentan haben.
Dass wir in dieser Krise die Legitimation stärken, um
auch die Legitimität der Europäischen Union und der eu-
ropäischen Einigung gerade in so schwierigen Zeiten zu
erhalten, ist sehr wichtig. Vor dem Hintergrund ist es na-
türlich auch richtig, dass wir als Parlament uns bewusst
sind, dass mit dieser ganz neuen Qualität an parlamenta-
rischen Rechten auch Pflichten für uns einhergehen.
Dazu gehört die Möglichkeit, dass wir uns dadurch, dass
wir viel früher, viel besser und auch über ganz andere
Sitzungsformate und Inhalte als bisher unterrichtet wer-
den, auch früher, proaktiver und eigentlich auch kon-
struktiver als bisher in europäischen Verhandlungen zu
Wort melden und so der Bundesregierung unsere Vor-
stellungen als Parlament zu einem Zeitpunkt mitgeben,
zu dem diese noch die Möglichkeit hat, sie in ihre Ver-
handlungsführung auf europäischer Ebene einzubringen.
Dazu gehört auch, dass beispielsweise die Sitzung,
die letzten Freitag zu der sehr misslichen Situation ge-
führt hat, die wir zurzeit haben, erst durch die Gesetzes-
änderung beim Fiskalvertrag und vollumfänglich erst
durch die Gesetzesänderung, die wir heute in Umsetzung
der grünen Verfassungsgerichtsklage beschließen, in den
gleichen Informationsraum wie die normalen europäi-
schen Verfahren gerät. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass
wir jetzt diese Beschlüsse fassen.
Mit diesen Rechten geht natürlich auch eine Verant-
wortung für die Abgeordneten einher, ihre Europapolitik
darauf auszurichten. Dazu gehört auch, dass wir, wenn
wir sensible Informationen erhalten, die vielleicht in an-
deren Staaten ganz besondere Befindlichkeiten auslösen
können, nicht gleich zum Beispiel per E-Mail an die
Presse weiterleiten, wie wir es im Fall Irland beispiels-
weise noch auf einer anderen Rechtsgrundlage erlebt ha-
ben.
Dazu gehört auch, dass wir in den europapolitischen
Debatten, die wir führen, unsere Aufgabe als Abgeord-
nete, gerade wenn wir Zugriff auf Dokumente und In-
halte haben oder sogar auf die Verhandlungsführung mit
anderen Staaten, beispielsweise in der Euro-Krise, Ein-
fluss nehmen können, in einem Ton und mit einer Empa-
thie gegenüber dem Verhandlungspartner wahrnehmen,
dass niemand das Gefühl hat, beim Deutschen Bundes-
tag zum Bittsteller zu werden.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Das ist
ein guter Tag für die Parlamentsrechte und ein guter Tag
für die Grünen und alle anderen hier im Haus. Ich denke,
dass wir das in den nächsten Jahren gemeinsam noch
sehr gut nutzen werden.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für dieUnionsfraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29075
Vizepräsidentin Petra Pau
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommenheute mit der Beratung und in der nächsten Sitzungswo-che aller Voraussicht nach mit der Beschlussfassungüber den Entwurf eines EUZBBG – man müsste eigent-lich „II“ hinzufügen, denn das Gesetz stellt nicht nureine Änderung oder Ergänzung dar, sondern wir schrei-ben damit ein neues Gesetz – zu dem Endpunkt einesProzesses, der im November 2005 begonnen hat. Ichglaube, am Schluss dieser Debatte sollte man daraufnoch einmal hinweisen.
Denn es waren die damaligen KoalitionsfraktionenCDU/CSU und SPD, die sich in den Koalitionsverhand-lungen im November 2005 darauf geeinigt haben, eineVereinbarung zur Zusammenarbeit zwischen Bundestagund Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäi-schen Union zu erarbeiten und vertraglich zu beschlie-ßen.
Dazu, gleich ein Gesetz zu machen, was ich damalsschon für den besseren Weg gehalten hätte, hat uns zuder Zeit in der Tat noch der Mut gefehlt.
Allerdings haben wir diese Zusammenarbeitsvereinba-rung hinbekommen – ich weiß noch, Axel Schäfer, dasswir sehr lange diskutieren mussten –, und das war einMeilenstein erstens für Informationsrechte des Bundes-tages in europäischen Angelegenheiten und zweitens fürMitwirkungsrechte des Bundestages in europäischenAngelegenheiten.Wir haben das Gesetz in dieser Legislaturperiode um-gesetzt, und dann kam das berühmte Lissabon-Urteil desBundesverfassungsgerichtes. In diesem Zusammenhangmöchte ich am Schluss dieser Debatte allerdings einklein wenig Wasser in den Wein der vielen Lobeshym-nen gießen, die auch heute schon auf das Karlsruher Ge-richt als dem einzigen Hüter der Parlamentsrechte desBundestages gesungen worden sind. Zum Teil werdensie auch vom Präsidenten Voßkuhle selber auf sein Ge-richt gesungen.Es ist nämlich nicht ganz richtig, dass nur Karlsruhedie Wahrung der Rechte des Deutschen Bundestages er-zwungen hat. Wir haben eine ganze Menge an Rechtenselber geschaffen.
Denn in dem Lissabon-Urteil hat das Verfassungsgerichtuns zu Recht, sage ich, gezwungen, ein Gesetz zu ma-chen, das wir nicht umsonst Sonntagsgesetz nennen,nämlich das sogenannte Integrationsverantwortungsge-setz. Das heißt – ganz grob zusammengefasst –, Kompe-tenzübertragungen, die in kleinen Vertragsänderungengeregelt werden können, müssen in diesem Haus wieVertragsänderungen ratifiziert werden. Das hat das Ver-fassungsgericht 2009 zu Recht von uns verlangt.Das Verfassungsgericht hat überhaupt nicht im Blickgehabt, dass Kompetenzverschiebungen in der Europäi-schen Union tagtäglich in Form normaler Rechtsset-zungsvorgänge – Richtlinien, Verordnungen etc. – statt-finden. Das mussten wir schon selber machen. Wirhatten als Vorlage die BBV. Damals haben wir kurzfristigentschieden: Wir wollen das im Rahmen des EUZBBG re-geln.Ich glaube, einige können sich noch daran erinnern:Das war im Sommer 2009. Eigentlich standen wir alleim Wahlkampf und haben gegeneinander gekämpft, weiljeder die Wahl gewinnen wollte, wie das halt so ist.Gleichzeitig haben wir die Ratifizierung durchgeführt.Aufgrund des Zeitdrucks haben wir uns entschieden, dieZusammenarbeitsvereinbarung quasi mit leichten Verän-derungen als Gesetz zu nehmen. Wir ahnten damalsschon, dass es systematisch nicht ganz richtig bzw. kom-pliziert ist, einen Vertrag quasi wortwörtlich als Gesetzzu übernehmen. Deswegen haben wir uns damals einMonitoring auferlegt. Wir haben festgelegt, dass wir inder Mitte der Legislaturperiode die Wirkungsweise die-ses Gesetzes genau analysieren und möglicherweise Ver-änderungen bzw. Konkretisierungen herbeiführen wol-len. Dieser Prozess hat stattgefunden. Aber es ist etwaspassiert, was 2009 keiner von uns auf dem Schirm hatte:Die europäische Politik war in der Folgezeit geprägtdurch die Euro-Krise, durch die Finanzkrise und die da-durch notwendig gewordenen verschiedenen Rettungs-schirme. Deswegen wird dieses Gesetz erst heute verän-dert bzw. neu geschaffen.Ich will kurz noch zwei Punkte anbringen, die wir,wie ich denke, ganz gut geregelt haben – die Zukunftwird zeigen, ob wir daran vielleicht noch einmal etwasändern müssen –:Zum einen müssen wir bei der Regelung der Informa-tionsrechte des Bundestages die Balance finden zwi-schen der Masse an Informationen, die es gibt, und derQualität der Informationen, die wir brauchen, um unsüber die europäischen Rechtssetzungen eine Meinungbilden zu können. Die Europäische Kommission mit ih-ren ganzen Agenturen und Beratergruppen – keinMensch weiß, wie viele das sind – produzieren täglichtonnenweise beschriebenes Papier.
1 Promille davon ist für uns wichtig. Spannend ist dieFrage, wie wir dieses 1 Promille finden. Ich glaube, wirhaben mit unserem Gesetzentwurf die richtige Antwortgefunden: Inoffizielle Dokumente sollen nicht automa-tisch an den Bundestag überwiesen werden – das wäreein Lastwagen voll am Tag –, sondern nur auf Nach-frage; das ist allerdings notwendig.
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29076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013
Michael Stübgen
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Ich möchte kurz noch einen zweiten Punkt ansprechen,den ich genauso sehe wie das Bundesverfassungsgericht.Das Verfassungsgericht hat in allen seinen Urteilen zueuropäischen Angelegenheiten in den vergangenen vierJahren das sogenannte Transparenzgebot als ganz we-sentlichen Punkt genannt. Transparenzgebot bedeutet,dass wir als gewählte Abgeordnete verpflichtet sind, we-sentliche Entscheidungen öffentlich vorzutragen und öf-fentlich zu begründen, damit das Volk die Möglichkeithat, die Entscheidungen nachzuvollziehen und die Frageder Verantwortung zu beurteilen. Ich glaube, das Trans-parenzgebot wird mit diesem Gesetz noch einmal ge-stärkt. Auch in Zukunft werden wir öffentlich in diesemHaus diskutieren, bevor ein weiteres Land in den Euro-Raum aufgenommen wird. Man höre und staune, es gibtAnwärter: Lettland und Litauen.
Kollege Stübgen, ich bin ein geduldiger Mensch, ins-
besondere da Sie angekündigt haben, zum Schluss zu
kommen. Aber jetzt müssen Sie einen Punkt setzen.
Ich bin gleich fertig. – Wir werden das noch in diesem
Jahr umsetzen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12816 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Wolfgang Wieland, Volker Beck ,
Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
derung des Waffengesetzes – Schutz vor
Gefahren für Leib und Leben durch kriegs-
waffenähnliche halbautomatische Schusswaf-
fen
– Drucksache 17/7732 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 17/12872 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Lach
Gabriele Fograscher
Serkan Tören
Frank Tempel
Wolfgang Wieland
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck , Kai Gehring, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr öffentliche Sicherheit durch weniger
private Waffen
– Drucksachen 17/2130, 17/12872 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Lach
Gabriele Fograscher
Serkan Tören
Frank Tempel
Wolfgang Wieland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Günter Lach für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Waf-fengesetzgebung hat zwei wichtige Aufgaben zu erfül-len. Auf der einen Seite steht das berechtigte Sicher-heitsbedürfnis der Öffentlichkeit, auf der anderen Seitestehen die Interessen der legalen Waffenbesitzer wieSportschützen, Jäger und Sammler. Ziel einer Waffenge-setzgebung sollte es nach meiner Ansicht sein, hier einesinnvolle Balance zu schaffen. Die Aufgaben auf diesemGebiet gilt es immer wieder neu zu überprüfen und,wenn nötig, durch gesetzliche Maßnahmen weiter anzu-passen.
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung denGesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Obwohl ich diesen Gesetzentwurf und den Antrag mitmeiner Fraktion ablehne, freue ich mich, dass ich alsErster sprechen darf.
– Lieber Kollege Wieland, ich darf Ihnen zumindest ersteinmal meine Anerkennung und meinen Respekt für IhreRede heute Morgen zum Tagesordnungspunkt „Aufar-beitung der SED-Diktatur“ aussprechen. Das hat meinegroße Anerkennung gefunden. Das gilt leider nicht fürden Tagesordnungspunkt, den wir jetzt behandeln.
Dieser Tagesordnungspunkt beinhaltet zwei Punkte:den Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Waffen-gesetzes – Schutz vor Gefahren für Leib und Lebendurch kriegswaffenähnliche halbautomatische Schuss-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29077
Günter Lach
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waffen“ sowie den Antrag „Mehr öffentliche Sicherheitdurch weniger private Waffen“.
Ein Hauptgrund für diesen Gesetzentwurf sind mit Si-cherheit die Geschehnisse 2009 in Deutschland und2011 in Norwegen.
Es stellt sich nur die Frage, ob die im Gesetzentwurf ge-forderten Maßnahmen der richtige Ansatz sind, um mehrSicherheit zu erreichen. Im Mai 2012 fand hier eine öf-fentliche Anhörung von Sachverständigen statt. Das istschon einige Zeit her; aber ich kann mich sehr gut daranerinnern, dass es die einhellige Meinung der anwesendenExperten war, dass mit einer Änderung des Waffenrechtsim Sinne des Gesetzentwurfs keine Sicherheitsgewinneerzielt werden können.Ich möchte einige Anmerkungen zu den Inhalten desGesetzentwurfs bzw. zu dem Antrag machen. Zunächsteinmal komme ich zu der Problematik des Begriffes„kriegswaffenähnliches Aussehen“. Die Verbotsregelungfür diese Waffen haben wir mit Ihrer Mitwirkung 2002schon einmal abgeschafft. Es stellt sich nämlich dieFrage: Was ist eine kriegsähnliche Waffe?
Gerade in der Rechtsprechung haben wir damals keineSicherheit gehabt, da die Frage von den einzelnen Be-hörden unterschiedlich gesehen wurde. Insofern hattenwir eine rechtliche Unsicherheit bezüglich des Begriffes„kriegsähnliche Waffen“.Das Gleiche gilt auch für den Bereich der Anscheins-waffen. Nach § 42 a des Waffengesetzes wird das Füh-ren von Anscheinswaffen in der Öffentlichkeit verboten.Dazu gehören sämtliche Schusswaffen, die nach ihreräußeren Form bzw. nach ihrem Gesamterscheinungsbildden Anschein von scharfen Schusswaffen hervorrufen.Nach der aktuellen Regelung fallen auch Nachbautenvon Spielzeugwaffen und deren Potenzial darunter. Auchwenn von Nachbauten bzw. Spielzeugwaffen keine Ge-fahr für das Leben ausgeht, so verringert die bestehendeRegelung mögliche Bedrohungssituationen. Damit wer-den Anscheinswaffen aus dem öffentlichen Raum fern-gehalten. Diese Maßnahme unterstützt auch die Arbeitund Sicherheit unserer Polizei, da sie hilft, unnötigePolizeieinsätze zu vermeiden.Gestatten Sie mir noch ein Wort zu den halbautoma-tischen Waffen. Gerade für die Jagd sind halbautoma-tische Waffen zwingend erforderlich, besonders für dieBewegungsjagd. Hier ist das Magazin auf drei Schussbegrenzt. Im sportlichen Bereich gibt es Disziplinen, beidenen es eine Begrenzung des Magazins auf zehn Schussgibt. Würden wir halbautomatische Waffen total verbie-ten, würden wir in vielen sportlichen Disziplinen nichtmehr teilnehmen können.In Ihrem Antrag „Mehr öffentliche Sicherheit durchweniger private Waffen“ sagen Sie von den Grünen ja ei-gentlich, dass Sie wollen, dass es in privaten Haushaltenüberhaupt keine Waffen mehr gibt.
Sie fordern aber noch mehr, nämlich die zentrale Aufbe-wahrung von Schusswaffen.
– Oder von Munition. – Alle Experten und Sachverstän-digen sind der Meinung,
dass man durch eine zentrale Aufbewahrung vonSchusswaffen genau das Gegenteil dessen erreicht, wasman erreichen möchte. Wir wissen, dass sich Schieß-stände gerade in den Randgebieten unserer Städte undGemeinden befinden
und dass das Einbruchspotenzial dort gerade aufgrundder Abgeschiedenheit dieser Orte größer ist als im priva-ten Bereich.Im Rahmen der letzten Änderung des Waffengesetzeshaben wir schon einige besondere Regelungen getroffen.So müssen die Waffenbehörden das Fortbestehen deswaffenrechtlichen Bedürfnisses von Waffenbesitzernfortlaufend überprüfen. Es muss bei der Genehmigungjeder Waffe überprüft werden; früher war das nur alledrei Jahre notwendig. Das waffenrechtliche Bedürfnisvon Sportschützen wird bereits von Vereinen und Ver-bänden bestätigt. Man kann sich also nicht einfach eineWaffe kaufen, sondern der Verein bzw. Verband mussdies bestätigen.Im Hinblick auf das Schießen mit Großkaliberwaffenhaben wir die Altersgrenze von 14 auf 18 Jahre erhöht.
– Wenn das Gespräch beendet ist, würde ich meine Redegerne fortsetzen.
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Zurzeit hat überwiegend der Kollege Lach das Wort.
Wer eine neue Waffenbesitzkarte beantragt, muss
schon bei der Antragstellung nachweisen, dass er die
Waffe sicher aufbewahren wird. Sie wissen, dass die
Aufbewahrung in den dafür vorgeschriebenen Waffen-
schränken erfolgen muss.
Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dann liegen die Waffen unter dem
Bett! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder der
Schrank ist offen! – Gegenruf des Abg. Jörn
Wunderlich [DIE LINKE]: Oder sie sind im-
mer am Mann bzw. an der Frau!)
Kontrollen durch die Ordnungsämter finden in regelmä-
ßigen Abständen statt; sie werden unangemeldet und un-
abhängig von der Tageszeit durchgeführt.
Gestatten Sie mir zum Schluss das Fazit: Die Anhö-
rung der Sachverständigen am 21. Mai 2012 hat deutlich
gezeigt, dass mit einer Umsetzung der vorliegenden For-
derungen des Bündnisses 90/Die Grünen kein Sicher-
heitsgewinn für die Gesellschaft erzielt bzw. die Sicher-
heit in Deutschland dadurch nicht erhöht würde. Von den
Sachverständigen wurde besonders hervorgehoben, dass
der legale Waffenbesitz nicht das Problem in Deutsch-
land ist.
Denn im Bereich des legalen Waffenbesitzes beträgt die
Missbrauchsquote – auch wenn sie immer noch hoch ge-
nug ist – nur 4 Prozent.
Es ist der illegale Waffenbesitz, der ein Problem für
die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger darstellt.
Auf dieses Problem müssen wir unser Augenmerk mehr
als bisher lenken. Mit den Regelungen des deutschen
Waffenrechts tun wir bereits jetzt alles dafür, um den un-
berechtigten Zugang zu Waffen möglichst zu verhindern.
Wir werden Ihren Antrag ablehnen.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die Vorschläge, die Sie vom Bündnis 90/Die Grü-nen in Ihren Vorlagen machen, sind weder neu, nochschaffen sie mehr Sicherheit. Deshalb sind sie für dieSPD nicht zustimmungsfähig.
Zu den einzelnen Forderungen. Die Streichung desVerbots von kriegswaffenähnlichen halbautomatischenSchusswaffen war kein Versehen der damaligen rot-grü-nen Bundesregierung. Wir haben das bewusst gemacht;denn es gab große Abgrenzungsprobleme, was nun einekriegswaffenähnliche Schusswaffe ist und was nicht.Dazu erklärte der Sachverständige Rainer Hofius, Ober-staatsanwalt in Mainz – kein Lobbyist –, in seiner Stel-lungnahme zu der Anhörung zu den Vorlagen von Bünd-nis 90/Die Grünen am 21. Mai 2012:Das Ziel des Gesetzentwurfes ist faktisch die Wie-dereinführung von Teilen des im Zuge des Waffen-rechtsneuregelungsgesetzes 2002 abgeschafften§ 37 WaffG … Die damalige rot-grüne Bundesre-gierung hat seinerzeit zweifellos bewusst eine nichtpraktikable und für die öffentliche Sicherheit be-deutungslose Norm abgeschafft.Der objektive Eindruck von einer Waffe ist für de-ren tatsächliche Gefährlichkeit ohne jeden Belang.Dieser Aussage schließe ich mich an.Den Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen, Waffenaußerhalb von Privatwohnungen zu lagern, haben wirhier schon mehrfach diskutiert. Ich halte diesen Vor-schlag nicht für zielführend. Ich zitiere nochmals denSachverständigen Hofius:Die Ansammlung einer großen Zahl von Schuss-waffen an einem Ort ist trotz aller denkbaren Mög-lichkeiten der Sicherung ein großer Anreiz fürStraftäter, hier eine lukrative Tat zu begehen.Der schreckliche Vorfall 2009 in Eislingen hat das trauri-gerweise belegt.Neben den Änderungen des Waffengesetzes von 2009sind weitere Änderungen unterhalb der gesetzlichen Re-gelungen wichtig für die öffentliche Sicherheit. Nachjahrelangen Diskussionen zwischen den Bundesländernund dem Bund ist 2011 die Allgemeine Verwaltungsvor-schrift zum Waffengesetz erlassen worden. Damit gibt eseinheitliche Vorschriften für den Vollzug, der bei denBundesländern liegt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29079
Gabriele Fograscher
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Wir haben das Nationale Waffenregister früher aufden Weg gebracht, als die EU es gefordert hat.
Damit kann der gesamte Lebenszyklus einer Waffenachvollzogen werden, und für Polizeibeamte wird mehrSicherheit geschaffen; denn sie können vorher informiertwerden, ob sie am Tatort mit Waffen zu rechnen haben.Wenn alle Daten an das Nationale Waffenregister über-mittelt sind, wissen wir auch endlich, wie viele legaleWaffen es überhaupt in Deutschland gibt. Die Amnestie-regelung – 2009 miteingeführt – hat dafür gesorgt, dassmehrere Hunderttausend Waffen abgegeben und damitaus dem Verkehr gezogen wurden. Wir sollten über eineerneute Amnestieregelung nachdenken und diese dannentsprechend publik machen.
Durch die Einführung verdachtsunabhängiger Kon-trollen wird die Aufbewahrung der Schusswaffen undder Munition durch die Waffenbehörden überprüft. Daswird von den Betroffenen immer wieder kritisiert. Wirhatten in die Begründung des Entwurfes zur Änderungdes Waffengesetzes 2009 geschrieben:Die verdachtsunabhängigen Kontrollen liegen imöffentlichen Interesse und deswegen werden keineGebühren erhoben.
Dies wird in der anstehenden Kostenverordnungklargestellt.Leider sieht die Praxis anders aus: In der Kostenver-ordnung ist nichts klargestellt, und die Landkreise erhe-ben Gebühren in unterschiedlicher Höhe.
Auch werden die Kontrollen – auch wegen Personal-mangels der zuständigen Behörden – unterschiedlich ge-handhabt.
Hier sind die Länder in der Pflicht, die Kontrollen, wievom Bundesgesetzgeber vorgegeben, durchzuführen.
Wenn wir schon über das Waffenrecht reden, dannmuss ich auch über die Vorgänge der letzten Tage spre-chen. Da hat das Bundesinnenministerium im wahrstenSinne des Wortes den Vogel abgeschossen. Im Herbstletzten Jahres erließ das BMI eine neue Schießstand-richtlinie, die beinhaltet, dass hölzerne Vögel, auf die dieSchützinnen und Schützen in einer jahrhundertelangenTradition – beim Königsadlerschießen – zielen, nichtmehr 15 Zentimeter, sondern nur noch 8 Zentimeter dicksein dürfen. Die Begründung für diese Änderung war,dass die Geschosse von dickem Holz zurückprallen undMenschen verletzen könnten. Passiert ist so etwas aufden Schützenfesten der Republik bisher noch nie.Diese Änderung fiel erst auf, als die ersten Adler fürdie anstehenden Schützenfeste in Auftrag gegeben wur-den. Berechtigterweise gab es in den Schützenvereinenviel Empörung; denn ein dünnerer Adler würde nur we-nige Schuss vertragen, ein dicker Adler aber mindestens500 bis 600 Schuss.Nachdem dieses Thema sogar die Kanzlerin erreichthatte und diese um Wählerstimmen bei den Schützinnenund Schützen bangen musste, ruderte der Bundesinnen-minister zurück: Am 13. März 2013 veröffentlichte dasBMI eine Pressemitteilung mit dem Titel „Tradition undSicherheit in Einklang bringen“ und erklärte darin, dassdie Änderung mit sofortiger Wirkung zurückgenommenist. Das ist wirklich ein Stück aus dem Tollhaus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem missbräuchli-chen Umgang mit Waffen, der Missachtung von Vor-schriften und der kriminellen Energie wird kein Waffen-gesetz der Welt Herr werden können,
und der viel zu hohen Zahl illegaler Waffen in Deutsch-land kann man nicht mit Verschärfungen des Waffen-rechts begegnen.
Gesetzliche Regelungen können nie hundertprozentigeSicherheit erreichen. Die Maßnahmen, die Bündnis 90/Die Grünen hier vorschlagen, leisten keinen Beitrag zumehr öffentlicher Sicherheit. Wir werden die Vorlagenablehnen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Serkan Tören für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Frau Fograscher, ganz kurz zu demVogel: Das, was da passiert ist, war sicherlich nicht rich-tig. Darauf hat die FDP-Bundestagsfraktion in einemBrief auch sofort hingewiesen.
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Serkan Tören
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Auch Kollegen der CDU/CSU haben sich aus dem Parla-ment heraus sofort an das Innenministerium gewandt.Ich weise aber auch darauf hin, dass die Sportschüt-zen an dieser Richtlinie mitgearbeitet und uns hier nichtinformiert haben – das muss man auch einmal sagen –,sondern das ist so durchgegangen. Ich hätte mir hier einerechtzeitige Information gewünscht. Wir haben das wie-der rückgängig gemacht. Von Ihnen habe ich dabei aberleider nur wenig gehört und gesehen. Das muss manauch einmal sagen, wenn Sie uns hier schon so kritisie-ren.Ich komme jetzt kurz zum Antrag der Grünen undmöchte hier zwei Dinge hervorheben – das haben auchdie Vorredner schon gemacht –:Erstens: Verbot von halbautomatischen Waffen, diewie Kriegswaffen ausschauen. Natürlich gibt es ein Ab-grenzungskriterium, und es ist fraglich, wie man das inder Umsetzung handhaben soll. Im Übrigen haben dasIhre Vorgänger von Rot-Grün besser gemacht. Sie habendas Verbot nämlich aufgehoben. Jetzt stellt sich für michdie Frage, warum Sie das wieder umkehren wollen. Daserschließt sich mir nicht ganz.
Ich begründe das damit, dass Sie jetzt irgendwelcheAnsätze suchen, um gegen jegliche Art von Waffen vor-zugehen. Das sagen Sie nur nicht offen. Einmal greifenSie sich die Großkaliber heraus, und jetzt sind es diehalbautomatischen Waffen. Schritt für Schritt gehen Siean die verschiedenen Waffenarten heran. Ihr eigentlichesInteresse, nämlich Waffen generell zu verbieten, beken-nen Sie nicht. Stattdessen suchen Sie irgendwelche ande-ren Wege und Instrumentarien. Aber seien Sie doch of-fen und ehrlich, und sagen Sie, was Ihr eigentlichesInteresse ist, statt mit solchen Verboten herumzuhantie-ren!
Zweitens: zentrale Lagerung. Auch dazu ist von denVorrednern schon vieles gesagt worden. Die Anhörungwar eigentlich eindeutig, Herr Wieland. Sie waren ja da-bei. Alle Experten, die dort waren, haben gesagt, dass essogar zu mehr Gefahr führt, wenn zentral gelagert wird.
Herr Wieland, es gab eine Kleine Anfrage der Grünenzum Waffenbestand und zum Fehlbestand bei der Bun-deswehr. Da wird ja zentral gelagert. Es ergab sich, dassder Fehlbestand ganz schön hoch ist. Auch das ist fürmich ein Beweis dafür, dass es eben nicht zu mehr Si-cherheit führt, wenn man zentral lagert, sondern im Ge-genteil: Wenn sich die Schützenheime usw. in den Au-ßenbereichen und nicht zentral in den Städten befinden,dann ist gerade bei zentraler Lagerung die Gefahr desAbhandenkommens und des Diebstahls von Waffen ge-geben.Sie haben aus der Anhörung nichts gelernt. Für michstellt sich hier die Frage: Warum nicht? Es geht hier ein-fach nur um eine Ideologie von Ihnen. Sie wollen näm-lich generell keine Waffen im privaten Besitz.
Sie wollen einfach nicht, dass Sportschützen, Jäger undSammler an ihre Geräte herankommen.
Das wollen Sie verbieten. Das, was Sie hier machen wol-len, ist völlig ideologisch und nichts anderes.Ich bin in einer kleinen Gemeinde mit 900 Einwoh-nern aufgewachsen. Gerade die soziale und integrativeArbeit, die die Sportschützen dort geleistet haben, warvorbildlich. Ich nenne das Stichwort ehrenamtlichesEngagement und alles, was dazu zählt. Wenn man Ju-gendliche an die Waffe heranführt, dann ist das auch mitDisziplin verbunden, und es geht hier auch um Traditio-nen. All das wollen Sie vernichten. Das sagen Sie hieraber nicht offen, sondern Sie ergehen sich in irgendwel-chen technischen Dingen, was überhaupt nichts mitSachlichkeit zu tun hat.
Als selbsternannte Umweltpartei wollen Sie die Ar-beit von Jägern kaputtmachen, die sich ja gerade für dieUmwelt einsetzen. Begleiten Sie doch einmal einen Jä-ger, und schauen Sie sich an, welche Umweltarbeit sieleisten! Auch das tun Sie nicht. Auch hier führen Sieeine rein ideologische Debatte, sonst nichts.
Bleiben wir bei der Ideologie, und sprechen wir überdie Waffensteuer in Bremen. Bei diesem Thema ist jetztdie SPD gefragt. – Sie schauen weg; das passt beimThema Waffensteuer, denn auch hier geht es um Ideolo-gie. – In Bremen hat die SPD versucht, Waffen über dieKosten aus dem privaten Besitz zu verdrängen, nämlichmit der Einführung einer Waffensteuer. Was hat mandann gemacht? Man hat aufgrund des Druckes – Sie ha-ben vorhin von Druck geredet – die Waffensteuer in eineGebühr umbenannt. Diese wird jedes Jahr anlasslos er-hoben. Auch das ist nicht im Sinne dessen, was wir ei-gentlich wollten. Das, was Sie in Bremen gemacht ha-ben, ist die Einführung einer Quasi-Steuer, wasüberhaupt nicht in Ordnung ist.Diese Waffensteuer halte ich für verfassungswidrig,weil sie nur eingeführt wurde, um Waffen aus dem priva-ten Besitz zu verdrängen. Wir auf der Bundesebene ha-ben aber das Bedürfnis nach Waffen im privaten Besitzgesehen. Deswegen haben wir das Waffengesetz. Wenn
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Serkan Tören
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auf Landesebene oder kommunaler Ebene eine Waffen-steuer eingeführt wird, ist das nichts anderes als ein Ver-stoß gegen die gesetzliche Intention im Waffenrecht.Deswegen halte ich die Waffensteuer für verfassungs-widrig.
Was hat sich aus der Anhörung im Innenausschuss er-geben? Die Vorredner haben es schon angesprochen.Eine Verschärfung des Waffenrechts bringt überhauptnichts. Durchweg alle, die als Experten an der Anhörungteilgenommen haben, haben uns das gesagt.Hilfreich war auch eine BKA-Analyse, die aufgezeigthat, wie viele Straftaten mit legalen Waffen begangenwerden. Dieser Anteil liegt unter 1 Prozent. Wenn mandavon noch die Zahl der Waffenbesitzer abzieht, die imöffentlichen Dienst sind – Beamte usw. –, dann tendiertdiese Zahl gegen null. Sie haben sich einfach Sport-schützen, Jäger und Sammler,
ehrenhafte Bürger in unserem Lande, ausgesucht, umdiese als Feindbild mit unsachlichen Angriffen zu über-ziehen. Das ist nicht richtig.
Als FDP-Fraktion werden wir uns auch weiterhin da-für einsetzen, dass es keine Verschärfung im Waffen-recht geben wird. Aber wir brauchen eine Systematisie-rung und eine Vereinfachung im Waffenrecht – daranmüssen wir arbeiten –, weil auch die Beamten in denWaffenbehörden, die damit beschäftigt sind, das Waffen-recht nicht verstehen. Das muss eines der Ziele sein, diewir weiterverfolgen werden.Dann werden wir auch eine vernünftige Evaluierungdurchführen. Die Evaluierung, die im Innenministeriumstattgefunden hat, war nicht gut.
Wir brauchen hier eine objektive Evaluierung, auch un-ter Einbeziehung von Sportschützen und Jägern. Solltediese Evaluierung ergeben, beispielsweise bei den Kon-trollen, dass die Regelungen kein Mehr an Sicherheitbringen, dann muss man einmal darüber nachdenken, obes nicht einen Weg zurück gibt. Dann muss man auchabwägen, wie groß der Eingriff in die Freiheit der Bürgerist.
Das muss man einmal bedenken. Es muss also eineEvaluierung geben; das ist die zweite Forderung. Dannmuss es auch einen Kampf gegen illegale Waffen geben.Es ist selbstverständlich, dass wir hier die Behörden stär-ken und den Kampf gegen illegale Waffen führen.
Herr Tören, ich muss jetzt in die Freiheit Ihrer Rede
eingreifen. Sie müssen zum Schluss kommen.
Abschließender Satz: Die christlich-liberale Koalition
wird sich weiterhin dafür einsetzen und ihr Versprechen
aus dem Koalitionsvertrag einhalten, dass es keine Ver-
schärfungen im Waffenrecht gibt.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! „Mehr öffentliche Sicherheit durch wenigerprivate Waffen“ – das klingt doch zumindest erst einmalganz logisch. Die Bundesregierungen der letzten Jahrehaben das Thema Waffenrecht in der Regel nur ange-fasst, wenn schreckliche Ereignisse die öffentliche Dis-kussion beherrschten. Amoktaten lösten bisher regelmä-ßig politischen Aktionismus aus. Da wurde hier einbisschen verboten, da ein bisschen geändert; aber grund-legend hat sich an der Sicherheitslage nichts verändert,weder bei legalen Waffen noch bei illegalen Waffen. Eskam immer nur darauf an, zu zeigen, dass man auf dastragische Ereignis reagiert hat. Nutzen und Umsetzbar-keit der Änderungen spielten keine Rolle. Das ist genauder Grund, warum eine Evaluierung dieser Änderungenbis heute nicht vorliegt.Die Grünen haben nun einen sehr radikalen Antragauf den Tisch gelegt. Aber angesichts von über 10 Mil-lionen legaler Waffen in der Bundesrepublik muss dasThema eben auch einmal radikaler diskutiert werden.Das ist vollkommen richtig.
Das gilt erst recht, wenn es um Großkaliber, halbauto-matische Waffen und Munition mit besonderer Durch-schlagskraft geht. Bei allen Fragen, die die Linke zurUmsetzung dieser Vorschläge hat, stelle ich fest, dasswir das Anliegen der Grünen sehr deutlich teilen. Wir se-hen bei diesen Vorschlägen einen Sicherheitsgewinn.Es gibt aber auch einen guten Grund, warum dieLinke einen entsprechenden Antrag noch nicht selbereingebracht hat. Wir beschäftigen uns sehr genau mit derFrage: Welcher Einschnitt bringt wirklich mehr Sicher-heit, und welche Idee kann wie umgesetzt werden? Eine
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Frank Tempel
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Lösung suchen wir im Dialog gerade auch mit Sport-schützen, Jägern und Büchsenherstellern; mit Sammlernhatte ich noch nicht so viel zu tun. Dabei stellt sich he-raus, dass eine Reihe von Problemen organisatorischer,finanzieller und rechtlicher Art noch nicht zu Ende ge-dacht sind, was sich mit meinen Erfahrungen aus demPolizeidienst durchaus deckt.Nehmen wir als Beispiel die Lagerung von Waffen inSchützenhäusern. Es ist richtig: Gerade in abgelegenenGegenden, gerade im ländlichen Raum stellt das ein Pro-blem dar, das gelöst werden muss. Wenn wir das so um-setzen, wird eine Vielzahl von Waffen zentral gelagert,was natürlich Begehrlichkeiten illegaler Waffenhändlerwecken wird, und diese finden dann auch Wege. Ichkenne Tatorte, wo ganze Geldautomaten herausgerissenund Wände weggesprengt wurden. Für eine solch zen-trale Waffenunterbringung müssten sehr hohe Sicher-heitsstandards gelten. Das heißt, dass es sehr teuer wird.Ich muss auch das einseitige Verbot großkalibrigerWaffen kritisieren, da auch kleinkalibrige Waffen je nachBauart eine sehr hohe Durchschlagsleistung erzielenkönnen. Nehmen wir doch statt des Kalibers die maxi-male Geschossenergie zum Maßstab; das macht mehrSinn. Das ist übrigens ein Vorschlag, der vom Bayeri-schen Sportschützenbund kommt. Auch mit dem kannman zusammenarbeiten.
Das Verbot halbautomatischer Waffen dürfte den gro-ßen Teil des legalen Waffenbestandes in der Bundesre-publik betreffen. Beim Einsammeln gegen Entschädi-gung kämen auf die Länder Kosten von mehrerenHundert Millionen Euro zu. Das können manche Bun-desländer gar nicht leisten. Da muss der Bund mit in dieVerantwortung. Wir können nicht immer hier im Bun-destag beschließen, und Länder und Kommunen zahlendann die Rechnung. Ob so eine massive Enteignung ge-gen Entschädigung von den Gerichten als rechtmäßiganerkannt wird, wissen wir auch nicht. Ich erinnere nuran den Bestandsschutz.Gut ist übrigens, dass Sie die Probleme der geringenpersonellen und finanziellen Ausstattung der kommuna-len Waffenbehörden in Ihrem Antrag benennen. Aberdann schreiben Sie bitte auch hinein, dass den Kommu-nen dafür ein finanzieller Ausgleich gewährt werdenmuss, erst recht wenn die Bearbeitung des Einsammelnsvon Waffen gegen Entschädigung und die sichere Zwi-schenlagerung der eingesammelten Waffen durchgeführtwerden sollen. Die Kommunen können das sonst garnicht leisten, was wir hier beschließen.
Mit der Zustimmung zum Antrag der Grünen wirdsich die Linke heute zur Forderung nach mehr Sicherheitim Umgang mit legalen Waffen deutlich bekennen. Aberauch wer das Richtige will, darf nicht in Aktionismusverfallen. Das Waffenrecht in Deutschland wird uns wei-ter beschäftigen. Die Linke wird dabei die Diskussionmit allen Beteiligten mit dem Fokus auf mehr Sicherheitfortführen.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letz-ter Redner vor der Osterpause
– in vier Minuten werde ich wohl nicht alles richtigstel-len können – möchte ich Sie fragen, lieber KollegeTempel, wie Sie hier von Aktionismus reden können.Diese Vorlagen sind fast drei Jahre alt.
– Gut, wir sind ausgenommen. Dann bin ich beruhigt.Von Aktionismus kann überhaupt keine Rede sein,genauso wenig wie von Ideologie, lieber Herr Tören. Eswaren Eltern sowie die Angehörigen der Lehrerinnenund Lehrer aus Winnenden und Erfurt, die Präsident undVizepräsidenten sowie auch uns Unterschriftenlistenübergeben haben. Wir haben aus den Forderungen derBetroffenen Anträge entwickelt, die wir dann zur Dis-kussion gestellt haben. Es gab eine Anhörung, an derausschließlich Waffenträger – Frau Fograscher, hörenSie zu; auch der Staatsanwalt war bewaffnet, nicht aufdem Podium, wohl aber in seiner Funktion als Sicher-heitsbeauftragter – teilnahmen. Die von uns als Expertinbenannte Mutter aus Winnenden war an diesem Tag lei-der erkrankt.
– Alle hatten einen Waffenschein und haben in eigenerSache geredet. Dabei kam das bekannte Ergebnis heraus.Wenn Sie meine Worte auf die Goldwaage legen, danntun Sie mir leid, Herr Tören.
– Ich habe es Ihnen gerade erklärt, dass die von uns be-nannte Expertin an diesem Tag kurzfristig erkrankt war.Ihre Bewertung, dass alle diese Anhörung toll fanden,ist höchst einseitig. Das wollte ich hier festhalten.Am 14. Dezember hatten wir den Amoklauf in Con-necticut. Insgesamt 27 Menschen wurden kaltblütig er-mordet, darunter 20 Erstklässler und 6 Angestellte derSchule. Der Täter hatte sich für diese abscheuliche Tatmit drei Schusswaffen bewaffnet, die sich alle legal imBesitz seiner von ihm ebenfalls ermordeten Mutter – das28. Opfer – befanden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2013 29083
Wolfgang Wieland
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Die Waffen waren ein halbautomatisches Sturmge-wehr vom Typ Bushmaster sowie zwei Großkaliberpis-tolen der Marken Glock und Sig Sauer. Alle diese Waf-fen sind auch bei uns für Sportschützen erhältlich.Präsident Obama will sie verbieten. Ich stelle fest, FrauFograscher – es tut mir leid –: Er überholt hier die SPD-Fraktion, die diese Waffen im Handel halten will. Da-rüber sollten Sie einmal nachdenken.
Sie haben zu jedem unserer Vorschläge – wir habeneinen Strauß von Vorschlägen gemacht – gesagt: Sonicht. – Man sollte anders reagieren, sollte nur ein biss-chen eingreifen usw. Selbst den Vorschlag einer nochma-ligen Amnestie, dem alle zustimmten, haben Sie nichtaufgegriffen. Ihr Credo ist: Wir machen gar nichts. –Oder, wie Herr Tören gesagt hat: Schwarz-Gelb wirdjede Verschärfung beim Waffenrecht verhindern. – FreieBürger fordern freies Ballern. Das ist Ihr pseudoliberalesCredo. Das ist zu wenig.
– Polemisch wäre noch ganz anders.
– Die sind ähnlich aggressiv wie Sie, Herr Krestel. Dieschreiben uns schon die entsprechenden Mails jedenTag.Damit komme ich zu den kriegsähnlichen Waffen. Er-klären Sie mir doch einmal, warum ein Jäger oder werauch immer mit einer Rambo-artigen Waffe durch denWald laufen muss. Warum muss er mit einer Jagdwaffe,die wie eine Kriegswaffe aussieht, herumlaufen, wenn ernoch alle Tassen im Schrank hat? Erklären Sie mir bitteeinmal, warum wir solche Waffen überhaupt brauchenund für wen wir sie brauchen.
Nun wird immer gesagt – das ist auch richtig, und daserkennen auch wir an –, dass die Lagerung in den Schüt-zenhäusern aufwendig und nicht für alle Schützenver-eine möglich sei. Deswegen sagen wir: Dann muss ebendie Munition dort gelagert werden. Das wäre die Alter-native. Was immer zu den Amokläufen geführt hat, war,dass die Munition und Großkaliberwaffen zu Hause ge-lagert wurden, der Schrank nicht abgeschlossen war oderdie Munition und die Waffen im Schreibtisch oder sonstwo lagen. Oder der Täter, wie der junge Mann in Erfurt,war selber Sportschütze und zog los. Das müssen wir ab-stellen.Sie erklären immer nur, was nicht geht. Das wird zuder Situation führen, dass der nächste Amoklauf in die-sem Land dann zwar mit einer registrierten Waffe durch-geführt wird, aber er wird stattfinden. Dann ist die Be-troffenheit wieder groß. Diese nehme ich Ihnen ab. IhreBetroffenheit war echt, auch als die Eltern aus Winnen-den da waren. Aber Sie sind nicht bereit, auch nur eineForderung des Forderungskatalogs zu erfüllen. Das isttraurig. Ich prophezeie Ihnen: Das wird nicht das letzteWort hier in diesem Hause sein.
Ich denke, von der Richtigkeit des letzten Satzes kön-
nen wir alle ausgehen. Dieses Thema wird uns auch über
die heutigen Abstimmungen hinaus weiter beschäftigen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines
„Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes – Schutz vor
Gefahren für Leib und Leben durch kriegswaffenähnliche
halbautomatische Schusswaffen“. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/12872, den Gesetzentwurf der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7732 ab-
zulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unse-
rer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 35 b. Unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12872 emp-
fiehlt der Innenausschuss die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/2130 mit dem Titel „Mehr öffentliche Sicherheit
durch weniger private Waffen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis
90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 17. April 2013, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen für
die folgende Zeit alles Gute.