Protokoll:
10005

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 10

  • date_rangeSitzungsnummer: 5

  • date_rangeDatum: 5. Mai 1983

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:53 Uhr

Gesamtes Protokol
Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000500000
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat beantragt, die heutige Tagesordnung zu ändern und den Punkt „Einberufung einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages am 8. Mai 1983 aus Anlaß des 38. Jahrestages des Endes der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs" als Punkt 1 der Tagesordnung zu behandeln. Der Antrag ist mir am 4. Mai vor 18 Uhr vorgelegt worden. Damit ist er zulässig.
Wird dem Aufsetzen auf die Tagesordnung widersprochen? — Das ist nicht der Fall.
Ich bin unterrichtet, daß eine Kurzdebatte mit einer Redezeit von je fünf Minuten gewünscht wird.
— Dem wird nicht widersprochen.
Wer wünscht das Wort? — Herr Reents von der Fraktion DIE GRÜNEN.

Jürgen Reents (GRÜNE):
Rede ID: ID1000500100
Meine Damen und Herren! Die Fraktion DIE GRÜNEN im Bundestag hat beantragt, zu Beginn der heutigen Sitzung über unseren Antrag auf Einberufung einer Sondersitzung am 8. Mai zu beraten. Am 8. Mai ist der 38. Jahrestag des Endes der faschistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges. Wir meinen, es ist angebracht, daß der Bundestag an diesem Tag zu einer Sondersitzung zusammentritt.
Wir haben zunächst versucht, auf dem üblichen Wege eine Vereinbarung im Ältestenrat darüber herbeizuführen. Die anderen Fraktionen sind auf der Sitzung am 27. April allerdings nicht bereit gewesen, diesem Antrag zuzustimmen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

— Da können Sie ruhig klatschen. Das finde ich eher bedauerlich. — Deswegen gehen wir diesen etwas umständlicheren Weg zu beantragen, den Punkt hier heute auf die Tagesordnung zu setzen.
Der Ältestenrat hat auf seiner Sitzung am 27. April allerdings nicht nur unseren Antrag abgelehnt, sondern gleichzeitig beschlossen, eine Sondersitzung des Bundestages für den 17. Juni, den sogenannten Tag der deutschen Einheit, einzuberufen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

— Das war zu erwarten.
Man kann daraus zumindest entnehmen, daß in den Reihen der anderen Fraktionen das öffentliche und parlamentarische Nachdenken über das Ende des Faschismus in Deutschland offensichtlich als weniger wichtig angesehen wird als das Nachdenken über die Ereignisse vom 17. Juni.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Da sind wir eben anderer Meinung. Wir sind der Meinung, daß nicht zuletzt auch dieses Parlament seine Existenz der Tatsache verdankt, daß am 8. Mai 1945 der Faschismus hier zu Ende gegangen ist, und daß es deswegen eigentlich der erste Anlaß eines solchen Parlaments sein sollte, darüber genauer nachzudenken und darüber auch eine Diskussion zu führen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir finden es einigermaßen beschämend, daß überhaupt der Weg gegangen werden muß, im Bundestag erst darüber zu beraten, ob es eine solche Sondersitzung geben sollte.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der Ältestenrat findet es in seiner Mehrheit völlig unproblematisch, für den 17. Juni eine solche Sondersitzung anzusetzen, und er findet es ja auch unproblematisch, daß dieser Bundestag zu einer Sondersitzung zusammentritt, wenn Herr Reagan hier als Gast kommt,

(Beifall bei der CDU/CSU)

der hier ein Land besucht, das auf den Karten seiner Militärplaner schon längst als Atomwüste verzeichnet ist.

(Lachen bei der CDU/CSU)

— Ja, da lachen Sie. Da mögen Sie lachen. Das ist für Sie Anlaß, hier zu einer Sondersitzung zusammenzutreten, aber nicht das öffentliche Nachdenken über den Faschismus.
Vielleicht hängt das aber auch damit zusammen, daß eine Debatte über das Ende der faschistischen Herrschaft, wenn sie ernsthaft und nicht nur aus kühlem Geschichtsinteresse geführt wird, allerdings auch thematisieren würde, inwieweit der Faschismus in diesem Land tatsächlich verarbeitet ist,



Reents
inwieweit in diesem Land tatsächlich Maßnahmen getroffen und Strukturen hergestellt und Grundlagen entzogen worden sind, damit es nicht zu einem Wiedererstehen des Faschismus kommt, oder inwieweit es in diesem Land, vielleicht in letzter Zeit sogar vermehrt, wieder Einbruchstellen für den Faschismus geben kann.

(Unruhe bei der CDU/CSU)

— Seien Sie doch nicht so unruhig! Hören Sie sich das doch wenigstens an! Sie werden ja vermutlich doch gleich mit Ihrer Mehrheit diese von uns beantragte Sondersitzung niederstimmen. Deswegen können Sie ruhig mal diese fünf Minuten Zeit haben.
Der Faschismus hat — daran ist wohl zu erinnern
— nicht mit dem Mord an sechs Millionen Juden, mit dem Mord an Behinderten, an Kommunisten, an Sozialdemokraten, an Sintis und an Homosexuellen angefangen, sondern Auschwitz war nur die grausame Vollendung des Faschismus, und schon vor der Machtübernahme des Faschismus hat es bekanntlich Vorurteile gegen die Juden und Diskriminierung von Juden gegeben. Heute gibt es Diskriminierung und Vorurteile und wachsende Feindseligkeit gegen hier lebende Ausländer.

Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000500200
Herr Abgeordneter, verzeihen Sie: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Jürgen Reents (GRÜNE):
Rede ID: ID1000500300
Herr Präsident, können Sie hier nicht mal ein kleines bißchen für Ruhe sorgen?

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000500400
Ich wollte Sie zunächst fragen, Herr Abgeordneter, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stercken gestatten.

Jürgen Reents (GRÜNE):
Rede ID: ID1000500500
Ich möchte das zu Ende ausführen. Dann bin ich gern bereit, Ihnen die Möglichkeit zu geben, eine Zwischenfrage zu stellen.
Heute gibt es wachsende Diskriminierung und Feindseligkeiten gegen hier lebende Ausländer. Das ist schon schlimm genug. Aber es kann noch schlimmer kommen. Gerade deswegen ist es notwendig, diese Ereignisse in Kenntnis unserer eigenen historischen Vergangenheit bzw. der Vergangenheit dieses Landes zu sehen.
Heinrich Heine hat vor langer Zeit mal gesagt, lange bevor es den Faschismus gegeben hat: Wer Bücher verbrennt, der wird auch Menschen verbrennen. Das hat sich später im Faschismus bestätigt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wollen nun nicht mit irgendwelchen aktuellen Diskussionen dazu behaupten, daß heute in der Bundesrepublik Bücher verbrannt werden. Aber zumindest Ihnen hier ist sicherlich auch bekannt, daß erst vor wenigen Jahren ein Fraktionsvorsitzender in einem Landesparlament zu einem Gedicht von Erich Fried gesagt hat, solche Werke gehörten eigentlich verbrannt. Das ist die Aktualität, warum man darüber diskutieren muß. — Ich komme gleich
zum Ende. — Und es ist erst wenige Tage her, daß wir in der Presse lesen konnten, daß die kulturpolitische Repräsentanz der Bundesrepublik im Ausland unter der neuen CDU/CSU-FDP-Regierung wieder von solch kritischen Liedermachern wie Moßmann und Scheibner freigehalten, um nicht zu sagen: gesäubert werden soll.

(Unruhe bei der CDU/CSU)

— Daß Sie da empört sind, ist klar. Das ist ein Brief von Herrn Mertes, den er an den Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts gerichtet hat; und bei dem anderen Fall, den ich erwähnt habe, handelt es sich ja um Ihren Parteifreund, den Fraktionsvorsitzenden der Bremischen Bürgerschaft, Herrn Neumann. Deswegen ist bei der CDU ein besonderer Unwille da, über den Faschismus und darüber nachzudenken, was das heute noch an realer Bedeutung hier für dieses Parlament hat und wo dieses Parlament gefordert wäre, diese Einbruchstellen dichtzumachen.

(Anhaltende Unruhe bei der CDU/CSU)

— Nun seien Sie doch mal ein bißchen ruhiger hier! Das ist ja ganz schlimm!

(Fortgesetzte Unruhe bei der CDU/CSU — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Sie müssen sich mal hören, wie Sie schreien!)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000500600
Herr Abgeordneter, Sie haben Ihre Redezeit bereits um die Hälfte überzogen. Bei aller Großzügigkeit bitte ich Sie, bald zum Schluß zu kommen.

Jürgen Reents (GRÜNE):
Rede ID: ID1000500700
Ich kann vielleicht zum Abschluß noch zwei Sätze sagen.
Zu Ihrer Unruhe: Vielleicht liegt es auch daran, daß niemand in diesem Land heute tatsächlich sicher sein kann, daß nicht, wenn irgendwann ein neues Ermächtigungsgesetz im Parlament vorgelegt würde,

(Zurufe von der CDU/CSU)

viele aus Ihren Reihen einem solchen Gesetz wieder zustimmen würden.

(Lebhafter Widerspruch von der CDU/ CSU)

Immerhin hat auch Ernst Lemmer, der Mitbegründer der Berliner CDU, dem Ermächtigungsgesetz der Nazis damals zugestimmt und auch, wie bekannt, Theodor Heuss.
Ich bitte also darum daß Sie unserem Antrag zustimmen, am 8. Mai eine Sondersitzung abzuhalten. Dann können wir auch mal ein bißchen kontrovers die Diskussion führen, die Ihnen offensichtlich so unangenehm ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000500800
Herr Abgeordneter, der Ältestenrat hat beschlossen, am 17. Juni eine Arbeitssitzung abzuhalten. — Das Wort hat der Kollege Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1000500900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-



Dr. Schäuble
Fraktion lehnt den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN, am 8. Mai eine Sondersitzung abzuhalten, ab, und zwar nicht nur wegen der Art, wie dieser Antrag begründet worden ist.
Meine Damen und Herren, der 8. Mai 1945 ist ein einschneidendes Datum in der Geschichte unseres Volkes. Er markiert das Ende des Zweiten Weltkrieges und das Ende der Hitler-Diktatur. Er markiert aber auch den Beginn der deutschen Teilung, der Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen. Für Millionen Mitbürger symbolisiert dieser Tag das Ende des Schreckens des Krieges, das Ende der Bombennächte in den Kellern der Städte und das Ende der Angst auf den Schlachtfeldern. Für viele unserer Mitbürger brachte er das Ende der Verfolgung, das Geschenk wiedergewonnener Freiheit. Für andere brachte er das schlimme Erwachen aus Verblendung und Verführung. Für andere erinnert er an den Verlust der Heimat, lange Kriegsgefangenschaft, den Tod naher Angehöriger. Der 8. Mai 1945 hat deshalb viele Gesichter. Niemand, meine Damen und Herren, sollte ihn politisch mißbrauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Gedenken an den 8. Mai gehört allen, jedem auf seine Weise.
Es gibt — der Bundeskanzler hat davon gestern gesprochen — viele wichtige Gedenktage in unserer Geschichte. Wir, die CDU/CSU, bekennen uns zu jedem einzelnen dieser Gedenktage — zu guten Tagen unserer Geschichte und zu bösen Tagen. Wir wählen nicht aus, wir manipulieren die Geschichte nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir, der Deutsche Bundestag, können nicht jeden dieser Gedenktage mit einer Sondersitzung begehen. Der Gesetzgeber hat sich mit guten Gründen dafür entschieden, den 17. Juni als Gedenktag der deutschen Einheit zu begehen. Dabei wird es bleiben, solange es auf unsere Entscheidung mit ankommt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der 17. Juni 1953 symbolisiert den Wunsch der Deutschen, in Einheit und Freiheit zu leben und sich gegen Gewalt und Unterdrückung aufzulehnen. Und wenn Sie einen in der Hitler-Diktatur vergleichbaren Gedenktag suchen, meine Damen und Herren, sollten Sie einmal an den 20. Juli denken. Ich empfehle den Kollegen von der Fraktion der GRÜNEN, vielleicht einmal mit meinem Fraktionskollegen Franz Ludwig Graf Stauffenberg über das zu diskutieren, was unter dem Gesichtspunkt 20. Juli 1944 hier zum Thema Widerstandsrecht gestern gesagt worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Koalition der Mitte will Frieden und Freiheit sicher halten. Wir stehen dafür, daß die Demokratie und der Rechtsstaat in diesem Lande sicher bleiben. Vielleicht ist für die Fraktion der GRÜNEN der 8. Mai Anlaß, über das nachzudenken, was Sie gestern in dieser Debatte gesagt haben: Vielleicht sollten Sie unter dem Gesichtspunkt des 8. Mai darüber nachdenken, ob Sie sich wirklich als „Bewegung" bezeichnen wollen, wie Sie das gestern getan haben.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vielleicht nutzen Sie auch eine ruhige Stunde, um noch einmal über das nachzudenken, was Sie gestern hier mehrfach angekündigt haben: daß Sie, wenn Sie in diesem Parlament keine Mehrheit haben, wieder die Straße mobilisieren wollen, um den Willen der Minderheit gegen die demokratisch legitimierte Mehrheit durchzusetzen. Dies, meine Damen und Herren, wird es bei uns nie wieder geben.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000501000
Das Wort hat der Abgeordnete Hauff.

Dr. Volker Hauff (SPD):
Rede ID: ID1000501100

Ein Volk muß bereit sein, nüchtern auf seine Geschichte zu blicken; denn nur wer sich daran erinnert, was gewesen ist, erkennt auch, was heute ist, und vermag zu überschauen, was morgen sein kann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist ein Zitat aus der Rede von Bundeskanzler Willy Brandt am 8. Mai 1970. Damals haben wir eine Gedenkstunde in diesem Haus abgehalten.
Es ist richtig — und damals haben wir uns davon leiten lassen —, an das furchtbare Ende des Zweiten Weltkrieges zu erinnern und an das Unglück und das Leid, das Deutschland in diesem Krieg über die Welt gebracht hat. Es ist sicher auch richtig, der Opfer von Millionen von Frauen und Männern, von Kindern zu gedenken, in Ehrfurcht und sicher auch in Schmerz. Es ist auch richtig, sich an die Folgen dieses Krieges zu erinnern, an denen wir alle heute noch leiden, z. B. durch die deutsche Teilung. Es ist vor allen Dingen auch richtig, an einem solchen Tag danach zu fragen, was die Ursachen dieses Krieges waren, so wie wir das im 50. Jahr nach der Machtübernahme Hitlers und der Nationalsozialisten getan haben und weiter tun werden. Im Januar gab es ein Datum, im März gab es ein Datum, und für uns Sozialdemokraten wird es im Juni noch einmal ein Datum geben, nämlich das des Verbots unserer Partei.
Wir werden auch weiter fragen: Wie kam Hitler zur Macht, wer half ihm in den Sattel, und welche Kräfte haben in unserem Volk, in unserer Gesellschaft, in unserer Wirtschaft auf den Krieg hingearbeitet?, auch wenn das für den einen oder anderen peinliche Fragen sind. Wir müssen uns diesen Fragen stellen. Es sind berechtigte Fragen, es sind notwendige Fragen. Der 8. Mai ist sicher ein Anlaß, um nach Antworten zu suchen, aber bitte mit dem not-



Dr. Hauff
wendigen Ernst und nicht mit überhasteten Veranstaltungen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Es darf auch nicht der Eindruck entstehen, als ginge es dabei um Effekthascherei. Ich rate auch dringend dazu, das Thema ohne vordergründige Polemik zu behandeln, Herr Kollege Schäuble.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/ CSU: Unerhört!)

Ich denke, meine Damen und Herren, das kann auch vermieden werden;

(Anhaltender Widerspruch bei der CDU/ CSU)

denn der 10. Deutsche Bundestag hat während seiner Legislaturperiode am 8. Mai 1985 der 40. Wiederkehr des Tages zu gedenken, an dem der totale Krieg zur totalen Niederlage führte. Ich bin sicher, wir werden am 8. Mai 1985 eine Gedenkstunde abhalten, die hoffentlich in der Würde und im Ernst dem entspricht, was dieser Tag von uns allen verlangt. — Wir werden jedoch den Antrag, am kommenden Sonntag eine Sondersitzung abzuhalten, ablehnen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000501200
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.

Torsten Wolfgramm (FDP):
Rede ID: ID1000501300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Auseinandersetzung und die Beschäftigung mit dem Faschismus führen wir nicht erst seit dem Einzug der GRÜNEN in dieses Haus.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Ich darf zitieren, was der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt dazu einmal gesagt hat:
Wir haben inzwischen die Jahre der Finsternis nicht verdrängt, sondern wir haben diese Epoche unserer Geschichte in einem oft schmerzvollen Prozeß unseres Bewußtseins geklärt. Und ich setze hinzu: Wir werden sie weiter klären und werden uns weiter damit beschäftigen.
Herr Kollege Reents, es ist auch schwierig, sich zum Kronzeugen in einer Sache aufzuwerfen, wenn man selbst im Jahre 1949 geboren ist und den 8. Mai 1945 mit seinem Elend für Millionen Deutsche unmittelbar selbst nicht erlebt hat.

(Zuruf von den GRÜNEN: Sie feiern doch auch Luther und haben Luther nicht erlebt!)

Hier in diesem Hause sitzen viele, die es am eigenen Leibe erlebt haben. Ich meine, wir dürfen diesen wohl den ihnen zukommenden Respekt zollen.
Wir werden die starke Demokratie, die wir auf dem Boden der freiheitlichsten Verfassung als
Folge des 8. Mai 1945 aufgebaut haben, weiter stärken. Dazu gehört weiter die Auseinandersetzung mit Radikalen von links oder von rechts. Wir wollen und werden die Auseinandersetzung mit dem Faschismus aber nicht rückwärts, sondern nach vorn gerichtet führen. Deswegen ist der 8. Mai 1945 für uns nicht geeignet, ihn an diesem Sonntag zu einem besonderen Tag zu machen.
Die Freien Demokraten lehnen Ihren Antrag ab.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000501400
Meine Damen und Herren, das Wort wird nicht gewünscht. Der Antrag liegt vor; wir kommen zur Abstimmung.
Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Bei wenigen Enthaltungen ist der Antrag abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wir kehren nun zu Punkt 2 der Tagesordnung zurück und fahren fort in der
Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung
In unser aller Interesse an einer lebendigen Debatte verweise ich in diesem Augenblick nur auf die §§ 33, 34 und 35 unserer Geschäftsordnung.
Erster Redner ist Herr Kollege Althammer. Ich erteile ihm das Wort.

Dr. Walter Althammer (CSU):
Rede ID: ID1000501500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung in der Finanzpolitik die Wende bestätigt, die bereits in den Koalitionsvereinbarungen und in Maßnahmen des ersten Kabinetts Helmut Kohl eingeleitet worden war. Der neue SPD-Oppositionsführer hat sich in seiner umfangreichen Eröffnungsrede nur sehr am Rande mit der Finanz- und Haushaltspolitik beschäftigt. Möglicherweise wollte er nicht an die katastrophale Situation erinnern, die die SPD-geführte Regierung zu Ende des vergangenen Jahres unserem Lande hinterlassen hat.

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich möchte aber zwei Punkte, die er angesprochen hat, hier noch einmal aufgreifen. Kollege Vogel hat betont, daß er auf einen Abbau der Subventionen dränge. Einen Absatz später hat er gefordert, daß für Kohle, Stahl und Werften etwas getan werden müsse. Aber Hilfen für diese Bereiche, so notwendig sie sind, Herr Kollege Vogel, heißen mit einem lateinischen Wort eben Subventionen. Sie ersehen daraus, wie schwierig dieses Problem ist.
Eine zweite Forderung von Herrn Vogel geht dahin, eine Gemeindefinanzreform durchzuführen. Kollege Vogel weiß natürlich selbst, daß dies ein sehr langwieriges Unternehmen ist. Ich darf aber darauf verweisen, daß die neue Bundesregierung mit einem Mißstand Schluß gemacht hat, der bei der alten Regierung zu beklagen war, nämlich daß man durch Gesetze verursachte Kosten auf die Län-



Dr. Althammer
der und Gemeinden einfach abgewälzt hat, ohne sich um die Finanzierung zu kümmern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die neue Regierung hat in ihrem Sofortprogramm trotz der schwierigen Finanzlage auch den Ländern und Gemeinden sofort entsprechende weitere Zuwendungen geleistet. Wir sind uns, Herr Kollege Vogel, natürlich klar darüber, daß die finanzpolitisch katastrophale Erbschaft, die im letzten Jahr hinterlassen worden ist, nicht nur den Bund, sondern ganz besonders auch die Gemeinden und Länder betroffen hat.
Diese beiden ersten Schritte zur Gesundung der Staatsfinanzen, nämlich die Durchführung eines Sofortprogrammes und eine Neufestsetzung des Bundeshaushalts 1983, haben Gott sei Dank bereits positive Auswirkungen gezeigt. Diese positiven Auswirkungen liegen nicht nur in der psychologisch verbesserten Situation, daß unser Volk und unsere Unternehmer wieder Mut gefaßt haben, sondern sie liegen auch darin, daß hier ganz klar der Weg aufgezeigt worden ist, wie man aus der Finanzmisere herauskommt.
Ich möchte mich aber mit einem Dilemma beschäftigen, das die wissenschaftlichen Forschungsinstitute unserer Wirtschaft in ihrem jüngsten Gutachten aufgezeigt haben. Die Forschungsinstitute haben nicht nur den positiven Trend festgestellt; man soll auch nicht verschweigen, daß sie natürlich auch kritische Anmerkungen gemacht haben.
Die Institute fordern — erstens — einen zügigen Abbau der Steuerbelastungen und — zweitens — eine Aufstockung der staatlichen Investitionen. Beides sind absolut berechtigte Forderungen, nur würde ihre sofortige Realisierung voraussetzen, daß wir geordnete Staatsfinanzen haben, und genau die haben wir nicht. Darum hat die Bundesregierung — wie ich glaube, zu Recht — der Konsolidierung unserer Staatsfinanzen höchste Priorität beigemessen. Das hat die allerhöchste Priorität!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn auf diesem Weg Erfolge erreicht sind, müssen wir an die anderen Punkte herangehen.
Was das Steuerprogramm anbelangt, so hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung noch einmal unterstrichen, daß das Mehraufkommen aus der Umsatzsteuererhöhung selbstverständlich so wie zugesagt zurückgegeben wird.

(Dr. Spöri [SPD]: Wohin?)

— Zu dem Punkt komme ich gerade. — Es ist unser Anliegen, das Anliegen der Fraktion der CDU/CSU, daß bei der Rückgabe dieser Steuermehraufwendungen insbesondere auch der Mittelstand berücksichtigt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Spöri [SPD]: Ein Witz!)

Wir haben in der letzten Zeit so viel Lobendes über den Mittelstand und das Handwerk gehört, darüber, wie er die Krise bewältigt hat; wir haben auch gehört, welche Opfer er zu erbringen hat, die mit der Vielzahl der Konkurse zusammenhängen, so daß es
Zeit ist, gerade diesen wichtigen Zweig unserer Wirtschaft dabei besonders zu berücksichtigen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Hauser [Krefeld] [CDU/CSU]: Vogel hat ihn gestern auch wieder gelobt! — Weitere Zurufe)

— Ich darf auf den Zwischenruf vielleicht noch eines sagen: Dieses dumme und demagogische Gerede von einer Umverteilung von unten nach oben wird j a auch durch die Forderung der Wirtschaftsinstitute widerlegt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir die Unternehmen durch Steuerentlastungen stärken wollen, Herr Westphal, dann bedeutet das, daß wir damit dafür sorgen wollen, daß diese Unternehmen wieder investieren können und daß damit Arbeitsplätze geschaffen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn 16 000 Konkurse im vergangenen Jahr bedeuten auch den Verlust einer Vielzahl von Arbeitsplätzen. Sie kennen j a auch den Rückgang der Eigenkapitalausstattung unserer Wirtschaft von 30 % über 25 % bis jetzt auf 20 %. Dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn die bestgemeinten Maßnahmen letztendlich nicht greifen.
Die weiteren Steuersenkungspläne, die auch vorgetragen worden sind — aus Zeitgründen verweise ich auf das, was Staatssekretär Häfele vor dem Steuerberaterkongreß im einzelnen dazu ausgeführt hat —, also Korrektur des Einkommen- und Lohnsteuertarifs, Absenkung der Steuerlastquote, weiterhin eine Verbesserung des Familienlastenausgleichs und eine Förderung der Vermögensbildung, stehen unter dem Vorbehalt der Sanierung der Staatsfinanzen.

(Abg. Dr. Spöri [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Präsident, wegen der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit kann ich Zwischenfragen leider nicht zulassen. Ich würde es sonst sehr gerne tun.

(Dr. Spöri [SPD]: Der Hauptredner hat so wenig Zeit?)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden auf dem Sektor der Vermögensbildung sicher sehr schnell Maßnahmen ergreifen müssen. Ich sage das gerade an dem Gedenktag des Todes von Professor Ludwig Erhard, der auf diesem Gebiet wie auch auf anderen Gebieten bahnbrechend war.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Der zweite Bereich, in dem die neue Regierung einen schweren Weg vor sich hat, ist der Bereich des Bundeshaushalts. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung die Eckdaten zum Bundeshaushalt 1984 und zur mittelfristigen Finanzplanung noch einmal bekräftigt, die j a bereits in der Koalitionsvereinbarung enthalten sind. Ich darf für die Fraktion der CDU/CSU dem Herrn Bundeskanzler und der Bundesregierung versi-



Dr. Althammer
chern, daß unsere Fraktion seine Bemühungen zur Sanierung des Bundeshaushalts mit vollem Nachdruck unterstützen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir gehen natürlich davon aus, daß die Leute, die uns dieses Dilemma hinterlassen haben, auch in der Zukunft versuchen werden, auf diesem steinigen Weg, der hier zu gehen ist, noch weitere Steine in den Weg zu legen.
Herr Kollege Vogel, weder Ihre früheren Auslassungen noch das, was Sie gestern gesagt haben, deutet darauf hin, daß Sie und Ihre Fraktion bereit sind, von diesen überkommenen Rezepten, die Sie 13 Jahre lang mit größtem Mißerfolg angewendet haben, endlich abzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vielleicht besteht die Hoffnung, daß Sie sich wie viele Repräsentanten in der Wirtschaftswissenschaft hier nun doch zu einem anderen Kurs bekennen könnten. Jedenfalls haben die bereits ergriffenen Maßnahmen und die Ankündigung der weiteren Sanierungsmaßnahmen erreicht, daß mehrmals Zinssenkungen vorgenommen werden konnten und daß damit die Deutsche Bundesbank einen weiteren Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung leisten konnte. Wir haben die Erfahrung gemacht: Die Gesundung der Staatsfinanzen ist eine Grundvoraussetzung für die Einleitung und die solide Weiterführung eines wirtschaftlichen Aufschwungs.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein ganz schwieriges Kapitel wird natürlich eine realistische Weiterführung der mittelfristigen Finanzplanung sein. Es ist schon etwas merkwürdig, wenn sich ausgerechnet die Leute, die uns im vergangenen Jahr einen ungedeckten Fehlbedarf von 52 Milliarden DM hinterlassen haben, beschweren, daß in diesem Haushaltsjahr 1983 eine Schuldenaufnahme von 40 Milliarden DM notwendig war.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dessen ungeachtet werden wir uns bemühen, die Neuverschuldung für das nächste Jahr unter die Grenze von 40 Milliarden DM zu senken.

(Walther [SPD]: Ungeheuer! — Zuruf von der SPD: Das ist eine große Leistung!)

Ich möchte dem Herrn Bundesfinanzminister etwas mit auf den Weg geben: Es wäre gut, wenn es gelänge, in der mittelfristigen Finanzplanung ab dem Jahr 1985 die jährliche Neuverschuldung um den runden Betrag von 5 Milliarden DM abzusenken.

(Dr. Vogel [SPD]: Da wird er aber froh sein, wenn er das jetzt weiß!)

— Herr Kollege Vogel, Sie können beruhigt sein, das ist natürlich schon vorher erörtert worden.

(Dr. Vogel [SPD]: Ach so!)

Wir hoffen, daß Sie sich daran beteiligen werden,
diese Verschuldung abzusenken. Sie hätten hier sogar einen Wiedergutmachungsbedarf zu befriedigen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Glos [CDU/ CSU]: Der weiß doch gar nicht, was eine Milliarde ist! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Weil hier aber eine Reihe von Rezepten ganz anderer Art angepriesen wird, möchte ich eines in aller Deutlichkeit klarstellen: Eine Inflationsentwicklung wird für uns kein Weg zur Sanierung der Staatsfinanzen sein. Wir haben noch gut in Erinnerung, was Professor Karl Schiller — der war auch einmal Finanzminister — zu diesem Komplex der Inflationsentwicklung sagte. Er sprach von einer Droge, die zuerst high mache und dann Katzenjammer hervorrufe. Aber was viel wichtiger ist: Alle Rezepte, die im Endergebnis zu einer Anheizung der Inflation führen würden, würden eine Umverteilung von unten nach oben bedeuten, weil nämlich die Leute, die nur ihre Lohn- und Einkommensteuer zu zahlen haben und keine großen Sachwerte haben, niemals einen Vorteil, sondern immer nur Nachteile von der Inflation haben.

(Dr. Spöri [SPD]: Wer will denn Inflation? Das ist doch ein Popanz! Die Inflationsrate ist doch schon gesunken, bevor Sie die Regierung übernommen haben!)

— Sie sollten sich einmal die Zahlen angucken. Es ist uns gelungen, die Inflationsrate nicht nur — wie zu Ihrer Zeit — von 6 % auf 5 % zu senken. Wir haben den großen Erfolg zu verzeichnen, daß die Inflationsrate jetzt bei 3 % liegt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Weitere Zurufe von der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie können so viele Umverteilungsprogramme entwikkeln, wie Sie wollen; durch die Absenkung der Inflationsrate haben wir sozialpolitisch mehr geleistet, als Sie bei einer Inflationsrate von 6% je leisten konnten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich darf darauf hinweisen, daß eine exorbitante Staatsverschuldung, die Verzinsungs- und Tilgungspflichten von 30 bis 50 Milliarden DM pro Jahr bedeutet,

(Walther [SPD]: 40 Milliarden hatten wir nie!)

ebenfalls eine extrem unsoziale Komponente hat. Die Leute nämlich, die Staatstitel kaufen können und damit die Zinserträge einstreichen, sind nicht diejenigen, die in erster Linie die Schuldzinsen durch Steuern zu finanzieren haben. Auch darin liegt ein ungeheuer unsozialer Effekt. Wenn wir Staatschulden abbauen, leisten wir zugleich einen Beitrag zu einer besseren sozialen Struktur.

(Walther [SPD]: Wo bauen Sie denn Staatsschulden ab, Herr Althammer? — Weiterer Zuruf von der SPD: Sie bauen sie auf!)




Dr. Althammer
— Herr Kollege Walther, wir können über dieses Thema dann reden, wenn wir die mittelfristige Finanzplanung vorgelegt haben.

(Zuruf von der SPD: Wann liegt die denn vor?)

Eines jedenfalls ist klar: Unser Volk hat am 6. März so gewählt, weil es mit Ihrer Finanz- und Schuldenpolitik eben nicht mehr einverstanden war.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es herrscht nun ein großer Streit darüber, welche Prognosen für die kommenden Jahre die richtigen sind. Die Prognosen, die die Bundesregierung vorgelegt hat, werden von verschiedenen Seiten bezweifelt. Nun, ich kann unserem Bundesfinanzminister nur raten, bei künftigen Prognosen, auf die sich Steuereinnahmeerwartungen stützen, eine Vorsicht walten zu lassen, die man bisher nicht hat walten lassen.

(Glos [CDU/CSU]: Sehr begründet!)

Bei der SPD sitzen vier ehemalige Bundesfinanzminister, die mir vielleicht bestätigen könnten, welche großen Schwierigkeiten es mit sich gebracht hat, wenn zum Jahresanfang immer hohe Raten prognostiziert und positive Erwartungen geäußert worden sind, die sich hinterher nicht erfüllt haben, wenn die erwarteten Steuern nicht eingegangen sind und das Defizit dann durch Neuverschuldung abgedeckt werden mußte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich empfehle unserer Bundesregierung, mit solchen Prognosen vorsichtig zu sein und sich an eine Erkenntnis von Fritz Schäffer zu erinnern, der sich immer darüber klar war: Die beste Reservekasse des Bundesfinanzministers sind höhere Steuereingänge, als sie vorher prognostiziert waren.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mehrheit dieses Parlaments hat mit der Sanierung der Staatsfinanzen einen schweren Weg vor sich. Auf der Grundlage des Vertrauens, das sie der neuen Regierung gegeben hat, erwartet unsere Bevölkerung, daß dieser schwere und oft auch unpopuläre Weg gegangen wird. Ich darf dem Herrn Bundeskanzler und der Bundesregierung namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion versichern, daß wir diesen Weg einer realistischen und sparsamen Sanierungspolitik mitgehen werden. Wir werden uns darüber hinaus bemühen, als Fraktion eigene Beiträge in diesem Sinne zu leisten. Wir sind aber davon überzeugt, daß die neue Bundesregierung die finanzpolitische Wende, die sie eingeleitet hat, auch in diesem Jahr und in den nächsten Jahren erfolgreich weiterführen wird. — Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000501600
Das Wort hat der Kollege Hoffmann (Saarbrücken).

Hans-Joachim Hoffmann (SPD):
Rede ID: ID1000501700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Althammer, ich habe mich angestrengt, Ihnen genau zuzuhören, um herauszufinden, welche neuen Aspekte nun in die Politik hier eingeführt würden, damit wir endlich wissen, wo es langgeht. Ich habe zugehört und zugehört und, siehe da, es war nichts. Ich kann nur sagen: Auch für Ihre Rückkehr in die Haushalts- und Finanzpolitik nach langer Abwesenheit gilt leider: Sie sind ausgerutscht, und they never come back.

(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU)

Wenn Sie auf diese Art und Weise versuchen wollen, die vor uns liegenden Probleme griffig zu machen, kann ich nur sagen, dann hätten Sie sich heute morgen besser nicht gemeldet. Das war kein Beitrag.
Sie haben Beschwörungsformeln gebracht, Sie haben mehrfach „Mittelstand" ausgerufen, ohne irgend etwas dazu zu sagen. Sie haben Finanzplanung und mittelfristige Finanzplanung erklärt. Wir versuchen die ganze Zeit, Sie zu bitten, endlich einmal „Butter bei die Fische" zu tun und auf den Tisch zu legen, was Sie wirklich wollen.

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Die Begriffe sollten Ihnen langsam schon geläufig sein! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Sind Sie einmal so gut und hören mir zu! Auch ich habe Ihnen gestern zugehört. Sie machen den Mund so schnell auf, daß Sie gar nicht so schnell gedacht haben können.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Ich habe mir überlegt, ob vielleicht auch etwas an der Formulierung des Aufschwungs dran ist; aber ich habe den Eindruck, die Arme werden Ihnen ganz schön lang. Sie brauchen sich nur die Daten der Auftragseingänge und die Arbeitslosenzahlen anzusehen.
Nun komme ich auf ein wörtliches Zitat von Herrn Althammer. Er sagt, es sei ein dummes und demagogisches Gerede von der Umverteilung von unten nach oben, denn Investitionen schafften Arbeitsplätze. Du lieber Gott! Wie lange wollen wir denn die alten Kamellen hier vor uns hinpredigen, bis wir wirklich alle von dem Unsinn überzeugt sind? Wer glaubt denn bei nicht vorhandenem Wirtschaftswachstum wirklich noch, daß die einfache Formel gelte, wenn man investiere, schaffe man damit automatisch Nachfrage und damit würden auch die Arbeitsplätze gesichert? Solche ollen Kamellen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik können Sie von mir aus Ihrer Verwandschaft erzählen, aber nicht als Strategie hier im Deutschen Bundestag vortragen.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich nehme jetzt einmal, damit Sie wissen, wie seriös man zitieren kann, das sogenannte Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei heraus.

(Klein [München] [CDU/CSU]: Das ist unglaublich nach dem Quatsch, den Ihr hinterlassen habt!)




Hoffmann (Saarbrücken)

— Da Sie dazwischenschreien, will ich Ihnen einmal etwas sagen. Ich habe es gestern als ausgemacht peinlich empfunden, wie Sie hier auf Vorstellungen reagiert haben, die auch ich nicht teile. Das geschah in einer chauvinistischen Art, die mir in diesem Hohen Haus selten aufgefallen ist.

(Beifall bei der SPD — Klein [München] [CDU/CSU]: Anbiederei bei den GRÜNEN — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Haben Sie wenigstens so viel Anstand, mir zuzuhören in der kurzen Redezeit, die ich hier heute morgen habe!

(Klein [München] [CDU/CSU]: Quatsch reden! Das ist Stuß, was Sie reden!)

— Selbst wenn Sie „Stuß" sagen, will ich etwas aus dem sogenannten Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei, nämlich dem „Handelsblatt", vom heutigen Tage zitieren.

(Kolb [CDU/CSU]: Das ist eine Beleidigung für die Zeitung!)

Da steht unter dem Stichwort „Regierungserklärung: Ein Generalisten-Stück":
Helmut Kohl hätte besser daran getan, seinen Ruf, ein Generalist zu sein, weniger deutlich zu bestätigen. Was nützt die schönste Menükarte, wenn der Kellner nur blanke Teller serviert? Kohl hat die nach der mageren Koalitionsvereinbarung ohnehin geringen Erwartungen zum Schlechten hin übertroffen: Der Mangel an Präzision und politischem Mut dieser Regierungserklärung schafft mehr Verdruß als Vertrauen. An zu vielen Stellen packt der Bürger in Watte, verbergen sich hinter der Erneuerungsrhetorik politische Leerstellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das „Handelsblatt" das schreibt, so ist das unverdächtig, da man ihm sicher nicht vorwerfen kann, es würde es darauf anlegen, eine Politik zu vertreten, die Unruhe, Erneuerung in „schlimme" Richtungen betriebe. Nein, im Gegenteil, hier argumentiert ein Blatt, das Ihnen in der politischen Argumentation sicher näher als uns steht.
Nun habe ich mir gedacht, daß es eine Debatte über die Regierungserklärung ist. Was heißt „Regierungserklärung"? Darin ist das Wort „klären" enthalten, d. h. dies soll eine Regierungsklärung der zukünftigen Arbeit für etwa vier Jahre sein. Das ist der Anspruch dieses Begriffes. Wenn man sich die ganzen Blätter, die gestern vom Herrn Bundeskanzler hier vorgetragen sind, vornimmt und sie analysiert, dann fällt plötzlich auf, daß es kaum etwas zu analysieren gibt. Man muß also zum Kunstgriff der Wünschelrute greifen. Man geht damit quasi darüber und versucht festzustellen, ob irgendwo eine Wasserader ist.

(Beifall bei der SPD)

Plötzlich zuckt es, und man stellt fest: Tatsächlich, da steht etwas.

(Klein [München] [CDU/CSU]: Bei euch hat es nie gezuckt!)

„Subventionen" steht da. Man denkt, daß da, wenn es zuckt, eine Wasserader sein muß, und man fragt sich, was er nun sagt. Da ist aber Fehlanzeige, denn genau bei dem Thema, zu dem Sie hier von diesem Pult immer mit großem Ernst vorgetragen haben, daß Sie die Subventionen um 5 oder 10 % kürzen würden,

(Dr. Spöri [SPD]: Vor einem Jahr noch!)

stellt sich plötzlich heraus, daß Sie in dem Moment, wo Sie wirklich zeigen sollen, was Sie können, nichts weiter als Wortblasen und Worthülsen bringen.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Das kann keine Politik sein.
Damit Sie nicht die Möglichkeit haben, noch bis am Freitagmittag um 13 Uhr hier vorne hinzukommen und das zu wiederholen, was der Herr Althammer gesagt hat, fordere ich Sie auf, hier endlich einmal zu konkreten Punkten Stellung zu beziehen.

(Beifall bei der SPD)

Und da sage ich Ihnen folgendes. Wenn Sie von 40 Milliarden Defizit sprechen — ich streite mich doch mit Ihnen nicht darum, ob das 40,2 oder 39,8 Milliarden sind —, verlange ich von Ihnen, daß Sie endlich das machen, was sich gehört: daß Sie die Risiken aufzeigen, die da sind. Ich greife nur einmal ein paar heraus. Dann wird sich nämlich Ihre ganze Phantasie von mittelfristiger Finanzplanung aufweichen.
Beispielsweise: Sie haben in all den Vorlagen, die wir bisher von Ihnen kennen, völlig falsch einkalkuliert, welche Mindereinnahmen sich bei der Investitionsanleihe ergeben. Dort haben Sie nach unseren Schätzungen einen Fehlbedarf von mindestens 200 Millionen DM.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Sie sind im Bereich der Bürgschaften in einer Situation, wo Sie eigentlich einen Betrag zwischen 150 und 500 Millionen zusätzlich kalkulieren müßten auf Grund der weltwirtschaftlichen und internationalen Bedingungen. Sie haben im Bereich des Zuschusses an die Bundesanstalt für Arbeit zu geringe Beträge eingesetzt. Nach der schon jetzt erkennbaren Entwicklung der Arbeitslosenzahl, die sich nur konjunkturell bewegt, aber nicht strukturell, müßten Sie ungefähr 2 Milliarden DM mehr einsetzen, wenn Sie seriöse Haushaltspolitik betreiben wollten.
Ich sage dies alles, damit Sie nicht eine Debatte weiterführen, bei der Sie nicht einmal gezwungen sein wurden, konkrete Aussagen zu machen. Da auch der Herr Bundeskanzler da ist, möchte ich ihn bitten: sagen Sie doch mal nicht nur Sprechblasen zur EG-Politik, sondern sagen Sie konkret, was Sie bis zur Mitte des Jahres auch mit den EG-Finanzen machen wollen.

(Beifall bei der SPD)

Wo ist denn irgendeine Aussage dazu, welche Risiken da auf uns zukommen? Ich behaupte, daß wir
allein bei der Agrarfinanzierung ein Finanzrisiko



Hoffmann (Saarbrücken)

zwischen 250 Millionen bis 1 Milliarde DM haben werden. Alle diese Zahlen sind bei Ihnen natürlich nicht berücksichtigt. Nein, statt dessen haben Sie großartig verkündet, Sie hätten schon neue Finanzierungsmöglichkeiten für die fortgeschrittenen Reaktorlinien. Sie werden sich wundern, welche Folgekosten weiter auf Sie zukommen. Eigentlich müßten Sie aus den leidvollen Erfahrungen, die Sie mit uns in der Vergangenheit gemacht haben, gelernt haben. Ich sage nicht nur, daß es energiepolitisch zweifelhaft ist, was dort passiert. Sie sind auch in der ganzen Zielansprache auf vier Jahre Finanzpolitik unseriös bis ins Kreuz.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Der nächste Fehler: Sie haben überhaupt nichts dazu gesagt, was als Finanzforderung der Amerikaner für Stationierungskosten auf dem Tisch liegt. Da liegt die Stoessel-Demarche auf dem Tisch. Die können Sie sich durchrechnen. Wenn Sie die Stoessel-Demarche insgesamt nehmen, kommen Sie auf Beträge von mehreren Milliarden, die Sie noch auf Jahresraten aufteilen müßten. All das steht nicht drin. Statt dessen sagt der Herr Althammer, er gebe dem Herrn Finanzminister mit auf den Weg,

(Lachen bei der SPD)

von 40 Milliarden jeweils 5 Milliarden jährlich herunterzugehen Meine Damen und Herren, Sie haben bis heute nicht begriffen, daß es einen umgekehrten Zusammenhang mit der Einsparung gibt: daß wir nämlich höhere Verschuldung zwangsläufig einkassieren, wenn Sie auf der anderen Seite Arbeitslosigkeit durch massive Einsparungen im investiven Bereich erzeugen. Das tun Sie.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, zu einem speziellen Thema nichts zu sagen.

(Fortgesetzte Zurufe von der CDU/CSU)

Aber da ich heute morgen — wie Sie sicher auch — ein weiteres Blatt gelesen habe, das uns natürlich besonders nahesteht, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", stelle ich hier auch etwas finanziell Risikoreiches fest.

(Zuruf des Abg. Glos [CDU/CSU])

— Herr Glos, Ihnen wird das Wort noch im Hals steckenbleiben, wenn Sie das zu verantworten haben, was hier steht.
Da verlautet beispielsweise aus der Nähe des Herrn Ministers Dollinger folgendes.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Der diskutiert in seinem Hause darüber, wie er die riesigen Finanzrisiken im Bereich der Bundesbahn bewältigen kann. Da diskutieren wir gerne mit. Ich will diese Diskussion zwar heute nicht führen, aber ich zitiere Ihnen einmal, wie hier in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", aus der Nähe des Herrn Ministers:
„Wenn dieses Papier
— es dreht sich um ein Papier von Herrn Finanzminister Stoltenberg; deshalb wäre es gut, er käme
nachher hier her und würde mal erklären, was er denn meint —
praktische Politik wird, können wir die Tore bei der Bahn schließen", heißt es unverhohlen in der Umgebung von Minister Dollinger. Das Papier sei nicht offiziell und könne lediglich eine Wunschvorstellung Stoltenbergs beschreiben, über die man jedoch verhandeln müsse.
Ich fordere Sie auf, Herr Finanzminister: stellen Sie sich hier hin, wenn hier eine Regierungserklärung zu vertreten ist — auf vier Jahre —, und erklären Sie, wo der Schwerpunkt der Investitionen im Verkehrsbereich ist,

(Beifall bei der SPD)

ob er im öffentlichen Nahverkehr liegt, ob er bei der Bundesbahn liegt, ob er in der Betonierung liegt oder wo er denn liegen soll. Sie müssen hier doch Aussagen zur Sache machen. Sie können nicht mit zwei Stunden Getöse ein Vierjahresprogramm vortragen, ohne daß überhaupt ein greifbarer Punkt vorhanden ist.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Sie sind ohne jedes Konzept gekommen.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Wenn Sie den letzten Sprechentwurf des Bundeskanzlers mit seiner tatsächlich vorgetragenen Rede vergleichen, werden Sie ein paar Punkte finden, die hochinteressant sind. Es fehlt beispielsweise, Herr Bundeskanzler, in Ihrer vorgetragenen Rede das, was in Ihrem letzten Redeentwurf über die Abgabenbelastung steht. Warum fehlt das? Nach dem Redeentwurf haben Sie sich darüber beklagt, die Abgabenlast sei so drückend, daß man nichts mehr hinzutun dürfe. Das haben Sie schnell gestrichen. Warum? — Weil das einen Zusammenhang mit der Rentendiskussion hat. Sie wollen hier nicht sagen, wie es mit der Rente aussieht. Aber Sie haben sich die große Tür in der Weise offengelassen, weil Sie genau wissen: Hier kommt eine Abgabenverschärfung. Sie wollen heute nicht die Wahrheit sagen. Das ist der Inhalt dieser Politik.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben die Passage über die Schädlichkeit der Subventionen gemildert. Ich will an anderer Stelle gern mit Ihnen über verschiedene Subventionen diskutieren, aber dieses Beispiel zeigt, daß Sie nicht imstande sind, auch nur über zwei Jahre darüber nachzudenken, wie man denn die Subventionen in den Griff bekommt. — Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000501800
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe, für den seine Fraktion eine Redezeit von 30 Minuten beantragt hat.

Hans-Günter Hoppe (FDP):
Rede ID: ID1000501900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Hoffmann wird es mir nachse-



Hoppe
hen, wenn ich zu Beginn meiner Ausführungen noch ein Wort zur Koalition sage —

(Zuruf von der SPD: Zu welcher?)

nicht nur zum Innenleben; denn das würde den Sinngehalt nicht richtig treffen.

(Zuruf des Abg. Roth [SPD])

„Wir haben den Wahlkampf geführt für die Erneuerung des Mandats dieser Bundesregierung. Ich schließe ausdrücklich jeden ein, der dieser Bundesregierung angehört, als Partner." So konnte man es vom Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker auf dem CDU-Landesparteitag in Berlin am 15. Januar 83 vernehmen.
Nach der Erneuerung und nach der vom Bundeskanzler abgegebenen Erklärung über den Inhalt der Politik der neuen Koalition gibt es für alle Partner gute Gründe, sich diese Äußerung mit besonderem Nachdruck zu eigen zu machen.
Richard von Weizsäcker fuhr auf dem Parteitag, also noch vor der Wahl, fort:
Es ist ja völlig legitim, daß eine Partei für sich allein Wahlkampf führt und um die absolute Mehrheit kämpft. Aber das schließt doch nicht aus, daß wir alle miteinander wissen, daß nach unserem Wahlsystem die absoluten Mehrheiten nicht die Regel, sondern die Ausnahmen sind. Und wenn das so ist, dann ist es nicht eine Frage des persönlichen Ärgers oder Gefühls, sondern eine Frage des verantwortlichen Denkens, wie es langfristig in der Bundesrepublik Deutschland nach unserem Wahlrecht weitergehen soll, daß man den Koalitionspartner in der Weise fair behandelt, daß er auch in der Lage bleibt, mit einem zu arbeiten.

(Beifall bei der FDP)

— Ein fürwahr zu beherzigender Rat, auch und gerade nach der gewonnenen Wahl. Das Vertrauen der Wähler, ist sonst schneller verspielt als Hoffnungen erfüllt.

(Hört! Hört! bei der SPD — Zuruf des Abg. Conradi [SPD])

Meine Damen und Herren, mit Holzhacken soll gemeinhin gespalten und gespänt werden. Das ist eine für den Umgang in der Politik nicht zu empfehlende Methode, jedenfalls dann nicht, wenn und solange Koalitionen eine Zugewinngemeinschaft bleiben sollen.

(Beifall bei der FDP)

Dies gilt für Sach- wie für Personalentscheidungen gleichermaßen.

(Dr. Vogel [SPD]: Hört! Hört! Zimmermann!)

Die Koalitionsparteien sollten ihre Zusammenarbeit nach Form und Inhalt nicht so gestalten, wie Richard von Weizsäcker die Endzeit der sozialliberalen Koalition analysiert hat: „Am Ende von 13 Jahren hatte die SPD ihren inneren Zusammenhalt verloren, sie hatte sich ihrem Koalitionspartner entfremdet". Der deutschlandpolitische Fehlstart sollte jetzt Lehrgeld genug sein.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zeigen wir, daß die Koalition besser ist als ihr in den letzten Wochen unnötig angekratzter Ruf.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Die Regierungserklärung jedenfalls gibt Mut und Hoffnung.
Trotz der herausragenden Bedeutung der Außen-, Deutschland- und Sicherheitspolitik bleibt nun einmal — damit komme ich jetzt auf den Diskussionsbeitrag der Opposition, des Kollegen Hoffmann — die Wirtschafts- und Finanzpolitik Dreh- und Angelpunkt, ja sie bleibt unsere Schicksalsfrage. Die hohe Zahl der Arbeitslosen zwingt zum Handeln.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Eine wirksame Beschäftigungspolitik ist gefragt. Aber was ist das?

(Lachen bei der SPD)

„Politik bedeutet ein starkes, langsames Durchbohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich" — mir scheint, dieser klassische Satz von Max Weber ist aktueller denn je. Wir alle haben in einer schwierigen politischen Phase der Bundesrepublik Deutschland Anlaß, selbstkritisch zu sein.
Es geht um die Bewährung unserer demokratischen Ordnung, um die Beweisführung, daß die Soziale Marktwirtschaft auch für Schlechtwetterzeiten taugt, und um den Befähigungsnachweis des Deutschen Bundestages, auf die kritische Lage in Wirtschaft und Gesellschaft mit praktischer Vernunft und befriedender Umsicht reagieren zu können. Die Diskussion über die richtige Wirtschaftspolitik und die Suche nach Entscheidungen, die den Aufschwung stabilisieren und damit endlich auch auf dem Arbeitsmarkt positiv durchschlagen, verlangen jedenfalls das Eingeständnis, daß die Erfolgsrezepte dafür rar geworden sind.
Bei unserer Debatte geht es allerdings häufig seltsam vollmundig zu. Auch der Beginn unseres Dialogs könnte deshalb vielleicht so beschrieben werden: Die Regierung ist gut und im Aufbruch, die Opposition ist und war schon immer besser. Bei soviel glanzvoller Tradition und geballter Qualität bleibt es allen ein Rätsel, warum es in unserer Gesellschaft so quietscht und klemmt. Ein wenig mehr Bescheidenheit könnte uns alle zieren. Wer sich nicht stärker, als ohnehin schon geschehen, von den Menschen und ihren Nöten entfernen will, sollte es in der Tat schlichter angehen lassen.
Um bei der Lösung der schier erdrückenden finanz- und wirtschaftspolitischen Probleme den richtigen Kurs zu halten, sollten wir uns auf die Grundlagen und Zielkräfte unserer freiheitlichen Ordnung besinnen. Es gilt, die Beschäftigungskrise zu überwinden, das soziale System in seiner Sub-



Hoppe
stanz zu erhalten und die Staatsfinanzen zu sanieren.

(Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

Kein Zweifel, nach einer drei Jahre andauernden Schwächeperiode der Wirtschaft steht unsere marktwirtschaftliche Ordnung in ihrer Bewährungsprobe. Ich zitiere dazu aus der Denkschrift der evangelischen Kirche über die Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen. Sie stellt fest, daß es bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit um den inneren Frieden in unserer Gesellschaft geht. Arbeitslosigkeit ist für den einzelnen Menschen unwürdig und fügt der gesamten Gesellschaft Schaden zu. Wachsende Arbeitslosigkeit, fortschreitende Haushaltsprobleme und die Angst um die Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme können den Boden für eine politische Systemkrise bereiten.
Arbeit gehört nun einmal zum Zu-sich-selber-
Kommen menschlicher Existenz; oder, um es im 500. Geburtsjahr Martin Luthers in dessen plastischer Sprache zu sagen: Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen.

(Dr. Hauff [SPD]: Das gilt nicht für Sie! — Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist denn der Vogel? — Weitere Zurufe von der SPD)

— Lieber Herr Apel, Luther konnte den Oppositionsführer wirklich nicht vorausahnen, jedenfalls nicht den von heute.

(Beifall bei der FDP — Kolb [CDU/CSU]: Der wußte nicht, was noch über uns kommt!)

Diese Erkenntnis verlangt gebieterisch nach dem Einsatz all unserer Phantasie, dem gemeinsamen Handeln von Staat, Wirtschaft und Arbeitnehmerorganisationen, nach einer langfristigen Strategie zur Sicherung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Auch sie wird die Arbeitslosigkeit nicht gänzlich beseitigen können. Aber ohne die Mobilisierung aller produktiven Kräfte unserer Volkswirtschaft wäre jeder Versuch zur Trendumkehr von vornherein zum Scheitern verurteilt.

(Zuruf von der SPD: Wann kommt sie denn?)

Die Chancen stehen nicht schlecht, nachdem es uns gelungen ist, die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft in ersten Schritten so weit zu verbessern, daß die Dynamik der Marktkräfte wieder spürbar wird.
Mit den Beschlüssen zum Bundeshaushalt 1983 und dem Dringlichkeitsprogramm haben wir jedenfalls einen Fuß in jene Tür gesetzt, die mit der Regierungserklärung weiter aufgestoßen werden soll. Sie öffnet den Weg zur langfristigen Unterstützung der Wachstumskräfte, zur Stärkung der unternehmerischen Eigeninitiative und zur soliden Gestaltung des Haushalts. Investoren und Konsumenten können wieder Vertrauen in die Zukunft bekommen. Es geht um eine Balance zwischen angebotsorientierten und nachfragesteuernden Schritten, um der Wirtschaft neue Kraft zu geben. Die
Bundesregierung ist willens, diesen Kurs zu steuern.
Dabei wird die Konsolidierung der Staatsfinanzen zu einem unverzichtbaren Thema und zu einer Mühsal, einem Jäten auf steinigem Acker.

(Beifall bei der FDP)

Die Aufholjagd zur Eindämmung der Neuverschuldung erinnert an das Wettrennen zwischen Hase und Igel. Die neuen Unglücksmeldungen sind allemal schon da, wenn alte Auswüchse gerade beschnitten sind. Lange gepflegte Sünden drücken am schwersten. Das wissen nicht nur Theologen. Wir Politiker stehen ihnen da keinen Deut nach.
Der Finanzplanungsrat hat uns in seiner Sitzung am 28. April 1983 eine Präzisierung der Aufgabe, vor der wir stehen, geliefert. Dort heißt es:
Die Finanzpolitik muß in den nächsten Jahren nachhaltig dazu beitragen, die Wachstumskräfte weiter zu stärken und die Arbeitsmarktlage schrittweise zu verbessern. Dazu ist es notwendig, die Haushaltskonsolidierung entsprechend der erwarteten fortschreitenden wirtschaftlichen Belebung in den kommenden Jahren verstärkt voranzutreiben. Konsolidierungsmaßnahmen sind vor allem bei den in der Vergangenheit besonders dynamisch gewachsenen Ausgabenbereichen wie öffentlicher Dienst und Sozialtransfer, aber auch bei den Subventionen anzusetzen. Insgesamt gilt: Die Konsolidierung soll insbesondere durch eine wirksame und dauerhafte Begrenzung der Ausgabenentwicklung erfolgen, nicht durch eine Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Abgaben- und Steuerbelastung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

— Konsumtive Ausgaben müssen eingeschränkt werden, damit die Finanzierung von beschäftigungs- und investitionsfördernden Maßnahmen gesichert wird.
— Die Haushaltskonsolidierung ist bei Bund, Ländern und Gemeinden erforderlich. Die Konsolidierung auf einer Ebene darf nicht überproportional zu Lasten anderer Haushaltsebenen gehen.
— Zur Konsolidierung des öffentlichen Gesamthaushalts gehören gleichgerichtete Konsolidierungsmaßnahmen bei den sozialen Sicherungssystemen.
Dazu ist es erforderlich, den jährlichen Zuwachs der öffentlichen Ausgaben mittelfristig auf drei Prozent zu begrenzen und deutlich unter dem Wachstum des Bruttosozialprodukts zu halten.
Meine Damen und Herren, das klingt alles sehr plausibel und könnte deshalb sehr wohl zu einer gemeinsamen Handlungsanleitung werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CDU)

Aber solche richtigen ökonomischen Zielvorgaben
haben wir auch früher schon gehabt. Die großartige
Haushaltsrede von Bundesfinanzminister Matthö-



Hoppe
fer vom 16. September 1981 bleibt unvergessen. „Konsolidierung jetzt" ließ sich über die „Operation '82" schreiben. Die schwere Operation gelang dann zwar. Aber das Operationsteam ging im Streit über die Nachbehandlung auseinander, und der Patient liegt immer noch auf der Intensivstation, wenn auch mit deutlichen Zeichen der Besserung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es ist dann auch nicht so besonders einfallsreich, wenn die Opposition die alten, so erfolglos gebliebenen Rezepte jetzt wieder hervorholt. Die Beschäftigungsprogramme, die uns angedient werden, sind uns schon in der Vergangenheit teuer zu stehen gekommen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! — Sehr richtig!)

Die neue Koalition muß beweisen, daß sie die Kraft hat, die politischen Vorstellungen, die der Bundeskanzler als Leitlinien vorgetragen hat, jetzt in die Tat umzusetzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der wirtschaftswissenschaftliche Sachverstand hat uns in den letzten Tagen die Mahnung mit auf den Weg gegeben, konsequent zu bleiben. Die Haushaltsberatungen werden für uns alle schnell zu einer Stunde der Wahrheit.

(Jungmann [SPD]: Das ist wahr! — Beifall des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

Wir können die Zukunft nur meistern, wenn wir bereit sind, in der Gegenwart allen, auch uns selbst, Opfer abzuverlangen. Eine Kapitulation vor Gruppenegoismen darf es nicht noch einmal geben. Der Allparteienumfall vor dem öffentlichen Dienst war ein beschämendes Ereignis der vorigen Wahlperiode.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Packen wir die wahrhaft große Aufgabe, unsere Haushalts- und Finanzpolitik auf eine solide Grundlage zu stellen, gemeinsam an! Ringen wir dabei um den richtigen Weg! Aber dreschen wir nicht mit billigen Schlagworten wie „Soziale Demontage" und „Kaputtsparen" aufeinander ein. Beherzigen wir endlich die simple Wahrheit, daß sich im öffentlichen wie im privaten Bereich noch nie jemand kaputtgespart hat, sondern daß immer nur der seine Existenz gefährdet, der ständig über seine Verhältnisse lebt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Umdenken bit in allen Bereichen not, bei den Politikern, bei den Unternehmern und bei den Bürgern. Die Finanzkrise kann aber auch zu einer Chance der Erneuerung werden. Ein kluger Mensch sagte einmal: „Jedes Problem ist eine Gelegenheit zum Fortschritt." In diesem Sinne sollten wir uns an die Arbeit machen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) '


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000502000
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert (Marburg).

Hubert Kleinert (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1000502100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat hier ein wirtschafts- und finanzpolitisches Konzept vorgelegt, in dem viel von Verzicht und viel von Einschränkungen die Rede war.

(Dr. Rose [CDU/CSU]: Verzicht auf Krawatte! — Glos [CDU/CSU]: Und Friseur!)

Sie haben gesprochen von Haushaltssanierung. Sie haben gesprochen von Drosselung der Staatsausgaben. Sie haben gesprochen von Haushaltsumschichtung. Sie haben gesprochen von der Senkung der Nettokreditaufnahme des Bundes für 1984 auf unter 40 Milliarden DM. Sie haben von weiteren Kürzungen im Bereich der konsumtiven Ausgaben gesprochen. Sie haben hier Kürzungen in Höhe von 6 bis 7 Milliarden DM angesprochen; vermutlich werden es im Endeffekt noch mehr sein.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Sie haben gut zugehört!)

Wovon Sie nicht gesprochen haben, das sind die Auswirkungen, die diese Art Haushaltssanierung und Finanzpolitik für viele Menschen in der Bundesrepublik haben wird. Sie haben nicht gesprochen von den Auswirkungen, die diese Politik für die Rentner haben wird. Sie haben nicht gesprochen von den Auswirkungen, die diese Politik für die Arbeitslosen haben wird. Sie haben nicht gesprochen von den Auswirkungen dieser Politik für die Sozialhilfeempfänger, für die Behinderten und für andere Gruppen. Sie haben nicht davon gesprochen, daß sich z. B. durch die erneute Verschiebung der Rentenanpassung, die ja beschlossene Sache zu sein scheint, die Zahl der mehr als eine Million Kleinrentner, die schon jetzt mit einem Einkommen leben müssen, das noch unterhalb des Sozialhilfesatzes liegt, noch beträchtlich erhöhen wird. Sie haben nicht davon gesprochen, daß die erneute Senkung des Arbeitslosengeldes praktisch schon beschlossene Sache ist und gerade diejenigen besonders treffen wird, deren Probleme Ihnen angeblich ganz besonders am Herzen liegen, nämlich die ledigen und damit die jugendlichen Arbeitslosen. Aber für die hat ja Herr Genscher gestern schon ein Rezept vorgelegt. Er hat ihnen nämlich empfohlen, doch bei der Freiwilligen Feuerwehr mitzumachen.

(Lachen bei den GRÜNEN — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Eine bewußte Verdrehung!)

Was Sie hier vorgelegt haben, ist das Konzept einer Politik, die den massiven Abbau des Sozialsystems insgesamt betreibt, einer Politik, die die Massenarbeitslosigkeit zum Anlaß nimmt, um auf breiter Linie soziale Leistungen zurückzunehmen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Na, wer hat Ihnen denn den Unsinn aufgeschrieben?)

Sie rechtfertigen diese Politik damit, daß Sie sagen, der Verzicht sei notwendig, um den Aufschwung zu finanzieren, er sei notwendig, damit die private Investitionstätigkeit gestützt werden könne. Nach dem Prinzip „Die Pferde werden gemästet,



Kleinert (Marburg)

und von den dickeren Pferdeäpfeln profitieren dann die Spatzen"

(Kolb [CDU/CSU]: Dicke Pferde können nicht laufen!)

sollen Rentner, sollen Arbeitslose heute verzichten, sollen sich Arbeiter und Angestellte einschränken und sollen die Gewinne der Unternehmen ansteigen. Dann, so meinen Sie, werden am Ende auch die wieder davon profitieren, die jetzt verzichten sollen. Meine Damen und Herren, die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß diese Rechnung nicht aufgehen kann und nicht aufgehen wird.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Selbst wenn es überhaupt zu dem konjunkturellen Aufschwung kommen sollte, von dem Sie sprechen und den Sie mit Steuererleichterungen für die Großunternehmen herbeiführen wollen — und wir GRÜNEN sehen da im Moment eher bloße Aufschwungrhetorik, und unser Kronzeuge dafür ist kein geringerer als Otto Wolff von Amerongen, der auch gemeint hat, der Konjunkturfrühling spiele sich derzeit noch in den Köpfen der Wirtschaftspolitiker, der Prognostiker, aber auch einzelner Unternehmer ab; wir befinden uns mit dieser Prognose also in bester Gesellschaft —,

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Gehen Sie doch mal in mittelständische Betriebe! Haben Sie es mal vor Ort gesehen? — Kolb [CDU/CSU]: Der hat nie gearbeitet!)

selbst wenn die von Ihnen erhofften Wachstumsraten von 2 % oder 2,5 % tatsächlich Wirklichkeit werden sollten, würde dieses weitere wirtschaftliche Wachstum nichts zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit beitragen können.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Im Gegenteil, es spricht alles dafür, daß sich die Arbeitslosigkeit auch dann noch verschärfen wird. Ich will Ihnen dafür nur einige Gründe nennen.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Erstens: Die GRÜNEN!)

Erstens. Ihre Politik der Einsparungen bei der öffentlichen Hand und bei den sozial Schwächergestellten führt zu einem weiteren Rückgang der Nachfrage nach Verbrauchsgütern.
Zweitens. Gerade dann aber werden die vorgesehenen Steuererleichterungen nicht zur Schaffung neuer Arbeitsplätze führen, sondern vor allem zu neuen Rationalisierungen, die weitere Arbeitsplätze vernichten.
Drittens. Das von Ihnen vorgelegte Konzept setzt voll auf die sogenannten neuen Technologien. Es setzt auf Breitbandverkabelung, es setzt auf die neuen Medien und Kommunikationssysteme, auf Industrieroboter, auf automatisierte Maschinenherstellung.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Kernkraftwerke!)

Durch den Einsatz dieser Technologien wird aber
doch — und das wissen Sie — wesentlich weniger
arbeitsplatzintensiv produziert werden als in den sogenannten alten Industrien. Diese Industrialisierungspolitik, die Sie vorhaben und die voll auf die neuen Technologien setzt, wird unter dem Strich mehr Arbeitsplätze vernichten, als daß sie neue schafft.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Schließlich muß gesehen werden, daß allein schon auf Grund der altersmäßigen Zusammensetzung der Bevölkerung das Potential an Arbeitskräften in den nächsten Jahren pro Jahr um ca. 200 000 zunehmen wird. Auch das wissen Sie.
Das alles zeigt, daß durch das von Ihnen betriebene Konzept des beschleunigten Wachstums die Arbeitslosenzahlen nicht kleiner, sondern noch weiter ansteigen werden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Selbst wenn Ihre optimistischen Wachstumserwartungen zutreffen sollten — und da sind allerhand Zweifel angebracht —, werden wir bis zum Ende dieses Jahrzehnts 4 Millionen Arbeitslose haben — wenn alles so weitergeht. Schon für Ende 1983 ist — und ich verweise hier nur auf die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit und auf die Zahlen des Wirtschaftsinstituts in Kiel — mit 3 Millionen Arbeitslosen zu rechnen.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Wie ist Ihr Konzept?)

— Das kommt noch.
Der Verzicht wird sich also gerade für die, die ihn leisten sollen, nicht auszahlen.
Der Haushalt wird sich auf diese Weise auch nicht sanieren lassen; denn mit Ihrer Politik wird sich nur die Zahl derjenigen, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssen, weiter vergrößern. Die dadurch entstehenden neuen Kosten für die Sozialhaushalte werden Sie dann selbst mit noch radikaleren Kürzungen nicht auffangen können, meine Damen und Herren.
Ich nehme an, Sie kennen diese Zahlenprognosen. Wenn Sie bloß die Zeitung lesen, dann wissen Sie nämlich, daß alle Prognosen in einem Punkt übereinstimmen: daß, wenn Arbeitslosigkeit ausschließlich durch Wirtschaftswachstum bekämpft werden soll, Wachstumsraten von 4 % benötigt würden, um die Arbeitslosenzahl auch nur auf dem jetzigen Stand halten zu können. Wenn Sie mit dem Rezept „Wachstum" Arbeitslosigkeit beseitigen wollten, dann wären sogar Wachstumsraten von 6 %
und mehr erforderlich. Das aber sind Wachstumsraten, die Sie selber für völlig ausgeschlossen halten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Da ich annehme, daß Sie das alles wissen, kann ich aus dem Konzept, das Sie hier vorgetragen haben, nur einen Schluß ziehen: Ihnen geht es in Wahrheit gar nicht so sehr um die Arbeitslosigkeit, wie Sie hier immer so gern bekunden. Ihnen geht es eher um die Gewinne der Unternehmen.

(Beifall bei den GRÜNEN)




Kleinert (Marburg)

) Sie kalkulieren im Grunde genommen doch längst Arbeitslosenzahlen von 3 Millionen, 4 Millionen ein. Sie wollen die Massenarbeitslosigkeit ausnutzen, um eine massive soziale Umverteilung und ein gesellschaftspolitisches Rückwärts durchzusetzen.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Wollen Sie noch mehr Arbeitslose?)

Die 3 Millionen — und bald 4 Millionen — Arbeitslosen, die dabei auf der Strecke bleiben werden, sind die offenbar einkalkulierte Konsequenz dieser Politik.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

Das Konzept, das Sie hier mit großen Worten als die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft anpreisen, wird letztlich nur tiefer in die ökonomische und in die ökologische Katastrophe führen, meine Damen und Herren.

(Bohl [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben?)

In diesem Zusammenhang muß ich ein Wort zu dem sagen, was Herr Vogel gestern an Kritik der SPD hier vorgebracht hat. Die SPD spricht jetzt zu Recht davon, daß das von der Bundesregierung vertretene Wachstumskonzept nicht dazu führen wird, daß sich die Arbeitslosigkeit auch nur vermindern kann. Auch Sie wenden sich jetzt gegen den Abbau sozialer Leistungen, den die neue Bundesregierung angekündigt hat; das tun Sie jetzt aus der Oppositionsrolle heraus. Als Sie noch die Regierung stellten, da sah das anders aus. Ich darf hier nur an die einschneidenden Sozialkürzungen erinnern, die Sie in Ihrer Haushaltsoperation '82 vorgenommen haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, angesichts dieser Entwicklung kann es nicht um die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft durch Vorstellungen aus der wirtschaftspolitischen Rezepteküche der 50er Jahre gehen. In Frage steht vielmehr dieses ganze wirtschaftliche System. In Frage steht ein Wirtschaftssystem, das die gigantische Zerstörung von Natur und Umwelt, zweieinhalb Millionen Arbeitslose und zweieinhalb Millionen Sozialhilfeempfänger gebracht hat. Da hat Herr Kohl noch die Stirn, mit Müller-Armack zu behaupten — ich zitiere —: „Die Soziale Marktwirtschaft ist ein Beitrag zum Frieden nach innen und außen."

(Beifall bei Abgeorgneten der CDU/CSU)

Da wir angesichts dieser Tatsachen keine Flickschusterei betreiben, stellen wir diesem Wirtschaftssystem unsere Alternative einer ökologischen Wirtschaftsweise entgegen. Diese Alternative ist die Grundlage für unsere Vorschläge zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Sozialabbau. Ich will darauf zum Schluß ganz kurz eingehen.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Wie funktioniert das denn? — Hauser [Krefeld] [CDU/ CSU]: Mit staatlichen Zuschüssen!)

— Das werde ich Ihnen gleich sagen.
Wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wird nur durch drastische Arbeitszeitverkürzungen möglich sein, durch Arbeitszeitverkürzungen mit dem eindeutigen Schwerpunkt bei der Verkürzung der Wochenarbeitszeit.

(Hauser [Krefeld] [CDU/CSU]: Ah, ja!)

Verkürzung der Wochenarbeitszeit heißt nicht 39-
Stunden-Woche, heißt nicht 38-Stunden-Woche, sondern heißt 35-Stunden-Woche.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Rose [CDU/CSU]: Null-Lösung! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Die Verwirklichung der 35-Stunden-Woche — es gibt verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen dazu, die das belegen — könnte zur Schaffung von 1,3 Millionen bis 1,4 Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze führen.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Wir sind darüber hinaus durchaus auch für die Verkürzung der Lebensarbeitszeit, aber nicht auf dem Weg, den Sie hier vorschlagen.

(Glos [CDU/CSU]: Haben Sie schon jemals gearbeitet?)

Wir sind dagegen, daß das durch Einkommensverzicht finanziert wird.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Wer bezahlt das Ganze? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche wird sich vor allem außerhalb der Parlamente abspielen. Hier sind die Gewerkschaften gefordert. Was wir GRÜNE über die Parlamente tun können, um die Forderung nach der 35-Stunden-Woche zu unterstützen, das werden wir tun. Wir werden in Kürze einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Arbeitszeitordnung hier einbringen, der die Regelarbeitszeit so verringert, daß dadurch die tarifvertragliche Einführung der 35-Stunden-Woche unterstützt werden kann.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wenn die SPD hier ähnliches vorhat, wie das gestern zu hören war, dann begrüßen wir das.

(Glos [CDU/CSU]: Grün-rote Koalition!)

Die Arbeitszeitverkürzung muß mit einer weitgehenden Demokratisierung der Wirtschaft verbunden werden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Was ist das?)

Alle Versuche, die wenigen Mitbestimmungsmöglichkeiten, die Arbeiter und Angestellte heute haben, weiter einzuschränken, wie Sie sich das vorstellen, müssen abgewehrt werden.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Welches Vorbild schwebt Ihnen vor?)

Im Gegenteil ist eine Ausweitung der Mitbestimmung z. B. auf Entscheidungen über die Anschaffung von Maschinen, die Arbeitsbedingungen ver-



Kleinert (Marburg)

ändern und die Arbeitsplätze bedrohen, unbedingt notwendig.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nur so wird es auch möglich sein, zu verhindern, daß drastische Arbeitszeitverkürzungen durch neue Rationalisierungsoffensiven der Unternehmer wieder unterlaufen werden.

Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000502200
Ich bitte, zum Schluß zu kommen, Herr Kollege.

Hubert Kleinert (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1000502300
Noch vier Sätze. — Darüber hinaus müssen diese Vorstellungen mit der Verwirklichung eines ökologisch und sozial sinnvollen Zukunftsinvestitionsprogramms verbunden werden. Ich kann hier aus Zeitgründen leider nicht im einzelnen darauf eingehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Schade!)

Schließlich müssen alternative Betriebe finanziell unterstützt werden,

(Hauser [Krefeld] [CDU/CSU]: Auf Staatskosten! — Weitere Zurufe und Lachen bei der CDU/CSU)

denn diese Betriebe haben eine gesellschaftliche Pilotfunktion, da hier wirkliche Selbstverwaltung praktiziert wird.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Wo nehmen Sie denn das Geld her?)

Darüber hinaus ist eine solche Unterstützung dieser Betriebe schon deshalb sinnvoll, weil Investitionsmittel hier viel arbeitsplatzintensiver eingesetzt werden können als etwa bei Großprojekten.

Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000502400
Ich bitte, zum Schluß zu kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon beträchtlich überzogen.

Hubert Kleinert (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1000502500
Zur Finanzierung nur drei Punkte — —

Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000502600
Verzeihen Sie, ich muß Ihnen sonst das Wort entziehen, was ich sehr ungern tue.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Hubert Kleinert (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1000502700
Ich komme zum Schluß. Das von der neuen Bundesregierung vorgelegte wirtschafts- und finanzpolitische Konzept läßt nicht nur vieles im dunkeln, was an einschneidenden strukturellen Veränderungen unseres sozialen Systems, wie Herr Genscher das gestern genannt hat, geplant ist. Es bietet keinerlei Möglichkeit, um die mit viel propagandistischem Beiwerk herausgestellten Ziele tatsächlich erreichen zu können. Was Sie hier vorhaben, erinnert eher an englische und amerikanische Vorbilder.

Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000502800
Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.

Hubert Kleinert (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1000502900
Das und nichts anderes ist das wahre Gesicht Ihrer Wende.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000503000
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Stoltenberg.

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1000503100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mich haben die Beiträge der sozialdemokratischen Kollegen, des Fraktionsvorsitzenden Vogel und des Abgeordneten Hoffmann, zur Finanzpolitik an leidenschaftliche Diskussionen und Auseinandersetzungen hier nach dem Regierungswechsel im Herbst erinnert. Sehr viel Neues ist Ihnen, meine verehrten Kollegen, seit Ihrer Wahlniederlage am 6. März nicht eingefallen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sehr viel überzeugender sind Ihre Argumente, die ja vom Wähler zurückgewiesen worden sind, nicht geworden.
Herr Kollege Vogel, ich habe beim finanzpolitischen Teil Ihrer Ausführungen auch an die Wahlanalysen gedacht, die ja — so haben wir es in den Zeitungen gelesen — nach dem 6. März im sozialdemokratischen Parteivorstand angestellt wurden. Dort haben namhafte Mitglieder Ihrer Partei selbstkritisch gesagt, einer der Gründe für die Wahlniederlage sei die mangelnde Kompetenzzuweisung in der Finanz- und Wirtschaftspolitik gewesen, das heißt zu deutsch, das mangelnde Vertrauen der Bürger und vor allem auch eines Großteils der Arbeitnehmer in das, was Sie seit dem Regierungswechsel dem deutschen Volk an Rezepturen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik anzubieten haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie sind nicht viel weitergekommen bis Anfang Mai. Ich sage das ausdrücklich, weil manches, was Sie und was heute Herr Hoffmann dem Bundeskanzler hart und kritisch zu seiner Regierungserklärung gesagt haben, doch auch einen Zug der Überheblichkeit trug, der Ihnen eigentlich nicht ansteht, wenn man Ihre Reden noch einmal nachliest.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Man kann es natürlich so machen wie der Kollege Hoffmann, daß man wichtige Sachaussagen der Regierungserklärung nicht zur Kenntnis nimmt, um besser polemisieren zu können.

(Zuruf von der SPD: Wie der Herr Stoltenberg!)

Herr Kollege Hoffmann hat dem Bundeskanzler vorgeworfen, er habe nichts Konkretes zu dem schwierigen Thema von Einnahmeerhöhungen für die Rentenversicherung gesagt. Sie können auf Seite 13 des Textes der Regierungserklärung, den das Bundespresseamt verbreitet hat, unter Ziffer 1 sehr wohl verzeichnen, daß der Bundeskanzler ausgeführt hat:



Bundesminister Dr. Stoltenberg
Wir werden die bisher ungenügend erfaßten Sonderzahlungen zum Arbeitsentgelt in die Sozialversicherung einbeziehen.
Mit diesem Satz kann man sich auseinandersetzen. Er ist in den Folgerungen ein sehr schwerwiegender Satz, wie wir alle wissen, aber man kann ihn nicht ignorieren und dann sagen, dazu sei nichts gesagt. Das ist eigentlich unter dem Niveau der Auseinandersetzung, wie wir sie hier führen sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

Ich möchte etwas zur Ausgangsbilanz zu Beginn der neuen Wahlperiode sagen.

(Abg. Dr. Spöri [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Ich habe mich bei den Parlamentarischen Geschäftsführern, die ja eine bedeutende Autorität in diesem Hause sind, verpflichtet, mich an die 20 Minuten Redezeit zu halten, Herr Kollege Spöri, und will deshalb ausnahmsweise davon absehen, Zwischenfragen zu beantworten.

(Dr. Spöri [SPD]: Zu den Subventionen, hat der Herr Hoffmann gemeint! Da haben Sie große Sprüche geklopft!)

— Entschuldigen Sie, Sie vermissen Aussagen über Subventionsabbau und kritisieren das. Wenn ich die Rede von Herrn Vogel auf Seite 59 seines verbreiteten Textes nachlese, stelle ich fest, daß er sich gegen eine beginnende Diskussion über Subventionsabbau konkret wendet, wenn es bestimmte empfindliche Punkte berührt. Seite 59 von Herrn Vogel!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

So kann man das auch machen, Herr Kollege Vogel.

(Zurufe von der SPD)

— Lesen Sie einmal Ihren eigenen Text nach. Ich habe Ihnen die Belegstelle genannt. So kann man das auch machen, meine Damen und Herren.

(Weitere Zurufe von der SPD)

Nun gehe ich in der Sache weiter, sonst komme ich mit den 20 Minuten nicht hin, Herr Präsident, dann muß ich um Rabatt bitten. Ziehen Sie bitte die Zwischenrufe freundlicherweise ab.

(Zurufe von der SPD)

— Wer hier so hart ausgeteilt hat, wie Sie gestern und heute morgen, muß eine kritische Replik vertragen können. Das Selbstbewußtsein ist doch sehr erschüttert, muß ich sagen, wenn ich Ihre Reaktionen hier verfolge.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nun muß ich nach diesen einleitenden Bemerkungen etwas zur Ausgangsbilanz zu Beginn der neuen Wahlperiode sagen. Herr Kollege Waigel hat darauf hingewiesen: Nach den empfindlichen, von Ihnen bekämpften Sparentscheidungen, die wir vor der Bundestagswahl treffen mußten, haben wir im
Bundeshaushalt 1983 dennoch einen Fehlbetrag von 52 Milliarden DM bei rund 253 Milliarden DM Ausgaben des Bundes zu verzeichnen. Mehr als 20% der erforderlichen Ausgaben dieses Jahres sind nicht durch ordentliche Einnahmen gedeckt. Sicher, wir haben den schon erwähnten Bundesbankgewinn von 11 Milliarden DM. Man kann doch wohl bei dieser Eröffnungsbilanz für eine neue Regierung, Herr Vogel, nicht ernsthaft kritisieren, daß wir den einstellen und vorübergehend zur Defizitdeckung verwenden.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Man kann doch bei der Art der Hinterlassenschaft Ihrer katastrophalen Finanzpolitik uns nicht dafür kritisieren, wenn wir bei 52 Milliarden DM minus —

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Erbe einer 13jährigen sozialdemokratischen Regierungspolitik in Bonn und der Fehleinschätzungen der letzten 18 Monate —

(Zuruf des Abg. Dr. Spöri [SPD])

diesen Bundesbankgewinn zunächst voll einstellen und verwenden.

(Hoffmann [Saarbrücken] [SPD]: Sie sind der größte Schuldenbuckel, den es gibt!)

— Wie war das?

(Hoffmann [Saarbrücken] [SPD]: Sie sind der größte Schuldenbuckel, den es gibt!)

— Herr Hoffmann, Sie sind ein unfairer Kollege, wenn Sie auf der einen Seite jede Kürzungsabsicht diffamieren und mit demagogischen Argumenten bekämpfen und uns auf der anderen Seite hier in dieser Art Ihre Schulden vorhalten wollen. Ich weise das mit Nachdruck zurück!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Der Herr Vogel kündigt gestern die Rückgängigmachung der getroffenen Sparentscheidungen an,

(Dr. Vogel [SPD]: Stimmt doch gar nicht!)

und Sie haben die Stirn, uns eine zu hohe Schuldenaufnahme in diesem Jahr vorzuwerfen! Meine Damen und Herren, das ist unter dem Niveau der Sozialdemokratischen Partei, wie ich sie bis jetzt eingeschätzt habe.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt würde ich gern zu einer ruhigeren Betrachtung zurückkehren, aber Sie müssen mit Ihren Reaktionen dazu beitragen. — Wir tragen den prinzipiellen Einwänden gegen eine zu hohe Veranschlagung des Bundesbankgewinns doch dadurch Rechnung, daß wir in der vorzulegenden Finanzplanung von einem deutlichen Rückgang in den nächsten Jahren ausgehen. Herr Wieczorek, wir haben die Absicht, die Veranschlagung dieses Bundesbankgewinns in unserer neuen Finanzplanung deutlich und nachhaltig zurückzuführen. Gegenwärtig, in einer Notstandssituation, ist eine besondere Entscheidung unvermeidbar gewesen, aber wir werden
— das werden Sie in der Finanzplanung sehen —



Bundesminister Dr. Stoltenberg
unseren prinzipiellen Gesichtspunkten Rechnung tragen.
Nun möchte ich Herrn Kollegen Vogel

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist Herr Vogel?)

und auch Herrn Hoffmann noch folgendes sagen. Man kann die notwendige Umstrukturierung des Bundeshaushalts nicht im crash-Verfahren durchführen.

(Zuruf von der SPD: In was für einem Verfahren?)

Ich kann mich nur wundern, wenn Sie uns hier kritisch auf die schwerwiegenden Probleme der Bundesbahn oder auch auf die schwerwiegende Entscheidung über die Weiterführung der modernen Reaktorlinien ansprechen. Die Probleme der Bundesbahn werden uns noch auf Jahre begleiten, und wir müssen versuchen, innerhalb von Monaten — das kann nicht innerhalb von Wochen geschehen — erste Antworten zu finden.
Was die fortgeschrittenen Reaktorlinien betrifft, standen wir doch vor der Frage, ob wir vorhaben, die Anlagen, die unter Ihrer Federführung zu 70 oder 80 % fertiggestellt wurden — das war die Eröffnungsbilanz für Herrn Riesenhuber —, als Investitionsruinen liegenzulassen oder sie mit einem anderen Finanzierungssystem unter stärkerer Beteiligung der EVUs und der Wirtschaft zu vollenden.

(Zurufe von den GRÜNEN)

Das Problem Ihrer Politik, das nicht nur das Reaktorkonzept belastet und verteuert hat, ist doch in den letzten Jahren das gewesen, auf der einen Seite solche Vorhaben in Regierungsverantwortung weiterzuführen und hier jedes Jahr die Mittel zu bewilligen, auf der anderen Seite aber zugleich diese Vorhaben immer nachhaltiger zu bekämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren von der SPD, das ist das Elend dieser Reaktorprojekte gewesen!

(Zuruf des Abg. Schily [GRÜNE])

— Mit Ihnen rede ich später, Herr Schily. Sie sind im Augenblick nicht dran. — Dieser Widerspruch hat diese Projekte nicht nur verteuert und erschwert; er kann j a auch nicht als Ausdruck einer besonderen Sensibilität bezeichnet werden, die Herr Vogel gestern für sich in Anspruch genommen hat, während wir von ihm in die Denkmuster und den Bewußtseinsstand der 50er Jahre eingeordnet wurden.

(Sehr richtig! bei der SPD)

Das ist — wenn ich dazu meine persönlichen Empfindungen beschreiben soll — Ausdruck einer unerträglichen Arroganz, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Man muß reflektieren, man muß nachdenken, aber man muß auch entscheiden, und dann, wenn man entschieden hat, muß man das, was man sich vorgenommen hat, auch konsequent und ehrlich verwirklichen.

(Schily [GRÜNE]: Den Unsinn konsequent verwirklichen!)

— Ich kann Ihre Zwischenrufe gar nicht verstehen, aber, Herr Schily, wenn ich Ihren Gesichtsausdruck betrachte, vermute ich, daß sie sehr töricht sind.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte ganz gern einmal mit den sozialdemokratischen Kollegen ernsthaft ein Thema diskutieren; vielleicht erlauben Sie mir das. Mein Verständnis von Fairneß und Toleranz ist, daß das in diesem Hause möglich sein muß, ohne daß man laufend von Ihrer Seite unterbrochen wird, der Sie an dieser Diskussion gegenwärtig überhaupt nicht beteiligt sind.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das Problem ist doch folgendes.

(Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

— Ich verstehe die ganze Aufregung nicht.
Wir brauchen — ich sage das zu Ihren kritischen Anmerkungen —, um weite Aufgabenbereiche lösen zu können, über die Bundesbahn hinaus, noch mehr Zeit. Wir haben im Herbst nach dem Regierungswechsel die Finanzvorlagen in zwei Wochen erarbeiten müssen, um die dringendsten Entscheidungen zu treffen. Wir haben diesmal acht Wochen Zeit, von der konstituierenden Sitzung des Bundestages bis Ende Mai/Anfang Juni, zu dem Zeitpunkt, in dem wir die Grundsatzentscheidungen für den Etat 1984 und die Finanzplanung treffen wollen. Wenn Sie das anmahnen, muß ich sagen: Dies ist ein sehr kurzer Zeitraum, aber wir werden die notwendigen Entscheidungen nicht nur für den Haushalt, sondern auch für die Begleitgesetze bis zur Sommerpause treffen, Herr Kollege Walther. Wir werden die Entwürfe vor der Sommerpause vorlegen.

(Walther [SPD]: Da bin ich einmal gespannt!)

Das geschieht, weil wir Wert darauf legen, daß Bundesrat und Bundestag erstmals seit vielen Jahren in angemessenen Fristen Stellung nehmen und beraten können. Das haben wir seit der Bundestagswahl 1980 in Ihrer Verantwortung nicht mehr erlebt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In solchen Überlegungen wird der Respekt vor Verfassungsorganen vielleicht stärker sichtbar als in manchen Grundsatzdeklarationen.
Meine Damen und Herren, wir müssen also in diesem Jahr immer noch eine Kreditaufnahme von 41 Milliarden DM vorsehen, und natürlich stellt sich die Aufgabe der Konsolidierung, der Gesundung der Staatsfinanzen deshalb als eine der zentralen Herausforderungen dieser Jahre. Es ist eine Aufgabe für Bund, Länder und Gemeinden. Ich unterstreiche hier die Mitverantwortung des Bundes für



Bundesminister Dr. Stoltenberg
alle Ebenen, Entlastungen auch für die anderen Ebenen herbeizuführen, so wie wir das im Herbst vergangenen Jahres mit unseren Sparvorschlägen begonnen haben, die Sie bekämpft haben. Deswegen ist es nicht nötig, daß uns der Herr Kollege Vogel hier anmahnt, auch nicht unter dem Vorzeichen der Gemeindefinanzen. Wir sehen das deutlicher, und wir wollen es wirksamer praktizieren, als Sie das in vergangenen Jahren getan haben.

(Dr. Vogel [SPD]: Warum steht dazu nichts in der Regierungserklärung?)

— Wenn Sie das noch einmal nachlesen, können Sie diesen Gesichtspunkt übrigens auch in der Regierungserklärung finden.

(Dr. Vogel [SPD]: Sehr versteckt!)

— Ich zeige Ihnen nachher die Stelle, Herr Kollege Vogel. Vielleicht haben Sie Ihre Rede schon gemacht, bevor Ihnen die Regierungserklärung bekannt war. Das kam mir in einigen Punkten sowieso so vor.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Kein Wort steht dazu drin!)

Lassen Sie mich vorangehen. Sie dürfen nicht übersehen, daß die Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit dem Bund

(Dr. Hauff [SPD]: Erblast!)

— es wäre ganz schön, wenn Sie noch einen Moment zuhören könnten — ganz besondere finanzielle Belastungen aufbürden. Allein durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit seit 1981 sind es auf der Ausgabenseite über 10 Milliarden DM.

(Matthöfer [SPD]: Ganz neu!)

— Nein, aber ich wollte das noch sagen, weil ich nicht den Eindruck habe, daß alle Ihre Kollegen Ihren Informationsstand haben, wenn ich mir die Reaktionen betrachte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen ist es gut, diese Zahlen noch einmal zu erwähnen.
Man muß auch sehen, Herr Vogel, wenn Sie über Bund, Länder und Gemeinden reden, daß der Anteil des Bundes an den öffentlichen Schulden von 1970 bis 1982 dramatisch angestiegen ist. Der Bundesanteil an den öffentlichen Schulden betrug 1970 38,8 %, und er liegt heute bei 51 %. Darin spiegeln sich schwerwiegende Probleme besonderer Art wider, die meine Amtsvorgänger genausogut kennen, wie ich sie jetzt zu sehen habe. Da ist z. B. die Tatsache, daß wir überdurchschnittlich die Belastungen durch die Arbeitslosigkeit tragen.

(Zuruf von der SPD)

— Da sind wir uns ausnahmsweise einmal einig, meine Damen und Herren.
Nun sage ich zu der erneuten sozialdemokratischen Kritik an der notwendigen Konsolidierung folgendes. Ich sage das in bezug auf die Dokumentation der SPD-Fraktion, die Herr Kollege Vogel am 11. April 1983 an seine Parteifreunde verteilt hat, und die dortigen sehr erstaunlichen Feststellungen.
Sie haben, wie solche Texte deutlich machen, Herr Kollege Vogel, die erschreckende Wirkung der sprunghaft steigenden Zinsausgaben immer noch nicht voll erkannt. Die Zinsausgaben im Bundeshaushalt betrugen 1969 2,2 Milliarden DM, 1979 11,2 Milliarden DM, und sie sind bis zum Jahre 1983 auf 27,2 Milliarden DM angestiegen. Sie haben in den letzten vier Jahren eine Zunahme der Zinsausgaben im Bundeshaushalt um 16 Milliarden DM. Das ist eine geradezu bedrückende Entwicklung, wenn wir an die Frage des Gestaltungs- und Handlungs- und Verantwortungsbereichs für die Zukunft denken. Das heißt: Anteil der Zinsausgaben an den Steuereinnahmen des Bundes 1969 2,8%, 1979 6,8%, 1983 sage und schreibe 14,5%.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

In diesen Zahlen steckt eine Dramatik, die ich hier noch einmal sehr deutlich unterstreichen will. Sie müssen die Perspektive Zukunft ernst nehmen. Wer weiter mit fragwürdigen Argumenten wie manche von Ihnen

(Zuruf von der SPD)

— j a, wie manche von Ihnen — die dringende Aufgabe der Konsolidierung mit den notwendigen Sparbeschlüssen bekämpft, der versündigt sich an der Zukunft unseres Volkes.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir hören hier so viel von Zukunftsängsten. Das Wort „Angst" ist j a geradezu ein Mode- und Schlüsselwort für manchen in unserer Zeit geworden, zum Teil mit sehr schlimmen Erscheinungen, auch in manchen Reden in diesem Hause.

(Stratmann [GRÜNE]: Eine Folge Ihrer Politik!)

— Entschuldigen Sie, wir regieren sechs Monate. Ich verwahre mich dagegen, daß Sie uns für die 70er Jahre hier verantwortlich machen. Da standen Sie denen, die diese Erblast hinterlassen haben, großenteils näher als wir, meine Damen und Herren von den GRÜNEN.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben diese Politik der 70er Jahre nicht zu vertreten.
Aber man sollte die Frage der Sorge um die Zukunft — ich verwende lieber den Begriff „Sorge" — nicht nur mit modischen flotten Sprüchen über Gentechnologie verbinden, Herr Kollege Vogel, wobei ich Ihnen empfehle, sich bei den führenden Wissenschaftlern der Bundesrepublik Deutschland noch einmal genauer zu informieren über den wirklichen Stand und die Grenzen, nicht nur mit Gentechnologie und Katastrophenbildern über Kernkraftwerke. Wenden Sie Ihre Sorge in der Verantwortung für die Zukunft gegenüber der nächsten Generation einmal dieser Frage zu, ob man so weitermachen kann in der Finanzpolitik und Schuldenmacherei, wie wir das in den vergangenen Jahren erlebt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn. Donnerstag, den 5. Mai 1983 165
Bundesminister Dr. Stoltenberg
Ich sage das unter dem unendlich deprimierenden Eindruck der Rede des Kollegen Kleinert, auch den anderen Abgeordneten der GRÜNEN, meine Damen und Herren. Das war eine unendlich deprimierende Rede. Nicht nur, weil Sie uns hier beleidigt haben oder beleidigen wollten mit der törichten Behauptung, uns gehe es bei unserer Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik nur um die Gewinne für die Reichen und die Unternehmer — eine der dümmsten Unterstellungen, die ich jemals in meinem politischen Leben gehört habe.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von den GRÜNEN)

Sie können mich mit diesen primitiven Formeln Ihres Steinzeitmarxismus überhaupt nicht beleidigen. Das will ich Ihnen einmal ganz deutlich sagen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Lebhafte Zurufe von den GRÜNEN — Händeklatschen und Bravo-Rufe des Abg. Schily [GRÜNE] Unruhe)

Es bestätigt nur meinen Eindruck, den ich bei der Lektüre Ihres Wirtschaftsprogramms vor der Bundestagswahl hatte: daß das Wirtschafts- und Finanzprogramm der GRÜNEN der sichtbare politische Ausdruck des Bildungsnotstandes der 70er Jahre geworden ist. Das hat sich heute noch einmal gezeigt.

(Große Heiterkeit und lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Zurufe von den GRÜNEN)

Wenn Sie mich und meine Freunde, die wir nun seit kurzer Zeit Regierungsverantwortung haben, noch einmal mit solchen primitiven Formeln in unseren Motiven so beleidigen wollen,

(Zuruf von den GRÜNEN: Weiter so auf diesem Niveau!)

dann erinnere ich mich an das Wort eines meiner Professoren in der Nachkriegszeit in Kiel, der mir einmal gesagt hat: Man kann gewisse absonderliche menschliche Ausdrucks- und Verhaltensweisen nur mit der Gelassenheit eines Naturforschers verfolgen.

(Große Heiterkeit und lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

Das werde ich mir bei weiteren solchen Reden merken.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe des Abg. Schily [GRÜNE] und weiterer Abgeordneter der GRÜNEN)

— Herr Kollege Schily, Sie müßten doch bei Ihren weitreichenden Beziehungen im akademischen Bereich in der Lage sein, den wirtschafts- und finanzpolitischen Sprechern Ihrer Fraktion — denn alles können und sollen Sie j a nicht allein machen, wie wir gelesen haben — einen anständigen zweiten Bildungsweg in Nationalökonomie zu vermitteln. Das wäre doch ein beglückendes Erlebnis für uns.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Fortgesetzte Zurufe von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, weil dies so ist, weil der Verlust eines jeden gestaltenden Handlungsspielraums für die Zukunft wirklich droht,

(Schily [GRÜNE]: Traurig, traurig!)

müssen wir durch Konsolidierung, auch durch Sparbeschlüsse, die Handlungsfähigkeit der staatlichen Finanzpolitik wiedergewinnen. Natürlich ist eine Zeit der Belebung — wie man ihre Stärke und Dauer einschätzt, will ich hier nicht vertiefen — dafür richtig.

(Abg. Burgmann [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin schon etwas über die Zeit und möchte keine Zwischenfrage beantworten.
Wir müssen die Übereinstimmung von Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik gewährleisten. Wir haben für eine positive wechselseitige Ergänzung der Fiskalpolitik in Bonn und der Geld- und Kreditpolitik in Frankfurt mit aller Kraft einzutreten.

(Stratmann [GRÜNE]: Reden Sie doch mal von den Arbeitslosen!)

Herr Kollege Hoppe hat hier schon einige Kernsätze des Finanzplanungsrats vom 29. April hervorgehoben.

(Zuruf des Abg. Stahl [Kempen] [SPD])

— Er hat über Verschiedenes geredet, vor allem auch über den Finanzplanungsrat. Ich möchte mit Ihrer freundlichen Zustimmung diesen Punkt gern noch einmal aufnehmen.
Ich finde es sehr bemerkenswert, daß wir uns im Finanzplanungsrat nach einer mehrstündigen Diskussion im Kreis aller Finanzminister der Länder und der kommunalen Spitzenvertreter darauf verständigt haben, daß in der Tat in der mittelfristigen Periode eine Größenordnung von 3 % der Orientierungsrahmen sein soll; 3% jährliches Ausgabewachstum. Das setzt natürlich — das wird klar gesagt — eine große Anstrengung zur Konsolidierung voraus.
Ich begrüße es, daß Bund und Länder in diesen Prinzipien übereinstimmen, und würde mich freuen, wenn auch die sozialdemokratische Fraktion nach einer erneuten Prüfung dies grundsätzlich anerkennen könnte. Es bedeutet nicht eine Billigung aller Einzelbeschlüsse, die wir noch vorzulegen und zu erarbeiten haben.

(Dr. Vogel [SPD]: Jetzt ist die Tonart schon angemessener!)

— Das Echo ist ja auch viel ruhiger und freundlicher. Ich habe doch nur repliziert, Herr Kollege Vogel. Sie können einmal im Stenographischen Protokoll nachlesen, was da so an Zwischenrufen kam, wenn das nicht gestrichen wird, was ich nicht hoffe. Der Originaltext steht Ihnen sicher zur Verfügung.

(Dr. Hauff [SPD]: Soviel Selbstgerechtigkeit gibt es nicht noch einmal! — Zuruf des Abg. Dr. Vogel [SPD])

— Entschuldigen Sie. Sie können sicher davon ausgehen, daß ich auf eine bestimmte Form der



Bundesminister Dr. Stoltenberg
Attacken gegen uns auch in Zukunft deutlich antworten werde, Herr Kollege Hauff. Da können Sie ganz sicher sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will in aller Klarheit sagen, daß die steuerpolitischen Ziele, die wir in den Grundzügen in der Regierungserklärung vernommen haben und die in einigen Einzelelementen zu konkretisieren sein werden, für uns der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik dienen. Natürlich gibt es die von Herrn Kleinert und anderen erwähnte Problematik der unterschiedlichen Wirkung von Investitionen. Aber man kann daraus doch nicht die verfehlte Folgerung ziehen, wie Sie es getan haben, daß eine Steigerung der Investitionen auch durch eine Senkung der ertragsunabhängigen Steuern gleichsam automatisch zur Steigerung der Arbeitslosigkeit führt. Das wäre ein grobes Mißverständnis; denn Aufgabe ist es doch, durch die Steuerpolitik, aber auch durch Kostenbegrenzungen und Entlastungen, also das Gegenteil von dem, was Sie hier in der Diskussion über die Arbeitszeitverkürzung verlangt haben, den Anteil der Betriebserweiterungen und der Neugründungen auch in der Gewichtung der Investitionen wieder zu vergrößern.

(Zuruf von den GRÜNEN: Wer kauft das Zeug denn ab, wenn man kein Geld hat?)

— Es gibt hinreichende Marktmöglichkeiten. Sie dürfen Ihre eigene Versorgungslage nicht zum Sättigungsgrad der deutschen Volkswirtschaft ummünzen. Das ist ein großer Irrtum, meine Damen und
Herren.

(Große Heiterkeit und lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mein zeitlicher Rahmen macht es nicht möglich, das zu vertiefen. Ich möchte nur folgenden Gedanken für die weiterführende Debatte vortragen.
Die Verwirklichung der phantastischen Vorstellung einer Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden plus einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich wäre der sicherste Weg zur Zerstörung unserer Wettbewerbsfähigkeit und zu einer Massenarbeitslosigkeit, die alle Vorstellungen überschreitet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die gewerkschaftliche Diskussion ist in diesem Punkte viel weiter als das, was wir von den Vertretern der GRÜNEN gehört haben.

(Stratmann [GRÜNE]: Sie sind doch am Ende! Sie haben doch kein Konzept zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit!)

— Nein, wir fangen erst an, acht Wochen nach der gewonnenen Wahl. Wir sind nicht am Ende.

(Stratmann [GRÜNE]: Schleswig-Holstein! Was ist denn dort?)

Machen Sie sich keine Sorge! Wir sind nicht am Ende, wir fangen erst richtig an. Das können wir jetzt wie Willy Brandt 1969 erst einmal sagen. Hoffentlich mit besseren Ergebnissen, wenn man uns dann später bewertet.
Zur Haushalts- und Rentenpolitik will ich noch eines klarstellen: Im Haushalt 1984 wird es keine Kürzung des Bundeszuschusses geben. Wir werden den Bundeszuschuß zur Rentenversicherung nach geltendem Recht voll zur Verfügung stellen. Ich wundere mich über Ihre Kritik bzw. über die Ihrer Freunde, Frau Fuchs. Ich darf Sie daran erinnern, daß Sie noch im letzten Sommer eine Kürzung des Bundeszuschusses um 1,3 Milliarden DM beschlossen haben. Das macht Ihre Reden zur Rentenversicherung doch ein bißchen unglaubwürdig, um daran noch einmal zu erinnern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden die noch offenen Fragen im Kabinett
— auch in der engen Zusammenarbeit der Kollegen Blüm, Graf Lambsdorff und Stoltenberg — so zeitig klären, daß wir die Antworten bis Ende Juni geben können. Nur gilt auch hier: Was von Ihnen über Jahre hinweg nicht entschieden und gelöst wurde, kann man jetzt nicht alles in acht Wochen, auch nicht für die kommenden zwei/drei Jahre, entscheiden.

(Reents [GRÜNE]: Runter mit der Zahl der Arbeitsplätze und rauf mit den Diäten — das geht ganz schnell!)

Ich habe schon klargemacht: Uns geht es bei aller Heftigkeit gewisser Reaktionen in diesem Hause — warum sollen wir über diese Fragen im Hin und Her nicht auch einmal heftiger reden, denn es sind j a Fragen, die uns alle bewegen — —

(Zuruf von den GRÜNEN: Vor allem Ihr Stil!)

— In punkto Stil brauche ich von Ihnen keine Belehrung; das muß ich Ihnen wirklich sagen. — Es geht uns darum, durch das zeitliche Vorgehen vor allem auch den Bedürfnissen und Belangen der Verfassungsorgane stärker Rechnung zu tragen. Wir wollen die notwendigen Entscheidungen bis Ende Juni treffen — die Grundentscheidungen schon im Mai —, den Bundeshaushalt und die Gesetzentwürfe dann zu Beginn der Sommerpause verabschieden, der öffentlichen Diskussion stellen, so daß Bundesrat und Bundestag — ich sage es in der Reihenfolge, weil es ja so vorgesehen ist, daß zunächst der Bundesrat votiert — die Möglichkeit haben, die Vorschläge der Bundesregierung im Bereich der Finanzpolitik, der Haushaltspolitik und der Steuerpolitik sorgfältig zu beraten.
Ich bitte aber alle sehr herzlich, angesichts der Größe und Schwere der Aufgabe

(Stratmann [GRÜNE]: Hui!)

— wenn Sie Zahlen bewerten können, werden Sie an Hand der Zahlen, die ich vorgefunden habe, schon erkennen, daß das eine große und schwere Aufgabe ist — uns kritisch, aber auch konstruktiv zu begleiten und bei allen Gegensätzen, die wir nicht verwischen wollen, die Ordnung der Staatsfinanzen als eine der großen Gemeinschaftsaufgaben unserer Zeit anzuerkennen. — Schönen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)





Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000503200
Das Wort hat der Kollege Apel.

(Vorsitz: Vizepräsident Frau Renger)


Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1000503300
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich ist es gut, daß wir durch diesen Zwischentakt, den wir eben vernommen haben, wieder zu einer mehr gelassenen Aussprache zurückkehren können. Natürlich macht Ihnen, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, niemand Vorschriften über den Stil, in dem Sie im Deutschen Bundestag reden. Das zu entscheiden gehört zur Freiheit eines jeden Abgeordneten. Nur, Sie sollten sich einmal selbstkritisch fragen, auch bei der Durchsicht des Protokolls, ob es sinnvoll und vernünftig ist, wenn Sie sich zum Zensor parlamentarischer Debatte aufwerfen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind doch ein sich anbiedernder Pharisäer!)

Ich habe als junger Abgeordneter, Herr Präsident Dr. Barzel, einen Ordnungsruf für die Bemerkung bekommen, das sei eine dumme Unterstellung. Augenscheinlich wird es jetzt zugelassen — ich finde das sehr schlimm —, daß einem Abgeordneten der GRÜNEN gesagt wird, es handle sich um die dümmste Unterstellung, die man je gehört habe.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich finde das nicht in Ordnung.


(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Der Ton macht die Musik! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Wir sollten uns in der Tat bei all den Meinungsverschiedenheiten, die wir haben — und die sind beträchtlich —, auch gegenüber der Fraktion der GRÜNEN einen Ton und einen Stil zu pflegen versuchen, der in der parlamentarischen Debatte weiterführt.
Herr Kollege Stoltenberg, Sie haben gestern im „ZDF-Magazin", aber auch heute erneut von der Erblast geredet. Ich kann das verstehen. Sie sind in großen Schwierigkeiten. Sie wissen nicht, wie Sie mit Ihren Problemen fertig werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das sind Ihre Probleme!)

Der Bundeskanzler macht Ihnen keine Vorgaben. Er wartet ab, bis Sie sich mit Herrn Blüm geeinigt haben. Da ist es natürlich bequem und naheliegend, auf „Erblast" auszuweichen.
Nur sollten wir, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, die Debatte, glaube ich, anders führen. Wir sollten zugeben, daß keine der Fraktionen der letzten Bundestage in einem Zustand finanzpolitischer Unschuld lebt. Wir haben 13 Jahre lang die Finanzminister gestellt. Wir haben natürlich auch Fehler gemacht.

(Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Viele!)

Aber wir sind davon überzeugt, daß diese Finanzpolitik rundherum ein großer Erfolg war; die internationalen Kennzahlen beweisen das doch. Sie können sich doch nicht hinstellen und unsere Wirtschafts- und Finanzpolitik in Grund und Boden verdammen und all die Kennzeichen und Kennzahlen, die nun besser geworden sind — wie mehr Preisstabilität, Leistungsbilanzausgleich, Zinssenkung, Verbesserung des Außenwerts der DM, Verbesserung der „terms of trade" —, sich selber zuschreiben. Nehmen sie doch bitte zur Kenntnis: Dies ist vor allem bzw. auch die Arbeit der sozialliberalen Koalition gewesen.

(Beifall bei der SPD)

Entweder gibt es hier eine Erblast; dann müssen Sie diese Kennzahlen vergessen. Oder Sie bekennen sich zu diesen positiven Kennzahlen, die unsere Volkswirtschaft und sicherlich auch der neuen Koalition guttun; aber dann muß das Gerede von der Erblast relativiert werden.
Hinzu kommt ein weiteres. So ist es ja nicht gewesen, daß die Unionsparteien in diesen 13 Jahren quasi in einem parlamentarischen Beiboot mitgefahren sind. Sie haben über den Bundesrat, dieses von Ihnen stets brutal eingesetzte Blockadeinstrument, und über den Vermittlungsausschuß in der Größenordnung von mehreren Milliarden draufgesattelt.

(Beifall bei der SPD) Wir haben Ihnen das hier vorgeführt.

Lassen Sie uns doch gemeinsam diese Vergangenheit annehmen! Daß Sie diese Vergangenheit in die Zukunft weiterentwickeln wollen, finde ich gut; nur kann Vergangenheitsbewältigung nicht Zukunftsplanung ersetzen. Ausreden, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, können keine Antworten für finanzpolitische Entscheidungen ersetzen, die wir von Ihnen erwarten.
Ein paar Sätze zu Herrn Hoppe. Herr Hoppe, ich denke, Sie sollten unsere gemeinsame Vergangenheit, auch wenn Sie sie gern verdrängen wollen — ich verstehe das —, auch hier etwas anders bewerten. Sie haben von Beschäftigungsprogrammen gesprochen, die heute keinen Sinn mehr hätten. Ich sehe das anders. Das Zukunftsinvestitionsprogramm, das wir beide gewollt haben, hat doch über viele Jahre die Bauwirtschaft stabilisiert, Arbeitsplätze geschaffen, Nützliches im Umweltschutz und bei der Erhaltung unserer Denkmäler und unserer Bausubstanz geleistet.
Herr Kollege Hoppe, wir haben doch auch die steuerlichen Rahmenbedingungen, insbesondere des Mittelstandes — durch Verlustrücktrag, durch Abschreibungsverbesserungen —, erleichtert. Das war doch allen positiv. Das hat sicherlich dazu geführt, daß über viele Jahre die Arbeitslosigkeit in unserem Land geringer als anderswo war. Wir sollten das nicht abwerten. Sie haben gar keinen Grund dazu. Es wäre gut, wenn in der jetzigen Koalition hier angeknüpft werden könnte.
Nun wird von Ihnen gesagt, Herr Hoppe — und das hören wir auch aus der Unionsfraktion, das hören wir auch von Herrn Stoltenberg —, nur die Rückbesinnung auf die Marktwirtschaft würde die Probleme regeln. Mein Fraktionsvorsitzender hat



Dr. Apel
1 dazu Bemerkungen gemacht. Ich will nur auf zwei Fakten hinweisen.
Das sagt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesanstalt für Arbeit: Selbst wenn wir in den nächsten Jahren ein reales Wachstum des Bruttosozialprodukts um 3 bis 3,5 % haben werden — ich halte das für sehr optimistisch —, können wir die Zahl der im Arbeitsprozeß Beschäftigten gerade halten. Da ist nicht von Abbau der Arbeitslosigkeit die Rede. Im Gegenteil, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, weil — auf Grund der Demographie — die jungen Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt drängen. Da muß schon ein bißchen mehr getan werden. Da werden Sie gar nicht umhinkönnen, neben den Steuererleichterungen, die Sie vorhaben, im Bereich staatlicher Investitionen und Beschäftigungsprogramme etwas zu tun. Und wenn Sie sagen, Herr Hoppe, das sei auch Ihre Meinung, dann stimmt mich das durchaus hoffnungsvoll.
Herr Stoltenberg, Sie sagen: Nun wartet mal ab; die Antworten, wie wir Haushaltskonsolidierung betreiben, werdet Ihr schon bekommen.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Natürlich!)

Ich gehe davon aus; denn Sie sind j a dazu gezwungen. Sie können j a den Streit mit Herrn Blüm nicht ad infinitum fortsetzen. Sie müssen sich dann ja entscheiden, und das wird für Herrn Blüm hart werden. Aber davon mal ganz abgesehen, ist es doch eigentlich — und nun bin ich ganz vorsichtig — parlamentarisch merkwürdig — eigentlich müßte ich
sagen: ein parlamentarischer Skandal —,

(Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Sie sind ja ein Zensor!)

daß am Beginn der Legislaturperiode, wo uns für vier Jahre vorgetragen wird, wie die neue Koalition die Wirtschafts- und Finanzpolitik gestalten will, wie sie Haushaltskonsolidierung betreiben will, wo hier ein Schwerpunkt von Herrn Bundeskanzler Dr. Kohl gesetzt worden ist, in den Einzelheiten Fehlanzeige erfolgt. Ich sage Ihnen: Ich halte das für eine Mißachtung des Parlaments. Es ist auch eine Mißachtung der veröffentlichten und der öffentlichen Meinung; und die hat sich j a heute morgen in vielen Zeitungen dazu hinlänglich deutlich geäußert. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Dr. Stoltenberg, Sie legten Wert darauf — und ich kann das sehr gut verstehen —, daß Finanzpolitik besonders eine Frage der Glaubwürdigkeit ist. Sie haben uns Sozialdemokraten daran erinnert — und auch darin haben Sie recht —, daß natürlich keiner aus seiner politischen Vergangenheit aussteigt. Aber das gilt natürlich auch für Sie, Herr Kollege Dr. Stoltenberg.
Und nun müssen wir Ihnen einige Meßlatten, die Sie für finanzpolitische Solidität aufgestellt haben — im übrigen waren es, wie wir festgestellt haben, doch nur Schlagstöcke —, noch mal vortragen und Sie um Kommentierung bitten.
Ich beginne mit der Meßlatte Nr. 1. Herr Häfele sagte am 1. Juli 1982: Die Neuverschuldung wird 1983 40 bis 45 Milliarden DM betragen. Da hat er in etwa recht. Denn trotz aller Dementis, die wir aus der Regierungsfraktion der CDU/CSU hören, ist natürlich ein Nachtragshaushalt fällig. Das wissen wir ja alle. Herr Häfele sagte dann mit Stentorstimme, dies sei zum dritten Mal ein Verfassungsbruch. Wie ist das, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, mit dem Verfassungsbruch?

(Beifall bei der SPD)

Ist diese Nettokreditaufnahme von 40 Milliarden DM — und es werden noch mehr werden — ein Verfassungsbruch? Ja oder nein? Ich bitte um eine klare Antwort, damit wir wissen, wie Sie zu Nettokreditaufnahmen in dieser Größenordnung stehen.

(Beifall bei der SPD)

Sie, Herr Stoltenberg, haben an demselben 1. Juli 1982 im Süddeutschen Rundfunk gesagt: „Die Finanzgrundlagen der Rentenversicherung werden in unverantwortlicher Weise getroffen; hier wird die Sozialversicherung getroffen, um den Bundeshaushalt zu entlasten." — Herr Kollege Dr. Stoltenberg, haben Sie nicht genau dasselbe gemacht, indem Sie die Überweisungen von der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung massiv gekürzt haben, um dann Ihren Zuschußbedarf an die Bundesanstalt für Arbeit kürzen zu können? Wie ist das mit diesem Vorwurf? War er damals richtig an unsere Adresse gerichtet? Wie ist das mit dieser Meßlatte, die Sie aufgestellt haben? Wie messen Sie sich selbst an dieser Meßlatte? Das würde ich ganz gerne von Ihnen hören.

(Beifall bei der SPD)

Eine dritte Meßlatte. Sie sagen auch in dieser Julizeit im Westdeutschen Rundfunk: „Jede direkte oder indirekte Form der Steuer- und Abgabenerhöhungen wird abgelehnt." — Nun muß ich gar nicht auf Einzelheiten eingehen; jeder Mensch kennt sie: die Abgabenerhöhung bei der Arbeitslosenversicherung, bei der Rentenversicherung, die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Wie stehen Sie heute zu dieser Meßlatte? War sie damals nur ein Schlagstock, um Sozialliberale zu treffen, oder verfahren Sie auch in diesem Punkt nach der Melodie „Was schert mich das Geschwätz von gestern"?

(Beifall bei der SPD)

Nun komme ich zu einem Punkt, den auch Herr Kollege Dr. Althammer heute morgen angesprochen hat.

(Walther [SPD]: Hat der etwas angesprochen?)

— Ja, er hat hier eine Viertelstunde geredet.

(Heiterkeit bei der SPD)

Herr Stoltenberg, Städte, Kommunen und Länder, sagen Sie am 4. Juli 1982, müssen in den Stand versetzt werden, mehr zu investieren. Der Bundeskanzler sagt gestern: „Keine Konsolidierung des Bundeshaushalts zu Lasten der Länder und Gemeinden"; „die Gemeinden brauchen Handlungsspielraum." — Aber wie sieht es denn mit der Realität aus? Da wird die Gewerbesteuer gekürzt und wird am 1. Januar 1984 erneut gekürzt. Da führen



Dr. Apel
die massiven Einschnitte in die sozialen Besitzstände beim Wohngeld, bei den Renten, vielleicht demnächst auch bei der Arbeitslosenversicherung, zu massiven Belastungen der Gemeinden bei Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz. Und was sagen Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung? Da laden wir doch einmal die Gemeinden ein, Vorschläge zu machen, wie das BSHG verändert werden soll, um die Lasten zu verringern. — Ist das die Führungsrolle, Herr Dr. Stoltenberg, die Sie sich selber in dieser schwierigen Zeit verordnen?

(Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Das ist Partnerschaft!)

— Partnerschaft ist nach Ihren Meinungen dann also folgendes: Erst einmal nehme ich den Gebietskörperschaften Geld weg, und zwar massiv, und dann sollen sie mir sagen, wie sie mit der erschwerten Situation fertig werden, damit ich gnädig überlege, ob ich diese Situation im Sinne der Gemeinde regele. Das ist keine Partnerschaft, tut mir leid.

(Beifall bei der SPD)

Dann wollen Sie ab 1. Januar 1984 die Vermögensteuer senken. Wie bequem! Das ist nämlich eine Ländersteuer. Die Kommunen sind über den kommunalen Finanzverbund erneut betroffen, indem sie etwa 20 % weniger einnehmen werden; sie dürfen dafür bei der Mehrwertsteuer mehr bezahlen. Das heißt, Herr Kollege Stoltenberg: Sie wälzen Lasten auf die Kommunen ab, Sie schwächen die Finanzkraft der Kommunen. Deswegen stimmt es doch, was die kommunalen Spitzenverbände, aber auch die Experten in Ihrem eigenen Hause sagen: Die Bauinvestitionen im kommunalen Sektor werden im Jahre 1983 um nominal 5% — real ist das mehr — zurückgehen. Deshalb sagt auch die Bauwirtschaft, daß es fraglich sei, ob der Bauaufschwung trage, denn hier gebe es ein tiefes kommunales Loch rückläufiger Investitionen.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie sind falsch gebrieft!)

Herr Kollege Stoltenberg, ich will nicht auch noch die anderen Peinlichkeiten ansprechen, z. B. was Sie vorher zu den Bundesbankgewinnen gesagt haben, was Sie hinterher getan haben, wie Herr Häfele hier bei jeder Gelegenheit gesagt hat, daß die progressionsbedingten Mehreinnahmen bei der Lohn- und Einkommensteuer gesenkt werden müssen; die lineare Kürzung von Subventionen ist angesprochen. Ich möchte Sie lieber, Herr Kollege Stoltenberg, mit Aussagen aus der letzten Zeit und dem Tun in diesen Tagen konfrontieren.
Sie haben auf dem Deutschen Sparkassentag eine, wie ich finde, bemerkenswerte Rede gehalten. Das war so eine Art finanzpolitische Regierungserklärung, die sicherlich größte Aufmerksamkeit beanspruchen darf. Da werden hehre Grundsätze aufgestellt. Ich will Ihnen einige vortragen und will Ihnen sagen, daß wir so weit gar nicht auseinander sind. Nur sind bei Ihnen hehrer Anspruch und Tat zwei verschiedene Paar Schuhe; so, als wenn Sie immer noch in der Opposition wären. Sie sind es nicht. Sie müssen sich zu Ihren Grundsätzen bekennen. Und nun bin ich bei Ihren Grundsätzen.

(Beifall bei der SPD — Stratmann [GRÜNE]: Das war bei Ihnen aber auch schon so!)

Der erste Grundsatz, Herr Stoltenberg: Die Staats- und Abgabenquote ist zu hoch. Sie verwendeten ein Zitat, das Sie sich aber zu eigen machten, indem Sie sagten: Wir sind auf dem Wege von der Marktwirtschaft zur Staatswirtschaft. Sie beklagen also die Abgaben- und Steuerquote. Zunächst einmal haben Sie sie in den letzten Monaten kräftig nach oben geführt. Das kann nicht bestritten werden. Die Mehrwertsteuererhöhung kommt erst noch. Sie wollen weitere Abgabenerhöhungen beschließen, hat der Herr Bundeskanzler gestern mitgeteilt, indem Sie die Sonderleistungen zu Gehalt und Lohn in die Sozialversicherungsabgaben einbeziehen wollen. Das wird im übrigen die jeweils Betroffenen sehr unterschiedlich treffen, die Geringerverdienenden stärker als die Gutverdienenden.
Wie ist es denn eigentlich mit diesem Grundsatz? Wie, Herr Stoltenberg, ist es mit der Feststellung, die Sie dem Finanzplanungsrat vorgelegt haben, worin die Zahlen lauten: 1982 eine Steuerquote von 23,7 %, 1984 von fast 24 %, 1985 von 24,3 %, 1987 von 27,6 %? Herr Kollege Stoltenberg, selbst wenn Sie nichts täten — aber in dem Bereich der Abgaben tun Sie etwas —, würde einfach die Steuerprogression zu einer Erhöhung der Steuer- und Abgabenlast führen. Deswegen, bitte schön, nicht hehre Grundsätze aufstellen und sich anders verhalten.
Einen zweiten Punkt finde ich hochinteressant. Sie sagten in dieser Rede vor dem Sparkassentag:
Der Bürger kann die Steuern, das Transfersystem nicht mehr erfassen. Für den Bürger ist das unkalkulierbar geworden.
Und Sie sagten den interessanten Satz: Der Gerechtigkeitsgehalt des Systems — des Steuersystems —
steht zur Debatte.
Das finde ich gut.
Aber was sagen Sie zu folgender Aussage von Herrn Häfele in diesen Tagen vor dem Steuerberaterkongreß? Ich zitiere auf Grund von Zeitungsmeldungen — darin war es in Anführungsstrichen —:
Künftig dürfen künstliche Lösungen wie die Investitionshilfeabgabe nicht mehr stattfinden. Sie schafft neue Ungerechtigkeiten und kann von der Verwaltung nicht mehr verkraftet werden.
Ich sage bravo! Bravo, das ist es. Diese Zwangsanleihe schafft neue Ungerechtigkeiten. Die Arbeitnehmer zahlen sie, die Unternehmer zahlen sie nicht. Deswegen ist sie verfassungswidrig, und Sie werden Probleme haben, mit diesem Homunkulus vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen zu können.

(Beifall bei der SPD)




Dr. Apel
Daß die Steuerverwaltung unter diesem Problem stöhnt, daß sehr viel weniger einkommen wird, als erwartet wird, darauf hat Hajo Hoffmann hingewiesen — eben auch wegen Verwaltungspraktiken, aber auch wegen der Ungerechtigkeit. Und dann reden Sie hier, die Ergänzungsabgabe sei Teufelszeug, das ginge nicht. Ich erinnere mich auch noch an die Worte von Graf Lambsdorff. Nun will ich nicht auf die peinliche Situation abheben, die Sie in Ihrem Wahlkampf hatten. Das war schon ein starkes Stück. Das würde Herr Kohl mit entsprechenden Verbalinjurien belegen; ich lasse das.

(Zuruf von der SPD: Das war unerträglich!)

Aber wenn es so ist, daß die Bürger nicht mehr durchschauen, daß der Gerechtigkeitsgehalt zur Debatte steht, warum lassen Sie dann nicht ab von dieser Investitionshilfeabgabe und beschließen mit uns zusammen eine saubere Ergänzungsabgabe, die alle trifft und die im übrigen etwas übrigläßt für staatliche Investitionsprogramme, die auch Sie wollen, und die etwas übrigläßt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, vielleicht sogar für die schwierige Aufgabe der Haushaltskonsolidierung, die Sie haben?

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir schon über Gerechtigkeit reden — und Sie sprechen von Gerechtigkeit auch im Transfersystem, Herr Kollege Dr. Stoltenberg —, frage ich Sie: Wie wollen Sie eigentlich den Gerechtigkeitsgehalt, von dem Sie sprechen und der, wie Sie sagen, zur Debatte stehe, aufrechterhalten, wenn Sie für die 6,5 Milliarden DM, die Sie einzusparen fordern, Rentner, Arbeitslose und Arbeitnehmer zur Kasse bitten wollen und von den 4 Milliarden DM, die von der Mehrwertsteuer noch verteilt werden können, 3,5 Milliarden DM in den Unternehmensbereich schieben wollen? Hier ist gestern vom Bundeskanzler von mehr Bescheidenheit geredet worden. Wie wäre es denn, wenn diese Koalition einmal die Unternehmensverbände zur Bescheidenheit aufforderte — bis hin zu den Gehältern der Bankvorstände!

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Frau Berger [Berlin]: [CDU/CSU]: Neue Heimat!)

Damit bin ich bei einer weiteren Aussage, die ich ja gut finde. Sie sagten auf dem Sparkassentag: Berufliche Leistung und Kreativität müssen sich wieder lohnen. Herr Kohl hat das gestern in seiner Regierungserklärung aufgegriffen und gesagt: Leistung darf nicht länger steuerlich bestraft werden. Na schön. Ich bin davon überzeugt, daß die Senkung der Gewerbesteuer, die Senkung der Vermögensteuer sowie andere Maßnahmen, die Sie vorhaben, nur die Großbetriebe begünstigen werden.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Denn die Kleinbetriebe sind aus der Gewerbesteuerpflicht längst herausgewachsen.

(Beifall bei der SPD) Auch die Senkung der Vermögensteuer wird Großbetriebe wie Bosch, Mercedes und andere überproportional begünstigen;


(Sehr gut! bei der SPD)

davon wird der Mittelstand wenig haben. Dann aber reden Sie auch nicht über Mittelstandspolitik, Herr Dr. Althammer, sondern sagen Sie, daß Sie die Großunternehmen begünstigen wollen, weil das die Wahrheit ist.

(Beifall bei der SPD)

Aber wenn sich dann Leistung wieder lohnen soll, wenn Kreativität gefördert werden soll, gilt das dann nur für die Unternehmen oder auch für die 25 Millionen Berufstätigen? Wollen wir die so abspeisen, wie Sie, Herr Dr. Häfele, der Protagonist der Rückgabe von inflationsbedingten Mehreinnahmen bei der Lohn- und Einkommensteuer, das auf dem Steuerberaterkongreß getan haben, wo Sie meinten: Das könnte 1986 sein, das könnte 1987 sein, das könnte auch später sein? Ich finde es ein starkes Stück, daß Sie Ihre Position innerhalb von 10 Monaten in einer Art und Weise ändern, die mit intellektueller Redlichkeit — ich möchte Ihnen nicht zu nahetreten — nun wirklich wenig zu tun hat.

(Beifall bei der SPD)

Nun weiß ich j a, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, daß Sie in einer Zwangslage sind. Wenn man beim Lohn- und Einkommensteuertarif an eine Tarifreform heran will, dann darf man nicht kleckern, sondern muß klotzen. Das ist mir sehr wohl bewußt; ich war j a auch einmal auf Ihrem Stuhl.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Damals hat Sie das Pferd getreten!)

Aber wenn das Ihr Problem ist, wenn das das zentrale Problem ist, wie wir Leistungsanreize auch für die schaffen, die abhängig beschäftigt sind, dann muß ich Sie fragen: Wieso können Sie es verantworten, dreieinhalb Milliarden DM für Steuersenkungen im Unternehmensbereich im letzten Jahr zu verkleckern? Wie können Sie uns einen Familienlastenausgleich durch Familiensplitting andienen, der entweder die soziale Gerechtigkeit — ich komme darauf noch zurück — in Stücke oder aber die öffentlichen Finanzen leck schlägt? Sie müssen hier wohl gebeten werden, noch einmal nachzudenken, ob es nicht geboten ist, anzusparen, damit insbesondere die Arbeitnehmer, die jetzt in die Progressionszone rücken, eine Chance sehen, auch einmal wieder weniger Steuern zu zahlen. Herr Kollege Stoltenberg, wenn dieses Problem, über das Sie gestern auch in der Sendung mit Herrn Löwenthal gesprochen haben — das ist ja eine Sendung, die weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit gesendet und sowieso nur von Ihren Parteifreunden gesehen wird

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf des Abg. Carstens [Emstek] [CDU/ CSU])




Dr. Apel
— ja, ich habe mir das gestern angeguckt; das ist mir aber schwergefallen, Herr Carstens, das muß ich zugeben;

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber richtig zugehört haben Sie nicht!)

es war ein echtes Opfer —,

(Zuruf von der CDU/CSU)

wirklich so drängend ist, dann schieben Sie dieses Thema nicht auf die Erblast — wir haben zum 1. Januar 1981 die Lohn- und Einkommensteuer beträchtlich gesenkt —, sondern treffen Sie Vorsorge, damit dieses Problem nicht über Sie kommt und Ihnen die Haushaltskonsolidierung, die Sie wollen und die wir wollen, zerstört.
Dann haben Sie einen weiteren Grundsatz verkündet, den ich großartig finde. Sie sagen — ich zitiere wörtlich —:
Eine ständige Aufgabe ist auch die Überprüfung von nicht mehr gerechtfertigten steuerlichen Vorteilen. Ich bin der Meinung, daß es schon aus Gründen der Steuergerechtigkeit nicht mehr zugelassen werden sollte,
— im Konjunktiv! —
daß sich Bürger durch Verlustzuweisungsgesellschaften ihrer Steuerpflicht ganz oder überwiegend entziehen.
Herr Stoltenberg, Sie reden doch auf dem Sparkassentag nicht als Privatmann, Sie reden dort als Bundesminister der Finanzen. Warum handeln Sie denn nicht?

(Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Was haben Sie denn 13 Jahre getan?)

— Lieber Herr Kollege, immer wieder sind wir bei diesem Thema tätig gewesen. Da gibt es eine Koalition.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Nichts haben Sie gemacht! Geschwätzt haben Sie!)

— Nun wollen wir doch einmal wieder ruhig bleiben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben 13 Jahre geredet!)

Ich will Ihnen nur folgendes in Erinnerung rufen: Das Land Nordrhein-Westfalen hat gerade zu diesem Thema einen detaillierten, zupackenden und richtungsweisenden Gesetzentwurf im Bundesrat eingebracht. Und was haben Sie gemacht?

(Dr. Spöri [SPD]: Gebremst! Blockiert!)

Sie haben — sicherlich in Abstimmung mit Herrn Stoltenberg — diese Initiative Ende 1982, genau gesagt am 28. November 1982 beerdigt, Sie haben sie sterben lassen.

(Dr. Spöri [SPD]: Das ist die Wahrheit!)

Wir werden Sie an Ihren Worten messen, Herr Kollege Dr. Stoltenberg. Hier wird nicht mehr geprüft, hier wird gehandelt, und zwar nicht nur deshalb, weil hier ökonomische Ressourcen fehlgeleitet werden, sondern auch, weil dies ein wichtiger Beitrag
zur Sanierung der Staatsfinanzen und zu einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit ist.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich einen Punkt aufgreifen, der gestern in dem finanzpolitischen Teil der Ausführungen von Bundeskanzler Dr. Kohl vorkam. Ich zitiere Bundeskanzler Dr. Kohl wörtlich:
Wir müssen wieder ein kinderfreundliches Land werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Wie schön! Aber wenn man dann nachliest, was anschließend kommt, dann wird das Familiensplitting als Vehikel zur Erreichung des „kinderfreundlichen Landes" Bundesrepublik Deutschland angedient.

(Zuruf von der CDU/CSU)

— Nun lesen Sie doch die Regierungserklärung zu diesem Punkte nach! Da mag ja noch alles andere dazukommen, auch z. B. die beabsichtigte Veränderung des § 218, aber im Bereiche des Steuerrechts reden Sie nur darüber.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Wer Kinder hat, soll weniger Steuern zahlen!)

— Ja, nun mal langsam. Da muß ich einmal den Bundeskanzler und Sie fragen, ob Sie sich über die Konsequenzen dieses Plans im klaren sind: Sie müssen entweder massive Breschen in den Bundeshaushalt schlagen oder aber massiv das Kindergeld zusammenknüppeln.

(Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Beides, was Sie sagen, ist falsch!)

Wollen Sie denn bestreiten — das sagen ja auch die Experten —, daß beim Familiensplitting der Spitzenverdiener 16mal soviel Steuervorteil bekommt wie der Geringverdiener?

(Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Auch falsch!)

Wollen Sie bestreiten, daß uns die Experten schlüssig nachweisen, daß man um so weniger aus dem Familiensplitting erzielt, je mehr Kinder man hat? Dies ist eine unmögliche und wirklich massive Ungleichbehandlung von Kindern.

(Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Herr Apel, es ist wirklich falsch, was Sie sagen!)

Dies führt nicht zu mehr Kinderfreundlichkeit in
der Bundesrepublik, sondern genau zum Gegenteil.

(Beifall bei der SPD)

Ich sage Ihnen: Diejenigen, die ihre Kinder notfalls auch ohne staatliche Hilfe und Alimentation erziehen können, werden massiv begünstigt, und die anderen werden zur Ader gelassen. Damit geben Sie, Herr Kollege Stoltenberg, und auch Sie von der CDU/CSU und der FDP, einen Durchbruch in der Steuerpolitik auf, den wir gemeinsam erzielt haben. Am 1. Januar 1975 haben wir die Kinderfreibeträge abgeschafft; wir sind zum einkommensunabhängigen, an der Zahl der Kinder orientierten Kindergeld gekommen. Ihre Pläne heute sind eine eindeutige Wende rückwärts, eine Wende, die unge-



Dr. Apel
recht ist und die nach meiner Überzeugung nur vor dem Bundesverfassungsgericht landen kann.

(Beifall bei der SPD — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Das Kindergeld ist einkommensabhängig gekürzt worden! Haben Sie das nicht bemerkt? Das wissen Sie doch! — Dr. Riedl [München] [CDU/CSU]: Lassen Sie sich nicht mit dem Friedmann ein, Herr Apel! Das ist gefährlich!)

Ich komme zu einem weiteren Punkt, Herr Stoltenberg. Das soll dann auch der letzte Punkt sein.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist gut so, denn es reicht!)

Herr Stoltenberg, Sie sagten — wiederum vor dem Sparkassentag —, die Probleme unserer Wirtschaft seien im Kern struktureller Natur. Sie sagen, auch die Arbeitslosigkeit sei vorrangig strukturell. Sie lehnen deswegen die expansive Finanzpolitik ab. Darüber sind wir teilweise anderer Meinung. Aber wenn das so ist, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, dann frage ich: Wann erhalten eigentlich die vier norddeutschen Küstenländer eine Antwort auf das Werftenkonzept, das vier norddeutsche Küstenländer — zwei von der CDU regiert, zwei von den Sozialdemokraten — vorgelegt haben?

(Beifall bei der SPD)

Wann wird ihnen gesagt, ob der Bund bereit ist, die Mehrlasten, die diese vier Länderchefs einheitlich fordern und die ich für geboten halte, auch zu tragen? Jetzt sagen Sie: im Juni. Sind Sie in der Tat der Meinung, daß die Werftindustrie, die in äußersten Schwierigkeiten ist, so lange warten darf? Muß nicht von Ihnen vorher wie bei der Stahlindustrie eine Vorgabe gemacht werden?
Ich sage Ihnen: Wir können uns nicht einverstanden erklären mit dem, was Herr Kohl zu diesem Thema gesagt hat. Er hat gestern zur Werftindustrie gesagt: „Mut zu mehr Markt ist auch hier der richtige Weg." Und dann hat er gesagt: „Wir werden befristet helfen zur Anpassung an den Markt."
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie sind lange genug Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein gewesen. Wehren Sie sich gegen dieses Konzept Ihres Bundeskanzlers. Es wird die deutsche Werftindustrie ruinieren. Es wird uns die Chance nehmen, an der Küste durch Schiffbau und Schiffsreparatur einen wichtigen Beitrag auch zum Außenhandel zu leisten. Geben Sie eine Zusage, ehe Resignation, ehe Arbeitslosigkeit und mangelnde Aufträge die Situation dramatisch verschlechtern!

(Beifall bei der SPD)

Ich bitte darum, daß hier Aussagen gemacht werden.

(Beifall bei der SPD)

Mit folgendem möchte ich abschließen. Erstens. Herr Kollege Stoltenberg, vor uns liegen vier Jahre Finanzpolitik. Sie werden schwierig, schwierig für Sie und schwierig für uns; denn wir werden den Stil
der Konfrontation, den Sie hier heute morgen eingeführt haben, nicht wollen.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Wer hat ihn denn eingeführt?)

Aber eines werden wir natürlich tun, Herr Kollege Dr. Stoltenberg: Wir werden die Regierung an ihren Taten messen. Und wir müssen von Ihnen klare Vorgaben verlangen, damit wir wissen, woran wir sind und wie wir uns politisch einstellen müssen. Diese Debatte hat diese klaren Vorgaben nicht geliefert. Die sind Sie uns schuldig. Sie haben durch Ihr Verhalten heute der politischen Debatte einen Teil ihres Wertes, einen Teil ihres Reizes genommen und dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit, des deutschen Volkes, nicht entsprochen, wie das am Beginn einer vierjährigen Legislaturperiode geboten wäre.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens. Wir sind auch deswegen der Meinung, daß uns totale Konfrontation nicht weiterführen kann, weil das nicht Sinn parlamentarischer Arbeit ist. Mein Fraktionsvorsitzender hat darauf hingewiesen, daß wir die Sonthofener Strategie nicht zu unserer eigenen machen können — das widerspricht im übrigen auch sozialdemokratischem Selbstverständnis. Wir werden im Sinne des kooperativen Föderalismus — wir tragen j a in einer Reihe von Ländern Verantwortung —

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Noch! Nicht mehr lange, wenn Sie so weitermachen!)

mit Ihnen zusammenarbeiten wollen. In einem Punkt, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, müssen wir von Ihnen Klarheit verlangen. Es kann nicht bei dem Bekenntnis bleiben, die Finanzautonomie der Gemeinden, die Finanzkraft der Gemeinden müsse gestärkt werden. Hier müssen Taten folgen. Hier müssen Sie Ihre Steuersenkungspläne bei der Vermögensteuer — eine reine Ländersteuer — noch einmal sehr gründlich überprüfen.
Und schließlich drittens, damit Sie nicht meinen, wir wären in jedem Punkte Ihre Gefolgsleute

(Dr. Stoltenberg [CDU/CSU]: Das habe ich nicht erwartet!)

— das haben Sie nicht erwartet, das freut mich —: Wenn Sie es nicht schaffen, die Konjunkturbelebung zu ermöglichen — und hier fehlt jeder Ansatz in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers, jeder —, dann werden Sie die Nettokreditaufnahme von 40 Milliarden DM wie eine heilige Monstranz vor sich hertragen, und anschließend werden Sie Milliarden nachbessern, aber auf der falschen Seite. Wir wollen keine Kürzung der Arbeitslosenunterstützung. Sie muß so bleiben, wie sie ist.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen aber Menschen in Arbeit bringen. Dies ist der richtige Weg, und dies verlangen wir von Ihnen.



Dr. Apel
Wenn zum anderen eintritt, was die Auguren sagen

(Frau Hürland [CDU/CSU]: Und Sie gerne hören!)

und was die Koalitionsvereinbarung hergibt, daß nämlich erneut gegen das Prinzip der Gerechtigkeit verstoßen wird, daß Sie Lasten der Haushaltskonsolidierung einseitig den sozial Schwächeren aufbürden, daß Sie an die Stelle der Demokratie der Solidarität, der Gerechtigkeit und der Gleichheit die Demokratie der Rabiaten setzen, dann werden Sie unseren entscheidenden Widerspruch finden. — Schönen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1000503400
Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Hessen, Herr Börner.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Noch ein Bankrotteur!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1000503500
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will mich in meinem Beitrag zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers auf drei Fragen beschränken: Was werden Sie, Herr Bundeskanzler, konkret gegen die Arbeitslosigkeit tun?

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Wann treten Sie zurück?)

Wie sichern Sie die Ausbildungs- und Lebenschancen der jungen Generation? Was tun Sie, um das Vertrauen der älteren Generation in unseren Sozialstaat zu erhalten? Diese drei Fragen bewegen Millionen Menschen in unserem Lande, und Sie, Herr Bundeskanzler, müssen konkrete Antworten darauf geben.
Meine Damen und Herren, im Zentrum unserer Politik stand stets die Überwindung der Arbeitslosigkeit,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das haben wir gemerkt!)

und zwar aus sozialen und humanitären Gründen, aus Gründen der inneren Stabilität der zweiten deutschen Demokratie und aus dem Grunde, daß ohne leistungsfähige Staatsfinanzen Politik auf Dauer unmöglich ist.
Vor einem Jahr habe ich mich auf unserem Münchener Parteitag zum Sprecher derer gemacht, die auch an die wirtschaftspolitische Verantwortung des Staates appellieren. Wir wollen alle wirtschaftspolitischen Instrumente nutzen, um Menschen Arbeit und Brot zu geben, und wollen keines dieser Instrumente aus kurzsichtigen Gründen — auch nicht aus ideologischen Gründen — ausklammern.

(Zustimmung bei der SPD)

Die Beschlüsse unseres Münchener Parteitages waren damals in Teilen dieses Hauses auf wenig Gegenliebe gestoßen. Die FDP bezeichnete unsere Vorschläge wörtlich als Folterwerkzeuge aus der Mottenkiste des Sozialismus und sprach mir die
Koalitionswürdigkeit ab. Seit dem Wahltag im vergangenen Herbst verfolgt sie nun die Debatten im Hessischen Landtag von der Zuschauertribüne.

(Beifall bei der SPD)

Seit dem Wechsel in Bonn vertritt die gleiche FDP mit Ihnen die damals von mir geforderte Ergänzungsabgabe, die Sie ein bißchen anders getauft haben. Ich beginne also, Herr Bundeskanzler, mit einem halben Lob, denn ich kann Sie für Ihre Lernfähigkeit in dieser Frage nicht tadeln. Unsere Lösung wäre allerdings sachlich und politisch sauberer gewesen, und unser Maßnahmenkatalog ging und geht weiter als die Ergänzungsabgabe für Investitionen.
Meine Damen und Herren, ich war und bin gemeinsam mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund für die Rückgewinnung der Vollbeschäftigung durch ein Investitionsprogramm zur Modernisierung der Volkswirtschaft. Wir brauchen ein langfristig angelegtes Programm mit den Schwerpunkten Wohnungsbau, Umweltschutz, Energieeinsparung und Ausbau des öffentlichen Verkehrs, ein Programm, das von Bund und Ländern gemeinsam zu tragen ist.
Die konservativen Wirtschaftsberater der Bundesregierung scheinen dies für überflüssig zu halten. Ihnen reicht ein prognostiziertes Wirtschaftswachstum von einem halben Prozent, um vom Aufschwung zu reden. In Wahrheit bedeutet das doch nichts anderes als die Fortsetzung der wirtschaftlichen Stagnation.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn ich Ihre Vorschläge richtig analysiere, so laufen sie auf eines hinaus: auf den weiteren Abbau des Sozialstaats.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Der Anstieg der Arbeitslosenzahl auf mehr als 2,8 Millionen im kommenden Winter soll offenbar tatenlos hingenommen werden. Ich kann die Bundesregierung nur dringend davor warnen, ihre Wirtschaftspolitik daran auszurichten. Eine solche Wirtschaftspolitik wäre eine Gefahr für den sozialen Frieden und eine Provokation der Gewerkschaften und aller Arbeitnehmer unseres Landes.

(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

Sie sollten, Herr Bundeskanzler, auch keine Arbeitsplätze bei fremden Unternehmen versprechen, wenn Sie auf die Gewinnstrategie dieser Unternehmen keinen Einfluß haben. Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern in Ihrer Rede den Eindruck erweckt, als ob die hunderttausend Ausbildungsplätze, die in diesem Jahr zusätzlich benötigt werden, heute schon gesichert seien. Dabei wissen Sie doch, daß die von den Verbänden versprochenen Lehrstellen nur von den einzelnen Ausbildungsbetrieben geschaffen werden können. Wie kommen Sie dazu, eine Garantie für Ausbildungsplätze zu verkünden, über die Sie gar nicht verfügen?

(Beifall bei der SPD)




Ministerpräsident Börner (Hessen)

Was soll ich von solchen Zusagen halten, wenn gleichzeitig der Staatssekretär im Bundeskanzleramt die Lehrstellenbewerbungen von jungen Menschen beim Bundeskanzler pfundweise an die Länder, auch an meine Staatskanzlei, zurückreicht? Sollen wir jetzt Ihre Versprechungen einlösen?

(Beifall bei der SPD)

Im Gegensatz zu Ihnen haben wir in Hessen längst gehandelt. Wir haben in den letzten Wochen mit einem Sonderprogramm 2 000 zusätzliche Ausbildungsplätze in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Bereich gefördert. Ich kann Ihnen nur raten, dasselbe zu tun. Sorgen Sie dafür, daß bei der Verwaltung des Bundes, bei den bundeseigenen Unternehmen und bei den öffentlichen Bundesbetrieben Bahn und Post zusätzliche Lehrstellen über das bisher zugesagte Maß geschaffen werden! Das wäre eine konkrete Antwort.

(Beifall bei der SPD)

Sie sollten auch nicht langfristig Arbeitsplätze versprechen und zugleich eine Wirtschaftspolitik betreiben, die tatsächlich nur Rationalisierungsinvestitionen auslöst. Sie alle wissen, daß uns jetzt auch in den Dienstleistungsberufen große Veränderungen bevorstehen. Ich kann gerade aus der Sicht des Landes Hessen sagen, daß ich große Sorge über das Vordringen des Mikroprozessors bei Banken, Versicherungen und anderen Dienstleistungsunternehmen habe. Ich sage hier ganz deutlich: Das Ziel einer Wirtschaftspolitik muß es sein, daß der technische Fortschritt nicht auf Kosten der arbeitenden Menschen durchgesetzt wird.
Meine Anregungen an Sie gehen deshalb dahin, in erster Linie solche Investitionen zu fördern, die erstens nicht langfristig Arbeitsplätze kosten, sondern neue schaffen und für die es zweitens eine breite Mehrheit im Volk in öffentlicher Zustimmung gibt. Dies sind hier und heute vor allem neue Umwelttechnologien, also Investitionen in neue Kläranlagen, in Lärmschutzmaßnahmen und verbesserte Luftreinhaltung. Das Land Hessen wird auch weiterhin im Bundesrat dazu geistige und politische Vorarbeit leisten.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Wenn es wieder eine mehrheitsfähige Regierung hat!)

— Selbstverständlich wird diese Regierung handeln — das tut Ihnen weh —, sie wird sich dem Wähler stellen, und sie wird wieder ein neues Mandat erhalten.

(Beifall bei der SPD — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Darüber reden wir noch!)

Meine Damen und Herren, unser Schwefelabgabengesetz, das wir in den Bundesrat zum Schutz des Waldes eingebracht haben, ist marktwirtschaftlicher und effektiver als die neue Großfeuerungsanlagenverordnung, und wir werden demnächst auch entsprechende Vorschläge für bleifreies Benzin in den Bundesrat einbringen. Dann müssen Sie nicht nur den Mund spitzen, dann müssen Sie auch pfeifen.

(Beifall bei der SPD — Pfeffermann [CDU/ CSU]: Pfeifen Sie einmal! — Zuruf von der CDU/CSU: Der pfeift doch aus dem letzten Loch!)

Ich bin nach wie vor für Aktivierung und Weiterentwicklung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit. Es war nach meiner Auffassung ein politischer Fehler meiner eigenen Partei, daran mitzuwirken, die Fortbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt zu drosseln, wie das geschehen ist. Ich hatte angeregt und bleibe dabei, die für die Reaktivierung benötigten Mittel durch angemessene Solidarbeiträge zu beschaffen.
Hohe Arbeitslosigkeit und fehlende Ausbildungsstellen sind das zentrale innenpolitische Problem in der Bundesrepublik Deutschland. Eine weiter wachsende Massenarbeitslosigkeit ist für die politische und soziale Stabilität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eine unerträgliche Belastung. Gerade, Herr Bundeskanzler, weil ich als junger Mann das Schicksal der Arbeitslosigkeit selbst erlitten habe, sage ich Ihnen: Diese Republik wird sich verändern, wenn die jungen Menschen von der Schulbank auf die Wartebänke der Arbeitsämter rutschen.

(Beifall bei der SPD)

Wichtigste Aufgabe unserer Zeit ist deshalb eine energische Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus sozialen, wirtschaftlichen und auch aus moralischen Gründen. Die Gewerkschaften als Repräsentanten der Arbeitnehmerschaft haben in der laufenden Tarifrunde bereits gezeigt, daß sie ihren Beitrag für mehr Stabilität zu leisten bereit sind.
Das gilt auch für das Thema Arbeitszeitverkürzung. Ohne Arbeitszeitverkürzung wird sich bei weiterhin stagnierendem Wirtschaftswachstum die Zahl der Arbeitslosen immer weiter steigern. Die Gewerkschaften sehen dies und sind bereit, auch über die Verteilung der entstehenden Kosten zu reden. Warum, Herr Bundeskanzler, weisen Sie die ausgestreckte Hand der deutschen Gewerkschaften in dieser Diskussion zurück?

(Beifall bei der SPD)

Wollen Sie es eigentlich hinnehmen, daß wir 1983 im Jahresdurchschnitt 2,35 Millionen Arbeitslose bekommen werden, wie Ihre Gutachter errechnet haben? Sie wissen doch, meine Damen und Herren, diese Arbeitslosen kosten 55 Milliarden DM im Jahr. Allein schon aus finanzpolitischen Erwägungen müßten Sie deshalb darauf drängen, aus diesen Arbeitslosen wieder steuer- und beitragszahlende Arbeitnehmer unseres Landes zu machen.
Die hessische Landesregierung sieht ihre Aufgabe nicht darin, über Arbeitslosigkeit zu reden, sondern darin, energisch zu handeln. Wir haben Anfang dieses Jahres ein beschäftigungspolitisches Sofortprogramm aufgelegt, mit dem über 28 000 Arbeitsplätze in Hessen neu geschaffen und gesichert wurden und mit dem 2 000 Ausbildungsplätze für junge Menschen gefördert worden sind. Wir alle müssen zusammenwirken beim Bau einer Beschäftigungsbrücke für die junge Generation, um ihr trotz der demographischen Schwierigkeiten in den 80er Jahren den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu



Ministerpräsident Börner (Hessen)

ermöglichen. Ich meine, unser Gemeinwesen wird erschüttert, wenn junge Menschen keine Arbeit finden, nur weil sie einem starken Jahrgang angehören.

(Beifall bei der SPD)

Ich betrachte es als Gütetest für unser Wirtschaftssystem, ob wir ohne Zwangsmaßnahmen mit der Herausforderung der Jugendarbeitslosigkeit fertigwerden. Wir brauchen nämlich nicht nur Ausbildung auf Vorrat, sondern auch Beschäftigung der ausgebildeten jungen Arbeitnehmer auf Vorrat für die Zeit, wenn die Arbeitskräfte wieder knapper werden und unsere Wirtschaft qualifiziertes Personal braucht. Das wird, wie Sie wissen, doch in einigen Jahren der Fall sein. Wirtschaft und Staat müssen sich dieser Aufgabe stellen aus Gründen der menschlichen Solidarität mit der jungen Generation und auch aus Gründen der langfristigen Sicherung der Arbeitskraft unseres Volkes.
Zur Finanzierung der benötigten Arbeitsplätze hatte ich im vergangenen Jahr neben Schwerpunktprogrammen für junge Arbeitnehmer in besonderen Problemregionen auch die Umverteilung von Arbeit und Einkommen bei gutverdienenden Gruppen vorgeschlagen, also etwa mehr Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst, um die vielen fertig ausgebildeten jungen Lehrer z. B. unterbringen zu können, außerdem die Einführung eines Vorruhestandsgeldes für freiwillig ausscheidende ältere Arbeitnehmer entsprechend den von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Modellen. Die hessische Landesregierung wird auch diesen Vorschlag in den Bundesrat einbringen. Ein entsprechender Kabinettsbeschluß ist gefaßt. Ich werde versuchen, im Kreise der Ministerpräsidenten für weitere abgestimmte Vorschläge aller Länder zu werben, die wir Ihnen, Herr Bundeskanzler, präsentieren wollen. Diese Vorschläge sollen von Erleichterungen für Teilzeitbeschäftigung im Beamtenbereich bis zu Besoldungskonsequenzen reichen, um mit den gleichen staatlichen Mitteln mehr junge Menschen beschäftigen zu können.
Natürlich ist bei solchen Fragen der Dialog mit den Gewerkschaften unumgänglich. Wir müssen uns schnell einigen, denn wir brauchen die Hilfe jetzt. Im nächsten Jahrzehnt schon geht die Nachfrage nach staatlichen Arbeitsplätzen aus demographischen Gründen zurück. Sollten wir — die Frage stelle ich Ihnen, meine Damen und Herren, und Ihnen, Herr Bundeskanzler —, nämlich eine der reichsten Gesellschaften der Erde, nicht die Kraft und den Willen haben, diese Durststrecke solidarisch zu überbrücken?

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, beschäftigt uns die Arbeitslosigkeit in erster Linie der Jugend wegen, so droht das Problem der Alterssicherung eine Zukunftsangst der über Vierzigjährigen vorzuprogrammieren. Eine Gesellschaft, die in fast allen Altersgruppen von Angst geprägt ist, ist in den Grundfesten weniger stabil, als wir uns alle das wünschen. Ich sage hier klar und deutlich: Unsere staatliche Alterssicherung hat sich im Prinzip bewährt. Sie geht davon aus, daß die alten Menschen durch ihre Lebensleistung die Grundlage für den Wohlstand von heute geschaffen haben. Dafür haben sie einen moralischen Anspruch auf einen finanziell gesicherten Lebensabend.
Seit einem halben Jahrhundert spart keine Generation im klassischen Sinn mehr für ihr Alter. Sie verläßt sich vielmehr auf die Beitragszahlung der Generation ihrer Kinder. Es ist wirtschaftlich unmöglich, daß eine Generation sowohl für ihr eigenes Alter als auch für das Alter ihrer Eltern finanziell aufkommt. Alle Ideen in dieser Richtung sind wirtschaftlich und politisch nicht zu Ende gedacht.
Dieser Generationsvertrag muß deshalb unverbrüchlich bleiben. Deshalb warne ich vor psychologischen Verunsicherungen durch die Manipulation von Anpassungsterminen der Rentenversicherung und durch weiteres kompliziertes Rangieren von Geldströmen zwischen den Sozialkassen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die einzigen vertrauensbildenden Maßnahmen in der Alterssicherung sind eine Beitragserhöhung für die Versicherten und ein Anpassungsmodus für die Renten, der einen ungefähren Gleichklang der Einkommen zwischen Aktiven und Rentnern vorsieht. Wenn der Bundesarbeitsminister in diese Richtung geht, hat er unsere politische Unterstützung. Lieber Herr Blüm, wenn Sie wieder einmal keine ausreichende Unterstützung für Ihre Vorschläge in der eigenen Partei haben, dann können Sie sich gern an Ihren hessischen Ministerpräsidenten wenden.

(Beifall bei der SPD — Pfeffermann [CDU/ CSU]: Bitte nicht! Der hat keine Mehrheit!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir kümmern uns um die Renten und wenden uns gegen sozialen Abbau auf dem Rücken der Rentner und der Kriegs- und Wehrdienstopfer. Sicher ist eine Eigenbeteiligung der Rentner an der Krankenversicherung erforderlich. Was ich verurteile, ist der drastische Anstieg der Eigenbeteiligungsquoten. Nimmt man die zeitliche Verschiebung der Rentenanpassung hinzu, so zeigt sich, daß die Rentner nach dem Willen von CDU/CSU und FDP einen großen Anteil an der sogenannten Sanierung des Bundeshaushalts übernehmen sollen.
Meine Damen und Herren, was meinen Sie eigentlich, was die Leute draußen im Lande empfinden, wenn sie hören, daß Kriegsopfer, Rentner und Arbeitnehmer sinkende Einkommen zu erwarten haben, daß aber die Bezüge der Vorstände der deutschen Großbanken kräftig angehoben worden sind? Das ist eine „Gerechtigkeit", die von uns nicht geteilt werden kann, sondern wir bitten Sie, hier sehr deutlich Ihre Position noch einmal zu überdenken.
Ich sage hier deutlich: Ich halte es für unverantwortlich, wenn etwa der Bundeszuschuß zur Rentenversicherung zu einer Manövriermasse für die Haushaltssanierung wird.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Sie wollten doch kürzen!)




Ministerpräsident Börner (Hessen)

Nach wie vor gilt, daß die Rente eine Lohnersatzfunktion hat. Nach einem vollen Arbeitsleben dürfen die Arbeitnehmer und ihre Familien nicht sozial absteigen. Das heißt, wir werden uns im Bundesrat massiv dagegen zur Wehr setzen, daß etwa die Lasten der Arbeitslosigkeit auf die Sozialhilfeetats der Gemeinden abgewälzt werden.

(Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Sie haben doch die Beihilfe in Hessen gekürzt!)

Meine Damen und Herren, ich warne die Koalition ausdrücklich vor der Kürzung des Arbeitslosengelds.

(Zustimmung bei der SPD)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß an dieser Stelle noch ein drängendes soziales Problem ansprechen, das überwiegend die älteren Mitbürger betrifft, nämlich die Soziale Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Immer mehr pflegebedürftige Menschen sind nicht mehr in der Lage, die finanziellen Belastungen aus eigenen Mitteln zu tragen. Ich halte es für unzumutbar, wenn Bürger, die 30 bis 40 Jahre hart gearbeitet haben, im sogenannten Herbst ihres Lebens zu Taschengeldempfängern in Heimen werden.

(Zustimmung bei der SPD)

Pflegebedürftigkeit, meine Damen und Herren, ist ein allgemeines Lebensrisiko, dessen Folgen in der Regel über die finanziellen Möglichkeiten des einzelnen hinausgehen. Ich setze mich deshalb an dieser Stelle für die Schaffung einer bundesweiten Pflegeversicherung ein. Ihre Koalitionsvereinbarung, Herr Bundeskanzler, enthält den Satz, daß die Finanzierung der Kosten der Pflegefälle neu geregelt werden müsse. Ich werte das als positiven Hinweis auf gemeinsames Handeln zur Lösung dieses sozialen Problems und erwarte von Ihnen eine Konkretisierung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich erwarte nicht, daß die neue Bundesregierung die gleichen gesellschaftlichen und sozialen Interessen wie die alte vertritt. Aber eines bitte ich zu bedenken: Zur Unsicherheit der Jugend und zu den Ungewißheiten der Älteren darf nicht auch noch die Ängstlichkeit und Verkrampfung der Regierung treten.

(Beifall bei der SPD)

Wir wünschen uns eine Bundesregierung mit mehr innerer Gelassenheit, als bisher zu spüren war, eine Regierung, die keine Berührungsängste hat, auf Andersdenkende einzugehen und mit ihnen zu reden, eine Regierung, die sich weder in die eigene Wagenburg zurückzieht noch sich an fremden Kreuzzügen beteiligt.

(Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Beherzigen Sie das auch in Hessen?)

Wir werden darauf achten, wie Sie handeln, wie Sie die unvermeidlichen Belastungen verteilen und ob Sie soziale Gerechtigkeit als Wertmaßstab gelten lassen.

(Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Sie halten eine schlechte Wahlkampfrede!)

Sozialer Konsens war lange Jahre ein Fundament unserer freiheitlichen Ordnung. Er darf nicht konservativer Ideologie geopfert werden.

(Anhaltender Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1000503600
Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft, Graf Lambsdorff.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1000503700
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Neben vielen anderen entscheidenden Auswirkungen scheint mir die Bedeutung des Wahlergebnisses vom 6. März 1983 über diesen Tag hinaus auch in zwei Punkten zu liegen. Erstens. Die Mehrheit der deutschen Wähler hat sich für eine Koalition, für eine Regierung, für die sie tragenden Parteien entschieden, die ihnen nicht Wahlversprechen, die ihnen nicht das leichte Leben, nicht das Land, in dem Milch und Honig fließen, angeboten haben, sondern die von Einschränkungen, Beschränkungen, Anstrengung und Leistung gesprochen haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es stellt dem deutschen Wähler und seiner politischen Urteilskraft ein gutes Zeugnis aus, daß er nicht hereingefallen ist auf die Sprüche der Umverteilung von unten nach oben und auf die Ellenbogengesellschaft, die in diesem Wahlkampf behauptet worden ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zweitens. Dieses Wahlergebnis ist ein eindrucksvoller Sieg der Idee und der Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft, unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, ihrer politischen, ihrer wirtschaftlichen und ihrer moralischen Qualität.
Alle Analysen haben bestätigt — Herr Stoltenberg hat mit Recht darauf hingewiesen —, daß die Sozialdemokraten diese Wahl wegen ihres Mangels an wirtschaftspolitischer Kompetenz verloren haben. Übrigens: Nicht viele Wähler — ich ganz gewiß nicht — haben diese wirtschaftspolitische Kompetenz dem Amtsvorgänger des jetzigen Bundeskanzlers abgesprochen, wohl aber, Herr Vogel — und das zu Recht —, einer Sozialdemokratischen Partei und Fraktion, die dessen unbequemen Ratschlägen schon längst nicht mehr folgen wollte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das, was Sie, Herr Kollege Vogel, gestern — übrigens in bemerkenswerter Kürze angesichts der Bedeutung des Problems; das zeigt j a auch unsere Aussprache — zur Wirtschaftspolitik und zur Arbeitsmarktpolitik gesagt haben, hat in der Tat gezeigt, daß aus dieser Wahlniederlage bei Ihnen bisher keinerlei Konsequenzen gezogen worden sind, daß das Hin und Her der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik, das wir im Wahlkampf erlebt haben, weitergehen wird. Ich erinnere nur an die Stichworte Quellensteuer, Devisenkontrolle, zins-



Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff
günstige Notenbankkredite, Zinssubvention, denen gestern nun auch noch der fabelhafte Vorschlag hinzugefügt worden ist, mit einer Mineralölsteuererhöhung die Probleme der Bundesbahn zu finanzieren. Immer nur der Griff in die Tasche des Steuerzahlers! Anderes geht nicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deswegen sage ich, meine Damen und Herren von der SPD, Herr Kollege Vogel: Es bleibt dabei, daß die Slalomkünste, die Sie auf wirtschaftspolitischem Gebiet im Wahlkampf angeboten haben, die Künste des schwedischen Wunderläufers Ingemar Stenmark um ein Vielfaches übertreffen.

(Dr. Vogel [SPD]: Heiterkeit! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Ja, „Heiterkeit", Herr Kollege Vogel. Beschweren Sie sich doch nicht! Wir würden auf diesem Gebiet gern einmal eine klare Analyse aus Ihren Reihen zu den Ursachen des Wahlergebnisses hören. Bisher haben Sie das Herrn Kreisky überlassen. Dessen Urteil ist allerdings vernichtend genug ausgefallen, sowohl für Ihre Politik wie für die handelnden Personen.
Heute taucht zu meinem natürlich großen Vergnügen wieder der hessische Ministerpräsident auf — „aus der Ackerfurche" —

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/ CSU)

und begibt sich hier in unsere Wagenburg. Herr Börner, wir sind uns ganz darüber einig, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit das zentrale Thema deutscher Innen- und Wirtschaftspolitik ist. Darüber hat es jedenfalls zwischen den Sozialdemokraten und uns nie Meinungsverschiedenheiten gegeben.
Was heute aus den Reihen der GRÜNEN an die Adresse der Bundesregierung gesagt worden ist — Herr Apel, Sie haben beklagt, daß Herr Stoltenberg es eine dumme Unterstellung genannt habe —, wir nähmen die Arbeitslosigkeit nicht ernst, uns gehe es um die Gewinne der Unternehmen, das war eine niederträchtige Unterstellung; ich will das hier noch dreimal unterstreichen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von den GRÜNEN: Das ist die Wahrheit!)

Ich habe niemals in Frage gestellt, Herr Kollege Apel — darüber waren wir uns immer einig und sind es hoffentlich noch —, daß wir alle die Probleme der Arbeitslosigkeit in gleicher Weise ernst nehmen. Wir streiten — das ist richtig und gut so — um die Frage, wie man dem Problem beikommen kann.
Hierzu haben Sie, Herr Börner, nun wahrlich nichts Neues angeboten, sondern genau dieselbe Leier vorgetragen, genau dasselbe Lied gesungen, das durch die zutreffende Antwort des Wählers am 6. März in den Grundzügen entschieden worden ist. Aber ich will dazu noch etwas sagen. Wenn Sie einen Zuwachs des Bruttosozialprodukts um ein halbes Prozent eine Fortsetzung der Stagnation nennen, dann sage ich Ihnen: Das ist zwar kein befriedigendes Ergebnis, aber wenn man aus dem Keller kommt, nämlich aus dem Minuswachstum, dann ist das im Verlauf eine deutliche Aufbesserung. Ich komme darauf nachher noch zurück.
Herr Börner, Sie haben weiter gesagt, Hessen habe ein Beschäftigungsprogramm vorgelegt. In Wahrheit sind Sie, weil Sie keine regierungsfähige Mehrheit haben, nicht in der Lage, die Finanzierung der beschäftigungswirksamen Titel sicherzustellen, die bei Ihnen im ordentlichen Haushalt stehen. Wenn Sie der Arbeitsmarktpolitik in Hessen einen Gefallen hätten tun wollen, dann hätten Sie längst zurücktreten und Neuwahlen ausschreiben müssen.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich wünsche niemandem in diesem Land Arbeitslosigkeit. Aber ich wünsche Ihnen als Ministerpräsidenten des Landes Hessen Arbeitslosigkeit, Herr Börner. Und ich sage Ihnen: Sie werden auf den Oppositionsbänken sitzen, und die Freien Demokraten, die damals in der Verratskampagne in Hessen gescheitert sind, werden wieder im hessischen Landtag sitzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, das gibt mir ohnehin Gelegenheit, in meiner Eigenschaft als Mitglied der Freien Demokratischen Partei ein weiteres Wort zu sagen. Von Sommer 1982 bis zum 6. März 1983 haben meine Freunde und ich die politisch wohl schwerste Zeit durchgemacht, die wir jemals gemeinsam in der Partei durchstehen mußten.

(Sehr wahr! bei der FDP)

Wir haben sie durchgemacht, weil wir eine politische Entscheidung getroffen haben, die wir aus unserer Verantwortung gegenüber dem Wähler und für unser Land für notwendig hielten. Wir haben gefährliche Risiken auf uns genommen.
Ich erinnere mich sehr wohl, meine Damen und Herren, an die Zwischenrufer aus Ihrer Fraktion, als ich am 1. Oktober an diesem Rednerpult gestanden habe. „Abschiedsrede" hieß es mehrfach. Und das einzige Mal in seiner parlamentarischen Laufbahn — wahrscheinlich beruht das auf Gegenseitigkeit — hat mir der Kollege Gansel Vergnügen bereitet, weil er den ergänzenden Zwischenruf gemacht hat: „Ihre Abschiedsrede wäre mir eine Sondersitzung wert!" — Er muß noch etwas darauf warten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP — Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)

Heute steht fest: Der Generalangriff auf den organisierten politischen Liberalismus ist abgewehrt worden, und unsere politische Entscheidung ist von unseren Wählern bestätigt worden.

(Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Wissen Sie, wer Ihre Wähler waren?)




Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff
Und ich verhehle nicht, daß mich dieses Ergebnis auch persönlich mit großer, mit tiefer Genugtuung erfüllt hat.

(Stratmann [GRÜNE]: Flick auch!)

Aber wichtiger ist, daß der Wähler die politische Entscheidungsfreiheit der Liberalen bestätigt hat. Koalition: ja. Historisches Bündnis: nein.

(Beifall bei der FDP)

Um jedes Mißverständnis auszuschließen: Wir, Herr Bundeskanzler, wollen diese Koalition. Wir wollen den Erfolg Ihrer Regierung und dieser Koalition für unser Land. Sie werden einen manchmal unbequemen, Sie werden einen selbstbewußten, aber der gemeinsamen Politik verpflichteten Koalitionspartner in den nächsten vier Jahren haben.

(Zuruf von der SPD: Das kennen wir! — Heiterkeit bei der SPD)

Nun ein Wort an die Sozialdemokratische Partei. Eine Rechnung, Herr Vogel und meine Damen und Herren von der SPD, bleibt offen. Ich will nicht auf das „Wegharken" des früheren Bundeskanzlers zurückkommen. Aber ich will wohl darauf zurückkommen, Herr Kollege Vogel, daß Sie es für nötig gehalten haben, vor der Wahl zu äußern, es sei ein Gebot politischer Hygiene, daß die FDP aus dem Bundestag verschwinde. Wer heute noch dieses Beispiel aus dem Gebiet der Unkrautvernichtung und -vertilgung für richtig hält, hätte besser Kammerjäger werden sollen und nicht Politiker.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Und Herr Glotz hat nach der Wahl als erstes vor den Fernsehkameras sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, daß die FDP nicht verschwunden sei.

(Unruhe bei der SPD)

— Ja, ja. Ich sage Ihnen, bringen Sie das in Ordnung! Nutzen Sie schnell die Gelegenheit dazu! Die Freie Demokratische Partei hat dem früheren Bundeskanzler Kiesinger seinen Spruch vom „Herauskatapultieren" so lange nicht vergessen, bis er nach zwölf Jahren selbst gesagt hat, es sei eine politische Dummheit gewesen. Wenn Sie so lange warten wollen, dann tun Sie das, Herr Vogel.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)

Vergessen werden wir es nicht. Erinnern werden wir Sie.
Ich möchte ausdrücklich dankbar die Art und Weise anerkennen, wie der Kollege Apel — ganz im Gegensatz zum Oktober, Herr Apel — heute diese Debatte bestritten hat. Wir brauchen ja nicht in der Sache einig zu sein; das sind wir auch nicht. Aber es sind Fragen gestellt worden, und es ist ein Debattenbeitrag geleistet worden, der es ganz sicher notwendig macht, darauf einzugehen. Das wird noch ausführlicher geschehen, als es jetzt in einer kurzen Erwiderung der Fall sein kann.
Wir haben selber, Herr Apel, bei der Vorbereitung von Regierungserklärungen immer wieder vor der Frage gestanden: Wie konkret oder, genauer gesagt,
wie komprimiert aufs Grundsätzliche kann eine Regierungserklärung sein, soll eine Regierungserklärung sein, und wie weit muß man gehen, um die vielen Bereiche derer, die im Land Erwartungen an die Regierungserklärung haben, nicht zu enttäuschen und anzusprechen?
Das war auch diesmal der Fall. Und die, die draußen kritisieren, die Regierungserklärung sei in einigen Punkten — Sie haben sie erwähnt —, z. B. in der Wirtschafts- und Steuerpolitik, nicht konkret genug, sind dieselben, die gleichzeitig schreiben, sie sei viel zu sehr ins einzelne gegangen, sie sei viel zu breit gewesen, sie hätte eigentlich kürzer ausfallen müssen.

(Dr. Apel [SPD]: Weniger Schmonzes, mehr Mut!)

Herr Kollege Apel, ich frage mich, gerade nach den Erfahrungen, die wir gemeinsam gemacht haben, ob es ratsam ist, in einer Regierungserklärung schlecht vorbereitet, unter zeitlicher Pression, mit heißer Nadel genäht, so weit ins einzelne zu gehen, daß man nachher bei genauer Betrachtung und genauer Bearbeitung doch feststellen muß: So geht's nicht.
Zu den Meßlatten, die Sie angelegt haben: Der Artikel 115 ist schon zu Ihrer Zeit immer eine schwierige Meßlatte gewesen. Jede Regierung wird sich darum bemühen, hat sich darum zu bemühen, dem Verfassungsgebot Genüge zu tun. Das wird auch diese Regierung tun.
Sie sagen, wir kürzen Gewerbesteuer und wir kürzen Vermögensteuer — Herr Börner hat diesen Hinweis, diesen Vorwurf wiederholt —, ohne den Gebietskörperschaften den notwendigen Ausgleich zu geben.

(Zurufe von den GRÜNEN)

Das ist nicht der Fall. Das ist weder bei der Dauerschuld- und Dauerschuldzinsenregelung der Gewerbesteuer geschehen noch wird es bei der Frage der Vermögensteuer geschehen. Sie können sich auch ganz darauf verlassen, Herr Apel: Es wird keine Regelung geben, die etwa nur Großbetriebe begünstigt, wenn wir bei der Vermögensteuer ansetzen, sondern es wird klar und deutlich eine mittelständische Komponente, die auch Wirkung zeigt, eingebaut werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich bin ganz mit Ihnen einig, daß das Ansteigen der Steuerlastquote, das sich aus Progression und Preissteigerung weiter ergeben wird, dahin führen muß, daß wir möglichst bald — aber nur ein Schelm verspricht mehr als er hat und als er zur Zeit zusagen kann — zu einer Tarifreform kommen. Aber wäre es richtig, nun Ansparvorgänge dahin zu machen? Sie wissen doch selber, wie schwierig es für einen Finanzminister ist, anzusparen und das Angesparte auch zu behalten und nicht doch auszugeben.
Eigentlich am wichtigsten war Ihr Ruf nach Gerechtigkeit. Meine Damen und Herren, hier wird wohl niemand bestreiten wollen, daß das Bemühen um Gerechtigkeit — steuerpolitisch, aber auch auf



Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff
anderen Gebieten — ein Leitfaden all unserer politischen Entscheidungen sein muß.

(Zurufe von der SPD)

— Muß!
Gerade im steuerpolitischen Bereich haben wir festgestellt, daß der Widerspruch zwischen Einfachheit und Gerechtigkeit dazu führt, daß ein immer größeres Maß an Gerechtigkeit zu einer immer größeren Kompliziertheit unseres Steuersystems führt, die schon dadurch, durch ihre Unübersichtlichkeit, durch ihre Nichtmehrhandhabbarkeit, ein gehöriges Maß an Ungerechtigkeit mit sich bringt. Hier den mittleren Weg zu finden, ist schwierig.
Noch schwieriger ist wohl die Überlegung, Herr Apel, über Gerechtigkeit beim Verteilen der Belastungen, aber auch der Guttaten. Kann das Streben nach nahezu absoluter Gerechtigkeit nicht dazu führen, daß man dann nur noch den Mangel verteilen kann und nicht mehr die Möglichkeiten offenläßt — auch durch ein Maß an Ungleichheit und gewiß auch Ungerechtigkeit —, das zu erwirtschaften, was man nachher steuer-, wirtschafts- und sozialpolitisch verteilen will?
Wenn 1949 in unserem Land der Wiederaufbau unter dem Gesichtspunkt steuerpolitisch absoluter Gerechtigkeit angefangen und betrieben worden wäre, hätte es keine 7-b-Abschreibung, keine Schiffsfinanzierung und ich weiß nicht, was alles, geben dürfen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Damals ist klar gesagt worden: Es muß zunächst einmal produziert, erarbeitet, Sozialprodukt geschaffen werden, und dann muß es verteilt werden. Ich glaube, diese letztendliche Gerechtigkeit, nämlich mehr zu geben, mehr zur Verfügung zu stellen und mehr zu erwirtschaften, das ist der eigentlich entscheidende Punkt, auf den wir uns zubewegen müssen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1000503800
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrenberg?

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1000503900
Ich will das heute nicht tun. Dem Kollegen Ehrenberg habe ich sonst immer geantwortet. Ich wäre schon dankbar, wenn eine Belebung des Plenums dadurch ermöglicht würde, daß man mit seiner Zeit wieder etwas großzügiger umgehen kann. Ich bitte um Nachsicht, Herr Ehrenberg.
Zum Werftenkonzept. Herr Kollege Apel, wir werden uns natürlich mit dieser Frage beschäftigen. Wir werden uns ihr stellen. Ich will jetzt nicht darauf hinweisen — wieder aus zeitökonomischen Gründen —, was die Bundesregierung auch im Haushalt 1983, auch im Zeitraum 1984 bis 1986, tut. Wir wissen, daß dieses Problem ohne Kooperation zwischen Bund und Ländern vermutlich nicht zu lösen ist. Es kann aber nicht so gehen, daß, insbesondere bei den Großwerften oder, genauer gesagt, bei zwei Großwerften, massive Fehlentscheidungen getroffen werden und dann der erste Ruf heißt: Bund! Kasse aufmachen! Zahlen! So geht es nicht; das ist schließlich Geld des Steuerzahlers.
Meine Damen und Herren, nach den heutigen Debatten und nach den gestrigen Debatten komme ich gar nicht darum herum, auch die Fraktion der GRÜNEN anzusprechen und auch Sie zu erinnern. Auch Sie kommen in dieses Parlament nicht wie neugeborene und unschuldige Kinder. Ich will nur zwei Beispiele nennen: Die Volkszählung und das Draufsatteln von Fragen durch die AL in Berlin oder die Gewaltfreiheit und die Startbahn West.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Frau Beck-Oberdorf hat gestern gesagt: Tragende Elemente unserer Politik sind Gewaltlosigkeit, Sanftheit und Toleranz. Und dann hat Frau Kelly eine haßerfüllte Rede gehalten, und Herr Bastian hat uns im Kasernenhofton angeschnauzt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: Das sind Ihre Feindbilder, Graf Lambsdorff!)

Wenn das, meine Damen und Herren, Ihre Sanftheit ist, dann können wir uns ungefähre Vorstellungen von Ihrer Gewaltlosigkeit machen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Verheyen [Bielefeld] [GRÜNE]: Nicht alles, was Ihnen nicht paßt, ist Gewalt!)

Frau Beck-Oberdorf hat mich gestern mit dem Satz zitiert: Es gibt keine Grenzen des Wachstums. Ich bitte um den Nachweis, wo ich das gesagt haben soll. Hoffentlich habe ich es nicht gesagt. Jedenfalls ist es nicht meine Meinung. — Natürlich gibt es Wachstumsgrenzen, die wir auch allerorten und täglich spüren.

(Verheyen [Bielefeld] [GRÜNE]: Sie meinen die Grenzen von Graf Lambsdorff?)

Aber, meine Damen und Herren, was ich gesagt habe und was ich wiederhole, ist: Ohne Wachstum gibt es keine zusätzlichen Arbeitsplätze. Gleichzeitig aber sage ich auch: Wachstum alleine reicht nicht. Deswegen muß auch über Arbeitszeitverkürzungen nachgedacht werden. Wer aber, wie auch Sie gestern hier, gegen jedes Wachstum argumentiert und auftritt, der betreibt die beschäftigungs- und arbeitnehmerfeindlichste Politik, die in diesem Lande überhaupt denkbar ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: Sie müssen zuhören! Wir sind gegen Industriewachstum und gegen Waldverpestung! — Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Wer hat die Arbeitslosen hier zu verantworten?)

Deswegen, meine Damen und Herren, wäre ich ganz dankbar, wenn die sozialdemokratischen Kollegen, die jeden Diskussionsbeitrag hier mit einer Wohlwollensadresse an die GRÜNEN eröffnet haben, einmal darüber nachdenken würden, wo sie eigentlich hinwollen.
Wenn Herr Kleinert hier zur Arbeitszeitverkürzung gesprochen hat, so haben Herr Stoltenberg



Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff
und ich das beantwortet. Aber eines sage ich Ihnen,
meine Damen und Herren, gerade als Liberaler:

(Zuruf von den GRÜNEN: Als was?)

Wer aussteigen will, wer sich von dieser Gesellschaft abmelden will, wer zu dieser Gesellschaft nichts leisten will, der hat das volle Recht, das zu tun. Dem ist nicht zu widersprechen.

(Verheyen [Bielefeld] [GRÜNE]: Von wem reden Sie?)

Aber wenn der alle Sozialleistungen in Anspruch nehmen will, die diese Gesellschaft bietet, dann wird nein gesagt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Jawohl, Herr Flick!)

Meine Damen und Herren, das Stichwort wirtschaftliches Wachstum lenkt über zu der Frage, ob wir es denn mit einem konjunkturellen Aufschwung, mit einer konjunkturellen Besserung bei uns zu tun haben.

(Conradi [SPD]: Da sehen Sie nicht sehr gut aus!)

— Na, Herr Conradi, habe ich in Ihren Augen jemals gut ausgesehen? Das kann doch nicht sein.

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU — Demonstrativer Beifall bei der SPD)

Nach meiner Rede zur Eröffnung der HannoverMesse ist im Lande die kritische Frage gestellt worden, ob das nicht zu optimistisch gewesen sei, ob das nicht den Aufschwung herbeizureden versucht hätte — was man nicht kann, wohl aber kann man einen Aufschwung zerreden.

(Hauser [Krefeld] [CDU/CSU]: Richtig!)

Das Gutachten der Forschungsinstitute bestätigt, daß die Annahmen der Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht zutreffen. Das Gutachten der Forschungsinstitute korrigiert sie etwas nach oben. Ich glaube in der Tat — ich sage aber noch etwas zum Ausmaß dessen, was sich hier abzeichnet und abspielt —, daß wir uns auf dem Wege zu einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung deutlich und sichtbar befinden.

(Stratmann [GRÜNE]: Für die Unternehmer! — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Da arbeiten doch viele Leute!)

Ich muß nun allerdings ein Wort zu dem sagen, was ich aus der Sozialdemokratischen Partei zu dem Gutachten der Forschungsinstitute gelesen habe. Da veröffentlicht der „Parlamentarisch-Politische Pressedienst" am 2. Mai unter der Überschrift „Pinochet läßt grüßen"

(Frau Kelly [GRÜNE]: Argentinien!)

— das ist in Chile, wenn Sie nichts dagegen haben
— folgende Sentenzen:
Vier der fünf Forschungsinstitute biedern sich der Rechtskoalition als Speerspitze bei der Formulierung von Verelendungsstrategien an.
„Sozialdemokratischer Pressedienst":
Eine Provokation. Dritter Satz:
Nur weil wir alle uns haben einlullen lassen, können diese Institute ungehindert Thesen unter die Leute bringen, in denen die Arbeitnehmer und ihre Rechte buchstäblich einen Dreck wert sind.

(Stratmann [GRÜNE]: Sehr wahr!)

Diese Kritik, im doppelten Sinne des Wortes namenlos, weil es einen Verfasser nicht gibt, ist dümmlich und arrogant. Und im „Sozialdemokratischen Pressedienst Wirtschaft" steht dazu:
Wer Derartiges vorschlägt, sollte von den Fleischtöpfen der Auftragsvergabe ferngehalten werden. Die Gutachter sind zu einem öffentlichen Ärgernis geworden.
Und wieder im PPP:
Es ist Zeit, daß vier der fünf Institute das Handwerk gelegt wird und sie so lange als öffentliche Gutachter freigesetzt werden, bis sie den Sozialstaat nicht mehr mit einem Strafbataillon verwechseln.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, nennen Sie das „mehr Demokratie wagen", nennen Sie das „Freiheit der Wissenschaft", daß Sie mit dem Streichen der Gehälter drohen?

(Zurufe von der SPD)

Nun, meine Damen und Herren, mit uns wird eine solche Behandlung unabhängiger wissenschaftlicher Institute

(Zuruf von der SPD: Was heißt hier „unabhängig"?)

nicht stattfinden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Hier, meine Damen und Herren, ist der alte und oft zitierte Ausspruch Voltaires gerechtfertigt: daß ich überhaupt nicht Ihre Meinung teile, aber mein Leben dafür einsetzen werde, daß Sie Ihre Meinung äußern dürfen. Das ist der Sozialdemokratischen Partei offensichtlich abhanden gekommen.

(Dr. Spöri [SPD]: Nicht so pathetisch! — Weitere Zurufe von der SPD)

Nun, meine Damen und Herren, zurück zum Thema Aufschwung: Diese konjunkturelle Besserung und das, was in den nächsten Jahren zu erwarten ist, reichen nicht aus — niemand täusche sich darüber, nie hat die Bundesregierung in den letzten Monaten anderes behauptet —, die Arbeitsmarktprobleme in unserem Lande in zufriedenstellender Weise zu lösen.

(Zuruf von der SPD: Das hättest du vorher sagen müssen!)

— Wenn Sie mir zurufen „Das hättest du vorher sagen müssen", dann lesen Sie einmal die Berichte über meine Wahlkampfreden. Dann werden Sie feststellen, daß ich das landauf, landab in 160 Veranstaltungen gesagt habe. — Wir werden noch jah-



Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff
relang mit zu hohen Arbeitslosenzahlen leben müssen. Mit konjunkturellen Besserungen allein werden wir die strukturellen Probleme, die Notwendigkeit, daß wir uns an weltwirtschaftliche Veränderungen anpassen müssen, nicht lösen bzw. nicht schaffen. Es ist richtig, wenn das Sachverständigengutachten sagt: Die volle Auslastung der Kapazitäten in einem normalen konjunkturellen Zustand genügt nicht. Wir brauchen in den nächsten Jahren etwa eine Million neuer Arbeitsplätze. Das ist die große Aufgabe, der wir gegenüberstehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich kann die Politik der Bundesregierung, die dahin führen soll, heute nur in wenigen, knappen Thesen vortragen, um der zeitlichen Beschränkung gerecht zu werden. Ich hoffe sehr, daß der Ältestenrat entscheiden wird, daß wir den schon seit Januar vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht in der nächsten Sitzungswoche diskutieren können, um zu einer intensiveren Aussprache über die wirtschaftspolitischen Möglichkeiten zu kommen.
Heute nur so viel: Erstens. Die Schwelle für ein beschäftigungswirksames Wachstum liegt aus heutiger Sicht bei 2 % oder 3 %. Die Wachstumsmöglichkeiten unserer Volkswirtschaft sind eher auf unter 2 % abgesunken. Das ist zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage zu wenig.
Zweitens. Die Bruttoanlageinvestitionen müßten jährlich um real 6 bis 8 % steigen, wenn das Wachstumspotential um einen halben Prozentpunkt steigen soll.
Drittens. In der Mechanik mancher volkswirtschaftlicher Beobachter — auch gestern haben wir dies gehört — bedeutet höhere Produktivität weniger Arbeitsplätze. Die Rechnung ist falsch. Längerfristig bedeutet Verzicht auf Produktivität vor allem Verzicht auf Wettbewerbsfähigkeit. Wirtschaftliche Dynamik bei nachlassender Wettbewerbsfähigkeit — das ist ein Widerspruch, das geht nicht. Hohe Produktivitätsfortschritte sind ein Indiz für die Lebendigkeit und Anpassungsfähigkeit einer Wirtschaft, für die Dynamik, auch mit dem Problem der Arbeitslosigkeit fertigzuwerden.
Viertens. Ein nachhaltiger Aufschwung der unternehmerischen Investitionstätigkeit ist die Schlüsselgröße für die Verbesserung der Beschäftigungslage. Aber: die Eigenkapitalrendite hat sich seit 1960 etwa halbiert. Gleichzeitig ist der Kapitalmarktzins im Trend gestiegen, die Investitionen schwächten sich erheblich ab.
Fünftens. Entscheidend ist eine Korrektur der Einkommensverteilung zugunsten der Ertragskraft der Unternehmen, damit diese Relation wieder umgekehrt wird. Nötig ist eine größere Stabilität der Lohnkosten, und zwar über eine ganze Anzahl von Jahren. Wichtig ist auch, daß die Lohnentwicklung wieder stärker differenziert wird.
Sechstens. Zur Korrektur der Einkommensverteilung sind wir auf den sozialen Konsens angewiesen. Das verantwortungsbewußte Verhalten der Tarifpartner in der Vergangenheit gibt Hoffnung für die
Zukunft. Die Vermögenspolitik kann helfen, den Konsens zu stärken.
Siebtens. Daneben sind günstige Finanzierungsbedingungen erforderlich. Vor allem auch deshalb muß die hohe Beanspruchung der Kapitalmärkte durch die öffentlichen Haushalte zurückgeführt werden.
Achtens. Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte muß durch eine Begrenzung des Ausgabenanstiegs erreicht werden. Die Steuerlastquote und die Sozialabgaben dürfen nicht steigen. Leistungsverweigerung oder Schwarzarbeit sowie Fiskalverdrossenheit grassieren schon jetzt.
Neuntens. Von großer Bedeutung ist ein investitionsfreundliches Steuersystem. Ein Anfang wurde gemacht. Gerade auch im Hinblick auf den Mittelstand und zur Verstärkung der Leistungsanreize darf aber die Reform des Einkommens- und Lohnsteuertarifs nicht zu lange hinausgeschoben werden.
Schließlich, meine Damen und Herren, zehntens. Das Konzept der Koalition von Union und FDP setzt auf einen klaren marktwirtschaftlichen Kurs. Die Marktwirtschaft ist anderen Systemen überlegen, weil sie offen ist — offen für den Menschen, offen für den technischen Fortschritt, offen für die Lösung immer neuer Probleme. Die marktwirtschaftliche Ordnung, meine Damen und Herren, ist und bleibt das Korrelat zu einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Deswegen stehen wir zu ihr, und deswegen sehen wir auf dieser Grundlage die Möglichkeiten zur Lösung der schweren Probleme, denen sich diese Bundesregierung stellen wird.

(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1000504000
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Roth.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1000504100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Graf Lambsdorff, ich finde, ein Minister sollte bei der Qualifizierung von Debattenreden im Bundestag immer Zurückhaltung üben. Daß Sie dem Kollegen Bastian Kasernenhofton vorwerfen,

(Zurufe von der CDU/CSU)

könnte nämlich den einen oder anderen auf die Idee bringen, Ihren Stil für Kasinoton zu halten,

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU: Sie sind aber witzig! — Waren Sie mal in der Kaserne?)

Ich will Ihnen das gar nicht vorwerfen, es ist nur eine Empfindung.
Daß Sie jetzt die Stirn haben, Graf Lambsdorff, in Richtung auf Herrn Börner, über die Regierbarkeit von Hessen zu philosophieren, ist wahrhaft ein starkes Stück. Wer anders als Ihre FDP in Hessen hat denn die Regierungsfähigkeit dort in Frage gestellt?

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Lachen bei der FDP)




Roth
Dieser Dauerwechsler, der zuerst im Bundestag war, dann als Minister für Wirtschaft da herunterging, und der jetzt wieder im Bundestag aufgetaucht ist, das war doch derjenige, der die Handlungsfähigkeit der alten Koalition in Hessen zerstört hat. Dessen politische Qualität kennt in Bonn jeder.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Hohes Niveau!)

Ich habe nun meinen Bedarf an persönlicher Auseinandersetzung mit Ihnen gedeckt

(Heiterkeit)

und will nun zur Sache kommen.
Ich habe auch bei Ihnen mit Geduld und zuletzt mit einer gewissen Hoffnung zugehört, ob Sie etwas Konkretes zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit sagen. Ich bin enttäuscht. Es wurde nichts Konkretes gesagt.

(Frau Berger [Berlin] [CDU/CSU]: Die Rede hat er gestern schon geschrieben!)

Was die Stabilität der Arbeitslosigkeit an Rhein und Ruhr und was die Situation im Saarland betrifft, was in Ostbayern und in Nordwürttemberg los ist, wie verharscht die Arbeitslosigkeit dort ist, hat in Ihrer Rede keine wirkliche Rolle gespielt.
Wenn Sie in Verteidigung der Regierungserklärung von Herrn Kohl sagen, einerseits werde kritisiert, sie sei zu lang, andererseits werde kritisiert, sie sei nicht detailliert genug, dann kann man zu dem Thema Arbeitslosigkeit nur sagen: Es wäre gut gewesen, weniger Schmonzes und viel mehr konkrete Details zu bringen. Dann hätte man nämlich des Rätsels Lösung gehabt.

(Beifall bei der SPD)

Es wurde doch allgemein alles beschworen, aber es wurde nie konkret geantwortet.
Vor allem wurde wieder der Aufschwung beschworen. Sie haben das jetzt, heute ganz schön relativiert. Wenn ich an die Wahlkampfwochen zurückdenke — „Den Aufschwung wählen" —, dann bin ich erstaunt, wie jetzt zurückgegangen wird. Ich denke daran zurück, wie beispielsweise die Ergebnisse der Regierung Helmut Schmidt attackiert wurden. Jetzt wird versucht, die Erfolge von Helmut Schmidt — nämlich rückläufige Preise, Zinsabbau, ausgeglichene Leistungsbilanz — an sich zu ziehen, so quasi zur Eigendekoration: man hängt sich die Medaillen selber an die Brust. Hier wird ein Widerspruch zwischen Ihrer Wahlkampfkampagne und Ihrem jetzigen Verhalten deutlich.
Dabei haben Sie — das gebe ich zu — viel Glück. Die Ölpreise sind drastisch gesunken. Das entlastet die Zahlungsbilanz auch in den nächsten Jahren. Das bringt für Verbraucher und Industrie Ersparnisse, die anderweitig verwendet werden können. Praktisch haben Ihnen die Ölscheichs und der Wettergott — mit dem milden Winter — ein Programm zur Stärkung der inländischen Nachfrage geschenkt. Ohne Zweifel wirkt sich das positiv aus.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Pöhl haben Sie vergessen!)

Übrigens sind auch die übrigen Aufschwungkennzeichen, die Sie für sich zu pachten suchen, beispielsweise der starke Anstieg der Investitionsgüternachfrage im Dezember 1982 und im Januar 1983, der j a nicht weiter angehalten hat, auf die Regierung Helmut Schmidt und auf die damalige Investitionszulage zurückzuführen, eine Investitionszulage, die Sie hier in diesem Hause abgelehnt haben.

(Beifall bei der SPD) Das ist jetzt Ihr Zukunftszeichen.

Auch der Anstieg beim Mietwohnungsbau ist natürlich auf die deutlichen Verbesserungen bei den Abschreibungsmöglichkeiten in diesem Bereich durch die alte Koalition zurückzuführen.
Ich möchte sagen und das ausdrücklich feststellen: Was Sie an Eröffnungsbilanz haben, war unsere Schlußbilanz. Worauf Sie sich jetzt als positiv berufen, das war unsere Schlußbilanz und nichts anderes.

(Beifall bei der SPD — Dr. Schwörer [CDU/ CSU]: Das waren Schulden!)

Meine Damen und Herren, Sie werden ganz schnell — ich glaube, Herr Apel hat mit dem, was er zum Thema Belastungen von gestern gesagt hat, recht — auf das Prinzip übergehen: Was interessiert uns eigentlich unser Geschwätz von gestern! Sehr deutlich wird das bei der Schuldendiskussion. Da muß ich auch in Richtung auf die FDP etwas sagen, zu Herrn Hoppe, den ich in der Frage über die ganze Zeit für einen glaubwürdigen Mann halte. Welche Gefühle hat er denn eigentlich? Er hat vorher bei 38 Milliarden DM Nettokreditaufnahme das Finanzchaos beschworen. Er hat gesagt, das sei die absolute Grenze. Jetzt sind Sie, wenn man sorgfältig nachrechnet, bei etwa 45 Milliarden DM Nettokreditaufnahme im Jahre 1983. Bis 1987 werden Sie im Bund etwa 160 bis 200 Milliarden DM zusätzlich als Schulden aufnehmen müssen. Das ist die Lage, die wir jetzt in der mittelfristigen Finanzplanung vorausberechnen können. Jetzt frage ich mich wirklich, warum 38 Milliarden DM Nettokreditaufnahme ein Finanzchaos waren und warum das, was uns jetzt mit weiteren 200 Milliarden DM geboten wird, Konsolidierung ist. Das ist ein Rätsel, das ich bisher noch nicht lösen kann.

(Beifall bei der SPD)

Was Sie sich im übrigen sonst haben einfallen lassen, beispielsweise die Bausparzwischenfinanzierung oder die Maßnahmen beim sozialen Wohnungsbau, so können wir Sie erstens dort nur unterstützen und zweitens daran erinnern, daß das genau unser Bauprogramm war, das 1981 am Widerstand von Graf Lambsdorff gescheitert ist.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Ich bin gar nicht traurig darüber, daß es jetzt realisiert ist — spät, aber eben doch. Aber daß wir für zwei Jahre wegen des Widerstands des Wirtschaftsministeriums gegen ein Baunachfrageprogramm eine regelrechte Verlotterung der Bauwirtschaft bekommen haben, das ist historische Wahrheit.

(Beifall bei der SPD)




Roth
Im übrigen werden Sie das, was Sie jetzt „Aufschwung" zu nennen anfangen und was Professor Gutowski vom Sachverständigenrat vorgestern „Aufschwungelchen" genannt hat, ohne weitere Nachfragesteigerung nicht stabilisieren können. Sie haben mit dem einen Programm angefangen; ich sage Ihnen voraus, Sie werden innerhalb der nächsten zwei Jahre das tun, was Sie heute noch als verfehlt ablehnen, nämlich „Strohfeuerprogramme" — wie Sie sie so gern nennen — durchführen.
Etwas tun müssen Sie in den nächsten Monaten ohnehin. Die Industrie steht Ihnen ja, wie Sie wissen, auf den Füßen. Sie sagt, wir brauchen steuerliche Entlastungen. Gefordert werden — und das steht j a auch in der Regierungserklärung — undifferenzierte Steuersenkungen.
Ich glaube, daß das der falsche Weg ist. Wenn wir überhaupt an Steuersenkungen denken dürfen, müssen die nach unserer Überzeugung ganz gezielt an der Investitionsfähigkeit der kleinen und mittleren Wirtschaft orientiert werden und dürfen nicht — wie bei der Vermögensteuer — mit der Gießkanne quer über die Wirtschaft gestreut werden. Das ist Vergeudung von Finanzmitteln, wenn ich mir die Finanzsituation der Großwirtschaft anschaue.

(Beifall bei der SPD)

Mir fällt auch auf, daß in diesem Programmteil, Graf Lambsdorff, die alte Angebotsphilosophie Urständ feiert, die in Amerika inzwischen gescheitert ist. In Amerika hat das der Präsidentenberater Stockman übrigens auf einen ganz einfachen Nennen gebracht:
Die Philosophie von der Angebotspolitik war für den US-Präsidenten von vornherein nichts anderes als ein Mittel, um Steuersenkungen für die Reichen durchzusetzen und politisch verkaufen zu können. Die Angebotsphilosophie war nichts anderes als ein trojanisches Pferd.
Ich bin darüber erstaunt, daß Sie aus dieser Erfahrung keine Schlußfolgerungen ziehen. Inzwischen ist das Staatsdefizit in den USA auf Grund der pauschalen Steuerverzichte auf fast 200 Milliarden Dollar angestiegen, angestiegen übrigens unter einer Präsidentschaft und einer Regierung, die genau wie Sie mit dem Ziel der Konsolidierung und des Abbaus der Staatsverschuldung angetreten ist. Das war das Hauptziel von Präsident Reagan; er meinte, man habe in den USA zuviel Staat, und das müsse weg oder den müsse man reduzieren. Das Ergebnis war dann wegen der Steuersenkungen, die Sie jetzt auch planen, ein Staatsdefizit in Rekordhöhe.
Das ist auch deshalb bedauerlich — dieses Thema muß man hier vor Williamsburg ansprechen —, weil durch diese widersinnige Politik der Staatsverschuldung in den USA auf den internationalen Kapitalmärkten ein Druck lagert, der seit zwei Monaten Zinssenkungen nicht mehr zuläßt. Wenn die Realzinsen in Amerika immer noch bei 7 % und bei uns immer noch bei 4 bis 4,5 % — was längerfristige Kredite betrifft — liegen, ist das eben keine Zinswende, sondern immer noch eine investitionsfeindliche Belastung der Wirtschaft, die Arbeitsplätze vernichten muß.

(Zustimmung bei der SPD)

Von vielen Seiten werden nun Zweifel daran geäußert, daß sich an diesen Realzinsen etwas ändern wird. Ich teile diese Zweifel. Von daher glaube ich, daß man mit einer aktiven Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik Zusätzliches tun muß, gerade um diese Zinsproblematik, deren Lösung nicht in unseren Händen liegt und die ich auch nicht dieser Bundesregierung andichten will, zu unterlaufen.
Der Herr Bundeskanzler ist ja heute bei dieser wirtschafts- und finanzpolitischen Debatte nicht da.

(Widerspruch bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Doch, dort sitzt er!)

— Entschuldigung, Herr Bundeskanzler, ich schaue immer — autoritätsgläubig, wie ich ganz entgegen meinem Image bin — auf Ihren Platz auf der Regierungsbank.

(Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, es wird hier bestätigt, daß Sie voll da sind. Ich hoffe es.
Herr Bundeskanzler, Sie haben einen lieben Brauch. Wenn Sie ins Ausland reisen, dann sagen Sie jedem Gesprächspartner, egal, ob er in Paris, London, New York oder Washington sitzt, Sie seien in völliger Übereinstimmung mit ihm. Sie müssen in der Frage der amerikanischen Zinsen von diesem Brauch Abstand nehmen. Sagen Sie Reagan, daß die amerikanische Handels- und Finanzpolitik für die europäische Wirtschaft unerträglich ist!

(Beifall bei der SPD)

Das ist kein Antiamerikanismus, sondern das ist Schutz der europäischen Wirtschaft. Sagen Sie in Amerika, wie es geht, nämlich dadurch, daß man in einer Zeit, wo Schulden auswuchern, auch den eigenen Bürgern klarmachen muß, daß sie höhere Steuern zu zahlen haben. Diesen Wagemut braucht die amerikanische Regierung, oder die europäischen Kapitalmärkte werden auf Dauer kaputtgehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht so aufregen!)

— Ich muß mich an der Stelle aufregen, weil Sie das Thema wahrscheinlich nicht ganz erfaßt haben. In Amerika werden vom Staat derzeit 200 Milliarden Dollar nachgefragt.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Wieviel Prozent vom Haushalt sind das?)

Die freiwillige Ersparnis der Gesamtheit der amerikanischen Bürger sind sage und schreibe 150 Milliarden DM. Da bleibt allein ein Defizit zur freiwilligen Ersparnis von 50 Milliarden Dollar. Nun kommt ein Handelsbilanzdefizit in den USA von weiteren 70 Milliarden Dollar hinzu. Das bedeutet eine jährliche Nachfrage auf den internationalen Kapitalmärkten von 120 Milliarden Dollar durch die größte Wirtschaftskraft der Welt. Dies ist eine Situation, die die Lage der Vietnam-Kriegsfinanzierung in der Bedrohung der Weltwirtschaft noch übersteigt, und



Roth
das muß in Williamsburg konkret und hart vertreten werden, und man darf nicht völliges Übereinstimmen erklären.

(Beifall bei der SPD — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Bezogen auf das Sozialprodukt ist das nicht mehr als hier!)

Ich glaube im übrigen, Herr Bundeskanzler — ich habe Sie jetzt voll im Blick —, daß Ihre Hoffnung, Ihre einfache Philosophie, die Sie in Ihrer Regierungserklärung entwickelt haben, die auch im philosophischen Beitrag des Grafen Lambsdorff enthalten ist, nicht aufgeht. Diese Philosophie lautet: wir müßten höhere Gewinne durch Senkung der Lohnquote — was angedeutet war — und durch steuerliche Entlastung — was angekündigt war — ermöglichen; das würde zu mehr Investitionen führen, was automatisch mehr Beschäftigung bedeutete. Diese Gleichung geht aus folgenden Gründen nicht auf:
Erstens. Solange die erwartete Kapitalrendite von Investitionen niedriger ist als der Realzins, von dem ich gerade gesprochen habe, wird selbst bei bestehenden Gewinnen nicht ausreichend investiert.
Zweitens. Wenn, wie es zur Zeit der Fall ist, die Absatzerwartungen außerordentlich niedrig sind, wird unabhängig von der Gewinnsituation nicht ausreichend investiert.
Drittens. Die Formel: Gewinne gleich Investitionen gleich Arbeitsplätze, stimmt auch deswegen nicht, weil die Gewinne bekanntlich auch dazu benutzt werden können, Bilanzen zu konsolidieren.
Viertens. Schließlich stimmt Ihre Formel auch deshalb nicht, weil Investitionen schon heute überwiegend zur Rationalisierung getätigt werden. Wir sind nicht, um ein Wort von Graf Lambsdorff aufzunehmen, gegen Rationalisierungsinvestitionen. Dies ist schon wegen der Wettbewerbsfähigkeit so, und auch die Gewerkschaften sind nicht ganz dagegen.

(Cronenberg [FDP]: Auch nicht gegen Konsolidierung!)

Aber wir befürchten heute, daß das Rationalisierungstempo schneller vorangeht, als Produktion und Nachfrage zunehmen. Das ist die Situation zur Zeit, und wir meinen, daß das länger andauert.

(Beifall bei der SPD)

Da bleibt es mir, Herr Bundeskanzler, Graf Lambsdorff, wirklich ein Geheimnis, wie der Teilzeitminister Geißler, der noch einen Nebenberuf hat, wie man gerade wieder sieht, vorgestern folgendes ausführen konnte.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Sie wiederholen sich! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Er ist doch da!)

— Lassen Sie mich das doch vorlesen. Ich weiß schon, daß auch Sie das gelesen haben und deshalb ziemlich nervös sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo hat er das gesagt?)

— Ja, wo hat er das gesagt? In der „Bild"-Zeitung, das ist ja sein Leib- und Magenblatt. Das ist der Unterschied zwischen ihm und mir. Es ist sein Magenblatt, und mir dreht es den Magen rum, wenn ich die lesen muß.

(Beifall und Heiterkeit bei der SPD — Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Nehmen Sie mal zur Kenntnis, daß Herr Geißler hier ist!)

— Ja, der drückt sich da hinten herum.

(Lachen bei der CDU/CSU — Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Was soll denn der Quatsch? — Zuruf von der CDU/CSU: Der kann Roth nicht ertragen!)

Der Herr Geißler hat vorgestern in der „Bild"-Zeitung folgendes ausgeführt:

(Zurufe von der SPD)

„Wir brauchen mindestens zwei Jahre harte Arbeit, um die Arbeitslosigkeit auf eine Million herunterzudrücken. Wenn wir das bis 1985 schaffen, ist das ein großer Erfolg." — Herr Geißler, Graf Lambsdorff, es wäre ganz gut, wenn jemand von der Regierung uns hier sagte: ist das die Prognose der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, oder ist das Geschwätz von Geißler?

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wenn Sie hierher treten und sagen: im Jahr 1985 jahresdurchschnittlich eine Million Arbeitslose, dann sage ich: wir haben die Wahl zu Recht verloren, denn dieses Rezept hätten wir nicht gehabt. Diese großen Sprüche, eine Million in zwei Jahren bei steigender Produktivität in allen Sektoren, diese Sprüche müssen Sie entweder hier bestätigen oder korrigieren.
Und dann müssen Sie auch, was die Person betrifft, endlich eine Entscheidung treffen. Es geht nicht an, daß man mit hohem Parteigehalt da drüben im Adenauer-Haus sitzt und hier gleichzeitig Minister spielt und dann so'nen Quatsch erzählt. Das geht nicht.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

Das können wir der Öffentlichkeit, den Bürgern, den jungen Leuten nicht zumuten.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1000504200
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Kohl?

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1000504300
Aber sehr gern.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1000504400
Bitte, Herr Kohl.

Dr. Helmut Kohl (CDU):
Rede ID: ID1000504500
Herr Kollege, sind Sie bereit, einmal mehr zur Kenntnis zu nehmen und dann die falsche Behauptung für die Zukunft nicht zu wiederholen, daß das Amt des Generalsekretärs der CDU Deutschland ein ehrenamtliches Amt ist?

(Zurufe von der CDU/CSU: Im Gegensatz zu dem der SPD!)





Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1000504600
Also,

(Zurufe von der CDU/CSU)

ich nehme das zur Kenntnis. Da Sie Parteivorsitzender sind, müssen Sie j a die Kasse kennen. Also,
da werde ich Ihnen nicht widersprechen. Es will mir

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1000504700
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

(Zurufe von der CDU/CSU — Gegenrufe von der SPD)


Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1000504800
Nein, ich muß jetzt weitermachen, denn ich habe nur noch ein paar Minuten.
Herr Bundeskanzler, es wäre mir aber lieber gewesen, wenn Sie folgende Zwischenfrage gestellt hätten: „Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich diese Auffassung mit der 1 Million Arbeitslose in 1985 nicht teile". Dann hätte ich es schon gewußt. Das wäre viel besser gewesen.

(Erneute Zurufe und Gegenrufe)

Ich komme noch einmal zu dem Problem zurück, Investitionen seien gleich Arbeitsplätze. Jeder, der zur Zeit mit Betriebsräten im Dienstleistungssektor, in Kaufhäusern, in Banken, in Versicherungen zu tun hat, der weiß, daß jede Arbeitsmarktprognose zur Zeit bedroht wird durch schnell steigende Rationalisierungs- und Produktivitätssteigerungsprozesse im Dienstleistungsbereich.
Weshalb ich so handfest gegen Geißler vorgegangen bin: wir können doch hier nicht Erwartungen wecken, die anschließend überhaupt nicht einhaltbar sind. Früher war der Dienstleistungssektor, waren Handel, Banken und Versicherungen der Schwamm am Arbeitsmarkt. Wo in der Industrie freigesetzt wurde, wo Rationalisierung in der Industrie stattfand, hat der übrige Bereich der Wirtschaft — Handel, Banken, Versicherungen — quasi wie ein Schwamm am Arbeitsmarkt gewirkt. Heute wird dieser Schwamm selber ausgedrückt. Aus dem Dienstleistungssektor, aus dem tertiären Sektor kommen Arbeitslose.
Genau zu dieser Fragestellung finde ich weder in der Regierungserklärung noch in der Erklärung von Lambsdorff nur ein Wort. Wie können wir diesen Rationalisierungsprozeß in der öffentlichen Verwaltung, im Dienstleistungssektor auffangen? Da kann man nicht sagen, was Graf Lambsdorff hier gesagt hat: Wir müssen über Arbeitszeitverkürzung reden. Nein, dazu gehört, daß der Wirtschaftsminister dieser Republik sich hier hinstellt und sagt — in Richtung auf die Unternehmer —: Weg mit dem Tabukatalog gegen Arbeitszeitverkürzung, und zwar sofort.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich weiß von unseren Freunden aus der Gewerkschaftsbewegung — wenn Sie es wissen wollen, können Sie es auch erfahren —, daß sie wissen, daß die Arbeitszeitverkürzung nicht zum Nulltarif zu bekommen ist, daß es da Kompromisse auch mit der Lohnseite geben muß. Aber das wird j a durch die Blockadepolitik der Arbeitgeberverbände gar
nicht getestet. Durch diesen sonst so sensibel auftretenden Herrn Esser, der immer so sanft redet, aber knallhart in der Sache ist, ist in den Tarifverhandlungen praktisch keine Bewegung. Von daher, meine Damen und Herren, bin ich der Meinung, daß Sie als Wirtschaftsminister, daß Sie als Bundeskanzler in Richtung auf die Unternehmen nun klarer reden müssen.
Im übrigen habe ich noch ein Wort zu sagen in Richtung Stahlindustrie und Strukturpolitik. Es hat mich sehr gewundert, Graf Lambsdorff, daß Sie heute zur Stahlindustrie kein Wort gesagt haben. Aber manchmal wundere ich mich da schon gar nicht mehr. Die Art und Weise, wie Sie zur Zeit die Strukturentscheidungen und damit praktisch auch die Subventionsentscheidungen der deutschen Stahlindustrie privatisieren und die Verluste sozialisieren, ist schlechthin unerträglich.

(Beifall bei der SPD)

Zum Glück sind mir auch Worte aus der CDU/CSU-Fraktion nach Ihrem Vortrag dort in dieser Richtung zugegangen, so daß ich wenigstens hoffe, daß im Wirtschaftsausschuß die Kollegen von der CDU und der CSU mit der SPD einmal die Frage diskutieren: Kann es wirklich so weitergehen, wie dieser Wirtschaftsminister das plant?
Erstens. Er sagt den Unternehmern, den Konzernen an Rhein und Ruhr, in Bremen, von der Maxhütte, aus dem Saarland: Ihr müßt euch einigen, wie ihr fusioniert und kooperiert.
Zweitens. Die beiden stärksten Unternehmen, nämlich Thyssen und Krupp, schließen sich zusammen, bilden einen Superkonzern, der hoch wettbewerbsfähig ist, der ohne Zweifel in der Zukunft kein Subventionsempfänger sein wird, wie ich glaube. Aber es bleiben Bremen (Klöckner), die Maxhütte (Klöckner), Salzgitter (Bund), Hoesch in Dortmund und die Arbed im Saarland übrig. Diese Konzerne werden sich nicht aus eigener Kraft konsolidieren können. Das heißt, ich habe einen gewaltigen, starken Marktführer, der Preise setzen und auch unterbieten kann, der hoch kompetitiv ist; ohne Zweifel. Das ist dann auch im internationalen Maßstab ein marktwirtschaftlich hoch fähiges Unternehmen. Aber uns wird dann der Rest übertragen.
Es ist ja sehr interessant: Graf Lambsdorff spricht von 2 bis 3 Milliarden DM Subventionen, und die Herren in den Konzernen sprechen von 9 Milliarden DM Subventionen. Herr Stoltenberg — er ist im Moment hoffentlich im Saal, obwohl ich ihn nicht sehe —, ich würde sehr aufpassen. Diese Abstinenz einer Industriepolitik im Wirtschaftsministerium, dieses Sich-Verweigern des Steuerns eines Modernisierungsprozesses, der auch die Standorte sichert, und zwar von Bremen bis zur Maxhütte, von Salzgitter bis zur Saar, dieses Heraushalten aus der Sache wird der Steuerzahler eines Tages bitter bezahlen müssen, und Sie werden es tragen müssen.

(Beifall bei der SPD)

Oder es könnte dahinterstehen, daß Graf Lambsdorff die Standorte in Salzgitter oder in Dortmund



Roth
oder in Bremen gar nicht so wichtig sind. Das könnte ja die andere Interpretation sein.
Für die SPD sage ich folgendes: Wir wissen, wie schwierig es ist, ein Stahlkonzept ganz konkret vorzuschlagen. Aber wir werden es tun. Ich weiß, daß man dann kritisiert wird. Aber ich möchte wenigstens in der Situation Verantwortung tragen und sie nicht einfach auf die Europäische Gemeinschaft und auf die Konzerne abschieben. Das ist keine Politik; das ist Feigheit vor der Aufgabe.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß und möchte zusammenfassen,

(Wissmann [CDU/CSU]: Wo ist die Alternative?)

was wir in der heutigen Situation tun werden — auch in Anträgen — und was wir täten, wenn wir die Regierungsverantwortung bekommen hätten.
Erstens. Wir würden an der Nachfrageseite ansetzen, weil die Nachfrageschwäche auch die Hauptursache für die Investitionsschwäche ist.

(Zuruf des Abg. Carstens [Emstek] [CDU/ CSU])

Konkret: Wir würden mehr öffentliche Investitionen vornehmen, vor allem im wirtschaftsnahen Infrastrukturbereich und im Umweltschutz, also da, wo es dringlich ist, wo Bedarf besteht. Sie reden zwar von Umweltschutz, aber Sie verweigern sich
I doch einem großen Programm gegen Luftverunreinigung, gegen Gewässerzerstörung, für Wasserschutz und gegen Lärmbekämpfung.

(Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/ CSU]: Wo ist das Geld dafür!)

Bessere Umwelt kann man nicht individuell kaufen. Aber es gibt eine große Nachfrage. Die Umwelt ist ein Gemeinschaftsgut, das man durch öffentliche Programme erhalten muß. 300 000, 400 000 Arbeitsplätze werden geschaffen, wenn man dieses Feld anpackt.

(Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/ CSU]: Wo kommt das Geld dafür her?)

Zweitens. Hans-Jochen Vogel hat es in Richtung auf Williamsburg in seiner Rede gesagt, und ich will es nur noch einmal unterstreichen: Wir brauchen eine internationale Koordination einer expansiveren Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Gerade so können wir verhindern, daß Protektionismus um sich greift. Das Rezept, das bei Ihnen so eine große Rolle spielt — durch Senken der Lohnquote nach außen wettbewerbsfähiger zu werden —, funktioniert doch deshalb nicht, weil sich die französischen, die englischen, die amerikanischen Politiker an der Grenze gegen mehr Importe wehren werden. Sie können doch nicht glauben, daß eine Senkung der Massenkaufkraft in der Bundesrepublik Deutschland — in der Hoffnung, anderswo könne man mehr verkaufen — mehr Beschäftigung bringt. Das bringt mehr Protektionismus, und Sie sind die Verursacher des Protektionismus. Sie halten Sonntagsreden, aber tun nichts für Wettbewerbsgleichheit in der Welt.

(Beifall bei der SPD)

Drittens. Wir brauchen ein beschleunigtes Tempo bei der Arbeitszeitverkürzung. Der Staat muß durch ein Arbeitszeitgesetz Mitverantwortung übernehmen. Er muß insbesondere auf die Arbeitgeberseite Druck in Richtung auf Kompromisse ausüben.
Viertens. Wir müssen unsere Volkswirtschaft modernisieren. Wir dürfen nicht nur Krisenbranchen stützen, sondern wir müssen nach vorn sehen. Ich sage hier auch in Richtung auf die deutschen Banken: Die Art und Weise, wie derzeit eine Aktienhausse ungenutzt bleibt, um endlich einmal Kapitalerhöhungen vorzunehmen und damit mehr Risikokapital, Eigenkapital in die Unternehmen zu bringen, ist unerträglich. Wenn ich das Verhalten der deutschen Banken mit dem der amerikanischen Banken vergleiche, muß ich sagen: Die amerikanischen Banken sind Innovateure, und Deutsche Bank, Commerzbank und die anderen sind die großen Bremser in Richtung auf Risikokapital in der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der SPD — Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Das trifft doch auf die Deutsche Bank gar nicht zu, Herr Roth!)

Das kann man übrigens auch steuerlich fördern und bewegen. Auch hier hätte ich gern Konkretes gehört.
Herr Kohl, ich habe Ihre Regierungserklärung zwar mit Skepsis, aber doch mit der Hoffnung erwartet, ich würde erfahren, wie wir die Arbeitsmarktprobleme, die Beschäftigungsprobleme in den 80er Jahren angehen. Ich habe nichts gehört. Ich wiederhole das, was vorher Hans Apel und mehrere andere Redner unserer Fraktion gesagt haben: Wirtschaftspolitisch haben Sie keine Verbindung zu den 80er Jahren. Sie träumen sich in ein Wirtschaftswunder des reinen Wachstums der 50er Jahre zurück. Sie werden mit dieser Politik scheitern, weil sie mit der Realität nichts zu tun hat.

(Beifall bei der SPD — Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Das haben Ihre Altvorderen auch gesagt!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1000504900
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert (Marburg).

Hubert Kleinert (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1000505000
Herr Stoltenberg, Sie haben das, was ich hier vorgetragen habe, in einer Weise kommentiert, die auch dann nicht unwidersprochen hingenommen werden kann, wenn das Präsidium das einfach hinnimmt. Deswegen habe ich um das Wort nach § 30 der Geschäftsordnung gebeten.
Ich will nicht wiederholen, was Sie an Ausfällen geboten haben.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Das war gut! Wiederholen Sie es ruhig!)

Ich will mir auch eine Bemerkung ersparen, die das qualifizieren würde.



Kleinert (Marburg)

Ich will dazu nur eines sagen: Diese Aussage reiht sich ein in die Umgangsformen, die wir seit unserem Einzug in den Bundestag gerade von seiten derjenigen hier immer wieder erleben, die sich so gern und so oft etwas auf Schlips und Kragen zugute halten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was den inhaltlichen Streitpunkt betrifft, so will ich noch einmal die Kernaussage verdeutlichen, die ich gemacht habe. Wir haben den Eindruck, daß Ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik das Risiko von 3 und 4 Millionen Arbeitslosen durchaus eingeht. Wenn Sie der Auffassung sind, das sei das Dümmste, was Sie heute gehört haben, dann sage ich Ihnen dazu: Wir werden schon im nächsten Winter sehen, wer hier recht behalten wird. — Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1000505100
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Stoltenberg.

(Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Das ist die Sache nicht wert!)


Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1000505200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kleinert hat in seinen Attacken gegen uns unterstellt, wir ließen uns in unserer Verantwortung für die Wirtschafts- und die Arbeitsmarktpolitik von der Absicht einer Steigerung der Gewinne der Unternehmen leiten und eine Entwicklung zu vielen Millionen Arbeitslosen sei uns demgegenüber gleichgültig.
Ich sage Ihnen noch einmal in aller Ruhe: Ich empfinde dies als eine Kränkung. Ich empfinde es als einen Vorwurf, daß wir unseren Amtseid und unsere Amtspflichten verletzten. Ich habe diesen Vorwurf mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen. An meiner Aussage habe ich daher nichts zu korrigieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1000505300
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr.

(Unterbrechung von 13.02 bis 14.00 Uhr)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000505400
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Wir fahren in der Aussprache zur Regierungserklärung mit den Themenbereichen Wirtschaft und Finanzen fort.
Zu Wort hat sich der Abgeordnete Hauser (Krefeld) gemeldet. Bitte schön.

Hansheinz Hauser (CDU):
Rede ID: ID1000505500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war für meine Kolleginnen und Kollegen und für mich ein bemerkenswertes Symptom, in welcher Form die Opposition gestern und heute reagierte, wenn davon gesprochen wurde, daß, wie in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers ausgeführt, durch den Regierungswechsel der Absturz unserer Wirtschaft verhindert worden ist und wir jetzt erste Anzeichen eines Aufschwungs erkennen. Daß diese Feststellungen mit lautstarken Zwischenrufen und Lachen registriert wurden, zeigt ja wohl, daß es Ihnen — das gilt vor allem für die Kollegen der SPD — außerordentlich schwerfällt, einzugestehen, daß jetzt eine Politik erste Erfolge zeigt, die nicht Ihre Politik ist und die das wieder in Ordnung zu bringen versucht, was wir Ihrer 13jährigen Tätigkeit in der Bundesrepublik zu verdanken haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn die — heute morgen von dem Kollegen Roth so schlecht qualifizierten — wirtschaftswissenschaftlichen Institute eine Erkenntnis vermitteln, von der wir, glaube ich, auf Grund unserer Erfahrungen annehmen dürfen, daß sie substantiiert ist, und wenn Sie sagen, daß ein konjunktureller Aufschwung nicht mehr zweifelhaft sei und der Pessimismus sich rasch vermindert habe, dann ist es natürlich etwas merkwürdig, wenn hier versucht wird, eine solche Entwicklung mit der Politik in Verbindung zu bringen, die zugunsten unseres Staates am 1. Oktober 1982 endgültig beendet wurde. Wenn man dann sagt, der Wettergott und die Ölscheichs hätten dazu beigetragen, daß dies alles sich so entwickelt hat, Herr Kollege Roth — er ist gar nicht da; na, vielleicht kommt er noch —, dann ist das natürlich auch ein Beweis dafür, daß Ihnen die Argumente ziemlich ausgegangen sind. Wenn Sie die Überwindung des Fiaskos, mit dem Ihre Politik geendet hat, das eine bedrückende Stimmung bei allen ausgelöst hat, die am Wirtschaftsleben hier in Deutschland beteiligt sind — und das sind nicht nur die Unternehmer, sondern in gleicher Weise auch die Arbeitnehmer —, damit zu begründen versuchen, daß der Wettergott gnädig gewesen ist und die Ölscheichs preiswerter geworden sind, dann ist das, muß ich sagen, mehr als primitiv. Das Wahlverhalten der Arbeitnehmer am 6. März hat ja wohl gezeigt, daß man dort viel eher als bei Ihnen begriffen hat, wohin die Reise mit Ihrer Linie gegangen wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Bundeskanzler hat auch in seiner zweiten Regierungserklärung ein sehr klares Bekenntnis zu der Bedeutung des Mittelstands abgelegt. Ich war etwas belustigt, als dann gestern auch der Oppositionsführer hier plötzlich die Bedeutung des Handwerks und des Mittelstands so lautstark verkündete, nachdem das offenbar in den zurückliegenden Jahren bei ihm nicht ganz präsent gewesen war.

(Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Er hat einen guten Schuhmacher!)

Deswegen sage ich hier: Dem Mittelstand ist mit Lippenbekenntnissen überhaupt nicht gedient, wenn dahinter nicht auch handfeste Politik steht, die dafür sorgt, daß er wieder zu neuen Möglichkeiten kommt; denn er ist an die Grenzen seiner Existenzfähigkeit gebracht worden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Daß nicht die Ölscheichs oder der Wettergott verursacht haben, daß wir heute eine andere Stim-



Hauser (Krefeld)

mung haben, geht auch aus einer Umfrage hervor, die die größte Handwerkskammer der Bundesrepublik, nämlich die Handwerkskammer Düsseldorf, in diesen Tagen veranstaltet hat und die sich mit dem Geschäftsklimaindex befaßt. Er betrug im Herbst des vorigen Jahres 45 Punkte und ist in diesem Frühjahr auf 75 Punkte gestiegen — ein deutliches Zeichen dafür, daß die Zuversicht zu dieser Regierung zugenommen hat.
Wenn 65 % der Arbeitnehmer, also zwei Drittel, in mittelständischen Betrieben beschäftigt sind — und dies ist gestern hier ja auch von der Opposition noch einmal bestätigt worden —, wird man Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik nicht erfolgreich betreiben können, wenn sie an diesen mittleren und kleinen Unternehmen vorbeigeht, wenn man seine politischen Handlungen nur an der Großwirtschaft und den Gewerkschaften orientiert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen kommt es jetzt darauf an, daß die steigenden Kosten zurückgeführt werden und die mittelständischen Unternehmer auf Grund von Erträgen in der Lage sind, Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen.
Meine Damen und Herren, ich will in diese Debatte gern ein Thema einbringen, das bisher hier noch keine Rolle gespielt hat, das aber dankenswerterweise gestern auch vom Bundeskanzler in der Regierungserklärung angesprochen worden ist. Ich
meine die Tatsache, daß viele unserer Betriebe in den zurückliegenden Jahren vor allen Dingen durch ein Labyrinth perfektionistischer Vorschriften behindert waren, mit denen der Mittelständler nicht und die Großkonzerne nur mit Unterstützung aufwendiger Stabsabteilungen zurechtkommen. Was halten Sie, meine Damen und Herren, z. B. von dem Fall jenes hessischen Metzgermeisters, der seinen Betrieb um eine Wurstküche erweitern wollte, um sieben neue Arbeitsplätze zu schaffen, und bei dem sich im Genehmigungsverfahren das Bauordnungsamt und das Gewerbeaufsichtsamt nicht darüber verständigen konnten, ob in der Wurstküche geriffelte oder glatte Fliesen eingebaut werden mußten. Die einen sagten, die Verkehrssicherheit der Arbeitnehmer müsse durch geriffelte Fliesen gewährleistet werden, die anderen sagten, die Hygiene sei gefährdet, wenn die Fliesen geriffelt seien. Nachdem sich die beiden Ämter anderthalb Jahre nicht auf eine Entscheidung verständigen konnten, hat dieser Metzgermeister resigniert und seine Wurstküche nicht gebaut.
Meine Damen und Herren, das ist kein Einzelfall. Wir wissen aus einer Sinus-Studie, daß im Jahre 1979 im Lande Nordrhein-Westfalen 14 % der beantragten Bauten nicht gebaut worden sind, daß in 14% der Fälle das Antragsvolumen reduziert werden mußte und daß sich 67 % aller Investitionen auf Grund bürokratischer Auflagen verteuerten.
Meine Damen und Herren, das Hotel- und Gaststättengewerbe in der Bundesrepublik Deutschland muß zum Betrieb seiner Unternehmen allein
42 Gesetze und Verordnungen mit Hunderten von Paragraphen beachten,

(Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Die haben leider wir hier gemacht!)

vom Gaststättengesetz bis zur Beherbergungsstatistik. Da dürfen wir uns doch nicht wundern, wenn manchen Leuten die Lust vergeht, ein Unternehmen zu führen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Dann muß man hier auch die Konsequenzen ziehen!)

Dazu kommen die Kosten, die die vielen Kontrollen in den Betrieben auslösen. Alle diese Kontrollen, ob durch das Eichamt, das Chemische Untersuchungsamt oder durch irgendeine andere Behörde, müssen dann ja auch noch mit einer Gebühr bezahlt werden.
Ich will hier gar nicht von dem sprechen, was uns aus Europa, aus Brüssel alles auf den Tisch kommt. Gerade dieser Tage habe ich erfahren, daß an der Grenze eine Sendung Marmelade zurückgewiesen worden ist, weil auf den Gläsern eine Kirsche mit Stengel abgebildet war. Der Zöllner behauptete, in der Marmelade seien nicht die Stengel, und deshalb sei die Marmelade falsch etikettiert. Deshalb wurde die ganze Sendung an der Grenze zurückgewiesen.
Meine Damen und Herren, wenn man einen derartigen Humbug sieht und wenn es dann noch Bürokraten gibt, die einen derartig hanebüchenen Unsinn auch noch verteidigen, kann man sich über nichts mehr wundern.
Ich will natürlich nicht behaupten, meine Damen und Herren von der SPD, daß Sie diese Entwicklung allein verschuldet haben. Aber Sie haben sie ermöglicht, weil Sie grundsätzlich dem Staat mehr vertrauen als den freien Kräften. Auch dies gehört zu der 120jährigen Tradition Ihrer Partei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, wir nehmen den Bundeskanzler beim Wort. Wir vertrauen auf seine Zusage, die deutsche Wirtschaft und insbesondere den Mittelstand von belastenden Reglementierungen zu befreien. Auch dies ist dann ein Beitrag zum Abbau der Schwarzarbeit und der Schattenwirtschaft, die zum Teil auch aus der Resignation manchen Unternehmers geboren wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf ein Thema kommen, das uns heute hoffentlich noch mehr beschäftigen wird. Das ist das Angebot der deutschen Wirtschaft, jedem Ausbildungswilligen auch einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen. In diesem Zusammenhang sollten wir auch den Mut haben, einmal die ausbildungshemmenden Vorschriften, die es in diesem Zusammenhang gibt, unter die Lupe zu nehmen

(Beifall bei der CDU/CSU)

und festzustellen, ob nicht die Einstellung manchen
Lehrlings, die Bereitstellung manchen Ausbildungsplatzes daran scheitert, daß dem Betrieb und auch



Hauser (Krefeld)

dem Auszubildenden Dinge zugemutet werden, die so ohne weiteres hinzunehmen sie nicht bereit sind. Die Personalakte eines Lehrlings wog im Jahre 1970 noch 35 Gramm; ihr Gewicht ist inzwischen auf ein halbes Kilogramm angestiegen.
Trotzdem, meine Damen und Herren, gibt es diese Zusage. Allein der Mittelstand hat in den zurückliegenden Jahren jährlich 700 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt, mehr als drei Viertel aller Ausbildungsplätze in der deutschen Wirtschaft. Wir vertrauen dem Versprechen und danken dem Bundeskanzler, daß er dieses Versprechen ausgelöst hat, auch in diesem Jahr jedem Ausbildungswilligen eine entsprechende Lehrstelle zur Verfügung zu stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Peter [Kassel] [SPD]: Täuschung!)

— Dieser Zwischenruf kommt mir sehr gelegen. Ich möchte Ihrem Fraktionsvorsitzenden einmal vorschlagen, statt hier über diese Frage herumzumäkeln, dem Vorbild seines Kollegen Dregger zu folgen und seine Fraktion aufzufordern, bei der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen zur Verfügung zu stehen und ebenfalls mit dazu beizutragen, daß diejenigen, die in ihrem Wahlbereich einen Ausbildungsplatz suchen, auch Hilfe erfahren, wovon wir bisher noch keine Kenntnis nehmen konnten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das machen wir schon lange! — Weitere Zurufe von der SPD)

Lassen Sie mich zur notwendigen Entlastung der Wirtschaft zurückkommen. Es ist mehr als berechtigt und notwendig, daß der Bundeskanzler die Durchforstung des Vorschriftendschungels zu einer zentralen Aufgabe seiner Regierungspolitik erklärt hat. Damit ist aber auch die Frage gestellt, welchen Beitrag der Bundesgesetzgeber zum Abbau der Bürokratisierung in der Gesetzgebung des Bundes leisten kann. Jeder Einsichtige weiß, daß eine Industriegesellschaft ohne ein vertretbares Maß an gesetzlichen Regelungen nicht existieren kann. Deswegen wollen wir hier auch keine unerfüllbaren Hoffnungen wecken. Der Anstoß zur Vereinfachung muß aber auch von uns Abgeordneten kommen. Wir sollten unsere eigene Leistungsfähigkeit nicht mehr an der Zahl der von uns hier verabschiedeten Gesetze und Verordnungen messen, sondern vielmehr an dem, was wir in diesem Bereich verhindern konnten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will noch etwas hinzufügen: Dies gilt nicht nur für die Legislative und die Exekutive; das gilt genauso auch für die organisierten Gruppen und Verbände; denn nicht wenige Gesetze und Verordnungen gehen auf Initiativen und Drängen der Verbände selbst zurück. Auch dies sollte auf das erforderliche Maß begrenzt werden.
Meine Damen und Herren, ich meine, es wäre notwendig, daß in der Regierung aus der Fülle qualifizierter Beamter einige beauftragt werden, als Entrümpelungskommissare für die vorhandenen
Gesetze tätig zu werden und dafür zu sorgen, daß die Wirtschaft, aber auch die Bürger in ihrer Gesamtheit, von einer Menge überflüssiger gesetzlicher Bestimmungen und Verordnungen befreit werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, eine freie Volkswirtschaft kann auf Dauer nicht glaubwürdig existieren, wenn der Wettbewerb durch Subventionen verzerrt wird. Wie in anderen Bereichen können wir auch hier die Hypotheken der Vergangenheit nicht kurzfristig tilgen. Und doch dürfen wir die Zielvorstellung nicht aus dem Auge verlieren, die heißt: Subventionen müssen befristet sein, damit sie der parlamentarischen Kontrolle unterworfen bleiben. Ferner muß zugleich mit ihrer Gewährung eine jährliche Reduzierungsrate festgelegt werden, damit sie nicht zur liebgewordenen Dauereinrichtung werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ohne deutliche Begrenzung und realen Abbau von Subventionen werden wir die öffentlichen Haushalte nicht konsolidieren können. Wir sind überzeugt, daß die Bundesregierung auf dem richtigen Weg zur Lösung dieses Problems ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem machen, was hier von der Opposition beigetragen worden ist. Der Herr Kollege Roth hat heute morgen noch einmal seinen Katalog vorgelegt, von dem er meint, daß er zur Belebung der Wirtschaft beitragen könnte. Diese Vorschläge sind natürlich alle nicht neu. Vielmehr hat er sie zum Teil schon zu einer Zeit vorgetragen, als er selbst noch mit in der Regierungsverantwortung stand. Ich frage mich natürlich, warum er dies damals nicht alles nach vorn gebracht, warum er dies nicht damals realisiert hat, z. B. das, was zur Einführung neuer Techniken und dergleichen gesagt worden ist. Im übrigen aber sind diese Vorschläge nicht geeignet, die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und zu stabilisieren. Das 31-Punkte-Programm, das in der vorigen Woche vorgelegt worden ist, ist ein reines Ankündigungsprogramm, das nichts zum Inhalt hat als das alte Klischee: mehr Staat zur Lösung der Probleme.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier auf das zurückkommen, was gestern gegen Ende der Rede des Oppositionsführers eine Rolle gespielt hat, nämlich die Feststellung, daß der Bundeskanzler nicht der Enkel Konrad Adenauers, sondern der Sohn Ludwig Erhards sei. Das war zwar wohl als Vorwurf gedacht, ich aber bin der Meinung, daß der Bundeskanzler dies als ein großes Lob empfunden hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn, meine Damen und Herren, ich fühle mich in diesen Tagen, gestern und heute, in die Situation zurückversetzt, die wir in den Jahren 1948/49 in der Bundesrepublik Deutschland hatten, als die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den



Hauser (Krefeld)

I Professoren Nölting und Erhard darüber gingen, ob wir diesen Staat mit Beibehaltung der staatlichen Zwangswirtschaft aus den Trümmern des Krieges befreien könnten oder ob wir der freien Initiative der Bürger mehr Raum geben müßten. Diese Auseinandersetzung ist zugunsten der freien Initiative der Bürger entschieden worden. Das hat uns diesen Staat eingebracht, in dem wir heute leben können und auf den wir stolz sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, hier geht es nicht um überholte Rezepte der 50er und 60er Jahre, sondern wir müssen dafür sorgen, daß nicht alte Klassenkampfgegensätze, wie dies hier heute morgen auch von den GRÜNEN geschehen ist, dazu beitragen, daß das Klima in unserer Volkswirtschaft und in unserer Gesellschaft vergiftet und von daher eine vernünftige Entwicklung auf Dauer verhindert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, nicht mit Klassengegensätzen, nicht mit dem Schüren von Neidkomplexen, mit dem Verteufeln der einen oder anderen Gruppe oder dem Aufeinanderhetzen dieser verschiedenen Gruppierungen in unserer Gesellschaft werden wir diesen Staat aus den Schwierigkeiten herausführen, sondern nur dann, wenn wir alle miteinander bereit sind, auf einer klaren Linie, die diese Regierung vorgibt, die Ärmel hochzukrempeln und dafür zu sorgen, daß wir wieder Voraussetzungen schaffen, damit auch die Arbeitslosen von der Straße kommen. Dies ist nicht mit frommen Sprüchen, mit alten marxistischen Parolen zu schaffen, sondern nur dadurch, daß man dem Bürger wieder die Leistungsfähigkeit ermöglicht, zu der er auch bereit ist. Das hat der 6. März, das hat das Ergebnis dieser Wahl gezeigt. — Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000505600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Reuschenbach.

Peter W. Reuschenbach (SPD):
Rede ID: ID1000505700
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Kollegen Hauser muß ich wirklich sagen: Mein Gott, Herr Hauser, wohin haben Sie sich da am Schluß verstiegen, als Sie sich gegenüber der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands über angebliche uralte marxistische Parolen beklagten? Das kann man sicherlich da und dort anbringen, aber doch nicht hier in diesem Hause. Im übrigen finde ich, daß Ihr Hinweis darauf, daß fromme Sprüche nicht ausreichen, richtig ist. Aber Sie müssen sich die Adresse überlegen.
Es würde mich schon sehr reizen, mich etwas umfangreicher mit Ihnen darüber auseinanderzusetzen, was die Politik für Mittelschichten in den letzten Jahren war und auf welche Weise den kleinen und mittleren Unternehmen in diesem Lande in den letzten sechs, sieben, acht Jahren Hilfe und Unterstützung zuteil geworden ist. Ich kann das deshalb nicht so umfangreich tun, weil ich Ihnen nicht ersparen möchte, mit drei wichtigen Krisenbranchen konfrontiert zu werden, für die Ihre Politik keine Aussagen macht.
Aber ein paar Bemerkungen: Es hat keine fünf Jahre seit 1948/49 gegeben, in denen die selbständig beruflich Tätigen, die kleinen und mittleren Unternehmen eine solche steuerliche Entlastung erfahren haben wie in diesen letzten fünf Jahren. Es hat kein halbes Jahrzehnt gegeben, in dem in einem solchen Umfange speziell und insbesondere die Freibeträge bei der Gewerbesteuer heraufgesetzt worden sind mit der Folge — die Sie doch kennen, Herr Hauser, Sie sind doch Kommunalpolitiker und können doch nicht mit frommen Sprüchen andere, die das nicht so genau wissen, darüber hinwegtäuschen —, daß in den meisten Städten heute 70 bis 75 % der eigentlich Gewerbesteuerpflichtigen keine Gewerbesteuer mehr zahlen und daß noch 5 oder 6 % der gewerbesteuerpflichtigen Unternehmen 50 bis 60 % des gesamten Gewerbesteueraufkommens zusammenbringen.
Wenn das kein Beitrag zu einer Begünstigung — die ich für richtig halte — der kleinen und mittleren Unternehmen, der kleinen und mittleren selbständig beruflich Tätigen ist, was ist es dann? Und das sind keine frommen Sprüche. Hinzu kommen beträchtliche Zuwendungen bei der allgemeinen Forschungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen, die wir für richtig gehalten haben und die in den letzten Jahren eingeführt worden sind.
Wenn Sie dann noch nach Parteicouleur unterscheiden wollen, dann würde ich Ihnen wirklich dringend raten, einmal die Hebesätze der Gewerbesteuer in vielen unionsregierten Städten Süddeutschlands mit denen von sozialdemokratisch regierten Städten im Ruhrgebiet zu vergleichen. Sie unterscheiden sich zu Lasten der Gewerbesteuerpflichtigen im Süden um 50 %. Ich würde Ihnen wirklich dringend empfehlen, über die kommunalpolitische Vereinigung in Ihrem eigenen Hause zu helfen, daß in München und in Stuttgart nicht solche Gewerbesteuersätze angewandt werden.
Wenn jetzt in dieser Zeit jemand in den Städten den mittleren und kleineren Unternehmen, den selbständig beruflich Tätigen ernsthaft helfen will, dann kann er das am besten damit tun, daß er die Leistungsfähigkeit und die Investitionskraft der Gemeinden stärkt.

(Beifall bei der SPD)

Denn eine große Zahl, eine Masse dieser Unternehmen und Betriebe hängt davon ab, ob die Stadt in der Lage ist, den Auftrag zur Renovierung von Schulen und Kindergärten, den Auftrag zur Erneuerung einer Straßendecke oder den Auftrag zum Bau irgendeines Hauses zu vergeben. Wer die Gemeinden stranguliert, wie das zur Zeit mit der Sozialgesetzgebung und der Steuergesetzgebung der Fall ist, der trifft diesen Gewerbezweig im Kern.

(Hauser [Krefeld] [CDU/CSU]: Wer hat denn die Gemeindefinanzen so verkommen lassen, Herr Reuschenbach?)




Reuschenbach
— Der Bundesrat hat allen ausgabeträchtigen Steuergesetzen zugestimmt. Also, das mit der Erblast ist heute morgen j a schon einmal behandelt worden.
Ich will übergehen zu drei wichtigen Bereichen der Wirtschaftspolitik, die in der Regierungserklärung ausweichend bis nichtssagend behandelt worden sind. Ich meine den dramatischen Strukturwandel der Stahlindustrie in der Welt und in Europa mit seinen Auswirkungen auf die heimische Steinkohle und die Krise der Werftindustrie, die nicht mit der Parole „mehr Markt" und der Hoffnung allein auf „Selbstheilungskräfte der Wirtschaft" beantwortet werden können.
Das ist kein Gegensatz zu Ihrer und zu meiner Feststellung, daß Marktwirtschaft ein wichtiges Prinzip eines demokratischen pluralistischen Staates ist. Aber das schließt überhaupt nicht aus, sondern schließt ein, daß der Staat in bestimmten Sektoren regulierend mitwirken muß. Dafür gibt es eine Fülle von Beispielen.
Ich weiß nicht, ob Sie heute die Äußerungen Ihres Ministerpräsidenten Späth gelesen haben, der nach diesen Meldungen offensichtlich Einsichten gewinnt. Er sagt, Aufschwung reicht nicht; kein noch so qualifizierter Aufschwung beseitigt die Arbeitslosigkeit; das Strukturelement in der Wirtschaftspolitik hat gegenüber dem Konjunkturelement immer größere Bedeutung erlangt; Wirtschaftswachstum ist nicht Allheilmittel; er sprach sich für neue Ansätze aus usw. Vielleicht setzt sich das bei Ihnen auch noch durch.
Natürlich müssen auch in der Stahlindustrie und im Bergbau und bei den Werften die betroffenen Unternehmen und Branchen ihren Teil zur Umstrukturierung beitragen und, wo es unumgänglich ist, auch Anpassungen der Kapazitäten vornehmen. Ich stehe auch nicht an zu sagen, daß manche Unternehmensleitung taktisches Zuwarten, verbunden mit der Hoffnung darauf, das Erbe des ausgeschiedenen Konkurrenten antreten zu können, an den Tag gelegt hat. Aber gerade in einer solchen Situation ist es Pflicht des Staates, diese Entwicklungen auf Grund eigener Vorstellungen mitzugestalten und zu begleiten. Da müssen Sie zugeben, daß die neue Bundesregierung für keine der von Strukturkrisen betroffenen Branchen eigene Vorstellungen über die künftige Entwicklung hat. Die Regierungserklärung ist insbesondere in diesem Zusammenhang wirklich nur als Offenbarungseid zu betrachten.
Nicht erst seit dem Regierungswechsel, aber erst recht danach schiebt das Bundeswirtschaftsministerium notwendige eigene Entscheidungen über Neuordnungspläne der Stahlindustrie vor sich her. Die Appelle, neue Gutachten vorzulegen, neue Pläne vorzulegen, reichen j a wohl nicht aus. Diese Verschleppung arbeitet gegen die deutsche Stahlwirtschaft, erhöht die Gefährdung der noch verbliebenen und verbleibenden Arbeitsplätze. Die Verhältnisse wären heute schon sozial explosiv, hätte die SPD-Fraktion nicht zusammen mit der früheren Bundesregierung die soziale Flankierung für die betroffenen Arbeitnehmer durchgesetzt.
Heute fordern wir die Bundesregierung auf, sich folgende Punkte zueigen zu machen:
Erstens ist erneut und verstärkt bei der EG-Kommission auf die Beseitigung wettbewerbsverzerrender Situationen hinzuwirken und dieses auch mit Gegenmaßnahmen zu begleiten. Als letztes Mittel ist meiner Ansicht nach ein Grenzausgleich nicht von vornherein auszuschließen, wenn andere Methoden und Maßnahmen nicht mehr wirken.
Die Preis- und Mengenabsprachen sind unabdingbar. Die Bundesregierung muß erklären, welche Stahlerzeugungskapazität sie in der Bundesrepublik in Zukunft für möglich und für nötig hält. Wir stimmen mit den Stahlmoderatoren darin überein, daß die wesentlichen Stahlstandorte im Kern erhalten bleiben müssen, „selbst wenn dadurch Abstriche an maximaler Wirtschaftlichkeit erforderlich sind". Die Stahlmoderatoren selbst werden allerdings diesem eigenen Anspruch nicht gerecht. Sollten Hilfen über die im Investitionszulagengesetz vorgesehenen Maßnahmen hinaus erforderlich sein, sind diese grundsätzlich in Form von Kapitalbeteiligungen von Bund und Ländern zu gewähren.
Schließlich ist wohl die Aufforderung gerechtfertigt, daß die Bundesregierung zusammen mit den Betriebsräten, den Arbeitsdirektoren und den Gewerkschaften ihre Schulaufgaben macht und die Montan-Mitbestimmung dabei zu sichern ist, und zwar auf Dauer. So könnten Regierung und Koalition unter Beweis stellen, ob sie es mit der Mitbestimmung ernst meinen oder ob sie es, wie Herr Kohl das ja in einer Passage getan hat, eher als Alibi mißbrauchen will, um die eigene Untätigkeit in der Stahlindustrie zu kaschieren.

(Beifall bei der SPD)

Die Krise in der deutschen Stahlindustrie ist eine Krise der Industriepolitik, der europäischen und der nationalen. Am gefährlichsten aber ist der Verzicht auf Politik, ein Laufenlassen der Entwicklung, die in diesem Fall im Abgrund enden muß.

(Wissmann [CDU/CSU]: Was haben Sie eigentlich getan?)

— Die Sozialdemokratische Partei und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion haben gegen Ihren erbitterten Widerstand bis in die letzten Monate des vorigen Jahres hinein ein optimales Maß, eine große Anstrengung unternommen, um das, was wir nach wie vor für nötig halten, auf den Weg zu bringen. Wir haben das Investitionszulagengesetz über die Hürde gebracht, wir haben das Stahlstandortprogramm über die Hürden gebracht, wir haben die soziale Flankierung herbeigeführt, wir haben das Bundeswirtschaftsministerium gezwungen, wenigstens eine — wenn auch noch nicht befriedigenden — Regelung in Europa bei der EG-Kommission durchzusetzen.

(Beifall bei der SPD)

Dieses ist jetzt zu vollenden, und jetzt richtet sich
die Frage an Sie, was Sie mit Ihrer Mehrheit und



Reuschenbach
mit der von Ihnen gestellten Regierung tun. Diese Antwort ist in den nächsten Monaten zu geben.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Nicht nur bei der Stahlindustrie, sondern auch bei der Sicherung und bei der Umstrukturierung der deutschen Werftindustrie bietet die Bundesregierung ein konfuses Bild. Noch im November des vorigen Jahres hat der frühere und heutige Wirtschaftsminister gesagt, von einer kritischen Lage der deutschen Werftindustrie könne überhaupt nicht die Rede sein. Aber schon im Jahre 1982 sind die Aufträge für Schiffsbauten um 30 % zurückgegangen, und das geht offensichtlich 1983 und 1984 so weiter.
Deshalb ist das richtig, was von verschiedenen Seiten — auch en detail — gefordert und aufgeschrieben worden ist: daß die Bundesregierung die Sicherung einer wettbewerbsfähigen Schiffbauindustrie zur nationalen Aufgabe erklären muß und entsprechend zu handeln hat. Ein Schiff ist ein „Warenkorb" des Angebots der ganzen Palette deutscher industrieller Leistungsfähigkeit. Auch deshalb ist es gerechtfertigt und notwendig, die Aufrechterhaltung des deutschen Schiffbaus zu gewährleisten.
Der Bundeskanzler hatte im Wahlkampf vor Betriebsräten Bremer Werften versichert:
Es gibt für eine Industrienation Wirtschaftsbereiche, die unverzichtbar sind. Dazu gehört Kohle, Stahl, Landwirtschaft und Schiffbau. Wir werden der Schiffbauindustrie an der deutschen Küste helfen.
Zwei Wochen nach der Wahl wurde der Sanierungsplan der bundeseigenen HDW bekanntgegeben: 4 000 Entlassungen.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Auch in der Regierungserklärung ist nichts zu finden, was diesem gegebenen Versprechen entsprechen würde. Im Gegenteil, manches spricht dafür, daß weitere Entlassungen an der Küste bevorstehen, wenn nicht schnell gehandelt wird, und daß dieser Verlust von 10 000 Arbeitsplätzen — von einem Drittel ist ja die Rede — 300 Millionen DM kosten und auf den Bundeshaushalt durchschlagen wird. Dieses Geld ist doch eigentlich gar nicht vorhanden. Für die Hälfte dieses Geldes können die Werften in die Lage versetzt werden, konkurrenzfähig zu sein.

(Wissmann [CDU/CSU]: Fragen Sie einmal die Hamburger SPD!)

— Lieber Herr Wissmann, das ist doch keine sozialdemokratische Polemik oder Meckerei!

(Wissmann [CDU/CSU]: Schon!)

Vier Regierungschefs norddeutscher Küstenländer, zwei Sozialdemokraten und zwei christliche Demokraten, haben das ungefähr so, wie ich es hier skizziert habe, aufgeschrieben und haben die Bundesregierung aufgefordert, diese Vorschläge zu verwirklichen.

(Beifall bei der SPD)

Das möchten wir nachdrücklich unterstreichen.
An dieser Stelle will ich allerdings auf eine seltsame Gegensätzlichkeit hinweisen. Während hier heute morgen Herr Stoltenberg Subventionen im allgemeinen und auch im einzelnen für übel erklärt hat und die sozialdemokratische Forderung, auf bestimmten Teilgebieten müsse der Staat mitwirken, als gefährlich und systemwidrig bezeichnet hat, gibt es unter diesen vier Regierungschefs der norddeutschen Küstenländer einen Parteifreund von ihm, der mit den anderen zu Recht erhebliche staatliche Hilfe und staatliche Unterstützung fordert. Sind schwarze Subventionen anders als rote Subventionen zu behandeln und zu charakterisieren? Ich bitte Sie herzlich, sich das zu Herzen zu nehmen und gründlich durch den Kopf gehen zu lassen.
Auch und gerade nach der gestrigen Regierungserklärung müssen wir feststellen, daß die neue Bundesregierung die Wende auch in der Kohlepolitik eingeleitet hat. In seiner Regierungserklärung hat sich der Bundeskanzler — das können Sie nachlesen — auf Selbstverständlichkeiten beschränkt und ansonsten dem Steinkohlebergbau mitgeteilt, er müsse sich selbst helfen. Es sind doch geradezu Plattheiten, die er zur Kohle gesagt hat. Er sagte „Natürlich wird die Kohle gebraucht", aber kein Wort davon, wie lange und wieviel. Daß die Unterstützung der Stahlindustrie auch der Kohle nützt — so hat er es gesagt —,

(Zuruf des Abg. Gerstein [CDU/CSU])

das wäre, lieber Herr Gerstein, natürlich richtig, wenn es eine aussichtsreiche Stahlpolitik der Bundesregierung gäbe. Die Feststellung, daß der Jahrhundertvertrag gilt, ist nun wahrhaftig auch keine Überraschung, denn Verträge gelten im allgemeinen.

(Gerstein [CDU/CSU]: Dieser Vertrag ist aber sehr wertvoll!)

Das ersetzt doch aber nicht die Festlegung, mit welcher Förderkapazität der heimische Bergbau am Ende dieses Jahrzehnts oder in den 90er Jahren seinen Versorgungsbeitrag zu leisten hat.
Es ist offensichtlich, daß die Bundesregierung nicht mehr hinter dem Kernsatz der dritten Fortschreibung des Energieprogramms steht, wonach der deutsche Steinkohlebergbau auch für den Rest dieses Jahrhunderts seinen Versorgungsbeitrag halten soll.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Bekennen Sie sich dazu, sagen Sie es offen, aber führen Sie hier nicht einen Salometanz mit mehr oder weniger verdeckenden Schleiern auf.
Wenn jetzt die Aussage gilt, der Steinkohlebergbau habe seine Kapazität dem Absatz anzupassen, heißt das eben: über „Erin" hinaus weitere Zechenstillegungen mit dem Verlust von Tausenden von



Reuschenbach
Arbeitsplätzen direkt und von weiteren Tausenden im Umfeld des Steinkohlebergbaus. Auch wenn Herr Worms — kaum war das Wort dem Mund entfahren, möcht er's im Busen gern bewahren — sich dann von seiner Äußerung abgesetzt hat, man müsse Mut zu weiteren Zechenstillegungen haben, so hat er in Wirklichkeit doch die Katze aus dem Sack gelassen. Das ist die Konsequenz der neuen Kohlepolitik dieser Bundesregierung. Schon früher hat Herr Biedenkopf ausgerechnet für das Ruhrgebiet, für das Kohleland seine Absicht ausgesprochen, daraus müsse eine Kernkraftschmiede werden. Herr Späth hat noch vor ein paar Tagen einer für das Ruhrgebiet notwendigen Institution das Wasser abgegraben und ist außerdem der gemeinsamen Forschungspolitik in den Rücken gefallen. Ich sage das, weil ich verdeutlichen will: Vor diesem Hintergrund ist es geradezu zynisch, in der Regierungserklärung zu hören, daß dem Revier geholfen werden soll, seine Leistungskraft zu verbessern. Das Gegenteil ist der Fall.

(Wissmann [CDU/CSU]: Mit der Rau-Regierung ist das auch kaum möglich!)

Mit der Inkaufnahme von Zechenstillegungen, mit dem Verzicht auf eine eigene Stahlpolitik, mit der Schwächung der Finanzkraft der Gemeinden wird dem Revier schwerster Schaden zugefügt. Diese Folgen können weder die Landesregierung noch die Gemeinden und die betroffenen Städte ausgleichen und auffangen, die bisher ohnehin schon einen überproportionalen Teil für nationale Aufgaben wie Kohle und Stahl leisten. Ich muß Ihnen offen sagen: Hier liegt der Verdacht nahe, daß auch Wahltaktik im Spiel ist. — Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000505800
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Haussmann.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1000505900
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Roth und Herr Reuschenbach haben zur Stahlkrise einige sehr polemische Behauptungen im Blick auf Graf Lambsdorff aufgestellt. Ich stelle folgendes fest. Erstens. Es ist eine Tatsache, daß es den intensiven Bemühungen von Graf Lambsdorff in Brüssel zu verdanken ist, daß es überhaupt Ansätze zur Lösung der Stahlkrise gibt, Herr Reuschenbach.

(Beifall bei der FDP)

Das ist nicht zu bestreiten. Eine Tatsache ist es auch, daß dort, wo die SPD noch Regierungsverantwortung trägt,

(Wissmann [CDU/CSU]: Noch!)

nämlich an Rhein und Ruhr, absolute Konzeptionslosigkeit herrscht.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Wirtschaftsminister Jochimsen verfolgt mit der Zusammenarbeit zwischen Krupp und Hoesch einen Plan, der nach Ansicht von Branchenkennern längst zu den Akten gehört. Ministerpräsident Rau beschwichtigt zwar nach allen Seiten und hofft, mit
dieser Hängepartie noch über die Landtagswahlen 1985 zu kommen.
Zweitens. Graf Lambsdorff hat in Brüssel durchgesetzt, daß das von uns sicher nicht geliebte Produktionsquotensystem für den Stahl verlängert wird. Nur dadurch haben wir die Sanktion, den Subventionskodex durchzusetzen, d. h. überhaupt eine geringe Chance, daß 1985 viele Subventionen im internationalen europäischen Bereich auslaufen.
Drittens. Gerade in einer Debatte über die Regierungserklärung muß man einmal sagen dürfen, daß Graf Lambsdorff mit gutem Grund zunächst von den Unternehmen die Vorlage von Umstrukturierungsplänen verlangt hat, bevor der Staat und damit alle Steuerzahler zur Kasse gebeten werden. Das waren drei knappe Bemerkungen zur Stahlpolitik.
Lassen Sie mich aus der Sicht der Fraktion der Freien Demokraten zu den zentralen Fragen der allgemeinen Wirtschaftspolitik ganz kurz folgendes sagen.

(Reuschenbach [SPD]: Herr Haussmann, das war Vergangenheit!)

Für die Freien Demokraten, Herr Reuschenbach, ist die innenpolitische Herausforderung, j a wie die EKD sagt, die Gefährdung des inneren Friedens durch die Arbeitslosigkeit gegeben, d. h. die Freien Demokraten werden in dieser Legislaturperiode ihre finanz-, haushalts-, steuerpolitischen Teilziele dem Hauptziel der Schaffung von mehr Arbeitsplätzen konsequent unterordnen.

(Beifall bei der FDP)

Wir sehen hier drei wesentliche Strategien. Erstens. Wir müssen mehr Markt, besser noch: eine Revitalisierung, eine Erneuerung der marktwirtschaftlichen Ordnung einleiten. Zweitens. Es muß zu einer Renaissance des Mittelstands kommen, der mit Abstand der größte Arbeitgeber in unserem Lande ist.

(Beifall bei der FDP)

Drittens müssen wir die Kreativität des einzelnen und die technologischen Möglichkeiten einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft dazu nutzen, mehr Beschäftigung' zu schaffen und ökologischen Fortschritt zu erreichen. Wir nennen das — in Anlehnung auch an Ralf Dahrendorf, Herr Roth; das ist kein Schritt in die 50er Jahre; Sie sollten einmal Ihren volkswirtschaftlichen Stand fortschreiben — die offene, ökologisch ausgerichtete Marktgesellschaft.

(Lachen bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Erstens zur Revitalisierung der marktwirtschaftlichen Ordnung. Wir glauben — es ist interessant, daß das hier von großen Teilen des Parlaments inzwischen belächelt wird —, daß die größten Chancen für Mehrbeschäftigung nach wie vor in einer Erneuerung der Wettbewerbsordnung bei uns liegen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)




Dr. Haussmann
Nicht mehr Staat, sondern die Rückgewinnung von Wettbewerbsfähigkeit, das Schaffen von offenen Möglichkeiten bietet die Chance.

(Erneuter Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Alles andere sind defensive Umverteilungsstrategien. Was Herr Späth in diesem Zusammenhang wünscht, ist mir bisher unklar geblieben. Aber man weiß j a, daß er für modische Tendenzen in verschiedenen politischen Bereichen sehr anfällig ist.
Wenn Sozialdemokraten geringschätzig von den schwachen Selbstheilungskräften unserer Ordnung sprechen, so wissen wir zwar, daß eine marktwirtschaftliche Ordnung Schwächen hat; sie ist für uns aber das Dominante und Vitale in unserem Wirtschaftssystem. Sozialdemokraten entscheiden sich eher für staatliche Interventionen. Wir könnten von Herrn Vogel über Herrn Roth bis hin zu Herrn Reuschenbach jetzt 15 Punkte aufzählen. Das ist die sozialdemokratische Antwort für mehr Beschäftigung: mehr Staat bei leeren Kassen. Das ist das, was der unvergessene Karl-Hermann Flach einmal so trefflich als den institutionellen Aberglauben der Sozialdemokratie bezeichnet hat.
Das heißt aber auch — wir sagen dies sehr offen --: Marktteilnehmer in einer Marktwirtschaft sind auch Unternehmer, und auch Unternehmer müssen in dieser kritischen Beschäftigungslage wieder verstärkt ihre Funktion ausfüllen, mit mehr Phantasie und Risikobereitschaft etwas unternehmen, nämlich mehr Beschäftigung schaffen, ohne auf weitere staatliche Segnungen zu warten oder zu schielen.
Wie steht es nun faktisch um diese Erneuerung der Marktwirtschaft? Es wird uns allen guttun, wenn wir alle etwas gründlicher das Frühjahrsgutachten lesen, auch diese Koalition. Denn dort steht etwas kritisch, daß es nach wie vor an langfristiger Klarheit und Konsequenz für Bedingungen für eine nachhaltige Besserung unserer Wirtschaft fehlt und daß die Voraussetzungen für einen nicht nur leichten konjunkturellen Aufschwung, sondern für strukturelle Besserung unserer Wirtschaft noch nicht gegeben sind.
Auch angesichts der Stahl- und Schiffsdebatte sage ich hier sehr deutlich: Es kann auf Dauer nicht gutgehen, wenn wir Großunternehmen und schwach strukturierten Regionen mit über 60 Milliarden Subventionen Unterstützung gewähren, die letztlich von den noch gesunden Regionen wie Baden-Württemberg und anderen sowie den vielen — teilweise noch gesunden — kleinen und mittleren Betrieben aufgebracht werden müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Fazit bleibt in diesem Bereich: Wenn wir nicht mehr Konsequenz zu mehr Markt, zu weniger Bürokratie, zu mehr Eigenverantwortung und zur finanziellen Sanierung zeigen, wird auch diese neue Koalition Enttäuschung und Resignation ernten und letztlich eine Verschärfung unserer Beschäftigungsprobleme nicht verhindern können.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000506000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1000506100
Ich bitte sehr um Verständnis: Ich werde es im Wirtschaftsausschuß gerne nachholen. Ich habe nur noch zwei Minuten.
Zweitens. Was wir dringend brauchen, ist eine Renaissance des Mittelstandes. Hier steckt in Zahlen das größte Potential unseres Landes an Ausbildungs- und Beschäftigungsplätzen. Wir glauben nicht, daß eine ständige Diskussion über Steuerpolitik der psychologische Kern für die Rettung der mittleren Betriebe wäre. Was wir brauchen, ist ein verändertes psychologisches Klima, das mehr Spielraum, mehr Offenheit schafft. Wir müssen den mittleren Unternehmen und ihren Arbeitnehmern den Rücken von Bürokratie und Staat frei halten. Das ist wichtiger als manche Steuergeschenke.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Wir müssen dafür sorgen, daß die wenigen Mittel, die wir haben, in Forschung, Entwicklung und Innovation effizienter verteilt werden. Der von uns gewählte Weg, nicht nur bei der Förderung durch Abschreibung von Maschinen, sondern auch bei der Förderung der menschlichen Erfindungskraft anzusetzen, ist eine Möglichkeit in der Innovationspolitik, die nach vorn weist.
Wir müssen unsere Tarifpolitik flexibler gestalten. Sie muß mehr Rücksicht auf die arbeitsintensiven kleinen und mittleren Betriebe nehmen. Dies gilt in verstärktem Maße auch für die Sozialpolitik, wenn wir an die weltweit sehr hohen Personalnebenkosten denken.

(Zuruf des Abg. Kolb [CDU/CSU])

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Ein dritter Punkt: Was unsere Industriegesellschaft braucht, ist eine, wie es gestern genannt wurde, reale Utopie, eine Perspektive. Meines Erachtens bleibt der Pfad zu mehr Beschäftigung so lange versperrt, solange es uns nicht gelingt, ein psychologisches Klima der Resignation auch in der jungen Generation zu überwinden. Es wäre ein Betrug an der jungen Generation, wenn weiter die Realisierung dessen zugelassen würde, was ein für die Europäer wichtiges Zukunftsinstitut festgestellt hat. Dieses Zukunftsinstitut hat erklärt — ich zitiere —:
Europa fühlt sich alt und ausgelaugt, sogar krank und erwartet eher eine Verschlimmerung der Zustände als Genesung oder sogar den Exitus.
Meine Damen und Herren, diese Haltung birgt keine Chance für die nächste Generation. Daher halten wir — ganz kurz zusammengefaßt — folgende Elemente für die Zukunft für entscheidend.
Es gibt in einer offenen Gesellschaft keine absoluten Sättigungsgrenzen. Eine solche Haltung zeugt von Mangel an Phantasie. In einer offenen Industriegesellschaft bleibt es den Aktiven vorbehalten, diese Grenzen immer wieder zu verschieben. Unterschätzen wir nicht die Lernfähigkeit und die Neu-



Dr. Haussmann
gierde der Menschen, die immer wieder zu neuen Möglichkeiten der Beschäftigung führen werden.

(Zuruf von den GRÜNEN: Und was ist mit der Natur?)

Letzter Punkt: Wir brauchen einen vernünftigen Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie. Meine Damen und Herren, ökologische Schäden in einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft sind ohne technologischen Fortschritt nicht mehr behebbar.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Gerstein [CDU/CSU]: Genauso ist es!)

Damit komme ich zum Schluß. Liberale Politik wird sich daher an klaren Rahmenbedingungen für ökologische Ziele orientieren, und sie wird verstärkt die Lenkungskraft der Preise zu umweltgerechterem Verhalten unserer Wirtschaft nutzen.
Mit einem Wort: Was wir wollen, ist die offene, die ökologische Marktgesellschaft, die mehr Tätigkeiten für Menschen bietet. — Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000506200
Meine Damen und Herren, damit ist der Bereich Wirtschaft und Finanzen abgehandelt.
Ich rufe den Bereich Arbeit und Soziales auf. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Blüm.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1000506300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zu Beginn meiner Rede nur meine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, ob denn die Zuhörer eine Diskussion verstehen, die ungefähr so geführt wird: Alles, was gut ist, ist gut, weil die SPD 13 Jahre regiert hat; alles, was schlecht ist, ist schlecht, weil die neue Regierung sieben Monate im Amt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Glaubt denn irgend jemand, diese Art von Diskussion würde irgend jemanden außer Parteifanatikern interessieren?
Ich halte es auch für eine Frage des politischen Geschmacks, daß Sie uns pausenlos den amerikanischen Präsidenten vorhalten, daß Sie den amerikanischen Präsidenten in die deutsche Sozialpolitik einführen, um außenpolitische Unfreundlichkeiten zu verbreiten.
Was täten Sie eigentlich, wenn ich Ihnen hier vorläse, was die französischen Sozialisten alles an Kürzungen im Rahmen der Sozialgesetzgebung im letzten Jahr vorgenommen haben? Was täten Sie eigentlich, wenn ich Ihnen vorläse, daß sie beispielsweise die Beteiligung an den Krankenhauskosten weiter getrieben haben als wir, daß sie die Witwenrente auf 50 % festgeschrieben haben, daß sie die angekündigte Anhebung hinausgeschoben haben?
Ich will es gar nicht tun, weil ich es nicht gut finde: Schlägst du meinen Reagan, schlage ich deinen Mitterrand! Beide sind für ihre Länder verantwortlich, und wir wollen mit beiden in freundschaftlichen Beziehungen leben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was wir von Oktober 1982 bis März 1983 machen mußten, war — ich gebe es zu — akuter Rettungsdienst.

(Dreßler [SPD]: Für wen?)

— Akuter Rettungsdienst, sonst wäre beispielsweise die Rentenversicherung zusammengebrochen.
Jetzt liegt eine große Wegstrecke vor uns, und wir stehen vor der Notwendigkeit nicht von Reparaturarbeiten, sondern von Strukturarbeiten. Die Sozialpolitik käme im übrigen auch zu kurz, wenn sie sich nur als Reparaturstation verstünde. Die Sozialpolitik ist nicht der Abschleppwagen für die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir wollen Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik als Einheit betreiben. Eine Sozialpolitik, die zu spät kommt, ist nicht nur unmenschlich, sondern auch sehr teuer.
Ich finde, die Chance des Neuanfangs liegt darin — man hat sie j a nicht allzuoft; Sie hatten sie auch —, daß man sich auf veränderte Bedingungen besser einstellen kann als eine alte Regierung, verbraucht, in der Routine befangen. Ich denke, wir haben es in der Sozialpolitik mit veränderten Voraussetzungen zu tun. Wir sollten die Chance des Neuanfangs nutzen, die Antwort auf diese Veränderungen zu geben. Ich nenne drei Veränderungen.
Erstens. Das Wachstum verändert sich. Das Sozialsystem kann sich nicht auf die alten Wachstumsraten verlassen. Zweitens. Die Geburtenzahlen gehen zurück. Drittens. Nicht alle alten Einrichtungen erfüllen noch den Zweck, für den sie eingesetzt waren. Etwas anspruchsvoller formuliert — wenn ich das ins Soziologendeutsch übersetzen soll —: Es gibt offenbar Steuerungsdefizite. Ich sage: Was früher gut war, muß nicht heute gut sein. Das ist meine Übersetzung.
Nun aber zunächst zum ersten Punkt. Ich bin kein Anhänger des Nullwachstums. Für Nullwachstum können nur Leute schwärmen, die ihre Schäfchen schon im Trockenen haben. Die Arbeitnehmer jedenfalls haben noch sehr viele Bedürfnisse.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nur, ich gehöre auch nicht zu denjenigen, die sagen, wir könnten alles mit Wachstum lösen. Nullwachstum als Lösung halte ich für genauso einfallslos wie Nur-Wachstum.

(Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich glaube auch, daß Wachstum heute etwas anderes bedeutet als Wachstum vor 20 Jahren. 6% Wachstum im Jahre 1950 sind etwas anderes als 6% Wachstum im Jahre 1980.

(Zurufe von der SPD)

— Mengenlehre ist doch immer ganz gut, wenn ich sie vortrage. Warum stören Sie sich denn an Mathematik?
Wenn wir nicht berücksichtigen, daß bei stagnierender Wirtschaft die Sozialleistungen nicht wach-



Bundesminister Dr. Blüm
sen können, führen wir die Sozialpolitik in die Manövrierunfähigkeit, dann begeben wir uns ins Packeis.

(Zurufe von der SPD)

— Ich kann Ihnen das gern vorrechnen. Der Sozialetat des Jahres 1983 beträgt 58,55 Milliarden DM. Er ist noch immer der größte Etat. Von diesen 58,55 Milliarden DM gehen 13,1 Milliarden DM an die Kriegsopfer — sehr zu Recht —, 11,7 Milliarden DM an die Bundesanstalt für Arbeit, 33,5 Milliarden DM an die Sozialversicherung. Wenn Sie jetzt einen Strich machen und zusammenzählen, bleibt noch etwa 1/2 Milliarde DM zur freien Verfügung. Mit anderen Worten: Die Eisrinne, in der wir uns bewegen, gefriert. Wir sind steuerungsunfähig. Wir haben für das Neue, für Gestaltung kein Geld.

(Zurufe von der SPD)

Für das Neue kein Geld zu haben, liebe Sozialdemokraten, weil für das Alte zuviel Geld verbraucht wird, ist nicht progressiv, sondern reaktionär.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir benehmen uns wie Zechpreller, die eine Bestellung aufgeben, aber die Nachkommenden bezahlen lassen. Das ist Schmarotzertum an unseren Kindern. Sie werden die Schulden abzahlen können, die wir ihnen hinterlassen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf der Abg. Frau Potthast [GRÜNE])

Zweite Veränderung: Die Geburtenzahlen gehen zurück. Wir können heute nachmittag noch so kunstvoll diskutieren, die Soziallastquote hängt immer ab von dem Verhältnis derjenigen, die arbeiten, zu denjenigen, die nicht arbeiten. Das können wir mit Formeln so organisieren, wie wir es wollen. Deshalb ist Kinderfeindlichkeit auch eine Altenfeindlichkeit. Wenn nämlich die Kinderzahlen zurückgehen, sind die Renten von morgen gefährdet. Wenn die Kinderzahlen zurückgehen, werden die Arbeitnehmer von morgen zu hohe Beiträge zahlen müssen. Kinderfeindlichkeit ist eine Dummheit, auch unter sozialpolitischen Gesichtspunkten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, ich nenne ein paar Zahlen. 1983 kommen auf 100 Erwerbstätige 30 ältere Mitbürger. Im Jahr 2000 werden auf 100 Erwerbstätige 38 ältere Mitbürger kommen. Im Jahr 2030 werden auf 100 Erwerbstätige 60 oder mehr ältere Mitbürger kommen. Dabei steigt noch — wiederum sage ich: Gott sei Dank — die Lebenserwartung. Allein in den letzten 13 Jahren stieg sie bei Männern im Durchschnitt um 1 Jahr, bei Frauen um 1,5 Jahre. Das verstößt nicht gegen die Gleichberechtigung.
Meine Damen und Herren, allein diese Veränderungen bedeuten, daß in einem Abschnitt von 15 Jahren die Rentenversicherung 100 Milliarden DM mehr ausgeben muß. Dabei haben wir noch gar keine Leistungen erhöht. Es sind 100 Milliarden DM mehr allein wegen der demographischen Entwicklung.
Dann können wir doch nicht die Hände in den Schoß legen und Gott oder die Regierung einen guten Mann sein lassen

(Egert [SPD]: Wir lassen sie schon keinen guten Mann sein!)

und sagen: Kommt Zeit, kommt Rat.
Wenn wir nichts täten, dann würden entweder das Rentenniveau gesenkt oder die Beiträge erhöht werden müssen. Entweder müßten wir das heutige Rentenniveau von brutto 45 % bis zum Jahr 2030 auf 25% senken, oder wir müßten die Beiträge von 18 auf 35 % erhöhen.

(Egert [SPD]: Zur Sache!)

— Das ist sehr zur Sache. Wenn Sie nichts tun, müssen Sie entweder das Rentenniveau halbieren oder die Beiträge verdoppeln. Wenn Sie das machen, entsteht aber ein Krieg zwischen den Generationen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wollen nicht die Generationen gegeneinandertreiben, sondern miteinander vereinbaren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb brauchen wir eine neue Rentenpolitik.


(Zurufe von der SPD)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir können jetzt lange über Vergangenheit reden oder uns in der Rentenpolitik auf die Zukunft konzentrieren.

(Zurufe von der SPD)

Wenn Sie wollen, daß wir über die Vergangenheit reden, kann ich ja einmal darüber sprechen, wer den Bundeszuschuß um 3,5 Milliarden DM gekürzt hat. Wir oder Sie? Heute morgen ist uns das zum Vorwurf gemacht worden, obwohl es 1981 geschehen ist.

(Zurufe von der SPD)

Es waren 3,5 Milliarden DM, um die durch die SPD gekürzt worden ist. Wir haben im letzten Jahr — ich gestehe: der Not gehorchend — um 900 Millionen DM gekürzt. Das waren — Herr Westphal, Sie erinnern sich — noch immer 400 Millionen DM weniger, als Sie geplant hatten. Die Verminderung der Rentenanpassung in den Jahren 1979, 1980 und 1981 betrug insgesamt 12,2 %.
Meine Damen und Herren, ich glaube, die Rentner interessieren sich weniger für diesen Teil. Die Rentner werden uns fragen: Was macht ihr mit unserer Rente in der Zukunft?
Lassen wir deshalb die Vergangenheit sein, und konzentrieren wir uns gemeinsam auf die Zukunft!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Anhaltende Zurufe von der SPD)

— Ja, meine Damen und Herren, ich wollte die Vergangenheit nur vorführen, damit Sie nicht meinen — —

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000506400
Herr Bundesminister, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen? — Meine Damen und Herren, ich möchte Sie herzlich bitten, die Zwischenrufe, die, wie wir alle wissen, dazuge-



Vizepräsident Stücklen
hören, nicht so konzentriert und nicht so zahlreich auf einmal zu machen. Der Bundesminister würde auf die Zwischenrufe gern eingehen, aber er kann sie gar nicht mehr sortieren. Deshalb bitte ich, Zurufe einzeln und vereinzelt zu machen.

(Zurufe von der SPD)

Bitte schön, Herr Minister.

(Anhaltende Zurufe von der SPD)


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1000506500
Ich bedanke mich sehr, Herr Präsident, für diese hilfreiche Unterstützung. Aber es geht weiter.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir müssen uns auf die Zukunft konzentrieren. Es geht nicht darum, Renten zu kürzen. Kein älterer Mitbürger braucht die Angst zu haben, wir wollten ihm einen Teil der Rente wegnehmen, die er heute ausgezahlt bekommt. Es geht nur um Ausmaß und Tempo der Rentensteigerung. Darüber müssen wir uns unterhalten.
Meine Damen und Herren, vielleicht gibt es doch Möglichkeiten der Verständigung zwischen uns. Ich bin für jeden Streit zu haben. Streit ist ja auch ein Teil des parlamentarisch-demokratischen Lustgewinns. Aber es muß nicht über alles gestritten werden. Wir müssen zu Konflikt und Konsens in der Lage sein. Das gehört zusammen wie Einatmen und Ausatmen. Vielleicht könnte die Rentenpolitik der Test sein, daß wir über alle Streitfragen hinweg dennoch konsensfähig bleiben, und zwar im Interesse der älteren Mitbürger. Am Rentenstreit kann keine Partei gewinnen, und an der Renteneinigung wird keine Partei verlieren. Wir können es den älteren Mitbürgern nicht zumuten, daß Jahr für Jahr eine Rentendiskussion geführt wird. Damit muß jetzt Schluß sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir können mit all dem Geld die Angst der älteren Mitbürger nicht beseitigen. Zur sozialen Sicherheit gehören ja nicht nur die Höhe der Sozialleistungen, sondern auch ihre Verläßlichkeit, ihre Berechenbarkeit.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000506600
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1000506700
Bitte.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000506800
Bitte, Herr Abgeordneter.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1000506900
In Richtung auf Ihren Vorschlag, zusammenzuarbeiten, habe ich eine Frage. Jetzt reden Sie schon 15 Minuten. Können Sie uns die Zusammenarbeit nicht dadurch erleichtern, daß Sie nach diesen 15 Minuten endlich sagen, was Sie für 1984 mit der Rente vorhaben, nachdem der Bundeskanzler gesagt hat, Sie würden dazu entsprechende Vorschläge unterbreiten?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1000507000
Wenn Sie mir durch Ihr pausenloses Dazwischengeschrei nicht fünf Minuten von der Zeit genommen hätten, wäre ich jetzt an dem Punkt, wo ich Ihnen erkläre, was wir alles in der Zukunft machen werden.

(Roth [SPD]: Vielen Dank! — Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Nicht nur zur Rentenpolitik, sondern auch zur Diskussion gehört ein Mindestmaß an Geduld.
Ich denke, es sind drei Orientierungspunkte, auf die wir uns einigen könnten: Erstens. Die Rente muß beitragsbezogen bleiben. Zweitens. Die Rente soll so steigen, wie die verfügbaren Einkommen. Drittens. Der Bundeszuschuß muß verläßlich bleiben.
Ich will die Rente nicht nur für 1984 sicher machen, sondern ich will sie bis ins Jahr 2000 sicher machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es geht doch nicht nur um das nächste Jahr. Von der Rentenpolitik von der Hand in den Mund haben wir doch nun genug. Es geht nicht um ein Jahr. Es geht um mehrere Jahrzehnte.

(Zuruf von der SPD: Fangen Sie doch einmal damit an!)

Ich beginne damit, daß ich glaube, daß wir diesen Grundsatz der Beitragsbezogenheit um der älteren Mitbürger willen festhalten müssen, damit die Rente ein Verdienst für Lebensarbeit und keine staatliche Zuteilung, kein Almosen ist. Das ist ein Unterschied im Selbstbewußtsein.

(Frau Potthast [GRÜNE]: Und die Frauen?)

— Auch die Frauen sind Rentner. Nicht nur die Männer sind Rentner.

(Frau Potthast [GRÜNE]: Und das Existenzminimum?)

Den zweiten Punkt „Verfügbares Einkommen der Arbeitnehmer als Maßstab" halte ich deshalb für unerläßlich, weil niemand davoneilen kann, weder die aktiven Arbeitnehmer noch die Rentner. Lohn und Rente müssen sich im Gleichgewicht entwikkeln. Denn beide sitzen in einem Boot.
Der dritte Punkt ist in der Tat, daß mit der Manipulation des Bundeszuschusses — ein hartes Wort — Schluß gemacht wird. Denn sonst kann die Rentenversicherung nicht langfristig kalkulieren.

(Zuruf des Abg. Egert [SPD])

— Soll ich Ihnen noch mal die 3,5 Milliarden aus Ihrer Zeit in Erinnerung bringen?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich habe allen Fraktionen dieses Hohen Hauses geschrieben und sie gebeten, diesen Versuch zum Konsens, zur Einigung zu unternehmen. Ich kann mit Dankbarkeit sagen, daß alle vier Fraktionen: die Sozialdemokratische Partei, die GRÜNEN, die CDU/CSU und die FDP, darauf geantwortet haben. Das halte ich für ein hoffnungsvolles Beginnen, daß wir hier Gemeinsamkeit im Interesse der älteren Mitbürger herstellen.



Bundesminister Dr. Blüm
Freilich, auch die Sozialpartner werden daran beteiligt werden. Die Gespräche mit den Sozialverbänden, dem VdK, auch dem Reichsbund, sind bereits durchgeführt worden. Ich kann der Öffentlichkeit mitteilen, daß auch dort das Verständnis für Notwendigkeiten größer ist, als manche glauben. Denn die Einsicht, daß wir sparen müssen, ist weiter verbreitet, als viele ängstliche Zeitgenossen glauben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich füge hinzu, daß es für dieses Klima des Vertrauens und der Verläßlichkeit, das ich für eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe, vielleicht darf man sagen: Jahrhundertaufgabe, halte, unerläßlich ist, daß wir alles tun — und was in meiner Kraft steht, werde ich tun —, um die Rentenverschiebung zu verhindern. Ich glaube, das ist eine vertrauenstabilisierende Maßnahme. Ich lade Sie alle ein, mitzuhelfen, daß uns das gelingt. Wir sind j a bereit. Wir haben uns bereits auf den Weg gemacht. Ich muß meinen Redetext nicht zwischen Wahlkampf und NachWahlkampf wechseln. Wir haben im Wahlkampf gesagt, daß Handlungsbedarf besteht, daß etwas gemacht werden muß. Wir haben uns jetzt schon in den wenigen Wochen auf den Weg gemacht, mit Schritten, von denen ich glaube, daß sie alle nicht nur einen finanziellen Entlastungseffekt haben, sondern daß sie Schritte hin auf eine neue Rentenstruktur sind, daß sie nicht in die falsche Richtung weisen, daß sie nicht den Weg verbauen.
Erster Schritt: Aktualisierung. Ich halte sie für einen Beitrag dazu, daß Rentner und Lohnempfänger näher zusammenrücken. Wenn die Rente der Lohnentwicklung des Vorjahres folgt, dann ist das Mißverständnis ausgeschlossen, das häufig durch eine langjährige Verzögerung entstanden ist, wenn das eine Mal die Rentenerhöhung größer war als die Lohnerhöhung oder ein andermal die Lohnerhöhung größer als die Rentenerhöhung. Es ist nicht klargeworden, daß Rente von den Löhnen lebt, daß jung und alt in einem Boot sitzen. Die Aktualisierung hat also nicht nur einen Entlastungseffekt, sie verstärkt auch die Plausibilität des Solidaritätscharakters der Rentenversicherung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf der Abg. Frau Fuchs [Köln] [SPD])

— Ich füge ausdrücklich hinzu, daß die Aktualisierung auch einen finanziellen Entlastungseffekt hat. Alle diese Maßnahmen haben sowohl finanzielle wie strukturelle Aspekte. Ich finde, wenn gespart wird, sollten wir Sparen immer mit Gestalten verbinden. Es geht nicht nur um Geldeinsammeln, es geht auch darum, die Sozialpolitik plausibler, treffsicherer, gerechter zu machen — mit den Mitteln, die vorhanden sind.
Die zweite Maßnahme: Wir wollen die Sonderzahlungen, also Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, rechnerisch auf das ganze Jahr verteilen. Für den Kleinverdiener ändert sich überhaupt nichts. Er ist mit und ohne Weihnachtsgeld in der Beitragspflicht. Für den ganz großen Verdiener ändert sich allerdings auch nichts. Nur, der bekommt auch keine Gegenleistung. Wenn wir die Sonderzahlungen verteilen, schaffen wir mehr Gerechtigkeit. Es kann doch nicht der Sinn einer öffentlichen Einrichtung, der Sozialversicherung, sein, daß man mit der Zufälligkeit eines Zahlungstermins entscheiden kann, ob man in der Solidarpflicht einer Beitragszahlung ist oder nicht. Ich will es weniger kompliziert sagen: Ein Unternehmer, der seine Sonderzuwendungen auf das ganze Jahr verteilt, ist mit den Sonderzuwendungen meistens unter der Beitragsbemessungsgrenze. Ein Unternehmer, der das auf einen Schlag zahlt, der möglicherweise nicht nur ein 13. Monatsgehalt zahlt, sondern noch ein 14., demnächst bei manchem vielleicht sogar ein 15., entzieht sich durch die Massierung auf ein Datum mit dem Großteil dieser Zahlungen der Beitragspflicht. Es kann aber nicht sein, daß man sich durch private Vereinbarung öffentlichen Pflichten entzieht. So wie wir es bei der Lohnsteuer machen, so wollen wir es in Zukunft auch bei der Sozialversicherung machen.
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß es die Alternative der Beitragsanhebung gibt. Ich will nur darauf hinweisen: Die Beitragsanhebung bezahlen alle, auch der Kleinverdiener, ohne Gegenleistung. Die Neustrukturierung der Sonderzuwendungen läßt den kleinen Verdiener völlig ungeschoren. Er wird nicht weiter belastet. Insofern hat dieser Vorschlag auch unter sozialen Gesichtspunkten, nicht nur unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten, Vorteile.

(Zurufe von der SPD)

Dritter Punkt: Wir wollen das Krankengeld beitragspflichtig machen. Dafür soll also ein Beitrag zur Rentenversicherung geleistet werden. Das bedeutet für den Krankengeldbezieher, daß er sich daran beteiligen muß. Aber, meine Damen und Herren, ich stelle folgende Rückfrage: Heute ist es so, daß das Krankengeld 80 % des Bruttoentgelts ausmacht und in den meisten Fällen genauso hoch ist wie das Nettoentgelt, also das, was der Arbeitnehmer bekam, als er nicht krank geschrieben war. Jetzt frage ich Sie: Kann es Sinn der Sozialpolitik sein, daß eine Sozialleistung genauso hoch ist wie das Arbeitsentgelt?

(Zuruf von den GRÜNEN: Warum nicht?)

Ich finde, das kann und darf nicht so sein, weil sich Arbeit sonst nicht mehr lohnt, weil wir sonst gleich auf ein System von Bezugsscheinen umstellen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir werden die Zugänge bei den Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten für diejenigen neu strukturieren, die mit dem Arbeitsmarkt gar keinen Kontakt mehr haben und sich in manchen Fällen einen leichten Zugang zur vorzeitigen Rente verschafft haben. Es muß uns zu denken geben, daß 48,2 % der Neuzugänge bei den Männern vorzeitiger Rentenbezug sind und bei den Frauen 51,4 %. Meine Damen und Herren, wenn die Hälfte der Neuzugänge auf einem Weg erfolgt, der eigentlich als Ausnahme gedacht war, dann kann das kein Normalzustand sein, dann müssen wir die Praxis überprüfen, ob sie noch der Gesetzgebung entspricht. Wir machen Sozialpolitik nicht vom Dogma her, nicht aus Vorurteilen,



Bundesminister Dr. Blüm
wir machen Sozialpolitik aus der Praxis. Wir wollen eine lebensnahe Sozialpolitik machen.
Letzter dieser Schritte zu einer neuen Rentenstruktur: Wir wollen den Kinderzuschuß auf Kindergeld umstellen. Auch hier gibt es Ungereimtheiten. Man kann mit einer kleinen Rente, die möglicherweise ein Zusatzeinkommen ist, einen hohen Kinderzuschuß erlangen, während ein anderer, möglicherweise der Nachbar, mit der gleichen Zahl von Kindern und eventuell einem geringeren Einkommen mit dem staatlichen Kindergeld zurechtkommen muß. Wenn jemand sagt, das sei zuwenig,
— dann brauchen wir einen besseren Familienlastenausgleich. Dafür müssen wir sparen, wenn wir für die Familien mehr tun wollen. Nur ist das keine originäre Aufgabe der Rentenversicherung. Nicht alle guten Taten können auf den Wagen der Rentenversicherung geladen werden, sonst bricht er zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Erhöhen Sie das Kindergeld dafür?)

— Wenn das Geld wieder vorhanden ist, werden wir als erstes mehr Mittel für die Familienpolitik einsetzen. Nur, wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren, sagt ein altes Sprichwort. Nichts kann man auch nicht für Familienpolitik verteilen.
Nun will ich noch auf die Frage nach der Hinterbliebenenversorgung eingehen, die Kollege Roth gestellt hat. Meine Damen und Herren, ich komme aus einer alten Handwerkerfamilie, einer alten Schlosserfamilie. Da gibt es die Tradition: Nie mehr als ein Werkstück im Schraubstock. Das Werkstück, das ich jetzt im Schraubstock habe, heißt Rentenkonsolidierung. Wenn das erledigt ist, kommt die Hinterbliebenenversorgung dran, eines nach dem anderen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will gerne die Hausaufgabe erledigen, die uns das Verfassungsgericht gestellt hat. Nur, die Reform ist das noch nicht. Reform werden wir erst eine Hinterbliebenenregelung nennen — das große Wort Reform nehmen wir nämlich nicht so inflationär in den Mund —, bei der die Erziehungszeiten im Rentenrecht wie die Erwerbsarbeit angerechnet werden. Das erst wird die Reform sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Alles andere sind Rentenregelungen, für die ich das große Wort Reform nicht in Anspruch nehme.
Meine Damen und Herren, es gibt in unserem Sozialsystem, wiederum angeregt, provoziert, in Bewegung gesetzt, Ungereimtheiten. Wir sollten aus den Ungereimtheiten unsere Schlüsse ziehen. Ich will sie einmal für das Gesundheitssystem nennen. Wenn ein älterer Mitbürger, der pflegebedürftig ist, ins Krankenhaus geschickt wird, bezahlt das die Krankenkasse. Wenn er vom Arzt in ein Pflegeheim eingewiesen wird, bezahlt er es selber oder die Verwandtschaft oder die Sozialhilfe. Unter privaten Gesichtspunkten ist es also billiger, ins Krankenhaus geschickt zu werden; unter öffentlichen Gesichtspunkten ist es teurer, ins Krankenhaus geschickt zu werden — und nicht in jedem Falle menschlicher. Wir haben es in der Sozialpolitik offenbar mit zweierlei Rationalität zu tun. mit einer privaten Rationalität und mit einer öffentlichen, mit zweierlei Moralitäten. Das können wir uns nicht leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb glaube ich, daß wir die häusliche Pflege unterstützen müssen. Wir wollen keine Sozialpolitik, die die Menschen aus den Familien vertreibt. Wir wollen keine Sozialpolitik mit der Endstation Sehnsucht, Heime und Krankenhäuser. Wir wollen keine Verheimung,

(Duve [SPD]: Endlich mal ein neues Wort!)

nicht nur, weil das möglicherweise nicht so menschenfreundlich ist, sondern auch, weil das teurer ist. Eine Zahl: Für die ambulante Versorgung zahlt die AOK Bayern im Jahresdurchschnitt 735 DM pro Mitglied. In den Krankenhäusern von München beträgt der Pflegesatz pro Tag 248 DM. Mit anderen Worten: schon drei Krankenhaustage kosten so viel wie die ganze ambulante Versorgung für ein Mitglied. Deshalb geht ambulante Versorgung vor Krankenhausversorgung. Wir wollen menschennahe Sozialpolitik betreiben und nicht die Menschen den großen Apparaten ausliefern. Wir wollen eine Politik, in der das Daheim nicht nur ein geographischer Ort ist, sondern etwas mit Geborgenheit zu tun hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD)

— Freilich, das ist nicht nur mit Appellen zu tun, sondern auch mit einer Unterstützung, mit einer Neuformulierung der häuslichen Pflege.

(Roth [SPD]: Neuformulierung?)

— Neustrukturierung, j a, eine neue Pflegeversicherung. Dieses Angebot schafft sich seine Nachfrage. Das ist doch auch bei den Krankenhäusern so. Schon um die Jahrhundertwende hat Schmalenbach gesagt: Kapazitäten schreien nach ihrer Dekkung. — Ich kann sagen: Das Angebot schafft sich seine Nachfrage. Ganz salopp gesagt: Wo ein Krankenhausbett ist, liegt auch ein Kranker drin.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb brauchen wir auch das Interesse an einer wirtschaftlichen Krankenhausführung. Das ist doch kein Gegensatz zum Sozialen. Heute ist das so: Wer sein Krankenhaus wirtschaftlich führt, ist dumm. Wenn er die Selbstkosten senkt, bekommt er auch weniger Pflegegeld. Das ist doch völlig irrational, völlig irrational.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, ich biete heute nicht den großen dogmatischen Entwurf, sondern ich biete Beiträge zu einer aus dem Leben gespeisten Sozialpolitik.
Arbeitsmarkt: Wir haben 250 000 Arbeitslose, die Teilzeitarbeitsplätze suchen. Gleichzeitig haben wir eine Untersuchung, daß 26% der Frauen und 20 % der Männer, die Arbeit haben, mit Teilzeitarbeitsplätzen zufrieden wären. Also, welche Irrationalität:



Bundesminister Dr. Blüm
Die einen arbeiten null Stunden und wären mit vier Stunden zufrieden, die anderen arbeiten acht Stunden und wären auch mit vier Stunden zufrieden! Nur, die beiden Gruppen können nicht zusammenkommen, weil wir unsere Arbeitszeit, unsere Betriebsorganisation noch immer stur nach Kolonnen organisiert haben. Ich gebe allerdings zu, daß Kollektivisten für eine Individualisierung von Arbeitszeiten kein Sensorium haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wollen Flexibilität in der Arbeitszeit, wir wollen raus aus dem Kolonnendenken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir beginnen auch mit einer Flexibilisierung der Lebensarbeitszeit — als Angebot. Wir ziehen Freiwilligkeit dem Zwang immer vor, ein Erkennungszeichen unserer Politik, weil wir glauben, daß die Bürger, die Arbeitnehmer besser wissen als jede Reichsversicherungsordnung und jede Bürokratie, was für ihr Glück wichtig ist.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Nun, meine Damen und Herren, mit dem Angebot der Arbeitszeitverkürzung legen wir etwas vor, wobei wir auf die Zusammenarbeit mit den Tarifpartnern angewiesen sind. Die größere Aufgabe werden die Tarifpartner haben. Sie sind näher an der Praxis, sie können den unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht werden. Im übrigen glaube ich, daß es im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, im Einsatz für die Vollbeschäftigung überhaupt kein Patentrezept gibt. Wir brauchen diese Flexibilisierung, und zwar nicht nur als Zurücknahme, sondern auch als Versuch, Arbeit und Leben wieder miteinander zu versöhnen. Wir sollten die Krisenzeiten nicht immer mit diesem Untergangstremolo schildern. Sie geben doch auch Chancen zur Neugestaltung. Die Technik ist doch nicht nur Bedrohung. Der Mikroprozessor bietet auch neue Möglichkeiten einer individuelleren Gestaltung der Arbeitszeit, als sie in der Durchbruchsphase der Industrialisierung notwendig war.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir brauchen — ich nenne es hier nur stichwortartig — Bildung. Hier verstehe ich Ihr Herumgemäkel an der Zusage des Handwerks und der Industrie, mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, überhaupt nicht. Als dasselbe Handwerk, als dieselbe Industrie Helmut Schmidt 100 000 Ausbildungsplätze zugesagt hat, haben Sie alle gejubelt. Jetzt sagt dieselbe Industrie, dasselbe Handwerk Helmut Kohl 30 000 zu, und da haben Sie plötzlich Zweifel. Damals wurde die Zusage, 100 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, gehalten. Warum soll diesmal nicht die Zusage, 30 000 zur Verfügung zu stellen, gehalten werden?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Kittelmann [CDU/CSU]: Doppelte Moral ist das!)

Meine Damen und Herren, sparen und gestalten: Es geht nicht nur um Anpassung und Zurücknahme, sondern es geht auch um die Eroberung von
Neuland. Ich halte Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand — einen Gesetzentwurf dazu werden wir vorlegen — für Neuland, weil es von den alten Einkommensgewohnheiten wegführt. Lohn braucht doch nicht nur aus Mark und Pfennig zu bestehen, Lohn kann doch auch aus Beteiligung an Investitionen bestehen. Und wenn die Arbeitnehmer durch eine vernünftige Lohnpolitik Investitionen ermöglichen sollen, dann ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, daß sie an diesen Investitionen beteiligt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wollen Eigentum in Arbeitnehmerhand, weil wir glauben, daß das auch ein Stück Sicherheit ist. Die großen kollektiven Systeme sind an der Grenze ihrer Ausdehnungsfähigkeit angelangt. Zuwachs wird es nur noch über individuelle Sicherungssysteme geben. Vermögen ist eine der besten Sicherheiten, befreit die Arbeitnehmer aus dem Status des Proleten, in dem er im 19. Jahrhundert war, befreit sie davon, von der Hand in den Mund leben zu müssen. Wer Eigentum hat, hat etwas im Kreuz, der kann auch einmal nein sagen und wer nein sagen kann, der ist zur Freiheit fähig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, unser Vorschlag soll sich auf Produktivvermögen konzentrieren und auch außerbetriebliche Formen ohne Zwang einschließen. Eigentumsbildung als Zwangsmaßnahme wäre ein Widerspruch in sich.
Ich sehe in der Flexibilisierung der Arbeitszeiten und in der Vermögensbildung unser Angebot auch für eine weiterführende Sozialpolitik. Im übrigen werden wir alle Hände voll zu tun haben, das Erreichte zu bewahren und neu anzupassen. Je später wir anfangen, desto härter wird der Umbruch sein.
Wer die Kurve für eine Umstellung nehmen will, der muß langsam bremsen. Wer die Vollbremsung bevorzugt, der muß sich eine Wand suchen. Meistens leidet die Wand dabei nicht Schaden. Wir wollen eine Anpassung Schritt für Schritt. Deshalb muß heute und hier, am Beginn der Legislaturperiode, dafür gesorgt werden, daß unser Sozialsystem den neuen Spannungen, den neuen Herausforderungen angepaßt wird — ein Perspektivenwechsel, ich gebe es zu. Die Perspektive richtet sich nicht mehr nur auf die Höhe der Sozialleistungen. Wir haben auch den Beitragszahler im Auge. Was bei der ganzen sozialpolitischen Diskussion häufig übersehen wurde: Wer bezahlt denn die Musik? Die Musik bezahlen die Arbeitnehmer. Bei geringen Lohnsteigerungsraten ist jede Beitragserhöhung auch eine Zumutung für den Arbeitnehmer.

(Zuruf von der SPD: „Lohnpause"!)

Deshalb, meine Damen und Herren, betreiben wir eine Sozialpolitik, die sich nicht nur mit sozialen Ausgaben darstellt. Denn das sagt über den Sozialstaat relativ wenig. Die Höhe der Sozialausgaben sagt über die Güte des Sozialstaates relativ wenig.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)




Bundesminister Dr. Blüm
Denn sonst wäre die Arbeitslosigkeit ein Beitrag zum Ausbau des Sozialstaates. Da steigen nämlich die Sozialausgaben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Da können Sie sehen, wie hirnrissig eine solche Politik wäre.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, mit der grundsätzlichen Bemerkung schließen: Wir haben nicht den Ehrgeiz, mit der Sozialpolitik alle Lebensbereiche zu erreichen, auch nicht in der Maske des Wohltäters und des Betreuers. Uns fehlt der Ehrgeiz, aus der Bundesrepublik ein Volksheim zu machen oder eine große sozialpolitische Verwahranstalt. Sozialpolitik besteht auch nicht nur aus Verteilungspolitik. Wir wollen eine Sozialpolitik, die Mitleid nicht an Apparate delegiert, die Mitgefühl nicht den Profis überläßt, eine Sozialpolitik, in der Nachbarschaft und Nächstenliebe keine Idylle sind, sondern Realität.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000507100
Das Wort hat Frau Abgeordnete Fuchs (Köln).

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1000507200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nun genau zugehört, weil ich gern wissen wollte, auf welcher Grundlage eigentlich der Bundesarbeitsminister uns ein Angebot macht. Sie, Herr Bundesarbeitsminister, haben davon gesprochen, daß man Gestaltungskraft für das Neue haben müsse. Ich finde es hochinteressant, daß der Bundesarbeitsminister über die einfache Tatsache hinweggeht, daß wir 17 Milliarden DM ausgeben, um die Arbeitslosen zu bezahlen, insgesamt sogar 55 Milliarden DM, und daß dieser Bundesarbeitsminister zu diesem Thema keinen Satz sagt. Das ist eine bemerkenswerte Feststellung.

(Hört! Hört! und Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Sie sprechen das Thema Arbeitslosigkeit kaum an. Ich habe nichts gehört über Arbeitszeitgesetz, über Vorruhestandsregelung.

(Egert [SPD]: „Vollbremsung"!)

Ich habe nichts gehört über Harmonisierung der Alterssicherungssysteme. Ich habe nichts gehört, was Sie eigentlich im Rahmen Ihrer Zuständigkeit tun wollen, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Sie haben zu viele Zwischenrufe gemacht, Frau Kollegin! Sie müssen besser zuhören!)

Deswegen, Herr Bundesarbeitsminister, gebe ich Ihnen ein Bild aus Kindertagen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Sie hört nicht, weil sie nicht hören wollte!)

Hören Sie auf, mit Indianergeheul draußen herumzutoben, sondern setzen Sie sich drinnen hin und machen Ihre Schularbeiten! Sonst werden Sie das Klassenziel nie erreichen.

(Beifall bei der SPD)

In dieser Debatte, meine Damen und Herren, ist deutlich geworden, daß der viel zitierten Wende zweiter Teil ins Haus steht. Sie, Herr Bundeskanzler, und die Bundesregierung wollen offenbar jenen gefährlichen Weg fortsetzen, den Sie mir Ihrer Koalitionsvereinbarungen vom Herbst 1982 begonnen haben und den Sie im Bundeshaushalt 1983 und in seinen Begleitgesetzen manifestiert haben. Sie schneiden ein in das soziale Netz, Sie belasten einseitig die sozial Schwachen, schonen und bevorzugen aber die Stärkeren. Und wenn Graf Lambsdorff schon meint, Gerechtigkeit gebe es nicht in der Welt — das mag ja sein —, so frage ich ihn aber: Ist es eigentlich gerecht, daß diejenigen Menschen, die bis zur Beitragsbemessungsgrenze verdienen, auf ihren Lasten hängenbleiben, während diejenigen, die über 100 000 DM im Jahr verdienen, ihre Zwangsabgabe zurückbekommen?

(Beifall bei der SPD)

Es geistert die Auffassung durch die Debatte, Sozialleistungen müßten auf die wirklich Bedürftigen konzentriert werden. In der Sozialpolitik geht es im Kern um die Solidargemeinschaften, die breite Bevölkerungsschichten gegen elementare Lebensrisiken sichern sollen. Die Sozialversicherungssysteme sind im wesentlichen beitragsfinanziert. Zu den Leistungen, die auf dem Sozialversicherungsprinzip beruhen, treten Elemente des sozialen Ausgleichs hinzu. Nach sozialdemokratischer Auffassung müssen diese Solidargemeinschaften Zentralbereiche sozialpolitischer Gestaltung bleiben.

(Beifall bei der SPD)

Verläßliche Rechtsansprüche, die sich die Arbeiterbewegung erstritten hat, sind wesentliche Kennzeichen sozialgeschichtlicher Entwicklung. Sie stehen im Gegensatz zu einer Armenfürsorge alter Prägung, zu Leistungen, die eine geneigte Obrigkeit den Untertanen gewährt. Die Bundesrepublik ist kein Obrigkeitsstaat, sie ist ein sozialer Rechtsstaat. Ein Zurück zur Armenpflege wird es mit uns nicht geben.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Wer will denn das? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Sie wollen das. Sie wollen Sozialpolitik reduzieren auf die wirklich Bedürftigen. Wir werden Sie in diesen vier Jahren immer wieder auf diesen Punkt hinweisen, meine Herren Abgeordneten von der CDU.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Das ist doch eine Wahlkampfrede! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Hinter Ihrem Konzept steckt noch ein weiteres Prinzip konservativer Sozialpolitik.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das glaubt Ihnen Gott sei Dank kein Mensch draußen! — Seiters [CDU/CSU]: Ein bißchen ruhiger! Das kann man j a nicht mitanhören!)

Mitte der 70er Jahre war es Kurt Biedenkopf, der verlangt hatte, große Risiken wieder zu privatisieren und Teile des öffentlich-rechtlichen Systems sozialer Sicherung preiszugeben. Diese Idee hat sich jetzt bei der Generalsekretärin der FDP festgesetzt,



Frau Fuchs (Köln)

die die Grundsätze des Freiburger Programms über Bord geworfen und sich selbst ihrer sozialliberalen Substanz begeben hat. Es ist j a Ihre Generalsekretärin, Herr Mischnick, die uns andient, die lohnersetzende und lebensstandardsichernde Funktion sozialer Leistungen durch eine Grundsicherung abzulösen und die Menschen im übrigen auf Privatversicherungen zu verweisen.

(Zurufe von der SPD: Unerhört!)

Es liegt auf der Hand, daß Gewerkschafter und Sozialdemokraten diesen Entsolidarisierungs- und Reprivatisierungsbemühungen eine klare Absage erteilen.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt noch einen Punkt, den ich Ihnen zu bedenken geben möchte. Ich verstehe, daß Sie anderer Meinung sind, ich habe auch gar nichts dagegen. Diese Debatte wird nämlich ganz deutlich zeigen, daß wir von anderen gesellschaftspolitischen Vorstellung ausgehen als die konservative Regierung dieses Landes.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Nun werden Subsidiarität und Entstaatlichung immer miteinander gleichgesetzt. Diese naive Variante der Auslegung des Subsidiaritätsprinzips bemängelt schon Oswald von Nell-Breuning — da werden Sie sicher zuhören —, der Nestor der katholischen Soziallehre, der seit einem Vierteljahrhundert sagt:
Das Subsidaritätsprinzip besagt nicht, daß der einzelne vorzuleisten habe, und erst dann, wenn seine Kraft erschöpft sei und sich eine ergänzende Leistung von dritter Seite als erforderlich erweise, habe die Gesellschaft einzuspringen. Es verhält sich nahezu umgekehrt. Der gesellschaftliche Verband, sei es die Familie, sei es der Staat, hat vorzuleisten, nämlich die Bedingungen und Voraussetzungen zu schaffen, unter denen das Glied, im Falle der Familie das Kind, im Falle des Staates die einzelnen Bürger, aber auch die Familien überhaupt, erst imstande sind, ihre Leistung einzusetzen.
Oswald von Nell-Breuning fügt zum Subsidiaritätsprinzip hinzu:
Eben darum sollte man ihm seinen Kredit nicht rauben, indem man es sinnwidrig zu Tode reitet oder dazu mißbraucht, um Sachfragen, anstatt sie sachlich zu erörtern und zu lösen, in logisch unhaltbarer Weise zu präjudizieren.
Diesen Mißbrauch des Subsidiaritätsprinzips, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, müssen sich heute viele aus Ihren Reihen ankreiden lassen.

(Beifall bei der SPD — Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im Bundesarbeitsblatt hat Werner Remmers das ganz einfach ausgedrückt. Er hat gesagt: Subsidiarität ist einfach kostengünstiger. Kurt Jantz, der frühere Generalsekretär für die Sozialreform, fügt ironisch hinzu: „Das negative Subsidiaritätsprinzip möglichster Enthaltung des Staates ist ein häufig gebrauchtes Instrument jedes Haushaltsministers. Freie Verantwortung des einzelnen entlastet den Staatshaushalt."

(Zurufe von der CDU/CSU)

Für die Sozialpolitik empfiehlt Herr Jantz aber eine positive Subsidiarität: „Diese Subsidiarität erfüllt der Staat am besten dadurch, daß er möglichst viele zu ihren Solidarpflichten durch Rechtsnormen heranzieht. So mündet der positive Subsidiaritätsbegriff in den Begriff der Solidarität." — Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten sind für diese Solidarität, nämlich dafür, möglichst viele zu den Solidarpflichten heranzuziehen.

(Beifall bei der SPD)

Die Kürzungspolitik im Sozialbereich, die unter diesem mißdeuteten Subsidiaritätsprinzip betrieben wird, zeigt, daß Sie, meine Damen und Herren — das ist heute auch in der Debatte deutlich geworden —, die soziale Wirklichkeit großer Gruppen unserer Bevölkerung entweder nicht zu Kenntnis nehmen oder sich mit leichter Hand über sie hinwegsetzen. Wir Sozialdemokraten dagegen orientieren uns an der sozialen Wirklichkeit der breiten Bevölkerungsschichten. Ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern bleibt Kern unserer Politik.

(Zustimmung bei der SPD — Bohl [CDU/ CSU]: Ach du Schreck, ihr habt doch die Arbeitslosigkeit geschaffen!)

Heute erzielt ein Arbeitnehmer im Durchschnitt einen Bruttolohn bzw. ein Bruttogehalt von 2 680 DM im Monat, wovon ihm netto rund 1 850 DM bleiben. Wird er arbeitslos, bekommt er bestenfalls 1 258 DM Arbeitslosengeld. Ein Durchschnittsverdiener bezieht nach 40 Versicherungsjahren eine Monatsrente von 1 205 DM. Die tatsächlich gezahlten Renten liegen, wie wir alle wissen, niedriger, weil die meisten keine 40 Versicherungsjahre erreichen oder in Branchen mit niedrigen Löhnen gearbeitet haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Ergebnis Ihrer Politik!)

Diese Fakten zeigen: Es ist töricht, Kampfbegriffe wie „Anspruchsinflation" im Munde zu führen und zu behaupten, die Bundesbürger lebten über ihre Verhältnisse.

(Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Woher kommen denn die Arbeitslosen? Wer hat denn 13 Jahre lang regiert?)

Einen besonderen Beigeschmack haben solche Aussagen, wenn Bezieher von Spitzeneinkommen sie machen, denen aus dem Ehegattensplitting ein Steuervorteil zuwächst, der so groß ist wie die Jahresrente eines Durchschnittsverdieners nach 40 Versicherungsjahren.

(Beifall und Hört! Hört! bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Bei der neuen Heimat! — Bohl [CDU/CSU]: Schmidt verdient an einem Abend 20 000 Dollar!)

Auch wir Sozialdemokraten wissen, daß es erforderlich ist, die Sozialpolitik in veränderte und sich ver-



Frau Fuchs (Köln)

ändernde ökonomische und demographische Rahmenbedingungen einzufügen, und daß Strukturreformen zu erfolgen haben. Dies kann jedoch nur geschehen, indem das Gebot sozialer Ausgewogenheit und Gerechtigkeit strikt beachtet wird.
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler ist mit großem Geschick an das Thema „soziale Dienste" herangegangen. Wir alle sind uns darüber einig — der Bundesarbeitsminister hat es eben angesprochen —, daß die häusliche Pflege unterstützt werden muß und daß wir sie ausweiten müssen. Dies kann aber sicherlich nicht allein durch Nachbarschaftshilfe geschehen; es bleibt die Aufgabe, soziale Dienste zur Verfügung zu stellen, und diese Aufgabe muß durch aktive Sozialpolitik und vor allem durch aktive Kommunalpolitik gelöst werden. Es hätte dem Bundeskanzler sicher gut angestanden, wenn er in diesem Zusammenhang einmal den Einsatz der Zivildienstleistenden besonders gelobt hätte.

(Beifall bei der SPD)

Wo stünden eigentlich unsere sozialen Einrichtungen, wenn wir diese jungen Männer mit ihrem Engagement nicht hätten?
Herr Blüm hat das Thema „Pflegebedürftigkeit" angesprochen. Nun haben ja wir alle bei der Rede des Bundeskanzlers genau zugehört, und der Bundeskanzler griff dieses Thema anders auf. Wir hörten, die häusliche Pflege und die ambulante Pflege älterer Menschen müßten vorrangig unterstützt werden. Wir waren einverstanden und dachten, nun käme in der Regierungserklärung endlich ein Wort zu der Frage, wie die notwendige Pflege sichergestellt werden soll, zu der Frage, wie wir für die alten Menschen sorgen, die in ein Heim müssen und Sozialhilfeempfänger werden. Der Bundeskanzler ging dieses Problem auf eine besondere Art an. Er sprach nämlich von der Nachbarschaftshilfe und dann vom Elan von jung und alt. In diesem Zusammenhang lobte er dann ganz besonders die Turn- und Sportbewegung unseres Landes. Dies ist, glaube ich, keine gute Lösung des sehr schwierigen Problems der Sicherung bei Pflegebedürftigkeit. Auch wir sind für die Turn- und Sportbewegung, aber wenn das Problem der Pflegebedürftigkeit so abgetan wird, wird das diesem wichtigen Thema nicht gerecht.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich komme zur Rentenreform und zur Rentenpolitik. Wir haben mit den Unionsparteien die Rentenreformen von 1957 und 1972 — immer gegen den Widerstand der Freien Demokraten — gemacht, und wir sind, Herr Bundesarbeitsminister, auch zur weiteren Mitarbeit bereit. Ich weiß, Sie haben es schwer, in Sachen Rentenversicherung mit Graf Lambsdorff und Herrn Stoltenberg wenigstens auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu kommen. Der Herr Bundeskanzler wird Sie im Stich lassen, wenn es darauf ankommt, hier Entscheidungen zu treffen. Ich will Ihnen nur informationshalber sagen, daß der Finanzminister die Möglichkeit der Nichtverschiebung der Rentenanpassung wie folgt sieht: Er hat im Finanzplanungsrat gesagt: Wir gehen von der Verschiebung der Rentenanpassung im nächsten Jahr aus; Herr Blüm bemüht sich noch, etwas anderes hinzukriegen. Sie sehen also, die Herren, mit denen Sie dieses zu vereinbaren haben, gehen von einer umgekehrten Interessenlage als Sie aus. Deswegen noch einmal: Machen Sie Ihre Schularbeiten,

(Kolb [CDU/CSU]: Die Sie so schlecht gemacht haben!)

damit Sie sich Ihren Herren gegenüber auch durchsetzen können!

(Beifall bei der SPD)

In unserer Bereitschaft zur Zusammenarbeit gehen wir von folgendem aus. Herr Blüm, machen Sie Schluß mit den kurzatmigen, unsystematischen Eingriffen! Sie sind unsozial, weil sie zu Lasten der Rentner gehen. Ich habe gelesen, was Sie am 6. Oktober 1982 in der Zeitung „Die Welt" getönt haben. Sie sagten damals: „Ich habe etwas gegen das kopflose Einsammeln von Geldern. Wir wollen nicht einfach das Geld einsammeln, wo es am leichtesten ist."

(Bohl [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Aber Ihr Maßnahmenkatalog zeigt, daß Ihnen jeder systematische Ansatz für eine zukunftsgerechte Weiterentwicklung der Alterssicherungssysteme fehlt, daß Sie das Geld einfach bei den Rentnern und nirgendwo anders wegnehmen. Ich darf aber mit aller Deutlichkeit darauf hinweisen: Die jetzige aktuelle Finanzkrise für das Jahr 1984 hat die Bundesregierung durch ihre Politik verursacht.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Sie haben 5 Milliarden DM weniger von der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung gezahlt, und deswegen ist die Rentenversicherung in dieser finanziellen Misere.

(Beifall bei der SPD)

Dies müssen Sie rückgängig machen. Es reicht nicht, zu sagen: Der Bundeszuschuß ist stabil. Die 5 Milliarden DM, die von der Bundesanstalt nicht an die Rentenversicherung gezahlt werden, sind die Ursache der Rentenproblematik für das nächste Jahr. Dies ist der entscheidende Punkt.
Ich finde es interessant, daß diese Bundesregierung nichts tut, um Arbeitslosigkeit abzubauen,

(Beifall bei der SPD — Seiters [CDU/CSU]: Aber ihr!)

daß diese Bundesregierung 50 Milliarden DM ausgibt, um Arbeitslosigkeit zu verwalten. Ich befürchte eine Absetzbewegung, die die Wirtschaftspolitiker machen werden, indem sie eine günstige Konjunkturentwicklung darstellen und sagen: Leider konnten wir das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen. Sie werden dann das Arbeitslosengeld senken und glauben machen: Die Leute haben selbst schuld, wenn sie keine Arbeit finden. — So geht das mit uns nicht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)




Frau Fuchs (Köln)

Ich will kurz auf die Einzelheiten eingehen, die auf die Rentner zukommen: Die Anpassung ist verschoben, ab 1. Juli 1983 müssen die Rentner 1 % Krankenversicherungsbeitrag zahlen, dann kommt die Aktualisierung, dann wird wieder einmal verschoben. Dann gibt es höhere Krankenversicherungsbeiträge. Es ist interessant, daß alle Welt sagt: Die Binnennachfrage leidet an mangelnder Massenkaufkraft. Sie nehmen noch Massenkaufkraft weg, wenn Sie erneut versuchen wollen, die Rentenanpassung zu verschieben.

(Bohl [CDU/CSU]: Wo nehmen Sie denn das Geld her? — Zuruf von der CDU/CSU: Sie werden es nie lernen!)

Herr Bundeskanzler, Sie haben Herrn Blüm vor der Wahl eine große Spielwiese eingeräumt. Er konnte ohne Widerstand seiner Widersacher in der CDU und CSU und FDP viele Versprechungen machen und viele schöne Seifenblasen von sich geben. Heute, nach den Wahlen, stellen wir fest, daß er mit seinen Sozialausschüssen auf das politische Maß zurückgestutzt wird, das die Koalition der konservativen Kräfte für richtig hält. Auf dieser Grundlage können Sie mit Sozialdemokraten, die der sozialen Gerechtigkeit für breite Arbeitnehmerschichten und deren Familien verpflichtet sind, keine gemeinsame Politik machen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Gut, daß wir es wissen!)

Herr Blüm, stellen Sie sich an die Spitze Ihrer Sozialausschüsse, dann haben Sie unsere volle Unterstützung.

(Beifall bei der SPD)

Ich will bei Ihren Maßnahmen noch auf eine Besonderheit hinweisen. Sie wollen jetzt das Krankengeld versicherungspflichtig machen. Da haben Sie ein ganz neues System erfunden; denn derjenige, der Krankengeld bekommt, zahlt von diesem Krankengeld zukünftig seine Rentenversicherungsbeiträge, den Arbeitnehmeranteil. Den Arbeitgeberanteil zahlt die Krankenversicherung. Aber wer finanziert die Krankenversicherung? Zur Hälfte sind es die Arbeitnehmer und zur anderen Hälfte sind es die Arbeitgeber. Wir haben hier also erstmalig eine Finanzierung, bei der drei Viertel der Arbeitnehmer und ein Viertel der Arbeitgeber zahlt.

(Beifall bei der SPD)

Herr Bundesarbeitsminister, ich nenne das Verschieben, Verschieben von einem Sozialversicherungssystem ins andere. Sie haben sich immer sehr dagegen gewehrt, daß Lasten hin und her geschoben werden. Aber ich finde, inzwischen sind Sie der Bahnhofsvorsteher des sozialpolitischen Verschiebebahnhofs dieser Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Ich will den Rest der mir zur Verfügung stehenden Zeit dem widmen, was wir Ihnen als Angebot machen, wenn Sie sagen: wir müssen das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung von kurzfristigen Einschnitten ausnehmen, und wir brauchen einen systematischen Ansatz für eine Neugestaltung der Alterssicherung.
Erstens. Es muß ein Versorgungsniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht werden, das entsprechend dem Lohnersatzprinzip nach vollem Arbeitsleben den Lebensstandard sichert.
Zweitens. Ausgehend von diesem Versorgungsniveau müssen sich die Zuwächse der Renten und der verfügbaren Arbeitnehmereinkommen gleichmäßig entwickeln. Auf welchem technischen Wege dies geschieht, ist keine Grundsatzfrage.
Drittens. Künftige Belastungen, die aus dem veränderten Bevölkerungsaufbau entstehen, müssen sozial ausgewogen auf Beitragszahler, Rentner und den Staat verteilt werden.
Viertens. Die Höhe des Bundeszuschusses muß zuverlässig kalkulierbar sein.
Fünftens. Die Rentenfinanzen — das ist der Punkt, Herr Bundesarbeitsminister — müssen wieder unabhängiger von der Arbeitsmarktentwicklung werden. Deswegen ist die Fehlentscheidung zu korrigieren, daß die Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit von Ihnen so drastisch gekürzt worden sind.

(Beifall bei der SPD)

Sechstens. Schließlich — dieses Thema haben Sie ausgelassen —: es kann doch wohl nicht sein, daß wir erneut in die Finanzen der Rentenversicherung eingreifen, ohne einen Einstieg in eine Harmonisierung aller Alterssysteme zu versuchen. Wir können doch nicht zulassen, daß immer an den Rentenfinanzen herumgedoktert wird und alle anderen Alterssicherungssysteme bei dieser Betrachtung außen vor bleiben.

(Kolb [CDU/CSU]: „Öffentlicher Dienst"!)

Deswegen mein Appell: denken Sie hier ein bißchen
nach! In der Regierungserklärung fand sich nichts.

(Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Denken Sie an die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst!)

Ich komme zum Schluß: dieser Bundesarbeitsminister sagt nichts zur Humanisierung des Arbeitslebens, er sagt nichts zur Montan-Mitbestimmung, auch der Bundeskanzler nicht. Sie mißbrauchen die Gewerkschaften, wenn Sie sagen, sie trügen Gesamtverantwortung. Aber Sie wollen ihnen Mitbestimmung, die Sicherung der Montan-Mitbestimmung nicht geben.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Wenn Herr Genscher von Freiheitsrechten spricht und dann sagt, Gewerkschaften seien Machtkonzentration, so ist das eine eigenartige Betrachtungsweise. Die einzelnen, individuellen Arbeitnehmer haben in unserem Lande das Recht, sich einer Gewerkschaft anzuschließen, und dann sind sie Mitglied einer gewerkschaftlichen Organisation. Herr Genscher, es ist scheinheilig, die mangelnden Gewerkschaftsrechte in Polen zu beklagen und hier



Frau Fuchs (Köln)

den Gewerkschaften die Montanmitbestimmung zu verweigern.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Der Kalenderspruch des Bundeskanzlers — und damit komme ich wirklich zum Schluß — hieß ja —

(Zurufe von der CDU/CSU: Das kann man nicht mehr mit anhören! — Zu laut! — Weitere Zurufe und Unruhe)

— Sie können es nicht mit anhören? Es tut mir so leid. Es war zu laut. Aber wenn Sie so brüllen, brülle ich dagegen an. Das habe ich in Versammlungen so gelernt. Davon werden Sie mich auch nicht abbringen. Ich werde mir Gehör verschaffen. Darauf können Sie sich verlassen.
Ich komme zum Kalenderspruch des Herrn Bundeskanzlers, der gesagt hat: Wer mehr wagt, wer sich mehr plagt, der hat auch Anspruch auf Erfolg und Gewinn. Das hört sich gut an. Ich antworte: Die jungen Leute, Herr Bundeskanzler, die vergeblich einen Ausbildungsplatz suchen, die würden es schon wagen, eine Ausbildung anzunehmen. Und der Arbeitslose, der vergeblich um eine Arbeit einkommt, der würde es schon gerne wagen, wieder in Arbeit zu gehen. Nur, Herr Bundeskanzler, Sie müssen mit Ihrer Politik endlich dafür sorgen, daß es sowohl Ausbildungs- als auch Arbeitsplätze gibt.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000507300
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. George.

Dr. Haimo George (CDU):
Rede ID: ID1000507400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mir selbst als Pflicht auferlegt, zu versuchen, Sie zum Mitdenken zu bringen und weg vom blinden Kritisieren. Die Überschrift meines Beitrages könnte heißen: Von der totalen, blinden Konfrontation zur vernünftigen, wenigstens punktuellen, Kooperation. Mit dem bißchen Charme, zu dem ich fähig bin, Frau Fuchs, möchte ich Ihnen nur sagen: Norbert Blüm hat seine Schulaufgaben — wenigstens für den Anfang — gemacht. Sie haben sie in doppelter Sicht nicht gebracht.

(Zurufe von der SPD)

Sie haben hier zwar die Jugendarbeitslosigkeit beklagt, Sie haben hier beklagt, daß wir kein durchgehendes Konzept zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit bringen. Ich habe sehr aufmerksam zugehört: Auch von Ihnen war dazu kein einziger Satz dabei. Und: Sie haben als SPD insgesamt ihre Schulaufgaben 13 Jahre lang nicht richtig gemacht. Jedenfalls war der Wähler am 6. März dieser Meinung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen, meine Herren: „Aufgabe Nummer eins ist die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit"; so hat es Bundeskanzler Helmut Kohl ganz am Anfang seiner Rede gesagt, während Herr Vogel erst am Ende seiner Rede auf die Frage zu sprechen gekommen ist. Ich füge hinzu: Sie wird die soziale Herausforderung in den 80er Jahren insgesamt sein.
Noch eine Ritte vorweg. Wie bei der Friedensdiskussion sollte niemand von uns dem anderen das Wollen und den Willen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit absprechen. Allerdings: In den Wegen sind wir diametral entgegengesetzt. Deshalb kann ich es mir auch nicht verbieten, noch einmal ganz kurz auf das zurückzukommen, was bisher als „Erblast" bezeichnet wurde. Damit wir lernen, welche Standortbestimmung wir jetzt haben — nicht im Sinne von Erblast, nicht im Sinne von Alleinverschulden, nicht im Sinne von Vergangenheitsbewältigung, sondern nur im Sinne der Standortbestimmung.
Auch in diesem Zusammenhang hat der Bundeskanzler sehr deutlich gesagt: „Wir werden keine neuen Versprechungen machen, sondern die Ursachen der Fehlentwicklung bekämpfen." Ich möchte aus einer ganzen Kette von Ursachen nur zehn im Telegrammstil herausgreifen und dazu jeweils die Zahlen von 1969 und 1982 hinzufügen. Schulden: 45 Milliarden DM / 295 Milliarden DM; Abgaben: 21%/31,9%;

(Zuruf von der SPD: Das ist unter Ihrem Niveau!)

Arbeitslose: 178 000/1,8 Millionen;

(Buschfort [SPD]: Jetzt 2,4 Millionen!)

Inflation: 1 DM ist zu 0,53 DM zusammengeschmolzen; Lohnkosten im zweiten Lohn: Anstieg von 46 auf bereits 82 % — man kann sich schon ausrechnen, wann der zweite Lohn den ersten überholt hat —;

(Kolb [CDU/CSU]: VW hat es schon geschafft!)

Pleiten: 2 100/15 100; Eigenkapitalschmälerung: von damals 30,4 % auf jetzt nur 20,8 %; Investitionslükken: realer Anstieg der Investitionen in zehn Jahren nur 12 %, während der Staatsverbrauch um 49 % gewachsen ist, der private Verbrauch um 34 %.
Als neunten Punkt nenne ich die Gewinnverteufelung. Die Rendite nach Steuern auf Umsatz ist von 3,8 % im Durchschnitt auf 2 % gesunken. Letzter Punkt — das ist schließlich unsere gemeinsame Aufgabe —: Wir haben einen Bürokratisierungs-
und Administrierungsstaat im Namen der Gleichheit, im Namen der Gerechtigkeit, aufgebaut, der auch bedeutet, daß statt wie früher 2,9 Millionen öffentlich Bedienstete nunmehr 4,4 Millionen öffentlich Bedienstete dieselbe Arbeit erledigen.

(Zuruf von der SPD: Dann schaffen Sie doch die Lehrer ab! — Weitere Zurufe von der SPD)

Millionen von Arbeitsplätzen sind in dieser Zeit unter dem Einfluß der von mir genannten zehn Punkte vernichtet worden. Und dies zu einem Zeitpunkt, da wir nicht nur diese Millionen gebraucht hätten, sondern zusätzliche 1 bis 2 Millionen Arbeitsplätze.
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sein Urteil kürzlich so



Dr. George
formuliert — ich wiederhole: nicht im Sinn von
Schuld, sondern mit der Bitte zum Mitdenken —:
Insbesondere ist die Gesamtwirkung nicht abgeschätzt worden, die alle Maßnahmen zusammen auf Wachstum und Flexibilität haben mußten. So haben die Sozial-, Verteilungs-, Umwelt-, Verkehrs-, Gesundheits-, Energie-, Gewerbe- und Wohnungspolitik und selbst die Globalsteuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zunächst unmerklich und dann sichtbar dazu beigetragen, daß das wirtschaftliche Fundament, auf das sie angewiesen sind, brüchig wurde.
Das ist die Standortbestimmung von heute.
Dennoch haben Ihre Arbeitsminister von Arendt über Ehrenberg bis Westphal, die ich persönlich sehr schätze, jeweils unbekümmert das Lied intoniert — wie es Udo Jürgens einmal gebracht hat —„Wir haben alles im Griff — auf dem sinkenden Schiff."
Der Oppositionsführer, Herr Vogel, hat davon gesprochen, daß Massenarbeitslosigkeit „unmenschliche Ergebnisse" zeitige. In der Tat. Ich füge hinzu: Sie beinhaltet sozialen Sprengstoff von wachsender gesellschaftspolitischer Explosivität. Er hat weiter davon gesprochen, daß die Regierungserklärung von Helmut Kohl „nostalgische Illusion" sei. Nein, ich glaube, es ist, wenn Sie vor allem auch mitdenken und mitarbeiten, eine konkrete Reformation der Sozialen Marktwirtschaft.

(Zuruf von der SPD: Eine Gegenreformation!)

Nicht umsonst hat Bundeskanzler Kohl in seiner Rede auf Müller-Armacks Genealogie, die die meisten von Ihnen wahrscheinlich nie gelesen haben, nämlich den zweiten Teil der „Sozialen Marktwirtschaft" hingewiesen. Er hat davon gesprochen, daß wir die Soziale Marktwirtschaft erneuern müßten.
Nun bitte ich um Verständnis für einige Gedankengänge, die dazu gehören. Kernsubstanzen der Sozialen Marktwirtschaft ist die Tarifautonomie im Sinne des Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes,

(Zuruf von der SPD: Auch im öffentlichen Dienst?!)

ist das Tarifvertragsgesetz. Das heißt doch aber: Primär haben die Tarifpartner die Pflicht, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Der Staat — und darum geht es — hat seinerseits die Pflicht, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Also können die Handlungsgebote des Staates — das scheint mir, von Herrn Stoltenberg über Graf Lambsdorff bis hin zu Norbert Blüm, doch deutlich zum Ausdruck gekommen zu sein — nur heißen: Vertrauen und die Stetigkeit stabilisieren, Leistung und Produktivität mobilisieren, Investitionen initiieren, Innovationen kreieren und dabei auch den sozialen Konsens mehr denn je auf diese Zukunftsaufgaben zu stipulieren; im Sinne von neu zu begründen und nicht einfach zu manipulieren, so wie es früher war.
Dazu gehört aber — das geht an die Adresse von uns allen —, daß wir alle miteinander von unserem Wagenburgdenken, von unserem Besitzstandsdenken Abschied nehmen, daß wir die Tabuzäune einreißen — Arbeitgeber wie Gewerkschaften, einzelne Gruppen wie einzelne Menschen — um unbefangen über die gemeinsame Bewältigung der Massenarbeitslosigkeit zu sprechen.
Ich darf noch einmal kurz in Erinnerung rufen, daß wir zwar alle unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt die Arbeitslosigkeitsfaktoren kennen. Wir sprechen von der Mindestlohnarbeitslosigkeit; da sind die Tarifpartner angesprochen. Wir sprechen von der Kapitalmangelarbeitslosigkeit, die darüber gelagert ist; da ist die Politik angesprochen, insbesondere Ihre Risikokapitalvernichtungspolitik der letzten Jahre. Und als drittes gibt es die Technologiearbeitslosigkeit.
Aber wenn man wirklich einmal in der Praxis nach den Ursachen sucht, finden Sie im Grunde genommen acht wichtige Punkte, und die sollten wir auch sehen. Sie sind nicht voneinander isoliert, sie überlagern sich, sie überlappen sich. Daher mußten viele Ihrer Programme ins Leere stoßen, weil Sie eine ganze Zeitlang meinten, es handele sich nur um eine konjunkturelle Arbeitslosigkeit, und weil Sie dann später meinten, es sei auch ein Stück struktureller Arbeitslosigkeit dabei. In der Tat, das sind die beiden wichtigsten Komponenten, wobei zur strukturellen Arbeitslosigkeit mehr denn je die Automatisierung, die Rationalisierung und die Technologisierung — und da ist unsere Pflicht, die Wirkungen sozial abzufedern — gehören.
Aber darüber hinaus sollte uns die demographische Arbeitslosigkeit mit der Problematik zu denken geben, daß immer mehr junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt ankommen, als ältere aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Wo waren Sie denn eigentlich, als Sie sehen konnten, daß diese demographische Arbeitslosigkeit auf Sie zukam? Sie haben doch den Geburtenboom der 60er Jahre in die Schule kommen sehen. Sie haben ihn später in die weiterführenden Schulen kommen sehen. Aber nichts haben sie getan.

(Zurufe von der SPD)

Der vierte Punkt ist die Frage der Ausländerarbeitslosigkeit, wo Wieder-miteinander-Lösungsmöglichkeiten gesucht werden müssen. Denn die EG-Partner haben Freizügigkeit. Wenn die Wirtschaftstätigkeit ansteigt, werden Ausländer zu uns kommen in der Hoffnung, wenigstens hier einen Arbeitsplatz zu finden. Das kann man uns dann nicht anlasten. Diese Ausländer sind wegen des Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt für Arbeit erst einmal als Arbeitslose gemeldet, obwohl sie Arbeitsuchende sind. Sie haben bei uns keinen Arbeitsplatz verloren. Das Assoziiertenproblem und das Asylantenproblem gehören mit zu der Frage der Ausländerarbeitslosigkeit.
Ich komme zum fünften Punkt. Immer mehr Leute begreifen, daß es eine große latente Arbeitslosigkeit gibt. Ich denke an die 390-DM-Arbeitsverhältnisse, für die wir noch einige Lösungen bringen könnten und müssen. Ich denken an die Frage der Nebenbeschäftigung sowie an die Schwarzarbeit. Gerade letztere empfinde ich als dramatisch; Sie



Dr. George
haben diese bisher nur pönalisiert und kontrolliert, aber sie konnten die Ursachen nicht beseitigen. Es darf doch nicht wahr sein, daß wir seit Jahren Nulloder Minuswachstum des regulären Buttosozialprodukts haben, während uns zuverlässige Berechnungen ausweisen, daß im letzten Jahr etwa 8 % vom Bruttosozialprodukt in der echten Schwarzarbeit erwirtschaftet wurden. Das sind über 120 Milliarden DM. Die Hälfte davon wären Steuern und Abgaben. Wo stünden wir, wenn wir dieses Problem im Griff hätten!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch ein sechster Punkt gehört dazu: administrierte Arbeitslosigkeit. Haben wir nicht selber durch viele, viele Gesetze, Verordnungen und Kontrollmechanismen administrierte Arbeitslosigkeit begründet? Die Beseitigung der administrierten Arbeitslosigkeit wäre eine Aufgabe für uns alle.
Als vorletzten Punkt nenne ich die Bildungs- und Umschulungsarbeitslosigkeit. Nie wollen wir sehen, wie viele potentielle Arbeitnehmer entweder geparkt sind, indem sie länger auf die Schule oder auf die Universität gehen, und wie viele geparkt sind, weil sie Umschulungsmaßnahmen machen, die zum großen Teil nicht zum Erhalt eines neuen Arbeitsplatzes führen, sondern zu höher bezahlter Arbeitslosigkeit.
Als letztes nenne ich die stille Arbeitslosigkeit. Wer weiß, wie groß die Reservearmee derjenigen ist, die aus Resignation, aus Verzweiflung in die stille Arbeitslosigkeit gegangen sind?
Daraus, meine Damen, meine Herren, resultiert als Lehre zur langfristigen Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit — wir müssen dies offen aussprechen —: Wir müssen die Erwartungshorizonte, die CDU/CSU und FDP nicht aufgestellt haben, die Sie aber provokativ nach oben drücken, absenken, damit die Schere zwischen dem Erwartungs- und dem Erfüllungshorizont nicht durch Defätismus und Zukunftspessimismus ausgefüllt wird. Nehmen Sie doch mit uns zusammen alle die Optionen für flexiblere Arbeitszeiten und flexiblere Arbeitsorganisationen wahr! Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Allerdings: die Kosten setzen auf jeden Fall die Grenzen!
Ich darf damit abschließen, daß ich versuche, Sie zu bitten — hier nicht als Zeichen unserer Hilflosigkeit, sondern als ein Zeichen unserer Stärke und unserer Gesamtverantwortung verstanden, Frau Fuchs —: Wir müssen alle diese Punkte genauer, differenzierter sehen und zusammen spezifizierte und differenzierte Lösungen suchen, finden und tragen. Deshalb habe ich die Aufgabe der Tarifpartner und die Aufgabe des Staates so deutlich beschrieben.
Der Appell an Sie heißt: Die Koalition der Mitte hat mit der Regierungserklärung in der Tat „Mut mit Augenmaß" bewiesen. Wir haben die besseren Köpfe, weil wir besser rechnen können und eine saubere Finanzierung besser aufstellen. Wir haben auch die besseren Herzen, weil wir echte Hilfen auf die wirklich Schwachen konzentrieren. Wir haben vielleicht auch — die nächsten vier Jahre werden es beweisen — das bessere Händchen, weil wir überall dort zupacken werden, wo Sie bisher geflickschustert haben.
Helfen Sie uns dabei im Interesse von 12 Millionen Rentnern und von über 2 1/2 Millionen Arbeitslosen! Helfen Sie auch im Sinne der Wiedergewinnung des sozialen Friedens!
Ihnen ist die offene Hand hingestreckt, in die Sie, Frau Fuchs, vor einer Woche noch eingeschlagen haben und die Sie jetzt in Ihrer Rede nicht einmal mehr berührt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1000507500
Das Wort hat die Frau Minister für Bildung und Wissenschaft, Dr. Wilms.

Dr. Dorothee Wilms (CDU):
Rede ID: ID1000507600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die Bildungspolitik kann nicht unberührt bleiben von den Problemen auf dem Arbeits- und Beschäftigungssektor. Die für die jungen Menschen verhängnisvollen Spannungen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystemen, das Wechselbad von Geburtenberg und Geburtental, aber auch die allgemeine Wirtschaftslage und Finanznot erzwingen eine neue bildungspolitische Grundsatzdiskussion in einem nüchternen Realismus. Hierbei sind auch die geistigen Grundlagen neu zu überdenken. Wir werden sicher noch vielfach Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren. Ich möchte hier heute nur zwei Aspekte dieses umfassenden Themas ansprechen, und zwar im Zusammenhang mit den Fragen der Arbeitslosigkeit und der Beschäftigungschancen junger Menschen.
Erziehung und Bildung sind für den jungen Menschen immer Vorbereitung auf das Leben. Sie dienen dem Ziel, ihn in seinen unterschiedlichen Begabungen, Neigungen und Fähigkeiten so zu fordern und zu fördern, daß er seine Chance zur Selbstentfaltung in Familie, Staat und Gesellschaft, Arbeit und Beruf wahrnehmen kann. Zum Erreichen dieses Ziels tragen Elternhaus, Bildungssystem und das Umfeld junger Menschen in unterschiedlicher Weise bei. Gemeinsam stehen sie in der Verantwortung und im Dienst für junge Menschen. In den Familien — das möchte ich gerade als Bildungspolitiker sehr deutlich sagen — werden die Fundamente auch für das Lernen der jungen Menschen gelegt. Eine Kompensation familiärer Bildungsdefizite ist, wie wir heute wissen, in Schule und Ausbildung nur bedingt und schwer möglich. Deshalb ist die Bildungspolitik auf die Mitarbeit der Familien angewiesen. Eine aktive Familienpolitik liegt daher auch im Interesse der Bildung unserer Kinder und Jugendlichen. Deshalb kommt auch der Steuerung des Bildungswesens durch die Erziehungs- und Bildungsentscheidungen der mündigen Eltern und der jungen Erwachsenen selber für die Zukunft eine wachsende Bedeutung zu.
Neben einer Neubewertung des Ausgangspunkts der Bildungspolitik ist eine ihrer Zielsetzungen angesichts vielfältiger Spannungen auf dem Arbeitsmarkt erneut zu überdenken: Arbeit und Beruf gehören immer und gehören auch in Zukunft zu den



Bundesminister Frau Dr. Wilms
wesentlichen und zentralen Lebensbereichen des Menschen. Arbeit und Beruf sind mehr als Erwerbstätigkeit und Geldverdienst. Sie sind Teile der menschlichen Würde. Sie bieten dem einzelnen die Möglichkeit zur Entfaltung seiner Persönlichkeit. Allgemeine und berufliche Bildung dienen dem Ziel, den jungen Menschen auf seine personalen Entwicklungsmöglichkeiten in der Arbeitswelt vorzubereiten. Angesichts der qualitativen Anforderungen an die Berufsausübung ist die Ausbildung heute für den einzelnen noch lebensentscheidender als früher. Deshalb will die Bundesregierung Ausbildung für jeden jungen Menschen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Entscheidend ist, daß junge Menschen Lebensziele vor sich sehen. Deshalb ist auch unter pädagogischen Aspekten die Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit ein hohes und vorrangiges Ziel, dem die Bundesregierung sich verschrieben hat.

(Zurufe von der SPD)

Bildungspolitik — auch das sage ich sehr deutlich — kann den Mangel an Arbeit nicht von sich aus dadurch ausgleichen, daß sie Bildungszeiten beliebig ausweitet.

(Beifall bei der CDU/CSU)

So notwendig Qualifikation ist, sie ersetzt nicht Lebensperspektive und auch nicht Lebenserfüllung. Wir sollten darum auch gemeinsam darüber nachdenken, wie wir auf mittlere Sicht die heute in der Tendenz vorhandene ständige Verlängerung der ersten Bildungsphase zugunsten einer soliden Ausbildung, einer dann folgenden beruflichen Bewährung und, darauf aufbauend, späteren Weiterbildung ablösen können.
Dies gilt prinzipiell auch für das akademische Studium. Denn die Kreativität und Flexibilität der akademischen Jugend wachsen nicht unbedingt proportional zur Länge des Studiums.
Eine Veränderung des Bildungsverhaltens wird aber nur dann zu erreichen sein, wenn in der Einstellungspraxis der Privatbetriebe und im Einstellungsrecht der öffentlichen Hand an die Stelle des Kriteriums formaler Abschlüsse wieder mehr das berufliche Können und die Chance des Aufstiegs durch Leistung und Bewährung tritt.
Die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt haben für die Bildungspolitik noch andere weitreichende Konsequenzen. Wir wissen, daß der wirtschaftliche Strukturwandel heute noch keine Rückschlüsse auf die konkrete Gestalt des Arbeitsmarktes von morgen zuläßt. Niemand kann deshalb heute mehr aus einer bestimmten Ausbildung den Anspruch auf eine Beschäftigung in einem bestimmten Beruf ableiten. Der einzelne muß dieses Beschäftigungsrisiko bereits bei der Wahl seiner Ausbildung berücksichtigen. Niemand kann es ihm abnehmen.
Aber dieses individuelle Risiko entläßt die Bildungspolitik nicht aus der Verantwortung, bei dem Angebot von Ausbildungsgängen die Arbeitsmarktchancen mehr als in der Vergangenheit mit zu berücksichtigen. Im Gegenteil, Bildungspolitik muß durch ein breites Angebot und eine differenzierte
Gestaltung der Ausbildungswege für den einzelnen die Beschäftigungschancen erhöhen. Aus Verantwortung gegenüber der jungen Generation müssen wir daher die Lehr- und Lerninhalte und die Form der Ausbildungsgänge auf allen Qualifikationsebenen immer wieder überprüfen, und wir müssen neue Wege der Anpassung der Erstqualifikation des einzelnen an neue berufliche Chancen entwickeln.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Entscheidend dabei ist, daß personale Fähigkeiten wie Kreativität, Flexibilität, Eigenverantwortung, Lernwilligkeit und Lernfähigkeit wieder mehr Beachtung finden.
Eine bildungspolitische Grundsatzdiskussion ist auch vor dem Hintergrund des demographischen Umschwungs notwendig. Der drastische Rückgang an Auszubildenden und Studenten im nächsten Jahrzehnt auf die Hälfte der heutigen Zahlen zwingt uns dazu, rechtzeitig über die zukünftige Struktur des Bildungswesens nachzudenken. Die Bundesregierung wird gerade dieser mittelfristigen Entwicklung ihre besondere Aufmerksamkeit widmen, um später keiner Versäumisse geziehen zu werden.
Die Ausbildungsprobleme der jungen Leute heute sind groß. Das duale System der Ausbildung steht aktuell in einer besonderen Bewährungsprobe. Die Wirtschaft hat dem Bundeskanzler die Zusage gegeben, in diesem Jahr eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zur Verfügung zu stellen, um allen ausbildungsfähigen und ausbildungswilligen Jugendlichen eine Ausbildung zu ermöglichen.

(Dr. Spöri [SPD]: Na, na!)

Diese Zusage ist mir gegenüber von den Spitzenorganisationen der Wirtschaft Ende April wiederholt worden. Wir zweifeln nicht an dieser Zusage, um das hier einmal klar und deutlich zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die von der Bundesanstalt für Arbeit zum Stichtag 31. März veröffentlichten Zahlen zur Ausbildungssituation werden von allen Sachkennern, auch von der Bundesanstalt selbst, als Zwischenstatistik in ihrer Aussagekraft relativiert. Sie sind aber auf jeden Fall als eine erneute Aufforderung an die Wirtschaft und an die öffentlichen Hände anzusehen, in ihren Ausbildungsanstrengungen nicht nachzulassen.

(Dr. Hauff [SPD]: Was tut denn der Bund?)

Entscheidend ist, daß im Herbst, dann, wenn das neue Ausbildungsjahr beginnt, das gemeinsam angestrebte Ziel erreicht ist.

(Zuruf von der SPD: Nehmen Sie den Mund nicht so voll!)

Die Bundesbehörden selbst haben das Ausbildungsplatzangebot für dieses Jahr um 3,8 % erhöht. Wir sind dabei, nach weiteren Möglichkeiten Ausschau zu halten, und wir werden noch weitere Möglichkeiten finden.

(Beifall bei der CDU/CSU)




Bundesminister Frau Dr. Wilms
Die Bundesregierung selbst ist bereits dabei, durch eine Fülle eigener werbender Maßnahmen, insbesondere auf regionaler Ebene — denn da muß die Lösung gefunden werden —, ihren Beitrag zur Sicherung der Ausbildung in diesem Jahr zu leisten und die Wirtschaft in ihren Ausbildungsbemühungen zu unterstützen. Daneben wird sie insbesondere für die benachteiligten Jugendlichen weiterhin besondere Hilfen bereitstellen. Gleichzeitig laufen Überlegungen, wie in extrem strukturschwachen Wirtschaftsregionen mit hoher, mit extrem hoher Arbeitslosigkeit der Ausbildungsmarkt im Bedarfsfall durch Sondermaßnahmen beeinflußt werden kann.
Eines lassen Sie mich hier noch einmal betonen: Sondermaßnahmen wie etwa das Benachteiligtenprogramm, wie Programme für Arbeitslose oder auch der Ausbau überbetrieblicher Ausbildungsstätten haben im Verständnis der Bundesregierung immer den Charakter von Maßnahmen, die das duale System ergänzen. Alle Sondermaßnahmen müssen sobald als eben möglich in betriebliche Ausbildung und Beschäftigung münden; denn dies allein erhöht die Berufschancen der so Geförderten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Den eigenständigen pädagogischen und deshalb auch eigenständigen bildungspolitischen Wert des dualen Systems gilt es zu erhalten und auszubauen, auch dann, wenn mittelfristig die geburtenschwachen Jahrgänge vor der Tür stehen. Ich bin überzeugt, daß ab Mitte der 80er Jahre die betrieblichschulische Ausbildung in einem besonderen Wettbewerb mit anderen Ausbildungsinstitutionen um die dann schwächer werdenden Geburtenjahrgänge stehen wird. Deshalb sind bereits heute ordnungs-
und strukturpolitische Überlegungen notwendig, wie die Gleichrangigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung weiter gestärkt und die Qualität der dualen Ausbildung zukunftsorientiert noch weiter verbessert werden kann. Dies gilt beispielsweise auch für die bessere Verknüpfung von Ausbildung und Weiterbildung, auch im Sinne gestaffelter oder in Baukästen zusammengesetzter Bildungsgänge, die den jungen Menschen bessere Ausbildungs- und Bewährungschancen geben.
Meine Damen und Herren, junge Menschen stehen vor den Türen der Hochschulen. Auch die Hochschulen stehen, ähnlich wie das duale System, zeitlich etwas versetzt, vor einer Zeit äußerster quantitativer Anspannung. Im Interesse der jungen Menschen von heute und von morgen, die in die Hochschulen wollen, müssen wir uns für das Offenhalten der Hochschulen einsetzen, so wie wir für das Offenhalten aller Bildungsgänge plädieren. Wir stehen vor der Aufgabe, auch den Abiturienten der geburtenstarken Jahrgänge den Weg in die Hochschule nicht zu versperren. Die Bundesregierung ist deshalb bemüht, daß der Numerus clausus nicht noch mehr ausgeweitet wird; denn in unserem Bildungswesen bieten sich derzeit für Abiturienten kaum weitere Ausbildungsalternativen — bis etwa Mitte der 80er Jahre die geburtenstarken Jahrgänge die berufliche Bildung verlassen. Dann aber müssen für die Abiturienten dort verstärkt Ausbildungen angeboten werden.
Dort, wo heute an den Hochschulen der Numerus clausus besteht, wird er wohl bleiben müssen. Es ist auch nicht auszuschließen, daß in Einzelfällen zusätzliche Beschränkungen dort in Kauf genommen werden müssen, wo die Leistungsfähigkeit von Forschung und Lehre an den Hochschulen ausdrücklich gefährdet ist. Aber ich hoffe, daß wir diese Fälle auf ein Minimum beschränken können. Und deshalb wird die Bundesregierung, gerade auch um der Chancen der jungen Generation willen, ihren Verpflichtungen im Hochschulbereich weiter nachkommen. Wir werden darüber hinaus die Grundlagenforschung in den Hochschulen über die Sonderforschungsbereiche und die Deutsche Forschungsgemeinschaft weiterhin mit Beträgen in der Größenordnung von etwa einer halben Milliarde DM und mehr fördern.
Auch um den wissenschaftlichen Nachwuchs werden wir uns intensiv bemühen. Dies ist auch ein Stück Chancenförderung für junge Menschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Wo ist das Graduiertenförderungsgesetz?)

— Es kommt.
Der Gesetzentwurf zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses — früher Graduiertenförderungsgesetz genannt —, der j a bereits vom Kabinett beschlossen worden ist — nach Beratungen mit den Ländern werden wir ihn in die parlamentarische Beratung einbringen —, ist ein Zeichen dafür, wie wir jungem wissenschaftlichem Nachwuchs Chancen eröffnen wollen. Auch unterstützen wir die Begabtenförderungswerke mit ca. 60 Millionen DM pro Jahr.
Die Bundesregierung wird das ihr Mögliche tun, um das System der Hochschulfinanzierung im Interesse eines leistungssteigernden Wettbewerbs auch der Wissenschaft zu verbessern. Mit der Einführung von Studiengebühren beschäftigen wir uns nicht. Wir dürfen aber über all diese aktuellen Probleme hinaus nicht vergessen, daß auch in den Hochschulen und für die Hochschulen schon jetzt die Weichen für die Phase gestellt werden müssen, die für die Hochschulen in den 90er Jahren beginnt, dann nämlich, wenn auch hier die Zahl der Studienbewerber zurückgeht. Gerade unter diesem Gesichtspunkt müssen auch die Erfahrungen mit dem Hochschulrahmengesetz nüchtern gewertet werden. Wir haben dafür eine Expertenkommission eingesetzt.
In diesem Zusammenhang ist auch zu überdenken, wie wir eine stärkere Differenzierung der Hochschullandschaft erreichen können, zu der — gleichberechtigt — auch die Fachhochschulen gehören. Denn nur durch eine stärkere Differenzierung werden wir den Anforderungen von Lehre und Forschung und damit den Chancen der jungen Generation auf diesem Gebiet besser gerecht werden können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch eines sagen: Alle diese Probleme wird der Bund nur gemeinsam mit den Ländern



Bundesminister Frau Dr. Wilms
lösen können. Die Bundesregierung hat sich von jeher zu der im Grundgesetz verankerten kulturföderalistischen Struktur der Bundesrepublik Deutschland bekannt; wir bekennen uns auch weiter dazu. Denn dieser Kultur- und Bildungsföderalismus bedeutet Reichtum und kulturelle Vielfalt, die wir uns erhalten müssen.
Die' Diskussion um die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ist in den letzten Tagen wieder neu belebt worden.

(Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Von der CDU!)

— Völlig richtig: von der CDU. — Die Bund-LänderKommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung — kurz die BLK genannt — sollte zu einem wirkungsvollen Instrument zielgerichteter Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern umgestaltet werden und nicht länger — wie in der Vergangenheit — an lehrbuchartigen, langfristigen Gesamtplänen arbeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU — Kuhlwein [SPD]: Konkret!)

Das, was wir — dies möchte ich sehr deutlich sagen — angesichts der schwerwiegenden Probleme des Bildungs- und Beschäftigungssystems und des zunehmenden internationalen Wettbewerbs brauchen, ist eine konkrete, handlungsorientierte und wirkungsvolle Zusammenarbeit, Koordination und Abstimmung zwischen Bund und Ländern im Bereich der Bildungspolitik und der Forschungsförderung auf Ministerebene. Dabei ist für mich auch ein enges Zusammenwirken der Bildungspolitik mit den anderen Politikbereichen unerläßlich.
In diesem Sinne werde ich mit den Ländern über die künftige Arbeitsweise und Struktur unserer Zusammenarbeit verhandeln. Ich bin überzeugt, daß wir zu positiven und effektiven Lösungen kommen, die die Zukunftschancen unserer jungen Generation verbessern. — Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000507700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lutz von der sozialdemokratischen Fraktion.

Egon Lutz (SPD):
Rede ID: ID1000507800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die überraschende Intervention der Frau Minister zu diesem Augenblick war sicher nicht der Versuch, die soeben begonnene beschäftigungspolitische Debatte abzuwürgen. Das hat wohl mehr mit dem Terminkalender der Frau Minister oder mit der Fernsehzeit zu tun gehabt.

(Daweke [CDU/CSU]: Das sind Unterstellungen!)

Gleichwohl: Wir greifen das auf, was Herr George gesagt hat. Ich versuche jetzt auch mit sanfter Stimme, um Herrn George zu entsprechen, an Sie zu appellieren, mit uns gemeinsam einmal zu überlegen, welche Barrieren Sie einem gemeinsamen Überdenken einer aktiven Beschäftigungspolitik entgegenstellen. Herr George — ich sehe Sie zwar gerade nicht, aber Sie sind bestimmt im Saal —, ich
finde es z. B. schlecht, wenn man einerseits das hohe Lied der Tarifautonomie singt, andererseits in der Praxis aber, gerade im öffentlichen Dienst, jeglichen Respekt vor der Tarifautonomie vermissen läßt und somit in Wirklichkeit ein häßliches Bild abgibt.

(Beifall bei der SPD)

Ich würde sagen: Wenn man das, wenn man die Theorie sorgfältiger beachtete in der aktiven Politik, wäre schon eine Verständigungsbarriere weggefallen.
Ein anderes Beispiel: Ich kann mit großer und erhabener Gelassenheit, wenn ich beispielsweise Repräsentant des Wirtschaftsrats bin, an andere appellieren, das Besitzstandsdenken aufzugeben. Denn mir soll ja nichts weggenommen werden. Der Kanzler hat ja gesagt: Leistung muß belohnt werden. Ich soll ja etwas kriegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Da kann ich sehr ruhig anderen, denen etwas genommen werden soll, den Rentnern, den Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängern, anempfehlen, aus der „Wagenburg ihres Besitzstandsdenkens" herauszukommen. Auf dieser Basis ist eine Verständigung wirklich nicht möglich.

(Beifall bei der SPD)

Ein drittes, und das wird uns wohl in der Beschäftigungspolitik immer trennen, zum Schaden der Gesellschaft, hoffentlich nicht allzu lange: Sie beginnen einzusehen, daß es sich nicht um eine konjunkturelle Krise handelt, sondern um eine strukturelle Krise. Aber was Sie dagegen tun, ist, auf die Selbstheilungskräfte des Marktes zu setzen, also ein konjunkturell belebendes Programm anzuleiern, nicht aber, die strukturellen Defizite aktiv zu bekämpfen, und darum geht es.
Wenn man nun die 42 Seiten Regierungserklärung einmal daraufhin abklopft, welche Hoffnungen denn ein Arbeitsloser daraus schöpfen könnte, dann lautet die Antwort wie folgt:
Erstens liest und hört er die vollmundige Behauptung, der Aufschwung habe begonnen. Zweitens kann der Arbeitslose vernehmen, daß der Kanzler sich zur sinnerfüllten Arbeit und zur Sozialen Marktwirtschaft bekennt. — Wie löblich! — Er vernimmt das Versprechen, eine Politik zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu betreiben. — Wie hinreißend! — Und noch ein Bekenntnis hört er, nämlich diesmal zur „verantwortungsbewußten Leistungselite" — man muß das alles lesen, schöne Worte! — und zu dem Grundsatz, wer mehr wage — das hat meine Kollegin Fuchs schon ausgeführt — und wer sich mehr plage, der habe auch mehr Anspruch auf Erfolg und Gewinn.
Er vernimmt ferner eine Kundmachung über den Nutzen von Teilzeitarbeit. Die ist dann vom Arbeitsminister noch ein bißchen unterfüttert worden. Der hat gesagt, Teilzeitarbeit müsse sein. Er hat nur nicht gesagt, welchen Arbeitsplatz ich denn teilen kann. Wo ist denn die materielle Basis bei Millionen



Lutz
von Arbeitsplätzen noch gegeben, wenn sie geteilt worden sind?

(Beifall bei der SPD)

Ferner vernimmt der Arbeitslose in der Regierungserklärung, daß die Lebensarbeitszeit vernünftigerweise gekürzt werden solle, daß das aber weder die Wirtschaft noch den Staat etwas kosten dürfe. Und schon erhebt sich die Frage: Wenn es nichts kosten darf, wer soll es denn dann bezahlen? Dann kostet es den, der das vorgezogene Altersruhegeld bekommt, den versicherungsmathematischen Abschlag. Spätestens seine Witwe wird unter die Sozialhilfeschwelle sinken. So geht es also nicht.

(Kolb [CDU/CSU]: Wer soll es denn bezahlen?)

Ferner liest und hört man die Versicherung, daß man sich der Probleme des Ruhrgebiets, des Bergbaus, der Stahlindustrie, der Werften und der Bundesbahn bewußt sei. — Wie eindrucksvoll!

(Bohl [CDU/CSU]: Wie hätten Sie es denn gern?)

Dann war die Rede des Herrn Bundeskanzlers, soweit es den beschäftigungspolitischen Teil betraf, vorüber, und der Arbeitslose konnte sich frei nach Tucholsky einen Vers darauf machen, etwa den:
Wenn ich die so höre und denke, die bilden sich nur ein, große politische Welt zu sein, dann sag' ich mir: Ach die, du lieber Gott! Lauter saure Gurken und kein Kompott.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch die Debatte seither hat dem Arbeitslosen keine Erleuchtung gebracht — Hoffnungen und Versprechungen gewiß, aber keine Gewißheiten. Wenn man bedenkt, daß Sie seit März Zeit und Geld und Ressourcen genug haben einsetzen können, um eine vernünftige Konzeption in der Regierungserklärung zu entwickeln, muß ich konstatieren: Die Berge, die da kreißten, haben noch nicht einmal eine Maus geboren, sondern allenfalls, auf beschäftigungspolitischem Feld, den Schattenriß von einem Mäuslein hervorgebracht. Ich frage mich, was Sie machen werden, wenn Ihr Gerede vom Aufschwung nicht mehr zieht, wenn die Hoffnung auf die Selbstheilungskräfte des Marktes eitler Wahn bleibt. Was machen Sie bei 2,8 und mehr Millionen Arbeitslosen im Winter? Tritt dann der Wirtschaftsminister zurück, oder tritt der Arbeitsminister zurück?

(Zurufe von der SPD: Beide!)

Oder treten sie beide zurück? Oder werden sie dann endlich aufgeschlossener für unsere Vorschläge einer aktiven Beschäftigungspolitik sein?

(Bohl [CDU/CSU]: Sprechblase!)

Werden Sie dann für ein Arbeitszeitgesetz eintreten, das für die Tarifvertragsparteien letzter Anstoß sein könnte, den Schritt zur 35-Stunden-Woche zu wagen, und das für uns alle die Möglichkeit böte, Überstundenschieberei zu Zeiten der Massenarbeitslosigkeit auf das unbedingt Notwendige zurückzudrängen?

(Kolb [CDU/CSU]: Warum nicht gleich 30?)

— Im Arbeitszeitgesetz gehen wir übrigens von der 40-Stunden-Woche aus. Das wissen Sie sehr wohl.
Werden Sie unseren Vorschlag eines Vorruhestandsgesetzes mittragen, der darauf hinausläuft, daß die Kosten dieser Form von Lebensarbeitszeitverkürzung von den Tarifpartnern und vom Staat gemeinsam getragen werden, falls für jeden ausscheidenden älteren Arbeitnehmer ein jüngerer Arbeitsloser eingestellt wird? Werden Sie wenigstens dann begreifen, daß nicht das Gerede über Ausbildungsplätze, sondern daß nur die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze den jungen Menschen weiterhilft? Werden Sie begreifen, daß wir ein sehr viel ausgefeilteres arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium benötigen, um Arbeitslosigkeit nicht zum Dauerzustand werden zu lassen? Wir brauchen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, um der Hoffnungslosigkeit der älteren und jüngeren Arbeitslosen aktiv in einem sehr viel größeren Umfang als bisher begegnen zu können.

(Kolb [CDU/CSU]: Wer ist der Kunde, wer zahlt es?)

Wir brauchen Bildungs-, Fortbildungs- und Umschulungsbeihilfen, mit denen der gering oder gar nicht qualifizierte Arbeitslose seine Position verbessern kann.

(Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Wer hat denn die gekürzt?)

— Da brauchen Sie mir nichts vorzuwerfen, das haben wir hier schon wiederholt diskutiert. Sie haben da auch gesagt, der Weg sei falsch, und sind ihn dann um so entschlossener weitergegangen.
Wir müssen umsteuern, wir müssen aus dem Arbeitsförderungsgesetz wieder ein operatives Instrument machen.

(Beifall bei der SPD)

Das kostet Geld. In das Arbeitsförderungsgesetz müssen auch Bestimmungen hinein, mit denen man die Selbsthilfegruppen von Arbeitslosen unterstützen kann, mit denen man die Gründung und die Existenz von Arbeitslosenkooperativen und was sich da entwickelt, endlich fördern kann. Wird Ihnen denn klarzumachen sein — Sie werden sagen, das kostet alles Geld —, daß es ein barer ökonomischer Unsinn ist — Sie selbst sagen das auch —, Jahr für Jahr 55 Milliarden und bald noch mehr für das Finanzieren von Arbeitslosigkeit auszugeben und nicht für das Bekämpfen von Arbeitslosigkeit?

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Ich will Ihnen etwas sagen: Solange Sie einen Kostenanstieg dadurch verhindern wollen, daß Sie die Leistungen für Arbeitslose zurückschneiden, und im übrigen auch noch, wie ich fürchte, mit ortholiberaler Kaltschnäuzigkeit auf Gott und den Markt und sonstwen hoffen, so lange wird sich nichts ändern, und Sie werden jedes Jahr teurere Runden



Lutz
drehen müssen, um der Arbeitslosigkeit Herr zu werden.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was zur Schattenwirtschaft, Herr Kollege!)

Verlassen Sie sich nicht auf den Wirtschaftsminister, der in diesem Jahr wieder den Aufschwung geortet hat. Darauf haben wir uns auch in der sozialliberalen Koalition allzulange verlassen. Ich darf daran erinnern: Im Februar 1978 hielt Graf Lambsdorff Fortschritte auf dem Weg zu mehr Wirtschaftswachstum für „absehbar". Im Januar 1979 äußerte er Zuversicht, daß 1979 ein „Jahr des wirtschaftlichen Fortschritts für uns alle" werde. Im April 1980 dünkten ihn die wirtschaftlichen Perspektiven für das gleiche Jahr „nicht schlecht". 1981 sah er gar „erste deutliche Anzeichen für eine Besserung der wirtschaftlichen Entwicklung". Das war im April. Im April 1982 hat dann der Graf prognostiziert, die Wirtschaft befinde sich in einer Situation, in der der Anstieg aus der Talsohle sichtbar werde. Jetzt hat der Graf wieder den „Aufschwung" am Wickel, wie jedes Jahr im Frühjahr. Passen Sie auf, daß Sie nicht alle ein Opfer gräflichen Optimismusses und damit zu einer falschen Politik verleitet werden.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000507900
Das Wort hat der Abgeordnete Hoss von der Fraktion DIE GRÜNEN.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1000508000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einige Worte zu Herrn Lambsdorff und zu seinen Ausführungen von heute morgen sagen. Er hat die Grünen in die Ecke von Aussteigern aus gesellschaftlicher Verantwortung gestellt, die aber den Sozialstaat für sich in Anspruch nehmen, d. h. ihn melken.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist es!) Dazu möchte ich drei Dinge sagen.

Erstens. Ich und meine Freunde haben für jeden Pfennig, den wir an Einkommen erhalten haben, Steuern und Sozialabgaben gezahlt, und zwar — wie bei vielen Millionen Arbeitnehmern — bevor wir dieses Geld überhaupt in die Hand bekommen haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zweitens. Ich finde es unerträglich, gerade von Ihnen, Herr Lambsdorff, der Sie im Zusammenhang mit finanziellen Manipulationen, mit dem Flick-Skandal und mit der Parteienfinanzierung genannt werden, in solcher Weise angegriffen zu werden.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Drittens. Meine und meiner Freunde moralische Integrität sieht so aus, daß jeder von uns, jeder einzelne, wenn er sich in der Situation von Herrn Lambsdorff befände, seinen Rücktritt schon längst erklärt hätte. Das sollte er bedenken, wenn es ihm
um demokratische Traditionen und Liberalität und all diese Dinge, von denen er redet, ginge.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD — Zurufe von der CDU/CSU und Gegenrufe von den GRÜNEN)

Nun zum ruhigeren Teil. Herr Blüm, welche Begründungen Sie auch heute mittag gebracht haben: Der Sozialetat wird jetzt von der Regierungskoalition als Manövriermasse zur Sanierung des Haushalts und für einen neuen Aufschwung betrachtet und behandelt. Die Kürzungen von 6 bis 7 Milliarden DM betreffen fast ausschließlich den Sozialetat. Das trifft die Bedürftigen, während die Großen geschont werden. Im Vordergrund stehen — so heißt es in dem Koalitionspapier und auch in der Regierungserklärung — Entlastungen bei der Vermögensteuer und bei der gewerblichen Wirtschaft. Und dann wird davon geredet, daß sich das Versorgungsdenken breitgemacht hat, oder es wird gesagt: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.
Sie zeigen dann mit Ihren Fingern auf die 2,5 Millionen Arbeitslosen, denen Sie das Arbeitslosengeld teilweise kürzen wollen. Sie zeigen mit Ihren Fingern auf die 2 Millionen Sozialhilfeempfänger, denen Sie nur 1 % Zuschlag gewähren, während die Lebenshaltungskosten um 3 % gestiegen sind. Sie zeigen mit Ihren Fingern auf die Rentner, die sich schämen, zum Sozialamt zu gehen und Sozialhilfe zu beantragen. Sie zeigen auch auf die 240 000 jugendlichen Arbeitslosen, auf BAföG-Studenten, auf Kindergeldempfänger und auch auf die 1 Million Kleinstrentner, die unter das Sozialhilfeniveau gefallen sind.

(Bohl [CDU/CSU]: Alle dummes Zeug!)

Ich habe den Eindruck, daß die Herren sowohl von der CDU und der Regierungskoaltion als auch von der SPD

(Frau Berger [Berlin] [CDU/CSU]: Und Damen!)

mit dem Finger nicht auf die richtigen Leute zeigen, nicht den richtigen Adressaten nennen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie gehen nämlich an bestimmte Privilegien, die sich in diesem Staat im Laufe von Jahrzehnten herausgebildet haben, nicht heran. Ich könnte eine ganze Latte von Beispielen bringen, nenne aber nur zwei.
Das erste Beispiel: Berufsoffiziere können mit 53 Jahren in die Rente gehen. Für mich als Arbeiter stellt sich die Frage: Was ist mit meinen Kollegen, die in der Schmiede arbeiten, die in der Gießerei arbeiten, die am Hochofen arbeiten, die Akkordarbeiter sind, die bis zum 63. Lebensjahr arbeiten müssen?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Warum gibt es solche Privilegien für eine bestimmten Teil dieser Gesellschaft? Ich glaube, daß wir an diese Dinge heranmüssen.

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Ich weiß, daß Sie so etwas nicht gerne hören.



Hoss
Es gibt ein zweites Beispiel, zu finden in der Regierungskoalition. Herr Klaus Hoffie, der hier Abgeordneter ist, war 15 Monate in Hessen Minister und hat sich dadurch die Berechtigung zu einer Pension von 4 000 DM erworben. Das sind die Dinge, an die wir heranmüssen.
Wenn hier in der Regierungserklärung von Herrn Kohl und auch sonst von einer neuen Moral gesprochen wird, die wir brauchen, von einem Ärmelaufkrempeln und von einer geistigen Erneuerung, dann möchte ich sagen, daß die geistige Erneuerung und die Moral für das Herangehen an die Privilegien gebraucht wird. Herr Blüm, mit solchen Leuten wie Klaus Hoffie und anderen werden Sie nicht das erreichen, was Sie wollen, nämlich soziale Wohlfahrt und Sicherheit für alle.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich möchte Ihnen ein Zitat aus den vielen Briefen vorlesen, die ich bekommen habe, seit ich in Bonn bin. Ein Rentner aus Essen, 71 Jahre alt, schreibt:
Die Herren haben, weil sie im Geld schwimmen, keine Ahnung, wie es dem Normalverbraucher geht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Kluft zwischen den Vertretern des Volkes und dem Volk ist viel zu groß geworden.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie die Finanzmittel, die Sie brauchen oder nötig haben wollen, über Streichungen im Sozialetat hereinholen, dann ist das nicht nur unsozial, sondern unchristlich.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ihnen, Frau Fuchs, muß ich sagen: Es hört sich sehr schön an, wenn Sie so reden, aber ich komme nicht darüber hinweg zu sehen, daß die Streichungen in Ihrer Regierungszeit angefangen haben. Es wäre ganz schön, wenn Sie auch dazu ehrlicherweise ein Wort sagen würden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese Streichungen sind nicht nur unsozial, sondern sie sind auch illusionär. Es geht im Grunde darum, daß Sie mit der Wirtschaftspolitik, die Sie angehen, nicht in die Lage kommen, über Streichungen im Sozialetat die Mittel zu kriegen, die Sie nach Ihren Vorstellungen hereinholen wollen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000508100
Herr Abgeordneter Hoss, darf ich Sie unterbrechen. Es wird eine Zwischenfrage verlangt. Wollen Sie sie zulassen?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1000508200
Da ich gerade so schön in Fahrt bin, möchte ich sie bei der ersten Rede, die ich hier halte, nicht zulassen.

(Zurufe von der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000508300
Es ist eine Frage des Kollegen Hoffie.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1000508400
Dann lasse ich sie zu.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000508500
Herr Hoffie, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.

Klaus-Jürgen Hoffie (FDP):
Rede ID: ID1000508600
Herr Kollege, nachdem Sie mich soeben persönlich angeprochen haben, frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die von Ihnen genannte, in dieser Höhe im übrigen nicht richtige Zahlung

(Zuruf von den GRÜNEN: Taschengeld von 4 000!)

die Zahlung eines Pensionsanspruchs aus meiner Tätigkeit als hessischer Minister für Wirtschaft und Technik, nicht auf eine 15monatige Tätigkeit in diesem Amt, sondern auf eine vorausgegangene fast 20jährige Tätigkeit zurückzuführen ist, die dem öffentlichen Dienst vergleichbar ist? Ich wäre dankbar, wenn Sie im übrigen zur Kenntnis nehmen könnten,

(Zuruf von den GRÜNEN: Das ist doch keine Zwischenfrage, Herr Präsident!)

daß diese Leistung auf das, was ich heute wie auch Sie als Bundestagsabgeordneter erhalte, angerechnet wird.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1000508700
Ich möchte dazu sagen, daß Sie mit Ihrer Haltung in die Presse gekommen sind. Ich habe das aus der Presse, und ich weiß, daß in Hessen im Zusammenhang mit Ihrer Person ein Skandal stattgefunden hat.

(Seiters [CDU/CSU]: Sie können doch nicht einfach etwas behaupten!)

— Das wird schon so sein!

(Beifall bei den GRÜNEN — Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von den GRÜNEN: Das hätte Herr Hoffie einmal in Frankfurt erzählen sollen, dann wäre der Lacherfolg noch größer gewesen! — Zurufe von der CDU/CSU)

— Lassen Sie mich weiterreden, weil mir meine Zeit wegfliegt.
Ich habe vorhin gesagt, daß Sie das Wachstum, das Sie erreichen wollen, wie es von Herrn Stoltenberg und Herrn Lambsdorff beschworen wird, nicht erreichen werden.

(Bohl [CDU/CSU]: Das ist der Sanftmut!)

Ich möchte zwei Beweise dafür geben. Wo in unserer Volkswirtschaft hier zur Zeit Wachstum in einer Weise stattfindet, wie Sie es sich für den ganzen Bereich wünschen, haben wir folgende Situation. Der Ford-Manager Lutz hat im vorletzten „Spiegel" in einem Interview gesagt: Wir investieren, um mit immer weniger Leuten besser und mehr zu produzieren. Ich kann Ihnen sagen, da ich bei der Firma Daimler-Benz beschäftigt bin, daß Daimler-Benz 1982 sage und schreibe 3,2 Milliarden DM im Konzernbereich investiert hat und die Zahl der Arbeitsplätze bei einer gestiegenen Produktion um 2 300 zurückgegangen ist.

(Dr. George [CDU/CSU]: Was hat der Betriebsrat gemacht?)

Das sind die Grenzen des Wachstums, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, und das scheinen Sie nicht zu sehen.



Hoss
An dieser Stelle möchte ich mir ein Wort zu Herrn Stoltenberg erlauben, der in seiner Antwort heute morgen davon gesprochen hat, daß wir in Nationalökonomie Nachhilfe nehmen sollten, wenn es ginge auf dem zweiten Bildungsweg. Ich möchte Ihnen anheimstellen, einmal diese Zahlen der florierenden wachstumsorientierten Industrien unter die Lupe zu nehmen. Dann kommt er vielleicht zu anderen Ergebnissen.
Zum zweiten möchte ich anmerken, daß sein Hinweis auf den zweiten Bildungsweg im Grunde die ganze Arroganz der Macht, von der ich einmal gelesen habe, die ich heute aus seinen Worten bei ihm gespürt habe, deutlich macht.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Das ist die Arroganz, die sich mit dem in der Regierungserklärung geschriebenen Wort von der Machtelite oder von der Leistungselite paart, die von Ihnen favorisiert wird.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich möchte jetzt noch einiges zu den Äußerungen von Herrn Blüm sagen. Es geht im Grunde darum, daß wir, wenn wir den Sozialabbau ablehnen, nicht dagegen sind, bestehende Strukturen zu diskutieren und anzugehen. Deshalb sind wir auch bereit, mit ihm Gespräche in der Weise zu führen.
Wir sagen aber schon gleich, daß es mindestens zwei Punkte gibt, die wir zu berücksichtigen haben. Der erste ist, daß wir an die Privilegien herangehen, die bisher geschont wurden. Dazu gehören auch die Beamtenprivilegien.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ein Arbeiter muß 20 Jahre arbeiten und erreicht dann einen Anspruch auf 602,50 DM, und ein Beamter hat nach fünf Jahren einen Anspruch von 1 500 DM Pension.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das sind Dinge, die nicht gehen und die hier zur Debatte stehen. Es gibt auch noch andere Privilegien, an die Sie, meine Herren von den Regierungsparteien, und auch Sie, meine Herren von der SPD, nicht herangehen, weil das nämlich Ihr Wählerklientel ist.

(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)

Sie scheuen sich, diese Dinge und auch die Vorteile beim Namen zu nennen, die der öffentliche Dienst gegenüber den Leuten in der gewerblichen Wirtschaft hat.

(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)

Unsere Vorstellungen sind die, daß wir die Neuordnung des Rentensystems nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Solidarität, der Einfachheit und Durchschaubarkeit, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Selbstverwaltung durch die Versicherten in dezentralisierten Formen erreichen wollen.
Dabei geht es — damit komme ich zum Schluß — um einige konkrete Punkte, die wir einbringen werden. Das ist erstens die Verringerung der Sozialabzüge im unteren Einkommensbereich, um dort eine
Entlastung zu kriegen. Es geht darum, eine Mindestrente von 1 500 DM durchzusetzen. Es geht darum, die Bemessungsgrenze aufzuheben und die Versicherungspflicht für alle Einkommen durchzusetzen. Es geht darum, daß alle Einkommensnehmer in das gesetzliche Rentensystem aufgenommen werden, ob das Beamte sind, ob das Freiberufler sind, Politiker oder Minister.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Freiwillige Zusatzversicherungen sind auch selbst zu bezahlen. Dann geht es auch noch um die Anrechnung von Erziehungszeiten von Vätern und Müttern.
Vielleicht erkennen Sie, warum wir von zwei Millionen Leuten in diesen Bundestag gewählt worden sind: nämlich deshalb, weil sich die Zahl der Leute mehrt, die Ihnen alleine nicht mehr zutrauen, mit diesen Problemen fertigzuwerden, und die Privilegien auszuräumen, die Sie sich im Laufe von Jahrzehnten geschaffen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wir werden auf diesem Wege ein wachsames Auge haben und die Dinge so benennen, wie wir es für richtig halten.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000508800
Das Wort hat Herr Abgeordneter Cronenberg (Arnsberg) von der Fraktion der Freien Demokraten.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1000508900
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ohne wirtschaftliches Leistungsvermögen — ob Ihnen das paßt oder nicht —

(Zurufe von den GRÜNEN)

gibt es keinen Abbau der Arbeitslosigkeit, gibt es keine soziale Sicherheit.

(Beifall bei der FDP)

Über diesen Punkt sind sich FDP und Union einig.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht nur über diesen!)

Deshalb müssen wir unsere Wirtschaftskraft stärken. Ich habe auch immer die Gewißheit gehabt, daß die Sozialdemokraten diese Position in der Vergangenheit dankenswerterweise unterstützt haben. Dies hat zu geschehen durch Förderung der Investitionen, durch Abbau des Interventionen- und Umverteilungsstaates, durch Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte von den konsumtiven zu den investiven Ausgaben.
Nur mit dieser Politik können wir Leistungswillen und Wachstumskräfte in der Marktwirtschaft freisetzen. Dies ist unsere Aufgabe. So und nicht anders sichern wir unsere Zukunft. Damit ist die Koalition der Mitte vor sieben Monaten angetreten. Sie hat ein erstes Dringlichkeitsprogramm auf den Weg gebracht, auch mit spürbaren Eingriffen in Leistungsgesetze. Mit dieser Politik haben wir uns



Cronenberg (Arnsberg)

auch dem Wähler gestellt. Der Wähler hat diese Politik eindrucksvoll bestätigt.

(Zuruf von der SPD: Aber euch nicht!)

Die Opposition hat mit den Sprüchen vom Ellenbogenstaat beim Wähler nicht überzeugt. Wir müssen auch in der Sozialpolitik von den gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten ausgehen. Wer das leugnet, handelt illusionär.
Wer dies verkennt, setzt weitere Arbeitsplätze aufs Spiel; er gefährdet die soziale Sicherheit. Die Rückkehr zu dauerhaftem Wirtschaftswachstum verspricht Erfolg bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und bei der Sicherung unseres Sozialsystems. Wirtschaftswachstum ist die entscheidende Voraussetzung für alle anderen Maßnahmen, über die man in Ruhe und mit Vernunft selbstverständlich zu diskutieren hat.
Das wissen dankenswerterweise auch die Mitglieder und Führer unserer Gewerkschaften. Häufig sagen sie es auch, wenn auch nicht immer; häufig handeln sie auch so, aber nicht immer. Die Gewerkschafter in der Union sollten das berücksichtigen. Versuche, den Kurswechsel in diesem Bereich aufzuweichen, dürfen keinen Erfolg haben.

(Zuruf von der SPD)

Sie gehen auch an der Aufgabe, die uns durch den Wähler gestellt worden ist, vorbei. Die Koalition ist nicht bestätigt worden, um eine Neuauflage der Gefälligkeitspolitik zu ermöglichen. Mit Verlaub gesagt: Das können andere auch besser.
Wir wollen, daß die Soziale Marktwirtschaft unbestritten Grundlage von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist. Wir setzen nun einmal auf Eigenverantwortung, Eigeninitiative, Leistung und Wettbewerb. Wir wollen und müssen neue rentable Arbeitsplätze durch Investitionen schaffen. Wir setzen auf soziale Sicherheit durch Leistung unserer Volkswirtschaft. So ist die soziale Sicherheit zu erreichen, nicht auf Pump. Soziale Sicherheit auf Pump zerstört dieselbe. In diesem Zusammenhang unterstreiche ich die Aussagen der Regierungserklärung über Leistung und Verantwortung der deutschen Gewerkschaften. Den Arbeitnehmern sind wir es schuldig, die Sozialversicherung und insbesondere die Rentenversicherung auf solide finanzielle Grundlagen zu stellen. Gerade in der Sozialen Marktwirtschaft ist die Rentenversicherung in besonderem Maß auf Verläßlichkeit, Berechenbarkeit und vor allen Dingen auf Leistungsbezogenheit auszurichten, auch auf Unabhängigkeit von der jeweiligen Kassenlage des Staats, sonst hat sie keine solide Grundlage.
Es ist kein Geheimnis: Bei den Regelungen, die wir in der Koalition getroffen haben, waren Kompromisse notwendig. Ich nenne hier die Bedenken gegen die Zwölftelung der Sonderzahlungen, durch die Urlaubs- und Weihnachtsgeld stärker als bisher von der Beitragspflicht erfaßt worden sind. Ich nenne aber auch die Bedenken des Bundesarbeitsministers gegen die Verschiebung des Anpassungstermins.
Diese können durch einen finanziell gleichwertigen und konsensfähigen Einigungsvorschlag ersetzt werden. Das bedeutet: Auf Grund einer solchen Alternative muß meines Erachtens die Rücklage in der Rentenversicherung bis Ende 1987 auf ca. 2,5 bis 3 Monatsausgaben steigen.
Herr Minister Blüm, eine solche Aufstockung ist meiner Auffassung nach unverzichtbar im Interesse der Rentner, im Interesse der Beitragszahler, gleichgültig, ob Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, denn letztlich trifft es j a immer den Verbraucher. Dazu verweise ich auf unseren gemeinsamen Beschluß, daß die Beiträge der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung ab 1983 nach der Lohnersatzleistung bemessen werden. Wir waren uns alle darüber im klaren — insofern ist die Kritik der Opposition auch berechtigt —, daß diese Beschlüsse eine erhöhte Abhängigkeit der Rentenversicherung vom Risiko der Arbeitslosigkeit bedeuten. Die daraus gebotene Konsequenz, die einzig mögliche Konsequenz, ist eine Erhöhung der Rücklagen. Sonst bleiben ständige Gefährdungen durch Eingriffe des Staats in die Rentenversicherung an der Tagesordnung. Die wollen wir nicht, die wollen alle nicht. Sie wären das Gegenteil der gemeinsam angestrebten Verläßlichkeit.
Längerfristig ist der steigende Rentneranteil das große Problem. Mit Recht hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung dargelegt, wie sich die Situation im Jahre 1990 und im Jahre 2030 entwikkelt. Der in diesem Zusammenhang erweckte Eindruck, wir hätten uns dafür ausgesprochen, die geltende Rentenformel durch eine reine Nettoformel zu ersetzen, ist, wie ich schon mehrmals gesagt habe, falsch.
Die Problematik einer reinen Nettoformel ist uns durchaus bekannt. Wir haben deshalb in unserem Rentenprogramm 1979 vorgeschlagen, die Rentenformel durch eine demographische Komponente zu ergänzen. Mit ihr ließe sich das erreichen, Frau Fuchs, was Sie in einem Ihrer Punkte zu Recht verlangt haben, nämlich daß Beitragszahler und Rentner bei der Lösung der künftigen Finanzprobleme ausgewogen beteiligt werden. Nach einer Rede des damaligen Bundessenators Blüm und einer öffentlichen Stellungnahme des Kollegen Franke gehe ich davon aus, daß hier ein gemeinsamer Ansatz für den vom Bundesarbeitsminister gesuchten Konsens vorhanden ist.
Dasselbe gilt für eine Orientierung des Bundeszuschusses an den versicherungsfremden Leistungen der Rentenversicherung, wie das von der FDP auch schon 1979 und in den Koalitionsverhandlungen in beiden Koalitionen immer wieder verlangt worden ist. Ich lege hierauf großen Wert,

(Zuruf von der SPD: Was heißt das?)

mache aber darauf aufmerksam, daß wir es nicht für realistisch halten, höher zu gehen als bis zu zirka 10 % dessen, was der Bundeshaushalt zur Verfügung stellt. Alles andere ist illusionär.
Auch eine demographische Komponente wird aber nicht verhindern können, daß ein angemessenes Rentenniveau längerfristig mehr Versiche-



Cronenberg (Arnsberg)

rungsjahre erfordert als heute. Der Geburtenrückgang hat auch diesen Preis; davor sollte niemand die Augen verschließen.
Wir begrüßen die Absicht des Bundesarbeitsministers, in den Grundfragen der Rentenpolitik zu einem breiten Konsens zu kommen. Die grundsätzliche Übereinstimmung von Union, SPD und FDP zur 84er Reform ist hier ein ermutigendes Zeichen. Ich darf die Kollegin Frau Fuchs auch daran erinnern, daß sich SPD und FDP seit 1969 bis auf einige Ausnahmen in der Rentenpolitik, insbesondere bei den Rentengesetzen 1977 und 1978, sehr viel näher waren, als Ihre Rede heute vermuten läßt.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Fragen Sie einmal Ihre Generalsekretärin!)

— Darauf komme ich, Frau Fuchs.
Natürlich gehört zum politischen Konsens der Kompromiß. Ich möchte allerdings festhalten, daß meine Vorgänger in der FDP-Fraktion von diesem Pult aus auf die Problematik der Rentenversicherung sowohl bei der Reform 1957 wie bei der Reform 1972 hingewiesen haben. Insoweit befinden wir uns in der Kontinuität unserer Argumentation.

(Beifall bei der FDP)

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einmal ganz deutlich sagen, welche Korrekturelemente uns denn in dieser Diskussion überhaupt zur Verfügung stehen: erstens das Element der Beitragserhöhung mit all den negativen Folgen, die wir kennen — die Zeit erlaubt es nicht, sie zu wiederholen —; zweitens das Element des Rentenniveaus, über das ich in aller Offenheit sagen muß, ich bin nicht überzeugt, daß das Niveau der Renten auf Dauer zu halten ist; drittens die Frage, ob nicht länger Beiträge gezahlt werden müssen; viertens die Frage, in welchem Umfang der Bundeszuschuß zur Verfügung steht. Alle anderen Möglichkeiten sind mit Verlaub nicht seriös.
Kollege Hoss, bei allem Respekt dafür, daß Sie sich mit dieser Problematik beschäftigen — offensichtlich erst neuerdings —, muß ich sagen: Ihre Forderungen auf diesem Gebiet — mehr Ausgaben, 1 500 DM garantierte Mindestrente unabhängig von der Beitragszahlung, weniger Einnahmen durch Beitragsbefreiung der unteren Einkommen — können Sie meiner Auffassung nach nur dann verwirklichen, wenn Sie das Geld dafür aus der Druckmaschine holen. Ihre Forderungen sind seriös nicht zu finanzieren.

(Beifall bei der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000509000
Herr Cronenberg, Herr Kollege Dr. Ehrenberg möchte eine Zwischenfrage stellen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1000509100
Herr Kollege Ehrenberg, trotz der knappen Zeit möchte ich mich Ihnen nicht verweigern.

Dr. Herbert Ehrenberg (SPD):
Rede ID: ID1000509200
Herr Kollege Cronenberg, nachdem Sie zum zweitenmal den Bundeszuschuß angesprochen und vorhin in eine unmittelbare Verbindung mit den versicherungsfremden Leistungen gebracht haben, frage ich Sie: Ist Ihnen gegenwärtig, daß diese Bindung bedeuten würde, den Bundeszuschuß kräftig zu erhöhen?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1000509300
Nein, Herr Bundesminister a. D. Nicht umsonst habe ich auf die Bezugsgröße hingewiesen. Wie Ihnen bekannt ist, erhalten die Rentenversicherungsträger seit Beginn der Republik zwischen 9 und 11 im Schnitt 10 % des Bundeshaushaltes. Ordentliche Zuorientierung: Ja! Aber eine nennenswerte Steigerung — das wissen Sie aus langjähriger Kabinettserfahrung — ist weder machbar, noch unter dem Gesichtspunkt der Höhe der Staatsquote verantwortbar.

(Zuruf des Abg. Dr. Ehrenberg [SPD])

— Herr Kollege Ehrenberg, Sie wissen, unter welchem Zeitdruck ich hier stehe. Ich bitte um Nachsicht.
Meine Damen, meine Herren, wir bejahen mehr Flexibilität bei der Lebensarbeitszeit, und zwar — das sage ich mit aller Deutlichkeit — in beiden Richtungen. Die Koalition setzt hier auf die Tarifvertragsparteien. Eine zusätzliche Gesamtbelastung der Wirtschaft und der öffentlichen Finanzen lehnen wir konsequent ab. Sie würde weitere Arbeitsplätze gefährden. Das können wir uns nicht leisten.
Wir leugnen nicht den Zusammenhang zwischen der technischen und technologischen Entwicklung und der Arbeitszeit. Ihn hat es in der Vergangenheit gegeben und wird es auch in Zukunft geben. Wir leugnen aber auch nicht den Zusammenhang zwischen den Kosten für den Faktor Arbeit und unserer Exportfähigkeit und der Schwarzarbeit.
Arbeitszeitverkürzung — ob Ihnen das paßt, meine Damen und Herren, oder nicht — schafft mit Sicherheit nicht mehr Arbeit. Arbeitszeitverkürzung ist, wohlwollend formuliert, Mangelverteilung; boshaft könnte man sagen: Arbeit auf Bezugschein. Wir sollten aber Mangel beseitigen und nicht Mangel bürokratisch verwalten.
Arbeitszeitverkürzung ist mit Sicherheit dann schädlich, wenn Arbeit dadurch teurer wird, die Wettbewerbsfähigkeit sinkt und so ungewollt Akquisition für japanische Autos, Textilien aus dem Fernen Osten oder Sensen aus der Türkei betrieben wird.
Die Verteuerung des Preises für Arbeit muß den Marsch in die Schwarzarbeit fördern. Wenn man dem Malermeister, dem Schreinermeister oder dem Kraftfahrzeugmeister 45 DM für die Stunde zahlen muß — wie Sie wissen, müssen diese Berufe so kalkulieren —, kann man verstehen, daß der Bürger von dem allseits vorhandenen großen Angebot von Schwarzarbeit Gebrauch macht; denn Schwarzarbeit ist nun einmal nicht mit Sozialabgaben und Steuern belastet.
Bei aller Anerkennung der Motive für die Vorschläge zur Arbeitszeitverkürzung muß man feststellen, daß sie ein erschreckendes Maß an Praxisferne erkennen lassen. Was würden Sie denn sagen, wenn in einem kleineren oder mittleren Betrieb, der keine Subventionschancen hat, die Einnahmen



Cronenberg (Arnsberg)

geringer sind als die Ausgaben, also — auf gut deutsch — Verluste gemacht werden und der Chef daraufhin frisch, fromm, fröhlich, frei seinen Mitarbeitern erklärt, angesichts des Verlustes sollten in Zukunft alle ein bißchen weniger arbeiten, ein bißchen weniger leisten und vielleicht auch auf ein bißchen Lohn verzichten und dann sei alles in Ordnung? Meine Damen und Herren, ein solcher Laden ist über kurz oder lang pleite, und zwar, wie ich meine, zu Recht. Danach würde dann wohl zu Recht der Vorwurf ausgesprochen: Schlechtes Management, unfähiger Unternehmer! Der Unternehmer ist an der ganzen Geschichte schuld!
Wir müssen uns bewußtmachen: Mehr Leistung schafft prinzipiell auch mehr Arbeit, u. a. auch durch mehr Nachfrage; denn mehr Leistung produziert natürlich auch mehr Nachfrage. Dieser Gesichtspunkt wird offensichtlich immer wieder übersehen. Mehr Leistung schafft auch mehr Arbeitsplätze, nämlich durch höhere Wettbewerbsfähigkeit und damit Exportfähigkeit.
Diese Erkenntnis ist um so wichtiger, je lohnintensiver der Betrieb und die Branche sind. Deswegen kann und darf die Diskussion, ob und wie Arbeitszeitverkürzungen vereinbart werden, nicht losgelöst von der jeweiligen Branchensituation geführt werden. Erkenntnisse und Erfahrungen der Gewerkschaften müssen ebenso berücksichtigt werden wie die der Arbeitgeber. Es geht nicht an, daß gesamtvolkswirtschaftlicher Schaden entsteht.
Am Rande sei hier einmal vermerkt — auch das wird in der Diskussion immer wieder übersehen —, daß in speziellen Situationen Arbeitszeitverkürzungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in viel größerem Umfang vereinbart worden sind, als man es vermutet. Ich denke hier an 127 Vereinbarungen und Einzelverträge, die geschlossen worden sind, um Arbeitszeit abzubauen.
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß die Vorruhestandsregelung, die Sie j a immer wieder ins Gespräch bringen, von Ihrem eigenen SPD-Schattenwirtschaftsminister, Herrn Professor Krumm, mit der Aussage begleitet worden ist, daß bestenfalls — das deckt sich mit den Aussagen anderer Wissenschaftler — 30 % der frei werdenden Arbeitsplätze wieder besetzt werden. Und dann weiß man noch nicht, ob das Bezieher von Arbeitslosengeld und von Arbeitslosenhilfe gewesen sind.
Meine Damen und Herren, die Probleme unserer Alterssicherung sind lösbar. Dies setzt aber auch voraus, daß überzogenes Besitzstandsdenken abgelegt wird, nicht nur in der allgemeinen Rentenversicherung, auch bei der Beamtenversorgung, bei der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes — ich halte diese nach wie vor für einen Skandal —, bei der Altershilfe der Landwirte — um Ärger auch mit den eigenen Leuten zu bekommen — und nicht zuletzt bei der knappschaftlichen Rentenversicherung. Heilige Kühe kann und wird es hier nicht geben, sonst müssen die Systeme zusammenbrechen.
Meine Damen und Herren, machen Sie sich einmal bewußt, daß die Aufwendungen für die Renten im Bereich der Angestellten- und Arbeiterversicherung 27 % der Lohnsumme betragen und daß im öffentlichen Dienst 46 % der gezahlten Gehalts- und Lohnsumme Aufwendungen für die Alterssicherung sind. Das ist, um es mit Verlaub zu sagen, ein unerträgliches Mißverhältnis. Es darf hier keine Tabus geben.
Ich möchte mich zur Krankenversicherung sehr kurzfassen. Es geht uns auch hier darum, Leistungsbereitschaft, Eigenverantwortung, Markt und Wettbewerb zu stärken. Deswegen bejahen wir mit allem Nachdruck das gegliederte Krankenversicherungssystem und die Selbstverwaltung in allen Bereichen. Im Krankenhaus muß endlich die notwendige Wirtschaftlichkeit hergestellt werden. Ich hoffe, daß die guten Ansätze, die in der alten Koalition schon vorhanden waren und durch den Bundesrat abgeblockt worden sind, bei der neuen Gefechtslage von Bundestag und Bundesrat nunmehr entsprechende Zustimmung finden, damit sich hier Vernünftiges durchsetzen kann.
Mit den Erbringern von Gesundheitsleistungen haben wir grundsätzliche Bedenken gegen jede dirigistische Reglementierung. Sie schafft keine Ersparnisse, sie schafft weniger Angebot und weniger Leistung, und sie ist teurer, Frau Fuchs; sie ist schlecht und muß deswegen abgelehnt werden. Mehr Markt und den Handlungsspielraum in der Selbstverwaltung vergrößern, das ist die Lösung.
Ich möchte auf einiges von dem verzichten, was ich hier noch sagen wollte, weil ich noch einige Klarstellungen vornehmen möchte, die hier notwendig sind.
Herr Kollege Hoss hat sich erlaubt, hier einige Bemerkungen über den von mir verehrten Graf Lambsdorff zu machen. Er hat auf Grund von Verdächtigungen Verurteilungen vorgenommen. Ich möchte Sie als neuen Kollegen herzlich bitten, sich doch an die, wie ich meine, richtige Praxis zu gewöhnen, daß Vorabverurteilungen nicht vorzunehmen sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Andernfalls muß ich Ihnen den Vorwurf machen, daß Sie ein gebrochenes Verhältnis zur Rechtsstaatlichkeit haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir haben zu häufig erlebt, nicht zuletzt bei unserem Parteifreund Ertl, daß sich böseste Angriffe, betrieben von einer böswilligen Journaille, als grund- und haltlos herausgestellt haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich bin überzeugt, es wird nicht anders beim Grafen Lambsdorff sein. Ich bitte daher, dies in Zukunft zu berücksichtigen.
Ich möchte auch eine kleine Ergänzung zu den Ausführungen des Kollegen George machen. Er hat die Situation, in der wir uns befinden, nüchtern mit Zahlen belegt. Er hat mit Recht die Höhe der Abgaben und die Steigerung der Abgabenlast beklagt. Ergänzend möchte ich dem Hause zum wiederhol-



Cronenberg (Arnsberg)

ten Male mitteilen: In der Tat ist die Soziallastquote von 1960 mit 20 % des Bruttosozialprodukts auf 31 % des Bruttosozialprodukts im Jahre 1981 gestiegen. Das ist Mit- und Hauptursache unserer Schwierigkeiten. Die Hauptursache für diese Steigerung liegt in der Großen Koalition. Beispielhaft möchte ich in diesem Zusammenhang die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle und die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge von 14 % auf 18 % erwähnen. Dies nur zur Information für die neuen Kollegen, sonst hätte ich mir dies erspart.
Frau Kollegin Fuchs, Sie sind sowohl unseren Parteivorsitzenden Hans-Dietrich Genscher wie auch die Generalsekretärin der FDP angegangen. Auch hierzu einige kurze Bemerkungen.
Sie haben sich darüber beschwert, daß sich HansDietrich Genscher entschieden für die individuellen Rechte der Arbeitnehmer in den Betrieben eingesetzt hat, und glaubten bemerken zu müssen, daß dies im Widerspruch zu dem Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, befinde. Pustekuchen! Selbstverständlich ist dies ein Individualrecht, von dem wir auch wünschen, daß es wahrgenommen wird, aber gerade die von Ihnen erwähnte Montanmitbestimmung ist doch der schlagende Beweis für die Schmälerung von Individualrechten und für massive Organisationsrechte, die genau im Widerspruch zu unserer Philosophie, die Individualrechte zu stärken, stehen.

(Beifall bei der FDP)

Deswegen bitte ich Sie, den Bundesvorsitzenden in Zukunft mit der nötigen Korrektheit zu interpretieren.
Die Generalsekretärin haben Sie — das ist mein Eindruck — entweder bewußt mißinterpretiert, oder aber Sie haben ihre Äußerungen nicht richtig gehört. Sie verdienen tatsächlich eine ernsthafte Auseinandersetzung. Mit dem Tenor, Frau Kollegin Fuchs, die Sozialversicherungskassen sind leer, Konzepte haben wir nicht, können wir auch nicht bringen, wir schreien einmal laut und kräftig „Haltet den Dieb!", kann man diese Bemerkung von Frau Adam-Schwaetzer nicht bewerten. Das ist einfach, das ist, wie ich gesehen habe, auch beifallsträchtig, aber es ist ebenso sehr falsch und obendrein noch unfair und entspricht nach meiner festen Überzeugung auch nicht Ihrem Niveau. Wir werden also hoffentlich Gelegenheit haben, uns in aller Ruhe über die von ihr angesprochene Problematik zu unterhalten.
Sie wissen, daß diese Liberalen — —

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000509400
Lieber Herr Kollege Cronenberg — —

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1000509500
Herr Präsident, ich werde Ihnen die Arbeit nicht schwer machen.
Sie können sich darauf verlassen: Diese Liberalen stehen zu den Aussagen, die sie in den Freiburger Thesen gemacht haben,

(Zurufe von der SPD) und werden sie auch in konkrete Politik umsetzen. Sie können sich darauf verlassen. Dies ist mein Bemühen, dies ist das Bemühen der Fraktion. Dazu erbitten wir auch Ihre Unterstützung. — Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000509600
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern, Dr. Zimmermann.

(Zurufe von der SPD und von den GRÜNEN: Oh! — Aha! — Beifall bei den Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Friedrich Zimmermann (CSU):
Rede ID: ID1000509700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte aus dem großen Bereich des Bundesministers des Innern drei Schwerpunktthemen herausgreifen.
Die Gewährleistung der inneren Sicherheit, und damit beginne ich, gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Staates. Der Bürger hat einen Anspruch darauf, daß der Staat den Schutz seiner Freiheit, seiner Sicherheit und seines Eigentums gewährleistet. Die Verwirklichung der Grundrechte und Grundprinzipien der Verfassung setzt die Stabilität der freiheitlichen Demokratie voraus. Sie ist die Voraussetzung, daß der einzelne die Möglichkeiten der Entfaltung hat, wie er sie nur in einer freien und demokratischen Ordnung haben kann. Die Bundesregierung ist deshalb entschlossen, bei dem Teil, für den sie verantwortlich ist, zur Stärkung der inneren Sicherheit alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
Meine Damen und Herren, das ist in erster Linie eine Aufgabe der Politik und erst in zweiter Linie eine Aufgabe von Polizei und Justiz. Denn für die in der Vergangenheit spürbar gewordene Abnahme an Rechtsbewußtsein, wie sie in der Kriminalitätsentwicklung auch des letzten Jahres deutlich geworden ist, sind vornehmlich gesellschaftspolitische Entwicklungen die Ursache, auf die Sicherheitsorgane keinen oder nur einen sehr begrenzten Einfluß haben.

(Zuruf von der SPD: Wie schade, was?)

— Das haben Sie gesagt, „wie schade".
Es ist deshalb Aufgabe der Politik ebenso wie der Elternhäuser, Schulen und aller Bildungseinrichtungen, einer Entwicklung entgegenzuwirken, die sich in einer zunehmenden Mißachtung von Recht und Gesetz äußert.
Der Staat kann es nicht dulden, daß Minderheiten unter mißbräuchlicher Berufung auf ein vorgebliches Widerstandsrecht oder auf Grund vorgeblicher Basisnähe die Regeln rechtlich geordneter Auseinandersetzungen durchbrechen

(Reents [GRÜNE]: „Staatsfeind Nummer eins"!)

und Rechtsbrüche begehen, deren angebliche Legitimität im politischen Prozeß beruht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Bundesminister Dr. Zimmermann
Hier hat es Verwischungen gegeben, die zwischen Gewalt gegen Personen und Sachen so unterscheiden wollten, als sei das Eigentum des einzelnen ein wirklich nicht mehr schätzbares Recht. Aber was soll z. B. der Bäcker oder Metzger von dieser Verpflichtung halten, dem Gewalttäter anläßlich einer Demonstration die Schaufenster seines Ladengeschäfts einwerfen? Was sollen der Arbeiter und Angestellte darüber denken, dessen mühsam erspartes Auto sie beschädigen oder zerstören, ohne daß staatliche Sanktionen den Täter treffen?

(Haase [Kassel] [CDU/CSU]: So ist es!)

Der häufige Mißbrauch des Grundrechts der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in den vergangenen Jahren ist ein Problem geworden. Gewalttätige Ausschreitungen anläßlich von Demonstrationen haben zu beträchtlichen Personen- und Sachschäden geführt. Die Bundesregierung verurteilt solche Ausschreitungen auf das Schärfste. Und ich hoffe doch, daß in diesem Land zwischen allen demokratischen Kräften darüber Einigkeit besteht, daß der Mißbrauch des Grundrechts auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit den Rechtsstaat herausfordert, der gerade dem Schutz dieses Grundrechts zu dienen verpflichtet ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Wer wie die Bundesregierung das friedliche Demonstrationsrecht aller Bürger als einen Bestandteil dieser Demokratie — Meinungsfreiheit, Freiheit der politischen Betätigung — begreift, muß es wirksam vor Mißbrauch schützen. Die Parteien der Regierungskoalition haben dieser Problematik eine erhebliche Bedeutung beigemessen. Das ist der Grund, warum sie sich entschlossen haben, durch eine Novellierung des Landfriedensbruchtatbestands diesem seine Wirkkraft zurückzugeben, die er 1970 durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz verloren hat.

(Dr. Linde [SPD]: Das ist ein großer Irrtum!)

Der Oppositionsführer, Dr. Vogel, hat nicht recht, wenn er sagt, daß die Polizei daran nicht mehr interessiert sei. Die Mehrzahl der Polizeipräsidenten und der Bundesländer hat sich eindeutig ebenfalls für eine Reformierung dieses Tatbestandes eingesetzt. Die Bundesregierung will damit auch ein Zeichen setzen, daß das Versprechen, die innere Sicherheit zu stärken, um einer zunehmenden Gewaltbereitschaft Einhalt zu gebieten, kein Lippenbekenntnis ist.
Entschieden muß dabei zurückgewiesen werden, daß hier die politische Meinungsäußerung kriminalisiert werden soll. Hier herrscht eine Bewußtseins- und Sprachverwirrung,

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

die wir nicht dulden dürfen. Wer strafbare Rechtsbrüche begeht, handelt kriminell. Es kann keine Rede davon sein, daß er kriminalisiert wird, wenn ihn die Justizbehörden zum Schutz des Staates und seiner Bürger dafür zur Verantwortung ziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Bedrohung durch den Terrorismus hält an. Die grenzüberschreitenden Aktivitäten der Terroristen — der internationale Terrorismus — lassen sich nur durch intensive internationale Zusammenarbeit wirksam bekämpfen. Die Einführung eines fälschungssicheren, automatisch ablesbaren Personalausweises dient dem gleichen Zweck einer wirksamen Bekämpfung bedrohlicher Kriminalität. Wir wissen alle, daß Hunderte gefälschter Pässe und Personalausweise in den Depots der RAF gefunden worden sind, und aus diesem Grunde, nur aus diesem Grunde, ist es notwendig, zum Schutz des Bürgers den Rechtsbrecher von dem gesetzestreuen Bürger zu unterscheiden. Wer sich dem entgegenstellen will, der muß wissen, daß er hier zur Förderung der Kriminalität und nicht zum Schutz des Bürgers beiträgt.
Der politische Extremismus versucht, seine Erfolglosigkeit dadurch auszugleichen, daß er sich hinter bestimmten Gruppen versteckt. Wir haben vor zwei Wochen einen Kongreß von 700 Personen gehabt, die sich Friedensbewegung nennen, bei denen aber orthodoxe Kommunisten, aber auch Gruppen der neuen Linken zu mehr als drei Vierteln die Steuerung übernommen haben.

(Zuruf von der SPD: Unerhört! — Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Gucken Sie hier her! Die sitzen jetzt schon im Parlament! — Weitere Zurufe von den GRÜNEN)

Vor allem — und das sage ich mit großem Ernst — darf die ernstgenommene Friedensbewegung nicht davor zurückschrecken, diejenigen, die sie mißbrauchen wollen, aus ihren Reihen zurückzuweisen. Blockademaßnahmen und ähnliche Aktionen, die die Funktionsfähigkeit von Einheiten der Bundeswehr oder der alliierten Streitkräfte beeinträchtigen, sind ein Überschreiten der zulässigen politischen Meinungsäußerung, und es ist die Pflicht der staatlichen Organe, hier einzugreifen und die gestörte Ordnung wiederherzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das muß ganz leidenschaftslos, aber ebenso klar und deutlich festgestellt werden.
Sie wissen, daß Verbrechensbekämpfung eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern ist und daß der Bund den Schwerpunkt der Verantwortung im rechtlichen Instrumentarium hat, während beim Vollzug die Hauptlast bei den Ländern liegt.
Die Bundesregierung hat die Aufgabe, Recht und Rechtsfrieden in diesem Lande zu verteidigen. Es wird daher kein Zurückweichen des Staates vor Gewalt oder Rechtsbruch geben. Zu oft ist in der Vergangenheit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angeführt worden, um Nachgiebigkeit des Staates gegenüber Rechtsbrechern zu bemänteln.

(Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Leider!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000509800
Herr Minister, darf ich Sie unterbrechen?

Dr. Friedrich Zimmermann (CSU):
Rede ID: ID1000509900
Ich bin mitten im Satz, Herr Präsident. — Dazu möchte ich mit aller Eindeutigkeit feststellen: Es gibt keine



Bundesminister Dr. Zimmermann
grundrechtlich geschützte Freiheit zum Rechtsbruch. Wo es sich um die Abwehr, die Ahndung und die Verfolgung von Rechtsbrüchen handelt, ist in erster Linie das Legalitätsprinzip maßgebend, das Polizei und Justiz zum Eingreifen verpflichtet.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000510000
Herr Minister Zimmermann, der Herr Abgeordnete Waltemathe wünscht eine Zwischenfrage zu stellen. Würden Sie sie zulassen?

Dr. Friedrich Zimmermann (CSU):
Rede ID: ID1000510100
Bitte sehr.

Ernst Waltemathe (SPD):
Rede ID: ID1000510200
Herr Bundesminister, Sie haben vorhin auch von lokalen Aktivitäten im Zusammenhang mit Teilen der Friedensbewegung gesprochen und gesagt, daß Bund und Länder auch für örtliche Aktivitäten hinsichtlich der Ordnung dieser Bundesrepublik Verantwortung hätten. Ich darf Sie daher fragen, wie Sie es beurteilen, wenn sich zu Pfingsten die Leibstandarte der SS, „Adolf Hitler" genannt, erneut in Bad Hersfeld versammeln will.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist doch keine Friedensbewegung! — Zuruf von den GRÜNEN: Eine sehr gute Frage!)


Dr. Friedrich Zimmermann (CSU):
Rede ID: ID1000510300
Ich gehe davon aus, daß die Behörden, die ein lokales Ereignis polizeilich zu beurteilen haben, nach Gesetz und Recht die Maßnahmen ergriffen haben, die notwendig gewesen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU — Abg. Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Ich lasse keine weitere Zwischenfrage zu. Warum ich sie Ihnen gegenüber nicht zulasse, sage ich noch: Das hat mit der gestrigen Rede Ihrer Vorsitzenden etwas zu tun. Wer im zweiten Satz der Rede von Gewaltlosigkeit, Sanftheit und Toleranz spricht, um dem Bundesminister des Innern im letzten Teil der Rede zu unterstellen — wenn auch in Frageform gekleidet; wir kennen diese Tricks —, daß er Tote bei der Auseinandersetzung um Wyhl von vornherein billigen würde, hat das Recht verwirkt, mir Fragen zu stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Wenn das Ihr Einsatzleiter selbst sagt!)

Sie dürfen davon ausgehen, daß ich die Passagen dieser Rede mehrfach gelesen habe und weiß, was ich gerade gesagt habe.

(Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: Dann haben Sie wissentlich die Unwahrheit gesagt, Herr Minister! — Weitere Zurufe von den GRÜNEN)

Bei Ihnen steht das, was Sie verkünden, und das, was Sie tun, in einem derart unvertretbaren Gegensatz,

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das ist bei Ihnen ganz anders!)

daß Sie sich in diesem Haus noch ganz andere Verhaltensregeln angewöhnen müssen, wenn Sie ernstgenommen werden wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden in der Ausländerpolitik die Entschlußkraft aufbringen, Lösungen vorzulegen und auch durchzusetzen, die den Interessen der deutschen Bevölkerung gerecht werden und auch den bei uns lebenden Ausländern dienen. Deutsche und Ausländer müssen wissen, wie die Reise in die Zukunft für beide aussieht. Ein konfliktfreies Zusammenleben wird nur möglich sein, wenn die Zahl der Ausländer bei uns begrenzt und langfristig vermindert wird, was vor allem die großen Volksgruppen betrifft.
Ausländer, die auf Dauer hierbleiben wollen, müssen mehr als bisher eigene Integrationsleistungen erbringen.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

Dazu gehört, daß sie sich deutsche Sprachkenntnisse aneignen und die Grundwerte unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung respektieren. Dazu gehört weiter, daß sie sich in diese Rechts- und Gesellschaftsordnung einleben; Ghettobildungen sind dazu nicht geeignet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Bericht der Kommission Ausländerpolitik aus Bund, Ländern und Gemeinden liegt vor. Er enthält eine umfassende Bestandsaufnahme, die zum Teil kontrovers ist. Nunmehr ist es an der Zeit, die notwendigen politischen Entscheidungen alsbald zu treffen; die Bundesregierung und das Haus sind dazu aufgefordert. Der Bundesinnenminister wird dazu Vorschläge in Form eines Gesetzentwurfs vorlegen. Ich habe mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, daß der Vorsitzende der SPD in einem Interview im „General-Anzeiger" vom 23. April sagte, auf der anderen Seite spreche aber alle praktische Vernunft dafür, daß Kinder so rechtzeitig geholt werden, daß sie hier die Schule besuchen und ihre Einfügung erleichtert wird, was auch für die Eltern eigentlich vorteilhaft ist. — Der Bundesinnenminister ist, wie bekannt, dieser Meinung.
Im Verlauf der parlamentarischen Beratung wird Gelegenheit sein, die Einzelprobleme eingehend zu erörtern. Ich bin überzeugt, daß wir am Ende eine Lösung erreichen, die einen Konsens der politisch Verantwortlichen darstellt.
Folgende Punkte darf ich hier kurz ansprechen:
Erstens. Der Rahmen für Maßnahmen der Rückkehrförderung ist wegen der gesamtwirtschaftlichen Lage eng. Niemand kann sich hiervon eine durchgreifende Lösung des Gesamtproblems erwarten. Es ist an der Zeit, diese Diskussion zu beenden, indem wir bald sagen, was möglich ist und was nicht.
Zweitens. Familiennachzug ist für mich eines der wichtigsten Probleme überhaupt. Ich halte es für unverantwortlich und inhuman, Jugendliche an der



Bundesminister Dr. Zimmermann
Schwelle zum Erwerbsleben ohne Kenntnisse der deutschen Sprache hier einreisen zu lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Jugendlichen haben keine Chance, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. Sie haben ein Leben ohne Perspektive vor sich, und es droht ihnen das Abgleiten in die Kriminalität. Wir können und dürfen nicht der Entstehung eines sozialen Sprengsatzes zusehen. Das wäre das Unsozialste und Inhumanste, was wir machen könnten.
Mit der Türkei, mit der uns Deutsche eine traditionelle Freundschaft verbindet, müssen wir zu Regelungen gelangen, die ab 1986 einen Zuzug türkischer Arbeitnehmer ausschließen. Wir können es uns nicht leisten, weitere Arbeitslose zu importieren.
Dritter Komplex: Umwelt. Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist eine der wichtigsten Aufgaben der Bundesregierung. Ich glaube, das hat auch die Regierungserklärung deutlich gemacht. Wir sind es uns und den kommenden Generationen schuldig, eine möglichst intakte Umwelt zu erhalten. Wir werden diese Zukunft nur sichern können, wenn Umweltschutz als Gebot der Vernunft, auch der ökonomischen Vernunft, verstanden wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Deswegen dürfen Umweltschutz und Wirtschaft keine Gegensätze sein. Deswegen müssen Ökonomie und Ökologie in ein Gleichgewicht gebracht werden.
Wir haben erschreckende Beispiele in den Ostblockländern vor uns, wo über Jahrzehnte ganz einseitig zugunsten der Ökonomie entschieden worden ist; dort macht sich aber auch der erste Prozeß des Nachdenkens deutlich.
Eine Vorrangstellung nimmt die Luftreinhaltung ein. Wir haben in dieser Beziehung eine ganze Reihe von Dingen getan, wie Sie wissen. Wir haben in diesem weiten Feld die GroßfeuerungsanlagenVerordnung im Bundesrat gehabt, und der Bundesrat hat eine ganze Reihe von weitergehenden Vorschlägen gemacht, die erneut in der Bundesregierung zu beraten sind, was aber den Bundesinnenminister als Umweltminister nicht hindert, auch hier schon seine Meinung dazu zu sagen.
Zunächst einmal muß ich all jenen, die auf diesem Gebiet aus der SPD-Fraktion Verschärfungen forderten und noch fordern, wie sie aus dem Antrag der Fraktion der SPD „Notprogramm gegen das Waldsterben" vom 28. April 1983 hervorgehen, sagen, daß z. B. die Forderung, daß auch für Feuerungsanlagen im mittleren Leistungsbereich verschärfte Werte gelten sollten, auf den massiven Widerstand des Landes Nordrhein-Westfalen, nicht des Bundesinnenministers, treffen wird. NRW hat ausgerechnet, daß, wenn man mit den vorgesehenen Begrenzungen von 400 MW auf 300 MW herabgeht, von den 33 000 MW, die NRW erzeugt werden, nicht weniger als 22 000 MW betroffen wären. Ich würde vorschlagen, daß Sie diesen Punkt noch einmal mit dem Ministerpräsidenten Rau besprechen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Zweitens. Was die unverzügliche Novellierung des Teils III der TA Luft anbetrifft, die hier gefordert wird, sage ich: Die Arbeit ist seit Monaten im Gang und wird in relativ kurzer Zeit vorgelegt werden können.
Drittens. Wer die Einführung von bleifreiem Benzin in Europa fordert, findet den Bundesinnenminister an seiner Seite. Er hat die deutsche Automobilindustrie, von der alle Vorstandsvorsitzenden vertreten waren, und die deutsche Mineralölwirtschaft bei sich gehabt. Aber wer fordert, daß das notfalls auch im nationalen Alleingang geschehen müsse, der verkennt, daß Amerika ein Kontinent, Japan eine Insel, aber die Bundesrepublik Deutschland ein Durchgangsland ist. Das wäre gleichbedeutend mit dem Verbot von Auslandsreisen für bundesdeutsche Bürger.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

— Ja, natürlich, weil nämlich der Katalysator kaputtgeht, sobald Sie über die Grenze fahren.

(Erneuter Widerspruch bei der SPD — Dr. Hauff [SPD]: Uninformiert!)

Ich würde dringend empfehlen, daß die maximalen Forderungen, die in diesem Notprogramm enthalten sind, im Sinne eines Ausgleichs von Ökonomie und Ökologie noch einmal überdacht werden. Der Bundesinnenminister als Umweltminister hat mit den Änderungen, die der Bundesrat beschlossen hat, überhaupt keine Probleme. Die gesamtwirtschaftlichen Aspekte werden im Bundeskabinett neu zu beraten sein.
Ich sage auch ganz klar, gegenüber der Richtlinie, die wir 1981 bei der Europäischen Gemeinschaft eingereicht haben, für eine bessere Verbrennung in den Motoren ziehe ich die Regelung mit bleifreiem Benzin vor. Wenn ich Europa nicht auf einmal zu dieser Regelung bekomme, dann würde es auch genügen, wenn die wichtigsten europäischen Länder gemeinsam den ersten Schritt tun. Aber Deutschland allein kann es nicht. Das wäre unter keinem Gesichtspunkt vertretbar, unter keinem.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Zurufe von den GRÜNEN)

Ich darf hier sagen, daß wir in den allerletzten Tagen einen großen Erfolg erreicht haben, was die Versalzung des Rheins betrifft.

(Zurufe von der SPD: Entsalzung!)

— Was die Entsalzung des Rheins betrifft. „Versalzung" kann man auch sagen: Was die Änderung der Versalzung des Rheins betrifft, hat sich der deutsche Standpunkt uneingeschränkt durchgesetzt, daß eine französische Versenkung unter Inanspruchnahme deutschen Untergrundes nicht in Betracht kommt. Wir haben damit einen sehr lange anhaltenden und mit dem schwierigen Partner Frankreich nur sehr schwer behebbaren Streit endlich vom Tisch gebracht.



Bundesminister Dr. Zimmermann
Meine Damen und Herren, was den Wald betrifft, so wissen wir, daß eine Fülle von Ursachen für die Schädigung vorhanden ist. Ich habe genug Erlebnisse vor Ort. Ich habe selbst gesehen, welche Partien welcher Wälder und welcher Baumarten besonders gefährdet und zum Teil schon erheblich geschädigt sind. Wer sieht, mit welcher unglaublichen Schnelligkeit die Schädigungen im Schwarzwald, im Bayerischen Wald und anderswo innerhalb der letzten zwölf Monate sichtbar geworden sind, der weiß, daß hier mit kurzfristigen Maßnahmen allein nach jahrzehntelangen Versäumnissen, die man aber wohl auch nicht hat erkennen können, wie man gerechterweise sagen muß — —

(Lachen bei den GRÜNEN — Frau BeckOberdorf [GRÜNE] sowie weitere Zurufe von den GRÜNEN: Sie nicht!)

— Sie haben es vor drei Jahrzehnten schon erkannt?! Sie sehen auch so aus, als wenn Sie immer im Wald gelebt hätten, das ist richtig.

(Große Heiterkeit und Beifall bei der CDU/ CSU)

Ich bin vor 57 Jahren als Sohn eines Holzkaufmanns auf die Welt gekommen, der im Jahr 100 000 Festmeter Holz in deutschen und österreichischen Wäldern gekauft hat. Ich war seit frühester Jugend dabei. Mir braucht über Holz und Wald überhaupt niemand etwas zu erzählen. Das dürfen Sie mir glauben.

(Zuruf von den GRÜNEN: Dann müssen Sie es doch gemerkt haben?)

Ich freue mich, daß das Umweltbewußtsein ohne jeden Zweifel erheblich gewachsen ist. Ich denke dabei an eine ähnliche Gründung, wie sie Ministerpräsident Vogel in Rheinland-Pfalz vorgeschlagen hat, aber für das ganze Bundesgebiet, an ein Gemeinschaftswerk „Rettet den Wald", dessen Zielsetzung es sein sollte — —

(Zuruf)

— Wenn da jemand „jetzt" ruft, dann frage ich: Was ist in den letzten 13 Jahren seitens der Regierung zum Schutz des deutschen Waldes geschehen? Da ist doch alles auf dem Tisch liegengeblieben!

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD und von den GRÜNEN)

Die Zielsetzung dieses Gemeinschaftswerkes sollte es sein, den bei Bürgern und Umweltverbänden vorhandenen Sachverstand und das Engagement einzubringen, durch Aufklärung und Information zur Versachlichung der Diskussion beizutragen und auch aus dem privaten Bereich Mittel für Maßnahmen zur Bekämpfung des Waldsterbens beizubringen. Sie wissen, für die Bundesregierung gilt unverändert das Verursacherprinzip. Was wir wollen, ist, dem Bürger unmittelbar Gelegenheit zu geben, sich an dieser Rettung des deutschen Waldes aktiv zu beteiligen. Ich bin sicher, wir werden ein ganz großes Echo haben, ich bin sicher, daß wir viel Freiwilligkeit erwarten können, und ich bin sicher, daß wir auf diesem Wege viel mehr persönliches Engagement erreichen werden, als wenn wir Abgaben staatlich verordnen oder Waldpfennige einführen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben in diesem Jahr im letzten Umweltrat der Europäischen Gemeinschaft einen großen Erfolg gehabt. Wir haben in einer ganz kurzen Zeit, in einer Stunde, die Nordseekonferenz festgemacht — alle beteiligten Länder haben zugestimmt —, und wir werden auf dieser wichtigen Nordseekonferenz, die wir sorgfältig vorbereiten werden und die in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden wird, alle Probleme zu regeln versuchen, die die Verschmutzung der Nordsee mit sich bringt und die uns allen so große Sorgen bereiten.
Ein Wort noch zur Abfallwirtschaft. Wir haben eine Novellierung angeregt und sind sofort in Vorlage getreten. Wir haben bei den Ländern ein absolut offenes Ohr gefunden, und wir werden in allerkürzester Zeit auch das, was bis jetzt noch lückenhaft gewesen ist, nämlich Regelungen über Einfuhr und Transit des Giftmülls, durch diese Vorschaltnovelle in den Griff bekommen.
Mit dieser Novelle wird auch dafür gesorgt werden, daß die Abfalltransporte in Zukunft nur noch an ganz wenigen ausgesuchten Zollstellen abgefertigt werden und daß auch ein total wirksames Netz der Kontrolle existiert. Zwischen Bundesregierung und Landesregierungen besteht im wesentlichen jetzt schon — obwohl ich die Novelle erst vor wenigen Wochen auf den Weg gebracht habe — ein Einvernehmen über die Notwendigkeit eines baldigen Inkrafttretens dieser Neuregelung.
Meine Damen und Herren, ich will die Diskussion, die das Parlament mit Recht für sich beansprucht, nicht weiter aufhalten. Am Ende meiner Ausführungen möchte ich nur noch einmal versichern, daß Umweltschutz auch in dieser Legislaturperiode zu den absolut vorrangigen Aufgaben der Bundesregierung gehören wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000510400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schmude von der sozialdemokratischen Fraktion.

Dr. Jürgen Schmude (SPD):
Rede ID: ID1000510500
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben zur Kenntnis genommen, daß Sie, Herr Bundesinnenminister, in der Umweltpolitik die Beschlüsse, die wir in der sozialliberalen Regierung am 1. September 1982 gefaßt haben, auszuführen im Begriff sind und daß Sie die vorbereiteten Maßnahmen, wie wir sie vorgesehen haben, treffen. Offenbar hat in dem halben Jahr auch bei Ihnen das Umweltbewußtsein, über dessen Wachsen Sie sich hier eben so demonstrativ gefreut haben, deutlich zugenommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben 13 Jahre gebraucht!)

Wir begrüßen das.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Nach 13 Jahren!)

Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag. den 5. Mai 1983 223
Dr. Schmude
Daß Sie aber die Ausführung dieser vorbereiteten Arbeiten nun auch noch als einen großen Erfolg feiern und dies der Politik der sozialliberalen Regierungen entgegensetzen, überrascht uns, zumal es dabei nicht ohne Verschlechterungen abgegangen ist.

(Dr. Olderog [CDU/CSU]: Sie haben es in 13 Jahren nicht geschafft!)

Zu den Einzelheiten wird mein Kollege Harald Schäfer gleich noch Stellung nehmen. Ich möchte mich auf die beiden anderen Punkte Ihrer Ausführungen konzentrieren.
Ihren Einzug in das Bundesinnenministerium, Herr Dr. Zimmermann, und den Ihres Parlamentarischen Staatssekretärs Spranger haben viele, denen an innerer Liberalität und an der bis zum letzten Herbst erreichten Qualität unseres Rechtsstaates gelegen ist, mit Besorgnis und mit Befürchtungen begleitet. Sie wissen das. Diesen Betrachtern ist noch gut in Erinnerung, daß Sie beide stets in vorderster Front gestanden haben, wenn es um die Einschränkung von Bürgerrechten und um den Abbau der Freiheitlichkeit ging.

(Beifall bei der SPD — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Herr Kühbacher hat ihn doch erst noch gelobt!)

Wiederholt hat es gerade von Ihnen beiden harte Absichtserklärungen für eine besonders abrupte Wende in der Innen- und Rechtspolitik gegeben. Aus Ihrem Munde ist z. B. das skandalöse Verdammungsurteil über den früheren Bundesinnenminister Baum gekommen, er sei ein Sicherheitsrisiko.
Argwohn und Sorge erwecken nun aber auch weitere Äußerungen, z. B. aktuelle Äußerungen Ihres schon genannten politischen Stellvertreters, des Herrn Spranger. Antworten aus Ihrem Ministerium auf parlamentarische Anfragen haben ja mehr bestätigt als abgeschwächt, daß er in Erding Anfang 1983 tatsächlich gesagt hat: „Frieden und Freiheit sind auch im Innern wichtig, aber das in erster Linie für die Normalen, nicht für perverse Minderheiten, Terroristen, Verbrecher und Randgruppen." Bestürzen muß uns alle — und bestürzen müßte doch auch Sie — die Gleichsetzung von Verbrechern, Randgruppen und sogenannten perversen Minderheiten in dieser Aussage. Den Minderheiten und Randgruppen gilt wohl auch der Hauptangriff. Sie sollen in einer für das Rechtsempfinden und für den demokratischen Konsens zerstörerischen Weise ausgeklammert werden. Dieser Rückfall in Intoleranz und Diskriminierung von Schwächeren und Randgruppen ist eigentlich, Herr Bundesinnenminister, unfaßbar.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Er ist unfaßbar, nachdem wir alle doch in der Vergangenheit gelernt und akzeptiert haben, daß sich die Qualität des Rechts- und Sozialstaats gerade im Umgang mit seinen Minderheiten beweist.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Dr. Laufs [CDU/CSU]: Malen Sie keine Gespenster an die Wand!)

Wer diese Ansicht jetzt so drastisch verwirft, der zeigt eine Gesinnung, aus der schlimme Maßnahmen erwachsen können,

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Machen Sie es doch halblang! Das ist doch lächerlich!)

wenn sich nur die Lage dazu eignet. Er zeigt eine Grundhaltung, die in der Leitung eines Verfassungs- und Verfassungsschutzministeriums unerträglich ist.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Das war offenbar kein einmaliger Ausrutscher, denn in seiner Rede vor der Polizeiführungsakademie Ende März hat Herr Spranger — das ist von Ihrem Ministerium offiziell verbreitet worden — das jahrelange überzogene Betonen der Rechte bestimmter Minderheiten beklagt. Da frage ich Sie: Gegen wen geht das? Welche Minderheiten sind heute damit gemeint, und wer wird morgen zu ihnen gehören? Ich erwarte von Ihnen eine Klarstellung, ein Wort des Bedauerns zu diesen Äußerungen, Herr Bundesinnenminister.

(Beifall bei der SPD)

Solche Signale lassen aufhorchen. Sie bestärken die Ihnen gegenüber bestehenden Sorgen und Bedenken. Gern würden wir in dieser Lage, meine Damen und Herren von der FDP, die Wahrung und Verteidigung der Liberalität von Ihnen erwarten. Wir können es aber leider nicht. Über das Ausklammern und Verschieben von Vorhaben, die Freiheits-
und Bürgerrechte beeinträchtigen würden, reichen die Erfolge der FDP in der neuen Koalition nicht hinaus. Ihr Mißerfolg sitzt, verkörpert in der Person des jetzigen Bundesinnenministers, mit Ihnen zusammen in der Bundesregierung. Ihr Nachgeben in der Sache hat schon begonnen.
Die Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts, früher aus guten Gründen von Ihnen immer wieder abgelehnt, ist nun Bestandteil Ihres gemeinsamen Koalitionsprogramms. Die Abwehr der FDP beschränkt sich auf Nachhutscharmützel bei Landesparteitagen, wo man die Wende wohl noch nicht ganz begriffen hat. Dafür müssen sich Ihre Parteifreunde dann vom Bundesinnenministerium offiziell bescheinigen lassen, sie hätten einen Angriff gegen die gesamte Bundesregierung unternommen.

(Zuruf von der FDP: Gucken Sie einmal in Ihre eigene Partei hinein!)

Mit dem in der Koalitionsvereinbarung festgelegten Vorschlag zur Verschärfung des Landfriedensbruchparagraphen präsentieren Sie eine Strafdrohung mit abschreckender Breitenwirkung. Sie wissen durchaus, daß sie sehr leicht auch Unschuldige treffen kann. Eben deshalb wollen Sie Ausnahmen vorsehen und dem Richter die Möglichkeit des Strafverzichts eröffnen. Damit wird die Vorschrift aber vollends unpraktikabel, wird das Risiko für Demonstranten unabsehbar. Da frage ich Sie: Wollen Sie das? Soll jeder Bürger sich in Zukunft dreimal überlegen, ob er überhaupt von seinem Grundrecht auf Meinungskundgabe durch Demonstration



Dr. Schmude
Gebrauch macht? Wer gestern erlebt hat, wie der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung das Demonstrationsrecht unter dem Oberbegriff „Zunahme der Gewalt" abhandelte, der muß solche, wie ich sage: böse Absicht annehmen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Wer schreibt Ihnen so etwas auf?)

Sie geben damit die schlechteste Antwort auf die von Ihnen gefürchteten Demonstrationen im Zusammenhang mit der Ausführung des NATO-Doppelbeschlusses.
Wo es zuallererst darum geht, Vertrauen zu stärken und mit Argumenten Verständnis zu wecken, haben Sie dann eine Reaktion vorbereitet, bei der statt der politischen Auseinandersetzung der Einsatz polizeilicher Mittel im Vordergrund steht.
Sehr treffend schreibt dazu Helmut Kerscher in der „Süddeutschen Zeitung" am 26. April folgende Sätze:
Es müßte der neuen Regierung eigentlich peinlich sein, daß etwa die Gewerkschaft der Polizei einen „Substanzverlust an Rechtstaatlichkeit" befürchtet. Die Polizisten wissen, warum sie sich wehren: In einem vom Gesetzgeber total vereisten Klima zwischen Demonstranten und Staatsgewalt müssen die Polizisten nicht nur Knüppel, sondern auch ihre Köpfe hinhalten.
Das, Herr Bundesinnenminister, ist die Meinung der Polizei.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Nein, nur des Vorsitzenden der GdP! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Wenn Sie sich doch in Ihrer Koalitionsvereinbarung zu vielen anderen Punkten Ihres innenpolitischen Programms darauf verständigt haben, zunächst die Vorlage von Berichten abzuwarten, warum duldet denn nicht auch die Änderung des Demonstrationsstrafrechtes noch einigen Aufschub? Sie könnten damit zur Befriedigung der Auseinandersetzungen dieses Jahres wesentlich beitragen.

(Boroffka [CDU/CSU]: Das ist falsch!)

Kommt es nämlich nach einer Rechtsänderung zu Zusammenstößen, so werden die Betroffenen das nicht auf das geltende Recht, dessen Geltung doch akzeptiert ist, sondern auf die Rechtsänderung zurückführen und deren Qualität wirkungsvoll in Zweifel ziehen.
Ich appelliere deshalb ausdrücklich an Sie: Stellen Sie diesen Plan zur Strafrechtsverschärfung und -erweiterung zurück! Setzen Sie denen, die ihrer Sorge um die Erhaltung des Friedens durch Demonstrieren Ausdruck geben wollen,

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das ist eine unglaubliche Verknüpfung!)

nicht von vornherein als markantestes Zeichen Ihrer Haltung die Drohung mit dem polizeilichen Zugriff und der gerichtlichen Strafe entgegen.

(Beifall bei der SPD)

Der Datenschutz hat an Bedeutung für die Freiheit und die schutzbedürftige Privatsphäre des Bürgers ständig gewonnen. Diese Entwicklung wird weitergehen. Nach unserer Überzeugung ist als Antwort darauf eine Novellierung des Datenschutzgesetzes angebracht, die Lücken im Datenschutz schließt und aus den fünf Tätigkeitsberichten der Bundesbeauftragten Folgerungen zieht. Eine entsprechende Gesetzesinitiative werden wir alsbald ergreifen.
Auch die Koalition kündigt eine Novellierung des Datenschutzgesetzes an, die dem ersten Anschein nach eine Erweiterung und Verstärkung zum Ziele haben soll. Gleichzeitig werden immer — auch in der Regierungserklärung — die Belange der Sicherheit hervorgehoben und zum Datenschutz in Gegensatz gestellt. Was wird denn danach die wirkliche Tendenz der Gesetzesänderung sein? Schon heute ist die Sorge begründet, daß sie weniger der Erweiterung als vielmehr der Einschränkung des Datenschutzes dienen wird. Die Vorzeichen sind nämlich bedenklich genug.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Nun warten Sie mal ab!)

Der Parlamentarische Staatssekretär Spranger ist vor und nach dem Regierungswechsel nicht müde geworden, scharfe Angriffe gegen einen angeblich einseitigen und übertriebenen Datenschutz zu richten. In der Praxis — dort, wo Unionspolitiker die Verantwortung tragen — sind die Rechte einiger Datenschutzbeauftragter bereits auffällig beschränkt worden. Baden-Württemberg hält hier einen traurigen Spitzenplatz. Aber auch der Bund, auch Sie, Herr Bundesinnenminister, haben dem Bundesbeauftragten die Fortsetzung seiner Überprüfung des Bundesamtes für Verfassungsschutz im November 1982 durch Verweigerung der Akteneinsicht erschwert. Dem halte ich entgegen: Auch bei Sicherheitsbehörden darf es keinen kontrollfreien Bereich geben.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Die Freistellung von der Überprüfung durch die Datenschutzbeauftragten würde dem Vertrauen der Bürger in ihre Sicherheitsbehörden nicht dienen; sie müßte es schwächen.
Überhaupt gilt: Datenschutz und Sicherheit dürfen nicht als Gegensätze formuliert und gegeneinander in Stellung gebracht werden. Das würde beide schwächen und somit keinem der widerstreitenden Belange nützen.
Besonders bedenkliche Folgerungen müssen wir, Herr Bundesinnenminister, aus der Art Ihres Umgangs mit dem Bundesbeauftragten für Datenschutz, Professor Bull, und aus seiner von Ihnen beabsichtigten Ablösung ziehen. Herr Professor Bull war als Datenschutzbeauftragter kein bequemer Mann, auch zu unserer Regierungszeit nicht.



Dr. Schmude
Niemand aber kann ihm das Verdienst streitig machen, sein Amt gewissenhaft und kompetent wahrgenommen zu haben.

(Beifall bei der SPD)

Er hat damit Vertrauen auch in der Öffentlichkeit gefunden, ein Vertrauen, auf das z. B. Sie, Herr Bundesinnenminister, bei der Volkszählung gern zurückgegriffen haben.
Es ist somit ein Fall, auf den wirklich paßt, was der Standardkommentar zum Bundesdatenschutzgesetz von Ordemann-Schomerus zu § 17 über die Verlängerung der Amtszeit des Datenschutzbeauftragten mit den Worten ausführt:
Die Bundesregierung wird bei dieser Entscheidung nicht völlig frei sein. Sie kann einem Bundesbeauftragten, der sein Amt gewissenhaft im Interesse des Bürgers ausübt, der durch begründete Kritik Mißstände innerhalb der Bundesverwaltung aufgedeckt hat — kurz: einem unbequemen Kontrolleur —, nach fünf Jahren nicht die Wiederbestellung verweigern, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, sich eines Kritikers entledigen zu wollen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Genau diesen Vorwurf mache ich Ihnen, Herr Minister. Diese Personalentscheidung ist ein Programm. Der Datenschutz ist dabei der Verlierer.

(Beifall bei der SPD)

Wie Sie die Ablösung durchführen, verdient besondere Kritik. Die Amtszeit von Professor Bull ist längst abgelaufen. Schon drei Monate lassen Sie ihn geschäftsführend im Amt, ohne über die Nachfolge zu entscheiden. Einen Datenschutzbeauftragten zu bestellen ist Ihre gesetzliche Pflicht. Indem Sie sie vernachlässigen, schaffen Sie zusätzliche Unsicherheit und begründen Zweifel, ob es Ihnen mit dem Datenschutz überhaupt ernst ist.

(Beifall bei der SPD)

Aber kritikwürdige Personalentscheidungen sind ja bei Ihnen in letzter Zeit nicht auf den Einzelfall beschränkt. Auch wenn Sie geschickt vorgehen, fällt doch auf, wie aus wichtigen Positionen in Ihrem Geschäftsbereich vor allem solche Beamte ausscheiden, die der FDP angehören.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Gibt es da denn so viele?)

Wie Sie außerdem mit dem bisherigen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz umgegangen sind, hat bereits von anderer Stelle eine denkwürdige und ungewöhnliche Antwort gefunden. Der Empfang von Dr. Meier durch den Bundespräsidenten ist wohl mit Recht allgemein als Wiedergutmachungsaktion verstanden worden. Hier hat die menschliche Gesellschaft, die Sie so gern propagieren, durch den Bundespräsidenten eine Bestätigung gefunden, nicht durch Sie.

(Beifall bei der SPD)

Die Ablösung von Professor Bull bestärkt jedenfalls
unser Mißtrauen gegen Ihre Datenschutzpolitik.
Wir werden Ihre gesetzgeberischen Bemühungen und Ihre Verwaltungspraxis wachsam verfolgen und sind bereit, den Datenschutz ausdrücklich auch gegen denjenigen zu verteidigen, der ihn kraft Amts fördern und stärken sollte, nämlich gegen Sie, den Bundesinnenminister.
Der inneren Sicherheit, meine Damen und Herren, kann es nützen, wenn ihre grundsätzlichen Fragen von den Parteien übereinstimmend beantwortet werden, wenn ihre Probleme in Zusammenarbeit statt in Konfrontation gelöst werden. Die Chance zu einer solchen Zusammenarbeit zwischen Ihnen und uns kann ich bislang nicht erkennen. Wir würden uns zu ihr bereit finden, wenn Sie sich dazu verstehen könnten, die bis zum Oktober 1982 geltenden Grundlinien der Politik innerer Sicherheit und Liberalität fortzuführen. Beides — innere Sicherheit und Liberalität — läßt sich, wie wir bewiesen haben, gut miteinander vereinbaren, und der Rechtsstaat hat den Nutzen davon.
Uns ist es gelungen, mit dem Terrorismus der 70er Jahre fertig zu werden, ohne dabei die Freiheitlichkeit und Rechtsstaatlichkeit unseres Landes aufzugeben.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Das war der eigentliche, der wichtigste Sieg über den Terrorismus. Er wurde von der sozialliberalen Koalition in der Abwehr freiheitsbeschränkender und rechtsstaatlich bedenklicher Forderungen der CDU/CSU errungen.

(Lowack [CDU/CSU]: Reden Sie doch einmal zur Sache!)

Daß einige Erfolge unserer jahrelangen Fahndungsbemühungen in Ihre Regierungszeit gefallen sind, hätte Sie wirklich nicht verleiten sollen, sich diese Festnahmen als Verdienst anzurechnen.

(Beifall bei der SPD)

Bei Problemen und Lasten sind Sie nicht so hastig mit der Übernahme der Verantwortung, sondern Sie wollen sie am liebsten noch viele Jahre bei uns lassen.
Herr Bundesinnenminister, ich hätte von Ihnen heute eine Klarstellung zu jenem zweiten Thema, dem Sie sich zugewandt haben, dem der Ausländerpolitik, erwartet: Wie soll es nun mit der von Ihnen immer wieder geforderten Nachzugsbeschränkung für Ausländerkinder aussehen? Diese Klarstellung ist nicht gekommen. In Ihrem Koalitionsprogramm klammern Sie das aus. Sie lassen aber die Drohung im Raum stehen, eine Drohung, die Sie persönlich auch immer wieder erhoben und unterstützt haben — mit der für mich bestürzenden Begründung, eine solche Nachzugsbeschränkung entspräche christlicher Verantwortung.
Kommt Ihnen angesichts des Widerspruchs der Kirchen nicht zum Bewußtsein, daß Sie damit auf einem völlig falschen Weg sind? Wie, glauben Sie, wirkt es auf die andersgläubigen Betroffenen, wenn ihnen das Christentum als Grundlage einer Politik



Dr. Schmude
vorgestellt wird, die sieben- und neunjährige Kinder von ihren Familien getrennt hält?

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Dr. Zimmermann [CDU/ CSU]: Ihr Vorsitzender Brandt ist derselben Meinung wie ich!)

— Der SPD-Vorsitzende hat von Zweckmäßigkeit und Empfehlung gesprochen. Sie sprechen von Zwang. Das ist ein himmelweiter Unterschied.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Aber die Richtung ist die gleiche!)

Offenbar hat auch der Brief von Frau Funcke an den Bundeskanzler, diese Regierungsdebatte möge zur Klarstellung genutzt werden, überhaupt nichts gefruchtet. Sie haben ihn nicht beachtet.

(Beifall bei der SPD)

Zusammenfassend, um zum Schluß zu kommen: Weithin bleibt unklar, Herr Bundesinnenminister, wohin der Weg der Innenpolitik dieser Bundesregierung führen soll. Wo sich Klarheit abzeichnet, gibt sie uns zu Sorgen Anlaß. Uns ist das Ansporn, für weitere Klärung zu sorgen und Verschleierungsmanöver nicht zuzulassen. In diesem Sinn werden wir Ihren Weg wachsam verfolgen und dem Bürger deutliche Informationen durch die Herausstellung unserer Alternativen geben.
Dem Versuch, Gegenreformen durchzuführen, werden wir nach Kräften widerstehen. Wo sie trotzdem erfolgen, halten wir uns dann zur Wende bereit, aber zur Wende nach vorn.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000510600
Das Wort hat der Abgeordnete Fischer (Frankfurt) von der Fraktion DIE GRÜNEN.

Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1000510700
Als Waldläufer versteht man vom Wald, der kaputtgeht, zumindest mehr denn als Innenminister. Das wollte ich Ihnen nur einmal gesagt haben.

(Beifall bei den GRÜNEN — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU)

— Nun beruhigen Sie sich doch. Sie werden gleich Anlaß genug haben, auf Ihre üblich lärmende Art das Hohe Haus wieder zu erschüttern.
Herr Schmude, in vielem, was Sie gesagt haben, stimme ich mit Ihnen sozusagen in einem ersten Schritt überein. Allerdings muß ich sagen, wenn schon immer die 50er Jahre zitiert werden: Die Lage ist viel zu ernst, als daß man hier gemessen über den Austausch von Beamten und ähnliches sprechen sollte. Was der Herr Bundesinnenminister gemacht hat — er läßt keine Zwischenfragen der GRÜNEN zu; das ist gut so, denn dadurch macht er klar, wo wir stehen, wo er steht —, ist doch nichts anderes, als hier eine innerstaatliche Feinderklärung nach der anderen abzugeben. Das konnte man dann auch am Verhalten der verehrten Kollegen von der CDU/CSU gestern abend sehr gut beobachten.
Sie werfen uns vor, die Rede von Frau Kelly sei haßerfüllt gewesen. Wären Sie, Herr Innenminister, dagewesen, so hätten Sie jenes haßerfüllte Meuteverhalten gesehen, das gestern abend hier gegen Gert Bastian gezeigt wurde,

(Beifall bei den GRÜNEN)

dann hätten Sie gesehen, wie sich Herr Dregger die Tränen vor Gelächter aus den Augen gewischt hat, als es um tiefernste Fragen, um Megatonnen, um Tote, um Vernichtung ging. Dann reden Sie davon, wir seien haßerfüllt?!

(Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Sie leiden an Verfolgungswahn!)

Es tut mir leid. Wenn Sie hier ein solches Meuteverhalten an den Tag legen, dann müssen Sie sich das sagen lassen.
Noch etwas — ich finde es gut, daß es Herr Schmude angesprochen hat —: Der Parlamentarische Staatssekretär Spranger, „his master's voice", spricht von den „perversen Minderheiten", von „Terroristen", „Verbrechern" und „Randgruppen". Es ist weit gekommen, und es ist eine wirklich „liebe" Atmosphäre, die er da verbreitet, wenn ein Parlamentarischer Staatssekretär in der Bundesrepublik Deutschland 1983 nicht nur Unerhörtes sagt, sondern sich des Jargons des Reichssicherheitshauptamts wieder bedienen darf. Das scheint mir zu sein, was man hier unter Wende hinter all jenen schönen, tragenden Worten zu verstehen hat. Man ist angesichts von drohenden 3 Millionen Arbeitslosen offensichtlich wieder so weit, daß ein Beamter der Bundesregierung zu rassistischem Minderheitenhaß aufrufen kann.

(Zurufe von der CDU/CSU: Au!)

— Ja, genau das tun Sie.
Was ist denn eine „perverse Minderheit"? In welcher Tradition steckt das denn? Ihr Bundeskanzler, der so sehr auf Tradition steht, hätte es benennen sollen, in welcher Tradition Herr Spranger steht.
Herr Spranger muß sich vorwerfen lassen — das sollte man auch so sagen —, daß es bei ihm wohl mehr als eine nur geistige Nähe zum nationalsozialistischen Verbrechen gibt.

(Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Sie sind ja nicht ganz gescheit! — Lebhafter Widerspruch von der CDU/CSU)

— Es tut mir leid, es sind die Zuteilungskriterien für jene „perversen Minderheiten", für „Randgruppen", „Terroristen" und „Verbrecher", es sind jene Zuteilungskriterien, die im Dritten Reich dazu geführt haben, daß Leute eingesperrt wurden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1000510800
Herr Abgeordneter Fischer, Sie haben hier in einer Art und Weise zu Äußerungen eines Kollegen Stellung genommen, die nicht unseren Gebräuchen entspricht. Ich rufe Sie zur Ordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)





Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1000510900
Herr Präsident, ich bedanke mich. Dennoch mußte das einmal gesagt werden.

(Stratmann [GRÜNE]: Man muß hier doch die Wahrheit sagen können, Herr Präsident! — Zuruf von der CDU/CSU)

— Wenn Sie hier schon das Thema des Sturmführers ansprechen, dann will ich Ihnen sagen, daß nicht wir es hier sind, die mit kleinen Julius Streichern eine Wende herbeireden wollen. Das sage ich Ihnen. Nicht wir sind es, die in Wyhl davon reden, daß eine „grüne Hölle" existieren wird. Und wenn der Bundesminister meint, daß zu Unrecht von den Betroffenen, die dort gewaltfreien Widerstand leisten werden, davon geredet wird, daß Tote billigend in Kauf genommen werden, dann sage ich Ihnen: Lesen Sie doch einmal die Äußerungen der zuständigen Polizeioffiziere!
Das alles ist nur auf dem Hintergrund einer geistigen Feinderklärung möglich. Sie brauchen doch die Angst. Sie sind eine Regierung der Angst. Sie brauchen Minderheiten, aus denen letztendlich dann Verbrecher, Kriminelle, Verfassungsfeinde gemacht werden — —

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Natürlich! Schauen Sie ihn sich an! Hier steht er. Da wird dann auch geschossen.
Und daß es in Gauting einen Toten gab — —

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Üble Demagogie!)

— Üble Demagogie? Meine Herren, ich bin dabei, von Ihnen hier zu lernen. Das müssen Sie doch auch einmal akzeptieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sonst stellen Sie sich hier doch immer als die Besserwisser hin.

(Zuruf von der FDP: Sprechen Sie endlich einmal zur Sache!)

— Den Zuruf habe ich erwartet: Zur Sache! Die Sache ist die, daß hier über Ausländerpolitik geredet wurde. Man hört als erstes immer das Wort Integration. Schaut man einmal nach, was unter Integration verstanden wird, dann ist es meistens nur das eine: warme Worte.
Es wird keine einzige kostenwirksame Maßnahme ergriffen. Alles lastet letztendlich auf dem Rücken von Lehrern, deutschen und ausländischen Eltern und Kindern und, ich weiß, wovon ich rede; ich komme aus Frankfurt, und die Probleme dort haben sich sehr zugespitzt.
Liest man den Kommissionsbericht, den der Bundesinnenminister angesprochen hat, so kann man daraus nur eines herauslesen: Es geht allein um eine Verschärfung des Ausländerrechts, um nichts anderes.

(Lowack [CDU/CSU]: Bitte doch mal zur Sache kommen!)

Hier wird von Integration geschwätzt und das Ausländerrecht verschärft. Man will vor allen Dingen
unseren türkischen Landsleuten den Aufenthalt
hier so unmöglich wie möglich machen. Würde Vergleichbares mit deutschen Minderheiten gemacht, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, würden Sie es so bezeichnen, wie ich es hier bei unseren türkischen Landsleuten bezeichne: Das ist Vertreibung.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was Sie hier betreiben, ist nichts anderes als mit Sonntagsreden verbrämte Vertreibungspolitik.

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Jetzt hören Sie doch mal auf, mir dauernd vorzureden, was ich hier zu reden habe! Ich rede das, was ich will, solange ich hier das Rederecht habe.

(Austermann [CDU/CSU]: Sie sind nicht ganz bei Trost! — Jäger [Wangen] [CDU/ CSU]: Dümmliche Demagogie ist das! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Hätten Sie doch gestern Herrn Waigel zugehört! Er glaubt ja an die Verantwortung des Individuums vor Gott. Meine Herren, Sie machen sich da wirklich im Moment schwer schuldig, wenn Sie so weitermachen. Was heißt denn hier „dümmliche Demagogie"? Ich rede hier von einer Politik, die Sie hier betreiben. Ich sage es nochmals:

(Schwarz [CDU/CSU]: Sie haben keine Ahnung! Keine Ahnung!)

Es geht hier darum, den ausländischen Bevölkerungsanteil, vor allen Dingen den türkischen, zu reduzieren. Ihnen kommen dabei vor allen Dingen polizeirechtliche und ausländerrechtliche Maßnahmen zupaß.

(Schwarz [CDU/CSU]: Immer schlimmer! Widerlich!)

Ich möchte auf ein zweites Problem zu sprechen kommen, auf den zweiten Sündenbock der konservativen Erneuerung. Auch ihn möchte ich hier etwas würdigen. Diesen zweiten Sündenbock nennt man Wyhl, nennt man Startbahn West.
Man wirft uns vor, wir seien Verfassungsfeinde. Ihrem Verfassungsverständnis nach mag das ja so sein. Aber wenn Sie, meine Damen und Herren, vom staatlichen Gewaltmonopol reden, kann einem angst werden. Das klingt selbst in der seltsam moderierten Form von Herrn Zimmermann dann nur noch gewalttätig.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Sie können einem leid tun!)

Lassen Sie mich eines hier zitieren: ... und wenn wir hinkommen — so ein Mitglied der CSU —
und räumen so auf, daß bis zum Rest dieses Jahrhunderts keiner ... es mehr wagt, in Deutschland das Maul aufzumachen.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Selbst wenn wir es nicht ganz halten können; aber den Eindruck müssen wir verkörpern.

(Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Armes Deutschland!)




Fischer (Frankfurt)

— Ja: so der bayerische Ministerpräsident und Ihr großer Wendemeister Franz Josef Strauß in seiner berüchtigten Sonthofener Rede.
Schon einmal wurde in Deutschland mit dieser Aufräummentalität alles ruiniert. Aber diesmal, dessen können Sie versichert sein, wird es so nicht gehen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Wir schützen auch Sie noch!)

Immerhin machen Sie kräftigen Eindruck und erschöpfen sich innenpolitisch in der Primitivität, die Sie auch hier demonstrieren, von Draufhauen, Einsperren und Erfassen.
Aber glauben Sie mir: Den Widerstand gegen Ihre reaktionäre Wenderei werden Sie mit noch so viel Polizei, mit noch so vielen Spitzeln und Datenbänken nicht brechen. Weder Berufsverbote noch verschärfte Demonstrationsgesetze werden die Friedensbewegung und die Bürgerbewegung unterdrükken,

(Zuruf des Abg. Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU])

wie etwa die gegen das Kernkraftwerk Wyhl oder auch die gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen.
Und lassen Sie mich hier die Gelegenheit nutzen, unter Ihrem großen Beifall

(Lachen bei der CDU/CSU)

mich hier im Deutschen Bundestag ausdrücklich zu deren Widerstand zu bekennen und sie aufzufordern, sich nicht entmutigen zu lassen, vor allen Dingen im Herbst nicht.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Keine Angst!)

Wir haben schon viele Niederlagen erlitten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Selbstmitleid!)

Aber wie unsere Anwesenheit im Bundestag beweist, vermögen wir auch eine Menge wegzustekken. Gerade die breite Bewegung gegen das regierungsamtliche Volksverhör, gegen die Volkszählung, welches mittlerweile selbst am Verfassungsgericht zu scheitern droht, zeigt, daß man den herrschenden Wende- und Erfassungsmanövern nicht wehrlos ausgesetzt ist.

(Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Das ist ja köstlich! Der hat j a einen Einschlag ins Humoristische!)

— Leider sind Sie hier oben einfach nicht zu verstehen.
Hier liegt unserer Meinung nach die große innenpolitische Bedrohung der nächsten Jahre. Unter der „Wende" versteht man vor allen Dingen den Abmarsch in einen schleichend sich durchsetzenden Erfassungsstaat.

(Zustimmung bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

Diese Regierung will den „gläsernen Bürger". Der
Herr Bundesinnenminister hat j a mit seinem Verweis auf das neue Bundespersonalausweisgesetz den ersten und entscheidenen Schritt dahin schon benannt.
Eine Ihrer gefährlichsten Platitüden heißt da: Sicherheit geht vor Datenschutz. Das meint nichts anderes als: Totalerfassung geht vor Freiheit. Nun, meine Damen und Herren, Herr Zimmermann und vor allen Dingen Herr Spranger und die verehrten sicherheitsfanatisierten Damen und Herren von der Union,

(Lachen bei der CDU/CSU)

Ihnen sei gesagt, daß Sie diese Wende zum Polizeirechtsstaat nicht ohne Widerstand durchsetzen werden.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Eine große Rede! — Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Sie sind ein Schmuckstück, Sie Frankfurter! Sie sollten öfter zur Belustigung des Hauses beitragen! — Daß wir diese Stunde erleben dürfen!)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000511000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Miltner.

Dr. Karl Miltner (CDU):
Rede ID: ID1000511100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch in dieser Debatte zur Regierungserklärung ist deutlich geworden, wie auf dem Felde der Innen- und Umweltpolitik das Parlament gefordert ist. Die Bürger wissen nämlich, daß ein freiheitlicher, sozialer Rechtsstaat dauerhaft nur auf der Grundlage des sozialen Friedens bestehen kann, daß innere Sicherheit die Voraussetzung auch für stabile wirtschaftliche Verhältnisse ist. Der freiheitliche Staat braucht hierzu das Vertrauen seiner Bürger, das Vertrauen in die ordnende Kraft des Staates, in die Leistungskraft seiner Institutionen und auch in die Verläßlichkeit seiner Entscheidungen.
Die Geschichte, die wir heute vormittag zu Beginn unserer Sitzung beschworen haben, hat uns gelehrt, daß Freiheit ohne Sicherheit gegenüber den Feinden der Freiheit schließlich zum Ende der Freiheit führen muß.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: So ist es!)

Wir wissen aber ebenso, daß es absolute Sicherheit nicht gibt, daß es Freiheit ohne Risiko nicht gibt, daß die Freiheit sich stets auch im Risiko behaupten muß. Daher lehrt uns die Geschichte auch, daß wir unserem freiheitlichen Staat gegenüber politischen Extremisten verteidigen müssen.
Im Zuge dieser grundsätzlichen Debatte um die Regierungserklärung erscheint es mir wichtig, auch wieder darauf hinzuweisen, wie sich die Situation der Bundesrepublik Deutschland von der befreundeter freiheitlicher Nachbarstaaten unterscheidet. Auf deutschem Boden existiert ein zweiter deutscher Staat, der nach Prinzipien handelt und organisiert ist, die unseren freiheitlichen demokratischen Prinzipien des Grundgesetzes entgegenstehen.



Dr. Miltner
Wenn man die einzelnen Kräfte des politischen Extremismus von rechts und links in der Bundesrepublik einschätzt, dann darf man eben nicht übersehen, daß z. B. die DKP von Ost-Berlin und Moskau gelenkt, geleitet und finanziert wird. Schon zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland hat Kurt Schumacher von der damaligen KPD gesagt, sie sei keine deutsche Partei auf deutschem Boden, sondern eine fremde Staatspartei innerhalb unseres Landes.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Daher empfinde ich es als äußerst bedenklich und bedauerlich, daß diese damalige Einschätzung in der SPD heute anscheinend nicht mehr oder nicht mehr so viel gilt.

(Zuruf des Abg. Schäfer [Offenburg] [SPD])

Sonst hätten Sie doch nicht die Ostermärsche mitgemacht, die doch von kommunistisch gelenkten Organisationen organisiert worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich einmal wiedergeben, was der Vorsitzende der DKP dazu in der Presse erklärt hat. In der kommunistischen Presse wurde die neue Qualität dieses Vorganges besonders herausgestellt, nachdem es nunmehr auch stärker als im vergangenen Jahr bei den Ostermärschen zu Aktionseinheiten von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern gekommen ist. Noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik könne daher die Deutsche Kommunistische Partei auf eine so erfolgreiche Bündnispolitik zurückgreifen.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Ich meine, daß die SPD heute meilenweit von ihren früheren Parteivorstandsbeschlüssen entfernt ist, welche die Unvereinbarkeit solchen gemeinsamen Handelns vorgeschrieben haben; denn wenn Extremisten keine Chance haben sollen, dürfen wir ihnen auch heute keine Gelegenheit geben, Einfluß zu gewinnen.

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000511200
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Weisskirchen?

Dr. Karl Miltner (CDU):
Rede ID: ID1000511300
Bitte schön.

Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1000511400
Herr Kollege Miltner, wie würden Sie denn, nachdem Sie jetzt die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland so eindeutig zum Kommunismus hin orientiert haben, beispielsweise die amerikanischen katholischen Bischöfe einordnen, etwa auch als von Moskau gelenkt?

(Beifall bei der SPD — Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Alles Kommunisten!)


Dr. Karl Miltner (CDU):
Rede ID: ID1000511500
Wenn Sie genau zugehört hätten, hätten Sie feststellen können, daß ich von der Organisation der Ostermärsche gesprochen habe. Ich weiß genau, daß eine große Mehrheit dieser Friedensmarschierer nicht zu den Kommunisten zu zählen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein Wort noch zu den Ausführungen von Herrn Schmude: Herr Kollege Schmude, Ihre persönlichen Angriffe gegen Staatssekretär Spranger bauen auf unzutreffenden Wahlkampfattacken auf.

(Dr. Schmude [SPD]: Ich habe ihn authentisch zitiert!)

Schon mehrfach sind diese Behauptungen als falsch zurückgewiesen worden.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Nennen Sie mal ein Beispiel!)

Ich möchte Ihnen das jetzt ganz ernsthaft ans Herz legen.

(Abg. Dr. Schmude [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Noch ein Wort dazu, Herr Schmude — dann können Sie etwas sagen —: Sie haben den Fall Meier hier angesprochen; Sie sind vielleicht in einem Punkt nicht ganz orientiert. Der Herr Bundespräsident hat auf Veranlassung des Herrn Bundesinnenministers den Herrn Präsidenten Meier empfangen.

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000511600
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schmude?

Dr. Karl Miltner (CDU):
Rede ID: ID1000511700
Bitte schön.

Dr. Jürgen Schmude (SPD):
Rede ID: ID1000511800
Herr Kollege Miltner, könnten Sie mir mit einem Hinweis helfen, wo ich das klare Dementi der Äußerungen von Herrn Spranger finden kann, nachdem mehr als vier Anfragen aus meiner Fraktion das Innenministerium, vertreten durch Herrn Waffenschmidt, nur veranlaßt haben, zu sagen, Herr Spranger habe sich da allgemein für Demokratie und Recht ausgesprochen, aber kein einziges Dementi von dort gekommen ist?

(Beifall bei der SPD)

Wo finde ich das, bitte?

Dr. Karl Miltner (CDU):
Rede ID: ID1000511900
Ich kann Ihnen nur so viel sagen, daß sein Kollege, Parlamentarischer Staatssekretär Waffenschmidt, diese Behauptungen eindeutig zurückgewiesen hat.

(Hoffmann [Saarbrücken] [SPD]: Sie kneifen!)

Mir ist noch ein Wort von Herrn Schmude aufgefallen, der hier behauptet hat, wir seien mit dem Terrorismus schon fertig geworden. Ich glaube, niemand hier im Hause kann so kühn sein, das zu behaupten. Sie sollten sich auf diesem Gebiet etwas sachkundiger machen, Herr Kollege.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Nun noch ein Wort zu dem Herrn Kollegen Fischer. Zu seiner Rede kann ich nur sagen: In der Sache, Innen- und Umweltpolitik, kann ich Ihnen



Dr. Miltner
nicht antworten, weil Sie nicht zur Sache gesprochen haben. Ihre Rede richtet sich eigentlich selbst.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben von den Äußerungen meiner Kollegen in bezug auf das Auftreten von Herrn Bastian bei seiner ersten Rede hier gesprochen: Ich glaube, viele in unserem Land wundern sich, daß sich Herr Bastian, der vor einiger Zeit noch stolz durch das Kasernentor geschritten ist und die Soldaten hat strammstehen lassen, jetzt vor einer militärischen Anlage wegtragen läßt.

(Frau Kelly [GRÜNE]: Zivilcourage heißt das!)

Herr Bastian, da wundern sich viele in unserem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Bundeskanzler hat sich bereits in seiner ersten Regierungserklärung für eine menschliche Ausländerpolitik ausgesprochen. Die Zielpunkte der Ausländerpolitik liegen fest: Integration, Anwerbestopp, Rückkehrerleichterungen, Begrenzung des Familiennachzugs und schließlich die Verhinderung des Mißbrauchs des Asylrechts. In den vergangenen Monaten hat es eine lebhafte Diskussion um die Begrenzung des Familiennachzugs gegeben. Sinn und Zweck einer solchen Begrenzung des Familiennachzugs kann es aber ja nur sein, zu verhindern, daß heranwachsende Jugendliche nach ihrem Nachzug nicht mehr in der Lage sind, einen beruflichen Anschluß zu finden. Mit anderen Worten: Wir dürfen sie nicht offen in die Arbeitslosigkeit hineinlaufen lassen.
Der Deutsche Städtetag hat darum in seiner Entschließung vom 13. April dieses Jahres, einer Entschließung an den 10. Deutschen Bundestag, den Vorrang der Integration in der Koalitionsvereinbarung begrüßt und dabei auch festgestellt, daß ältere Kinder, die ohne jede Vorbereitung in die Bundesrepublik kommen, hier keine Integrationschancen haben und ihre Einreise daher auch kaum zu verantworten sei. Allein um das geht es hier. Ich glaube, man muß doch einsehen, daß hier etwas getan werden muß, damit diese Jugendlichen, wenn sie herkommen, auch tatsächlich mit ihren Familien und später im Beruf eine Chance haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wird jetzt darauf ankommen, daß der Bericht der Kommission Ausländerpolitik und seine maßgebenden Vorschläge entsprechend ausgewertet werden, wobei für uns in der CDU/CSU klar ist: Wer auf Dauer mit seiner Familie hier leben will, dem soll der Weg der Einbürgerung offenstehen; wer jedoch keine volle Integration in der Bundesrepublik anstrebt, von dem erwarten wir, daß er nach einer bestimmten Zeit auch wieder in sein Heimatland zurückkehrt.
Meine Damen und Herren, ein weiteres Kapitel der Innenpolitik besteht in dem Schutz der Privatsphäre und der individuellen Freiheit des Bürgers in bezug auf seine persönlichen Daten. Wer sieht nicht die Gefahr, die dem einzelnen, seiner Privatsphäre, drohen können, wenn allmächtige Apparate und Bürokratien jeden einzelnen Lebensumstand erfassen könnten? Wir halten daher den Schutz personenbezogener Daten vor einem unkontrollierten Zugriff moderner Datenverarbeitungstechniken natürlich für unverzichtbar. Es kommt also nicht nur darauf an, bereits bestehende Datenschutzregelungen konsequent anzuwenden, es kommt auch vielmehr darauf an, die bestehenden Regelungen den neuen technologischen Entwicklungen und Möglichkeiten der modernen Informationstechnik anzupassen.
Daher wird sich auch die Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes auf diesem Gebiet bewegen müssen. Es ist selbstverständlich, daß der Einsatz elektronischer Hilfsmittel in der Verwaltung in der Zukunft mehr und mehr stattfinden wird. Wir müssen uns daher mehr denn je damit beschäftigen, wie dies einmal Karl Steinbuch ausgeführt hat, eine Philosophie der Informationsgesellschaft zu entwickeln, z. B. welche informationellen Rechte und Pflichten der einzelne hat und welche der Staat hat. Wie ist das Recht des einzelnen im Verhältnis zur rationellen Verwaltung abzuwägen? In der Zwischenzeit haben wir ja ein Bundesdatenschutzgesetz, das sich im großen und ganzen bewährt hat, in den Ländern einzelne Landesdatenschutzgesetze und darüber hinaus eine Fülle von sogenannten bereichsspezifischen Datenschutzregelungen in zahlreichen Einzelgesetzen. Ich meine, daß es in Zukunft darauf ankommt, das Datenschutzrecht in der Bundesrepublik übersichtlich zu erhalten und zu gestalten und seine Ausuferungen in zu viele einzelne Regelungen zu verhindern, damit endlich auch der Bürger von der Gesetzesmaterie her in der Lage ist, auf diesem Gebiet seine Rechte wahrzunehmen.
Nun, meine Damen und Herren, zum Umweltschutz. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung den Stellenwert des Umweltschutzes in unserer Politik deutlich herausgestellt. Im Gegensatz zu früheren Regierungserklärungen lassen wir es allerdings nicht bei der Erklärung guter Absichten und Ankündigungen bewenden. Die in den letzten Monaten von der Regierung Kohl und von Bundesinnenminister Dr. Zimmermann eingeleiteten energischen Maßnahmen gegen eine zunehmende Luftverschmutzung beweisen Tatkraft und Entschlossenheit.
Wir alle sind daher aufgerufen, als gemeinsame Aufgabe weiterhin den Umweltschutz zu betreiben und die Grenzen des Ökosystems zu erkennen.
Ich meine auch, wir müssen das Vorsorgeprinzip neben dem Verursacherprinzip und dem Kooperationsprinzip in Zukunft ernster nehmen und es generell zum Tragen bringen. Die in den letzten 20 Jahren als notwendig, aber auch als ausreichend akzeptierte Entlastung z. B. der Ballungsräume und der Industriestandorte von Luftverschmutzung reicht offenkundig nicht aus. In fast allen Fällen von Belastung der Luft, des Wassers oder des Bodens mit Schadstoffen hat es sich gezeigt, daß einfache Verdünnung, gleichmäßigere Verteilung von



Dr. Miltner
Schadstoffen den Eintritt von Schäden dauerhaft nicht verhindern konnten.
Wir sollten uns daher im klaren sein, daß wir gerade im Zusammenhang mit dem Waldsterben einer kochentwickelten Wissenschaft und Technik bedürfen. Wenn wir wirksame Entschwefelung, Entstaubung, Reduzierung der Stickoxide und Zurückhaltung der Schwermetalle erreichen wollen, brauchen wir eine Weiterentwicklung der Technik auf diesem Gebiet.
Die in der Umweltszene oft gehegte, aber auch gepflegte Atmosphäre und Abneigung gegen die Technik

(Zuruf von den GRÜNEN: Das ist doch gar nicht wahr!)

hat ein Kollege aus Bayern, der CSU-Landtagsabgeordnete Glück, jüngst in seiner Broschüre zu recht als töricht und selbstmörderisch bezeichnet.

(Zurufe von den GRÜNEN)

Ich bin mit ihm der Meinung, wir brauchen viele qualifizierte Wissenschaftler in unserem Land, um eine möglichst naturverträgliche Technik zu entwickeln. Wirksame Umweltpoltik darf nicht länger als Fortschrittsbremse diffamiert werden. Der Umweltschutz muß als Wegweiser zu einer tatsächlichen, modernen Zivilisation betrachtet werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch ein Wort zum öffentlichen Dienst und zur Ausuferung des Staatsapparates sagen, die wir stoppen müssen. Es gilt, unsere Kreativität nicht nur auf die Entwicklung der uns neu gestellten Aufgaben zu richten, sondern auch den Abbau von Aufgaben zu betreiben. Wir bitten daher die Bundesregierung, die in der Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1982 getroffene Absprache, nämlich Initiativen zur Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung zu ergreifen, nunmehr auch zu verfolgen.
Ein Wort zu den Kritikern des öffentlichen Dienstes. Sie verkennen sehr oft, daß auf dem Weg des Anspruchsdenkens und der Gefälligkeitspolitik die verantwortlichen Politiker den Karren des Staates mit immer mehr Gesetzen und Verordnungen, Aufträgen und Aufgaben vollgepackt hatten. Vielfach wird der Beamte, der die Gesetze ausführen muß, in die Kritik an der Politik mit einbezogen.

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000512000
Herr Abgeordneter, ich bitte, zum Schluß zu kommen. Die Redezeit ist überschritten.

Dr. Karl Miltner (CDU):
Rede ID: ID1000512100
Danke schön. — Wenn unser Staat und unsere Gesellschaft die schwierigen Zeiten heute und morgen überstehen will, brauchen wir ein funktionierendes Berufsbeamtentum, brauchen wir pflichtbewußte Angehörige des öffentlichen Dienstes. Wir von der CDU/CSU werden dem öffentlichen Dienst, dem Berufsbeamtentum unsere ganze Sorge widmen, damit dieser Staat durch seine Beamtenschaft, durch einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst auch die schwierigen Aufgaben der Zukunft meistern kann. — Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei der FDP)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000512200
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1000512300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht leicht für Liberale,

(Beifall bei der SPD)

wenn auf vielen Gebieten der Politik Bekenntnisse in Mode kommen, wo Vernunft sich mühen müßte. Ich werde mich aber ganz streng an Matthäus 12, Vers 36 halten. Ich bitte wegen der knappen Zeit, das selbst nachzuschlagen.
Ich möchte damit beginnen, innerhalb der Koalition das Angebot der Zusammenarbeit zu erneuern. Eine Koalition ist kein fortgesetzter Crash-Test zur Erprobung der gegenseitigen Belastbarkeit. Wir wiederholen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarung bei Achtung der gegenseitigen, auch gegensätzlichen Grundüberzeugungen. Herr Kollege Schmude, die Notwendigkeit von Kompromissen sollte ein Demokrat nicht in Frage stellen.
Wir haben auch den Wunsch nach einem unpolemischen und sachlichen Verhältnis zur Opposition, insbesondere zur SPD, einem Verhältnis, das unserer früheren langen Zusammenarbeit würdig ist und dem gemeinsamen Interesse entspricht, im Bereich der verfassungsmäßigen Grundfreiheiten und bei den Problemen der inneren Sicherheit nicht zu polarisieren, sondern eine möglichst breite Zusammenarbeit zwischen allen Fraktionen des Hauses anzustreben.

(Beifall bei der FDP)

Unser Ziel bleibt die Erhaltung — ich sage: Erhaltung — eines nicht nur demokratischen, sondern auch liberalen Staates, der nicht ein möglichst allumfassender Dienstleistungsstaat sein soll, sondern der sich auf seine Hauptaufgaben besinnen muß, nämlich den äußeren und inneren Frieden zu wahren, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten, der Eigeninitiative Raum zu schaffen, aber gleichwohl keinen Mitmenschen fallenzulassen, der in Not ist, ein Staat, der keine Minderheiten ausgrenzt, auch nicht in verbalen Leichtfertigkeiten im Rahmen eines Wahlkampfes. Ich meine, daß der Kollege, der Abgeordnete Spranger es sich nicht nehmen lassen sollte, selber hier ein klärendes Wort zu sagen.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Wir wollen einen Staat, der Macht ausüben kann, aber nicht auf dieser Fähigkeit beruht; der sich nicht darin erschöpft, Strafe anzudrohen, sondern der die Mitwirkung des Bürgers will und ihn gewinnen will. Wir haben ja gerade in dieser Frage eine Lektion erhalten beim Volkszählungsgesetz. Dabei ist es mir, Herr Waigel — ich sehe ihn nicht im Haus —, vollkommen gleichgültig, wer dieses Ge-



Dr. Hirsch
setz und seine Durchführung zu vertreten hat. Es reicht eben nicht, sich auf die besänftigende Kraft der Androhung einer hohen Geldbuße zu verlassen, sondern man muß das Vertrauen des Bürgers erwerben.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Er will den Sinn staatlicher Maßnahmen begreifen, nicht blind gehorchen, und er hat einen Anspruch darauf, vor allem wenn es um seinen privaten und ihn persönlich berührenden Bereich geht.

(Beifall bei der FDP)

Wenn die Mehrheit versäumt, um die Anerkennung ihrer Entscheidungen durch die Minderheit zu werben, dann wird eben die Minderheit dem Staat entfremdet. Dann brechen der demokratische und der parlamentarische Prozeß ab. Die Minderheit wird sich zuerst an die Richter und dann an die öffentlichen Emotionen wenden.
Die Regierungserklärung bekräftigt erneut die Ablehnung jeder Gewalt. Das ist uneingeschränkt zu bejahen, aber es reicht für sich allein nicht aus, wenn man nicht gleichzeitig erkennt, daß auch die Ausübung staatlicher Gewalt Ausübung von Gewalt ist und fast immer ein Zeichen dafür ist, daß politische Fehler gemacht worden sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Möglichkeiten einer Polizei — und dabei stimme ich dem Innenminister zu — in einem demokratischen Staat, auf politische Überzeugungen einzuwirken, sind denkbar gering. Die Notwendigkeit ihres Einsatzes deckt soziale oder politische Spannungen auf, beseitigt aber nicht ihre Ursachen. Sie kann staatliche Ordnung aufrechterhalten, aber nicht die Überzeugung schaffen, daß politische Entscheidungen und Zustände gerecht oder vernünftig sind.
Die Berufung auf den „gewaltfreien Widerstand" verschleiert mit dem Pathos der Wehrlosigkeit den Entschluß, die demokratischen Mehrheiten nicht zu akzeptieren, und vor allem verschleiert sie den Verzicht auf Toleranz.

(Zuruf von den GRÜNEN)

Ich sage das, weil nach unserer Überzeugung und nach unserer Verfassung auch die gewaltfreie friedliche Demonstration zu den Mitteln der politischen Auseinandersetzung gehört und weil darum das Demonstrationsrecht ungeschmälert erhalten bleiben muß.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Aber es wird in Gefahr gebracht, wenn die Grenze zur Gewalt schwimmend und unklar wird und wenn man dazu beiträgt, daß Demonstration und Gewaltausübung verwechselt werden oder verwechselbar gemacht werden.
Die Regelung, die wir in diesem Bereich suchen, heißt: erstens das Demonstrationsrecht uneingeschränkt erhalten, zweitens die Anwendung von
Gewalt wirksam verhindern und drittens jede Eskalation vermeiden.

(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

Zum klassischen liberalen Rechtsstaat gehört auch das Recht auf Privatheit. Seine Bewahrung ist keine Selbstverständlichkeit mehr, wenn man feststellt, daß in Nordrhein-Westfalen allein im Landes- und kommunalen Bereich 20 000 Dateien geführt werden, keine Selbstverständlichkeit, wenn man die Berichte der Datenschutzbeauftragten und deren Sorge um die Erhaltung des Datenschutzes zur Kenntnis nimmt.
Es ist wichtig, den Datenschutz auszubauen, nicht nur im Gesundheitsbereich. Ich nenne die Auskunftsrechte, die ständigen Anschlüsse, die Rechtsstellung der Datenschutzbeauftragten, den Bereich der neuen Medien und das Problem der Personalinformationssysteme. Ich denke, daß der Entwurf, der Mitte vorigen Jahres im Bundesinnenministerium j a bereit lag, eine hervorragende Grundlage für eine parlamentarische Behandlung dieser Probleme darstellen würde.

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000512400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schröder?

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1000512500
Ich bitte, mich nicht in Versuchung zu führen, weil die Redezeit läuft, aber gut, eine Frage. Bitte sehr, Herr Kollege!

Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1000512600
Ich habe nur die Frage, ob Ihre Prämissen nicht auf dem Boden des geltenden Demonstrationsstrafrechts erfüllbar sind, und wenn j a, warum Sie dann für eine Änderung plädieren.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1000512700
Wir werden zweifellos auch die Frage zu prüfen haben, wieweit das geltende Recht in diesem Bereich ausgeschöpft worden ist. Aber wir werden, wenn das Demonstrationsrecht nicht in seinem Kern gefährdet werden soll, nicht zögern dürfen, dafür zu sorgen, daß die Ausübung von Gewalt wirksam verhindert wird, weil sie eben nicht mehr zum demokratischen Stil der Auseinandersetzung gehört.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU — Zurufe von der SPD: Windelweich!)

Ich habe auch persönlich keine Achtung vor denen, die meinen, ihr Gesicht verbergen zu müssen, wenn es um das Demonstrieren, um das „demonstrare", um das Bekennen politischer Überzeugungen geht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Weitere Zurufe von der SPD)

Ich möchte zum Datenschutz zurückkehren und meinen besonderen Dank dem Bundesdatenschutzbeauftragten, Professor Bull, für seine hervorragende Arbeit aussprechen.

(Beifall bei der FDP und der SPD)




Dr. Hirsch
Es ist schon erstaunlich, welche Verknüpfungen man in diesem Bereich zur Kenntnis nehmen muß — Baden-Württemberg ist in der Tat mehrfach erwähnt worden —, auch beim Problem der Amtshilfe, wenn man erfährt, daß Hunderttausende von Hotelmeldescheinen dem Verfassungsschutz übergeben worden sind. Hier stellt sich die Frage nach der polizeilichen Aufgabenstellung des Verfassungsschutzes. Das ist der Punkt, über den wir reden müssen. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herrn Maier, für seine unbestreitbaren Verdienste um die innere Sicherheit unseres Staates, einem Präsidenten, der solchen Versuchungen nicht zum Opfer gefallen ist.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Zum Umgang mit Minderheiten gehört an hervorragender Stelle auch die Ausländerpolitik. Ich will mich hier auf einen Satz beschränken und möchte mit aller Entschiedenheit feststellen, daß der Bericht der Kommission „Ausländerpolitik" kein vollziehbares Ergebnis darstellt, sondern eine Dokumentation sehr streitiger Meinungen innerhalb der Kommission und unverändert sehr streitiger politischer Positionen ist.
Wir schulden den Ausländern Klarheit über unsere Integrationsabsichten. Auch im Interesse der deutschen Bevölkerung können wir nicht daran vorbei, den Ausländern, die lange Jahre ihres Lebens hier sind — fast die Hälfte wohnt hier über zehn Jahre —, ein wirksames Aufenthaltsrecht anzubieten und die Grundfragen der Familienzusammenführung nicht von humanitären Grundsätzen zu lösen, nicht die Kinder von ihren Eltern zu trennen. Mein besonderer Dank gilt hier nicht nur den Kirchen, sondern auch der Ausländerbeauftragten, Frau Funcke.

(Beifall bei der FDP)

Das Asylrecht ist bisher nur in der Weise negativ erwähnt worden, daß Mißbrauch zu vermeiden sei. Das ist wahr. Wir haben in der Bundesrepublik in 20 Jahren ganzen 42 000 Menschen Asylrecht gewährt. Das sollte uns dazu bringen, diese Diskussion mit etwas größerer Gelassenheit zu führen.

(Beifall bei der FDP)

Der dritte Bereich, den ich ansprechen muß, ist die Erhaltung unserer natürlichen Umwelt. Hier gilt mein besonderer Dank dem Staatssekretär Hartkopf.

(Beifall bei der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Umweltschutz hat Verfassungsrang, und es ist unstreitig, daß der Gedanke, Umweltschutz müsse sich lohnen, eine tragfähige Grundlage darstellt, wenn man ihn ernst nimmt, und zwar nicht nur im Bereich des Waldsterbens. Hier hat Kollege Professor Rumpf schon vor zwei Jahren den Gedanken des Waldpfennigs eingeführt. Wir haben im vergangenen Jahr ein Sofortprogramm mit einer Waldabgabe, die ich für eine wirksame Maßnahme halte, vorgeschlagen.
Es geht nicht nur um den Wald, es geht darum, zu erkennen, daß Umweltschutz internationalen Rang bekommen hat. Es geht darum, zu fordern, daß Probleme des Umweltschutzes auf dem Weltwirtschaftsgipfel gleichrangig mit Fragen monetärer Probleme oder der Freizügigkeit des Handelsverkehrs behandelt werden. Da gehören Fragen des Umweltschutzes ebenso hin, wie wir uns nicht die Berufung auf Europa leicht machen dürfen und in den alten Satz zurückfallen dürfen, als ob Europa ein Geleitzug ist, bei dem sich die Geschwindigkeit des Umweltschutzes nach dem langsamsten Schiff richten müßte.

(Beifall bei der FDP und der SPD) Das kann nicht gutgehen.

Die Frage der Reinhaltung von Autoabgasen erschöpft sich nicht im bleifreien Benzin. Da gibt es auch noch andere Möglichkeiten.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Beim Abwasserabgabengesetz gibt es einen Weg, Umweltschutz in das System der Marktwirtschaft einzuführen. Hier wären wir dem Innenminister außerordentlich dankbar, wenn der Bericht seines Hauses über die Erfahrungen mit dem Abwasserabgabengesetz dem Innenausschuß möglichst bald zugeleitet würde und wenn wir gemeinsam allen Versuchen der Verwässerung dieses Gesetzes entgegentreten würden.
Aber auch in diesem Bereich werden wir ohne die Eigenverantwortung jedes einzelnen Bürgers nicht auskommen. Ich denke an die Formulierung Walter Scheels, daß es nicht angeht, wenn in einer Gesellschaft die Wissenschaftler für alles Erforschbare, die Techniker für alles Machbare, die Wirtschaftler für alles Verkaufbare und nur die Politiker für die Verantwortung zuständig sind. Wenn wir die Probleme unserer Gesellschaft lösen wollen und wenn wir sie vor allem als freie Bürger lösen wollen, dann wird jeder selbst die Verantwortung aufbringen müssen, nicht schlicht auf den Staat zu warten, sondern in seinem Bereich alles zu tun, was notwendig ist, und bereit zu sein, das zu tun.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000512800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer (Offenburg).

Harald B. Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1000512900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der Politik stehen oft — darauf ist verwiesen worden — Personen für politische Inhalte und für Programme. Es war mehr als eine personalpolitische Entscheidung, als Sie, Herr Bundesinnenminister, unmittelbar nach Ihrem Regierungsantritt den vormaligen Abteilungsleiter für Grundsatzfragen in der Umweltpolitik, Herrn Menke-Glückert, in dem Ihnen eigenen rüden Stil im Umgang mit Andersdenkenden entlassen haben.

(Zustimmung bei der SPD)

Es war Programm. Nunmehr hat Herr Staatssekretär Hartkopf um seinen Abschied gebeten. Mit
Herrn Hartkopf geht der umweltpolitische Kopf



Schäfer (Offenburg)

dieser Bundesregierung. Herr Hartkopf hat über zehn Jahre hinweg loyal, fachkundig, kompetent, zuverlässig, zielgerichtet gearbeitet. Ohne Übertreibung kann man — ich denke, über Fraktionsgrenzen hinweg — sagen: Günter Hartkopf hat sich um den Umweltschutz in der Bundesrepublik verdient gemacht. Dafür wollen wir Sozialdemokraten uns zu Beginn der Legislaturperiode bei Herrn Hartkopf bedanken.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ing. Kansy [CDU/CSU]: Beifall des Abgeordneten Zimmermann!)

Wir Sozialdemokraten haben in unserem Wahlprogramm die umweltpolitischen Notwendigkeiten umfassend dargestellt. Das Wahlprogramm ist für uns Grundlage, Richtschnur unserer Arbeit in dieser Wahlperiode, auch in der Umweltpolitik. Umweltpolitik gilt dabei für uns umfassend, alle Politikbereiche übergreifend, nicht nur, Herr Bundesinnenminister, für den engen Bereich der klassischen ressortbezogenen Umweltpolitik. Wir werden Umwelt-, besser: Ökologiepolitik, verstärkt zum Maßstab für andere Politikbereiche machen. Für uns ist Umweltpolitik — um ein Wort von Horst Stern aufzugreifen — Wesensgehalt aller Bereiche der Politik.
Für uns Sozialdemokraten beginnt dabei wirksame, stärker am Ökologiegedanken ausgerichtete Umweltpolitik nicht erst heute. Gesetze wie das Benzin-Blei-Gesetz, das Abfallbeseitigungsgesetz, das Bundesimmissionsschutzgesetz, die Vierte Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz, das Abwasserabgabengesetz, das Bundesnaturschutzgesetz — um nur einige Beispiele zu nennen — sind Belege dafür. Wir haben noch nicht ganz vergessen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, daß wir Sozialdemokraten, als wir 1961 — 1961! — die Forderung nach dem „blauen Himmel über der Ruhr" zur zentralen Wahlkampfaussage machten, von Ihnen mit der Bemerkung quittiert worden sind, wir würden das Blaue vom Himmel versprechen.
Trotz der beachtlichen Leistungen der sozialliberalen Umweltpolitik, vor allem bis 1980, besteht kein Anlaß zur Selbstzufriedenheit. In vielen Bereichen hat sich die Umweltsituation dramatisch verschlechtert. Manche Probleme — darauf ist hingewiesen worden —, z. B. das Waldsterben, sind zu spät erkannt, manche Maßnahmen sind nur halbherzig oder überhaupt nicht in Angriff genommen worden. Das hat übrigens auch die sozialliberale Koalition so gesehen. Die Beschlüsse des Bundeskabinetts vom 1. September 1982, „Bilanz und Perspektiven der Umweltpolitik", zeigen dies.
An Umweltbekenntnissen fehlt es auch diesem Hause nicht. Im Grunde kann man darüber nur froh sein. Worauf es nun ankommt, ist, die umweltpolitischen Aussagen vor allem derjenigen auf den Prüfstand zu bringen, die nunmehr Regierungsverantwortung tragen. Wir wollen dies, Herr Bundesinnenminister, an einigen Beispielen Ihrer politischen Arbeit tun. Sie fahren, Herr Bundesinnenminister, umweltpolitisch eine Doppelstrategie. In Sonntagsreden geben Sie mitunter programmatisch
Richtiges von sich. Ihr Handeln hält Ihren rhetorischen Ansprüchen nicht stand.

(Beifall bei der SPD — Dr. Zimmermann [CDU/CSU]: Beispiele!)

— Ich bringe gleich Beispiele, verehrter Herr Bundesinnenminister. Etwas mehr Geduld und Gelassenheit täte dem Verfassungsminister mitunter gut.
Sie fahren umweltpolitisch eine Doppelstrategie. In Sonntagsreden geben Sie, ich wiederhole es, mitunter programmatisch Richtiges von sich. Die Wirklichkeit hält dem nicht stand. In der Wirtschaftspolitik setzen Sie ausschließlich auf undifferenziertes wirtschaftliches Wachstum. Bei Ihnen verselbständigt sich das ökonomische Prinzip. Ökologie und Umweltschutz kommen dabei fast zwangsläufig unter die Räder.
Nun zu einigen Beispielen. Beispiel Waldsterben. Über das beängstigende Ausmaß der Waldschäden ist genug gesagt worden. Es ist auch übereinstimmende Auffassung, jedenfalls den Reden nach, daß sofortiges Handeln geboten ist. Sie, Herr Bundesinnenminister, lassen sich von Ihren Parteigängern für zwei Einzelmaßnahmen als großer Umweltpolitiker abfeiern: für die Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft und für die Großfeuerungsanlagen-Verordnung.
Mit der Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft haben Sie übernommen, was Sie bei der Regierungsübernahme von uns beschlußreif vorgefunden haben.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: In der Schublade!)

Mit dem von Ihnen vorgelegten Entwurf einer Großfeuerungsanlagen-Verordnung bleiben Sie hinter dem umweltpolitisch Gebotenen, dem technisch Machbaren, dem rechtlich Möglichen und dem wirtschaftlich Vertretbaren weit zurück.

(Beifall bei der SPD — Dr. Zimmermann [CDU/CSU]: Fragen Sie Ministerpräsident Rau! Lesen Sie das Protokoll des Bundesrats!)

— Herr Bundesminister, genau dies habe ich getan.

(Dr. Zimmermann [CDU/CSU]: Aber nichts davon behalten!)

Die über 100 Änderungsanträge zu dem von Ihnen vorgelegten Entwurf einer GroßfeuerungsanlagenVerordnung beweisen exakt das, was ich ausgesagt habe. Der Hauptverschmutzer, was die Schwefelemissionen angeht, nämlich die Altanlagen, wird durch die vorgesehenen Maßnahmen der Großfeuerungsanlagen-Verordnung nicht rasch und nicht wirksam genug erfaßt.
Sie, Herr Bundesinnenminister, beschwören immer wieder — ich zitiere — „den Einsatz marktwirtschaftlich wirkender Instrumente für den Umweltschutz". Das ist Ihre Rhetorik. In der politischen Wirklichkeit verhalten Sie sich anders. So haben es z. B. die CDU/CSU-regierten Länder in den Ausschüssen des Bundesrats bezeichnenderweise abge-



Schäfer (Offenburg)

lehnt, den Gesetzentwurf des Landes Hessen, das Schwefelabgabegesetz ernsthaft und zügig im Zusammenhang mit der Großfeuerungsanlagen-Verordnung auch nur zu beraten. Sie lehnten eine gesetzliche Regelung ab, die sowohl marktwirtschaftlichen Grundsätzen entspricht als auch — was wichtiger ist — wirksam an den Altanlagen, den Hauptübeltätern für die Luftverschmutzung, ansetzt.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Genau nicht! Das Prinzip: Wer zahlt, darf verschmutzen!)

Dasselbe gilt für die Einführung eines Waldpfennigs, den Sie gerade dieser Tage etwas oberflächlich abgetan haben.

(Dr. Zimmermann [CDU/CSU]: Die radikalsten Maßnahmen haben Bayern und Baden-Württemberg empfohlen!)

Sie bleiben also bislang bei einer, wenn auch wichtigen, Einzelmaßnahme stehen.
Ich will einen weiteren Beleg bringen. Sie, Herr Bundesinnenminister, behaupten in einem Interview vom 22. April 1983, also aus diesen Tagen — ich zitiere —:
Die vorrangige Bekämpfung des Baumsterbens ist zuerst ein Problem von Forschung und Technik.
Sie fahren fort:
Wenn wir genau wissen, was die Ursachen der Waldschäden sind, werden wir konkrete Maßnahmen einleiten.
Wir halten dem entgegen: Wenn wir so lange warten wollten, ist der Wald tot. Wir müssen jetzt handeln, auch wenn wir nicht alle Ursachen für das Waldsterben exakt kennen. Der begründete Verdacht, Herr Bundesinnenminister, einer möglichen Schadensursache zwingt uns, nach dem Motto „im Zweifel für die Umwelt" zu handeln.

(Beifall bei der SPD)

Dies gilt auch für andere Bereiche der Politik, wo wir nicht exakt alle Ursachen kennen können.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf des Abg. Broll [CDU/CSU])

Oder, Herr Bundesinnenminister, wollen Sie etwa mit dem Vorlegen von Forschungs- und Züchtungsergebnissen so lange warten, bis der aberwitzige Vorschlag des Herrn Bundesforschungsministers Riesenhuber sich realisieren läßt, der ja bekanntlich als besonders pikante Variante im Kampf gegen das Waldsterben das Züchten schwefelresistenter Bäume vorgeschlagen hat?

(Heiterkeit bei der SPD)

Ich sehe schon die nächste Stufe solcher absurden Überlegungen: Das wäre das Züchten schwefelresistenter Menschen, meine Damen, meine Herren von der CDU/CSU.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Wir entschwefeln, und Sie schwafeln nur! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Ich will noch ein weiteres Beispiel bringen, das zu Recht Zweifel an der Glaubwürdigkeit aufkommen läßt, ob sie von der CDU/CSU es mit dem Kampf gegen das Waldsterben ernst meinen. Im Bundesrat sprach Ihr Staatssekretär Waffenschmidt am 29. April folgenden Satz — ich bitte das zu bedenken und es sich durch den Kopf gehen zu lassen —:
Zuviel Verschärfungen auf einmal würden den Betreibern wahrscheinlich Anlaß geben, die Verordnungen durch eine Flut von Verwaltungsprozeßen zu unterlaufen.
Das muß man sich durch den Kopf gehen lassen: Da, wo es darauf ankommt, wo es Ihre Aufgabe, Ihre Pflicht ist, die notwendigen Grenzwerte durchzusetzen, laden Sie die Betreiber nachgerade dazu ein, über den Prozeßweg die Werte zu unterlaufen.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist das Zimmermannsche Rechtsbewußtsein!)

Ihre Aufgabe wäre es, die entsprechenden Werte rechtsverbindlich und gerichtsfest festzulegen. Wir haben in unserem Notprogramm gegen das Waldsterben entsprechende Novellierungen des BundesImmissionsschutzgesetzes vorgeschlagen, durch die das erkennbar gewordene Risiko ausgeschlossen wird.
Ich will ein weiteres Beispiel nennen für das Auseinanderklaffen von Rhetorik und praktischem Handeln, wenn es um Ihre Politik, Ihre Auffassungen geht, Herr Bundesinnenminister. Wie schreiben Sie, wie reden Sie? Ich zitiere:
Die Gefährdung des Bodens u. a. durch Flächenverbrauch verlangt eine umfassende Schutzkonzeption.
Wir teilen diese Auffassung. Doch wie verhält es sich in der Wirklichkeit mit Ihrer Politik, Herr Bundesinnenminister? Bundesverkehrsminister Dollinger kündet lauthals an, er wolle bis zum Jahre 1990 3 000 km Autobahn neu bauen. Ich frage Sie, Herr Bundesinnenminister Zimmermann: Wie verträgt sich diese Ankündigung mit Ihrer umfassenden Schutzkonzeption, um den Flächenverbrauch zu verringern?

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Überhaupt nicht!)

Wo bleibt Ihr Widerstand, wo bleibt Ihr Protest?

(Dr. Zimmermann [CDU/CSU]: Wir brauchen in Niederbayern noch Autobahnen! Fragen Sie Ihre Parteifreunde!)

— Eben. Mit dieser Auffassung machen Sie deutlich, daß Ihnen tatsächlich an Umweltschutz nicht gelegen ist,

(Dr. Zimmermann [CDU/CSU]: Bei uns ist 13 Jahre nichts gebaut worden!)

daß Sie bei der Fortschreibung der veralteten Politik vergangener Jahre bleiben, daß Ihnen zusätzliche 3 000 km Autobahn wichtiger sind als der



Schäfer (Offenburg)

Schutz der Natur, als das Eindämmen weiteren Flächenverbrauches.

(Beifall bei der SPD — Dr. Zimmermann [CDU/CSU]: 15 000 arbeiten in Dingolfing!)

Lippenbekenntnisse, Herr Bundesinnenminister. Ich bedanke mich für die Klarstellung,

(Dr. Zimmermann [CDU/CSU]: Ein purer Demagoge sind Sie, sonst nichts!)

die Sie eben gegeben haben. Lippenbekenntnisse. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, verehrter Herr Bundesinnenminister.

(Beifall bei der SPD)

Das gleiche gilt übrigens — wenn Sie von Umweltpolitik sprechen, müssen Sie es wissen, auch wenn Sie erst relativ neu im Amt sind — für den Bereich der Landwirtschaft. Ich habe keine Silbe davon gehört — auch eben nicht, Herr Bundesinnenminister —, daß Sie die Landwirtschaftsklausel im Bundesnaturschutzgesetz revidieren wollen. Ihnen müßte doch bekannt sein, daß die alte Gleichung, landwirtschaftliche Tätigkeit sei stets umweltverträglich, heute nicht mehr aufgeht. Wir wissen doch alle um die Problematik der Grundwasserverseuchung durch überhöhten Nitratgehalt. Wir wissen doch, daß hier eine Zeitbombe tickt, was die Trinkwasserversorgung angeht. Wo bleibt dazu, Herr Bundesinnenminister, ein Wort des Umweltministers, der von der ökologischen Vorsorge als Grundlage seiner Politik spricht?

(Beifall bei der SPD)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000513000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Nickels?

Harald B. Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1000513100
Nein, tut mir leid. Ich bin etwas im Zeitdruck. Bei nächster Gelegenheit gerne.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Noch einmal, Herr Bundesinnenminister: Wo bleibt hier Ihre umweltpolitische Aussage? Wo ist Ihre Stimme als Umweltminister, wenn es darum geht — ich sage es noch einmal —, Grundwasserverseuchung, Trinkwassergefährdung durch Überdüngung durch die Landwirtschaft zu bekämpfen? Sonntagsreden — Zimmermann umweltpolitisch groß; in der Alltagspolitik steht er ziemlich bloß da.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Es ist eine Binsenweisheit, daß Umweltschutz nicht an nationalen Grenzen haltmachen darf. Wirksamer Umweltschutz muß deshalb auch international organisiert und durchgesetzt werden. Das darf freilich nicht bedeuten, Herr Zimmermann, notwendige nationale Maßnahmen zu unterlassen, die Notwendigkeit internationalen Vorgehens als Alibi für nationales Nichtstun zu benutzen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Exakt mit denselben Argumenten, mit denen Sie sich eben gegen einen nationalen Alleingang zur verstärkten Abgasreinigung bei Kraftfahrzeugen
ausgesprochen haben, haben wir uns 1972 und 1974 bei der Novellierung des Benzin-Blei-Gesetzes auseinanderzusetzen gehabt. Dann muß man sich auch einmal mit Mächtigen dieser Gesellschaft anlegen. Wirksamer Umweltschutz setzt Konfliktbereitschaft voraus, verehrter Herr Bundesinnenminister.

(Beifall bei der SPD)

Schöne Reden allein machen Ihre Umweltpolitik und Sie als Umweltpolitiker nicht schöner.

(Erneuter Beifall bei der SPD)

Sie haben angekündigt, Herr Bundesinnenminster, daß Sie die EG-Präsidentschaft nutzen würden, um Umweltpolitik innerhalb der EG wirksam voranzubringen. Wir unterstützen Sie dabei. Wir unterstützen Sie in Ihrer Ankündigung, beim nächsten EG-Gipfel in Stuttgart die längst überfällige Umweltverträglichkeits-Richtlinie im Rat zu verabschieden. Wir unterstützen Sie darin, die Richtlinie zur Luftreinhaltepolitik im Rat zu verabschieden. Sie können sich bei der Verwirklichung Ihrer Absicht ausdrücklich auf das ganze Haus, wie ich glaube, in den Verhandlungen stützen. Wir werden Sie allerdings dann daran messen, ob es auch in diesem Fall bei bloßer Ankündigung geblieben ist oder ob Sie, Herr Bundesinnenminister, auch das Durchsetzungsvermögen haben, das notwendig ist, wenn Umweltschutz Wirklichkeit werden soll.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Sozialdemokraten haben als erste und einzige Fraktion ein Notprogramm gegen das Waldsterben eingebracht.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Es enthält konkrete Einzelmaßnahmen. Wir fordern Sie, Herr Bundesinnenminister, hier im Bundestag auf, diese Forderungen zu übernehmen. Wir bieten Ihnen bei der Umsetzung und Durchsetzung der einzelnen Maßnahmen unsere Unterstützung an.
Wir werden in dieser Wahlperiode unsere umweltpolitischen Vorstellungen in parlamentarische Initiativen umsetzen. Wir werden die Regierung dort kritisieren, wo sie es verdient. Wir werden dort mit Ihnen gemeinsam (zur FDP) — das gilt insonderheit für Sie, Herr Hirsch und Herr Baum — und mit Ihnen (zu den GRÜNEN) für eine bessere Umweltpolitik streiten, wo es von der Sache her geboten ist.
Was bislang, Herr Bundesinnenminister, die Wirklichkeit Ihrer Umweltpolitik — nicht Ihre Reden — auszeichnet, erfüllt uns und viele Bürger mit Sorgen. Unsere Umwelt hat eine solche Umweltpolitik, einen solchen Umweltminister jedenfalls nicht verdient.

(Beifall bei der SPD — Dr. Laufs [CDU/ CSU]: Sie sind ein Witzbold!)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000513200
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Ehmke (Ettlingen).

Dr. Wolfgang Ehmke (GRÜNE):
Rede ID: ID1000513300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und



Dr. Ehmke (Ettlingen)

Freunde! Ursprünglich hatte ich die Absicht, in meiner Erwiderung auf den umweltpolitischen Teil der Regierungserklärung zunächst die verbalen Ähnlichkeiten zu erwähnen, die es zwischen Ihnen und uns bei den ganz allgemeinen Zielen der Erhaltung unserer Umwelt gibt. Ich hatte, wie gesagt, diese Absicht.
Die Regierungserklärung hat diese Ähnlichkeiten nicht deutlich gemacht. Alle, die die zunehmende Umweltbelastung in unserem Land ernst nehmen, müssen erschüttert und empört sein über den geringen Stellenwert und die Mißachtung, die Sie den unübersehbaren ökologischen Problemen zukommen lassen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es ist nicht nur so, daß für die Umweltbelange noch weniger als ein klägliches Vierzigstel der Redezeit des Herrn Bundeskanzlers, der jetzt nicht anwesend ist, übrigblieb, sondern man muß obendrein feststellen, daß das Grün in seiner Regierungserklärung nicht mehr ist als Petersilie im Schweinskopf.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nach wie vor betrachten Sie den Umweltschutz als Reparaturbetrieb für die ökologischen Folgen, die bedauerlicherweise in einem expansiven Wirtschaftssystem nicht zu vermeiden seien; ich spreche im Konjunktiv. Ich zitiere die Regierungserklärung: Nur der Einsatz von Technik kann die Folgen moderner Technik beseitigen.
Unser Verständnis von einer ökologischen und sozialen Politik, die von der Verantwortung gegenüber der Nachwelt gekennzeichnet sein muß, unterscheidet sich jedoch ganz grundlegend von Ihrem Natur- und Umweltverständnis,

(Zuruf von der CDU/CSU: Zurück zum Neandertaler!)

weil Sie entweder nur einen konservativen Naturschutz propagieren oder ein bloß technisches Verständnis von Umweltschutz haben.
Wir meinen, eine Umweltvorsorge ohne Wenn und Aber ist nur möglich, wenn wir auf die vorhin erwähnte Wirtschaftsform ökologischer Art hinarbeiten, mit der der Kollege Stoltenberg offensichtlich gewissen Probleme hat

(Zuruf von der CDU/CSU: Den Pflug wieder selber ziehen, j a?)

und in der ökologisch verträgliche Produktionsverfahren zur Herstellung sinnvoller Produkte an menschlichen und menschengemäßen Arbeitsplätzen die Norm darstellen. Erst dann befinden sich Wirtschaft und Umwelt im Einklang. Davon war in der Regierungserklärung allerdings nichts zu hören.
Die Beschränktheit und auch Doppelzüngigkeit Ihrer Umweltpolitik zeigt sich besonders deutlich am Beispiel des Waldsterbens. Eigentlich verniedlicht der Begriff Waldsterben das Problem sogar noch, weil nach langjährigen gesicherten Erkenntnissen nicht nur Waldbäume, sondern weitere Wild- und Kulturpflanzen, Tiere und nicht zuletzt der Mensch selber in vielfältiger Weise durch Luftschadstoffe in ihrer Gesundheit bedroht werden. Unsere Forstleute sind nur die ersten, die die Negativfolgen der etablierten Katastrophenpolitik besonders schmerzlich zu spüren bekommen, und ich muß Sie fragen, Herr Landwirtschaftsminister Kiechle, ob Sie, wenn Sie von Landsberg nach Kempten zu Ihrem Hof fahren, jetzt nicht auch links und rechts die Fichten sterben sehen.
Nun überbieten sich die etablierten Parteien gegenseitig beim Vorschlagen von Sofortmaßnahmen, wobei auch die SPD eine inkonsequente Haltung an dieser Stelle einnimmt, wenn ich die Äußerungen von Herrn Ministerpräsident Rau im Bundesrat am letzten Freitag mit dem vergleiche, was Sie mit Ihrem Notprogramm vorgeschlagen haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Natürlich sind Sofortmaßnahmen nötig, um das Waldsterben zu stoppen. Da sind wir einer Meinung. Dafür reichen aber die bisher bekannten Regelungen der Großfeuerungsanlagen-Verordnung und der Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft bei weitem nicht aus — trotz allem Zweckoptimismus des Bundesministers.
Ich kann hier nur zwei Kritikpunkte aus unserem Programm gegen das Waldsterben herausgreifen. Zum einen ist es die völlig sinnentstellte Definition der Altanlagen, die noch viele Jahre lang ihren Dreck in die Umgebung blasen können. Besonders kraß ist das Beispiel des Kraftwerks Buschhaus bei Helmstedt, das gerade erst in Bau ging, wo man also durchaus die technischen Möglichkeiten hätte, die modernste Filtertechnik einzubauen, das aber als Altanlage gilt, weil schon ein Bescheid vorlag, und deshalb nach Inbetriebnahme bis zu 18 t Schwefeldioxyd pro Stunde — das entspricht ca. 150 000 t im Jahr — in die Umgebung blasen kann. Und da reden Sie hier von vorsorgeorientierter Luftreinhaltepolitik! Das ist doch der helle Wahnsinn.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zum andern enthält die neue TA Luft neben zahlreichen weiteren Schwachstellen, die ich jetzt wegen der Kürze der Zeit nicht aufführen kann, Immissionswerte u. a. bezüglich Schwefeldioxyd, die mindestens das Fünffache dessen betragen, was eine der wichtigsten süddeutschen Baumarten, nämlich die Tanne, überhaupt auf Dauer ertragen kann. Wir halten deshalb diese TA Luft für einen ganz klaren Verstoß gegen Geist und Buchstaben des Bundes-Immissionsschutzgesetzes.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Und wer trotz des Vorliegens entsprechender im-missionsökologischer Erkenntnisse eine solche Vorschrift erläßt, handelt wissentlich und muß den Vorwurf akzeptieren, daß er den Wald vorsätzlich sterben läßt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich kann auch den Kollegen Waigel an dieser Stelle nicht verstehen, wenn er von politischem Humor spricht, wenn jemand hier verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Immissionsschutzrecht allgemein äußert.



Dr. Ehmke (Ettlingen)

Aber auch wenn man die erforderlichen Sofortmaßnahmen konsequent ansetzen würde, wären damit die wahren Ursachen des Waldsterbens nicht nachhaltig genug beseitigt. Dazu ist eine grundsätzliche Änderung der Luftreinhalte-, der Verkehrs- und der Energiepolitik erforderlich. In diesem Zusammenhang ist ja in der Presse jetzt auch zu lesen, daß die Mittel für die Bundesbahn zusammengestrichen und um etwa eine Milliarde DM jährlich gekürzt werden sollen. Dies halten wir für den Todesschuß für das umweltfreundliche Verkehrsmittel Bahn.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dafür sind Sie bereit, Herr Minister Dollinger, den Straßenbau zu forcieren.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Das ist genau die falsche Maßnahme zur falschen Zeit.
Die Schadstoffbelastung kann langfristig nur dadurch abgebaut werden, daß Energie gespart, umgewandelte Energie besser ausgenutzt oder erneuerbare Energiequellen wie Sonne, Boden- und Wasserwärme, Wasser- und Windkraft sowie die Bioenergie eingesetzt werden. Nicht höherer Energieverbrauch, sondern bessere Energienutzung ist der billigste, sicherste, umweltfreundlichste und schnellste Weg, um Schadstoffe zu vermindern, aber auch um unsere Ressourcen zu schonen und mehr Arbeitsplätze zu schaffen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Deshalb müssen wir gerade im Zeichen einer zukunftsorientierten Umweltpolitik ein grundsätzlich neues Energiekonzept verwirklichen. Daß allerdings Sie von der Koalition bzw. auch Teile der SPD — ich denke besonders an die Gewerkschaft IG Bergbau und Energie — dazu imstande wären, wage ich auf Grund Ihrer Interessenverfilzung mit Energiewirtschaft und Großindustrie mit Fug und Recht zu bezweifeln.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Auch die in diesem Zusammenhang von interessierten Kreisen als Heilmittel angepriesenen Atomkraftwerke stellen sich bei näherer Betrachtung als klare Scheinalternativen heraus. Abgesehen von den grundsätzlichen Ablehnungsgründen — ungeklärte Entsorgung, Unwirtschaftlichkeit, Zwang zum Sicherheitsstaat usw. — ist ein Ersatz der vorhandenen Kohle- und Ölkraftwerke durch Atomstrom weder finanziell machbar noch zeitlich so realisierbar, daß damit unser Wald überhaupt noch zu retten wäre. Außerdem würde es zu unübersehbaren Verschiebungen und Zusammenbrüchen auf dem Energie- und Arbeitsmarkt kommen, wenn konventionelle Kraftwerke in größerem Umfang durch Atomkraftwerke ersetzt würden. Ein verantwortungsbewußter Energiepolitiker schlägt nicht der Hydra den Kopf ab, aus dem sieben neue wachsen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, auch beim eigentlichen Naturschutz kann aufgezeigt werden, daß allein mit einem noch so guten Naturschutzgesetz, das hier eben so gelobt wurde, unsere bedrohten Pflanzen, Tiere, unsere Gewässer, Böden und unser Klima, also unsere ganze Heimat und unsere Umwelt, nicht gerettet werden können. Es gibt z. B. keinen Quadratkilometer in der Bundesrepublik, der frei von Umweltgiften wäre. Die Gehalte an PCB in Pflanzen und Wildtieren, um nur eine hochtoxische Substanz zu nennen, steigen weiter an.
Das wahnwitzige Fernstraßenbauprogramm des Bundesverkehrsministers soll weitere Landschaften und Biotope zerschneiden und die Restflächen mit Schadstoffen und Lärm ökologisch abtöten. Dagegen kein Wort zur Abschaffung der Landwirtschaftsklausel, kein Wort zur Einführung der Verbandsklage, kein Wort zum weitergehenden Pflanzen- und Tierartensterben und kein Wort zur längst überfälligen Umweltverträglichkeitsprüfung und Technologiefolgenabschätzung!
Dies zeigt, meine Damen und Herren, daß nicht nur die bisherigen Gesetzesinstrumente verbessert werden müssen, sondern daß darüber hinaus ein ganz anderer Umgang mit Natur, eine andere, sozial und ökologisch angepaßte weiche Technik, Industrie und Wissenschaft und auch eine andere Verwaltungsstruktur zu fördern sind, um eine gesamtheitliche Bewahrung der Natur und Umwelt zu gewährleisten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Den ersten konkreten Schritt — das mag vielleicht unangenehm sein, aber es ist wahr —

(Lachen bei der CDU/CSU)

in dieser Richtung könnte der Bundestag schon bald vollziehen, indem er einen fächerübergreifenden Umweltausschuß konstituiert, der mit entsprechender Kompetenz bezüglich der Fachministerien ausgestattet sein muß und andere bestehende Ausschüsse teilweise ersetzen könnte. Auch die Vorbereitungen für die Einrichtung eines Ministeriums für Umweltvorsorge und Raumordnung mit weitreichenden Zuständigkeiten sollten sofort beginnen. Es gibt einige Herren hier im Saal — ich denke an den Kollegen Riesenhuber —, die das schon vor einigen Jahren mal probiert haben, aber seitdem sie in der Regierungsverantwortung stehen, sehr schnell davon wieder Abstand genommen haben.
Insgesamt hat die Regierungserklärung gezeigt, daß die Umweltbelange wieder einmal von kurzsichtigen Profitinteressen und der unbegründeten Angst vor Arbeitsplatzverlusten an die Wand gedrückt werden. Wachstum um jeden Preis ist der Regierung wichtiger als die Frage, ob denn überhaupt ein Bedarf an diesem Wachstum besteht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Deshalb, meine Damen und Herren, muß ich hier für meine Fraktion klar und eindeutig feststellen: Der von der Bundesregierung vorgezeichnete Weg wird uns weiter in den ökologischen Niedergang führen. Wir Grünen halten die Gleichgültigkeit der Bundesregierung gegenüber ökologischen Problemen, vor allem wenn die Bundesregierung noch vorgibt, daß die Grundlinien ihrer Politik von christlicher, konservativer, also bewahrender Gesinnung



Dr. Ehmke (Ettlingen)

bestimmt würden, für zutiefst unethisch, unmoralisch und heuchlerisch. — Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000513400
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.

Hans A. Engelhard (FDP):
Rede ID: ID1000513500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht, daß die Politik der Regierung der Mitte im Zeichen der Kontinuität und der Konsolidierung steht. Damit werden für die Rechtspolitik wieder einmal Stichworte aufgegriffen, die immer wiederkehren, weil sich das Gebiet der Rechtspolitik — darüber sollte eigentlich Einmütigkeit bei allen Fraktionen bestehen — nicht für Experimente und für kurzatmige Tagespolitik eignet.

(Zustimmung des Abg. Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU])

Gerade bei der Rechtspolitik kommt es j a wie sonst wohl nirgends in diesem Maße auf Solidität und auf Augenmaß an. Das Recht darf nicht ersticken in einem Dickicht der Reglementierungen. Überschaubarkeit und Bürgernähe muß vor Normenflut und vor bürokratischem Perfektionismus rangieren. Nicht lähmende Regelungen für alles und für jedes, sondern Besinnung und Beschränkung auf das Wesentliche werden die Leitlinien der Rechtspolitik sein, nach denen diese Regierung unseren freiheitlichen Rechtsstaat weiter ausbauen und festigen wird.
Recht baut überwiegend auf dem Konsens auf. Und ein solcher Konsens ist eben mehr als die momentane Zustimmung. Wer das Recht nämlich nur als Hebel benutzen möchte, um gesellschaftliche Entwicklungen und gesellschaftspolitische Veränderungen durchzusetzen, und auf gewachsene Wertvorstellungen keine Rücksicht nimmt, der macht das mit einem erheblichen Risiko, und er wird meist sehr bald genötigt sein, einen Teil seines Übereifers wieder zurückzunehmen.
Herr Dr. Vogel hat gestern in seiner Erwiderung auf die Regierungserklärung des Bundeskanzlers gemeint, gerade im Bereich der Rechtspolitik bleibe das meiste eben doch sehr im Nebel. Das ist schlicht unzutreffend; denn wendet man sich einmal dem Umfange zu, den Rechtspolitik in dieser Regierungserklärung gefunden hat, so wird man, wenn man vergangene Regierungserklärungen durchblättert, die von 1980 und die von 1976, die beide noch von sozialdemokratischen Kanzlern vor diesem Hause abgegeben worden sind, feststellen, daß damals Rechtspolitik in der Regierungserklärung einen so hohen Stellenwert nicht gehabt hat. Oder würde Herr Dr. Vogel, der beide Erklärungen damals mit konzipiert hat, etwa sagen, daß seine Einflußmöglichkeit nicht ausgereicht habe, das breiter darzustellen, oder daß man gar seine damaligen Überlegungen im Nebel gelassen habe? Ich denke, er würde sich zu Recht sehr deutlich gegen eine derartige Vermutung wenden.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wir haben bis vor wenigen Monaten noch in demselben Regierungsboot gesessen. Und wir alle haben voll und ganz gegenwärtig, daß es bei Koalitionsvereinbarungen zu Verhandlungen kommt und bei diesen Verhandlungen im Wege des gegenseitigen Aufeinanderzugehens Ergebnisse gefunden werden müssen. Ich sage deswegen mit aller Offenheit: Natürlich, ich hätte mir hier und da auch manches anders vorstellen können. Nur weiß ich aus der Vergangenheit, daß Verhandlungen eben wechselseitiges Nachgeben erfordern. Und wenn ich die Koalitionsvereinbarungen noch einmal Revue passieren lasse, so muß ich feststellen, daß jedenfalls ich und meine politischen Freunde recht zufrieden sind und auch recht zufrieden sein können mit dem, was wir an liberalen Vorstellungen in der Rechtspolitik in die Vereinbarungen haben einbringen können.

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Das ist ja geradezu idyllisch!)

Einer der wichtigsten Kompromisse, die hier geschlossen werden mußten, betrifft das Demonstrationsstrafrecht. Der ins Auge gefaßten Neuregelung wird vorgeworfen, sie stelle eine Rückkehr zum Rechtszustand vor 1970 dar.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das sagt Herr Zimmermann!)

Das ist eine Vereinfachung. Es kommt auf die Tatsachen an, Frau Kollegin. Und deswegen bleibt es eine Vereinfachung,

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sagt Herr Zimmermann!)

die mit den Tatsachen nicht in Übereinstimmung steht. Jeder, der die Materie kennt, weiß, daß in diesem Bereich in der Koalitionsvereinbarung nur der Kernpunkt enthalten ist und die Formulierungen, die wir dazu vorzulegen haben werden, sich mit den Einzelheiten werden beschäftigen müssen. Dann wird manches konkretisiert und verdeutlicht werden. Dazu gehört z. B., daß man nach Wegen suchen muß, den Tatbestand so zu fassen, daß er zwar einerseits präzis ist, andererseits aber der Polizei eine flexible Reaktion ermöglicht. Es geht z. B. nicht an, eine Großdemonstration auflösen zu wollen, weil in irgendeinem, räumlich abgrenzbaren Teil der Menschenmenge Gewalttätigkeiten ausgebrochen sind. Ein solcher Vorgang wäre für den Demonstrationsteilnehmer am anderen Ende, der die Geschehnisse oft gar nicht überblicken kann, nicht einsehbar. Ich glaube, wir wären schlecht beraten, wenn wir strafrechtliche Regelungen schaffen würden, die selbst bei Gutwilligen Unverständnis hervorrufen werden.
Deswegen werden wir alles das, was wir vorlegen werden, bei den Beratungen sehr genau zu überdenken haben; da können Sie ganz sicher sein. Es geht darum, Gewalttäter künftig besser fassen zu können, ohne friedliche Demonstranten in irgendeiner Weise einschüchtern zu wollen. Nur dort, wo schwere Gewalttätigkeiten begangen werden, wo die Fetzen fliegen, ist es für den friedlichen Bürger, der Augen- und Ohrenzeuge dieser Taten wird, zumutbar, sich auf Aufforderung hin vom Tatort zu



Bundesminister Engelhard
entfernen, um die Polizei in den Stand zu setzen, ihres Amtes und Auftrags zu walten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000513600
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans A. Engelhard (FDP):
Rede ID: ID1000513700
Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich in dem Bestreben, meine Ausführungen zeitlich zu beschränken, ebenfalls darauf angewiesen bin, keine Zwischenfragen zuzulassen.
Meine Damen und Herren, ich wende mich kurz einem Thema zu, das in einer rechtspolitischen Debatte, die auch eine verfassungspolitische Debatte sein muß, ganz sicherlich nicht ausgespart werden darf. Die Sprecher der Fraktion der GRÜNEN haben gestern — Frau Beck-Oberdorf und auch Frau Kelly — erklärt und angekündigt, weder der geltenden Regelung des Demonstrationsrechts noch der geplanten, j a überhaupt keiner Regelung zuzustimmen und in ihrem praktischen Verhalten öffentlich Widerstand zu leisten. Ich meine, das ist ein ernstes Thema, mit dem ich mich trotz meiner Betroffenheit über diese Haltung leichter auseinandersetzen könnte, wenn ich nicht — gerade bei den Wortführern der GRÜNEN auch außerhalb dieses Hauses
— allenthalben eine Inflationierung der angeblichen Rechte auf Widerstand und Ungehorsam hätte feststellen müssen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Was unterscheidet, so frage ich, diese Ihre Sicherheit, allein im Besitz verbindlicher, absoluter Wahrheiten zu sein, noch vom Generalverriß des demokratischen Mehrheitsprinzips durch Fürst Sapieha, den Schiller im „Demetrius" sagen läßt: „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn; Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen." Ich frage Sie, ob Ihnen gegenwärtig ist, daß die selbsternannte elitäre Überheblichkeit, die Sie hier an den Tag legen

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Lachen bei den GRÜNEN)

— des Reaktionärs, würde man heute sagen, im alten polnischen Reichstag, Fürst Sapieha —, im Ergebnis jedenfalls mit ihrem angeblichen basisdemokratischen Widerstandsrecht deckungsgleich ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich glaube, dies mußte hier einmal angesprochen werden. Denn Fürst Sapieha argumentiert ja weiter:
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen. Der Staat
— so sagt er —
muß untergehen, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.

(Zuruf von der SPD: Wozu Literatur gut ist!)

Und weil Sie ganz offensichtlich die Mehrheit des
Unverstandes nicht besitzen, lassen Sie sich von
dem Satz leiten: „Was richtig, was vernünftig ist, das bestimmen allein wir!" und setzen diese unsere Überzeugung an die Stelle der demokratisch ermittelten Mehrheit. Das wirft Fragen auf, über die wir alle insgesamt nachdenken müssen und nicht nur nachdenken sollen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Wesen der Bewegung! — Frau Potthast [GRÜNE]: Was ist ein Overkill? — Vernünftig?)

Ich habe von der Opposition — um mich der sozialdemokratischen Opposition wieder zuzuwenden — gestern eigentlich auch die positive Erwähnung einiger Punkte erwartet, in denen grundsätzliche rechtspolitische Reformen und Änderungen aus der Zeit der gemeinsamen Regierungsverantwortung von FDP und SPD erfolgreich bestätigt worden sind. Ich nenne hier etwa die Festlegungen zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Meine Partei hat immer die Auffassung vertreten, daß sich das geltende Recht bewährt hat und daß man daran wird festhalten müssen. Wir haben das vor der Wahl und haben dies nach der Wahl gesagt und haben, was nachzulesen ist, dies nicht unerfolgreich in die Koalitionsvereinbarungen eingebracht.
Thema Kontaktsperre. Hier werden Sie noch Gelegenheit haben, alsbald Ihre Anerkennung nachzuliefern. Die geltende Regelung ist verbesserungsbedürftig. Einen Menschen, der nicht zum Justiz- oder Anstaltspersonal zählt, muß auch der von der Kontaktsperre betroffene Inhaftierte zum Gesprächspartner haben, um mit ihm offen und vertrauensvoll seine Lage erörtern zu können.

(Hört! Hört! bei den GRÜNEN)

Es versteht sich ganz von selbst, daß dabei der Grad des Schutzes für das Opfer einer terroristischen Entführung voll gewahrt bleiben muß. Dafür bietet die Auswahl der Kontaktperson durch den Präsidenten des Landgerichts volle Gewähr.
Diese Koalition und diese Bundesregierung, meine Damen und Herren, brauchen sich wahrhaftig nicht sagen zu lassen, sie wollten die Rückkehr in längst überholte Zustände herbeiführen. Ich komme auf einige Punkte zu sprechen. Der Entwurf eines Einundzwanzigsten Strafrechtsänderungsgesetzes etwa, das die neonazistische Agitation und Propaganda eindämmen soll, ist von meinem Vorgänger eingebracht worden. Die Bundesregierung wird nicht ihre Augen vor der Erkenntnis verschließen, daß die sich mehrenden rechtsextremistischen Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten in ein neonazistisches Umfeld eingebettet sind, das Kriegs-und KZ-Verbrechen in Abrede stellt. Die Bundesregierung wird die sichtbar gewordenen Lücken des Strafrechts auf diesem Gebiet schließen,

(Beifall des Abg. Kleinert [Hannover] [FDP])

und dabei wird der vorliegende Entwurf eine Grundlage sein. Ich meine, unter welcher Bundesregierung auch immer, unter welcher Parlamentsmehrheit auch immer — unser Volk, die Bundesrepublik Deutschland ist gut beraten, aus der ge-



Bundesminister Engelhard
schichtlichen Erfahrung heraus das ihre zu tun, um — nur flankierend, weil Strafrecht nie das Ganze leisten kann — auch strafrechtlich in diesem Bereich das Notwendige zu schaffen.
Ich erwähne weiter das zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, das auf alten Vorarbeiten beruht und das erneut eingebracht wird, weil Wirtschaftskriminalität kein Kavaliersdelikt ist.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abgeordneten Schily [GRÜNE])

Es ist auch ein Beitrag für eine gesunde und leistungsfähige Wirtschaft, Kriminalität in diesem Bereich bei steigender Schadenshöhe, wie die neue Statistik ausweist, zu bekämpfen, wo immer dies möglich ist.
Ich beschränke mich auf die Erwähnung einiger weniger Schwerpunkte im folgenden. Wir müssen uns an erster Stelle dem Problem der Verfahrensflut und der Verfahrensdauer zuwenden. Dieses Problem, das sich seit mehreren Jahren abgezeichnet hat, wird immer drängender. Damit hat sich der Deutsche Richtertag in München, damit wird sich in Essen demnächst der Deutsche Anwaltstag beschäftigen. Wir müssen uns bewußt sein, daß auch die besten Gesetze ihren Zweck nicht erfüllen können, wenn überlastete Gerichte nicht mehr innerhalb angemessener Frist zu entscheiden vermögen. Einer der rechtspolitischen Schwerpunkte für die vor uns liegende Legislaturperiode muß deswegen darin liegen, die Gerichte wirksam und auf Dauer zu entlasten, ohne dabei den Rechtsschutz, auf den der Bürger Anspruch hat, zu verkürzen.
Dem dient eine ganze Fülle von Entwürfen, die ich hier im einzelnen nicht aufzählen möchte, vom Strafverfahrensänderungsgesetz bis zu einer Novelle im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit, ebenso ein Gesetz zur Änderung des Ordnungswidrigkeitenrechts.
Wir werden uns auch der Frage zuwenden, daß eine Tatsacheninstanz für bestimmte technische Großvorhaben im Verwaltungsrechtsstreit künftig genügen soll.
In der Strafgerichtsbarkeit, die ich bereits erwähnt habe, wird die Bundesregierung die erforderlichen gesetzlichen Maßnahmen zur Entlastung der Justiz vorschlagen, ohne daß hierbei die rechtsstaatliche Ausprägung des Strafverfahrens angetastet wird. Wir wollen keinen „kurzen Prozeß", aber wir wollen kürzere Verfahren. Beides ist durchaus miteinander vereinbar.
Wir werden uns verstärkt in der gegenwärtigen schwierigen und drängenden Situation der Neuordnung und Änderung des Insolvenzrechts zuwenden. Allenthalben beginnen jetzt die Fragen und das Herandrängen derer, die Teiländerungen wünschen. Das kann zu keinem vernünftigen Ergebnis führen. Es muß eine Gesamtreform sein. Im Bundesministerium der Justiz ist man nach den bisher gesammelten Erfahrungen bereit, sich auch personell weit stärker zu engagieren, als dies bisher der Fall war.
Im Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht ist eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme und Bewertung notwendig. Wenn die Opposition in diesem Bereich behauptet, man wolle zum Verschuldensprinzip zurückkehren, so trifft das in der Sache natürlich nicht zu. Hier geht es ebensowenig wie anderswo darum, das eine Prinzip aufrechtzuerhalten oder das andere Prinzip ganz einfach zu beseitigen. Entscheidend sind nämlich nicht die Prinzipien, sondern entscheidend wird letztlich ein Höchstmaß an Gerechtigkeit sein. Um dieser im Scheidungsfolgenrecht wieder mehr Raum zu geben, muß verhindert werden, daß das Zerrüttungsprinzip zum durchgängigen Selbstzweck wird

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und zur Hinnahme grob unbilliger Einzelfallentscheidungen zwingt. Für die finanziellen Folgen — und nur für diese — können dann auch in besonderen Fällen die Ursachen für die Zerrüttung der Ehe

(Zuruf von der SPD: Also doch zurück zum Verschuldensprinzip!)

durchaus von Gewicht und Bedeutung sein.
Die Bundesregierung wird sich darum bemühen, in diesem Bereich die Mißbrauchsmöglichkeiten zu beseitigen und dazu mehr Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Im übrigen werden wir den Aufträgen des Bundesverfassungsgerichts durchgängig, wie ich betonen möchte, und alsbald endlich nachkommen. Ich meine, dazu gehört dann auch in der Weiterentwicklung dessen, was wir schon im letzten Herbst getan haben, das Recht des Versorgungsausgleichs weiter zu verbessern.

(Zuruf von der SPD: Für wen?)

Meine Damen und Herren, sobald der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages dazu die Gelegenheit hat und mir die Gelegenheit geben kann, werde ich das rechtspolitische Programm der Bundesregierung dem Ausschuß im einzelnen vorstellen. Das Programm wird getragen sein von dem Grundanliegen, das rechtspolitische Vorhaben im Deutschen Bundestag bisher schon nahezu durchgängig bestimmt hat: das Bemühen um die Gewinnung möglichst breiter Mehrheiten, wo immer dies möglich ist. Gerade mir liegt an einem solchen Konsens sehr viel. Darum werde ich mich, auch wenn vielleicht bei diesem oder jenem Vorhaben die Wogen einmal etwas höher schlagen sollten, unverdrossen bemühen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU/ CSU)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000513800
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1000513900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Aussagen der Regierungserklärung zur Rechtspolitik sind durchweg sehr allgemein gehalten, unklar und unbestimmt. Wer z. B. wäre nicht für eine Vereinfachung des



Dr. Emmerlich
Rechts, die Beseitigung von Überreglementierung und für kürzere Verfahren? Worauf es ankommt, ist, was die Regierung konkret im Interesse dieser Ziele zu tun beabsichtigt. Darüber schweigt sie sich weitgehend aus, z. B. auch darüber, wie sie die Juristenausbildung weiterentwickeln und welche Möglichkeiten sie für eine vorgerichtliche Streitschlichtung nutzen will.
Ich räume gern ein, daß der Bundesjustizminister die Regierungserklärung um eine Reihe von beabsichtigten Einzelvorhaben ergänzt und konkretisiert hat; dafür bin ich ihm dankbar. Ich bin ihm auch dafür dankbar, daß er das 21. Strafrechtsänderungsgesetz wieder unverändert eingebracht hat. Ich hoffe, sehr geehrter Herr Justizminister, daß gerade dieses Gesetzgebungsvorhaben nicht unter den Teil der Sammelvorlage fällt, durch den sich die CSU nach Pressemitteilungen von Ihnen angeschmiert fühlt.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr richtig!)

Ich hoffe, daß Sie gerade bei diesem Gesetzgebungsvorhaben alle Parteien und Fraktionen der Koalitionen hinter sich haben.

(Beifall bei der SPD)

Unserer Unterstützung, Herr Bundesjustizminister, können Sie beim 21. Strafrechtsänderungsgesetz uneingeschränkt sicher sein.

(Beifall bei der SPD)

Was aus Koalitionsvereinbarung, Regierungserklärung und Ihrer Rede, Herr Bundesjustizminister, deutlich, ja, überdeutlich wird, ist, daß die Regierung und die sie tragende Koalition das Demonstrationsrecht einschränken will.

(Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Nein! — Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Verbessern!)

Das ist ein für einen freiheitlichen Rechtsstaat besonders schwerwiegender Tatbestand. Er erfordert die Aufmerksamkeit aller, die Freiheit und Demokratie bewahren und festigen wollen.

(Beifall bei der SPD)

Damit bei dieser Kontroverse keine Mißverständnisse entstehen und keine falschen Fronten aufgebaut werden können, wie das z. B. Herr Waigel versucht hat, stelle ich vorab zwei Dinge klar:
Erstens. Der Streit geht nicht darum, ob Gewalttätern mit polizeilichen und strafrechtlichen Mitteln entgegengetreten werden muß. Die Versammlungsfreiheit steht nur demjenigen zu, der sich friedlich verhält. Wer Gewalt anwendet — gleichgültig aus welchem Grunde —, kann sich auf Versammlungsfreiheit nicht berufen und muß für von ihm begangene Gewalttaten zur Verantwortung gezogen werden.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Die drum herum dürfen ihn nicht schützen!)

Zweitens. Unbestritten ist, daß es bei Demonstrationen, wie übrigens auch bei manchen anderen Anlässen, nicht immer in dem notwendigen Umfang gelingt, Gewalttätigkeiten zu verhindern, der Gewalttäter habhaft zu werden und sie zur Verantwortung zu ziehen.
Der Streit zwischen uns und Ihnen geht um folgendes: Die Regierung will, daß auch friedliche Demonstranten, wenn es bei einer Demonstration zu Gewalttätigkeiten kommt, unter bestimmten Voraussetzungen bestraft werden sollen.

(Bohl [CDU/CSU]: Das ist der springende Punkt!)

Davon können Sie, Herr Bundesjustizminister, auch durch die Ausführungen in Ihrer heutigen Rede nicht ablenken.

(Beifall bei der SPD)

Wir Sozialdemokraten lehnen dagegen eine solche Kriminalisierung friedlicher Demonstranten kategorisch ab.

(Beifall bei der SPD — Dr. Klein [Göttingen] [CDU/CSU]: Was ist denn friedlich?)

Wir sehen darin einen mit unserer freiheitlichen Ordnung nicht in Übereinstimmung zu bringenden Eingriff in das Demonstrationsrecht.

(Beifall bei der SPD)

Die Behauptung der Regierung, durch die Ausweitung der Strafbarkeit auf friedliche Demonstranten könnten Gewaltakte leichter verhindert und Gewalttäter mehr als bisher zur Verantwortung gezogen werden, ist schlechthin falsch.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen es doch besser!)

Das beweisen die leidvollen Erfahrungen mit dem alten Landfriedensbruchparagraphen. Polizeiliches Vorgehen gegen friedliche Demonstranten provoziert geradezu gewaltsame Widerstandshandlungen,

(Beifall bei der SPD)

führt leicht zu Solidarisierung zwischen Demonstranten und Gewalttätern, bringt die Bürger gegen die Sicherheitsorgane auf und untergräbt das Vertrauen zur Polizei, zur Justiz und damit zu unserem Staat und zu unserer Demokratie. Wenn die Polizei verpflichtet wird, gegen friedliche Demonstranten einzuschreiten, werden ihre Möglichkeiten, den Gewalttätern entgegenzutreten und sie dingfest zu machen, nicht erleichtert, sondern erschwert.

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000514000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt (Frankfurt)?

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1000514100
Bitte sehr!

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1000514200
Herr Kollege Emmerlich, teilen Sie meine Befürchtung, nachdem Sie sagen, daß dadurch friedliche Demonstranten kriminalisiert werden können, daß diese Ankündigung und dieses Gesetzesvorhaben in Zusammenhang mit Äußerungen zu sehen ist, die vom Staatssekretär im Innenministerium, Spranger, gemacht worden sind und die auf eine Kriminalisierung der Friedensbewegung hinauslaufen?




Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1000514300
Ich stimme Ihnen im Grundsatz zu und werde dazu noch weitere Ausführungen machen.
Warum — damit wiederhole ich etwas allgemeiner Ihre Frage, lieber Kollege Voigt — besteht eigentlich die CDU/CSU, die ja das alles weiß, was ich eben ausgeführt habe, gleichwohl darauf, das Demonstrationsrecht in dieser Weise einzuschränken?

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Zu verbessern!)

Weil sie nach wie vor ein gebrochenes Verhältnis zum Demonstrationsrecht hat.

(Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ach du lieber Gott!)

Demonstrieren, das ist für Sie immer noch mit einem anrüchigen und anstößigen Beigeschmack versehen.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Alfred, Du weißt es doch besser!)

Sie haben natürlich nichts gegen Demonstrationen, wenn sie Ihren Zwecken dienen. Wenn sie Ihnen nicht wirklich wehtun, dann sind Demonstrationen für Sie etwas, mit dem man sich — und da zitiere ich den Kollegen Vogel (Ennepetal) — in einer Demokratie abfinden muß. Geht Ihnen dagegen eine Demonstration wirklich an den Nerv, dann empfinden Sie diese als eine Mobilisierung der Straße, dann wird diese Demonstration von Ihnen sehr schnell zur unerträglichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gemacht.

(Beifall bei der SPD)

Für uns Sozialdemokraten gehört das Demonstrationsrecht zum Kernbestand der politischen Freiheit. Für eine freiheitliche Demokratie ist es konstitutiv und unverzichtbar. Das Demonstrationsrecht gibt Bürgern, die über keine Massenmedien verfügen und keinen Zugang zu ihnen haben, die Chance, ihre Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen und in der Öffentlichkeit wirksam für Ihre Anliegen zu werben.

(Zurufe von der CDU/CSU: Friedlich!)

Gerade das aber ist es, was den eingefleischten, auf Erhaltung des gesellschaftlichen und politischen status quo fixierten Konservativen nicht paßt.

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000514400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1000514500
Danke, nein.
Deshalb Ihre permanenten Bestrebungen — die sind ja nicht neu; die sind so lange da, solange es Konservative gibt —, das Demonstrationsrecht einzuschränken, die Bürger von Demonstrationen abzuschrecken und Demonstranten einzuschüchtern

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist ja wirklich starker Tobak! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— es tut mir leid, daß ich Ihnen das sagen muß; das ist leider Gottes die Wahrheit —,

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Aber deshalb wird es nicht wahrer!)

einzuschüchtern durch Kriminialisierung friedlicher Demonstranten, und in neuerer Zeit zusätzlich dadurch, daß ihnen für den Polizeieinsatz oder für Schäden, die sie selbst überhaupt nicht angerichtet haben, erhebliche finanzielle Sanktionen angedroht werden.
Uralt und abgegriffen ist eine Methode, die ungeachtet dessen aber immer wieder bis in die letzten Tage ungeniert und mit Fleiß angewandt wird — damit komme ich auf Herrn Voigt zurück —, nämlich Teilnehmer von Demonstrationen, die den Konservativen besonders gegen den Strich gehen, als dolose oder nicht dolose Werkzeuge von — um die Formulierung der Konservativen zu gebrauchen, die mir nur schwer über die Lippen geht — von „Staats- und Verfassungsfeinden" oder ausländischer Interessen zu diffamieren.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Ja was ist denn mit den Kommunisten?)

Deutsche Konservative gehen eben nach wie vor davon aus, in der Politik dürften sie sich nicht allein auf die geistige Auseinandersetzung, auf Argumente und auf den Dialog verlassen; sie sind davon überzeugt, daß der Staat auch in der politischen Auseinandersetzung gleichsam als eiserne Reserve repressive Handlungsmöglichkeiten in der Hinterhand haben muß.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Alfred, das glaubst du doch selber nicht!)

Deshalb sind die deutschen Konservativen in der Rechts- und Innenpolitik stets für eine Stärkung der Handlungsfähigkeit des Staates gegenüber dem Bürger eingetreten. Hier galt und hier gilt für sie die Devise „Mehr Staat", damit das Volk politisch nicht zu aufmüpfig werde und den Status quo ins Wackeln bringe.

(Zurufe von der CDU/CSU)

In der Wirtschafts- und Sozialpolitik dagegen war und ist die Parole der Konservativen „Weniger Staat", damit ihnen, den Konservativen und ihren Anhängern, ihre Privilegien nicht genommen werden.

(Beifall bei der SPD — Niegel [CDU/CSU]: Das glaubt er doch selber nicht! — Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Emmerlich, das ist jämmerlich! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Kümmerlich!)

Nun etwas zu Ihrem Kompromißzwang, Herr Bundesjustizminister. Warum haben Sie bei der Einschränkung des Demonstrationsrechts, die Sie noch bis September letzten Jahres vehement bekämpft haben, mitgemacht? Weil nach der Wende aus der FDP der Freiburger Thesen die Genschdorff-FDP geworden ist,

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Du lieber Gott! Wie runtergekommen!)

eine FDP, in der der Wirtschaftsflügel eindeutig dominiert. Zur inneren Logik der Wende gehört, daß



Dr. Emmerlich
diese unter dem übermächtigen Druck der CDU/ CSU vor der Rechtspolitik und vor der Innenpolitik nicht Halt macht. Das Prinzip: „im Zweifel für die Freiheit", ist durch die Maxime: „im Zweifel für die Regierungsbeteiligung und Ministersessel", ersetzt worden.

(Beifall bei der SPD)

Wer geglaubt hat, die FDP werde in der Koalition mit CDU und CSU den liberalen Rechtsstaat davor bewahren können, von der CDU/CSU an die Kandarre genommen zu werden, der hat sich gründlich geirrt. Einer FDP ohne Umsteige- und Rückfahrkarte wird die CDU/CSU nicht gestatten, in der Rechts- und Innenpolitik im Bremserhäuschen Platz zu nehmen.
Bremsen wird die FDP die Union auch nicht in ihrer Absicht, die Ergebnisse der sozialliberalen Rechts- und Innenpolitik in wichtigen anderen Teilbereichen wieder rückgängig zu machen.
Die Gegenreform hat mit der Aushöhlung des sozialen Mietrechts am Ende der letzten Legislaturperiode begonnen.

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

Die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU, CSU und FDP zeigt, daß die Gegenreform immer mehr auf Touren kommt.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

— Meine sehr geehrten Damen und Herren, immer, wenn die Herren schreien, dann hat man Recht!

(Lachen bei der CDU/CSU)

Im Scheidungsfolgenrecht soll wieder auf das Verschuldensprinzip zurückgegriffen werden. Mehr Einzelfallgerechtigkeit, Herr Minister, ist davon nicht zu erwarten, wie Sie selbst genau wissen. Die Erfahrungen mit dem Schuldprinzip haben nämlich eindeutig ergeben, daß die Gerichte in der Regel außerstande sind, festzustellen, warum eine Ehe gescheitert ist. Wer den Gerichten das abverlangt, wird ihre Entscheidungen wieder von den Zufälligkeiten der Beweisführung abhängig machen. Dann ist nicht mehr Einzelfallgerechtigkeit zu erwarten, sondern weniger. Weiter ist zu erwarten, daß der sozial schwächere Ehepartner — das sind in der Regel immer noch die Frauen — für die Rückkehr zum Verschuldensprinzip die Zeche zahlt.
Mehr Freiheit bei Vereinbarungen über die Scheidungsfolgen will die Regierung. Das hört sich zunächst gut an. Die Erfahrungen beweisen aber, daß mehr Vertragsfreiheit bei der Regelung der Scheidungsfolgen sich im Zweifel gleichfalls zu Lasten des sozial schwächeren Ehepartners, also der Frauen, auswirkt.
Geradezu infam wäre es, wenn CDU und CSU, was nach der Koalitionsvereinbarung leider zu erwarten ist, sich mit ihrer Absicht durchsetzen sollten, die Kostenerstattung bei legalen Schwangerschaftsabbrüchen zu beseitigen. Das würde gutsituierten Frauen zwar nichts ausmachen; für die anderen aber bestünde die Möglichkeit einer legalen Abtreibung nur noch de jure. De facto wäre sie ihnen weitgehend genommen.

(Zustimmung bei der SPD)

Sie könnten die Kosten einer legalen Abtreibung durch den Arzt nämlich nicht aufbringen. Sie würden wieder zurückgetrieben zu Kurpfuschern und Engelmachern. Sie würden wieder hineingestoßen in die Illegalität und Kriminalisierung,

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

nach dem Motto „Wenn du arm bist, sind der Kurpfuscher und die Engelmacherin für dich gut genug. Die gesundheitlichen Folgen und die Anklagebank hast du dir selbst zuzuschreiben."

(Beifall bei der SPD — Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Bösartige Unterstellungen sind das! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Das ist fürwahr ein böses Beispiel dafür, wohin der verstockte Muff einer konservativen Ideologisierung unser Land treiben wird.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Da ist es schon eine Zumutung, sehr geehrter Herr Bundesjustizminister, wenn Sie von uns Lob dafür erwarten, daß es bisher nicht dazu gekommen ist, daß die Koalition eine Änderung des strafrechtlichen Teils dieses Problems beschlossen hat.

(Zustimmung der Abg. Frau Dr. DäublerGmelin [SPD])

Wir Sozialdemokraten werden uns dem von der Bundesregierung und der Regierungskoalition drohenden Rückschritt des liberalen und des sozialen Rechtsstaats mit allen Kräften, die wir haben, entgegenstemmen.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr wahr!)

Die Aufgabe der Rechtspolitik in den kommenden Jahren besteht nämlich nicht darin, eine Gegenreform zu veranstalten, sondern darin, die Politik der Rechtsreformen behutsam fortzusetzen.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Behutsam bitte!)

Das gilt insbesondere im Bereich des Strafrechts mit dem Schwerpunkt beim strafrechtlichen Sanktionssystem.
Die Wirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit werden die sozialen Probleme und auch die politischen Auseinandersetzungen verschärfen. Die Rechtspolitik muß ihren Beitrag dazu leisten, der zunehmenden Neigung, sich an kurzfristigen Eigeninteressen zu orientieren, entgegenzuwirken. Der Schutz des sozial Schwächeren und politischer Minderheiten ist gerade in Krisenzeiten die vornehmste Aufgabe des Staats. Herr Stoiber hat unrecht, wenn er glaubt, in der gegenwärtigen Situation müsse die soziale Gerechtigkeit zurücktreten. Die Wirtschaftskrise und ihre Folgen haben bereits zu



Dr. Emmerlich
einem erheblichen Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Das habt ihr bei der Wahl gemerkt!)

— Herr Stark, von Ihnen habe ich an dieser Stelle exakt diesen Zwischenruf erwartet. Ich erkenne Ihren Wahlsieg durchaus an. Nur: Täuschen Sie sich nicht darüber, was diese Wirtschaftskrise und ihre Folgen, was diese Arbeitslosigkeit bereits an Vertrauen in unserem Staat zerstört haben.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zustimmung bei der SPD — Dr. Laufs [CDU/CSU]: Mehr Demokratie wolltet ihr wagen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU: 13 Jahre! — Mehr Demokratie wolltet ihr haben!)

— Ihre einseitigen Schuldzuweisungen sind, wie Sie selbst wissen, nichts anderes als billige Wahlkampfpolemik.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Emmerlich plus kümmerlich ist gleich widerlich! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Wenn die Bürger den Eindruck gewinnen, daß Regierung und Bundestagsmehrheit sich nicht mehr vom Streben nach Gerechtigkeit — z. B. bei der Verteilung der Lasten der Krise — leiten lassen, dann besteht die Gefahr, daß die Menschen an unserem Staat und an unserer Ordnung nicht nur zweifeln, sondern verzweifeln.

(Dr. Helmrich [CDU/CSU]: Unerhört!)

Dann wäre eine der tragenden Säulen, auf denen unser Staat beruht, zerstört. — Herr Stark lacht; das entspricht der Geisteshaltung der Konservativen in unserem Land, wenn man solche Ausführungen macht. Dann wäre eine der tragenden Säulen
— ich wiederhole das —, auf denen unser Staat ruht, zerstört. Gerade die Rechtspolitik muß ihren Beitrag zur Gerechtigkeit leisten.
Die Regierungserklärung macht leider deutlich, daß die Bundesregierung von dieser Einsicht nicht geleitet wird. Wir Sozialdemokraten werden nicht müde werden, die Regierung und die Mehrheit des Bundestages auf ihre Pflicht aufmerksam zu machen, für Gerechtigkeit zu sorgen und den Schwachen den Schutz zu gewähren, den sie gerade heute so dringend benötigen. — Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID1000514600
Ich erteile dem Abgeordneten Zimmermann für seinen nicht parlamentarischen Zwischenruf „Ein purer Demagoge sind Sie, sonst nichts!" einen Ordnungsruf.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr gut! — Weiterer Zuruf von der SPD: Und das ist der Verfassungsminister!)

Ich habe den Zwischenruf soeben dem Protokoll entnommen.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Erhard (Bad Schwalbach).

Benno Erhard (CDU):
Rede ID: ID1000514700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in der Regierungserklärung eine ganze Reihe von Konkretisierungen zu Fragen der Rechtspolitik gehört. Wir stimmen diesen voll zu.
Herr Bundesminister Engelhard, ich möchte mich ausdrücklich für Ihren Redebeitrag bedanken. Aber nicht nur dafür, sondern auch dafür, daß aus ihm deutlich wurde, in welch hohem Maß zwischen uns auf dem Gebiete der Rechtspolitik eine faire Zusammenarbeit zustande gekommen ist. Dafür herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Emmerlich, wir beide kennen uns seit langem. Ich habe den Eindruck, daß Sie auf Grund der Wahlen und der Vorgänge um die Wahlen in Ihrer eigenen Fraktion nunmehr Alibifunktionen glauben erfüllen zu müssen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Wenn das, was Sie gesagt haben, wirklich Ihre Meinung wäre — die Meinung eines Mannes, der aus der Justiz kommt und als Richter tätig gewesen ist —, täte es mir um die Richter leid.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie wissen ganz genau, daß von uns niemand die Verfassungsrechte auf dem Gebiete der Meinungsfreiheit beschränken oder einengen will.

(Zuruf von der SPD: Welche denn?)

— Wir wollen überhaupt keine Verfassungsrechte einschränken. Das wissen Sie ganz genau. —

(Zuruf von der SPD: Sie vielleicht nicht, aber andere!)

Der Unterschied wird nur deutlich, wenn man die Frage stellt, ob Sie ein Recht haben wollen, das den Rechtsbrecher schützt, das es nicht möglich macht, ihn festzunehmen oder gar einer Strafe zuzuführen, und dadurch die Rechtstreuen gefährdet. Da unterscheiden wir uns.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Dr. Timm [SPD]: Das ist doch gar nicht wahr!)

Ein Wort noch zu Herrn Schäfer, zu den Umweltproblemen. Herr Schäfer, ich hatte gedacht, Sie halten uns eine Philippika wegen zehnjährigem Regierungsversagen. Ich bin mir aber durchaus bewußt, daß wir erst seit dem 1. Oktober 1982 überhaupt die Regierung stellen,

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das reicht schon!)

am 6. März 1983 die Wahlen gewonnen und gestern erst die Regierungserklärung gehört haben. Wir können es nicht schaffen — keine Regierung kann das, nicht einmal mit dem gesamten Apparat der SPD-Leute innerhalb der Ministerien —, Dinge, die 13 Jahre verschludert worden sind, jetzt sofort in Ordnung zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie uns aber diese Herkulesarbeit zutrauen
— ich mußte fast den Eindruck gewinnen, Sie tun es —, dann allerdings muß ich sagen, dieses Zu-



Erhard (Bad Schwalbach)

trauen ist zuviel des Guten. Aber bleiben Sie ruhig dabei; wir werden es schaffen.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Fragt sich nur, was!)

Meine Damen und Herren, wir sind bei der Rechtspolitik. Wir leben in einem modernen Verfassungsstaat. Der moderne Verfassungsstaat zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß er den Rechtsfrieden unter seinen Bürgern garantiert und dafür das sogenannte Gewaltmonopol hat. Der Rechtsfriede ist das höchste Gut, wenn es um das friedliche Zusammenleben der Bürger geht. Der Schwache wird geschützt, der Mächige in seinen Rechten begrenzt.

(Burgmann [GRÜNE]: So sollte es sein!)

Und von wem wird alles geschützt, und wer garantiert das? Nur der Staat.

(Zuruf von den GRÜNEN)

Es wurde davon gesprochen, daß Gewalt gegen Sachen in unserer Verfassungsordnung berechtigt sei. Man hat von Gegengewalt gegen den Staat gefaselt. Schließlich glaubte man, Notwehr einer Gruppe gegen strukturelle Gewalt des Staates propagieren und anwenden zu sollen. Es ist sogar von einem Widerstandsrecht gesprochen worden. Bei letzterem gruselt es mir geradezu; denn ich war beteiligt, als wir in Art. 20 des Grundgesetzes das Widerstandsrecht hineingeschrieben haben. Das ist noch gar nicht so furchtbar lange her. Wir haben es als die letzte und sicherste Garantie gegen die Verletzung der Verfassung hineingeschrieben. Dagegen — und nur dagegen — gibt es ein Widerstandsrecht. Aber es gibt durchaus kein Widerstandsrecht gegen die legitime Ausübung der staatlichen Funktionen und Aufgaben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von den GRÜNEN)

Weil das so eng und so klar ist, geht man dann zum zivilen Ungehorsam oder zum gewaltfreien Widerstand über. Das ist nichts anderes als eine Formel für ein Widerstandsrecht zweiter Klasse. Es dient dazu, von den harten und offensichtlichen Grenzen des verfassungsrechtlich gewährten Widerstandsrechts abzulenken. Der zivile Ungehorsam bedeutet gar nichts anderes, als daß sich einzelne Gruppen die Ermächtigung anmaßen, aus eigener Zuständigkeit darüber zu entscheiden, was Rechtens und was nicht Rechtens ist. Das ist typisches Denken der Radikalen. Wehe, wenn solche Radikalen an die Schalthebel der Macht im Staat kommen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Ganze hat als Konsequenz, daß diejenigen, die ihren Willen den staatlichen Organen und der Mehrheit der Bürger aufzwingen wollen, den Rechtsfrieden brechen.

(Frau Reetz [GRÜNE]: Gandhi!)

Wenn man das zuläßt, ist die Folge Chaos. Dann ist
der Staat schließlich nicht mehr derjenige, der den
Rechtsfrieden garantieren kann, schon dann nicht
mehr, wenn er diese Rechtsbrüche auch nur toleriert.
Wir werden die Vorschriften über Landfriedensbruch verändern. Mehrfach wurde das angesprochen. Wir werden es tun, um das friedliche Demonstrieren zu gewährleisten.

(Dr. Emmerlich [SPD]: Um Gottes willen!)

Nur zu diesem Zweck! Wer unter der Überschrift „friedliche Demonstration" Unfrieden schafft — gegen Sachen oder Menschen —, der soll nicht untertauchen können, um dann durch die Hintertür, weil er nicht gefaßt wird, auch noch den „Marsch durch die Institutionen" anzutreten, was wir j a in der Zeit vom Ende der 60er Jahre leider feststellen mußten; sonst könnte sich nicht jemand Lehrer nennen, der mit solchen Vorstellungen, wie wir sie gehört haben, sogar hier in den Bundestag gekommen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: O Gott!)

Bei uns hat der Bürger die Möglichkeit, sein Recht auch gegen den Staat durchzusetzen. Ein solches Recht gegen den Staat, gegen jegliche obrigkeitliche Herrschaft läßt sich aber nur in streng geordneten Verfahren erreichen. Unsere Bürger machen davon reichlich Gebrauch. Deshalb sind unsere Verwaltungsgerichte verstopft. Deshalb sind unsere Finanzgerichte verstopft. Deshalb dauern die Verfahren vor unseren Sozialgerichten so lange, weil die Bürger ihre Rechte gegen die öffentliche Hand in Anspruch nehmen. Das muß auch sein und bleiben und gewährleistet sein.
Die Entscheidungen müssen zeitnäher sein, auch im Strafrecht. Deshalb wollen wir die Verfahren straffen, verkürzen, ohne die Qualität der Entscheidung zu beeinträchtigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wie in der Regierungserklärung nachzulesen ist, sollen z. B. in bestimmten Verfahren auch Instanzen wegfallen. Unser demokratischer Staat darf nicht ein Rechtsmittelstaat sein, bei dem die ganze Entscheidungsgewalt in die dritte Gewalt ohne parlamentarische Kontrolle abwandert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Scheidungsrecht soll in seinen Grundprinzipien nicht angetastet werden. Das ist mehrfach gesagt worden. Aber es läßt sich nun einmal nicht leugnen, daß es zu Fehlern in der Einzelentscheidung führt, wenn man ein Prinzip überzieht. Das Zerrüttungsprinzip darf nicht dazu führen, daß der einzelne möglicherweise sogar das Scheidungsrecht benutzt, um eine Vorteilsnahme durchzusetzen. Es darf ihn auch nicht zur Vorteilsnahme ermuntern. Schon das Bundesverfassungsgericht hat dazu seine Meinung gesagt. Auch darf es nicht dazu führen, daß der eine oder andere lebenslange Vergeltung, j a sogar Rache durch dieses Recht nehmen kann. Verantwortliches Verhalten endet nicht mit der Scheidung und beginnt auch nicht mit der Scheidung.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Sehr gut!)




Erhard (Bad Schwalbach)

Insofern gibt es überschreitende Elemente, die trotz Beibehaltung des Zerrüttungsprinzips eine Veränderung im Folgenrecht erforderlich machen.
Auch muß die praktisch weitgehende Entmündigung der Ehegatten im Scheidungsfolgenrecht sinnvoll korrigiert werden.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Na, na, na!)

— Sinnvoll korrigiert werden!

(Unruhe bei der SPD)

Ich werde mich jedenfalls nicht dazu bequemen, es für richtig zu halten, daß Eheleute über ihre Vermögensangelegenheiten nur deshalb nicht mehr entscheiden können sollen, weil sie geschieden werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben gegenüber der SPD unterschiedliche Positionen schon in der Vergangenheit gehabt. Die sind nach wie vor vorhanden. Wir werden sicher das Recht zu einem brauchbaren, praktikablen und zu gerechten Entscheidungen führenden Recht entwickeln.
Ein Unterschied in den Positionen zwischen uns und der FDP ist heute schon angedeutet worden. Ich bin nicht der Meinung von Herrn Vogel — und wie Sie, Herr Engelhard, wohl eben auch angedeutet haben —, daß man schon jetzt sagen kann, daß die Regelung des § 218 die Chancen des werdenden Lebens verbessert habe.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben in dem damaligen Gesetz — das ist mit unseren Stimmen geschehen, auf Vorlage der damaligen Regierung, die, Sie wissen es genau, die Regierung Brandt war, aufrechterhalten von Herrn Schmidt, vom Bundestag verabschiedet — einen Artikel 2 verabschiedet. Nach diesem gibt es eine Meldepflicht für alle Abtreibungen, die die Ärzte legal vornehmen. Sie sind anonymisiert, so daß niemand sagen kann, wer da der Betroffene ist. Diese Meldepflicht ist sogar mit einer Ordnungswidrigkeitsvorschrift bewehrt. Diese Pflicht sollte nach Meinung der damaligen Bundesregierung ein unentbehrliches Instrument sein, dazu geeignet, die zuständigen Behörden so instand zu setzen, die Praxis der Schwangerschaftsabbrüche zu erfahren und diese zu beobachten, um einer unrichtigen Handhabung der gesetzlichen Bestimmung mit den zusätzlichen angemessenen Mitteln entgegenzuwirken. So heißt es dort wörtlich. Außerdem soll die Statistik wissenschaftlichen Zwecken dienen und allgemeine rechts- und gesundheitspolitische Aufgaben erfüllbar machen.

(Frau Potthast [GRÜNE]: Genau wie die Volkszählung!)

Was ist damit geschehen? Es gibt inzwischen genauere Erkenntnisse — weil ja über die Krankenkassen abgerechnet wird —, die besagen, daß ein hoher Prozentsatz der tatsächlich vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche nicht gemeldet wird. Allein die gemeldeten sind kontinuierlich gestiegen. Wir haben im Jahr 1979 82 788 und 1982 über 91 000
Abtreibungen gehabt, die gemeldet und statistisch erfaßt worden sind.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

Davon ist eine steigende Zahl wegen Notlage vorgenommen worden, also nach der Notlagenindikation, die die Auswegindikation sein sollte und ist. Wenn aber inzwischen fast 77 % der Abtreibungen wegen dieser Indikation vorgenommen werden und wir einige 10 000 Fälle nicht wissen, wird die öffentliche Hand dafür zu sorgen haben, daß hier Klarheit entsteht. Da braucht man keine Gesetzesänderung, sondern man muß Klarheit schaffen, wie das zusammenhängt, woher das kommt, welche Hintergründe hier vorliegen.

(Frau Potthast [GRÜNE]: Sozialabbau!)

— Nein, das hat mit sozialen Fragen nur in den allerwenigsten Fällen etwas zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Woher wissen Sie das?)

Man sollte sich die Dinge genauer anschauen. Ich bin der Meinung, daß die Notlagen sehr häufig tatsächlich vorhanden sind. Aber das sind in den allermeisten Fällen keine Geldfragen.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Aber andere Notlagen!)

Wenn im letzten Jahr jede achte Frau, bei der eine Abtreibung gemeldet wurde, drei und mehr Kinder hatte,

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: So ist das!)

dann ist damit schon signalisiert, daß das nicht eine Frage nur des Geldes sein kann. Diesen Fragen muß aber nachgegangen werden. Das Problem ist nicht damit vom Tisch, daß wir — die SPD oder die Regierung durch den Herrn Justizminister — sagen, das alles habe sich bewährt. Das wissen wir nicht. Das muß geklärt werden.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Lesen Sie es doch mal nach!)

Deshalb wollen wir, daß sich die Regierung und alle Behörden den Aufgaben des Gesetzes und seiner richtigen Durchführung entsprechend verhalten und darauf drängen, daß das auch passiert.
Ich meine, wir müssen den Rechtsfrieden und das Leben so hoch halten, daß wir nie und nimmer hinnehmen dürfen, wenn jährlich mehr als hunderttausend noch nicht geborene Kinder bei uns getötet werden, ohne daß wir der Sache wirklich nachgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Ganz sicher sind die Emotionen gegen das Totschlagen von Robben nicht unberechtigt; aber keine Emotionen, wenn mehr als hunderttausend Kinder in Deutschland nicht geboren, sondern vorher getö-



Erhard (Bad Schwalbach)

tet werden, das sollte eigentlich nicht selbstverständlich sein.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000514800
Das Wort hat die Kollegin Frau Schoppe.

Waltraud Schoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1000514900
Ich möchte kurz etwas zu gestern abend sagen, verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde. Gestern abend ist hier in unqualifizierter Weise gepöbelt worden. Sie müssen noch an sich arbeiten, meine Herren, damit die Würde dieses Hauses nicht ganz auf den Hund kommt.

(Beifall bei den GRÜNEN — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU)

Die Diskussion um den § 218 ist neu aufgebrochen. Dieser Paragraph, der unter bestimmten Voraussetzungen der Frau den Abbruch einer Schwangerschaft ermöglicht, hat das Leiden, das der Abbruch mit sich bringt, nicht verringern können. Dieser Paragraph hat Frauen, die in Not geraten sind, gedemütigt und hat sie der Willkür männlicher Fachleute ausgesetzt. Gerade Frauen aus ökonomisch schlechten Verhältnissen — wenn sie z. B. schon drei Kinder haben, das Geld knapp ist und sie deswegen das vierte Kind nicht mehr kriegen können —, Frauen, die durch Schwangerschaft und Geburt eines Kindes also in noch größere Schwierigkeiten gelangen würden, war es durch die Kostenregelung immerhin möglich, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Frauen in ökonomisch guten Verhältnissen oder solche, die an einen Mann geraten sind, der sich manches einiges kosten läßt, haben ja schon immer Schwangerschaftsabbrüche bei ausreichender ärztlicher Versorgung vornehmen lassen.
Wenn jetzt, wie es in der Diskussion ist, die Kosten bei sozialer Indikation nicht mehr übernommen werden sollen, so bedeutet dies eine enorme Verschärfung des § 218 und die Festschreibung sozialer Ungerechtigkeiten.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Es ist anzunehmen, daß die Aufhebung der Straffreiheit bei sozialer Indikation der nächste Schritt sein wird und sukzessive die Möglichkeiten des legalen Abbruchs überhaupt verschwinden.
Ein Schwangerschaftsabbruch ist für eine Frau ein schwerer Konflikt und nicht eine Art der Empfängnisverhütung.

(Beifall bei den GRÜNEN — Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr wahr!)

Gleichwohl gibt es Situationen, in denen die Frau den Abbruch als einzigen Ausweg sieht. Bei der Politik des Sozialabbaus werden diese Notsituationen zunehmen. Da nützt es nichts, ein großspuriges Programm zum Schutze des ungeborenen Lebens zu propagieren, wenn ein großer Teil der jetzt Lebenden schon heute nicht ausreichend versorgt ist.
Am besten schützt man die Ungeborenen, indem man die Lebenden schützt.

(Beifall bei den GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Wir bewegen uns in einer Gesellschaft, die Lebenverhältnisse normiert, auf Einheitsmoden, Einheitswohnungen, Einheitsmeinungen, auch auf eine Einheitsmoral, was dazu geführt hat, daß sich Menschen abends hinlegen und vor dem Einschlafen eine Einheitsübung vollführen, wobei der Mann meist eine fahrlässige Penetration durchführt,

(Zuruf von der CDU/CSU: Was ist das denn?)

fahrlässig, weil die meisten Männer keine Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung ergreifen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Woher wissen Sie das denn?)

Die Männer sind gleichwertig an der Entstehung einer Schwangerschaft beteiligt. Dennoch entziehen sie sich ihrer Verantwortung. Mit Strafe bedroht sind bei einem Abbruch nur die Frauen. Erst später greifen Männer als Hüter der Moral wieder ein, indem sie Strafgesetze aufstellen, indem sie als Kirchenfürsten gegen den Abbruch wettern, indem sie als Ärzte, je nach moralischer und politischer Überzeugung, den Frauen helfen oder sie demütigen.

(Beifall bei den GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Am Ende einer Schwangerschaft steht die Geburt. Und das bedeutet eine Verantwortung und Sorge für einen Menschen für die nächsten 18 bis 20 Jahre.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das bedeutet Leben und Wachsen!)

Die Wahrscheinlichkeit, geschieden zu werden, liegt heute bei 25 bis 30 vom Hundert. Nach einer Trennung bleiben die Kinder meist bei den Müttern. Aber auch, wenn die Ehe bestehenbleibt, die Erziehungsarbeit wird auf Grund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung von den Frauen geleistet. Das bedeutet die Zurücknahme von vielen anderen Wünschen und Möglichkeiten für die Frau wie z. B. Berufsarbeit, Weiterbildung, freie Zeit für sich selbst, Mitwirkung an politischer Arbeit. So ist die biologische Fähigkeit, ein Kind zu gebären, für die Frau immer noch zu einem sozialen Schicksal geworden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wird geändert!)

Die Unterdrückung der Frau kann nur aufgehoben werden, wenn die geschlechtsspezifische Arbeit aufgehoben wird.

(Beifall bei den GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Es gibt bei den GRÜNEN eine Mehrheit, zu der auch ich gehöre, die die ersatzlose Streichung des § 218 fordert und sich damit hinter die Forderung der Frauenbewegung stellt.

(Beifall bei den GRÜNEN)




Frau Schoppe
Wenn eine Frau ungewollt schwanger wird, muß sie selbst entscheiden können, ob sie ein Kind möchte oder nicht. Die Schwangerschaftsunterbrechung kann als eine Frage der moralischen Einstellung und der persönlichen Lebensumstände nicht Gegenstand juristischer Verfolgung sein.

(Beifall bei den GRÜNEN — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wie stehen Sie zur Euthanasie?)

Auch bei der Legalisierung der Abtreibung bleiben ein ethischer Konflikt und eine moralische Frage, die ausgetragen werden müssen.
Unsere durch und durch patriarchalisch strukturierte Gesellschaft ist in der Krise. In Krisenzeiten geben die Patriarchen ihr Wohlwollen auf und weisen die Unterdrückten auf ihre Plätze. Die ideologische Aufwertung der Kleinfamilie soll die Frauen mit sanfter Macht in die Familie zurückdrängen. Die Änderung des Scheidungsrechts soll sie dort belassen. Dort sollen sie Haus- und Erziehungsarbeit leisten, die keiner Qualifizierung bedarf, nützlich ist und unbezahlt bleibt. Damit reduziert sich der Lebensinhalt von Frauen wieder auf die drei K's: Kinder, Küche, Kabelfernsehen.

(Beifall bei den GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Arbeitsplätze sind rar, und bei Erwerbslosigkeit ist die Ehe für die Frauen der einzige Garant für ökonomische und soziale Sicherheit. Frauen tauschen damit Autonomie gegen Abhängigkeit vom Mann, dessen Interessen und Wünschen sie sich unterordnen müssen. Das ist es, was Herr Kohl — er ist nicht da — meint, wenn er Familie anpreist. Zurück in die Familie, das ist der patriarchalischreaktionäre Versuch zur Überwindung der Erwerbslosigkeit.
Es geht nicht darum, diejenigen zu denunzieren, die mit großer Anstrengung versuchen, ein Stück Glück auch in der Ehe zu finden. Nur, die Voraussetzungen dafür sind gleichberechtigte Partner, die sich beide an sinnvoller Arbeit in der Politik und bei der Kindererziehung beteiligen können.

(Beifall bei den GRÜNEN — Bohl [CDU/ CSU]: Das kann doch jeder machen, wie er will!)

In einer Gesellschaft in der Menschen ausgebeutet werden, in der eine Politik betrieben wird, die Kriege ins Kalkül zieht, in der Abschreckung die Fähigkeit ist, Menschen vernichten zu können, hat Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung auch in die engsten menschlichen Beziehungen Eingang gehalten:

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen rhetorisch abrüsten!)

Dort werden Kinder drangsaliert und gequält, dort
wird Sexualität zu einem Akt von Herrschaft —
häufig mit dem Resultat einer Schwangerschaft.
Eine Politik, die diese Verhältnisse fortschreibt, lehnen wir mit Empörung und Ekel ab.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

In dieser von Konsumgütern überschwemmten Gesellschaft fordern wir ökonomische Sicherheit für alle Frauen, unabhängig von der Versorgung in der Ehe. Wir fordern eine ausreichende Rente gerade für Frauen, auch wenn sie keine Lohnarbeit geleistet haben, weil es keine Lohnarbeit für sie gab.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir fordern die Bestrafung bei Vergewaltigung in der Ehe. Wir fordern Sie auf, endlich zur Kenntnis zu nehmen, daß auch die Frauen ein Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper und ihr Leben haben. Wir fordern Sie alle auf, den alltäglichen Sexismus hier im Parlament einzustellen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU: Das Liebesparlament! — Bastian-Kelly! — Weitere Zurufe und anhaltendes Lachen)

— Ich merke, daß ich das Richtige gesagt habe; Sie sind getroffen. —

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Erneute Zurufe von der CDU/CSU)

Mit der Ausgrenzung der Frauen aus dem Bereich Arbeit, Politik und Kultur beraubt sich die Gesellschaft eines Moments von Kreativität. Wir, Herr Kanzler, betrachten Ihre Politik der Erneuerung mit Grausen. Wir fordern Maßnahmen, die es Frauen ermöglichen, selbst zu entscheiden, wie sie ihr Leben gestalten wollen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wie lange lesen Sie noch vor?)

Dazu gehört auch die Entscheidung der Frau, ob sie ein Kind möchte oder nicht.
Anstatt die Frauen mit der Verschärfung des § 218 unter Druck zu setzen, sollte einmal darüber nachgedacht werden, wie Schwangerschaftsverhütung betrieben werden könnte. Eine wirkliche Wende wäre es, wenn hier oben z. B. ein Kanzler stehen und die Menschen darauf hinweisen würde, daß es Formen des Liebesspieles gibt, die lustvoll sind und die die Möglichkeit einer Schwangerschaft gänzlich ausschließen.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber man kann natürlich nur über das reden, wovon man wenigstens ein bißchen versteht.

(Beifall bei den GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der CDU/ CSU)




Frau Schoppe
Im Ernst würde ich mit dem Kanzler nie darüber reden wollen.

(Lachen bei der CDU/CSU — Seiters [CDU/CSU]: Werden Sie mal konkret!)

Wer durch seine Politik Umwelt zerstört und Menschenfeindliches initiiert, hat die Chance verspielt, in das Gespräch über Sinnlichkeit einbezogen zu werden.

(Beifall bei den GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000515000
Das Wort hat der Kollege Kleinert (Hannover).

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1000515100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Allzu lange will ich Sie nicht mehr aufhalten. Irgendwann im November oder Dezember des letzten Jahres habe ich gesagt, daß ich die erste Rede im neuen Deutschen Bundestag damit beginnen werde, daß ich Ihnen mitteile, wie sehr ich mich freue, Sie hier wiedersehen zu können.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das wollte ich nun auch gesagt haben.

(Zuruf von der SPD: Den Spaß werden wir Ihnen noch verderben!)

Mit denjenigen, die wir zum erstenmal sehen, werden wir uns auch einleben und eingewöhnen. An unserer Offenheit soll es nicht liegen. Wir sind nicht halb so verklemmt, wie ich das nach dem Vortrag, den wir eben gehört haben,

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

annehmen muß, daß es von uns vermutet wird.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Herr Kleinert, Sie laufen über!)

Es leben eine ganze Menge Leute in diesem Land sehr gesund, ausgeglichen, auch fröhlich, in sehr gesunder Weise fröhlich, und machen es dennoch nicht zum Gegenstand von Plenardebatten.

(Große Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Heiterkeit bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, ich befinde mich da in einer Schwierigkeit, nämlich: Ich meine es nicht so heiter, wie Sie es auffassen. Das Bedenkliche, das dahintersteht, ist doch folgendes: Wir haben jetzt hier zu der Frage, die eine beachtliche Mehrheit der Anwesenden in besonderem Maße interessiert, die Auffassungen zum rechtspolitischen Teil der Regierungserklärung von einer neuen Partei gehört, von einer Partei, die von mehr als den notwendigen fünf Prozent der Bürger gewählt worden ist. Das ist ein demokratisches Ergebnis, das wir selbstverständlich sehr respektieren. Dann kommen wir auf den Gedanken, daß wir von dieser neuen, erstmals hier vertretenen Partei Auffassungen zur Rechtspolitik hören möchten.
Nun behaupte ich keineswegs, daß das Problem, das Sie, Frau Kollegin, angesprochen haben — nämlich im Zusammenhang mit dem § 218 — unwesentlich wäre. Ich behaupte nur, daß Sie denjenigen, die in der von Ihnen — wie auch immer — beschriebenen Weise hier etwa noch leiden unter einer unzulänglichen rechtlichen Regelung, einen sehr schlechten Dienst erweisen, wenn Sie die Sache auf diesen Punkt konzentrieren. Wenn Sie mangels Einbettung

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/ CSU)

in den breiten Gesamtzusammenhang der Rechtsfragen hier so punktuell nur ein Anliegen herausgreifen,

(Erneute Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)

werden Sie denjenigen, die von Ihnen hier vertreten zu werden wünschen, einen wenig guten Dienst erweisen.
Viel intelligenter oder, anders gesagt, viel nützlicher wäre es doch, auf diejenigen einzuwirken, die sich in dieser Sache sehr viel Mühe gemacht haben. Die Sozialdemokraten und die Freien Demokraten haben ja den § 218 vor nicht allzu langer Zeit in erheblicher Weise reformiert. Sie haben dabei versucht, zu einem Ergebnis zu kommen, das von unserer Gesellschaft in ihrer Gesamtheit — natürlich trotz des Protestes der damaligen Opposition; die mußte andere Strömungen, die es sehr wohl gibt und die sich ja auch hören lassen können, vertreten — schließlich einigermaßen angenommen werden kann.

(Beifall bei der FDP)

Und nur, wenn wir versuchen, Recht in der Weise zu setzen, daß sich die Mehrheit — mit mehr oder weniger Widerstreben und im Zweifel die wenigsten mit Begeisterung — darin wiederfinden kann, haben wir die Aussicht darauf, daß das Recht akzeptiert wird, daß es seinen Zweck erreicht und daß es denen, die diese Veränderung am drängendsten gewollt haben — im Zweifel also einer Minderheit —, auch nützt.
Man sollte aber nicht so herangehen, daß man sagt: Diese sozialliberale Koalition damals hat doch gar nichts geleistet; das ist doch lächerlich; wir verlangen jetzt totale Streichung; das ist es. — Es mag ja sein, daß es immer fünf Prozent oder mehr Bürger in diesem Land gibt, die bereit sind, Ihnen auf diesem Wege der absoluten Forderungen zu folgen. Zweifel liegen nahe, weil die meisten Menschen so gebaut sind, daß sie nicht längere Zeit hinter jemandem hergehen, dessen Methoden erwiesenermaßen zum Mißerfolg führen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wenn man den notwendigen Konsens der Rechtsgemeinschaft bei rechtspolitischen Bestrebungen als eine zu vernachlässigende Qualität bezeichnet und einfach nicht einsieht, daß keiner allein, auch keine Gruppe allein ist, sondern daß wir uns alle zusammentun müssen und aufeinander zugehen müssen, um das wirklich Wichtige dauerhaft zu er-



Kleinert (Hannover)

reichen, wird man auf Dauer keinen Erfolg haben.
Das wird sich dann vielleicht auch herumsprechen.
Da ich meine Rede vorher nicht geschrieben hatte, auch nicht mit Sperrfrist und dergleichen, bin ich in der glücklichen Lage gewesen, diese meine Gedanken, die sich mir eben aufgedrängt haben, hier etwas breiter darzustellen. Ich glaube, wir hätten z. B. von Herrn Schily einiges Interessante hören können, aber das ist Ihr organisatorisches Problem.

(Schily [GRÜNE]: Dazu wird sich vielleicht noch die Gelegenheit ergeben!)

— Der Meinung bin ich auch, Herr Schily.
Wir sind heute bei einer sehr allgemeinen Übersicht. Sie ist in einem Punkt ganz speziell geraten. Sie ist leider auch bei Herrn Emmerlich etwas sehr speziell geraten. Herr Emmerlich, wenn Sie meinen: „das sagt sich so einfach, Vereinfachung des Rechts", dann haben Sie natürlich recht. Wir wissen beide, wie schwer es ist, es zu machen und wie leicht es ist, es zu sagen. Aber wären Sie dann doch einen Schritt weitergegangen und hätten einmal drei oder vier Vorschläge gemacht, wo man etwas vereinfachen kann. Das haben Sie in dem Bestreben, dem Bundesjustizminister am Zeuge zu flikken, leider ausgelassen.

Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000515200
Herr Kollege Kleinert, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Kelly?

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1000515300
Ich bitte darum.

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU — Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Petra Karin Kelly (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1000515400
Ich möchte Sie, Kollege Kleinert, fragen, ob Sie dafür sind, daß die Vergewaltigung in der Ehe auch als Straftatbestand in das Strafgesetzbuch kommt? Sie sprechen so viel vom Rechtsstaat. Ich möchte da ein Ja oder ein Nein.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1000515500
Nein.

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU — Frau Kelly [GRÜNE]: Das habe ich mir gedacht! — Erneute Heiterkeit bei der CDU/CSU und. der FDP)

— Frau Kollegin Kelly, ich bin in der Lage, dieses Nein sehr ausführlich zu begründen. Es ist eigentlich nicht so sehr wichtig, an welchem speziellen Paragraphen oder beabsichtigtem Paragraphen man grundsätzlich Erwägungen über das Recht anstellt. Ich nehme deshalb gern Ihre Frage auf, um daran einiges darzustellen.
Wenn Sie in absoluter Beweisnot sind, wenn Sie die Richter in eine noch viel größere Schwierigkeit bringen, herauszufinden, was sich wirklich abgespielt hat, eine Not, die in einer Vielzahl von Fällen gerade im Strafprozeß ohnehin besteht, und wenn Sie dann den intimsten aller Bereiche zum Anlaß für eine Strafvorschrift nehmen und wollen, daß ein Richter entscheidet, dann bringen Sie damit nicht nur den Richter in diesem Einzelfall, sondern bringen Sie das Rechtssystem in eine geradezu verzweifelte Lage.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Denn Sie werden nur erreichen, daß geraten wird, wie es gewesen ist, und zwar durch das Zeugnis des einen gegen den anderen als Angeklagten. Mehr als zwei Menschen sind nicht dabeigewesen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU)

Wenn Sie in dieser Weise Strafvorschriften machen, lediglich um durch die Existenz der Strafvorschrift Prophylaxe zu betreiben, wie sich das übrigens die christdemokratische Union in einem weiten Bereich von Strafvorschriften, die wir inzwischen abgeschafft oder geändert haben, auch immer vorgestellt hat,

(Dr. Schöfberger [SPD] sowie weitere Abgeordnete der SPD: Sehr richtig!)

wenn Sie also meinen, durch die Schaffung solcher Strafvorschriften prophylaktisch tätig werden zu können, dann verkennen Sie den Charakter des Rechts und dann verkennen Sie die dringende Notwendigkeit, dem Recht auch Anerkennung zu verschaffen, anstatt es ad absurdum zu führen, indem Sie eine Bestimmung machen, die in der Praxis nur zu Erpressung, zu Nötigung, zu Fehlurteilen so herum oder so herum führen muß. Das ist das Gegenteil von Recht!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist das Gegenteil von Recht!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das einfach so wegen eines — zweifellos wichtigen — Anliegens zu machen und damit das ganze Rechtssystem durcheinanderzubringen und unglaubwürdig zu machen,

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das Thema erfordert ein gewisses Maß an Seriosität! Ein bißchen seriöser, Herr Kleinert!)

das führt mich präzise auf das zurück, was ich schon vorhin Ihrer Frau Kollegin gesagt habe. Dann, wenn Sie nicht den Querschnitt solcher Probleme sehen, sondern sich immer eines herausnehmen und aus Gründen, die ich sehr wohl zu respektieren und einzusehen vermag, die Lösung fordern, ohne die seitlichen Bezüge zu sehen, ohne zu sehen, wie sie dabei das ganze System in Frage stellen, kommen Sie mit dieser punktuellen Arbeitsweise zur Ruinierung des Rechtsstaates, aber niemals zur Befriedung in dem Bereich, den Sie gerade befrieden wollen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das ist etwas, worüber wir uns schon seit einigen Jahren Gedanken machen und worum wir uns auch weiter ganz konsequent bemühen werden.
Hier sind spektakuläre Dinge angesprochen worden; auch die Ehescheidung ist wieder angesprochen worden. Wir haben das Verschuldensprinzip



Kleinert
abgeschafft. Auch die damalige Opposition hat sich ja schließlich in dem gewissen Kränzchen, das die Verfassung nicht vorgesehen hat, mit uns darauf verständigt, daß wir das im Grundsatz erst einmal gemeinsam machen. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß dabei natürlich Fehler unterlaufen sind und daß natürlich nachgebessert werden muß. Außerdem hat — der Bundesjustizminister, Herr Engelhard, hat es vorhin schon gesagt — uns das Verfassungsgericht einiges aufgegeben, was wir zu berücksichtigen haben werden.
Wir sollten aber darüber hinausgehen. Nach sorgfältiger Erwägung und in dem Bemühen, zu einem Einverständnis mit allen Teilen des Hauses zu kommen, wie wir auch damals bei der ursprünglichen Änderung zu einer Verständigung gekommen sind — ein Vorgang, der manchmal auch in breiterer Öffentlichkeit verdrängt wird —, sollten wir wieder zu einer Verständigung kommen und sollten versuchen, das, was uns am Anfang vorgeschwebt hat und was dann durch eine Reihe von sozialpolitischen Feinheiten etwas zurückgetreten ist, wieder mehr herauszubringen, nämlich daß nach dieser Trennung ohne Rücksicht auf Verschulden auch im Bereich des sogenannten Folgerechts eine Trennung gegeben sein soll, im Bereich nicht nur des Finanziellen, sondern auch der elterlichen Sorge, damit nicht das, was einmal nicht richtig gegangen ist, noch viele Jahrzehnte hindurch Fortwirkungen hat, obwohl man sich beiderseits entschieden hatte, zu sagen: Es ist nicht mehr gegangen.
Meiner Ansicht nach sind wir — und die Rechtsprechung hat das jetzt noch etwas mehr nachgezeichnet — zu sehr von dem Ziel abgekommen, zu sagen, daß in aller Regel die Trennung auch im finanziellen Bereich erfolgen muß und daß Folgeregelungen in erster Linie zum Ziel haben müssen, die beiden Partner voneinander unabhängig zu machen, d. h. daß der stärkere Partner, in der Regel also der Mann, dabei helfen muß, den, der durch die Ehe Nachteile in seinem beruflichen Fortkommen erlitten hat, so viel stärker zu machen, daß er sich seinem weiteren Leben ganz selbständig stellen kann.
Dies geht natürlich völlig unter, wenn ich die Ehe, wie sich das in einigen Urteilen abzuzeichnen scheint, als eine Art von Lotto betrachte: einmal richtig gezogen, immer richtig gezogen.

(Zustimmung bei Abgeordneten der FDP)

Es geht nicht an, daß ich dann, wenn ich einmal aus Versehen den bekommen habe, der finanziell überdurchschnittlich gestellt ist, daran bis an mein Lebensende partizipiere, ganz gleich, wie lange oder wie kurz die sogenannte Lebensgemeinschaft gedauert hat, und völlig ungeachtet der Tatsache, daß sie schon längst nicht mehr besteht. Es kann nicht so sein, daß dies eine gewollte Folge des Ehescheidungsrechts ist.

(Zustimmung des Abg. Lowack [CDU/ CSU])

Das müssen wir, so meine ich, als Leitlinie nehmen, nicht so absolut, daß wir gleich alles herrlich in Ordnung bringen könnten. Das kann nämlich gar keiner; dazu sind die Verhältnisse zu kompliziert und zu differenziert. Aber das müssen wir als Leitlinie bei dem im Auge behalten, was hier zu reformieren sein wird.
Im übrigen, Herr Emmerlich, waren Sie so liebenswürdig — der Wahlkampf war eigentlich zu Ende, aber wir können noch einmal anfangen —, zum Teil in einer Weise, die uns sonst nicht so sehr verbunden hat, auf die interessante Frage einzugehen, was die Liberalen als Beitrag zur Rechtspolitik in der neuen Koalition leisten werden. Wir werden versuchen — das ist das Interessante, Herr Emmerlich; Sie wissen genau, wovon ich rede —, uns so unabhängig unseren eigenen liberalen rechtspolitischen Vorstellungen zu widmen, wie wir das mit großem Verständnis auf ihrer Seite, wovon nichts zurückgeht, in der Vergangenheit getan haben.

(Beifall bei der FDP — Frau Dr. DäublerGmelin [SPD]: Das wollen wir doch erst einmal sehen! — Weitere Zurufe von der SPD)

Wenn Sie sagen, es sei eine Unverschämtheit vom Bundesjustizminister, daß er Belobigung dafür verlangt, daß der § 218 nicht im rechtlichen Bereich, sondern nach Ihren Behauptungen nur im sozialrechtlichen Bereich angetastet werden soll, dann kann ich Ihnen nur erwidern: In dem letzten Wahlkampf haben Ihre Leute und Ihre Helfer aus den verschiedensten Gruppen präzise behauptet, eben der § 218 und das Demonstrationsstrafrecht auf weitester Basis und andere Dinge würden ab sofort geändert. Damit haben Sie versucht, gegen uns Meinung zu machen. Deshalb hat Herr Engelhard natürlich recht, wenn er sagt, es sei nicht so gekommen. Es wird auch weiterhin nicht so kommen. Das gilt bei dem, wovon wir soeben geredet haben, nicht nur im rechtlichen, sondern auch im sozialrechtlichen Bereich.

(Zurufe von der SPD)

Seien Sie im übrigen vorsichtig; sonst machen Sie uns das Geschäft zu leicht! Ich warne Sie, hier gegen eigene Interessen zu handeln. Sie machen uns das Geschäft zu leicht, wenn Sie dauernd solche schrecklichen Greuel an die Wand zeichnen, so daß wir es dann, weil das alles so schrecklich hingemalt ist, sehr leicht haben, hinterher zu beweisen, daß es nicht so kommen wird, weil wir weiter liberale Rechtspolitik machen werden.

(Beifall bei der FDP)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000515600
Das Wort hat die Kollegin Frau Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1000515700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich rede hier zur Agrarpolitik. Ich sage Ihnen ein offenes Geheimnis, wenn ich darauf hinweise, daß ein Großteil der Bauern, die bisher CDU gewählt haben, immer noch CDU gewählt hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch vernünftig!)

Ich denke, daß es für diese Bauern äußerst bemerkenswert ist, daß die Regierungserklärung des



Frau Dr. Vollmer
Herrn Bundeskanzlers für die Situation der Bauern, von der wir wissen, daß sie sehr dramatisch ist, nur ein gutes halbes Prozent ihres Umfangs übrig hatte und daß die Situation der Bauern Ihnen nicht einmal eine Diskussion im Rahmen dieser Generalaussprache wert ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich denke, die Bauern werden es sich merken, daß sie damit das Schlußlicht, was die hier offensichtlich erörterungswürdigen Probleme angeht, bilden und daß sie dieses Schicksal nur noch mit der Situation der Frauen teilen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nicht nur aus diesem Grunde sind wir uns wohl bewußt, in welcher Lage wir uns in diesem nun halbleeren Haus befinden, wenn wir von dieser Stelle zum erstenmal die agrarpolitischen Alternativen der GRÜNEN vortragen. Wir sehen uns dabei einer einheitlichen Front gegenüber. Dazu zählen wir nicht nur die hochkarätigen Agrarier der Koalition, sondern ebenso die Wachstumspolitiker der SPD sowie natürlich in erster Linie die durch ihren Präsidenten seit neuestem in diesem Hohen Hause erheblich verstärkte Spitze des Deutschen Bauernverbandes. Auch wissen wir, daß die Hoffnungen vieler Bauern auf eine den Bauern freundliche Politik der CDU durch die Tatsache verstärkt wurde, daß ein Mann wie Ignaz Kiechle gerade zu einer Zeit zum Minister gemacht wurde, in der die Milchbauern um die Preise zittern.

(Gansel [SPD]: Das ist die fünfte Fruchtfolge!)

Unser Teil in diesem Haus kann nur die Ankündigung einer grundlegenden und umfassenden agrarpolitischen Opposition sein, und dies aus dem einzigen Grund, weil immer mehr Bäuerinnen und Bauern eine radikale Änderung der gesamten Agrarpolitik fordern.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sagen Sie einmal, was Sie wollen!)

Deren Forderungen und praktische Alternativen, die Sie kennen — z. B. Jochen Borchert kennt sie sehr gut —, wie etwa die Thesen der Landjugend oder die Position des „Bauernblattes", haben wir nur aufzunehmen, und ihnen fühlen wir uns verpflichtet.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Die Situation ist dramatisch eindeutig. 100 000 Betriebe stehen akut vor dem Ruin. Das sind, wenn man endlich auch einmal die Bäuerinnen dazurechnet, 200 000 bedrohte bäuerliche Arbeitsplätze. Tag für Tag gehen 45 von diesen Betrieben kaputt. Das ist die Wirklichkeit der bäuerlichen Familienbetriebe, von der der Herr Bundeskanzler sprach und von der Herr Genscher schwärmte.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Alle bisher im Bundestag vertretenen Parteien haben in der bäuerlichen Landwirtschaft voll auf Wachstum und auf Rationalisierung gesetzt. Die Kleinbetriebe wurden einem mörderischen und sehr ungleichen Konkurrenzkampf ausgesetzt, egal unter welcher Regierung. Die EG-Agrarpolitik hat daran einen ganz erheblichen Anteil. Herr Vogel, Sie hätten in Ihrer Oppositionsrede zumindest erwähnen müssen, daß von den ganzen EG-Agrarmilliarden keine Mark bei den Kleinbauern ankommt,

(Beifall bei den GRÜNEN)

sondern daß diese Milliarden gerade eingesetzt wurden, um die Kleinbauern in ganz Europa zu vernichten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Hätten wir nur ein Zehntel dieser Milliarden, wir könnten die bäuerlichen Kleinbetriebe in unserem Lande retten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das gewollte Höfesterben hat seit der Mitte der 50er Jahre — damals war immerhin die CDU an der Regierung — bis heute mehr bäuerliche Existenzen gekostet als das Bauernlegen in Preußen bei der sogenannten Bauernbefreiung.

(Hört! Hört! bei den GRÜNEN)

Keine Enteignung — und die Bauern fürchten Enteignungen — ist so reibungslos und so umfassend verlaufen wie die millionenfache Enteignung kleinbäuerlichen Eigentums durch den Zwang in die moderne hochrationalisierte Landwirtschaft, die die Agrarpolitik unterstützt hat und der der Bauernverband nicht widerstanden hat.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Vier Millionen Arbeitsplätze wurden dabei wegrationalisiert. Die Landwirtschaft erlitt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine historische Niederlage.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich will auch die Gewinner nennen. Es waren die Landmaschinenindustrie, die chemische Industrie — diese ganz besonders —, die Banken, die zunehmend bauernfeindlichen Großgenossenschaften, die Nahrungsmittelindustrie und auch die wenigen geförderten Wachstumsbauern.
Diese Agrarpolitik ist verdammt teuer bezahlt. Den Preis dieser Entwicklung zahlen wir alle. Die Produkte des Bauern wurden unter dem ständigen Rationalisierungsdruck immer mehr zu bloßen toten Rohstoffen, zu Produktionsfaktoren, an denen nur ihre vielseitige Brauchbarkeit für die industrielle Verarbeitung und ihre Billigkeit interessierten.
Ich kreide es besonders Ihnen von der SPD und vor allem den Vertretern des Bauernverbandes an, daß nicht einmal Sie die Arbeiterinnen und Verbraucherinnen darüber aufgeklärt haben, welchen Preis ein so auf Kosten der Bauern billig gemachtes Nahrungsmittel kostet. Es kostet nämlich außer dem Ruin der Kleinbauern, der teuer genug ist, die zunehmende Verschlechterung der Qualität der Nahrungsmittel, es kostet die Verödung und Versteppung von Kulturlandschaften, die einmal von großer Harmonie und Schönheit waren,

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)




Frau Dr. Vollmer
es kostet die zunehmende Abhängigkeit von fremder Energie. Die Landwirtschaft, von Haus aus ein Energieerzeuger, wird zunehmend zum Energiefresser. Es kostet — was tödlich ist — die Futtermittel, nein: die Lebensmittel der Menschen in der Dritten Welt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es kostet den unwiderbringlichen Verlust kostbarer Tier- und Pflanzenarten; es kostet die Belastung des Grundwassers. Es kostet auch die Lebenskraft der Dörfer, wozu, Herr Genscher, noch viel mehr an in Jahrhunderten gewachsener Kultur gehört als die Ihnen so liebe freiwillige Feuerwehr.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nicht einmal diese Feuerwehr wird in der Selbstbestimmung der Dörfer belassen, sondern den städtischen Zentren unterstellt. Wir fragen uns, was Sie mit dieser Feuerwehr noch vorhaben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir hören: Jetzt soll sich alles ändern. Sie, Herr Minister Kiechle, sollen in Brüssel nächtelang erbittert gekämpft haben. Um was ging es? Um 2 % oder um 1 %? Um den Grenzausgleich? Um eine Senkung des Milch- und Getreidepreises? In bezug auf unsere nationale Agrarpolitik soll es jetzt tatsächlich die Möglichkeit geben, daß Betriebe mit Baulandverkäufen in den Wohnungsbau einsteigen können, und zwar steuerbegünstigt. Was für ein Fortschritt! Was für eine Rettung für die bäuerlichen Kleinbetriebe! Nein, was für ein Hohn!
Ihr eigener Agrarbericht beschreibt die Situation der bäuerlichen Landwirtschaft deutlicher, als es die kühnsten Oppositionellen tun könnten: In den letzten Jahren waren 100 000 Betriebe praktisch ohne Einkommen. Laut Agrarbericht leben bereits 40 % aller Betriebe von der Substanz. Um es mit den Worten eines Bauern aus dem Kreis des „Bauernblatts" zu sagen: Wenn ich das von mir geerntete Getreide lagern und für mich behalten könnte, so könnte ich davon mit meiner Familie 30 Jahre lang essen; wenn ich damit unter heutigen Bedingungen nur ein Jahr wirtschafte, kann ich damit kein Jahr existieren.
Was schlagen Sie dagegen vor?

(Zuruf von der CDU/CSU: Was schlagen Sie denn vor?)

In der Regierungserklärung ja sehr wenig. Sonst hören wir folgende Vorschläge. Sie schlagen ein allgemeines Agrarkreditprogramm vor. Das taugt nichts und nutzt wiederum nur den Wachstumsbetrieben. Wer kein Einkommen hat, kann nämlich nicht einmal die 3 % Zinsen bezahlen. Sie fordern mit großem Aufwand wenigstens eine Erhöhung der Agrarpreise um 1 % für die deutschen Bauern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Zurück in die Steinzeit!)

Das rettet die Kleinen nicht und zwingt nur zu weiteren Rationalisierungen. Weitere Rationalisierungen in der Landwirtschaft bedeuten mehr Abhängigkeit vom Kapitalmarkt, mehr Energievergeudung, mehr Chemie und mehr Bauernsterben. Es ist
dies — ich zitiere den Bund für Umwelt und Naturschutz — „unter umweltpolitischen Gesichtspunkten ein Selbstmordprogramm auf Raten". Ich ergänze: Es ist auch ein Selbstmordprogramm der bäuerlichen Landwirtschaft selbst.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Unsere Alternative — danach haben Sie ja gefragt —: Sämtliche agrarpolitischen Maßnahmen müssen an zwei Kriterien gemessen werden. Sie müssen erstens bäuerliche Arbeitsplätze sichern oder neu schaffen, und sie müssen zweitens die ökologische Produktion naturnaher Lebensmittel garantieren.
Ganz konkret: Der Kleinbauer aus Ihrer Heimat, Herr Minister Kiechle, braucht für seine Milch nicht 2 %, sondern 20 % bis 30 % mehr, wenn er existieren und naturnah produzieren will.

(Frau Dr. Adam-Schwaetzer [FDP]: Was zahlt dann der Verbraucher?)

Dafür fordern wir bei den, Großproduzenten deutliche und spürbare Preisabschläge, um jeden Anreiz zum Wachstum zu nehmen. Wir fordern also gestaffelte Preise zugunsten der Kleinen — endlich einmal umgekehrt, wie es die Genossenschaften sonst gegenüber den Großen zu handhaben pflegen.

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Ein tolles Programm, bei dem jedes Weizenkorn ausgezeichnet wird! — Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Wer kriegt dann die billige Milch?)

Kommen Sie jetzt nicht mit dem Argument, daß der Arbeiter das nicht bezahlen kann.

(Zuruf von der CDU/CSU: Kann er das?)

Wenn diese Milch wieder dezentral vermarktet wird, wenn die Verpackungs- und Verarbeitungsindustrie dabei nicht mehr — im wahrsten Sinne des Wortes — den Rahm abschöpft —,

(Beifall bei den GRÜNEN) dann wird diese Milch nicht einmal teurer.


(Zuruf von der CDU/CSU: Jedem Berliner seine Kuh!)

Wir fordern weiterhin im Interesse der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und der Verbraucher ein Verbot der Massentierhaltung.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir fordern die sofortige Auszahlung der Gelder aus dem Bergbauernprogramm, die bei der EG bereitliegen. Wir fordern die Staffelung der Sozialbeiträge nach Betriebseinkommen, damit es endlich nicht mehr so ist, daß ein Kleinbauer zwischen 30 und 40 % von seinem Einkommen für seine Sozialabgaben bezahlen muß.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir fordern die Abschaffung des einzelbetrieblichen Förderprogramms. Diese Gelder sollen ausschließlich zur Rettung der Kleinbetriebe und für Umstellungsmaßnahmen in Richtung auf ökologischen Landbau verwendet werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)




Frau Dr. Vollmer
Ich komme zum Schluß. Meine Damen und Herren, nur noch knapp 6 % unserer Bevölkerung sind Bäuerinnen und Bauern. Diese 6 % ernähren mit ihren Produkten unsere gesamte Bevölkerung. Aber immer weniger von ihnen können allein vom Erlös ihrer Produkte existieren. Diesen offensichtlichen Widersinn, diese absolute Unvernunft muß eine Agrarpolitik beseitigen, die sich wirklich der bäuerlichen Landwirtschaft verpflichtet weiß. Das ist unser Programm.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Die Landwirtschaft braucht Wachstum!)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000515800
Das Wort hat der Kollege Seiters.

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1000515900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser letzte Beitrag war wieder einmal kennzeichnend für die falschen Voraussetzungen, von denen die Mitglieder der Fraktion der GRÜNEN bei einigen Beiträgen ausgegangen sind. Bei Ihnen klappt die Kommunikation zwischen Ihren Parlamentarischen Geschäftsführern und den Mitgliedern nicht. Sie müssen noch ein bißchen häufiger tagen. Der Parlamentarische Geschäftsführer Ihrer Fraktion hätte Sie nämlich darauf hinweisen können, daß wir heute im Ältestenrat den
Beschluß gefaßt haben — auf Antrag der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion —, in der nächsten Sitzungswoche eine dreistündige Diskussion über die Agrarpolitik zu führen. Für uns ist diese Thematik viel zu wichtig, als daß wir sie jetzt am Abend noch behandeln. Wir führen darüber eine eigene Debatte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID1000516000
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir für die heutige Sitzung nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Mai 1983, 9 Uhr ein.
Wir beginnen dann mit der Beratung der Tagesordnungspunkte 3 bis 6 — dazu gehören Abstimmungen — und setzen anschließend die Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung fort.
Die Sitzung ist geschlossen.
Guten Abend, meine Damen und Herren.