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ID1000507300

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    Plenarprotokoll 10/5 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 5. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1983 Inhalt: Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Einberufung einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages am 8. Mai 1983 aus Anlaß des 38. Jahrestages des Endes der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges Reents GRÜNE 147 B Dr. Schäuble CDU/CSU 148 D Dr. Hauff SPD 149 C Wolfgramm (Göttingen) FDP 150 B Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Althammer CDU/CSU 150 D Hoffmann (Saarbrücken) SPD 153 B Hoppe FDP 155D Kleinert (Marburg) GRÜNE . . . . 158C, 186D Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMF . . 161 C Dr. Apel SPD 167 A Börner, Ministerpräsident des Landes Hessen 173A Dr. Graf Lambsdorff FDP 176 C Roth SPD 181 D Dr. Stoltenberg CDU/CSU 187 A Hauser (Krefeld) CDU/CSU 187 B Reuschenbach SPD 190 B Dr. Haussmann FDP 193 B Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 195 B Frau Fuchs (Köln) SPD 201A Dr. George CDU/CSU 205B Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMBW 207 C Lutz SPD 210B Hoss GRÜNE 212B Cronenberg (Arnsberg) FDP 214D Dr. Zimmermann, Bundesminister BMI 218C Dr. Schmude SPD 222 D Fischer (Frankfurt) GRÜNE 226 B Dr. Miltner CDU/CSU 228 C Dr. Hirsch FDP 231C Schäfer (Offenburg) SPD 233 D Dr. Ehmke (Ettlingen) GRÜNE 236 D Engelhard, Bundesminister BMJ . . . 239A Dr. Emmerlich SPD 241 D Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . 245C Frau Schoppe GRÜNE 248 A Kleinert (Hannover) FDP 250A Frau Dr. Vollmer GRÜNE 252 D Seiters CDU/CSU 255A Vizepräsident Westphal 226 D Vizepräsident Wurbs 245 B Nächste Sitzung 255 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 257*A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 257* C Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1983 147 5. Sitzung Bonn, den 5. Mai 1983 Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 6. 5. Berschkeit 6. 5. Böhm (Melsungen) * 6. 5. Büchner (Speyer) 6. 5. Dr. Enders * 6. 5. Dr. Engelsberger 6. 5. Hartmann 6. 5. Dr. Hornhues 6. 5. Kittelmann * 5. 5. Lahnstein 5. 5. Lemmrich * 5. 5. Dr. h. c. Lorenz 5. 5. Offergeld 5. 5. Poß 5. 5. Schmidt (Hamburg) 6. 5. Schmidt (Wattenscheid) 6. 5. Schreiber 6. 5. Schröer (Mülheim) 5. 5. Spilker 6. 5. Frau Steinhauer 6. 5. Vogt (Düren) 5. 5. * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Präsident des Bundesrates hat mit Schreiben vom 29. April 1983 mitgeteilt, daß der Bundesrat in seiner Sitzung am 29. April 1983 der vom Deutschen Bundestag am 29. März 1983 beschlossenen Weitergeltung der Gemeinsamen Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Ausschuß nach Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuß nach Artikel 53 a des Grundgesetzes Geschäftsordnung für das Verfahren nach Artikel 115d des Grundgesetzes zugestimmt hat. Der Bundesminister der Finanzen hat mit Schreiben vom 2. Mai 1983 mitgeteilt, daß er seinen Antrag Veräußerung des bundeseigenen Geländes an der Schleißheimer Straße in München an die Landeshauptstadt München - Drucksache 10/22 - zurückzieht.
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    Rede von Anke Fuchs


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nun genau zugehört, weil ich gern wissen wollte, auf welcher Grundlage eigentlich der Bundesarbeitsminister uns ein Angebot macht. Sie, Herr Bundesarbeitsminister, haben davon gesprochen, daß man Gestaltungskraft für das Neue haben müsse. Ich finde es hochinteressant, daß der Bundesarbeitsminister über die einfache Tatsache hinweggeht, daß wir 17 Milliarden DM ausgeben, um die Arbeitslosen zu bezahlen, insgesamt sogar 55 Milliarden DM, und daß dieser Bundesarbeitsminister zu diesem Thema keinen Satz sagt. Das ist eine bemerkenswerte Feststellung.

    (Hört! Hört! und Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Sie sprechen das Thema Arbeitslosigkeit kaum an. Ich habe nichts gehört über Arbeitszeitgesetz, über Vorruhestandsregelung.

    (Egert [SPD]: „Vollbremsung"!)

    Ich habe nichts gehört über Harmonisierung der Alterssicherungssysteme. Ich habe nichts gehört, was Sie eigentlich im Rahmen Ihrer Zuständigkeit tun wollen, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

    (Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Sie haben zu viele Zwischenrufe gemacht, Frau Kollegin! Sie müssen besser zuhören!)

    Deswegen, Herr Bundesarbeitsminister, gebe ich Ihnen ein Bild aus Kindertagen.

    (Kittelmann [CDU/CSU]: Sie hört nicht, weil sie nicht hören wollte!)

    Hören Sie auf, mit Indianergeheul draußen herumzutoben, sondern setzen Sie sich drinnen hin und machen Ihre Schularbeiten! Sonst werden Sie das Klassenziel nie erreichen.

    (Beifall bei der SPD)

    In dieser Debatte, meine Damen und Herren, ist deutlich geworden, daß der viel zitierten Wende zweiter Teil ins Haus steht. Sie, Herr Bundeskanzler, und die Bundesregierung wollen offenbar jenen gefährlichen Weg fortsetzen, den Sie mir Ihrer Koalitionsvereinbarungen vom Herbst 1982 begonnen haben und den Sie im Bundeshaushalt 1983 und in seinen Begleitgesetzen manifestiert haben. Sie schneiden ein in das soziale Netz, Sie belasten einseitig die sozial Schwachen, schonen und bevorzugen aber die Stärkeren. Und wenn Graf Lambsdorff schon meint, Gerechtigkeit gebe es nicht in der Welt — das mag ja sein —, so frage ich ihn aber: Ist es eigentlich gerecht, daß diejenigen Menschen, die bis zur Beitragsbemessungsgrenze verdienen, auf ihren Lasten hängenbleiben, während diejenigen, die über 100 000 DM im Jahr verdienen, ihre Zwangsabgabe zurückbekommen?

    (Beifall bei der SPD)

    Es geistert die Auffassung durch die Debatte, Sozialleistungen müßten auf die wirklich Bedürftigen konzentriert werden. In der Sozialpolitik geht es im Kern um die Solidargemeinschaften, die breite Bevölkerungsschichten gegen elementare Lebensrisiken sichern sollen. Die Sozialversicherungssysteme sind im wesentlichen beitragsfinanziert. Zu den Leistungen, die auf dem Sozialversicherungsprinzip beruhen, treten Elemente des sozialen Ausgleichs hinzu. Nach sozialdemokratischer Auffassung müssen diese Solidargemeinschaften Zentralbereiche sozialpolitischer Gestaltung bleiben.

    (Beifall bei der SPD)

    Verläßliche Rechtsansprüche, die sich die Arbeiterbewegung erstritten hat, sind wesentliche Kennzeichen sozialgeschichtlicher Entwicklung. Sie stehen im Gegensatz zu einer Armenfürsorge alter Prägung, zu Leistungen, die eine geneigte Obrigkeit den Untertanen gewährt. Die Bundesrepublik ist kein Obrigkeitsstaat, sie ist ein sozialer Rechtsstaat. Ein Zurück zur Armenpflege wird es mit uns nicht geben.

    (Kittelmann [CDU/CSU]: Wer will denn das? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Sie wollen das. Sie wollen Sozialpolitik reduzieren auf die wirklich Bedürftigen. Wir werden Sie in diesen vier Jahren immer wieder auf diesen Punkt hinweisen, meine Herren Abgeordneten von der CDU.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Das ist doch eine Wahlkampfrede! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Hinter Ihrem Konzept steckt noch ein weiteres Prinzip konservativer Sozialpolitik.

    (Kittelmann [CDU/CSU]: Das glaubt Ihnen Gott sei Dank kein Mensch draußen! — Seiters [CDU/CSU]: Ein bißchen ruhiger! Das kann man j a nicht mitanhören!)

    Mitte der 70er Jahre war es Kurt Biedenkopf, der verlangt hatte, große Risiken wieder zu privatisieren und Teile des öffentlich-rechtlichen Systems sozialer Sicherung preiszugeben. Diese Idee hat sich jetzt bei der Generalsekretärin der FDP festgesetzt,



    Frau Fuchs (Köln)

    die die Grundsätze des Freiburger Programms über Bord geworfen und sich selbst ihrer sozialliberalen Substanz begeben hat. Es ist j a Ihre Generalsekretärin, Herr Mischnick, die uns andient, die lohnersetzende und lebensstandardsichernde Funktion sozialer Leistungen durch eine Grundsicherung abzulösen und die Menschen im übrigen auf Privatversicherungen zu verweisen.

    (Zurufe von der SPD: Unerhört!)

    Es liegt auf der Hand, daß Gewerkschafter und Sozialdemokraten diesen Entsolidarisierungs- und Reprivatisierungsbemühungen eine klare Absage erteilen.

    (Beifall bei der SPD)

    Es gibt noch einen Punkt, den ich Ihnen zu bedenken geben möchte. Ich verstehe, daß Sie anderer Meinung sind, ich habe auch gar nichts dagegen. Diese Debatte wird nämlich ganz deutlich zeigen, daß wir von anderen gesellschaftspolitischen Vorstellung ausgehen als die konservative Regierung dieses Landes.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Nun werden Subsidiarität und Entstaatlichung immer miteinander gleichgesetzt. Diese naive Variante der Auslegung des Subsidiaritätsprinzips bemängelt schon Oswald von Nell-Breuning — da werden Sie sicher zuhören —, der Nestor der katholischen Soziallehre, der seit einem Vierteljahrhundert sagt:
    Das Subsidaritätsprinzip besagt nicht, daß der einzelne vorzuleisten habe, und erst dann, wenn seine Kraft erschöpft sei und sich eine ergänzende Leistung von dritter Seite als erforderlich erweise, habe die Gesellschaft einzuspringen. Es verhält sich nahezu umgekehrt. Der gesellschaftliche Verband, sei es die Familie, sei es der Staat, hat vorzuleisten, nämlich die Bedingungen und Voraussetzungen zu schaffen, unter denen das Glied, im Falle der Familie das Kind, im Falle des Staates die einzelnen Bürger, aber auch die Familien überhaupt, erst imstande sind, ihre Leistung einzusetzen.
    Oswald von Nell-Breuning fügt zum Subsidiaritätsprinzip hinzu:
    Eben darum sollte man ihm seinen Kredit nicht rauben, indem man es sinnwidrig zu Tode reitet oder dazu mißbraucht, um Sachfragen, anstatt sie sachlich zu erörtern und zu lösen, in logisch unhaltbarer Weise zu präjudizieren.
    Diesen Mißbrauch des Subsidiaritätsprinzips, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, müssen sich heute viele aus Ihren Reihen ankreiden lassen.

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Im Bundesarbeitsblatt hat Werner Remmers das ganz einfach ausgedrückt. Er hat gesagt: Subsidiarität ist einfach kostengünstiger. Kurt Jantz, der frühere Generalsekretär für die Sozialreform, fügt ironisch hinzu: „Das negative Subsidiaritätsprinzip möglichster Enthaltung des Staates ist ein häufig gebrauchtes Instrument jedes Haushaltsministers. Freie Verantwortung des einzelnen entlastet den Staatshaushalt."

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Für die Sozialpolitik empfiehlt Herr Jantz aber eine positive Subsidiarität: „Diese Subsidiarität erfüllt der Staat am besten dadurch, daß er möglichst viele zu ihren Solidarpflichten durch Rechtsnormen heranzieht. So mündet der positive Subsidiaritätsbegriff in den Begriff der Solidarität." — Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten sind für diese Solidarität, nämlich dafür, möglichst viele zu den Solidarpflichten heranzuziehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Kürzungspolitik im Sozialbereich, die unter diesem mißdeuteten Subsidiaritätsprinzip betrieben wird, zeigt, daß Sie, meine Damen und Herren — das ist heute auch in der Debatte deutlich geworden —, die soziale Wirklichkeit großer Gruppen unserer Bevölkerung entweder nicht zu Kenntnis nehmen oder sich mit leichter Hand über sie hinwegsetzen. Wir Sozialdemokraten dagegen orientieren uns an der sozialen Wirklichkeit der breiten Bevölkerungsschichten. Ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern bleibt Kern unserer Politik.

    (Zustimmung bei der SPD — Bohl [CDU/ CSU]: Ach du Schreck, ihr habt doch die Arbeitslosigkeit geschaffen!)

    Heute erzielt ein Arbeitnehmer im Durchschnitt einen Bruttolohn bzw. ein Bruttogehalt von 2 680 DM im Monat, wovon ihm netto rund 1 850 DM bleiben. Wird er arbeitslos, bekommt er bestenfalls 1 258 DM Arbeitslosengeld. Ein Durchschnittsverdiener bezieht nach 40 Versicherungsjahren eine Monatsrente von 1 205 DM. Die tatsächlich gezahlten Renten liegen, wie wir alle wissen, niedriger, weil die meisten keine 40 Versicherungsjahre erreichen oder in Branchen mit niedrigen Löhnen gearbeitet haben.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Ergebnis Ihrer Politik!)

    Diese Fakten zeigen: Es ist töricht, Kampfbegriffe wie „Anspruchsinflation" im Munde zu führen und zu behaupten, die Bundesbürger lebten über ihre Verhältnisse.

    (Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Woher kommen denn die Arbeitslosen? Wer hat denn 13 Jahre lang regiert?)

    Einen besonderen Beigeschmack haben solche Aussagen, wenn Bezieher von Spitzeneinkommen sie machen, denen aus dem Ehegattensplitting ein Steuervorteil zuwächst, der so groß ist wie die Jahresrente eines Durchschnittsverdieners nach 40 Versicherungsjahren.

    (Beifall und Hört! Hört! bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Bei der neuen Heimat! — Bohl [CDU/CSU]: Schmidt verdient an einem Abend 20 000 Dollar!)

    Auch wir Sozialdemokraten wissen, daß es erforderlich ist, die Sozialpolitik in veränderte und sich ver-



    Frau Fuchs (Köln)

    ändernde ökonomische und demographische Rahmenbedingungen einzufügen, und daß Strukturreformen zu erfolgen haben. Dies kann jedoch nur geschehen, indem das Gebot sozialer Ausgewogenheit und Gerechtigkeit strikt beachtet wird.
    Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler ist mit großem Geschick an das Thema „soziale Dienste" herangegangen. Wir alle sind uns darüber einig — der Bundesarbeitsminister hat es eben angesprochen —, daß die häusliche Pflege unterstützt werden muß und daß wir sie ausweiten müssen. Dies kann aber sicherlich nicht allein durch Nachbarschaftshilfe geschehen; es bleibt die Aufgabe, soziale Dienste zur Verfügung zu stellen, und diese Aufgabe muß durch aktive Sozialpolitik und vor allem durch aktive Kommunalpolitik gelöst werden. Es hätte dem Bundeskanzler sicher gut angestanden, wenn er in diesem Zusammenhang einmal den Einsatz der Zivildienstleistenden besonders gelobt hätte.

    (Beifall bei der SPD)

    Wo stünden eigentlich unsere sozialen Einrichtungen, wenn wir diese jungen Männer mit ihrem Engagement nicht hätten?
    Herr Blüm hat das Thema „Pflegebedürftigkeit" angesprochen. Nun haben ja wir alle bei der Rede des Bundeskanzlers genau zugehört, und der Bundeskanzler griff dieses Thema anders auf. Wir hörten, die häusliche Pflege und die ambulante Pflege älterer Menschen müßten vorrangig unterstützt werden. Wir waren einverstanden und dachten, nun käme in der Regierungserklärung endlich ein Wort zu der Frage, wie die notwendige Pflege sichergestellt werden soll, zu der Frage, wie wir für die alten Menschen sorgen, die in ein Heim müssen und Sozialhilfeempfänger werden. Der Bundeskanzler ging dieses Problem auf eine besondere Art an. Er sprach nämlich von der Nachbarschaftshilfe und dann vom Elan von jung und alt. In diesem Zusammenhang lobte er dann ganz besonders die Turn- und Sportbewegung unseres Landes. Dies ist, glaube ich, keine gute Lösung des sehr schwierigen Problems der Sicherung bei Pflegebedürftigkeit. Auch wir sind für die Turn- und Sportbewegung, aber wenn das Problem der Pflegebedürftigkeit so abgetan wird, wird das diesem wichtigen Thema nicht gerecht.

    (Beifall bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, ich komme zur Rentenreform und zur Rentenpolitik. Wir haben mit den Unionsparteien die Rentenreformen von 1957 und 1972 — immer gegen den Widerstand der Freien Demokraten — gemacht, und wir sind, Herr Bundesarbeitsminister, auch zur weiteren Mitarbeit bereit. Ich weiß, Sie haben es schwer, in Sachen Rentenversicherung mit Graf Lambsdorff und Herrn Stoltenberg wenigstens auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu kommen. Der Herr Bundeskanzler wird Sie im Stich lassen, wenn es darauf ankommt, hier Entscheidungen zu treffen. Ich will Ihnen nur informationshalber sagen, daß der Finanzminister die Möglichkeit der Nichtverschiebung der Rentenanpassung wie folgt sieht: Er hat im Finanzplanungsrat gesagt: Wir gehen von der Verschiebung der Rentenanpassung im nächsten Jahr aus; Herr Blüm bemüht sich noch, etwas anderes hinzukriegen. Sie sehen also, die Herren, mit denen Sie dieses zu vereinbaren haben, gehen von einer umgekehrten Interessenlage als Sie aus. Deswegen noch einmal: Machen Sie Ihre Schularbeiten,

    (Kolb [CDU/CSU]: Die Sie so schlecht gemacht haben!)

    damit Sie sich Ihren Herren gegenüber auch durchsetzen können!

    (Beifall bei der SPD)

    In unserer Bereitschaft zur Zusammenarbeit gehen wir von folgendem aus. Herr Blüm, machen Sie Schluß mit den kurzatmigen, unsystematischen Eingriffen! Sie sind unsozial, weil sie zu Lasten der Rentner gehen. Ich habe gelesen, was Sie am 6. Oktober 1982 in der Zeitung „Die Welt" getönt haben. Sie sagten damals: „Ich habe etwas gegen das kopflose Einsammeln von Geldern. Wir wollen nicht einfach das Geld einsammeln, wo es am leichtesten ist."

    (Bohl [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Aber Ihr Maßnahmenkatalog zeigt, daß Ihnen jeder systematische Ansatz für eine zukunftsgerechte Weiterentwicklung der Alterssicherungssysteme fehlt, daß Sie das Geld einfach bei den Rentnern und nirgendwo anders wegnehmen. Ich darf aber mit aller Deutlichkeit darauf hinweisen: Die jetzige aktuelle Finanzkrise für das Jahr 1984 hat die Bundesregierung durch ihre Politik verursacht.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Sie haben 5 Milliarden DM weniger von der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung gezahlt, und deswegen ist die Rentenversicherung in dieser finanziellen Misere.

    (Beifall bei der SPD)

    Dies müssen Sie rückgängig machen. Es reicht nicht, zu sagen: Der Bundeszuschuß ist stabil. Die 5 Milliarden DM, die von der Bundesanstalt nicht an die Rentenversicherung gezahlt werden, sind die Ursache der Rentenproblematik für das nächste Jahr. Dies ist der entscheidende Punkt.
    Ich finde es interessant, daß diese Bundesregierung nichts tut, um Arbeitslosigkeit abzubauen,

    (Beifall bei der SPD — Seiters [CDU/CSU]: Aber ihr!)

    daß diese Bundesregierung 50 Milliarden DM ausgibt, um Arbeitslosigkeit zu verwalten. Ich befürchte eine Absetzbewegung, die die Wirtschaftspolitiker machen werden, indem sie eine günstige Konjunkturentwicklung darstellen und sagen: Leider konnten wir das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen. Sie werden dann das Arbeitslosengeld senken und glauben machen: Die Leute haben selbst schuld, wenn sie keine Arbeit finden. — So geht das mit uns nicht, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)




    Frau Fuchs (Köln)

    Ich will kurz auf die Einzelheiten eingehen, die auf die Rentner zukommen: Die Anpassung ist verschoben, ab 1. Juli 1983 müssen die Rentner 1 % Krankenversicherungsbeitrag zahlen, dann kommt die Aktualisierung, dann wird wieder einmal verschoben. Dann gibt es höhere Krankenversicherungsbeiträge. Es ist interessant, daß alle Welt sagt: Die Binnennachfrage leidet an mangelnder Massenkaufkraft. Sie nehmen noch Massenkaufkraft weg, wenn Sie erneut versuchen wollen, die Rentenanpassung zu verschieben.

    (Bohl [CDU/CSU]: Wo nehmen Sie denn das Geld her? — Zuruf von der CDU/CSU: Sie werden es nie lernen!)

    Herr Bundeskanzler, Sie haben Herrn Blüm vor der Wahl eine große Spielwiese eingeräumt. Er konnte ohne Widerstand seiner Widersacher in der CDU und CSU und FDP viele Versprechungen machen und viele schöne Seifenblasen von sich geben. Heute, nach den Wahlen, stellen wir fest, daß er mit seinen Sozialausschüssen auf das politische Maß zurückgestutzt wird, das die Koalition der konservativen Kräfte für richtig hält. Auf dieser Grundlage können Sie mit Sozialdemokraten, die der sozialen Gerechtigkeit für breite Arbeitnehmerschichten und deren Familien verpflichtet sind, keine gemeinsame Politik machen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Gut, daß wir es wissen!)

    Herr Blüm, stellen Sie sich an die Spitze Ihrer Sozialausschüsse, dann haben Sie unsere volle Unterstützung.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich will bei Ihren Maßnahmen noch auf eine Besonderheit hinweisen. Sie wollen jetzt das Krankengeld versicherungspflichtig machen. Da haben Sie ein ganz neues System erfunden; denn derjenige, der Krankengeld bekommt, zahlt von diesem Krankengeld zukünftig seine Rentenversicherungsbeiträge, den Arbeitnehmeranteil. Den Arbeitgeberanteil zahlt die Krankenversicherung. Aber wer finanziert die Krankenversicherung? Zur Hälfte sind es die Arbeitnehmer und zur anderen Hälfte sind es die Arbeitgeber. Wir haben hier also erstmalig eine Finanzierung, bei der drei Viertel der Arbeitnehmer und ein Viertel der Arbeitgeber zahlt.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Bundesarbeitsminister, ich nenne das Verschieben, Verschieben von einem Sozialversicherungssystem ins andere. Sie haben sich immer sehr dagegen gewehrt, daß Lasten hin und her geschoben werden. Aber ich finde, inzwischen sind Sie der Bahnhofsvorsteher des sozialpolitischen Verschiebebahnhofs dieser Bundesregierung.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    Ich will den Rest der mir zur Verfügung stehenden Zeit dem widmen, was wir Ihnen als Angebot machen, wenn Sie sagen: wir müssen das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung von kurzfristigen Einschnitten ausnehmen, und wir brauchen einen systematischen Ansatz für eine Neugestaltung der Alterssicherung.
    Erstens. Es muß ein Versorgungsniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht werden, das entsprechend dem Lohnersatzprinzip nach vollem Arbeitsleben den Lebensstandard sichert.
    Zweitens. Ausgehend von diesem Versorgungsniveau müssen sich die Zuwächse der Renten und der verfügbaren Arbeitnehmereinkommen gleichmäßig entwickeln. Auf welchem technischen Wege dies geschieht, ist keine Grundsatzfrage.
    Drittens. Künftige Belastungen, die aus dem veränderten Bevölkerungsaufbau entstehen, müssen sozial ausgewogen auf Beitragszahler, Rentner und den Staat verteilt werden.
    Viertens. Die Höhe des Bundeszuschusses muß zuverlässig kalkulierbar sein.
    Fünftens. Die Rentenfinanzen — das ist der Punkt, Herr Bundesarbeitsminister — müssen wieder unabhängiger von der Arbeitsmarktentwicklung werden. Deswegen ist die Fehlentscheidung zu korrigieren, daß die Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit von Ihnen so drastisch gekürzt worden sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Sechstens. Schließlich — dieses Thema haben Sie ausgelassen —: es kann doch wohl nicht sein, daß wir erneut in die Finanzen der Rentenversicherung eingreifen, ohne einen Einstieg in eine Harmonisierung aller Alterssysteme zu versuchen. Wir können doch nicht zulassen, daß immer an den Rentenfinanzen herumgedoktert wird und alle anderen Alterssicherungssysteme bei dieser Betrachtung außen vor bleiben.

    (Kolb [CDU/CSU]: „Öffentlicher Dienst"!)

    Deswegen mein Appell: denken Sie hier ein bißchen
    nach! In der Regierungserklärung fand sich nichts.

    (Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Denken Sie an die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst!)

    Ich komme zum Schluß: dieser Bundesarbeitsminister sagt nichts zur Humanisierung des Arbeitslebens, er sagt nichts zur Montan-Mitbestimmung, auch der Bundeskanzler nicht. Sie mißbrauchen die Gewerkschaften, wenn Sie sagen, sie trügen Gesamtverantwortung. Aber Sie wollen ihnen Mitbestimmung, die Sicherung der Montan-Mitbestimmung nicht geben.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Wenn Herr Genscher von Freiheitsrechten spricht und dann sagt, Gewerkschaften seien Machtkonzentration, so ist das eine eigenartige Betrachtungsweise. Die einzelnen, individuellen Arbeitnehmer haben in unserem Lande das Recht, sich einer Gewerkschaft anzuschließen, und dann sind sie Mitglied einer gewerkschaftlichen Organisation. Herr Genscher, es ist scheinheilig, die mangelnden Gewerkschaftsrechte in Polen zu beklagen und hier



    Frau Fuchs (Köln)

    den Gewerkschaften die Montanmitbestimmung zu verweigern.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD)

    Der Kalenderspruch des Bundeskanzlers — und damit komme ich wirklich zum Schluß — hieß ja —

    (Zurufe von der CDU/CSU: Das kann man nicht mehr mit anhören! — Zu laut! — Weitere Zurufe und Unruhe)

    — Sie können es nicht mit anhören? Es tut mir so leid. Es war zu laut. Aber wenn Sie so brüllen, brülle ich dagegen an. Das habe ich in Versammlungen so gelernt. Davon werden Sie mich auch nicht abbringen. Ich werde mir Gehör verschaffen. Darauf können Sie sich verlassen.
    Ich komme zum Kalenderspruch des Herrn Bundeskanzlers, der gesagt hat: Wer mehr wagt, wer sich mehr plagt, der hat auch Anspruch auf Erfolg und Gewinn. Das hört sich gut an. Ich antworte: Die jungen Leute, Herr Bundeskanzler, die vergeblich einen Ausbildungsplatz suchen, die würden es schon wagen, eine Ausbildung anzunehmen. Und der Arbeitslose, der vergeblich um eine Arbeit einkommt, der würde es schon gerne wagen, wieder in Arbeit zu gehen. Nur, Herr Bundeskanzler, Sie müssen mit Ihrer Politik endlich dafür sorgen, daß es sowohl Ausbildungs- als auch Arbeitsplätze gibt.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. George.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Haimo George


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mir selbst als Pflicht auferlegt, zu versuchen, Sie zum Mitdenken zu bringen und weg vom blinden Kritisieren. Die Überschrift meines Beitrages könnte heißen: Von der totalen, blinden Konfrontation zur vernünftigen, wenigstens punktuellen, Kooperation. Mit dem bißchen Charme, zu dem ich fähig bin, Frau Fuchs, möchte ich Ihnen nur sagen: Norbert Blüm hat seine Schulaufgaben — wenigstens für den Anfang — gemacht. Sie haben sie in doppelter Sicht nicht gebracht.

    (Zurufe von der SPD)

    Sie haben hier zwar die Jugendarbeitslosigkeit beklagt, Sie haben hier beklagt, daß wir kein durchgehendes Konzept zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit bringen. Ich habe sehr aufmerksam zugehört: Auch von Ihnen war dazu kein einziger Satz dabei. Und: Sie haben als SPD insgesamt ihre Schulaufgaben 13 Jahre lang nicht richtig gemacht. Jedenfalls war der Wähler am 6. März dieser Meinung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen, meine Herren: „Aufgabe Nummer eins ist die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit"; so hat es Bundeskanzler Helmut Kohl ganz am Anfang seiner Rede gesagt, während Herr Vogel erst am Ende seiner Rede auf die Frage zu sprechen gekommen ist. Ich füge hinzu: Sie wird die soziale Herausforderung in den 80er Jahren insgesamt sein.
    Noch eine Ritte vorweg. Wie bei der Friedensdiskussion sollte niemand von uns dem anderen das Wollen und den Willen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit absprechen. Allerdings: In den Wegen sind wir diametral entgegengesetzt. Deshalb kann ich es mir auch nicht verbieten, noch einmal ganz kurz auf das zurückzukommen, was bisher als „Erblast" bezeichnet wurde. Damit wir lernen, welche Standortbestimmung wir jetzt haben — nicht im Sinne von Erblast, nicht im Sinne von Alleinverschulden, nicht im Sinne von Vergangenheitsbewältigung, sondern nur im Sinne der Standortbestimmung.
    Auch in diesem Zusammenhang hat der Bundeskanzler sehr deutlich gesagt: „Wir werden keine neuen Versprechungen machen, sondern die Ursachen der Fehlentwicklung bekämpfen." Ich möchte aus einer ganzen Kette von Ursachen nur zehn im Telegrammstil herausgreifen und dazu jeweils die Zahlen von 1969 und 1982 hinzufügen. Schulden: 45 Milliarden DM / 295 Milliarden DM; Abgaben: 21%/31,9%;

    (Zuruf von der SPD: Das ist unter Ihrem Niveau!)

    Arbeitslose: 178 000/1,8 Millionen;

    (Buschfort [SPD]: Jetzt 2,4 Millionen!)

    Inflation: 1 DM ist zu 0,53 DM zusammengeschmolzen; Lohnkosten im zweiten Lohn: Anstieg von 46 auf bereits 82 % — man kann sich schon ausrechnen, wann der zweite Lohn den ersten überholt hat —;

    (Kolb [CDU/CSU]: VW hat es schon geschafft!)

    Pleiten: 2 100/15 100; Eigenkapitalschmälerung: von damals 30,4 % auf jetzt nur 20,8 %; Investitionslükken: realer Anstieg der Investitionen in zehn Jahren nur 12 %, während der Staatsverbrauch um 49 % gewachsen ist, der private Verbrauch um 34 %.
    Als neunten Punkt nenne ich die Gewinnverteufelung. Die Rendite nach Steuern auf Umsatz ist von 3,8 % im Durchschnitt auf 2 % gesunken. Letzter Punkt — das ist schließlich unsere gemeinsame Aufgabe —: Wir haben einen Bürokratisierungs-
    und Administrierungsstaat im Namen der Gleichheit, im Namen der Gerechtigkeit, aufgebaut, der auch bedeutet, daß statt wie früher 2,9 Millionen öffentlich Bedienstete nunmehr 4,4 Millionen öffentlich Bedienstete dieselbe Arbeit erledigen.

    (Zuruf von der SPD: Dann schaffen Sie doch die Lehrer ab! — Weitere Zurufe von der SPD)

    Millionen von Arbeitsplätzen sind in dieser Zeit unter dem Einfluß der von mir genannten zehn Punkte vernichtet worden. Und dies zu einem Zeitpunkt, da wir nicht nur diese Millionen gebraucht hätten, sondern zusätzliche 1 bis 2 Millionen Arbeitsplätze.
    Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sein Urteil kürzlich so



    Dr. George
    formuliert — ich wiederhole: nicht im Sinn von
    Schuld, sondern mit der Bitte zum Mitdenken —:
    Insbesondere ist die Gesamtwirkung nicht abgeschätzt worden, die alle Maßnahmen zusammen auf Wachstum und Flexibilität haben mußten. So haben die Sozial-, Verteilungs-, Umwelt-, Verkehrs-, Gesundheits-, Energie-, Gewerbe- und Wohnungspolitik und selbst die Globalsteuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zunächst unmerklich und dann sichtbar dazu beigetragen, daß das wirtschaftliche Fundament, auf das sie angewiesen sind, brüchig wurde.
    Das ist die Standortbestimmung von heute.
    Dennoch haben Ihre Arbeitsminister von Arendt über Ehrenberg bis Westphal, die ich persönlich sehr schätze, jeweils unbekümmert das Lied intoniert — wie es Udo Jürgens einmal gebracht hat —„Wir haben alles im Griff — auf dem sinkenden Schiff."
    Der Oppositionsführer, Herr Vogel, hat davon gesprochen, daß Massenarbeitslosigkeit „unmenschliche Ergebnisse" zeitige. In der Tat. Ich füge hinzu: Sie beinhaltet sozialen Sprengstoff von wachsender gesellschaftspolitischer Explosivität. Er hat weiter davon gesprochen, daß die Regierungserklärung von Helmut Kohl „nostalgische Illusion" sei. Nein, ich glaube, es ist, wenn Sie vor allem auch mitdenken und mitarbeiten, eine konkrete Reformation der Sozialen Marktwirtschaft.

    (Zuruf von der SPD: Eine Gegenreformation!)

    Nicht umsonst hat Bundeskanzler Kohl in seiner Rede auf Müller-Armacks Genealogie, die die meisten von Ihnen wahrscheinlich nie gelesen haben, nämlich den zweiten Teil der „Sozialen Marktwirtschaft" hingewiesen. Er hat davon gesprochen, daß wir die Soziale Marktwirtschaft erneuern müßten.
    Nun bitte ich um Verständnis für einige Gedankengänge, die dazu gehören. Kernsubstanzen der Sozialen Marktwirtschaft ist die Tarifautonomie im Sinne des Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes,

    (Zuruf von der SPD: Auch im öffentlichen Dienst?!)

    ist das Tarifvertragsgesetz. Das heißt doch aber: Primär haben die Tarifpartner die Pflicht, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Der Staat — und darum geht es — hat seinerseits die Pflicht, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Also können die Handlungsgebote des Staates — das scheint mir, von Herrn Stoltenberg über Graf Lambsdorff bis hin zu Norbert Blüm, doch deutlich zum Ausdruck gekommen zu sein — nur heißen: Vertrauen und die Stetigkeit stabilisieren, Leistung und Produktivität mobilisieren, Investitionen initiieren, Innovationen kreieren und dabei auch den sozialen Konsens mehr denn je auf diese Zukunftsaufgaben zu stipulieren; im Sinne von neu zu begründen und nicht einfach zu manipulieren, so wie es früher war.
    Dazu gehört aber — das geht an die Adresse von uns allen —, daß wir alle miteinander von unserem Wagenburgdenken, von unserem Besitzstandsdenken Abschied nehmen, daß wir die Tabuzäune einreißen — Arbeitgeber wie Gewerkschaften, einzelne Gruppen wie einzelne Menschen — um unbefangen über die gemeinsame Bewältigung der Massenarbeitslosigkeit zu sprechen.
    Ich darf noch einmal kurz in Erinnerung rufen, daß wir zwar alle unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt die Arbeitslosigkeitsfaktoren kennen. Wir sprechen von der Mindestlohnarbeitslosigkeit; da sind die Tarifpartner angesprochen. Wir sprechen von der Kapitalmangelarbeitslosigkeit, die darüber gelagert ist; da ist die Politik angesprochen, insbesondere Ihre Risikokapitalvernichtungspolitik der letzten Jahre. Und als drittes gibt es die Technologiearbeitslosigkeit.
    Aber wenn man wirklich einmal in der Praxis nach den Ursachen sucht, finden Sie im Grunde genommen acht wichtige Punkte, und die sollten wir auch sehen. Sie sind nicht voneinander isoliert, sie überlagern sich, sie überlappen sich. Daher mußten viele Ihrer Programme ins Leere stoßen, weil Sie eine ganze Zeitlang meinten, es handele sich nur um eine konjunkturelle Arbeitslosigkeit, und weil Sie dann später meinten, es sei auch ein Stück struktureller Arbeitslosigkeit dabei. In der Tat, das sind die beiden wichtigsten Komponenten, wobei zur strukturellen Arbeitslosigkeit mehr denn je die Automatisierung, die Rationalisierung und die Technologisierung — und da ist unsere Pflicht, die Wirkungen sozial abzufedern — gehören.
    Aber darüber hinaus sollte uns die demographische Arbeitslosigkeit mit der Problematik zu denken geben, daß immer mehr junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt ankommen, als ältere aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Wo waren Sie denn eigentlich, als Sie sehen konnten, daß diese demographische Arbeitslosigkeit auf Sie zukam? Sie haben doch den Geburtenboom der 60er Jahre in die Schule kommen sehen. Sie haben ihn später in die weiterführenden Schulen kommen sehen. Aber nichts haben sie getan.

    (Zurufe von der SPD)

    Der vierte Punkt ist die Frage der Ausländerarbeitslosigkeit, wo Wieder-miteinander-Lösungsmöglichkeiten gesucht werden müssen. Denn die EG-Partner haben Freizügigkeit. Wenn die Wirtschaftstätigkeit ansteigt, werden Ausländer zu uns kommen in der Hoffnung, wenigstens hier einen Arbeitsplatz zu finden. Das kann man uns dann nicht anlasten. Diese Ausländer sind wegen des Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt für Arbeit erst einmal als Arbeitslose gemeldet, obwohl sie Arbeitsuchende sind. Sie haben bei uns keinen Arbeitsplatz verloren. Das Assoziiertenproblem und das Asylantenproblem gehören mit zu der Frage der Ausländerarbeitslosigkeit.
    Ich komme zum fünften Punkt. Immer mehr Leute begreifen, daß es eine große latente Arbeitslosigkeit gibt. Ich denke an die 390-DM-Arbeitsverhältnisse, für die wir noch einige Lösungen bringen könnten und müssen. Ich denken an die Frage der Nebenbeschäftigung sowie an die Schwarzarbeit. Gerade letztere empfinde ich als dramatisch; Sie



    Dr. George
    haben diese bisher nur pönalisiert und kontrolliert, aber sie konnten die Ursachen nicht beseitigen. Es darf doch nicht wahr sein, daß wir seit Jahren Nulloder Minuswachstum des regulären Buttosozialprodukts haben, während uns zuverlässige Berechnungen ausweisen, daß im letzten Jahr etwa 8 % vom Bruttosozialprodukt in der echten Schwarzarbeit erwirtschaftet wurden. Das sind über 120 Milliarden DM. Die Hälfte davon wären Steuern und Abgaben. Wo stünden wir, wenn wir dieses Problem im Griff hätten!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Auch ein sechster Punkt gehört dazu: administrierte Arbeitslosigkeit. Haben wir nicht selber durch viele, viele Gesetze, Verordnungen und Kontrollmechanismen administrierte Arbeitslosigkeit begründet? Die Beseitigung der administrierten Arbeitslosigkeit wäre eine Aufgabe für uns alle.
    Als vorletzten Punkt nenne ich die Bildungs- und Umschulungsarbeitslosigkeit. Nie wollen wir sehen, wie viele potentielle Arbeitnehmer entweder geparkt sind, indem sie länger auf die Schule oder auf die Universität gehen, und wie viele geparkt sind, weil sie Umschulungsmaßnahmen machen, die zum großen Teil nicht zum Erhalt eines neuen Arbeitsplatzes führen, sondern zu höher bezahlter Arbeitslosigkeit.
    Als letztes nenne ich die stille Arbeitslosigkeit. Wer weiß, wie groß die Reservearmee derjenigen ist, die aus Resignation, aus Verzweiflung in die stille Arbeitslosigkeit gegangen sind?
    Daraus, meine Damen, meine Herren, resultiert als Lehre zur langfristigen Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit — wir müssen dies offen aussprechen —: Wir müssen die Erwartungshorizonte, die CDU/CSU und FDP nicht aufgestellt haben, die Sie aber provokativ nach oben drücken, absenken, damit die Schere zwischen dem Erwartungs- und dem Erfüllungshorizont nicht durch Defätismus und Zukunftspessimismus ausgefüllt wird. Nehmen Sie doch mit uns zusammen alle die Optionen für flexiblere Arbeitszeiten und flexiblere Arbeitsorganisationen wahr! Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Allerdings: die Kosten setzen auf jeden Fall die Grenzen!
    Ich darf damit abschließen, daß ich versuche, Sie zu bitten — hier nicht als Zeichen unserer Hilflosigkeit, sondern als ein Zeichen unserer Stärke und unserer Gesamtverantwortung verstanden, Frau Fuchs —: Wir müssen alle diese Punkte genauer, differenzierter sehen und zusammen spezifizierte und differenzierte Lösungen suchen, finden und tragen. Deshalb habe ich die Aufgabe der Tarifpartner und die Aufgabe des Staates so deutlich beschrieben.
    Der Appell an Sie heißt: Die Koalition der Mitte hat mit der Regierungserklärung in der Tat „Mut mit Augenmaß" bewiesen. Wir haben die besseren Köpfe, weil wir besser rechnen können und eine saubere Finanzierung besser aufstellen. Wir haben auch die besseren Herzen, weil wir echte Hilfen auf die wirklich Schwachen konzentrieren. Wir haben vielleicht auch — die nächsten vier Jahre werden es beweisen — das bessere Händchen, weil wir überall dort zupacken werden, wo Sie bisher geflickschustert haben.
    Helfen Sie uns dabei im Interesse von 12 Millionen Rentnern und von über 2 1/2 Millionen Arbeitslosen! Helfen Sie auch im Sinne der Wiedergewinnung des sozialen Friedens!
    Ihnen ist die offene Hand hingestreckt, in die Sie, Frau Fuchs, vor einer Woche noch eingeschlagen haben und die Sie jetzt in Ihrer Rede nicht einmal mehr berührt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)