Gesamtes Protokol
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Rechnung des Bundesrechnungshofesfür das Haushaltsjahr 2003 – Einzel-plan 20 –
. . . . . . .
Hans Eichel, Bundesminister BMF . . . . . . . .Dietrich Austermann . . . . . . . . .Joachim Poß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Jürgen Koppelin . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Michael Meister . . . . . . . . . .Jörg-Otto Spiller . . . . . . . . . . . . . . . . .a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Umsetzung von EU-Richtlinienin nationales Steuerrecht und zur Ände-
. . . . . . . . . . . . . . .
b) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Anpassung der Vorschriftenüber die Amtshilfe im Bereich der Eu-ropäischen Union sowie zur Umsetzungder Richtlinie 2003/49/EG des Ratesvom 3. Juni 2003 über eine gemeinsameSteuerregelung für Zahlungen von Zin-sen und Lizenzgebühren zwischen ver-10952 C10952 D10966 B10971 A10975 C10978 A10981 D10985 B11008 BDeutscher BStenografisc121. SiBerlin, Dienstag, denI n h aBeileid zum Anschlag im Kaukasus . . . . . . . .Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . .Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . .Tagesordnungspunkt 1:a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes über die Feststellung des Bundes-haushaltsplans für das Haushaltsjahr2005
. . . . . . . . . . . . . . . .
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Finanzplan des Bundes 2004 bis 2008
. . . . . . . . . . . . . . . .
c) Beschlussempfehlung und Bericht des10951 A10951 B, 11009 A10952 A10952 B10952 CDr. Hermann Otto Solms . . . . . . . . . . .
10987 A10988 Dundestagher Berichttzung 7. September 2004l t :Dietrich Austermann . . . . . .Bartholomäus Kalb . . . . . . . . . .Rudolf Bindig . . . . . . . . . . . . . . . . .Waltraud Lehn . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Jochen-Konrad Fromme . . . . . .
Lothar Binding (SPD) . . . . . . . .Georg Schirmbeck . . . . . . . . . . .Carsten Schneider . . . . . . . . . . . . . . . .10989 C10991 C10993 A10994 D10999 B11000 D11002 B11003 D11005 Cbundenen Unternehmen verschiedene
. . . . . . . . . . . . . .
rs- . 11008 BIIMetadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
Tagesordnungspunkt 12:a) Zweite Beratung und Schlussabstimmungdes von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des VN-Waffenübereinkommens
. . . . . . .
b) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Wirtschaft und Arbeit zuder Unterrichtung durch die Bundesregie-rung: Vorschlag für eine Richtlinie desRates zur Änderung der Richtlinie77/388/EWG in Bezug auf die mehr-wertsteuerliche Behandlung von Dienst-leistungen im Postsektor KOM
234 endg., Ratsdok. 9060/03
Einzelplan 15Bundesministerium für Gesundheit und SozialeSicherungin Verbindung mitTagesordnungspunkt 2:Erste Beratung des von den Fraktionen derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Berücksichtigung der Kindererziehungim Beitragsrecht der sozialen Pflegever-sicherung
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
in Verbindung mitTagesordnungspunkt 3:a) Erste Beratung des von den Fraktionen derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesZweiten Gesetzes zur Änderung derVorschriften zum diagnose-orientiertenFallpauschalensystem für Krankenhäu-ser und zur Änderung anderer Vor-schriften
. . . . . . . . . . . . . . . .
b) Antrag der Abgeordneten Dr. Hans GeorgFaust, Horst Seehofer, Andreas Storm,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU: Versorgungssicherheitfür Patientinnen und Patienten durchsachgerechte Fallpauschalen
. . . . . . . . . . . . . . . .
in Verbindung mit11008 C11008 D11009 A11009 B11009 BTagesordnungspunkt 4:Erste Beratung des von den Fraktionen derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Gesetzes über die Ein-ordnung des Sozialhilferechts in das Sozial-gesetzbuch
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
in Verbindung mitTagesordnungspunkt 5:Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurOrganisationsreform in der gesetzlichenRentenversicherung
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
in Verbindung mitZusatztagesordnungspunkt 1:Erste Beratung des von den Fraktionen derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Anpassung der Finanzierung vonZahnersatz
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
in Verbindung mitZusatztagesordnungspunkt 2:Antrag der Abgeordneten Andreas Storm,Annette Widmann-Mauz, Horst Seehofer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU: Familien entlasten statt Kinder-lose bestrafen – Grundlegende Reform derPflegeversicherung noch in dieser Wahl-periode einleiten
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
in Verbindung mitZusatztagesordnungspunkt 5:
weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Familien spürbar durch einen Kin-der-Bonus entlasten – Keine Beitragser-höhungen in der sozialen Pflegeversiche-rung – Grundlegende Reform beginnen
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ulla Schmidt, Bundesministerin BMGS . . . .Andreas Storm . . . . . . . . . . . . . .11009 B11009 C11009 C11009 D11009 D11010 A11013 A
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
III
Wolfgang Zöller . . . . . . . . . .Andreas Storm . . . . . . . . . . .Daniel Bahr (FDP) . . . . . . . . . . . . .Waltraud Lehn . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Annette Widmann-Mauz . . . . . .
Einzelplan 07Bundesministerium der JustizBrigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . .Dr. Wolfgang Götzer . . . . . . . . .
Otto Fricke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Joachim Stünker . . . . . . . . . . . . . . . . .11015 D11016 C11017 D11018 C11020 A11021 C11022 B11058 D11061 C11064 D11066 B11067 D
Daniel Bahr (FDP) . . . . . . . . . .Dr. Dieter Thomae . . . . . . . . . . . . . . . .Erika Lotz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Gesine Lötzsch . . . . . . . . . .Dr. Michael Luther . . . . . . . . . .Waltraud Lehn . . . . . . . . . . . . . . . . .Gudrun Schaich-Walch . . . . . . . . . . . .Wolfgang Zöller . . . . . . . . . . . . .Einzelplan 06Bundesministerium des InnernOtto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . .Beatrix Philipp . . . . . . . . . . . . . .Silke Stokar von Neuforn
. . . . . . . . .
Dr. Max Stadler . . . . . . . . . . . . . . . . . .Hartmut Koschyk . . . . . . . . .Michael Hartmann
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dorothee Mantel . . . . . . . . . . . .Sebastian Edathy . . . . . . . . . . . . . . . . .Otto Fricke . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Reinhard Grindel . . . . . . . . . .Norbert Barthle . . . . . . . . . . . . .11024 C11026 A11026 D11028 A11029 C11030 C11031 B11033 B11035 D11037 D11041 A11044 A11046 A11048 A11049 A11050 D11053 C11054 D11055 B11056 BDr. Norbert Röttgen . . . . . . .Norbert Barthle . . . . . . . . . . . . .Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Anlage 1Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .Anlage 2Nachträglich zu Protokoll gegebene Erklä-rung nach § 31 GO des AbgeordnetenDr. Christoph Bergner zur Ab-stimmung über die Beschlussempfehlung desVermittlungsausschusses zu dem Gesetz zuroptionalen Trägerschaft der Kommunen nach
satztagesordnungspunkt 12) . . . . . . . . . . . . . .Anlage 3Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung ei-nes Gesetzes über die Feststellung des Bun-deshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2005,hier: Einzelplan 06, Bundesministerium desInnern (Tagesord-nungspunkt 1)Petra Pau . . . . . . . . . . . . . . . . .11069 A11070 A11071 C11071 B11073 A11073 B11074 A
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004 10951
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121. SiBerlin, Dienstag, denBeginn: 1
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Ich bitte Sie, sich zu erheben.
Zutiefst erschüttert und voll ohnmächtigen Zorns überdie Täter, die Kinder zu Opfern ihres Terrors machen,haben wir die furchtbaren Ereignisse verfolgt, die sich inder vergangenen Woche im Kaukasus abgespielt haben.Am Mittwoch, dem 1. September 2004, stürmten dort indem kleinen Ort Beslan schwer bewaffnete Terroristeneine Schule und nahmen die Kinder und ihre Eltern undGroßeltern als Geiseln.Aus dem Tag der Einschulung, der ein Tag der Freudesein sollte, ist ein Inferno geworden. Die Terroristendrangen in die Schule ein und machten die dort Versam-melten zu ihren Geiseln. Als die ersten Geiseln nach dreiTagen entkommen konnten, vermittelten uns ihr Anblickund ihre kurzen Äußerungen eine Ahnung von dem, wassich an Unsäglichem in dem Schulgebäude abgespielthaben musste.Der Einsatz der russischen Sicherheitskräfte ver-mochte das Leben vieler Geiseln nicht zu retten. DieOperation endete tragisch. Bislang wird von überRede400 Toten gesprochen; doch noch immer suchen ver-zweifelte Menschen nach ihren Angehörigen und manweiß nicht, wie viele Tote letztlich zu beklagen sein wer-den. Bereits am vergangenen Sonntag, als die ersten Op-fer dieser Tragödie zu Grabe getragen wurden, reichteder Platz auf dem Friedhof des Ortes nicht aus, um dieweiteren Leichname aufzunehmen. Unvorstellbares Leidist geschehen.Lassen Sie uns gemeinsam den Bürgerinnen und Bür-gern von Beslan, den Menschen in Ossetien und demrussischen Volk das tiefe Mitgefühl ausdrücken, das dieMitglieder des Deutschen Bundestages und alle Bürge-rinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland fürsie empfinden.Ich danke Ihnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfvereinbart worden, die heutige Tagesordnung zu erwei-tzung 7. September 20040.00 Uhrtern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatz-punktliste aufgeführt:1 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Anpassung der Finanzierung von Zahn-ersatz– Drucksache 15/3681 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Storm,Annette Widmann-Mauz, Horst Seehofer, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSUFamilien entlasten statt Kinderlose bestrafen – Grund-legende Reform der Pflegeversicherung noch in dieserWahlperiode einleiten– Drucksache 15/3682 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, KlausHaupt, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPSolides Finanzierungskonzept für den Ausbau von Kin-textderbetreuungsangeboten für unter Dreijährige– Drucksache 15/3512 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, RainerBrüderle, Daniel Bahr , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDPMöglichkeiten der privaten Arbeitsvermittlung durchmarktgerechte Ausgestaltung der Vermittlungsgutscheineverstärkt nutzensache 15/3513 –isungsvorschlag:ss für Wirtschaft und Arbeit
usschussss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendraktionell ist– DruckÜberweAusschuFinanzaAusschuHaushaltsausschuss
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Präsident Wolfgang ThierseVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden.Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisun-gen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 100. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit zur Mitberatung überwiesen werden:Entwurf eines Gesetzes zur Gründung einerBundesanstalt für Immobilienaufgaben
– Drucksache 15/2720 –überwiesen:Haushaltsausschuss
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenDer in der 114. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung und dem Ausschuss für Tourismus zurMitberatung überwiesen werden:Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desDeutsche-Welle-Gesetzes– Drucksache 15/3278 –überwiesen:Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger AusschussHaushaltsausschussDer in der 118. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherungzur Mitberatung überwiesen werden:Entwurf eines Haushaltsbegleitgesetzes 2005
– Drucksache 15/3442 –überwiesen:Haushaltsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftDer in der 118. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesenwerden:Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Ände-rung des Straßenverkehrsgesetzes– Drucksache 15/3351 –überwiesen:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitIch rufe die Tagesordnungspunkte 1 a bis 1 c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2005
– Drucksache 15/3660 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungFinanzplan des Bundes 2004 bis 2008– Drucksache 15/3661 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschussc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses
zu dem Antrag des Präsidenten des Bundesrech-nungshofesRechnung des Bundesrechnungshofes für dasHaushaltsjahr 2003 – Einzelplan 20 –– Drucksachen 15/2885, 15/3388 –Berichterstattung:Abgeordnete Anja HajdukIris Hoffmann
Bernhard KasterOtto FrickeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie heutige Aussprache zu den Haushaltsberatungen imAnschluss an die Einbringung des Haushaltes siebenein-halb Stunden vorgesehen, für Mittwoch achteinhalbStunden, für Donnerstag neun Stunden und für Freitagdreieinhalb Stunden. – Dagegen erhebt sich kein Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort zur Einbringung des Haushaltes hat derBundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Vor einem Jahr habe ich bei der Einbringung desHaushaltsplans für das Jahr 2004 gesagt: Die wichtigsteund größte Herausforderung, vor der wir stehen, ist, ausder Stagnation herauszukommen und wieder mehrWachstum zu schaffen.
Denn drei Jahre Stagnation haben in der Tat schlimmeZahlen hinterlassen. Im Jahr 2000, dem Jahr des höchs-ten Wachstums, hatten wir gleichzeitig die niedrigsteNeuverschuldung nach der Wiedervereinigung – sie fälltin unsere Amtszeit –,
nämlich 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder24 Milliarden Euro. Drei Jahre später, 2003, nach dreiJahren Stagnation, hatten wir ein Staatsdefizit von
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Bundesminister Hans Eichel82 Milliarden Euro oder 3,8 Prozent des Bruttoinlands-produkts. Die Erkenntnis aus dieser Entwicklung ist: Esgibt – auch das ist damals deutlich gesagt worden –keine Konsolidierung ohne Wachstum; es gibt aber auchkein nachhaltiges Wachstum ohne solide Staatsfinanzen.Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.
Wer das sieht, muss daraus für seine Politik auchKonsequenzen ziehen. Wir haben gesagt, wir braucheneinen mutigen Dreiklang von Strukturreformen, Haus-haltskonsolidierung und Wachstumsimpulsen. Mit die-sem Dreiklang wollen wir aus der Stagnation heraus.
Wir sind diesen Weg zum Teil gemeinsam gegangen; ichsage das ausdrücklich und auch mit Dankbarkeit hin-sichtlich der Bereiche, in denen das funktioniert hat. Sowar es zum Beispiel bei einem Teil der Strukturrefor-men. Ich erinnere an die Arbeitsmarktreformen – daraufkomme ich später zurück –: Da konnte es Ihnen, wenn esum die Einschränkung von Arbeitnehmerrechten und umdie Verschärfung der Zumutbarkeit ging, eigentlich nichtradikal genug zugehen. Bei der Rente allerdings warenSie ganz still: keine Beiträge von Ihrer Seite. In der Ge-sundheitspolitik will ich ausdrücklich anerkennen, dasses zu einem Zusammenwirken gekommen ist, das – da-rüber wird noch zu reden sein – eine Reihe sehr positiverResultate hatte, das aber weitergeführt werden muss. Wirsind noch nicht durch: Was den Wettbewerb auf derLeistungserbringerseite betrifft, muss noch eine ganzeMenge mehr geschehen.
Als es allerdings um die Haushaltskonsolidierungging und um die Wachstumsimpulse, hat Sie der Mutziemlich verlassen. Da wäre es wünschenswert gewesen,wenn Sie unseren mutigeren Schritten sowohl bei derKonsolidierung und beim Subventionsabbau als auchbeim Vorziehen der Steuerreform gefolgt wären, umWachstumsimpulse zu geben. Sie waren dazu nicht inder Lage.
Heute, meine Damen und Herren, sind wir im Auf-schwung. Ich will gar nicht verhehlen, dass der größteTeil davon der weltwirtschaftlichen Entwicklung, die jaauch vorher das Problem war,
geschuldet ist; wir kommen auf das Problem gleich zu-rück. Aber unsere Politik mit der ganz dezidierten Ziel-setzung, die Krise nicht durch zusätzliches Hinterherspa-ren zu verlängern und auch noch zu verschärfen, sondernmit diesem Dreiklang einen Weg heraus zu finden, hatihren Beitrag dazu geleistet. Die Prognosen der Bundes-regierung für dieses und für das nächste Jahr sehen soaus: beide Jahre zwischen 1,5 und 2 Prozent Wachstum.Bisher gilt für uns: eher am unteren Ende dieses Jahr,eher am oberen Rand nächstes Jahr. Ich nehme dabei zurKenntnis, dass inzwischen die meisten Institute und dieinternationalen Institutionen, wie etwa der InternationaleWährungsfonds, ihre Prognosen nach oben revidiert ha-ben, während wir uns mit unseren Erwartungen am unte-ren Rand der Prognosen befinden. Ob daraus Konse-quenzen zu ziehen sind, werden wir im Zusammenhangmit der Steuerschätzung im November und im Zusam-menhang mit unserem Jahreswirtschaftsbericht zu ent-scheiden haben; aber bisher bleibt es dabei.Allerdings steht dieser Aufschwung im Wesentlichennur auf einem Bein: Er kommt vom Export. Das führtmich zu einer anderen Feststellung, auf die ich ganz amSchluss zurückkommen werde: Deutschland hat imWeltmaßstab eine unglaublich wettbewerbsfähige Wirt-schaft, sonst könnten wir diese Erfolge beim Exportüberhaupt nicht erzielen.
Das ist wichtig für das Bewusstsein, in dem wir die Pro-bleme, die wir zu lösen haben, und die Herausforderun-gen, vor denen wir stehen, angehen. Von welchemSelbstbewusstsein aus gehen wir sie eigentlich an? Dakenne ich diejenigen, die sagen: Ja, das ist ja ganz gutund schön mit dem Export, es kommt aber daher, dassinzwischen ein größerer Teil der Vorfertigung in anderenLändern erfolgt. Dieser Satz ist nicht falsch. Er zeigteines: dass die deutschen Unternehmen – nehmen Sieeinmal Volkswagen als Beispiel – inzwischen europäi-sche geworden sind,
dass sie in fast allen Ländern Europas Produktionsstättenhaben und mit der dadurch möglichen Mischkalkulationnatürlich wettbewerbsstärker sind.Aber – ich habe das auch untersuchen lassen –: Dasführt im Ergebnis dazu, dass der Export so stark steigt,dass daraus keine Verlagerung von Arbeitsplätzen ausDeutschland heraus, sondern eine Erhöhung der Anzahlder Arbeitsplätze hier bei uns resultiert. Das ist die Kon-sequenz. Die Unternehmen sind aufgrund ihrer Europäi-sierung stärker geworden. Das ist das Ergebnis der ge-meinsamen europäischen Entwicklungsstrategie.
Ich will noch auf etwas Weiteres hinweisen, bevormanche wieder über die Gewerkschaften herziehen. SeitMitte der 90er-Jahre ist die Lohnentwicklung unglaub-lich mäßig, was dazu führt, dass die Lohnstückkostenjetzt sogar zurückgehen und dass wir im internationalenWettbewerb im Unterschied zu den frühen 90er-Jahren,in denen wir uns einiges geleistet haben, was wir unsnicht hätten leisten sollen, mittlerweile unglaublich vielwettbewerbsfähiger geworden sind.
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Es geht auch um die Qualität der Produkte. Ich willbei dieser Gelegenheit darauf hinweisen: Wer glaubt,den Kampf nur über das Drücken der Löhne und derKosten gewinnen zu können, der irrt. Deutschland wirdden Kampf nur gewinnen, wenn es mit der Qualität sei-ner Produkte und mit seinen Leistungen immer an derSpitze steht. Es ist klar, dass wir die Kostenfragen nichtvernachlässigen dürfen; aber das ist die zentrale Heraus-forderung.
– Zu Ihnen komme ich noch.Die Binnennachfrage ist nach wie vor schwach. DerDreischritt, in dem ein Aufschwung in Deutschland klas-sischerweise abläuft, sieht folgendermaßen aus: erst dieSteigerung des Exports, dann die Steigerung der Ausrüs-tungsinvestitionen und schließlich die Steigerung derprivaten Nachfrage. Der erste Schritt hat voll geklappt.Zum zweiten und zum dritten Schritt ist zu sagen: Esgibt Hinweise auf ganz leichte Besserungen.
Es ist aber nicht zulässig, darauf bereits eine stabilePrognose zu gründen. Damit sollte man sehr vorsichtigsein.Das hat Konsequenzen zunächst einmal für die Ent-wicklung am Arbeitsmarkt und für die Steuern; denn so-wohl der Indikator Arbeitsmarkt als auch der IndikatorSteuern laufen der Konjunktur immer hinterher. DerAufschwung wird im Wesentlichen vom Export getra-gen. Ein Problem dabei besteht darin, dass sich diesnicht so schnell auf die Mehrwertsteuereinnahmen aus-wirkt. Das erkennen wir sowohl anhand der Steuerschät-zung als auch anhand der tatsächlichen Einnahmen.Beim Arbeitsmarkt gibt es vorderhand noch dieselbe Si-tuation.Daraus sind Konsequenzen für die Finanzpolitik zuziehen. Die Steuerschätzung im Mai hat gezeigt, dass esnoch erhebliche Risiken gibt. Ich bin mir auch nichtganz sicher, ob die Steuerschätzung im Mai schon dasletzte Wort war; wir werden es sehen. Ich bin da vorsich-tig. Wegen der Steuereinnahmen, die nicht parallel zudem genannten Aufschwung steigen, und der Entwick-lung am Arbeitsmarkt werden wir in diesem Jahr einenNachtragshaushalt benötigen; das habe ich bereits imMai gesagt.
Wir werden ihn so vorlegen, dass er in Kenntnis der Er-gebnisse der Steuerschätzung im November verabschie-det werden kann.
Ich will ausdrücklich sagen: Es bleibt dabei, dass wirvor dem Hintergrund der nach wie vor schwachen Bin-nennachfrage in diesem Jahr keine zusätzlichen Sparpa-kete verabschieden werden, weil die Gefahr noch zugroß ist, dass das den Aufschwung im Inneren behindernwürde. Deswegen lassen wir die automatischen Stabili-satoren wirken
und setzen alles daran, dass die Konjunkturentwicklungauch im Innern in Gang kommt.
Im Übrigen will ich gar nicht verhehlen, dass es Risi-ken in der Weltwirtschaft gibt. Es wäre gefährlich, sichdarauf ausruhen zu wollen, dass wir eine so hervorra-gende Position im Weltmarkt haben. Ich nenne das Bei-spiel Ölpreis. Wir werden uns international darüber zuunterhalten haben, ob es zulässig ist und ob man etwasdagegen tun kann, dass die Verknappungen inzwischenauch spekulativer Art und gar nicht in den realen Märk-ten begründet sind. Ich glaube, es gibt gute Gründe,international – die G 7, die G 8, die G 20 und der Inter-nationale Währungsfonds – über diese Fragen nachzu-denken und nach Auswegen zu suchen. Diese Entwick-lung macht aus meiner Sicht keinen Sinn. Das gilt auchfür andere Rohstoffpreise.
Um es mit aller Härte zu sagen: Ich kenne das auchim Innern. Wenn man lange genug in Aufsichtsgremien– bis hin zu Stadtwerken – gesessen hat, weiß man, dassdas im Windschatten der Weltwirtschaft von einer Reihevon Unternehmen zur Preistreiberei ausgenutzt wird.Das kann nicht hingenommen werden. Es muss klar sein,dass jeder eine Verantwortung für die wirtschaftlicheEntwicklung hat.
Die Europäische Zentralbank, die über die Stabilitätunserer Währung zu wachen hat, hat erklärt: Wir könnendie Entwicklungen bei den Ölpreisen hinnehmen, wennes keine Zweitrundeneffekte gibt. Das ist richtig. Dazusage ich aber: Wenn es um Zweitrundeneffekte geht,dann schaut bitte nicht nur in Richtung Gewerkschaften,sondern auch darauf, was die Energiekonzerne im Mo-ment an dieser Stelle machen.
Risiken – das sagte ich schon – gibt es eben in derWeltwirtschaft. Ich will hier nur die Stichworte Doppel-defizit der USA und Überhitzung der Wirtschaft inChina nennen. Was uns nun wieder mit einer unglaubli-chen Brutalität vorgeführt wurde, ist die Frage: Kann derTerrorismus wirklich wesentliche Auswirkungen aufdie Entwicklung der Weltwirtschaft haben? Diese Frage
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Bundesminister Hans Eichelkönnen wir schwerlich beantworten; ich werde nachherdarauf zurückkommen.Am Nobelpreisträgertreffen am vergangenen Wo-chenende am Bodensee haben auch Wirtschaftswissen-schaftler teilgenommen. Das Ergebnis ihrer Beratungenwar – ich kann das nur referieren –, dass sie alles in al-lem einen sehr optimistischen Ausblick auf die Entwick-lung der Weltwirtschaft und auch auf die EntwicklungEuropas bzw. Deutschlands gegeben haben. Fazit diesergegenwärtigen Situation: Wir müssen alles daransetzen,damit der Aufschwung auch bei der Binnennachfrage,dem zweiten Standbein, richtig in Gang kommt. Das be-deutet: Der Dreiklang aus Strukturreformen, Haushalts-konsolidierung und Wachstumsimpulsen, mit dem wirmitgeholfen haben, dass wir aus der Stagnation heraus-kommen, muss ebenso für das Jahr 2005 gelten.
Das heißt, es wird keine Reformpause geben.Aber eines muss man klar machen – darüber diskutie-ren wir auch im internationalen Bereich –: Eine Reformist noch nicht durchgesetzt, wenn sie der Gesetzgeberbeschlossen hat, sondern dazu gehört sehr viel mehr. Dassehen wir gerade bei den Hartz-IV-Reformen.
– Natürlich. – Vielmehr stellt sich die Frage: Wie gelangtdiese Einsicht in die Köpfe der Menschen und wie kön-nen wir diese Reformen in die Realität umsetzen? Dieserfordert manchmal sehr viel mehr Arbeit als nur die Ge-setzgebung.
Im Zuge des ersten Teils meiner Rede, Fortsetzungder Strukturreformen, komme ich zu den Reformen amArbeitsmarkt. Es bleibt dabei: Die höchste jahresdurch-schnittliche und damit auch die höchste Arbeitslosenzahlinsgesamt lag in 1997 bei 4,4 Millionen. Im Winter er-reichte diese Zahl knapp 5 Millionen. Dass sich dieseZahl anschließend positiv entwickelte und sich erst inden drei Jahren Stagnation deutlich verschlechterte, wol-len wir keinen Moment leugnen. Aber Sie eignen sich indieser Frage ganz schlecht als Chefankläger; daraufkomme ich an anderer Stelle noch zurück.
Die Arbeitsmarktreformen sind nicht, wie einige ge-sagt haben, eine Kapitulation im Kampf gegen die Ar-beitslosigkeit. Ganz im Gegenteil: Sie alleine könnenzwar nicht unbedingt Arbeit schaffen; aber sie baueneine Brücke von der Arbeitslosigkeit zurück in die Be-schäftigung. Dies geschieht unter der Überschrift vonFördern und Fordern. Beides – Fördern und Fordern –gilt mit Nachdruck. Darauf, dass mit dem Fordern mehrHärte verbunden ist, als das in der Vergangenheit da unddort vielleicht üblich war, will ich nachher noch ein paarSätze verwenden.Die Zusammenlegung der Arbeitslosen- undSozialhilfe für die Arbeitsfähigen zu einer sozialenGrundsicherung für alle, die arbeitsfähig sind, ist ein imWesentlichen von allen getragenes Projekt gewesen. Dadas so ist, müssen bei der Umsetzung auch alle dazu ste-hen. Man darf nicht glauben, allein mit der Gesetz-gebung sei das Problem schon gelöst. Vielmehr geht dieArbeit im Gespräch mit den Menschen weiter.
Langzeitarbeitslose schneller in Arbeit zu bringen ist dieerste und wesentliche Zielsetzung.Ich kann übrigens aus meiner Zeit als Kommunalpoli-tiker sehr gut nachempfinden, was es mit dem Drehtür-effekt auf sich hat, bei dem sich der eine Kostenträger,die Kommune, und der andere Kostenträger, der Bund,die Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger jeweils zu-geschoben haben. Es ging in dem System gar nicht zual-lererst darum, die Menschen in Arbeit zu bringen, son-dern sie in die Kostenträgerschaft des jeweils anderen zuverlagern. Das muss beendet werden. Das ist der grund-legende Konsens der Hartz-IV-Reformen.
„Schneller in Arbeit“ heißt, dass die Menschen eineganz andere Betreuung erfahren werden. Das Verhältniszwischen Betreuer und Arbeitslosen wird sich von1 : 400 auf 1 : 75 verbessern, und zwar zuerst bei den un-ter 25-Jährigen.Man muss in diesem Zusammenhang den europäi-schen Vergleich heranziehen: Wir können mit einigemStolz sagen, dass wir, was die Jugendarbeitslosigkeitbetrifft, in Europa zu den Besten gehören. Es gibt zweioder drei kleine Länder, die ein bisschen besser sind alswir. Alle anderen haben aber eine weitaus höhere Ju-gendarbeitslosigkeit als Deutschland. Ab dem 1. Januarwerden – Wolfgang Clement hat darauf hingewiesen –alle, die unter 25 Jahre alt sind, ein Angebot bekommen,entweder ein Ausbildungsangebot, ein Qualifizierungs-angebot oder eine Trainingsmaßnahme. Das ist die kon-krete Umsetzung der Arbeitsmarktreformen.
Wer das Angebot nicht annimmt, kann künftig freilichnicht in dem Maße auf die Unterstützung der Allgemein-heit setzen, wie er das in der Vergangenheit ohne weite-res getan hat. Beides gilt: Fördern und Fordern.Beim Ausbildungspakt leistet auch der Haushalt sei-nen Beitrag. Es geht darum, Menschen in Arbeit zu brin-gen. Fördern heißt im Rahmen des Prinzips „Fördernund Fordern“ auch, zu helfen, dass die Menschen Quali-fikationen erwerben, die es ihnen erleichtern, wieder inden Beruf zu kommen. Das heißt zum Beispiel, dass derFührerschein gefördert wird, wenn er notwendig ist, umeine Chance zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt zuhaben.
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Bundesminister Hans EichelFördern und Fordern – bei Fordern geht es allerdingsauch um die Zumutbarkeit. In diesem Zusammenhangmöchte ich die angekündigte Bemerkung machen: Siehaben im Vermittlungsverfahren – genauso wie bei denHinzuverdienstmöglichkeiten – ordentliche Verschärfun-gen durchgesetzt, gegen die Herr Rüttgers, Herr Böhr,Herr Müller, Herr Milbradt und andere anschließend zuFelde zogen. Wir möchten das zwar nicht ändern, weilwir zu getroffenen Verabredungen stehen; aber so gehtdas nicht.
Wenn Sie etwas beschließen, müssen Sie auch dazu ste-hen. Sich anschließend aber in die Büsche zu schlagenoder sich sogar an die Spitze der Protestbewegung zustellen, ist der Gipfel der Heuchelei.
Ich sage ausdrücklich, dass etwas geschehen musste.Es gibt nämlich Missbräuche. Wieso kommen eigent-lich Lehrer aus Polen zur Weinlese in den Rheingau,wenn wir über 4 Millionen Arbeitslose haben? Wiesofinden wir angesichts der Höhe der Arbeitslosigkeitkeine Deutschen, die diese Arbeit machen? Das gilt auchfür viele andere Bereiche: Arbeit schändet nicht undmuss angenommen werden!
Praktiker haben uns auch auf Missstände im deut-schen Mittelstand hingewiesen. Es gibt den Fall – ichmöchte nicht falsch verstanden werden: das gilt nicht ge-nerell –, dass jemand seine Ehefrau für die Buchführungeinstellt, anschließend entlässt, zum Arbeitsamt schicktund sagt: „Kassier du das Arbeitslosengeld.“ Die Buch-führung macht sie trotzdem weiter. Das geht nicht.Steuerhinterziehung und Sozialbetrug können nicht ak-zeptiert werden.
Die Gesetzgebung muss so ausgestaltet sein, dass dasklar ist.Vielleicht hat der zögerliche Rücklauf der Antragsfor-mulare für das neue Arbeitslosengeld II in dem einenoder anderen Fall etwas damit zu tun, dass nun sichtbarwird, was sichtbar werden muss, oder damit, dass sicheinige vom Bezug einer Leistung, die sie offenbar zuUnrecht bekommen haben, zurückziehen müssen.Natürlich ist richtig, dass allein auf diesem Weg keineneuen Arbeitsplätze geschaffen werden können. Alleinwenn die Vermittlung in die 300 000 offenen Stellenschneller erfolgen könnte, wäre etwas gewonnen und eswürde ein kleiner wirtschaftlicher Impuls gesetzt. Alleinwenn die Vermittlung etwas schneller ginge, wäre etwasgewonnen, weil nämlich Mittel eingespart würden undebenfalls ein kleiner Impuls gesetzt würde. Wenn einpaar Menschen glauben, sie sollten sich doch etwas in-tensiver um Arbeit bemühen und sich nicht nur auf dieUnterstützung der Allgemeinheit verlassen – diese Ent-wicklung können wir bei den Zeitarbeitsfirmen erken-nen –, ist auch das ein Effekt, der – das sage ich aus-drücklich – gewollt ist.Die Gesetze sind gemacht. Sie wurden übrigens erstin der Sommerpause zu Ende gebracht. Der Appell rich-tet sich nun an die Bundesagentur für Arbeit und an alleKommunen. Allen, insbesondere den bei der Umsetzungbesonders geforderten Sozialdezernenten, egal ob es So-zialdemokraten, Christdemokraten, Grüne oder Liberalesind, sage ich: Macht euch jetzt alle daran, das umzuset-zen! Das ist die größte Sozialreform, die wir je gemachthaben.
Sie ist schwierig und fordernd genug. Darum wollen wirgar nicht herumreden, auch nicht um die Ängste derMenschen. Es steckt aber im Gegensatz zu den öffentli-chen Verlautbarungen mehr Positives als Negatives da-rin. Das muss man klar machen. Wir müssen die Kostenfür den Arbeitsmarkt zurückführen. Das geht gar nichtanders angesichts der Zahlen, die ich vorhin genannthabe. Insgesamt stecken viel mehr Chancen in der Re-form. Diese müssen wahrgenommen werden.Ich will bei dieser Gelegenheit eine kurze Bemerkung
zur Finanzsituation der Kommunen machen.
– Wir sind die ganze Zeit dabei. – Im Jahr 2005 werdenwir durch unsere Initiativen, sowohl durch die Gemein-definanzreform als auch durch Hartz IV und die dadurchgarantierten Entlastungen in Höhe von 2,5 Milliar-den Euro sowie durch das, was im Haushaltsbegleitge-setz des vorigen Jahres fortwirkt, eine Verbesserung derkommunalen Finanzsituation um 6,6 Milliarden Eurohaben. Das ist in der Tat ein großes Wort.
Diese Entwicklung wird fortgeschrieben, sodass wir inden Folgejahren eine Entlastung von mehr als 7 Mil-liarden Euro haben werden. Das ist eine solide Basis, umdas zu tun, was dringend getan werden muss und woraufich jetzt kommen will. Wir müssen nämlich für die Be-treuung der unter dreijährigen Kinder und für die Ganz-tagsschulen mehr machen. Es werden finanzielle Mög-lichkeiten geschaffen, die unter anderem dafür eingesetztwerden müssen.
So viel zur Arbeitsmarktreform. Das ist eine riesigeAufgabe, deren Umsetzung ansteht.Zur Rentenreform: Eines der Probleme unserer Ge-sellschaft ist, dass wir – das ist in diesen Debatten deut-lich geworden – uns einigen Themen, die wir eigentlich
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Bundesminister Hans Eichelkennen, in der öffentlichen Debatte lange Zeit nicht ge-stellt haben. Ich will keine einseitigen Schuldzuweisun-gen machen. Schauen Sie sich den demographischenAufbau der Gesellschaft an. 1960 kamen 30 Rentner auf100 Personen im erwerbsfähigen Alter. Jetzt sind es44 Rentner, die auf 100 Personen im erwerbsfähigen Al-ter kommen. Mitte dieses Jahrhunderts werden es etwa80 Rentner sein, die auf 100 Menschen im erwerbsfähi-gen Alter kommen, oder anders gesagt: 80 Rentenemp-fänger werden 100 Beitragszahlern gegenüberstehen.Daran wird die Dramatik deutlich, die in unserer Gesell-schaft langfristig angelegt ist und kurzfristig überhauptnicht geändert werden kann.Schauen Sie sich den Bundeshaushalt an. Ein Sechsteldes Bundeshaushaltes ging 1960 als Zuschuss an dieRentenversicherung.
Heute ist es bereits ein Drittel. Wenn man weiterhin be-trachtet, was mit Zinsen und Sozialausgaben passiert ist,dann sieht man die Notwendigkeit unserer Reformen. Esgeht nicht darum, ob wir uns die Reformen leisten kön-nen; umgekehrt, wir können uns überhaupt nicht leisten,darauf zu verzichten, weil wir die Sozialausgaben nichtmehr bezahlen können. So einfach ist das.
Das muss man den Menschen mit aller Deutlichkeit sa-gen. Es liegt ein politisches Versagen darin, das, wasman früher wissen konnte, nicht früher angegangen zusein. Ich sage bei aller Selbstkritik, die der Bundeskanz-ler hier geäußert hat, nämlich dass diese Regierung inder ersten Wahlperiode vielleicht nicht genug getanhabe: Immerhin haben wir die Haushaltskonsolidierungeingeleitet sowie Steuerreformen und eine Rentenreformgemacht. Aber 16 Jahre lang so gut wie gar nichts zu tunist in der Tat nicht zu akzeptieren.
Deswegen ist die Konsequenz: Erstens. Die umlage-finanzierte Rente musste grundlegend reformiert wer-den. Mit der Einführung des Nachhaltigkeitsfaktorsmuss ihre Entwicklung nachhaltig gedämpft werden.Das heißt, dass wir im Jahr 2030 im Vergleich zum jetzi-gen Rechtszustand eine jährliche Entlastung von20 Milliarden Euro haben, die die Arbeitgeber und Ar-beitnehmer nicht zu zahlen haben und die sie wahr-scheinlich gar nicht zahlen könnten, weil die Rentenver-sicherungsbeiträge so hoch wären, dass sie niemandmehr in dieser Volkswirtschaft verkraften könnte.Wenn die umlagefinanzierte Rente wegen der Demo-graphie an Kraft verliert, dann müssen wir, wenn wir Al-tersarmut nicht wollen, die kapitalgedeckte private Vor-sorge – steuerlich gefördert – für die Schwächerendaneben stellen. Das war eine richtige Entscheidung inder vorigen Wahlperiode.
Als Nächstes ist der Entwurf des Alterseinkünfte-gesetzes anzuführen, den wir gerade verabschiedet ha-ben. Ich bin dankbar dafür, dass uns dies gemeinsammöglich war. Damit werden als dritte Stufe des gesamtenVorhabens die Beiträge zur Rentenversicherung und zurprivaten Vorsorge bis 2025 Schritt für Schritt steuerfreigestellt. Das bedeutet eine ordentliche Erleichterung fürdie nächste Generation, die schließlich genug zu tragenhaben wird. Es heißt aber umgekehrt, dass dann, wenndie Vorsorge vollständig steuerfrei ist – das wird ab 2040der Fall sein –, die Rente, wenn sie als Einkommen zu-fließt, versteuert werden muss. Das ist ein einfachesPrinzip, das so, wie wir es beschlossen haben, nieman-den bedroht. Es ist in Wahrheit ein Steuerentlastungspro-gramm; denn die Entlastung bei der Vorsorge ist stärkerals die Belastung bei der Rentenbesteuerung.Der dritte Punkt ist die Gesundheitsreform. Dabeihandelt es sich in der Tat – das will ich loben – um eineausgesprochene Erfolgsgeschichte; denn statt des 2 Mil-liarden Euro hohen Defizits im ersten Halbjahr 2003 istnunmehr, nach In-Kraft-Treten der Gesundheitsreform,im ersten Halbjahr 2004 ein Überschuss in Höhe von2,5 Milliarden Euro zu verzeichnen; das ist ein Swingvon 4,5 Milliarden Euro. Dafür will ich ausdrücklichmeinen Dank aussprechen,
weil – darauf komme ich gleich noch zurück – der Fi-nanzminister natürlich seinen Haushalt im Blick behal-ten muss. Da mir aber immer wieder das Maastricht-De-fizit angelastet wird, will ich an dieser Stelle deutlichmachen, dass es dabei nicht nur um den Bundeshaushaltgeht, sondern auch um die sozialen Sicherungssysteme,die Länderhaushalte und die kommunalen Haushalte.
Dazu will ich mich zumindest äußern. Ich halte die Re-formen in den sozialen Sicherungssystemen für dringenderforderlich. Die Gesundheitsreform ist ein gutes Bei-spiel dafür, auf welche Weise sie möglich sind.
Zum ersten Mal seit zehn Jahren befindet sich die ge-setzliche Krankenversicherung in einer positiven Ent-wicklung. Die ersten Erfolge sind sichtbar. Es werdennicht nur Schulden abgebaut – auch das ist übrigens inentscheidendem Maße Maastricht-relevant –, sondern essinken auch die Beiträge. 25 Millionen Versicherte sindschon in den Genuss von Beitragssatzsenkungen gekom-men, die zwar noch klein sind, aber immerhin möglichwurden. Das ist ein großer Fortschritt im Zuge der Re-formen, die vor eineinhalb Jahren vom deutschen Bun-deskanzler im Rahmen der Agenda 2010 im DeutschenBundestag angekündigt worden sind.Ich wiederhole: Auch das hat etwas mit Maastricht zutun. Ich glaube, es war Herr Storm, der einmal gesagthat, die sozialen Sicherungssysteme seien nicht dafür da,zur Lösung unseres Maastricht-Problems beizutragen.Sie lösen dieses Problem aber aus, wenn sie defizitär
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Bundesminister Hans Eichelsind. Insofern dürfen sie keine Defizite aufweisen. Soeinfach ist das.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit etwas zumZahnersatz anmerken. Die Diskussion darüber finde ichziemlich spannend.
– Ich bin die ganze Zeit beim Haushalt. Das werden Siegleich merken. Einiges scheint Ihnen nicht ganz ange-nehm zu sein. Dafür habe ich zwar ein gewisses Ver-ständnis, meine Damen und Herren, aber ich spare heutenichts aus.
Es geht offenbar um die gemeinsame Erkenntnis – an-ders kann ich Ihre Position nicht verstehen –, dass dieVorstellung, man könne das Problem mit einem gleichenBeitrag für alle und der Schaffung eines bürokratischenMonsters lösen, nicht zu verwirklichen ist.
Diese Einsicht scheinen inzwischen alle zu teilen, sonstwürden Sie sicherlich an Ihrer Position festhalten. Ob-wohl es aber Ihre Erfindung war, wollen Sie sich damitnicht in der Öffentlichkeit präsentieren lassen. Dass Siedaraus die Konsequenz ziehen, gar nichts zu machen,zeigt, dass Sie, wenn es darauf ankommt, nicht in derLage sind, die notwendigen Reformen für dieses Landdurchzuführen.
Weder für den Haushalt noch für die Einhaltung derMaastricht-Kriterien, die Rentenversicherung und dieSenkung der Lohnnebenkosten kann die Konsequenzdarin bestehen, die Reformen schleifen zu lassen. Not-wendig ist vielmehr, was meine Kollegin Frau Schmidtvorgeschlagen hat, nämlich Zahnersatz und Kranken-geld zum 1. Juli nächsten Jahres zusammenzuziehen undin der gesetzlichen Krankenversicherung zu lassen. DerVorschlag sieht vor, dass die Versicherten auf der einenSeite 0,45 Prozentpunkte mehr bezahlen müssen, aberauf der anderen Seite wird ihnen im nächsten Jahr eineBeitragssenkung von bis zu 1 Prozentpunkt gewährt.Das ist sowohl für die Unternehmen durch die Senkungder Lohnnebenkosten als auch für die Versicherten einevernünftige Regelung. Deswegen muss dieser Vorschlagumgesetzt werden. Es ist nicht zu verantworten, diesesVorhaben schleifen zu lassen. So kann man angesichtsder Finanzlage nicht mit den notwendigen Reformenumgehen.
Wenn Sie an Ihrer neuen Linie festhalten, dann solltenSie mir nicht sagen, dass wir nächstes Jahr beim gesamt-staatlichen Defizit wieder unter 3 Prozent kommen müs-sen. Der Zahnersatz und das Krankengeld sind Themen,die in diesen Zusammenhang gehören. Sie zählen zu denProblemen, die wir anpacken müssen, damit wir nächs-tes Jahr wieder unter 3 Prozent kommen. Wenn Sie denerzielten Konsens verlassen, dann haben Sie Ihren Bei-trag dazu geleistet, dass dieses Ziel nicht erreicht werdenkann. Das werden wir dann öffentlich sagen.
– Zur Tabaksteuer sage ich gleich gerne etwas.
Damit wieder ein bisschen Ruhe in die Diskussionkommt, rate ich dazu, keine Schnellschüsse zu machen,sondern es bei der momentanen Gesetzeslage zu belas-sen, insbesondere bei dem, was der Haushaltsausschussfraktionsübergreifend beschlossen hat, nämlich imnächsten Jahr in Kenntnis der tatsächlichen Entwicklungdes jetzigen Jahres über mögliche Konsequenzen ergeb-nisoffen zu beraten. Ich denke, dass das der richtige Wegist, den man an dieser Stelle gehen sollte. – So viel zuden anstrengenden Strukturreformen.Zweiter Punkt: zusätzliche Wachstumsimpulse.Klar ist – das habe ich schon zu Beginn meiner Rede ge-sagt –, dass Wachstum und Konsolidierung zwingendzusammengehören. Deswegen werden auch mit demHaushalt 2005 Wachstumsimpulse erzeugt werden. Umes klar zu sagen: Die dritte Stufe der Steuerreform wirdso umgesetzt werden, wie es im Gesetz vorgesehen ist.Durch sie werden Bürger und Unternehmen 2005 und inallen Folgejahren um weitere knapp 7 Milliarden Euroentlastet. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paarBemerkungen zu unserer Steuerreform machen, die seit2001 in Kraft ist. Der Eingangssteuersatz, der 1998, alsowährend Ihrer Regierungszeit, bei 25,9 Prozent lag, wirdauf 15 Prozent im Jahr 2005 sinken.
Der Spitzensteuersatz, der Ihnen immer besonders amHerzen liegt, wird von 53 Prozent 1998 auf 42 Prozentim nächsten Jahr sinken. Durch die Erhöhung desGrundfreibetrages werden Haushalte und Unternehmennunmehr jedes Jahr um 52 Milliarden Euro entlastet.Das ist in der Tat eine große Steuerreform, wie es sie zu-vor niemals gegeben hat.
Wir haben auch den Körperschaftsteuersatz gesenktund dafür gesorgt, dass der im Unternehmen verblei-bende Gewinn steuerlich besser gestellt wird, um die Ei-genkapitalbildung zu stärken. Hinzu kommt bei den Per-sonengesellschaften die Verrechnung der Gewerbesteuermit der Einkommensteuerschuld. Auch dort wird alsodie Eigenkapitalbildung gestärkt.Ich möchte noch ein paar Bemerkungen zum ThemaSteuergerechtigkeit machen. Um es ganz konkret zu
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Bundesminister Hans Eichelmachen, welche Wirkung unsere Steuerpolitik auf dieEinkommen der Menschen in diesem Land hat, möchteich folgende Beispiele nennen: Ein lediger Arbeitnehmer– ohne Kinder, unter 50 Jahre, Steuerklasse I/0 – ver-fügte im Jahre 1998 über ein Bruttoarbeitseinkommenvon 24 695 Euro. Er wird im Jahr 2005 über ein Brutto-einkommen verfügen, das um 2 820 Euro höher liegt.Von diesen 2 820 Euro werden ihm 2 566 Euro belassen.Anders ausgedrückt: Sein verfügbares Einkommen nachSteuern und Sozialabgaben steigt von 60,2 Prozent wäh-rend Ihrer Regierungszeit auf 63,3 Prozent im Jahr 2005.Dafür haben wir gesorgt. Wenn jemand etwas für die Er-höhung der Nettoeinkommen der Arbeitnehmer getanhat, dann waren wir das mit unserer Steuerreform.
Am Beispiel eines Arbeitnehmers, der verheiratet ist,zwei Kinder hat und Alleinverdiener ist, wird es nochsehr viel deutlicher – vielleicht werden Sie anschließendnoch ein bisschen unruhiger –, für welche Entlastungenwir gesorgt haben bzw. sorgen werden. Das Bruttoar-beitseinkommen eines solchen Arbeitnehmers steigt von1998 bis 2005 zunächst nur um 2 821 Euro. Aber seinverfügbares Einkommen nach Steuern und Sozialabga-ben erhöht sich um 3 790 Euro, das heißt, dass er trotzeines höheren Einkommens quasi mit niedrigeren Steu-ern belohnt wird. Das liegt übrigens in erster Linie amKindergeld. Das ist Familienpolitik, die wir wollen.
So sieht die Bilanz für die Durchschnittsverdiener aus.Wenn ich die Tabelle einmal dahin gehend betrachte,wie es für einen verheirateten Alleinverdiener mit zweiKindern je nach der Größenordnung des Einkommensausschaut – ich will das im Einzelnen gar nicht weiterausführen –, dann stelle ich fest, dass die größten Entlas-tungen im unteren Einkommensbereich stattfinden unddass die Entlastungen mit steigendem Einkommen ab-nehmen. Dafür muss man sich nicht schämen; das istvielmehr schlicht gerechte Steuerpolitik.
Ich möchte es noch an ein paar anderen Zahlen deut-lich machen. Zunächst zur Einkommensteuer – sie ist dieumverteilende Steuer –: Die oberen 10 Prozent zahlen54 Prozent der Einkommensteuer, die unteren 50 Pro-zent ganze 9 Prozent. Auch das ist die Wirklichkeit.Übrigens, Sie waren strikt dagegen. Wir haben das durchden Abbau einer Fülle von Steuervergünstigungengleich im Frühjahr 1999 erreicht. Sie haben das alles be-kämpft.Dass wir das erreicht haben, war die Voraussetzungdafür, dass im oberen Einkommensbereich nicht einfachalles abgeschrieben werden kann. So sind auch die Be-zieher höherer Einkommen, die – übrigens, ganz legal –eine Fülle von Steuervergünstigungen in Anspruch neh-men konnten, betroffen. Das wurde eingeschränkt, damitwieder ordentlich Steuern gezahlt werden. Das ist unsereSteuerpolitik. Sie richtet sich weniger gegen Sie – imWahlkampf richtet sie sich manchmal auch gegen Sie –als vielmehr gegen andere, die Falsches verbreiten.
Wer über die Einnahmeseite redet, der muss auchüber den Steuerbetrug reden, Stichwort Umsatzsteuer-betrug. Wir arbeiten mit den Ländern seit Jahren an derBekämpfung dieses Problems. Es wird auch mit Brüsselso schnell keinen Systemwechsel geben. Ein System-wechsel bei der Umsatzsteuer würde – selbst wenn ermit Brüssel zu vereinbaren wäre – an einem nichts än-dern: dass die Umsatzsteuer die betrugsanfälligste undmit dem höchsten Verwaltungsaufwand verbundeneSteuer ist. Auch deswegen plädiere ich nachdrücklichdafür – dabei könnten die Länder eine ganze Mengemehr tun –, dass ebendieser Verwaltungsaufwand betrie-ben wird. Es geht nicht anders. Eine Steuerhinterziehungin Höhe von 20 Milliarden Euro – davon spricht das Ifo-Institut – ist nicht hinnehmbar.
Auch mit Blick auf die Diskussion in der Föderalis-muskommission sage ich hier ausdrücklich – ich findedie Initiative von der FDP, das auch hier wieder zurSprache zu bringen, richtig –: Der Bund ist bereit, beimVollzug dieser Steuer eine ganz andere Verantwortungzu übernehmen. Dabei sollte es nicht um Kompetenzfra-gen gehen; vielmehr sollte derjenige, der am ehesten inder Lage ist, den Vollzug so zu gewährleisten, dass derUmsatzsteuerbetrug ordentlich zurückgedrängt wird, dieVerantwortung übernehmen. In diesem Sinne sollten wirdie Debatte führen.
Sie wissen, dass wir den Vorschlag, eine Bundessteu-erverwaltung einzurichten, in die Kommission einge-bracht haben. Ich will ausdrücklich sagen: Ich stehedazu. Allein die Tatsache, dass wir Bundesgesetze beimAufkommen von Zweifelsfragen in Bezug auf die Ausle-gung in über 100 Kränzchen, in denen Vertreter aller16 Länder und ein Vertreter des Bundes sitzen, klärenmüssen – oft in einem mehrstufigen Verfahren –, ist einschweres Hindernis. Wir müssen doch in der Lage sein,einem Unternehmen oder einem Privatmann innerhalbvon Tagen zu sagen, wie unser Steuerrecht einzuschät-zen ist, was also im Einzelfall genau gemeint ist. Wennman 100 Kränzchen braucht, die zur Klärung solcherFragen mehrere Tagungen abhalten, dann geht das nicht.Das geht am besten, wenn derjenige, der ein solches Ge-setz erlässt, der Bundesgesetzgeber, autorisiert ist, Zwei-felsfragen zu beantworten. Anders kann ich mir das aufDauer überhaupt nicht vorstellen.
Wer über die Einnahmen redet, der muss auch überden Kampf gegen die Steuerhinterziehung an anderen
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Bundesminister Hans EichelStellen sprechen. Ich sage ausdrücklich: Ich bin froh,dass wir uns – auch wenn es nur ein erster Schritt ist – inder Europäischen Union auf die Besteuerung von Zins-erträgen verständigt haben, dass wir uns darüber auchmit der Schweiz einig sind, dass die entsprechende Re-gelung in der Schweiz, in vielen assoziierten Gebietenund in anderen Drittländern zum 1. Juli nächsten Jahresin Kraft tritt. Ich mache mir aber keine Illusionen: Dasist erst ein Anfang. Anders geht es übrigens weder in Eu-ropa noch sonst wo in der Welt; man bekommt nie eineperfekte Lösung.Aber es wird weiter gehen; ich sage das mit allemNachdruck. Wenn in diesem Herbst die G 20, die größ-ten Industrie- und Schwellenländer dieser Erde, die zu-sammen über mehr als 90 Prozent des Bruttosozialpro-dukts der Welt verfügen, für sich selbst den OECD-Standard beim Auskunftsaustausch in Steuerfragen fürverbindlich erklären, dann wird damit ein großer Schrittim Kampf gegen die internationale Steuerhinterzie-hung nach vorne getan. Es kann nicht hingenommenwerden, dass es auf dieser Erde Steueroasen gibt, alsoLänder, die ihr Einkommen im Wesentlichen dadurch er-zielen, dass sie den Steuerbetrug in anderen Ländern för-dern.
Das darf nicht sein. So kann internationale Gemeinschaftnicht funktionieren.Wir alle können das nicht wollen. Denn was heißt dasfür die vielen ehrlichen Steuerzahler? Wenn sie ein sol-ches Bild vermittelt bekommen, dann müssen sie docham System zweifeln. Deswegen ist der grenzüberschrei-tende Kampf gegen die Steuerhinterziehung eine unserervornehmsten Aufgaben. Wir alle sollten uns daran betei-ligen.
Dasselbe gilt im Kampf gegen die Schwarzarbeit.Ich weiß nicht, ob die Zahl von Professor Schneiderrichtig ist – wahrscheinlich weiß das niemand genau –;15 oder 16 Prozent Schattenwirtschaft, das wären um die350 Milliarden Euro. Bei einer Steuer- und Abgaben-quote von 36 oder 36,5 Prozent kämen dann über100 Milliarden Euro an Steuern und Sozialbeiträgennicht ein. Das ist ein gesellschaftlicher Skandal. Denkann man nicht allein dadurch beseitigen, dass man dieSteuern und Abgaben senkt – das tun wir ja schon –; eswird immer eine große Differenz bleiben zwischen einerehrlichen Arbeit, bei der in die Sozialsysteme eingezahltwird und Steuern entrichtet werden, und einer unehrli-chen Arbeit, bei der weder Sozialbeiträge noch Steuerngezahlt werden. Deswegen müssen wir alle zusammendiesen Kampf im Interesse der ehrlichen Unternehmerund der ehrlichen Arbeitnehmer sowie im Interesse lega-ler Arbeitsplätze führen.
Ich bin froh darüber, dass sich nunmehr – da hat manbei den Wirtschaftsverbänden gezögert; das habe ichnicht verstanden –, ausgehend von Berlin und demBündnis für Regeln am Bau, eine Entwicklung republik-weit vollzieht und dass es zu lokalen Bündnissenkommt, bei denen sowohl die Gewerkschaften als auchdie jeweiligen Handwerksverbände bzw. Industriever-bände zusammenarbeiten; denn auch mit 7 000 Finanz-kontrolleuren – das ist schon eine ordentliche Aufsto-ckung – kann ich den Kampf gegen die Schwarzarbeitallein nicht bestehen. Die werde ich, wie ich immer ge-sagt habe, konzentriert dort einsetzen, wo der Miss-brauch am größten ist, wo es um richtig organisierte Kri-minalität geht; da ist zuallererst und mit Härtezuzufassen. Wir brauchen aber auch ein anderes Rechts-bewusstsein der Gesellschaft, damit dieser Sumpf ausge-trocknet wird.
Zum zweiten Teil zum Thema Wachstum: Innova-tionsoffensive. Vor dem Hintergrund einer Gesellschaft,die immer älter wird und immer weniger Kinder hat –das ist doch das Problem; das Problem ist nicht, dass wirälter werden; das ist für uns alle ja schön; man muss sichnur einmal in der Runde umsehen
– das war ganz selbstkritisch gemeint; keine Angst! –;dass wir so wenig Kinder haben, ist das Problem – mussman sich überlegen, wie wir unsere Probleme bewälti-gen. Wir dürfen die öffentlichen Haushalte nicht mit im-mer höheren Schulden und damit Zinsen für früher auf-genommene Schulden belasten – so haben wir dasJahrzehnte gemacht; das versuchen wir ja zu ändern –und nicht immer höhere Sozialausgaben fordern. Wirbrauchen ein Feld für Zukunftsaufgaben. Das fängt beiden Kindern, bei den unter Dreijährigen, an. Wir habenzwar keine Zuständigkeit in diesem Bereich – das ist Ge-meindesache –, aber wir haben gesagt: Wir entlasten dieKommunen bei Hartz IV um 2,5 Milliarden Euro. Da-von sollen sie nachhaltig 1,5 Milliarden Euro für denAusbau der Betreuung der unter Dreijährigen einset-zen. – Ich hoffe, dass nicht nur das Geld, sondern auchdie Botschaft ankommt und das entsprechend umgesetztwird.
Deswegen haben wir auch – ohne Zuständigkeit; dasist eine Zuständigkeit der Länder und Kommunen – dasGanztagsschulprogramm aufgelegt, das zu einem Er-folg wird. Die Leute fragen ja nicht: „Wer hat die Zu-ständigkeit?“, sondern: Wird das Problem in Deutsch-land gelöst?Wir können nicht damit zufrieden sein, wie unser Bil-dungswesen funktioniert. Die PISA-Studie zeigt dasdeutlich. Sie zeigt übrigens auch – das sage ich nun be-wusst als Finanzminister –, dass es einen direkten Zu-sammenhang zwischen den eingesetzten Mitteln unddem Erfolg nicht gibt. Man wird die Priorität Bildungnicht ohne mehr Mittel erreichen können – das ist wohlwahr –, aber es besteht ja auch die Möglichkeit, Mittelschlecht einzusetzen. Deswegen sage ich allen: DenkenSie an so etwas, wie es Frau Kollegin Bulmahn mit den
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Bundesminister Hans EichelJuniorprofessoren an den Hochschulen erlebt hat! DasNeue macht es für den Nachwuchs an deutschen Univer-sitäten interessanter. Das darf nicht im Gewirr des Föde-ralismus – um das deutlich zu machen: im Kompetenz-gewirr – untergehen.
Wir sehen unsere Chance als ein rohstoffarmes Landgerade darin, mit besserem Denken, mit besserer Quali-tät unserer Produkte und unserer Erfindungen an derSpitze zu bleiben. Das heißt, dass dieser Bereich zustärken ist. Das heißt dann übrigens auch, dass wir dieLissabon-Strategie ernst nehmen. Wir werden es zwarunter Umständen nicht bis 2010 erreichen, Europa zurwettbewerbsfähigsten Region der Erde zu machen, aberdas Ziel ist richtig. Alle Länder der Europäischen Unionsind gefordert, ihren Beitrag zu leisten, wir auch.So skeptisch der Finanzminister bei quantifiziertenZielen oft ist, was wohl verständlich ist: Wir haben unsdas Ziel „3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für For-schung und Entwicklung“ gesetzt. Wir müssen das dannauch erfüllen.
Das bedeutet: Wir müssen mehr in Forschung und Ent-wicklung investieren. Das war die Ankündigung desBundeskanzlers im Rahmen der Agenda 2010 am14. März vergangenen Jahres.Wir haben einen Finanzierungsvorschlag unterbreitet:Da, meine Damen und Herren, wird es interessant. In ei-nem gesättigten Wohnungsmarkt – –
– Ja, wir kommen auch noch zu anderen Punkten, keineAngst. Aber auch dieser Punkt ist spannend; denn wennich mich richtig erinnere, stand in Ihrem Wahlprogramm2002 noch drin, dass man die Einkommensgrenzen beider Eigenheimzulage aufheben sollte. Sie von der FDPsollten sich einmal zu Gemüte führen, was Sie da vorge-schlagen haben.
Ich sage Ihnen: Wer sein Haus selber bauen kann,braucht vom Staat und damit von der Gemeinschaft keinGeld dazu. So viel vorweg.
Aber wir haben ja ein anderes Problem: Zum einenmachen wir Jahr für Jahr zu hohe Schulden, zum ande-ren muss mehr Geld in Zukunftsfelder investiert werden.Darüber besteht doch, wie ich glaube, kein Dissens; da-rin sind wir uns doch einig. Nun müssen wir aber auchsagen, woher das Geld kommen soll. Mich treibt um,dass wir das wenige Geld, das wir noch haben, falschausgeben, nämlich insbesondere für Subventionen vonveralteten Strukturen statt für Investitionen in Zukunfts-felder.
Das kann so nicht bleiben. Deswegen sind Sie an dieserStelle gefordert.
Ich bin übrigens bereit, dies in jeder Versammlungoder Diskussionsrunde zu vertreten. Zwar ist die Eigen-heimzulage nicht unpopulär, aber die Menschen sehenein, dass es angesichts des derzeitigen Wohnungsmark-tes und der derzeitigen Finanzlage wichtiger ist, in dieBetreuung und Ausbildung unserer Kinder zu investie-ren als in den Bau oder Umbau von Häusern. Das sehensie ein, das begreift jeder Mensch und das müssen wirmachen, meine Damen und Herren.
Im Übrigen wissen ja auch Sie, dass der Sachverstän-digenrat, die Bundesbank und alle Wirtschaftsfor-schungsinstitute davon reden, dass die Steuersubventio-nen weg müssen. Auch Sie tun das implizit. Sie haben jaschon gesagt, dass Sie bereit wären, diese Subventionaufzugeben, wenn denn Ihre Steuerreform käme. Abermit diesem Verhalten jagen Sie einer Schimäre nach;denn Ihre Steuerreform kann aufgrund der damit verbun-denen zusätzlichen großen Einnahmeausfälle in dennächsten Jahren überhaupt nicht realisiert werden. Auchdas ist angesichts der Lage dieses Landes die Wahrheit.
Folgen Sie doch der Einsicht, zu der Sie mittlerweilegekommen sind, und lassen Sie uns – Bund, Länder undGemeinden – eine gemeinsame große Anstrengung fürdie Sicherung der Ausbildung unserer Kinder und für dieFörderung von Forschung und Entwicklung, also zur Si-cherung der Zukunftsfähigkeit unseres Landes, unter-nehmen. Das würde 2,5 Milliarden mehr für die Länder,900 Millionen Euro mehr für die Kommunen und2,5 Milliarden mehr für den Bund bedeuten, die wirnachhaltig – das baut sich ja im Laufe der Jahre weiterauf – in den weiteren Ausbau von Bildung und For-schung investieren könnten.
Zum Aufbau Ost: Wir verstetigen die GA Ost auf ho-hem Niveau; der Solidarpakt – auch dieses Geld muss jaerarbeitet werden – gilt bis einschließlich 2019. Bei derGelegenheit möchte ich als Finanzminister etwas zu denDiskussionen sagen, die derzeit im Lande geführt wer-den. Auch ich bemühe mich bei Versammlungen imWesten wie im Osten darum, dass nicht neue Vorurteileund Gegensätze entstehen. Das müssen wir verhindern.Ich glaube aber, dass wir zu lange gezögert haben, dieschlichten ökonomischen Fakten beim Namen zu nen-nen.Ein schlichtes ökonomisches Faktum können wir indiesem Jahr, in dem die anderen mittel- und osteuropäi-schen Reformstaaten der EU beigetreten sind – 15 Jahre,nachdem die DDR zur Bundesrepublik gekommen ist –,
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Bundesminister Hans Eichelden Menschen leichter und besser nahe bringen: DieLänder, die jetzt beigetreten sind, bekommen von Brüs-sel maximal 4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes alsHilfe, um ihren Aufbau voranzubringen. Wir transferie-ren jedes Jahr 4 Prozent des deutschen Bruttoinlandspro-duktes von West nach Ost. Das bedeutet, dass das ost-deutsche Bruttoinlandsprodukt zu einem Drittel ausTransferleistungen besteht. Das haben nicht die Men-schen zu verantworten, die da leben, sondern das ist dieKonsequenz der Wiedervereinigung, die so schnell kom-men musste, weil wir eine Nation und ein Volk sind undsich die DDR gar nicht so lange wie die anderen Länderhätte aufrecht halten können, bis sie die KopenhagenerBeitrittskriterien – eine funktionierende Marktwirtschaftund wettbewerbsfähige Betriebe – erfüllt hätte. Beideshatte sie nämlich nicht. Die Folge davon aber war eineDeindustrialisierung Ostdeutschlands. Die Konsequenzdaraus, meine Damen und Herren – ich sage das ganzleise –, sind doch nicht blühende Landschaften innerhalbvon wenigen Jahren und „aus der Portokasse bezahlt“,sondern ist, dass eine ganze Generation in Deutschlandvor einer harten Herausforderung steht. Diese Tatsachekommt jetzt langsam in den Köpfen der Menschen anund sie sollte keine Zwietracht säen.Wir hatten bei unserer letzten Kabinettsklausur denschwedischen Ministerpräsidenten zu Besuch. Es wargut, jemanden zu hören, der einen Blick von außen aufunsere Situation wirft und sich auskennt.
– Er war nicht der Einzige. – Er hat gesagt: Was ist ei-gentlich mit euch los? Seid doch stolz auf die enormeLeistung, die ihr als Deutsche erbringt! – Das ist unseregemeinsame Aufbauleistung in Deutschland!
Es ist klar, dass der Osten nicht immer noch mehr be-kommen kann; das geht nicht. Ebenso ist klar, dass derWesten dem Osten die Solidarleistungen, die er für ihnerbringt, nicht neiden darf. Die Aufgabe besteht darin,mehr und mehr dahin zu kommen, dass – darüber mussmit Blick auf Gelsenkirchen und manche Gegend in Ost-deutschland eine vernünftige Debatte geführt werden –nicht mehr nur zwischen Ost und West in Deutschlandunterschieden wird, sondern dort, wo die Problemlagendie gleichen sind, auch gleiche Antworten gefundenwerden. In dieser Weise muss Deutschland zusammen-wachsen und darf nicht auseinander getrieben werden.
Deswegen sage ich in aller Ruhe zur PDS: Werglaubt, man könne etwas gewinnen, indem man sich alsostdeutsche Partei gegen den Westen stellt, schadet unsallen.
Wir haben die gemeinsame Freude, dass die Mauer wegist und dass alle in Einheit und Freiheit leben können,und wir haben die gemeinsame Aufgabe, die Problemezu lösen.
– Wir können uns ja mal die Verhältnisse auf der kom-munalen Ebene anschauen; da wird es richtig span-nend. – Diese gemeinsame Aufgabe gehört genau wiedie anderen Wachstumsfaktoren zum Wachstumsprozessdieses Landes.Damit komme ich zu Punkt drei, der Konsolidierung.Herr Austermann wird in seiner Rede nachher sicherlichdarauf zu sprechen kommen und sich über die Schuldenbeklagen. In diesem Punkt stimme ich Ihnen, HerrAustermann, sogar zu; auch mir sind die Schulden vielzu hoch. Ich wehre mich allerdings dagegen, dass Sieden Chefankläger spielen. In den Jahren Ihrer Regie-rungszeit nach der Wiedervereinigung betrug das jahres-durchschnittliche Defizit des Bundes 1,8 Prozent. In denfünf Jahren, die wir jetzt regieren, liegt das jahresdurch-schnittliche Defizit des Bundes bei 1,5 Prozent.
Das Staatsdefizit insgesamt – Bund, Länder, Gemeindenund soziale Sicherungssysteme – lag in Ihrer Zeit beijährlich 2,8 Prozent, in unserer Zeit liegt es bei jährlich2,6 Prozent.Dabei habe ich sogar – was Sie wahrscheinlich nichtgetan hätten – die UMTS-Erlöse herausgelassen. WennSie diese hineinrechnen, vermindert sich das Defizit inunserer Zeit jahresdurchschnittlich um ein halbes Pro-zent. Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Siehaben in all den Jahren im Schnitt mehr Schulden ge-macht als wir und eignen sich deshalb überhaupt nichtzum Chefankläger; das ist blanke Heuchelei.
Ich bleibe dabei: Natürlich ist das Ziel ein ausgegli-chener Haushalt. Natürlich sind dem Bundesfinanzmi-nister alle Schulden zu hoch. Aber erstens gab es von2001 bis 2003 eine wirtschaftliche Stagnation. Zweitensmusste die Haushaltslücke so groß nicht sein. DasGesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen, dasich Ende 2002 vorgelegt habe, hätte eine Jahreswirkungvon 17 Milliarden Euro für Bund, Länder und Gemein-den gehabt. Im Bundesrat durchgehen lassen haben Siegerade 2,4 Milliarden Euro. Mit anderen Worten: Um14,6 Milliarden Euro könnte die Lücke kleiner sein, alssie ist. Deshalb machen Sie mir keine Vorwürfe im Zu-sammenhang mit den Privatisierungserlösen! Das akzep-tiere ich nicht.
Wie gewaltig Ihr Mut war, haben wir im vergangenenJahr beim Haushaltsbegleitgesetz gesehen. Wenn wiruns das Ganze jetzt einmal in Ruhe ansehen, stellen wir
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Bundesminister Hans Eichelfest, dass die Wahrheit doch folgende ist: Wir haben seit1999, seit der Auflegung des Zukunftsprogramms 2000,jetzt im sechsten Jahr in Folge einen Konsolidierungs-haushalt vor uns. Hätten wir damals nicht damit begon-nen, hätte das zur Folge gehabt, dass wir allein im Bundjedes Jahr 20 Milliarden Euro mehr Schulden hätten.Ich kann mich übrigens sehr gut erinnern, dass, als ichdieses Programm einleitete, jeder gesagt hat, das gehegar nicht. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit aus-drücklich sagen: Bei allem Streit, den wir auch mit demKollegen Rexrodt gehabt haben, hat es doch sehr vielefaire Bemerkungen im Haushaltsausschuss gegeben. Alsich damals das 30-Milliarden-DM-Paket vorlegte, gab esvon Herrn Rexrodt im Haushaltsausschuss die Bemer-kung: Das schaffen Sie nie. Mehr als 15 Milliarden DMist nicht drin. – Es war eine harte Arbeit. Es wurden– das will ich an die Adresse von Herrn Stoiber sagen;ich komme auf ihn gleich zurück – 7,5 Prozent bei allenbeeinflussbaren Haushaltspositionen eingespart.Was ist die Konsequenz? Wir haben die Finanzhilfenan den Stellen, an denen wir selber entscheiden konntenund an denen der Bundesrat nicht blockieren konnte – ananderen Stellen hat er selbst angesichts Mehrheiten, dienicht eindeutig waren, manchmal blockiert –, um 50 Pro-zent auf 6 Milliarden Euro im nächsten Jahr gekürzt, siealso halbiert. Die Personalausgaben in 2005 liegen beieinem Gesamtvolumen von 27 Milliarden Euro nur um400 Millionen Euro höher als im Jahre 1998, obwohl esin der Zwischenzeit Tarifsteigerungen gegeben hat, diekumuliert 11,3 Prozent ausgemacht haben. Wir beschäf-tigen im öffentlichen Dienst des Bundes heute deutlichweniger Menschen als die alte Bundesrepublik Deutsch-land vor der Wiedervereinigung. Das sind die Konse-quenzen unserer Konsolidierungspolitik.
Der Anteil des Bundeshaushalts am Bruttoinlandspro-dukt ist von 12,1 Prozent im Jahr 1998 auf 11,5 Prozentin diesem Jahr zurückgegangen. Die Ausgaben sind ins-gesamt gleich geblieben. Es gibt nur eine Ausgabe, diegestiegen ist – sie macht praktisch die gesamte Steige-rung aus –, und zwar die für den Arbeitsmarkt. Im Jahr2000 betrugen die betreffenden Ausgaben 15 MilliardenEuro und im Jahr 2005 – das ist das Problem – sind es29,6 Milliarden Euro. In dieser Zahl ist eine Hartz-Prä-mie enthalten, die später eingelöst werden kann.Wir haben eine konsequente Konsolidierung betrie-ben. Auf der Ausgabenseite haben wir wegen der Kon-junktur das Arbeitsmarktproblem – deswegen gehen wirdas Thema an – und auf der Einnahmenseite das Steuer-problem.Der Konsolidierungskurs war nicht nur ohne Alterna-tive, sondern er war auch erfolgreich.
Deswegen bin ich jetzt sehr gespannt, was Sie zu demHaushalt 2005 zu sagen haben. Wir haben im Haushalt2005 – das ist nach Strukturreformen und Wachstumsini-tiativen der dritte Teil – das konsequent fortgesetzt, waswir 1999 – die Wirkungen habe ich bereits geschildert –eingeleitet haben. Die globale Minderausgabe von 2003bei der Rente wird voll umgesetzt. Die noch schärferenVorschläge von Koch/Steinbrück zum Subventionsabbauwerden voll umgesetzt. In der Landwirtschaft wird das,worüber wir alleine entscheiden können und was Sie imvergangenen Herbst im Vermittlungsverfahren behin-dert haben, komplett umgesetzt. Ich komme gleich nochdarauf zurück, weil dies eine pikante Variante hat.Allerdings gilt: Solange die Konjunktur nicht auf bei-den Beinen – Export und Binnennachfrage – steht, wirdes ein darüber hinausgehendes, zusätzliches Konsolidie-rungspaket nicht geben, weil es wachstumsschädlich istund deshalb nicht zu verantworten ist.
Weil wir auf jeden Fall – das wird auch im Zuge derHaushaltsberatungen deutlich werden – Art. 115 desGrundgesetzes einhalten werden, indem wir nicht mehrneue Schulden machen, als wir für Investitionen ausge-ben, brauchen wir Privatisierungserlöse in der Größen-ordnung von 15 Milliarden Euro. Die Privatisierungs-politik ist übrigens dieselbe wie zu Ihrer Zeit. Auch wirsind nicht gezwungen, an die Börse zu gehen. Wir wer-den es nur dann tun, wenn es im Hinblick auf die Kurs-pflege vernünftig ist. Es gibt ja die problemlose Park-lösung bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau.Da Ihnen die Neuverschuldung zu hoch ist – auch mirist sie zu hoch –, muss ich Sie fragen: Warum haben Siesich dem einzigen Instrument, das uns jetzt noch zurVerfügung steht, nämlich dem steuerlichen Subventions-abbau, immer in den Weg gestellt? Das ist doch das ei-gentliche Problem. Beklagen Sie nicht die Höhe der Pri-vatisierungserlöse, wenn Sie andere Türen schließen!
Mir können Sie das jedenfalls nicht ans Bein binden. Ichwill das in aller Klarheit sagen.Ein paar Risiken sind noch zu berücksichtigen. Esmuss noch der Betrag in Höhe von 2,2 Milliarden Euroim Rahmen von Hartz IV erbracht werden. Dieser Be-trag ergibt sich aus dem erhöhten Zuschuss an die Kom-munen und aus der Auszahlung zum 1. Januar. Ich binden Haushältern der Koalition sehr dankbar, dass siedeutlich gemacht haben, dass sie den Haushalt passierenlassen und dass sie eigene Anstrengungen unternehmen– die Bundesregierung wird diese unterstützen –, damitwir diesen Betrag erbringen können. Das wird nicht ein-fach werden; es wird aber selbstverständlich geschehen.Natürlich müssen wir die Novembersteuerschätzungabwarten. Dazu will ich mich jetzt nicht weiter äußern.Dies hat im Moment keinen Zweck; das wäre Kaffee-satzleserei.
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Bundesminister Hans EichelIch weise nur darauf hin, dass bisher in allen Progno-sen davon ausgegangen wird, dass wir unser Wachs-tumsziel im nächsten Jahr erreichen. Es gibt sogar eineReihe von Prognosen, zum Beispiel die des Internationa-len Währungsfonds, in denen ein Wachstum von mehrals 2 Prozent vorausgesagt wird.Auf Ihre Reaktion – ich sagte es ja schon – bin ichnun gespannt. Herr Austermann, ich habe gehört – ichweiß nicht, ob es stimmt –, dass Sie auf der Bereini-gungssitzung Einsparvorschläge in Höhe von 7,5 Mil-liarden Euro machen wollen. Das werden wir uns anse-hen.Herr Stoiber hat einen anderen Vorschlag gemacht: Inallen Bereichen soll um 5 Prozent gekürzt werden. Die-ser Vorschlag von Herrn Stoiber kommt daher, dass er,nachdem er seine Haushalte bisher mit Privatisierungser-lösen gespeist hat, dies zum ersten Mal nicht mehr kann,
weil er alles veräußert hat und nun wirklich einen Spar-haushalt vorlegen muss. In der Begeisterung über seinenSparhaushalt übersieht er schlicht, dass wir mit der Kon-solidierung bereits 1999 begonnen haben. Wenn man fairist und in Ruhe darüber diskutiert, muss man zugeben,dass im sechsten Jahr des Sparens kaum noch Fleisch anden Knochen ist. Man wird hier und dort noch etwas fin-den, wenn man alles noch einmal durchwühlt; aber dasist nicht mehr viel.5 Prozent über alles einzusparen bedeutet zum Bei-spiel beim Rentenzuschuss eine Kürzung um 4,2 Milliar-den Euro. Das führt – um es gleich zu sagen – zu einerErhöhung der Rentenversicherungsbeiträge um 0,4 Pro-zentpunkte oder zu einer Rentenkürzung um 2 Prozent.
Wollen Sie das? Glaubt irgendjemand nach dem, was wirdort gemacht haben, dass das ein vernünftiger Vorschlagwäre? Sie können ihn natürlich einbringen. Aber ichgebe Ihnen Brief und Siegel, dass Sie ihn nicht einbrin-gen.
Bei der Bundeswehr würde eine Einsparung von5 Prozent eine Kürzung um 1,2 Milliarden Euro bedeu-ten. Ich kenne doch Ihre Klagen, dass die derzeitigenMittel nicht ausreichen. Bringen Sie den Vorschlag ein,die Mittel für die Bundeswehr um 1,2 Milliarden Eurozu kürzen?Bei den Verkehrsinvestitionen würde dieser Einspar-vorschlag eine Kürzung um 1,16 Milliarden Euro bedeu-ten. Ich kenne doch die Klagen, die jetzigen Mittel seiennicht ausreichend.
Bringen Sie einen solchen Vorschlag wirklich ein?Schauen wir uns auch noch die landwirtschaftlicheSozialpolitik an; dieses Schmankerl kann ich Ihnen nichtganz ersparen. Eine Kürzung um 5 Prozent würde einMinus von 255 Millionen Euro über das hinaus bedeu-ten, was ich bereits vorgeschlagen habe. Im Vermitt-lungsverfahren des letzten Herbstes hat Herr Stoiber er-klärt: Wenn in diesem Bereich auch nur 1 Cent gekürztwird, ist das ganze Vermittlungsverfahren beendet. –Jetzt schlägt er über meine Vorschläge, die er damals ab-gelehnt hat, hinaus vor, die Mittel für die Landwirtschaftzusätzlich um 255 Millionen Euro zu kürzen. Das wirdaber eine Freude!
Es gibt einen Bereich, zu dem ich gleich sagen muss,es hat keinen Zweck, 5 Prozent einzusparen: Bei denZinsen kann nicht gekürzt werden. Oder soll ich denBanken sagen, dass wir unsere Schulden nicht mehr be-dienen?
Kurzum, ich bin auf Ihre Vorschläge sehr gespannt.Einer Sache bin ich ganz sicher: Die Vorstellungen vonHerrn Stoiber werden bei diesen Vorschlägen – wie auchimmer sie aussehen – nicht dabei sein.Wir werden uns also interessanten Haushaltsberatun-gen zuwenden. Wir werden die Lücke von 2,2 Milliar-den Euro schließen. Wir werden alles daransetzen – daswird nicht einfach werden; ich habe Ihnen schon darge-stellt, was Sie mit Ihren Versuchen beim Zahnersatz an-richten würden –, im nächsten Jahr wieder unter die3 Prozent des Maastricht-Kriteriums zu kommen.Ich will bei dieser Gelegenheit etwas zu unseremStand im Hinblick auf die Haushaltsentwicklung in derEuropäischen Union bzw. in der Eurozone sagen. Sieversuchen, alles Deutschland anzuhängen. Wir machenes einmal ganz einfach: Wir sind in der Hochkonjunkturmit einem Defizit von 1,2 Prozent bzw. einem Defizitvon 24 Milliarden Euro gestartet. Wir sind letztes Jahrbei einem Defizit von 3,8 Prozent gelandet. Das machteinen Swing von 2,6 Prozent. Mit anderen Worten: Un-ser Problem war nicht, dass wir in dieser Zeit nicht mitder Marge von 3 Prozent ausgekommen wären. UnserProblem war, dass wir in die Stagnation mit einem Defi-zit gestartet sind. Dies lasse ich aber nicht mir anhängen.Sie müssen einmal sehen, was wir von Ihnen übernom-men haben. Als wir an der Regierung waren, haben wirdie Konsolidierung sofort eingeleitet. Schieben Sie alsodie Schuld nicht anderen Leuten zu!
– Lafontaine hat in den Haushalt nur das hineingenom-men, was Sie nicht angesetzt hatten, zum Beispiel diePostunterstützungskassen. Sie wissen es doch besser,Herr Dr. Meister!Eines ist interessant: Es gibt in Europa eine Fülle vonLändern, die alle im Hinblick auf das Defizitkriteriumvon 2000 bis 2004 eine Abweichung um mehr als2,6 Prozent haben – ich lese sie Ihnen einmal vor –: dieNiederlande, Großbritannien, Griechenland, Finnland,Irland, Luxemburg und Schweden. Sie alle weisen eine
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Bundesminister Hans Eichelstärkere Abweichung als wir auf. Sie sind in der Regelaus einer besseren Position gestartet, das ist wahr. Hierlasse ich mir aber nichts ans Bein binden; denn es zeigt,dass die deutsche Finanzpolitik in diesen Jahren sehrvorsichtig gewesen ist.
Das ist auch die Grundlage unserer Diskussion. Muss-ten wir denn in Brüssel – den Satz von EU-KommissarAlmunia, wonach mehr ökonomische Logik in die An-wendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu brin-gen ist, unterstreiche ich – erst dann zu solchen ökono-mischen Debatten kommen, nachdem die Hälfte derLänder der Eurozone jenseits der 3 Prozent lagen? Auchunsere verehrten Chefankläger in den Niederlanden sindinzwischen ganz freundlich geworden – wir haben sogarmit ihnen eine gemeinsame Position –, sie liegen näm-lich bei über 3 Prozent, obwohl sie mit einem Plus ge-startet sind. Ihre Abweichung liegt nicht wie unsere bei2,6 Prozent, sondern bei 4,4 Prozent. Daran sehen Sie,dass die Sache ernst geworden ist.Auf europäischer Ebene wird nicht der Stabilitäts-und Wachstumspakt infrage gestellt – das wäre auchein fundamentaler Fehler –, aber es ist die Frage zu stel-len: Ist das in erster Linie Juristerei oder Ökonomie?Wie schaffen wir es, in Europa wie in Deutschland zuWachstum zu kommen, um mit Wachstum zu konsoli-dieren? Im geringen Wachstum liegt unsere Schwäche.Ausgabendisziplin und Wachstum sind die beiden ent-scheidenden Faktoren, uns und vielen anderen fehlt esam Wachstum, nicht an der Ausgabendisziplin. Deswe-gen ist diese Debatte sinnvoll und nützlich. Wir brau-chen den Stabilitäts- und Wachstumspakt und wir brau-chen eine vernünftige, ökonomische Anwendung diesesPakts. Wir brauchen auch die Sanktionen aus diesemPakt. Die zwingende Voraussetzung für Sanktionen istaber, dass jemand bewusst gegen den Pakt verstößt. Daswerden wir Deutsche aber nicht tun und das haben wirauch in der Vergangenheit nicht getan.Es findet eine vernünftige Debatte statt, die darüberhinaus das Ziel von Lissabon und das Ziel des Stabili-täts- und Wachstumspakts miteinander vereinbarenmuss. Wir brauchen eine konzertierte Strategie und nichteine Strategie, bei der auf der einen Seite der Stabilitäts-und Wachstumspakt und auf der anderen Seite die Lissa-bon-Strategie stehen.Ich sage daher auch an die Adresse der Kommission,sehr nachdrücklich: Wir brauchen selbstverständlicheine kohärente Politik der Kommission. Derjenige, dervon uns verlangt, dass im Aufschwung – er verlangt dasnatürlich zu Recht – all das, was zusätzlich eingenom-men wird, zum Abbau von Schulden eingesetzt wird– dazu bekenne ich mich, das haben wir beim Minister-rat verabredet, es ist ein gemeinsamer Beschluss aller –,kann nicht erwarten, dass sein eigener Haushalt exorbi-tant steigt. Das bedeutet, dass die Konsolidierungsstrate-gie im Zusammenhang mit der europäischen Solidaritätund mit der Haushaltsstrategie der Europäischen Uniongesehen werden muss. Das heißt, mehr als 1 Prozent desBruttoinlandseinkommens sind nicht drin. Für uns istdas schon eine Steigerung für 2013, denn der Beitragwird von jetzt 21 Milliarden Euro auf dann32 Milliarden Euro steigen. Das ist eine Wachstumsrate,die der deutsche Haushalt nie haben wird. Die Vorstel-lung, dies noch einmal zu verdoppeln – das hieße,Wachstumsraten zwischen 8 und 10 Prozent bei der Zu-weisung nach Europa zu akzeptieren –, ist nicht von die-ser Welt, egal ob sie die Prodi-Kommission oder dieBarroso-Kommission vertritt.
Ich hoffe, dass wir in diesem Punkt – so war es bis-her – einer Meinung sind. Das ist kein Aufkündigen dereuropäischen Solidarität. Das heißt nur – langsam wer-den sie in Osteuropa nachdenklich –: Solidarität bestehtauch darin, dass diejenigen, die aufgrund eigener An-strengungen und mit unserer Hilfe bisher wunderschöneAufholprozesse erlebt haben, so beispielsweise dieSpanier, die Portugiesen und die Iren, nun ihren Beitragleisten und auf einen Teil der bisherigen Subventionenverzichten müssen. Subventionen dürfen nicht zurGewohnheit werden; das gilt für Deutschland und fürEuropa.
Es wird eine interessante und ökonomisch vernünftigeDiskussion. Es ist nur schade, dass wir dafür so langegebraucht haben.Wir befinden uns in einer Situation, in der wir weißGott große Herausforderungen zu bestehen haben und inder es so viel Unruhe im Land gibt wie schon lange nichtmehr. In dieser Situation haben wir es nötig und ergrei-fen die Chance, über die Herausforderungen, vor denenwir stehen, mit den Menschen zu diskutieren. Das ge-schieht zurzeit und immer mehr Menschen verstehen es.Wie ich schon am Anfang gesagt habe, können wir dasaus einer Position großer eigener Gelassenheit undStärke tun; denn wer sonst kann es schaffen, wenn nichtwir?
– Ja, wer sonst?Ich will Ihnen zum Schluss zwei Zitate von der Ta-gung der Nobelpreisträger, die am Wochenende am Bo-densee stattgefunden hat, vorlesen. Reinhard Selten, derdeutsche Nobelpreisträger, sagte wörtlich:Mich hat beeindruckt, dass bei einer Befragung un-ter Spitzenmanagern Deutschland als einer der bes-ten Standorte herauskam.Sagen wir das doch endlich einmal wieder laut, vonwelcher Position aus wir unsere Herausforderungenmeistern!
Deswegen sage ich: Wer, wenn nicht wir.
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Bundesminister Hans EichelWarum eigentlich führen wir in immer kürzeren Ab-ständen Weltuntergangsdiskussionen? Das ist ein Scha-den für sich. Meine Kollegen Finanzminister, die auchdie deutsche Presse lesen, fragen mich – wie auch Jean-Claude Juncker – bei Treffen immer: Was ist eigentlichbei euch los? Was ist das für ein Land, das auf der einenSeite so stark ist, wie uns das Göran Persson gesagt hat,auf der anderen Seite aber so selbstquälerisch diskutiert?Robert Mundell, der amerikanische Nobelpreisträger,sagte auf Europa bezogen wörtlich:Die EU hat die Währungsunion verwirklicht, nunist die politische Union ihr Ziel. Auch das wird sieerreichen. Europa wird in großartiger Form sein.– Das sagt ein Amerikaner. –Wir sagen oft, Europa sei nicht so erfolgreich wiedie USA. Dabei ist das Bruttoinlandsprodukt proKopf genauso stark oder stärker gewachsen als inden USA. Nur hat die Bevölkerung nicht im glei-chen Maße zugenommen, deshalb expandiert dieeuropäische Wirtschaft absolut gesehen nicht soschnell wie die amerikanische.Das ist das Urteil des amerikanischen Nobelpreisträgers.Meine Damen und Herren, wir können viel kritisie-ren, aber bitte lassen Sie uns diese Debatte in dem Be-wusstsein führen, dass wir ein starkes Land sind, das vorgroßen Herausforderungen steht, und nicht, dass wir einLand am Rande des Abgrundes sind.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dietrich Austermann, CDU-Fraktion.
Herr Präsident! Es ist geradezu absurd, dass wir jetzteineinviertel Stunden lang eine Haushaltsrede des Bun-desfinanzministers gehört haben, die das Thema „Situa-tion des Haushalts, Perspektiven des Finanzplans für dieZeit ab 2005“ überhaupt nicht tangiert hat.
Man hatte vielmehr den Eindruck – das wurde auch indem äußeren Auftreten deutlich –, dass er sich mit seinerRede an diese gelangweilten und gescheiterten Froh-naturen, die eben noch hier gesessen haben, gerichtethat. Der Finanzminister hat immer nach rechts geschaut.Ich vermute, der Kanzler hat ihm vorher gesagt: Hans,wenn du über den Haushalt redest, fliegst du gleich raus.
Deshalb hat er gesagt: Ich halte mich zurück und wartenoch ein bisschen.Die Situation ist ziemlich klar. Herr Eichel, Sie wer-den es nicht erreichen, dass ich alle die Themen, die Siehaben, aufgreife. Ihre Rede war ein ausgesprochenerThemensalat, aber nichts davon hatte mit dem Haushaltzu tun. Ich möchte dennoch einige Bemerkungen zu demmachen, was Sie gesagt haben:Sie werfen uns vor, wir hätten eine Fülle von Maß-nahmen verhindert, und deswegen hätten Sie nicht spa-ren können. Ich lese Ihnen einmal aus dem Protokoll desVermittlungsausschusses vom letzten November vor.Danach haben Sie Kürzungen in einer Größenordnungvon 24,5 Milliarden Euro vorgeschlagen. Gemeinsamgetragen wurden Kürzungen in Höhe von 22,7 Milliar-den Euro. Lediglich Kürzungen in Höhe der verbliebe-nen Differenz wurden von uns aus den unterschiedlichs-ten Gründen nicht mitgetragen. Jetzt zu sagen, wir hättenIhre Sparmaßnahmen blockiert, ist geradezu aberwitzig.Wir haben bei der Kürzung der Eigenheimzulage mit-gemacht. Erzählen Sie doch nicht den Quatsch, hier seinichts verändert worden. Ich nenne nur die Entfernungs-pauschale und die im Rahmen des „Korb II“ durchge-führten Änderungen bei der Tabaksteuer und einer gan-zen Reihe sonstiger Steuern.Auch bei der Umsetzung des Koch/Steinbrück-Pa-piers haben wir mitgemacht. Die Liste dieser Sparvor-schläge kam ja nicht aus Ihrem Haus, sondern von denMinisterpräsidenten. Aber wie sehen die Konsequenzendes Koch/Steinbrück-Papiers aus? Das, was darin zumThema Kohle beschlossen worden ist, haben Sie igno-riert.
Sie haben weiterhin Hunderte von Millionen Euro in die-sen Bereich gesteckt und mittelfristig ein Programm inHöhe von über 16 Milliarden Euro als zusätzliche Hilfefür die Kohle aufgelegt. Erzählen Sie uns also nicht, wirseien zum notwendigen Subventionsabbau nicht bereitund hätten die Kürzungsmaßnahmen, die Sie vorgesehenhaben, nicht verantwortet.
Herr Eichel, wenn ich das, was Sie zum Haushalt ge-sagt haben, richtig werte, dann komme ich zu folgendemSchluss: Sie haben zu wenig Geld und Sie geben es auchnoch falsch aus. Alles andere, was Sie gesagt haben,hatte mit dem Haushalt im Wesentlichen nichts zu tun.Herr Eichel, lassen Sie mich, auch wenn die Vergan-genheit für Sie sicherlich nicht hilfreich ist, auf dasJahr 1998 Bezug nehmen: Im Jahre 1998 betrug das ge-samtstaatliche Defizit 2,2 Prozent und es gab steigendeBeschäftigung, sinkende Arbeitslosenzahlen und spru-delnde Steuereinnahmen. Das hat den Bundeskanzler,der damals noch Kanzlerkandidat war, veranlasst zu sa-gen: Dies ist mein Aufschwung.Herr Eichel, was haben Sie daraus gemacht? 1998war Deutschland wie ein intaktes Auto mit intaktem Mo-tor, gewissermaßen ein Superfahrzeug.
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Dietrich AustermannSie haben gleichzeitig Gas gegeben und die Bremse ge-treten und dadurch den Motor ruiniert. Jetzt wundern Siesich, dass das Fahrzeug nicht mehr so gut fährt und stot-tert. Genau das ist die derzeitige Situation.
Um das angesprochene Beispiel mit dem Nobelpreisträ-ger aufzunehmen: Wenn hier im Hause jemand einenNobelpreis verdient hätte, wären Sie es: wegen Schul-denmachens.
In dieser Hinsicht sind Sie in der Tat ungeschlageneSpitze.
Nun komme ich zu den konkreten Zahlen des Haus-haltes und zur tatsächlichen Situation in Deutschland.Damit reden wir unser Land nicht schlecht. Niemand hatdaran Interesse. Aber man muss die Situation so be-schreiben, wie sie ist: Wir befinden uns in der größtenHaushalts-, Finanz- und Arbeitsmarktkrise seit 1949.Der Haushaltsentwurf, den Sie, Herr Eichel, vorgelegthaben, verschärft diese Krise. Als Basis für gemeinsameGespräche ist er ungeeignet. Deswegen sagen wir: Neh-men Sie diesen Haushaltsentwurf zurück und legen Sieeinen neuen vor. Besser wäre, wenn ein anderer Finanz-minister einen neuen Entwurf einbringen würde, damitein Papier vorgelegt wird, über das man streiten und ent-scheiden kann.Jetzt möchte ich zusammentragen, wie die Situationbis Ende 2005 tatsächlich aussieht, wenn dieser Haushaltgegolten haben wird. 2005 befinden wir uns sechs Jahrenach der Übernahme der Regierung durch Rot-Grün undzwei Jahre vor dem Ende der rot-grünen Regierungszeit.
Wir befinden uns Ende 2005 in einer Situation, in der Sieneue Schulden in Höhe von 150 Milliarden Euro ge-macht haben werden. Der Schuldenstand wird auf890 Milliarden Euro angestiegen sein. Darüber hinaushaben Sie Bundesvermögen in Höhe von 100 MilliardenEuro verscherbelt. Wenn ich die neuen Schulden von150 Milliarden Euro und das verscherbelte Bundesver-mögen von 100 Milliarden addiere, entspricht das Ver-mögen, das Sie verbrannt haben – 250 Milliarden Euro –,exakt der Dimension des Bundeshaushaltes für ein gan-zes Jahr. Dies ist in der Tat kein Beweis für eine nachhal-tige Politik, die Sie von Rot-Grün – vor allem dieGrünen – immer wieder anmahnen.Diese Situation spüren auch die Bürger in unseremLand an vielen Stellen. Die Reallöhne stagnieren aufdem Niveau des Jahres 1991. Die Sozialhilfeausgabensind seit 1998 um 3 Milliarden Euro gestiegen.1,2 Millionen Kinder leben von der Sozialhilfe. UnterRot-Grün ist Deutschland ärmer geworden. Herr Bun-desfinanzminister, Sie sind mit Abstand der größteSchuldenmacher und Vermögensminderer, der in derNachkriegszeit in Deutschland tätig geworden ist.Man kann ganz grob sagen: Überall dort, wo Rot-Grün regiert, ist die Situation gleich. Wo Rot-Grün re-giert, ist die Pleite programmiert. Das könnte ich auchauf Schleswig-Holstein beziehen; denn hier gibt es Pa-rallelen. Man muss bloß ein Fernglas nehmen, es umdre-hen und die entsprechenden Zahlen vergleichen. Dannstellt man etwa die gleiche Situation fest. Rot-Grünbleibt Rot-Grün, ob in Kiel oder Berlin. Nur ein Unter-schied ist: Die Zahlen für Kiel sind ein Dreißigstel derZahlen für den Bund. Bei den geplanten Schulden wurdezu Beginn des Jahres ein Betrag x angegeben; am Endedes Jahres kam der doppelte Betrag heraus. Die Investi-tionen sinken ständig. Der Haushalt ist drei Jahre hinter-einander verfassungswidrig. Die Investitionen schrump-fen. In 16 Jahren wurden in Schleswig-Holstein unterFrau Simonis und ihrem Vorgänger mehr Schulden ge-macht als in den 39 Aufbaujahren der von der CDU ge-führten Regierungen in Kiel.Herr Eichel, die neuen Schulden, die Sie in diesemJahr machen, reichen aus, um jeden Schleswig-Holstei-ner mit einem neuen Golf-Fahrzeug zu versehen:45 Milliarden Euro neue Schulden in diesem Jahr! Al-leine die Zinsen auf die Schulden, die Sie seit 1998 ge-macht haben, decken das gesamte Ausgabenvolumendes Kieler Landesetats ab. Dass es auch besser geht,zeigt übrigens das Saarland. Sie können daran sehen: Wodie Union regiert, läuft es besser. Das Saarland hatte frü-her die rote Laterne, unter Lafontaine – die Älteren wer-den sich noch an ihn erinnern –, inzwischen ist diese roteLaterne abgegeben worden und Schleswig-Holstein hatsie. Wir werden das in Schleswig-Holstein ab 2005 än-dern.
Meine Damen und Herren, der Haushaltsent-wurf 2005 ist der Inbegriff des Scheiterns rot-grünerHaushalts- und Finanzpolitik: Er ist offensichtlich ver-fassungswidrig, verstößt gegen die Maastricht-Kriterien,ist ohne Perspektive, enthält keine Konsolidierung, be-deutet eine Überforderung künftiger Generationen, istwachstumspolitisch kontraproduktiv und finanzpolitischunsolide. Er enthält eine Fülle von Risiken, die nichtverarbeitet worden sind. Wie kann man hier einen Haus-haltsentwurf vorstellen und gleichzeitig sagen: „Ichweiß, dass verschiedene Ausgaben nicht eingeplant unddass verschiedene Einnahmen zu hoch angesetzt wordensind“?Ich rechne Ihnen das bei Hartz IV einmal vor: Dafehlen 5 Milliarden Euro. Sie haben zunächst entgegendem beschlossenen Gesetz den Arbeitslosenhilfe-Emp-fängern die Januarzahlung verweigern wollen – 1,9 Mil-liarden Euro –; Sie haben den Gemeinden etwas verspro-chen, was Sie im Haushalt nicht vorgesehen haben– 1,4 Milliarden Euro –; Sie haben nicht berücksichtigt,dass für mehr Leute Eingliederungsgeld erforderlich ist– das macht 700 Millionen Euro –, und Sie haben nichtbedacht, dass unter Ihrer Regierung die Zahl der Lang-zeitarbeitslosen leider nicht statisch ist oder zurückgeht,sondern dass sie ständig steigt. Insgesamt fehlen alleinebei Hartz IV 5 Milliarden Euro. Es fehlen darüber hi-naus etwa 5 Milliarden Euro für den Arbeitsmarkt. Esfehlen Mauteinnahmen: Mit Sicherheit kommen die3 Milliarden Euro im nächsten Jahr wie in diesem Jahr
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Dietrich Austermannnicht zusammen. Der mit 3,5 Milliarden Euro angesetzteBundesbankgewinn dürfte utopisch sein. 2 Milliar-den Euro aus dem ERP-Sondervermögen – darübermüssen wir noch einmal reden. Eine Reihe von Detail-entscheidungen sind offensichtlich von vornhereinkontraproduktiv für die weitere wirtschaftliche Ent-wicklung. Schauen wir es uns doch einmal an: Der Ver-kehrsetat sinkt ständig. Ursprünglich sollten einmal3 Milliarden Euro aus Mauteinnahmen draufgelegt wer-den – mehr für Schiene, Straße und Wasserstraße. Wasist tatsächlich passiert? Sie haben die Mittel gekürzt,weil die Mauteinnahmen ausblieben, sodass heute nurnoch 75 Prozent der Mittel zur Verfügung stehen. Der imJuni beschlossene Bundesverkehrswegeplan ist Makula-tur.Lassen Sie mich auch etwas zur Förderung in denneuen Bundesländern sagen, Herr Eichel. Sie habendas Thema Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirt-schaftsstruktur“ leider nicht angesprochen. Deshalbmuss ich es tun. Die Förderung der regionalen Wirt-schaftsstruktur lag im Jahre 1998 um 1 Milliarde Eurohöher als heute. Sie ist mehr als halbiert worden. Das be-deutet, in den neuen Bundesländern können Anstöße fürdie wirtschaftliche Entwicklung, für Betriebserweiterun-gen überhaupt nicht mehr in dem Umfang gegeben wer-den. Sie haben, über Koch/Steinbrück hinaus, auch nochdie Mittel für dieses Jahr bis Mitte des Jahres gänzlichgesperrt und damit nur einen Teil zur Verfügung gestellt.Milliardeninvestitionen in den neuen Bundesländern lie-gen heute auf Eis und können nicht umgesetzt werden,weil Sie die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Ver-besserung der regionalen Wirtschaftstruktur“ brutal zu-sammengestrichen haben. Wenn ich dann noch sehe,dass die Bundesagentur für Arbeit in gleicher Weise beiden Mitteln für aktive Arbeitsmarktpolitik vor allen Din-gen in den neuen Bundesländern kürzt – und das mit Ih-rer Unterstützung –, kann ich nur sagen: Pfui Deiwel,was hier in den neuen Bundesländern gemacht wird!
Während Sie das tun, wird gleichzeitig ein erhebli-cher Betrag für die Kohle zusätzlich draufgesattelt. Ichhabe die Größenordnung genannt: Über 16 Milliar-den Euro zusätzlich bis zum Jahre 2003.
– 2013, vielen Dank. – Und dann reden Sie von einer In-novationsoffensive. Wenn man sich das anschaut, stelltman fest: Da wird ein kleiner Kleckerbetrag zusätzlichbereitgestellt, unter der Voraussetzung, dass wir einerweiteren Kürzung der Eigenheimzulage zustimmen –wie im Haushalt ja überhaupt viele Dinge voneinanderabhängig gemacht werden, damit man hinterher garnicht mehr weiß, woran es gelegen hat, wenn etwas kas-siert wird.
In der Tat wird im Etat für Forschung im Jahr 2005 we-niger Geld für Innovation bereitgestellt. Und das nennenSie Innovationsoffensive! In der Semantik waren die Ro-ten immer groß, in der Realität haben Sie immer versagt.
Meine Damen und Herren, Rot-Grün hat die größteWachstums- und Beschäftigungskrise im Land zu ver-antworten. Dass wir jetzt nur ein Miniwachstum zu ver-zeichnen haben, ist das Ergebnis von sechs Jahrenwachstumsfeindlicher Politik. Dass es auch anders geht,sehen wir in vielen Industrienationen. Dass der Exportbrummt, beweist im Grunde genommen nur, dass es alleLänder um uns herum, die unsere exportierten Warenkaufen, wesentlich besser können. Sie sind in bescheide-nem Maße gewissermaßen ein Trittbrettfahrer der Welt-wirtschaft.Wie wir wissen, führt das allerdings nicht dazu, dasszusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Es gibt gewisserma-ßen „jobless growth“, das heißt, eine sinkende und keinesteigende Beschäftigung. Bei den Steuereinnahmen istes genau das Gleiche. Einen Aufschwung können Sieaus der Bilanz, die Sie heute vorgelegt haben, nicht ent-nehmen. Die Steuereinnahmen stagnieren bestenfallsund die Beschäftigung sinkt. Das macht in der Tat großeProbleme. Es gibt in letzter Zeit 600 000 Beitrags- undSteuerzahler weniger. Jeder kann sich vorstellen, wasdas auch für die sozialen Sicherungssysteme bedeutet.Die Zahl der Firmenpleiten wird in diesem Jahr einneues Rekordniveau erreichen. Der Stillstand dauert seitdrei Jahren an. In diesem Jahr wird die Neuverschuldungdes Bundes zum dritten Mal hintereinander die Verfas-sungsgrenze übersteigen und die Maastricht-Kriterienverletzen.Herr Eichel, Sie werden verstehen, dass ich Aussa-gen, die Sie einmal gemacht haben, zitiere, auch wennman sagen kann, dass Sie die Rede, die Sie heute gehal-ten haben, auch vor einem, zwei oder drei Jahren hättenhalten können. Das, was Sie mit Blick nach vorne gesagthaben, war relativ dürftig und ist im Übrigen auch in derVergangenheit schon nicht eingetreten. Ende 2001 habenSie gesagt: Auf jeden Fall werden wir unter der Grenzevon 3 Prozent bleiben. Wir werden den Stabilitätspaktauf Punkt und Komma einhalten, allenfalls nicht, wennder Himmel einstürzt.
Man hat den Eindruck, der Himmel sieht ziemlichverbeult aus. Er ist schon dreimal eingestürzt – the sameprocedure as every year. Der regelmäßige Einsturz desHimmels gehört offensichtlich zur Routine von Rot-Grün. Sie haben den Marsch in den Schuldenstaat ange-treten. Ich habe darauf hingewiesen, wie groß die Schul-den sind, die Sie uns hinterlassen werden. Sie wollen dieInvestitionsausgaben mittelfristig um 10 Milliarden Euroherunterfahren. Wir haben die niedrigste Investitions-quote der Nachkriegszeit. Die Substanz unserer Volks-wirtschaft wird in rasantem Tempo aufgezehrt. Gleich-zeitig wird die Staatsverschuldung mit zunehmenderGeschwindigkeit in die Höhe getrieben. Am Jahresendewerden gewaltige Beträge fehlen.Schauen Sie sich allein die Steuereinnahmen des Bun-des in den ersten sieben Monaten dieses Jahres an. Tei-
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Dietrich Austermannlen Sie sie durch sieben und multiplizieren Sie sie mit13 – also einschließlich des Weihnachtsgeldes, wenn esdenn noch gezahlt wird –, dann kommen Sie in diesemJahr auf eine Lücke in einer Größenordnung von18 Milliarden Euro. Das zeigt die ganze Dramatik derEntwicklung. Wir werden in diesem Jahr neue Schuldenin Höhe von 45 Milliarden Euro – vielleicht sogar we-sentlich mehr – statt geplanter 30 Milliarden Euro ma-chen.Man muss die Fragen stellen, warum diese Entwick-lung so eingetreten ist und warum das Geld eigentlichfehlt. Zum einen sind die konsumtiven Ausgaben gestie-gen. Für die Rente geben wir gegenüber 199850 Prozent mehr aus. Leider kommt das wegen der unbe-rechenbaren Rentenpolitik nicht bei den Rentnern an.Daneben wird der Umsatzsteuerbetrug nicht entschlos-sen bekämpft. Die großen Körperschaften wurden da-durch belohnt, dass der Staat jahrelang praktisch aufSteuereinnahmen verzichtet hat. 2001 und 2002 wurdekeine einzige Mark bzw. kein einziger Euro an Körper-schaftsteuer eingenommen. Das in den 90er-Jahren übli-che Körperschaftsteueraufkommen ist bis heute auf einDrittel geschrumpft. Vor allen Dingen das macht deut-lich, weshalb Geld fehlt. Geld fehlt natürlich auch, weiles kein Wachstum gibt. Geld fehlt wegen des tölpelhaf-ten Vorgehens bei der Maut. Geld fehlt, weil der Staatnicht investiert, weder in den Verkehr noch in die For-schung. Geld fehlt wegen der immer höheren Steuerbe-lastung.Es ist schon aberwitzig, dass sich Einzelne in der Re-gierung, die 1998 mit dem Vorsatz angetreten sind, denMenschen das Autofahren zu verübeln, jetzt darüber ent-rüsten, dass Energiekonzerne die Energiepreise nachoben treiben. Das muss doch genau die Politik sein, dieHerr Trittin und Frau Künast immer wollten:
hohe Energiepreise, um eine entsprechende Entwicklungbeim Autofahren zu erreichen. Derjenige, der in diesemJahr 18,7 Milliarden Euro an Ökosteuer einkassiert, regtsich über die Energiekonzerne auf. Nach dem Rasen fürdie Rente und dem Rauchen für die Gesundheit könnenSie den Leuten doch nicht deutlich machen, dass IhreEnergiepolitik beim Wachstum etwas zur positiven Ent-wicklung beiträgt. Genau das Gegenteil ist der Fall.
Meine Damen und Herren, die Steuern fehlen aberauch deshalb, weil die Politik den Steuerflüchtigen keinechtes, vertrauenswürdiges Angebot gemacht hat undweil es nicht gelungen ist, die Schwarzarbeit zu be-kämpfen. Das Volumen der Schwarzarbeit hat sich auf16 Prozent des BIP erhöht.Von 1998 bis in dieses Jahr hinein ist das Volumen derSchwarzarbeit um 100 Milliarden Euro gestiegen. Wenndas, was heute in Deutschland an Schwarzarbeit geleistetwird, in legale Arbeit umgewandelt werden könnte, wür-den fünf Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstehenund die Sozialabgaben um 6 Prozent sinken. Noch ein-mal: Wenn es uns gelingen würde, die Schwarzarbeit zubekämpfen, gäbe es zusätzliche Arbeitsplätze für 5 Mil-lionen Menschen. Dass Sie es nicht geschafft haben, dieSchwarzarbeit zu bekämpfen, lag auch an dem Zick-zackkurs vom Ende letzten Jahres, der dann von uns ineine vernünftige Regelung korrigiert wurde. Es mussteständig neu überlegt und neu nachgedacht werden.Wenn sich meine Rechnung bestätigen sollte, steht imNovember fest, dass Deutschland nicht weniger, sondernmehr Reformen braucht. Sie haben die Reformen übri-gens nur am Rande angesprochen. Ich gestatte mir, da-rauf hinzuweisen, dass der Bundeskanzler selbst gesagthat: Es war ein Fehler, 1999 im Zusammenhang mit derRente so gehandelt zu haben, wie man gehandelt hat. Erhat inzwischen auch eingesehen, dass es ein Fehler war,die Reformen im Gesundheitssystem zurückzunehmen.Er hat ebenso eingesehen, dass Sie an verschiedenen an-deren Stellen entscheidende Fehler gemacht haben, bei-spielsweise bei den Sozialabgaben und den Steuern.Gleiches gilt für viele andere Reformen, die Sie gemachthaben und die in die falsche Richtung gingen.Die Menschen bei uns in Deutschland gehen auf dieStraße, weil sie keine Perspektive haben. Sie haben dasProblem, ihnen nicht vermitteln zu können, dass es inabsehbarer Zeit wieder aufwärts gehen wird. Zudemmüssen die Belastungen jetzt wesentlich schärfer ausfal-len, weil man sechs Jahre verschlafen hat – Sie habenunsere richtigen Korrekturen nicht beibehalten –, dieEntwicklung voranzutreiben. Ich glaube, das ist der ent-scheidende Punkt, der unser Land in diese Schwierigkei-ten gebracht hat: Alle vernünftigen Anstrengungen vonuns haben Sie konterkariert und damit den Pfad in Rich-tung weniger Wachstum und Stagnation eingeschlagen.
Wir brauchen eine Entlastung bei den Kosten der so-zialen Sicherungssysteme. Wir brauchen Flexibilität aufdem Arbeitsmarkt. Friedrich Merz hat dafür konkreteVorschläge vorgelegt. Wir brauchen mehr Transparenzim Gesundheitswesen. Wir brauchen Verbesserungen imBildungssystem. Wir brauchen eine wachstumsorien-tierte Steuerreform und -vereinfachung. Auch dafürhaben Friedrich Merz und unsere Präsidien Vorschlägevorgelegt. All das könnte man sofort übernehmen undanfangen. Man könnte sofort Schritte unternehmen, dieSteuerlast in Deutschland zu senken. Dass es nicht funk-tioniert, immer höhere Steuern zu verordnen, sieht manam besten am Beispiel Tabaksteuer: Je mehr der Staatdie Bürger auspresst, umso weniger Einnahmen kom-men herein. Das war der falsche Weg. Deswegen sagenwir: Runter mit den Steuern! Wir brauchen einfachereund niedrigere Steuern.
Wir müssen bürokratische Investitionshemmnisse besei-tigen. All das müssen wir aber heute machen und nichterst in Jahren, nicht erst nach dem Regierungswechselim Jahr 2005 in Schleswig-Holstein und 2006 in Berlin.Ich sehe das Problem, dass durch die massive Schul-denaufnahme und die rabiate Privatisierung im Jahre 2006voraussichtlich kein Vermögen mehr vorhanden ist – es
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Dietrich Austermannwird sozusagen verbrannte Erde hinterlassen –, welchesfür Investitionen eingesetzt werden und mit dem derBund noch agieren könnte. Das nährt den Verdacht, dassSie all das, was Sie im Jahr 2005 machen, nur tun, umdie Landtagswahlen zu überstehen, dass Sie hier unddort noch ein bisschen schönfärben werden, weil unteranderem die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalenvor der Tür stehen, um dann – nach dem Motto: nach mirdie Sintflut! – im Jahre 2006 den Offenbarungseid zuleisten.All das ist nicht neu. Das kennen wir von Ihnen undhaben es überall dort gesehen, wo Sozialdemokratenregieren. Sozis können einfach nicht mit Geld umgehen.
Mit dem eigenen Geld können Sie schon umgehen, wieman an der Abwanderungstendenz Einzelner aus denMinisterien sieht, aber nicht mit dem Geld der Bürger.
Im Jahr 2005 verscherbelt die Bundesregierung Bun-desvermögen. Das heißt, sie deinvestiert. Damit wird er-neut das Maastricht-Kriterium verletzt. Sie haben aufden europäischen Vertrag Bezug genommen, HerrEichel. Wir werden 2005 das einzige Land in Europasein, das das Maastricht-Kriterium nicht einhält. Alle an-deren Länder haben es geschafft, aus einer schwierigenSituation heraus in eine bessere Lage zu kommen; wirnicht. Sie haben mit Blick auf die Verschuldung erklärt,die schleichende Vergiftung fortzusetzen habe unserLand nicht verdient. Ich kann nur sagen: Diese Regie-rung und dieses Handeln hat das Land nicht verdient,weil es bedeutet, dass die EU-Kommission früher oderspäter aus diesem Handeln die Konsequenzen ziehenwird.Der IWF hat Sie dazu aufgefordert, endlich mit demSparen zu beginnen. Wie kann man vom Konsolidierenreden, wenn die Ausgaben des Staates ständig weiter indie Höhe gehen?Maßgeblich ist nicht das, was Sie zu Beginn einesJahres oder Mitte des Vorjahres als Entwurf vorlegen.Wenn wir das an dem messen, was davon Ende des Jah-res übrig bleibt, müssen wir ständig weitere Ausgabenunterstellen, und zwar vor allem im konsumtiven Be-reich und nicht bei den Investitionen. Das ist die falscheEntwicklung. Herr Eichel, Sie sind nicht der Retter, son-dern der Totengräber der Bundesfinanzen.
Das Problem ist, dass die Entwicklung der nächstensechs Jahre in die falsche Richtung geht. Das struktu-relle Defizit wird in den nächsten Jahren 40 MilliardenEuro betragen. Wenn man nicht sofort massive Ein-schnitte, Haushaltssicherungsmaßnahmen und Haus-haltsbegleitgesetze, vorsieht, werden wir auf absehbareZeit über die von Ihnen geplanten 20 Milliarden EuroSchulden hinausgehend bis zum Jahre 2000-X weitere20 Milliarden Euro Schulden machen müssen, um über-haupt den Konsum der Regierung bezahlen zu können.Das ist eine schlimme Entwicklung. Ihre Riege rot-grü-ner Maulhelden hat, was Finanz- und Haushaltspolitikbetrifft, jedes Vertrauen verspielt.
Die Union akzeptiert diesen Haushalt nicht als Bera-tungsgrundlage. Wir fordern Sie auf – wenn der Ministernicht die Kraft dazu hat, muss es die Koalition tun –, ei-nen neuen Entwurf vorzulegen und den Vorschlag soumzustricken, dass daraus ein einigermaßen erträglicherund akzeptabler Entwurf wird. Wir sind bereit, daranmitzuwirken. Wir haben deutlich gemacht, dass wir be-reit sind, auch wenn wir diesen Haushalt in der zurzeitvorliegenden Form nicht als Grundlage akzeptieren kön-nen, ganz gezielt und pointiert einzelne Kürzungsvor-schläge zu machen.Uns wurde vorgehalten, dass die von uns vorgeschla-gene 3-prozentige Kürzung zu viel sei. Darauf ant-worte ich: Hat der Finanzminister eigentlich seinen Jobverdient, wenn er im Angesicht von 260 Milliarden Euronicht in der Lage ist, ein Kürzungspotenzial von3 Prozent zu finden? Man findet jeden Tag, wenn mandie Zeitung aufschlägt, Negativbeispiele, nämlich Maß-nahmen, die offensichtlich ins Leere führen. In der Ver-waltung, bei Verfügungsmitteln und Beraterverträgenwird das Geld nach wie vor mit den Händen zum offenenFenster hinausgeworfen. Herr Eichel, in Ihrem Umfeldstreunt seit vielen Jahren ein Berater herum, der Hun-derttausende Euro kostet und offensichtlich nur die rich-tigen Sprechblasen entwickeln muss. Vorher war er Be-rater von Herrn Riester – die Älteren unter uns werdensich an ihn noch erinnern –; ihm hat er beigebracht, wieman einen Schlipsknoten bindet. Das muss doch nichtder Steuerzahler bezahlen. Das muss aufhören. Wir müs-sen endlich zu vernünftigen Regelungen kommen.
Es gibt genügend Sparmöglichkeiten in diesem Haus-halt. Das fängt bei der Frage des Umsatzsteuerbetrugesan, geht über die ideologischen Spielwiesen, von denenes gerade in der Haushaltspolitik der Grünen besondersviele gibt, über Sonderveröffentlichungen, bis hin zu denGesellschaften, die Sie gründen. Etwa 30 Gesellschaftenwurden neu gegründet.
– Die GEBB zum Beispiel, richtig, Herr Kollege Feibel.Die Mitarbeiter dieser 30 Gesellschaften verdienen aufhöchstem Niveau, deren Geschäftsführer verdienen dop-pelt so viel wie der Bundeskanzler. Ihr wirtschaftlicherErtrag ist gleich Null. Das muss der Steuerzahler nichtbezahlen. Auch in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeitund Kohlesubventionen sehen wir gewaltiges Sparpoten-zial.Wir werden Anträge zu zwei Schwerpunktthemenstellen, die unser Konzept abrunden. Erstens brauchenwir mehr Geld für die Verkehrsinfrastruktur und zwei-tens mehr Geld für die Infrastruktur im Bereich For-schung. Diese zwei wesentlichen Bereiche sind für die
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Dietrich AustermannZukunft unseres Landes wichtig und werden von uns mitbesonderer Priorität behandelt.Ich komme zum Schluss. Wer die finanziellen Grund-lagen unseres Landes ruiniert hat, darf keinen Tag längerFinanzminister sein. Herr Eichel, Sie haben den Motordes Fahrzeuges Bundesrepublik zu Schrott gefahren. Einneuer Motor, ein neuer Finanzminister und eine neue Re-gierung müssen her. In einem Interview haben Sie ängst-lich gesagt, dass ein anderer Minister es kaum andersmachen könnte. Schlechter sicher nicht; besser kann eswohl jeder. Packen Sie Ihr Sparschwein in Ihre Akten-tasche und gehen Sie ganz leise, mit Anstand. UnserLand hat diese Finanzpolitik nicht verdient!Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Joachim Poß,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dieserRede hat Herr Austermann den Zustand der Oppositiontrefflich charakterisiert:
monoton vorgelesen, wüste Beschimpfungen, keineAlternativen. Das kennzeichnet die Oppositionspolitikder CDU/CSU. Insofern waren Sie eine Idealbesetzungfür die Art von Opposition, für die Frau Merkel hiersteht.
Herr Austermann, Sie sind der Schwarzredner an sich.Dafür gibt es hier keinen Preis. Vielleicht wird er einmalausgelobt. Das ist aber noch nicht alles. Ich finde bedau-erlich, was Sie, Herr Austermann, der Öffentlichkeit al-les zumuten. Sie sind ein dreister Täuscher. Das mussman einmal deutlich sagen.
Sie biegen sich die Realität zurecht und täuschen. Dasmacht sonst keiner, auch wenn er unterschiedlicher poli-tischer Auffassung ist. Die Art und Weise, wie Sie hierauftreten, ist eine Beleidigung für das Publikum. Dasmuss man einmal ehrlich sagen.
Deswegen in wenigen Sätzen: Sie sagen, wir hätten dieSteuern erhöht. Herr Eichel hat doch eindrucksvoll dar-stellen können, dass wir die Steuern für Geringverdiener,Durchschnittsverdiener, Familien mit Kindern und fürden wirtschaftlichen Mittelstand gesenkt haben, undzwar nachhaltig. Das ist das größte Steuersenkungspro-gramm dieser Republik.
Das ist mit Zahlen und Fakten belegbar. Sie aber stellensich hier hin und behaupten das Gegenteil. DasSchlimme ist, dass viele Leute solchen Täuschungenglauben. Man könnte fast von Lügen sprechen.Wir haben Schlupflöcher geschlossen und in diesemJahr einen Zuwachs bei der Gewerbe- und Körperschaft-steuer. Sie sagten, mit den Erträgen gehe es bergab.Nein, wir haben einen Zuwachs. Warum? Weil wirSchlupflöcher geschlossen haben, zum Beispiel durchdie Mindestgewinnbesteuerung, die Sie torpedierenwollten. Diese Regelung haben wir – gegen Ihren Wider-stand – durchgesetzt, damit sich auch große Unterneh-men wieder an der Finanzierung des Gemeinwesens be-teiligen.
Ihre Unterstützung hatten wir nicht. Es gab einen mühsa-men Kompromiss im Vermittlungsausschuss. Wir habenSchwarzarbeit verstärkt bekämpft und wollen sie stärkerbekämpfen. Sie haben das im Deutschen Bundestag ab-gelehnt. Dann gab es einen Kompromiss, weil Ihre Län-der vernünftiger als Sie agieren, die Sie im DeutschenBundestag eine Fundamentalopposition betreiben. Dasist die Wahrheit. Die müssen wir möglicherweise nochdeutlicher machen, weil Ihre Täuschungen offenkundignach wie vor verfangen.Was machen wir mit dem Bundeshaushalt 2005, wel-che wichtige Aufgabe hat er? Er hat die Aufgabe, denErneuerungsprozess zu unterstützen, den diese Koalitioneingeleitet hat. Das ist die zentrale Aufgabe dieses Haus-halts. Genau das leistet dieser Entwurf des Bundeshaus-halts, den wir gemeinsam in den nächsten Monaten bera-ten werden.So werden im Bundeshaushalt 2005 für das Arbeits-losengeld II, für die damit einhergehenden Eingliede-rungsleistungen und für die Beteiligung des Bundes anden Unterbringungskosten rund 27 Milliarden Euro zurVerfügung stehen. Das ist sehr viel Geld.
– Das muss aber von uns allen vertreten werden, HerrKollege. Das müsste auf allen Montagsdemonstratio-nen gesagt werden: 27 Milliarden Euro zur Bekämp-fung der Langzeitarbeitslosigkeit! Das leistet derHaushalt 2005.
Die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozial-hilfe ist von allen hier beschlossen worden.
Aber statt dass sie auch von allen hier vertreten wird,schlagen sich einige – vorhin wurden schon Beispielegenannt – feige in die Büsche, weil sie mit den Konse-quenzen dieses richtigen Schrittes nichts mehr zu tun ha-ben wollen, obwohl sie vorher viel härtere Maßnahmengefordert haben. Ich plaudere keine Geheimnisse desVermittlungsausschusses aus, wenn ich darauf hinweise,
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Joachim Poßdass Herr Milbradt dort – er hat es auch öffentlich vertre-ten – agiert hat, als sei das Sozialhilfeniveau noch zuhoch. Derselbe Herr stellt sich heute an die Spitze vonDemonstrationen. Das ist eine Heuchelei und Verlogen-heit, die nicht zu toppen ist.
Das ist aber typisch für die Partei, die er vertritt. Das giltauch für Herrn Müller. Die Einlassung von Herrn Mülleram Abend der Wahl, die er gut gewonnen hat, war eineTäuschung des Publikums. Offenbar ist das Ihr Stilmit-tel.
Sie täuschen – nicht nur Einzelne – systematisch die Be-völkerung.
Ein weiteres wichtiges Vorhaben – auch das spiegeltsich im Haushalt wider – ist die Sicherstellung einerhochwertigen medizinischen Versorgung für alle Bürgerund nicht nur für die Einkommensstarken. Zur nötigenStabilisierung und Senkung der Krankenversiche-rungsbeiträge ist daher ein Bundeszuschuss beschlos-sen worden, der im nächsten Jahr 2,5 Milliarden Euroumfassen soll.Auch diese Mittel sind im Etatentwurf eingestellt, umdie Gesundheitsversorgung für alle sicherzustellen.Zur notwendigen Erneuerung Deutschlands gehörennicht nur eine verbesserte Perspektive für Langzeitar-beitslose und die Stabilisierung der solidarischen Siche-rungssysteme, sondern wir werden auch die notwendi-gen gesellschaftlichen Innovationen vorantreiben.Sie haben vorhin ein Resümee über den ZustandDeutschlands zum Zeitpunkt des Regierungswechselsgezogen, Kollege Austermann, und das bildlich mit ei-nem Auto verglichen. Gesellschaftliche Innovationenwaren doch für Sie ein Fremdwort. Davon war bei Ihnennie die Rede. Zu den langen Linien unserer Politik ge-hört, dass wir mit gesellschaftlichen Innovationen be-gonnen haben, für die wir uns mit Bundesmitteln enga-gieren, zum Beispiel mit dem Ganztagsschulprogramm,für das wir 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen unddas in den Bundesländern – auch in den CDU-geführtenLändern – erfolgreich angelaufen ist. Die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf als wichtige gesellschaftspoliti-sche Aufgabe war für Sie bis 1998 ein Fremdwort.
Wir haben dieses Thema aufgenommen und in derKoalition gemeinsam fortentwickelt. Wir handeln undwir lassen uns das auch etwas kosten. Das ist ein großesgesellschaftspolitisches Thema.Daneben wollen wir ein weiteres großes gesellschaft-liches, aber auch beschäftigungspolitisches Defizit behe-ben. Denn insbesondere für unter Dreijährige gibt es vielzu wenig Kinderbetreuungsplätze. Um an dieser Stelleweiterzukommen, hat die Bundesregierung einen ent-sprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Nach Einschät-zung der Bundesregierung sollen bis zum Jahr 2010230 000 zusätzliche Betreuungsplätze geschaffen wer-den. Das wäre ein gewaltiger Fortschritt. Um das zu er-möglichen, entlastet der Bund die Kommunen. Auch dashaben Sie verschwiegen, Herr Austermann. Wir entlas-ten die Kommunen im Zusammenhang mit der Zusam-menführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, und zwar– das ist bombensicher – mit 2,5 Milliarden Euro ab demkommenden Jahr.
Hinzu kommen die Mehreinnahmen aus der Stabili-sierung der Gewerbesteuer. Zusammen mit anderenMaßnahmen macht das 2006/2007 eine Entlastung inHöhe von 7 Milliarden Euro aus. Das heißt, wir habenauch für die Investitionsfähigkeit in den Kommunen, dieunter der wirtschaftlichen Entwicklung in den letztenJahren gelitten hat, eine Trendumkehr erreicht. Das istnicht zu leugnen und betrifft einen wichtigen Bereich fürdie Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger. Wir ha-ben die Trendumkehr im Interesse der Bürgerinnen undBürger erreicht. Wir haben für den Erhalt der Gewerbe-steuer gekämpft, die Sie abschaffen wollten und nochheute abschaffen wollen. Das ist die Wahrheit.
Wir haben in Sachen Verlustverrechnung bei Großun-ternehmen eine Neuregelung durchgesetzt und die Min-destgewinnbesteuerung beschlossen, was zu einer Sta-bilisierung der Körperschaft- und Gewerbesteuer führt.Wir wollen uns auch weiterhin in diesem Sinne einset-zen und entsprechend unserer ursprünglichen Vorlage,die Sie verhindert haben, initiativ werden, damit sicher-gestellt wird, dass auch Großunternehmen einen ange-messenen Beitrag zur Finanzierung unseres Staatswe-sens leisten.Wenn Sie über den Vodafone-Fall klagen, HerrAustermann – Sie waren der Erste aus den Reihen derUnion, der sich überhaupt dazu geäußert hat –, dannmüssten Sie unsere Initiative unterstützen. Ich bin ge-spannt, ob das der Fall sein wird. Ich kann mich nämlichdaran erinnern, wie sich die Union verhalten hat, als wirdie so genannte Teilwertabschreibung verschärft haben.
Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder ge-gen Ihren Widerstand im Bundestag dann doch Maßnah-men ergriffen, die in die richtige Richtung gingen, wie esdie Bevölkerung erwartet. Wenn es im Vermittlungsaus-schuss hinter verschlossenen Türen darauf ankommt,handeln Sie manchmal anders, als Sie sich hier äußern.Das ist Ihre Praxis.
Kleine und mittlere Unternehmen werden von dervorgesehenen Regelung nicht betroffen, da wir einen
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Joachim PoßSockelbetrag von 1 Million Euro vorgesehen haben, mitdem Unternehmen ihre Verluste vollständig verrechnenkönnen.Unsere Politik hat sich für die Bürgerinnen und Bür-ger in den Kommunen gelohnt. Das müssten langsamauch die schwarzen Bürgermeister und Oberbürgermeis-ter zur Kenntnis nehmen, die ganz anders reden, dieWahlplakate verwenden – wie zurzeit im Kommunal-wahlkampf in Nordrhein-Westfalen –, auf denen sie ihreleere Taschen vorzeigen, und die beklagen, dass unsererot-grüne Politik dazu geführt habe. Auch denen mussdie Gegenrechnung aufgemacht werden, auch sie täu-schen die Bevölkerung.
Auf dieser Seite des Hauses sitzen die Gegner der Kom-munalinteressen, es sind Ihre eigenen Parteifreunde derCDU/CSU und FDP. Das ist die Wahrheit, meine Damenund Herren!
Kernbestandteil der Agenda 2010 ist, die Anstrengun-gen für Forschung, Entwicklung und Wissenschaft zuerhöhen. Dies gilt auch für den Etat 2005. Nur mit mehrund besserer Forschung, Wissenschaft und Entwicklungsichern wir die Grundlagen des wirtschaftlichen Wachs-tums in Deutschland. Deshalb muss sich die Union auchhier entscheiden: Will sie angesichts der erkennbarenEntspannung auf dem Wohnungsmarkt an überholtenInstrumenten wie der Eigenheimzulage festhalten oderwill sie mit der Abschaffung dieser mittlerweile über-flüssigen Subvention Haushaltsmittel für eine breit gefä-cherte Forschungs- und Innovationsinitiative freima-chen? Unsere Haltung ist klar: Wir sind für Bildung undhoffen, dass die Union die Zukunftsfähigkeit Deutsch-lands nicht durch parteitaktisches Verhalten erneut aufsSpiel setzt.Wir werden den Etat der Bildungs- und Forschungs-ministerin weiter erhöhen und die Etats der außeruniver-sitären Forschungseinrichtungen im nächsten Jahr um3 Prozent anheben. Der Entwurf des Bundeshaushaltes2005 und der Finanzplan bis 2008 enthalten außerdemMittel für das von der Ministerin konzipierte Programmzur Förderung der Spitzenforschung in der Bundesrepu-blik Deutschland. Dieses Programm ist erforderlich, da-mit die deutsche Forschung im internationalen Vergleichnicht ins Hintertreffen gerät. Stimmen Sie diesem Pro-gramm auf Länderseite doch zu! Sorgen Sie dafür, dassIhre Parteifreunde in den Ländern dies nicht weiter blo-ckieren!
Der Forschungsstandort Deutschland würde es Ihnendanken.Unsere Haushaltspolitik liefert das finanzielle Funda-ment für den angestoßenen gesellschaftlichen Um-strukturierungsprozess, der aber – das muss man ganzdeutlich sagen – noch Jahre dauern wird. Das gilt auchfür die großen Maßnahmen betreffend den Arbeitsmarktund die sozialen Sicherungssysteme, insbesondere dasGesundheitswesen, bei dessen Reform wir bereits jetzterste Ergebnisse erkennen können. Man kann nichterwarten, dass solche strukturpolitischen Weichenstel-lungen sozusagen auf Knopfdruck umgesetzt werdenkönnen. Wir sind von der Notwendigkeit und der Wirk-samkeit dieser Maßnahmen fest überzeugt. Wir glaubenzwar nicht, dass sich mit diesen Maßnahmen von heuteauf morgen, also unmittelbar wünschenswerte Ergeb-nisse erzielen lassen. Aber sie werden sicherlich mittel-bar positive Ergebnisse zeitigen. Ich glaube, dass es dieersten positiven Ergebnisse, die sich auch in der gesamt-wirtschaftlichen Entwicklung niederschlagen werden,im Jahre 2005 geben wird. Wir stabilisieren die wirtschaftliche Entwicklung mitweiteren Maßnahmen, die die Konjunkturerholung flan-kieren sollen. Wenn wir im kommenden November denvorliegenden Haushaltsentwurf in zweiter und dritter Le-sung verabschieden werden, sollte jedem klar sein, dasswir über einen Wirkungshorizont von 14 Monaten reden.Nach dreijähriger wirtschaftlicher Stagnation muss derBundeshaushalt darauf ausgerichtet sein – das hat Priori-tät –, dass sich der begonnene wirtschaftliche Erholungs-prozess stabilisiert. Das Gleiche sollte auch für dieHaushalte von Ländern und Kommunen gelten.Wir werden deswegen im nächsten Jahr die fünftesteuerliche Entlastungsstufe seit 1998 mit einem Volu-men von rund 6,8 Milliarden Euro in Kraft setzen. Daswird dem privaten Konsum zusätzlich Impulse gebenund die Investitionsbereitschaft der Unternehmen erhö-hen. Herr Austermann, wenn Sie hier die große Steuer-reform von Ihrer Seite ausrufen, dann kann ich Ihnen nursagen: Mehr verkraften die öffentlichen Haushalte nicht.Das ist die Wahrheit.
Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir im Ver-mittlungsausschuss eine Entlastung der öffentlichenHaushalte von über 20 Milliarden Euro beschlossen. Eswar Ihre Seite, die beispielsweise an die Subventionenfür die Landwirtschaft nicht herangehen wollte, die ei-nen umfassenderen Subventionsabbau blockiert hat.Das ist ebenfalls die Wahrheit, Herr Austermann. Wennes nach uns gegangen wäre, wäre die steuerliche Entlas-tung in diesem Jahr noch höher ausgefallen. Aber auchdas ist an Ihnen gescheitert. Suggerieren Sie deswegennicht, dass das CDU-Steuerkonzept, das berühmte Bier-deckelkonzept von Frau Merkel und Herrn Merz, irgend-wann in den nächsten Jahren umgesetzt werden kann!Ihre eigenen Landesfinanzminister haben Ihnen insStammbuch geschrieben, dass das illusionär ist. WeckenSie bei den Bürgerinnen und Bürgern doch nicht falscheHoffnungen mit Illusionen, die Sie überhaupt nicht ein-lösen könnten, selbst wenn Sie die Regierungsverant-wortung erlangen würden. Das ist doch verantwortungs-los!
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Joachim PoßDas ist allerdings auch ein Kennzeichen Ihrer Politik.Neben der Täuschung ist das, was bei Ihnen hervorsticht,die Verantwortungslosigkeit.Deswegen sage ich ganz klar – ich weiß ja, in welcherUmfragesituation sich die Sozialdemokratie befindet –:Wir halten Kurs. Wir täuschen die Menschen nicht. Wirmüssen mit den Bürgerinnen und Bürgern noch mehrsprechen. Wir verhalten uns verantwortungsvoll. Wirbüchsen nicht – wie die Populisten von links und vonrechts; das können wir jeden Tag erleben – verantwor-tungslos aus.
Wir stehen hier nicht mit einem Trotzkopf, weil wirwissen, dass wir das machen, was wir unseren Kindernund Enkeln schuldig sind. Und wir sind in deren Schuld!
Ich sage das, weil Sie hier noch bis vor kurzem mein-ten, wir könnten uns noch weitere massive Steuersen-kungen erlauben. Das ist nicht der Fall. Gegen Steuer-vereinfachungen hat doch keiner etwas.
Wir Sozialdemokraten haben aber etwas gegen weitereUmverteilungen zugunsten von Spitzenverdienern undzulasten von Millionen von Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern und deswegen machen wir da nicht mit. Dasetzen wir die Grenzen.
Ihre Vorschläge zur Streichung von Steuersubventionenbetreffen im Wesentlichen die Subventionen für die Ar-beitnehmer.
Wenn Sie den Faden also konstruktiv weiterspinnenwollen: Wir sind gesprächsbereit. Das haben wir auch imVermittlungsausschuss bewiesen. Da, wo wir nicht wei-tergekommen sind, ist es meist an Ihnen gescheitert, zumBeispiel weil Sie draufgesattelt haben. Wir kommen aufjedem Gebiet weiter. Aber lassen Sie uns bitte realistischsein und im Einklang mit den finanziellen Möglichkeitendes Staates vorgehen.Bestimmten Vorschlägen folgen wir nicht. Mit Ihnendurchaus befreundete Medien schreiben Ihnen fast jedenTag ins Stammbuch, diese Vorschläge fallen zu lassen.Sie haben auf Ihrem Leipziger Parteitag große Konzepte– nicht nur zur Steuerpolitik – beschlossen, StichwortKopfpauschalenmodell mit so eben einmal 40 Milliar-den Euro. Fast alle haben zugestimmt. Das heißt, Sie ha-ben da einen finanzpolitischen Blindflug unternommen.Langsam merken die Menschen das. Frau Merkelkommt Tag für Tag mehr ins Trudeln und das ist auchrichtig so.
Das wird sich für die Union auch in den Umfragen be-merkbar machen. Ihre Werte werden von Woche zu Wo-che sinken, weil die Leute – auch wenn es fast ein Jahrgedauert hat – langsam merken, dass sie mit Konzepten,die überhaupt nicht zu finanzieren sind, systematisch be-trogen wurden.
Diese Konzepte wurden zum Beispiel in der „Welt amSonntag“ durchgerechnet. Dort steht eine gelungeneÜberschrift, die besagt, dass es um eine Lücke von über100 Milliarden Euro geht. Die CSU vermutet – so heißtes in dem entsprechenden Artikel –, dass sie sogar nochgrößer ist.
Deswegen können wir mit Fug und Recht sagen: FrauMerkel ist das 100-Milliarden-Euro-Risiko in diesemParlament. Von solchen Risiken müssen wir uns keineEmpfehlungen geben lassen.
Frau Merkel ist ein 100-Milliarden-Euro-Risiko. Ich be-ziehe mich auf ein Organ, das Ihnen bekanntermaßendurchaus nahe steht, nämlich auf die „Welt am Sonntag“.
Nutzen Sie doch diese Debatte, um all das, was in die-sem Artikel, mit guten Argumenten untermauert, zu le-sen ist, zu entkräften! Verwirren Sie nicht weiter! Siekündigen Alternativen an.Herr Austermann, wenn die Lücke im Bundeshaus-halt 2005 nach Ihrer Behauptung 40 Milliarden Euro be-trägt, warum kommen Sie dann mit einem Deckungsbei-trag von 7,5 Milliarden Euro? Damit werden Sie dochIhren eigenen Ansprüchen überhaupt nicht gerecht. Dasist doch die nächste Täuschung, die Sie hier vornehmen.Was gilt denn nun? Das, was Sie hier gesagt haben,nämlich 7,5 Milliarden Euro, oder die von Herrn Stoiberbehaupteten 12,9 Milliarden Euro Einsparungen? Werhat denn eigentlich Recht? Herr Stoiber oder Sie, HerrAustermann? Was gilt denn in Ihrem Laden? Sie tretendoch gar nicht geschlossen auf. Sie erzählen dem Publi-kum doch jeden Tag etwas anderes.
Vielleicht können Sie da einmal Klarheit herstellen.
Möglicherweise wird uns Frau Merkel morgen früh sa-gen, was von Ihren Vorschlägen nun gilt.Welche Konsequenzen die Umsetzung dieser Vor-schläge hätte, das hat Herr Eichel dargestellt. So eben
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Joachim Poßeinmal 13 Milliarden Euro streichen, das wäre eineWachstumsbremse und Wachstumsbremsen können wiruns nicht erlauben.
Es gibt den Vorschlag, bei so beliebten Projekten – siesind besonders in München beliebt – wie der Rüstungs-beschaffung zu streichen. Wenn wir das tatsächlichmachten, dann wäre der Herr Stoiber der Erste, der pro-testierte. Genauso wäre es bei den anderen Posten: Land-wirtschaft, Eigenheimzulage. Ich müsste mein ganzesWeltbild umstellen, wenn Sie hier entsprechende Vor-schläge einbrächten.Wir sind sehr gespannt darauf, meine Damen undHerren, was Sie bei den Beratungen im Haushaltsaus-schuss des Deutschen Bundestages in den nächsten Wo-chen und Monaten konkret liefern werden.
Wir werden Sie in jeder Sitzung an das erinnern, wasHerr Stoiber in Aussicht gestellt hat, nämlich einen Ein-sparbeitrag von 13 Milliarden Euro. Auf den sind wiralle sehr gespannt.
Ich kann in der Politik, die Sie hier betreiben, leidernur ein Ziel erkennen: die bewusste Hinnahme und Ver-schärfung der finanziellen Probleme des Staates, um imBund wieder an die Macht zu kommen.
Ich bin aber guten Mutes, dass die Bürgerinnen und Bür-ger diese unverantwortliche und egoistische Strategiedurchschauen und die Absichten der Union im Herbst2006 durchkreuzen werden.
Mit dem Bundeshaushalt 2005 liegt jedenfalls ein Etatvor, der den notwendigen Erneuerungsprozess inDeutschland vorantreibt und der uns zuversichtlich nachvorne blicken lässt.Vielen Dank, insbesondere für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Koppelin für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esfällt mir sehr schwer, heute an das Rednerpult des Deut-schen Bundestages zu treten und als erster Redner für dieFDP-Fraktion zur Einbringung des Haushalts zu spre-chen. Sechs Jahre lang hat mein Kollege GünterRexrodt diese Funktion gehabt und hier gesprochen.Seine große Sachkenntnis war nicht nur in unserer Frak-tion, sondern auch im Haushaltsausschuss über Par-teigrenzen hinweg anerkannt – trotz unterschiedlicherAuffassungen. Sein plötzlicher Tod ist für die FDP-Frak-tion und für unsere gemeinsame Arbeit im Haushaltsaus-schuss ein großer Verlust. Wir vermissen ihn sehr.Sie gestatten, dass ich meine Ausführungen deshalbmit einem Zitat aus einer haushaltspolitischen Rede vonGünter Rexrodt beginne. Er sagte zur Bundesregierung:Betreiben Sie eine berechenbare Politik, eine Poli-tik die darauf hinausläuft, unser Land zu moderni-sieren. Dann kommen wir auch bei den Arbeitsplät-zen vorwärts. Dann können wir Vertrauen beiunseren Bürgern und ausländischen Investoren fin-den. Dazu ist aber eine Veränderung der Politik not-wendig.Dieses Zitat, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat nichtsan Aktualität eingebüßt.Herr Bundesfinanzminister, wenn ich Ihre Rede Re-vue passieren lasse, muss ich sagen: Das war keineHaushaltsrede.
Das war eine Rede an Ihre eigene Fraktion, an eine zö-gerliche SPD-Fraktion. Sie treten für Reformen ein, aberSie haben dort eine Fraktion, die zu Reformen nicht fä-hig ist,
die Reformen teilweise zu spät eingeleitet hat oder diedie Notwendigkeit von Reformen gar nicht anerkennenwill.
Sie haben davon gesprochen, dass wir ein starkesLand sind. Diese Auffassung teile ich. Nur: Wir sind einstarkes Land und haben eine schwache Regierung. Dasist unser Problem.
Wir haben den Eindruck, dass, was die Reformen an-geht, nicht nur die Regierung, sondern auch die Koaliti-onsfraktionen über viele Jahre Urlaub von der Realitätgemacht haben. Nichts anderes können wir hier heutefeststellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sieht die Bilanzder rot-grünen Koalition heute aus? Schauen wir uns denHaushalt 2005 an! Beim Wirtschaftswachstum belegtDeutschland in der EU seit 1999 den letzten Platz. DieArbeitslosigkeit ist mit 4,3 Millionen inakzeptabel hoch.Eine Trendumkehr ist überhaupt nicht in Sicht. Die
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Jürgen KoppelinAbgabenlast beträgt 42,1 Prozent, ist also unverminderthoch. Hinzu kommt – das ist das Allerschlimmste; dasfällt in Ihre Verantwortung, Herr Eichel –: 190 Milliar-den Euro zusätzliche Schulden sind seit der Regierungs-übernahme durch Rot-Grün zu verantworten. Das liegtin Ihrer Verantwortung.Der Bundeshaushalt 2005 wird erneut verfassungs-widrig sein, gegen Art. 115 des Grundgesetzes verstoßenund – auch dieser Punkt muss hier angesprochen wer-den – der Stabilitätspakt als völkerrechtlicher Vertragwird zum dritten Mal hintereinander gebrochen. Das istdie Bilanz Ihrer Politik.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eineBemerkung machen. Sie haben von Reformen gespro-chen, auch in Richtung Ihrer Fraktion. Aber Sie habenals Bundesfinanzminister keinerlei Initiativen ergriffen,um die Reformen voranzutreiben. Sie sind nicht im Ka-binett aufgestanden und haben gesagt: So geht es nichtweiter. So komme ich mit meinem Haushalt nicht klar.Sie haben in Ihrer Haushaltsrede nebenbei auch denZahnersatz angesprochen. Da hatte man den Eindruck:Nicht nur Sie, sondern auch Ihre Fraktion hat am Zahn-ersatz schwer zu kauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unternehmerischbetrachtet treibt Deutschland in die Pleite, Rot-Grünmacht neue Schulden, der Schuldenberg wächst ständigund ein Konzept, wie wir aus der Schuldenfalle heraus-kommen, fehlt völlig. Der Etatentwurf 2005 ist nur aufdem Papier verfassungskonform. Es sind Haushaltsrisi-ken da, die Sie hier einfach herunterspielen, wichtige Fi-nanzdaten werden einfach zu optimistisch angesetzt unddie Einhaltung des Stabilitätspaktes ist reine Illusion.Auch beim Haushaltsentwurf 2005 verfahren Sie nachdem Motto: tarnen, täuschen und beschwichtigen. Dasscheint mir, nachdem ich Ihre Rede heute gehört habe,die Grundaussage Ihrer Politik zu sein.Ihr Haushalt 2005 ist wie ein Kartenhäuschen: Derkleinste Windstoß und das Ganze fällt um. Im Entwurfliegt die Nettokreditaufnahme in Höhe von 22 Milliar-den Euro gerade einmal 800 Millionen Euro unter derHöhe der Investitionen. Betrachtet man die gesamtwirt-schaftliche Annahme, so geht die Bundesregierung in ih-rer Planung für 2005 von einem realen Wachstum von1,8 Prozent aus. Wir sagen, das ist zu optimistisch, ins-besondere wenn man sie mit den Aussagen der For-schungsinstitute vergleicht. Das heißt, Sie haben bereitsdie Steuereinnahmen viel zu hoch angesetzt, die Ausga-ben für den Arbeitsmarkt aber zu niedrig. Da liegt dasRisiko hinsichtlich Art. 115 Grundgesetz. Ich empfehleauch den Abgeordneten der Koalition, noch einmalnachzulesen, was in Art. 115 des Grundgesetzes steht,denn darin wird Ihnen ganz deutlich vor Augen geführt,dass Ihr Haushaltsentwurf für 2005 gegen die Verfas-sung verstößt. Hartz IV kommt ja auch noch dazu; ichwill gerne anerkennen, dass die Koalitionsabgeordnetenzugegeben haben, dass hier noch eine erhebliche Lückebesteht.Wenn ich nun in Ihrem Haushalt, Herr Eichel, lese,dass Privatisierungserlöse in Höhe von 15 MilliardenEuro eingeplant werden – plötzlich, auf einmal soll dasgehen –, dann frage ich mich, was Sie in den vergange-nen Jahren gemacht haben. Sie hätten doch diese Erlöselängst erzielen können, damit hätten Sie uns die Auf-nahme vieler Schulden ersparen können. Ihr Haushalts-ansatz zu den Privatisierungserlösen ist blanke Theorie.
Weiterhin rechnen Sie mit einer globalen Minderaus-gabe von 1 Milliarde Euro und der Auflösung des ERP-Sondervermögens. Sie wissen doch genau, dass diesePunkte so nicht eintreten werden. Ich muss Ihnen ganzoffen sagen: Man gewinnt den Eindruck, Sie würdenHaushaltspolitik in einer Bananenrepublik betreiben. Siehaben nichts anderes gemacht, als die Bilanzen manipu-liert.
Viele Ansätze auf der Einnahmeseite entspringen ein-fach Wunschdenken und sind geschönt.
Lassen Sie mich, Kollege Poß, eine Anmerkung machen:Sie haben der Rede des Kollegen Austermann Schwarz-färberei vorgeworfen – gut, das können Sie machen –,aber Ihre Rede beinhaltete nur Schönfärberei, nichts an-deres.
Die Kolleginnen und Kollegen Haushälter der Koali-tion haben eine Klausurtagung durchgeführt. Da habensie schon festgestellt, dass eine erhebliche Finanzie-rungslücke besteht. Das wollen sie durch Ausgabenkür-zungen ausgleichen. Wenn dies in vernünftiger Weisegeschieht, werden sie uns dabei an ihrer Seite finden.Dazu werde ich gleich noch etwas sagen.Dann – das ist das Interessante – habe die Koalitionbeschlossen, wie man in verschiedenen Zeitungen liest,Einnahmeverbesserungen durchzuführen. Sie müssenmir allerdings einmal erklären – Kollege Poß ist nichtdarauf eingegangen –, wie Sie von der Koalition Einnah-meverbesserungen durchführen wollen. Die Einnahme-verbesserungen durch die Koalition, die ich in den letz-ten sechs Jahren erlebt habe – Kollegin Hermenau wirddas ja gleich in Ihrer Rede bestätigen können –, bestan-den in nichts anderem als Abkassieren bei den Bürgern.So sehen Ihre Einnahmeverbesserungen aus.
Sagen Sie uns jetzt einmal ganz deutlich, wo Sie beiden Bürgern kassieren wollen. Ich sage Ihnen, was Sievorhaben und was kommen wird – in der Antwort desFinanzministeriums auf eine Anfrage der FDP-Bundes-tagsfraktion war es zu lesen –: Im Stillen träumt nämlichHans Eichel so, wie er da sitzt, genau wie Heide Simonisvon einer Mehrwertsteuererhöhung. Die Pläne dazuhat er bereits in der Schublade. Das ist ja in der Antwort
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Jürgen Koppelinauf die Anfrage der FDP-Fraktion auch bestätigt wor-den. Das wird kommen; davon träumt er.
Erinnern wir uns daran – ich kann das nur wiederho-len –: Die FDP hat bei den letzten Haushaltsberatungenerhebliche Spar- und Kürzungsvorschläge gemacht.Diese beruhten auf Gedanken von Günter Rexrodt. Wirhaben diese Forderung nach Kürzung bei allen Subven-tionen und Zuwendungen konsequent aufrechterhalten.Daraus würden sich Einsparungen in Höhe von2,5 Milliarden ergeben. Die FDP hat vorgeschlagen, nurim Bereich Bildung draufzusatteln. Dazu stehen wirauch weiter, denn das ist notwendig. Ansonsten werdenwir erneut Kürzungsanträge stellen; nicht in der Art, wieSie es früher gemacht haben: dieses oder jenes Großpro-jekt wie Eurofighter. Wir haben vielmehr über 200 ein-zelne Anträge gestellt. Das ist uns gar nicht so leicht ge-fallen, da es auch die Klientel der FDP getroffen hätte.All diese von uns gestellten Anträge sind von der rot-grünen Koalition abgelehnt worden, obwohl sie eine Er-sparnis von über 2,5 Milliarden gebracht hätten. Erklä-ren Sie doch einmal, Herr Eichel, warum die Abgeordne-ten der Koalitionsfraktionen dem nicht zugestimmthaben. Wenn Sie jetzt kürzen wollen, empfehle ich Ihnenwieder unsere Anträge.Kommen Sie uns, Herr Eichel, nicht mit Ihrem Ge-jammer über die Tabaksteuer. Dass Sie durch eine Er-höhung keine Mehr-, sondern Mindereinnahmen erzielenwürden, haben wir Ihnen doch im Ausschuss gesagt,aber Sie haben diese Argumente einfach vom Tisch ge-wischt.
Nein, Sie haben ein Problem, Herr Eichel: Sie laufen injede Falle, die Sie sich vorher selber aufgestellt haben,hinein.Wir haben weitere Probleme; das haben Sie richtigangesprochen, Herr Eichel. Die Sozialausgaben und dieZinsausgaben machen bereits 60 Prozent der Gesamt-ausgaben im Bundeshaushalt aus. Jedem Haushälter,aber auch jedem anderen Politiker muss klar sein, dasses so nicht weitergeht. Die Sozialausgaben und die Zins-ausgaben haben ein Volumen von 150 Milliarden Euro;damit sind drei Viertel der Steuereinnahmen des Bundesbelegt. So geht es auf die Dauer nicht weiter; hier mussumgesteuert werden. Ich denke, darüber werden wirauch in den Beratungen des Haushaltsausschusses spre-chen müssen.
Wir müssen auch darüber sprechen, dass die Investi-tionsausgaben des Bundes seit 1999 zurückgegangensind. Jahr für Jahr haben Sie die Investitionsausgabendes Bundes gekürzt. Das ist ein Tatbestand. Die Kürzun-gen bei den Investitionsausgaben im Bundeshaushalt inIhrer Regierungszeit betragen im Vergleich zu dem letz-ten Haushalt, den die CDU/CSU-FDP-Regierung damalsvorgelegt hat, 30 Prozent. Das ist unverantwortbar. Eszeigt auch, wie Sie wirtschaftspolitisch denken und dassSie gar kein Interesse haben, die Konjunktur anzukur-beln; denn durch höhere Investitionsausgaben hätten Sieein Signal geben können. Im Übrigen hätten Sie dannnicht gegen Art. 115 des Grundgesetzes verstoßen.Das ist unser Problem: Wir haben eine enorme Zu-nahme bei der Neuverschuldung, aber eine Reduzierungder Investitionsausgaben. Das ist die Dramatik der rot-grünen Haushalts- und Finanzpolitik.Wenn ich unser Wirtschaftswachstum im Vergleichzum Beispiel zu dem Amerikas oder Asiens sehe, mussich feststellen, dass wir kein Wachstum haben, sonderneinen jämmerlichen Stillstand bzw. Rückschritt. Daskönnen Sie doch hier nicht besonders hervorheben!
Das ist, Herr Eichel, ein Verharren auf trostlosem Ni-veau. Einen Aufschwung kann ich hier nicht sehen.In unserem Lande sind weitere Reformen notwendig;das wissen wir. Die Agenda 2010 wird nicht viel brin-gen, zumindest nicht auf dem Arbeitsmarkt selber. Auchwenn solche Schritte vielleicht notwendig sind, zurSchaffung von Arbeitsplätzen werden sie aber nicht die-nen. Wir werden dringend eine Steuerreform, vor allemeine Vereinfachung des Steuerrechts brauchen. MeinKollege Solms wird gleich noch darauf eingehen. Aufdem Arbeitsmarkt benötigen wir eine Deregulierung.Auch die Sozialsysteme werden wir uns weiterhin an-schauen müssen. Wir brauchen mehr Eigenverantwor-tung im Gesundheitswesen. Das ist Bestandteil der Vor-schläge der FDP, die auch auf dem Tisch liegen. Dasgehört dazu, wenn man einen realistischen Bundeshaus-halt vorlegen will. All das haben Sie nicht gemacht.Insofern kann ich nur feststellen: Mit dem Bundes-haushalt 2005 kann die Vertrauenskrise in Deutschlandnicht überwunden werden. Seriosität und Signale für ei-nen finanzpolitischen Aufbruch in bessere Zeiten gehenvon diesem Haushalt auf keinen Fall aus.Herr Eichel, ich kann nur feststellen, dass der Entwurf2005, den Sie uns hier vorgelegt haben, deutlich doku-mentiert: Ihnen fehlt die Kraft zur Gestaltung. Der Bun-deshaushalt 2005 gestaltet überhaupt nichts. Sie sindkein Gestalter, Herr Eichel, Sie sind ein schlechter Buch-halter, der die Bilanzen auch noch frisiert hat. Sie setzenin Ihrer Politik eigentlich das fort, was Ihr VorgängerOskar Lafontaine begonnen hat: eine Haushaltspolitikauf Kosten kommender Generationen, die zukünftig alldas zahlen müssen, was Rot-Grün in den letzten Jahrenan unsolider Haushaltspolitik gewagt hat.Ich komme zum Schluss.
Herr Eichel, Ihr Haushaltsentwurf ist unseriös und un-realistisch; er verstößt gegen das Grundgesetz und gegeninternationale Verträge. Nehmen Sie ihn zurück und
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Jürgen Koppelinlegen Sie einen realistischen Haushaltsentwurf vor. Fürso eine Politik kann die FDP-Fraktion nicht die Hand he-ben.Vielen Dank für Ihre Geduld.
Ich erteile das Wort der Kollegin Antje Hermenau,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!Auch bedeutungsschwangeres Tremolo, Herr KollegeKoppelin, macht nicht richtiger, was Sie gesagt haben.Natürlich ist der Bundeshaushalt 2005 eine Zustandsbe-schreibung der Baustelle; das ist ganz klar. Natürlich hatDeutschland wenig Erfahrung damit, wie Haushaltefunktionieren und präzise berechnet werden können,wenn man mehrere Reformen gleichzeitig in diesemLand vorantreibt, was wir tun.
30 Jahre Kollektivleistung in trauter Eintracht vonParteien, die in Deutschland einmal regiert haben – dieFDP war übrigens 24 Jahre lang dabei; das muss man abund zu erwähnen –,
haben das zur Folge, was wir in Deutschland als Pro-blem und Reformstau zu bewältigen haben. Da ist esnicht sinnvoll, sich gegenseitig immer nur die Schuld indie Schuhe zu schieben. Sinnvoller wäre, sich selber ein-fach einzugestehen – das fehlt auf Ihrer Seite noch –,dass über Jahre hinweg in Deutschland ein Anspruchs-denken aufgebaut worden ist, das so nicht mehr haltbarund nicht mehr finanzierbar ist, und dass wir mit der Si-tuation jetzt klug und weise umgehen müssen.
Wenn Ihnen die Haushaltsberatungen in diesem Jahrso ähnlich vorkommen wie die im letzten oder im vor-letzten Jahr, dann liegt es nicht nur daran, dass es diesel-ben Redner sind, sondern auch daran, dass wir die glei-che Baustelle weiter bearbeiten müssen. Dazu gehört dasstrukturelle Defizit und die Tatsache, dass die Ausga-benstruktur des Bundeshaushaltes viel zu stark konjunk-turabhängig ist. Der Bundeshaushalt ist eigentlich soaufgebaut, dass er nur in guten Zeiten wirklich funktio-nieren kann. Um es einmal sozialstaatlich auszudrücken:Es müssen besonders gute Zeiten sein, damit der Haus-halt auch im sozialstaatlichen Bereich funktionierenkann. Von diesen Zeiten können wir aber auch in dennächsten Jahren nicht ausgehen.Dieses angehäufte strukturelle Defizit ist sehr hoch.Es beträgt deutlich mehr als der Betrag, der in den letz-ten drei Jahren für die Anhebung der Neuverschuldungnötig war. Es ist vonseiten des Finanzministers Eichelschon vor zwei Jahren der Versuch gemacht worden, ander Problematik des strukturellen Defizits zu arbeiten.Die zwei Stellschrauben, auf die es dabei ankommt, sinddie Reform des Sozialstaates und die Rückführung derStaatsausgaben.
Nun kommen wir einmal zur Rolle der Union, die im-mer versucht, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu er-wecken, sie würde im Bundesrat kooperieren. Als HerrEichel vor zwei Jahren das Steuervergünstigungsabbau-gesetz vorlegte, in dem alle Maßnahmen bis auf das letz-ten Komma klipp und klar beschrieben waren,
da hat die Union insgesamt sechs Monate Zeit ge-braucht, um zu entscheiden, dass sie diesem Gesetz nichtzustimmen möchte. Das alleine hat also schon viel Zeitgekostet. Unabhängig davon haben Sie natürlich einestrukturelle Entlastung in Höhe von 17 Milliarden Eurofür die gesamte öffentliche Hand verhindert, die drin-gend nötig gewesen wäre. Mit der Umsetzung diesesSteuervergünstigungsabbaugesetzes hätten wir einenTeil unseres strukturellen Defizits in den Griff bekom-men.Aktuell höre ich zur Eigenheimzulage, dass dieUnion einem Abbau erneut nicht zustimmen möchte.Das ist weltfremd; denn aufgrund des demographischenWandels gehen die Bevölkerungszahlen zurück, sodass– nicht nur im Osten – immer mehr Wohnungen leer ste-hen. Ich kann nicht nachvollziehen, wie Sie hier vorge-hen. Genauso wenig kann ich nachvollziehen, dass HerrStoiber deutlich gemacht hat, ein Subventionsabbau inder Landwirtschaft komme für ihn nicht infrage. Ichfinde es unglaublich, dass Sie uns in archaischen Struk-turen festnageln wollen.
Zu dieser, wie ich finde, relativ perfiden Strategie, im-mer wieder den Versuch zu unternehmen, die rot-grüneBundesregierung finanzpolitisch gegen die Wand knal-len zu lassen, kommt hinzu, dass Sie zunehmend Muf-fensausen entwickeln. Ich stelle das mit einer gewisseninneren Zufriedenheit fest, weil es nämlich wirklich gro-ßen Mut erfordert – SPD und Bündnis 90/Die Grünenhaben ihn bewiesen –, jemandem etwas wegzunehmen,woran er sich gewöhnt hat. Das müssen wir hier und datun. Sie kriegen langsam Muffensausen. Nach Ihrem neo-liberalen Rausch vom Herbst letzten Jahres, als Sie aufRegionalkonferenzen Überlegungen zur Einführung ei-ner Kopfpauschale angestellt haben, holt Sie die Realitätein.
Wenn man sich einmal Ihr Existenzgrundlagen-sicherungsgesetz – das war Ihr Vorschlag zum Arbeits-losengeld II – anschaut,
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Antje Hermenaudas Sie im Herbst des letzten Jahres anstelle vonHartz IV vorgelegt haben, dann kann man die Unionsli-nie erkennen, nämlich dass Sie den vollen Unterhalts-rückgriff wollen. Das heißt, Kinder haften für ihre Elternund Eltern haften für ihre Kinder. Das ist Sippenhaft imFalle von Arbeitslosigkeit.Sie wollten, dass das Auto verkauft werden muss.
Wir sind der Meinung, dass die Menschen ein Autobrauchen, weil sie sonst keine Arbeit finden. Sie wolltendie Zuverdienstmöglichkeiten auf null herunterfahren.
Vielleicht haben ein paar ostdeutsche Abgeordnete in Ih-ren Reihen begriffen, dass die Zuverdienstmöglichkeitenenorm wichtig sind, damit Hartz IV im Osten überhauptfunktionieren kann.Aber nein, Sie kneifen. Herr Milbradt war sogar da-für, Ihre viel schärfere Variante umzusetzen.
Er hat sich deswegen gegen Hartz IV und für das Exis-tenzgrundlagensicherungsgesetz im Bundesrat ausge-sprochen. Dann hat er aber mitbekommen, dass die Zu-verdienstmöglichkeiten in einem Land wie Sachsen, woes so viele Arbeitslose gibt, eine Rolle spielen könnten,und er hat sich aufgeschwungen, eventuell an einerDemo teilzunehmen.
Ich sage Ihnen: Mich ärgert das. Wir brauchen vielmehr mutige ostdeutsche Politiker, die in der Lage sind,sich in ihren eigenen Parteien durchzusetzen. HerrMilbradt hat weder Herrn Koch noch Herrn Stoiber ge-stoppt. Deswegen haben Sie eine so schlechte Grundlagefür den Kompromiss geliefert. Die Auswirkungen müs-sen wir jetzt ausbaden.
Damit Sie nicht denken, ich würde einfach nur vonden mutigen ostdeutschen Politikern daherreden, will ichIhnen sagen: Ich habe gegen den Willen meiner Frak-tionsspitze damals gegen das Maßstäbegesetz zum Län-derfinanzausgleich gestimmt, das die entsprechendenBerechnungsformeln beinhaltet, weil ich der Meinungwar, dass es für die ostdeutschen Kommunen und für dieostdeutschen Länder eine große Benachteiligung dar-stellt. Man kann sich als ostdeutscher Politiker innerhalbseiner Partei und Fraktion schon trauen, seine eigeneMeinung durchzuhalten.Kommen wir zu Herrn Merz. Er ist mit einer, wie ichfinde, interessanten Vorlage gestartet, was das ThemaSubventionsabbau im Steuerrecht betrifft. Was ist da-raus geworden? Es gab in Bayern eine Beerdigung zwei-ter Klasse.
Herr Austermann hat sich vorhin künstlich darüberaufgeregt, dass wir im Bereich der Arbeitsmarktmaßnah-men, der ABM, und im Bereich der GA bzw. der Infra-strukturförderung Kürzungen vornehmen. Erstens wardie Rückführung der Mittel für ABM immer ein gemein-sames Diskussionsgut im Haushaltsausschuss,
weil klar geworden war, dass ABM keine Dauerlösungder strukturellen Arbeitslosigkeit darstellen. Zweitenshaben die Kürzungen im Bereich der Infrastrukturförde-rung etwas mit der Koch/Steinbrück-Liste zu tun. Mankann nicht auf der einen Seite einen Ministerpräsidentender Union wie Herrn Koch – er gehört ja wahrscheinlichnoch zur Union – vorschicken und im Hinblick auf denSubventionsabbau eine kleine Vorzeigeliste erstellen las-sen und hinterher auf der anderen Seite so tun, als ob ge-nau diese Kürzungen nicht hinhauen würden. HerrAustermann, Sie beklagen immer die gesunkene Investi-tionsquote im Haushalt.
Auch das hat mit der Koch/Steinbrück-Liste zu tun; Siewissen das ganz genau.
Weil wir gerade dabei sind, Dinge aufzuarbeiten, diedeutlich machen, wer alles am wirklichen Leben vorbei-denkt:
Ich habe darüber nachgedacht, wie das Steuersenkungs-konzept der FDP mit dem zusammenpasst, was HerrKoppelin gerade mit bedeutungsschwangerem Tremoloin der Stimme vorgetragen hat. Ich würde es vorziehen,wir würden uns in Wirtschaftsberatungs- und Steuerbe-ratungsfragen auf die Lobbyisten verlassen. Für IhrePartei müssten wir dann vielleicht eine andere Aufgabefinden.
Sie haben in der letzten Zeit versucht, sich mit demNachhaltigkeitsdeckmäntelchen zu behängen.
Sie haben versucht, deutlich zu machen, dass Sie in Zu-kunft mehr Kompetenz in der Ökologie und im Umwelt-schutz zeigen wollen. Echte Nachhaltigkeit – ich sprecheda aus der Praxis – braucht einen langen Atem, Geduld,Zähigkeit und Klarheit in der Meinung. Dies müsste mandann auch länger als ein halbes Jahr durchhalten. Sie ha-ben am 19. Dezember 2003 Hartz IV zugestimmt.
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Antje HermenauIhre Truppenteile in Sachsen tun so, als ob das nicht sowäre, und behaupten, sie seien gegen Hartz IV. So kannman nicht arbeiten!Was die rot-grüne Koalition in den letzten fünf Jahrengeschafft hat – darauf bin ich sehr stolz –, ist die Stigma-tisierung der Verschuldung. Es ist in Deutschland nichtmehr, wie es in den letzten 25 Jahren und besonderswährend Ihrer Regierungszeit zur Gewohnheit wurde,ganz normal und selbstverständlich, dass man Schuldenaufnimmt, weil das mit dazugehört. Diese Denkschulehat in Deutschland ausgedient.
Dieser Realität werden auch Sie sich stellen müssen,wenn Sie in der nächsten Zeit zufällig an die Regierungkommen sollten.
Denn die Bevölkerung hat mehrheitlich akzeptiert, dassVerschuldung kein Weg ist, der in die Zukunft führt.
– Liebe Kollegen, wir alle kennen uns schon länger:Bitte kein Pharisäertum!
Wir waren gerade bei den Dauerbaustellen. Das Ren-tensystem, das im Wesentlichen entweder eine sozial-li-berale oder eine christlich-liberale Ausgestaltung erfah-ren hat, hinkt 30 Jahre hinter den Realitäten in diesemLand hinterher.
Nun kann man das Rentensystem aus Vertrauensschutz-gründen nicht zu einer Grundrente ummodellieren; demkann ich folgen. Aber das heißt natürlich trotzdem, dassman weiter daran arbeiten muss.Ich mache es nachher im Hinblick auf die Verschul-dung insgesamt noch einmal deutlich: Es kann nichtsein, dass wir die implizite Verschuldung immer ver-schweigen. Wir regen uns über den ausgewiesenenSchuldenstand in Höhe von 66 Prozent des Bruttoin-landsprodukts auf. Dazu kommt aber die implizite Ver-schuldung von 270 Prozent des Bruttoinlandsprodukts,wenn man die Verpflichtungen in Bezug auf die Pensio-nen für Beamte und unsere Rentenverpflichtungen miteinrechnet. Das ergibt eine unglaublich hohe Summe.Das sind insgesamt mehr als 7 000 Milliarden EuroSchulden, die wir alle eigentlich noch verdienen müssen,weil dieses Geld nicht auf der Bank gelagert ist. Ich haltedies für ein großes Problem, das immer totgeschwiegenwird. Wir halten uns hier mit Debatten auf, in denen Sievon der Opposition Nickeligkeiten vortragen, anstattdass Sie tatkräftig mit anpacken, das Problem, das Sieselber mit geschaffen haben, abzutragen.
Ich habe davon gesprochen, dass wir im Bund eineAusgabenstruktur haben, die massiv davon abhängt, wiedie Konjunktur verläuft. Wie gesagt, in den fetten 70er-Jahren konnte man es sich vielleicht leisten, einen ris-kanten Haushalt aufzustellen. Aber den Haushalt umzu-steuern – das erkennen wir alle selbst – ist ausgespro-chen schwer. Wenn die Lohnnebenkosten den FaktorArbeit bestimmen, wenn die sozialen Sicherungssystemedie Beschäftigungssituation bestimmen, dann brauchenwir als Erstes Arbeitsmarktreformen, damit der Bundes-haushalt nicht mehr so konjunkturanfällig ist.
Diese Arbeitsmarktreformen haben wir durchgeführt,obwohl Sie beim Kompromiss des Vermittlungsaus-schusses den Hinzuverdienstmöglichkeiten der Men-schen nicht zustimmen wollten.
Die explizite Verschuldung – das hatte ich gesagt –beträgt offensichtlich 66 Prozent des BIP. Aber wenn Siesich einmal anschauen, was an Renten und Pensionennoch hinzukommt, dann ist es eine unglaubliche Ver-harmlosung des Problemes, wenn MinisterpräsidentStoiber aus Bayern sagt: Spart 5 Prozent der Verwal-tungsausgaben ein! Das ist eine Verharmlosung des Pro-blems, man könnte es auch als Nebelkerzenwerfen be-zeichnen, aber so weit will ich gar nicht gehen.
Ansonsten hat er offensichtlich den Kern des Problemsnicht erkannt und seine Lösungsansätze nicht verfolgt.Er brüstet sich immer damit, ein großer Finanzexperte zusein. Wenn er das wäre, könnte er einen solchen Vor-schlag nicht machen. Das ist wirklich eine Verdum-mungsstrategie. Die Menschen werden in dieser Frageverdummt und können nicht erkennen, worauf es wirk-lich ankommt: Wir müssen uns den in Zukunft fälligenZahlungsleistungen, auch denen der Rentenkasse, stel-len.
– Ich kenne mich mit Herrn Stoiber nicht so genau aus,aber ich habe gerade aus berufenem Mund gehört, dassei öfter so.Es bleibt noch die Frage der Reform des Stabilitäts-paktes offen. Alle, die mich kennen, wissen, dass ich
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Antje Hermenaumich immer dafür stark gemacht habe, dieses Regelwerkso streng wie möglich zu befolgen. Ich bin auch weiter-hin der Meinung, dass das nötig ist; das ist gar keineFrage. Den Vorschlägen, die bisher vonseiten der Kom-mission zu mir gedrungen sind, habe ich entnommen,dass es bei den bisherigen Kriterien – maximal 3 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts Neuverschuldung und 60 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts Gesamtverschuldung –bleiben soll. Ich finde es richtig, dass wir bei dieser For-mel bleiben.Ich habe darüber hinaus gehört, dass man versuchenwill, den Ländern, die große Schwierigkeiten bei derUmstellung haben – wir merken das gerade in derPolitik –, beim Defizitverfahren entgegenzukommen.Das kann ich nachvollziehen und akzeptieren; das halteich für richtig. Das Entgegenkommen ist sehr vernünftigausgehandelt worden; denn im Gegenzug dafür bekom-men wir eine strengere Überwachung der nationalenStaatshaushalte in wirtschaftlich guten Zeiten. Daraufkam es eigentlich immer an. Es kann nicht sein, dass einLand, wenn sein Wachstum einmal 2 Prozent oder2,5 Prozent ausmacht, sofort beginnt, sich weiter zu ver-schulden, oder Reformen aussetzt,
nach dem Motto: Wir haben jetzt mehr Wachstum undmehr Geld, die Reformen sind nicht mehr nötig.Ich sage immer salopp: John Maynard Keynes undAdam Smith sind längst tot. Beide haben in ihren Wirt-schaftsmodellen zwei Aspekte nicht berücksichtigenkönnen, weil es sie zu ihrer Zeit noch nicht gab. Das eineist die demographische Entwicklung in Europa – dieBevölkerungszahlen sind rückläufig –, das zweite ist dieglobalisierte Wirtschaft. Diese beiden Aspekte sind inihren Wirtschaftsmodellen noch nicht unterstellt.
Europa steht vor der Aufgabe, selber eine neue Wirt-schafts- und Finanzstrategie zu entwickeln. Das halte ichfür eine ganz große Herausforderung. Ich glaube auch,dass die Europäer dem gewachsen sind. Wer jetzt Angsthat, es könnte zu einer Verwässerung des Stabilitätspak-tes kommen, dem sei gesagt: Im ersten Halbjahr 2005soll auf EU-Ebene reformiert werden. Die meisten, diesich für dieses Thema interessieren, kennen MonsieurJean-Claude Juncker und wissen, dass er zuverlässigerArchitekt des alten Vertrags gewesen ist. Jean-ClaudeJuncker wird dem Ecofin, dem Rat der Finanzministerder Nationalstaaten der Europäischen Union, vorsitzen.Das heißt, derjenige, der als wesentlicher Architekt desersten Vertrags galt, wird auch dafür sorgen, dass die Re-form im Geiste des ersten Vertrags durchgeführt wird.Für mich ist das Vertrauensbeweis genug. Da Sie das er-heitert, möchte ich Ihnen sagen: Herr Juncker ist, glaubeich, ein konservativer Politiker. Ich möchte ihn nicht rot-grünen Verdächtigungen aussetzen.Wem das als Autoritätsbeweis noch nicht genügt, demsei hinzugefügt, dass der Verwaltungs- und Beamtenap-parat, der früher Herrn Solbes beraten hat, jetzt auchHerrn Almunia beraten wird. Dieser Beamtenapparathat erkennen lassen, dass er die Reformbemühungen, diejetzt auf europäischer Ebene anstehen, durchaus imGeiste der ersten Vereinbarung von Maastricht sieht. Fürmich ist das Autoritätsbeweis genug.Wem das aber immer noch nicht genügt – Sie aufsei-ten der Union lästern immer noch herum –, sei gesagt:Herr Braun vom DIHT, der kein verdächtiger rot-grünerLinker ist, hat deutlich gemacht, dass jetzt endlich einbrauchbarer Vorschlag vorliegt, der der Wiederbelebungdes Stabilitäts- und Wachstumspaktes auf europäischerEbene dienen kann. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Frau Kollegin Hermenau, ich höre aus den Reihen Ih-
rer eigenen Fraktion, dies sei Ihre letzte Rede in Ihrer
Funktion als Haushaltssprecherin Ihrer Fraktion gewe-
sen,
weil Sie mit Blick auf einen bevorstehenden Wahlgang
an anderer Stelle mit noch nicht gänzlich klarem Aus-
gang so oder so andere Aufgaben übernähmen.
Nun vermute ich – streng überparteilich –, dass diese
Nachricht wie andere ähnliche von den einen begrüßt
und von den anderen bedauert wird.
Jedenfalls bin ich sicher: Beide Seiten werden Sie ver-
missen.
Dass Sie im Übrigen in einer Haushaltsdebatte die
von der Fraktion zugedachte Redezeit nicht ausschöp-
fen, setzt ein einsames Signal, das ich als lobendes Bei-
spiel für die folgenden Beiträge dieser Woche ausdrück-
lich hervorheben möchte.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Michael
Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Bundesfinanzminister, ich glaube, wir kön-nen in dieser Debatte feststellen: Der Bundeshaushalt istaus den Fugen geraten. Ich habe – um das Beispiel derKollegin Hermenau aufzugreifen, die von einer Bau-stelle gesprochen hat – in dieser Debatte den Eindruckgewonnen, dass wir uns in der Tat auf einer Baustelle be-finden, aber den Regierungsfraktionen von SPD undGrünen der Bauplan verloren gegangen ist. Ihnen ist dieOrientierung verloren gegangen. Sie wissen nicht, wieSie auf dieser Baustelle vernünftig weiterarbeiten wol-len. Das hat diese Debatte zum Ausdruck gebracht.
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Dr. Michael MeisterBlicken wir auf die Einnahmenseite, stellen wir fest,dass die Steuereinnahmen hinter den Erwartungen zu-rückbleiben. Das gilt insbesondere für die Mineralöl-steuer. Wer hat denn die fünf Stufen der Ökosteuer indiesem Hause eingeführt und auf eine starke Erhöhungder Mineralölsteuer gesetzt? Das gilt auch für die Um-satzsteuer sowie zuletzt für die Tabaksteuer. Sie habenversucht, über Steuererhöhungen mehr Steuern einzu-nehmen. Tatsächlich haben diese Steuererhöhungen aberzu einem niedrigeren Aufkommen geführt. Dafür sindSie und Ihre Politik verantwortlich.
Schauen wir einmal auf die Ausgabenseite: Hiermuss man deutlich feststellen, dass Sie seit fünf Jahren,seit Herr Eichel im Amt ist, nicht in der Lage sind, dieAusgabenseite in den Griff zu bekommen. Es war vorhinbemerkenswert, dass er von seinen Vorgängern sprach,dabei aber einen, nämlich seinen direkten Vorgänger,einfach unterschlagen hat.
Es geht um denjenigen, der die Ausgaben innerhalb we-niger Monate um mehr als 20 Milliarden D-Mark erhöhthat. Diesen Basiseffekt auf der Ausgabenseite des Bun-deshaushalts werden wir nie wieder korrigieren können.Das ist eine Altlast von Oskar Lafontaine. Das haben Siedamals mitgetragen. Heute ist Oskar Lafontaine bei Ih-nen nicht mehr ganz so populär und wird nicht mehr sounterstützt.
Im Zusammenhang mit der Ausgabenseite möchte ichauf eines, was mich wundert, hinweisen: Wir haben imFrühjahr 2003 ein Haushaltssicherungsgesetz gefor-dert, um den Bundeshaushalt 2003 und die Folgehaus-halte mit einer niedrigeren Ausgabenseite zu versehen.Sie haben das damals abgelehnt und bis zum Jahresendegewartet, als bereits die hohen Ist-Zahlen vorlagen. Siehaben unsere ausgestreckte Hand ausgeschlagen.Im Frühjahr dieses Jahres haben wir Ihnen erneut dasAngebot gemacht, mit uns gemeinsam ein Haushaltssi-cherungsgesetz und einen Nachtragshaushalt zu be-schließen. Sie haben unser Angebot, gemeinsam mit unsAusgabensenkungen zu beschließen, wieder ausgeschla-gen. Ich wundere mich über Ihre Vorgehensweise. Siesagen, Sie kämen mit dem Bundeshaushalt nicht zu-rande, schlagen aber die Angebote der Opposition zurHaushaltskonsolidierung aus. Das ist unseriös und hierhaben Sie etwas nachzuliefern.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, ein paarWorte zum Stabilitäts- und Wachstumspakt in Europa zusagen. Die Defizitmeldung für das erste Halbjahr diesesJahres für Deutschland lautet 4,0 Prozent. Herr Eichelhat für dieses Jahr ein Defizit von 3,7 Prozent nachBrüssel gemeldet.
Für das nächste Jahr, für 2005, wird bereits wieder an-gekündigt, dass alles im grünen Bereich sei, dass wir imJahre 2005 keine Probleme mit dem Maastricht-Vertragbekämen. Damit bin ich bei Ihrem ersten Fehler: Sie ma-len die Welt ständig viel zu rosarot. Sie gehen ständigvon viel zu positiven Prognosen aus, die Sie dann nichteinhalten können, und zeigen sich dann überrascht. Keh-ren Sie endlich zur realistischen Einschätzung der Lagezurück und bauen Sie die Haushalte und die Meldungennach Brüssel auf einer realistischen Basis auf. Dannwürden Sie auch nicht ständig Vertrauen in der deut-schen und der internationalen Finanzpolitik verspielen.Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo ist Eicheldenn? – Dietrich Austermann [CDU/CSU]:Kriegt er die Entlassungsurkunde?)Anstatt in dieser Situation über eine Reform oder eineneue Interpretation des Maastrichtpakts zu diskutieren,wäre es aus meiner Sicht dringend geboten, dass dieseBundesregierung, dass dieser Bundesfinanzminister denVertrag von Maastricht zunächst einmal in Geist undWort verinnerlicht und versucht, das, was dort niederge-legt ist, einzuhalten.
Wir hätten kein Problem damit, wenn gesagt würde,man wolle aus ökonomischen Gründen darüber nachden-ken, ob man die eine oder andere Regelung desMaastricht-Vertrages tatsächlich für vernünftig hält.Auch dazu haben wir Ihnen zu Beginn der Sommerpauseeinen Vorschlag gemacht. Wir hatten darum gebeten,eine Sondersitzung der zuständigen Bundestagsaus-schüsse durchzuführen, um die Frage zu behandeln, wiewir in Bezug auf den Maastricht-Vertrag gemeinsamvorgehen, um für unsere Währung, den Euro, wiedereine solide Grundlage zu schaffen.Wer dies nicht genehmigt hat, war das Bundestags-präsidium, und wer nicht damit einverstanden war, wa-ren die Koalitionsfraktionen. Es ist doch keine Form,dass wir außerhalb des Parlaments über Maastricht dis-kutieren, innerhalb des Parlaments aber die diesbezügli-chen Sitzungen und Diskussionen abgelehnt werden.
Nein, der Maastricht-Vertrag und die aus ihm resultie-renden notwendigen Maßnahmen müssen von uns imParlament gemeinsam getragen werden.Im Juni dieses Jahres traf der Europäische Gerichts-hof eine wunderschöne Entscheidung mit Bezug auf die-jenigen, die internationale Verträge bzw. europäischesRecht gebrochen haben. Herr Koppelin hat zu Recht da-rauf hingewiesen. Deutschland hat nämlich zum drittenMal in Folge das Defizit-Kriterium von 3,0 Prozent nichteingehalten. Nebenbei gesagt verletzten wir auch einzweites Kriterium, da die GesamtverschuldungDeutschlands mittlerweile 66 Prozent beträgt. Sie redenvon nachhaltiger Politik, während die Gesamtverschul-dung dieses Landes ständig wächst. Frau Hermenau,
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Dr. Michael MeisterKollegen von der SPD, was hat es eigentlich mit nach-haltiger Politik zu tun, wenn die Gesamtverschuldungunseres Landes ständig wächst?
Im Juni dieses Jahres gab es also ein wunderschönesUrteil des Europäischen Gerichtshofes, da diejenigen,die wie unser Bundesfinanzminister bzw. unsere Bundes-regierung europäisches Recht gebrochen haben, versuchthaben, den Sanktionen zu entkommen. Dieses Urteil desEuropäischen Gerichtshofs ist eine schwerwiegende Nie-derlage für unseren Bundesfinanzminister.
– Herr Schmidt, das ist eine schwere Niederlage für un-seren Finanzminister, weil er sich erneut rechtswidrigverhalten hat. Patriotisch wäre es, wenn wir gemeinsamversuchen, den Haushalt in Ordnung zu bringen und
die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und denMaastricht-Vertrag einzuhalten. Das wäre patriotisch,Herr Schmidt.
Eben habe ich gesagt, dass wir auf der Ausgabenseitedringend konsolidieren müssen. Ich will Ihnen aber auchnoch etwas zur Einnahmeseite sagen. Denn Ihre Be-trachtung der Einnahmeseite ist statisch. Ihr Blick istrein fiskalpolitisch. Die sinkenden Einnahmen aus derTabaksteuer, der Umsatzsteuer und der Mineralölsteuerhabe ich vorhin angesprochen. Diese Umstände betrach-ten Sie statisch und rechnen nicht damit, dass die Markt-teilnehmer, wenn Sie die steuerlichen Rahmenbedingun-gen verändern, darauf reagieren und dass sich durch dieDynamik des Marktes auch das Steueraufkommen ver-ändert, und zwar nicht im geplanten statischen Sinne,sondern aus der Dynamik des Marktes.Deshalb dürfen wir keine enge und mit Scheuklappenversehene Fiskalpolitik betreiben. Vielmehr müssen wirwieder einen Gesamtentwurf für die Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik entwickeln, in dem die Dynamik des Mark-tes berücksichtigt wird. Die Philosophie kann deshalbnicht lauten, weitere Steuererhöhungen, wie Sie sie pla-nen, durchzuführen. Die Philosophie muss lauten: Be-grenzung der Steuer- und Abgabenlast und mehr Aktivi-tät im Bereich Wachstum und Beschäftigung.Vorhin wurde das Thema Wachstum angesprochen.Ich unterstütze den Bundesfinanzminister, wenn er sagt,dass wir in diesem Land Wachstum brauchen. Das istrichtig. Die Bundesregierung hat zu Recht die Umset-zung des Lissabonziels vereinbart,
Europa bis zum Ende dieses Jahrzehnts zur wachstums-stärksten Region der Welt zu machen. Obwohl Sie sichzu diesem richtigen Ziel bekannt haben, vermisse ich,dass Sie in diesem Hause die Maßnahmen vortragen, diedafür sorgen, dass Deutschland vom Ende an die Spitzeder EU gelangt und zu einer Lokomotive für den Lissa-bonprozess wird, und die dafür sorgen, dass Deutschlandund Europa tatsächlich die Wachstumslokomotive wer-den.
Dazu ist bei Ihnen nichts zu erkennen. Sie wecken wie-der Erwartungen voller rosaroter Wolken, betreiben aberkeinerlei reale Politik.
Als Sie damals die vier Hartz-Gesetze angekündigt ha-ben, haben Sie uns in Aussicht gestellt, dass die Anzahlder Arbeitslosen in diesem Land innerhalb von drei Jah-ren um 2 Millionen zurückgehen würde. Wir haben jetztzwei Drittel dieser Zeit hinter uns. Die Anzahl der sozial-versicherungspflichtig Beschäftigten ist um 1,1 Millio-nen gesunken. Wenn Sie das Ziel der Hartz-Gesetze, dasSie im Jahre 2002 formuliert haben, noch erreichen wol-len, müssten Sie in den nächsten 12 Monaten – über die-sen Zeitraum reden wir ja – über 3 Millionen Arbeits-plätze schaffen.Der eigentliche Schlüssel ist, dass es, verursachtdurch Ihre Politik, immer weniger Steuer- und Beitrags-zahler gibt. Vorhin habe ich gehört, dass die Steuer- undAbgabelast niedrig sei. Aber man muss auch sehen, dassSie ständig die Bemessungsgrundlage verändern. Es gibtnämlich immer weniger Steuer- und Abgabenzahler.Wenn es aber weniger Steuer- und Abgabenzahler gibt,dann ist relativ klar, was dabei herauskommt: Immer we-niger Menschen müssen immer mehr zahlen. Es ist ebennicht so, dass alle weniger zahlen, sondern wenigerLeute, die tatsächlich Leistung bringen wollen und leis-tungsfähig sind, werden in unserem Land höher belastet.Deshalb sind unsere Arbeitsplätze in Deutschland nichtmehr wettbewerbsfähig. Das ist doch das Problem. DerHerr Bundesfinanzminister hat vorhin leider überhauptnichts dazu gesagt, dass wir dringend Nachholbedarf ha-ben, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze am StandortDeutschland zu schaffen.
Ein Kennzeichen Ihrer Politik – ich habe vorhin vonfehlender Orientierung gesprochen – ist die Tatsache,dass Sie ständig Verunsicherung verbreiten und dass IhrePolitik kein Vertrauen bei den Menschen genießt. Ichwill das an dem Beispiel Eigenheimzulage deutlich ma-chen. Wir haben mit Ihnen – der Kollege Austermannhat darauf hingewiesen – das Volumen der Eigenheimzu-lage im Dezember 2003 um 30 Prozent gekürzt und da-mit ein deutliches Signal für Subventionsabbau gegeben.
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Dr. Michael MeisterWir haben an dieser Stelle eine neue Struktur der Förde-rung eingeführt, die zielgenauer greifen soll. Wir habendas vor dem Hintergrund des Koch/Steinbrück-Papiersgetan, nach dem drei Jahre hintereinander um jeweils4 Prozent gekürzt werden sollte. Was machen Sie jetzt?Von diesen drei Jahren sind noch keine sechs Monate umund Sie greifen erneut die Eigenheimzulage an. Sie ver-unsichern alle Beteiligten im Baubereich und wundernsich, dass die Beschäftigtenzahl im Bausektor währendIhrer Regierungszeit um nahezu 50 Prozent gesunken ist.Das liegt ein Stück weit an der Verunsicherung, die Sieverbreiten.
Verlässlichkeit wäre notwendig. Verlässlichkeit heißt:wenigstens für drei Jahre einmal die Finger davon lassenund klare Rahmenbedingungen vorgeben. Sie haben bin-nen drei Jahren dreimal an der Eigenheimzulage herum-operieren wollen und jedes Mal hatten Sie für das Geld,das Sie dort vereinnahmen wollten, neue Verwendungs-zwecke. Das zeigt, dass Sie nicht nur Verunsicherungverbreiten und Vertrauen nehmen, sondern dass Sie dieseDiskussion auch noch vollkommen unehrlich führen.
Sie haben nicht nur den Menschen das Vertrauen ge-nommen und sie verunsichert, Sie haben ihnen auch diefinanziellen Spielräume genommen. Wir haben bei derEinkommensteuer zwar faktisch die Steuersätze gesenkt– ich bin ausdrücklich dafür, dass wir auch weitergehenund die dritte Stufe, wie sie im Gesetzblatt steht, realisie-ren und nicht eine neue Debatte anfangen, ob die steuer-lichen Rahmenbedingungen denn richtig sind; lassenwir die Rahmenbedingungen endlich einmal unverändertund setzen wir diese dritte Stufe um –,
aber es gibt nicht nur die Einkommensteuer, sondernauch die Verbrauchsteuern. Was haben Sie bei den Ver-brauchsteuern gemacht? Überall haben Sie erhöht unddamit den Menschen massiv Spielräume genommen.Das kommt zusammen und dann ist es kein Wunder,dass die Nachfrage im Binnenmarkt nicht gegeben ist,die der Bundesfinanzminister so anmahnt.Jetzt hat der Herr Poß – er ist leider nicht im Raum,ich will es aber dennoch erwähnen – darauf hingewie-sen, man sei angetreten, Steuerschlupflöcher zu schlie-ßen. Wer hat denn in diesen sechs Jahren das größteSteuerschlupfloch geöffnet und dann mühsam mit unse-rer Hilfe wieder schließen müssen, weil massiv Einnah-men wegbrachen? Das war Ihre Reform der Körper-schaftsteuer, bei der plötzlich massiv Steuermittelabflossen, nicht verursacht von irgendwelchen Vorgän-gern, sondern von dieser Bundesregierung. Das musstenSie korrigieren. Das heißt: Sie öffnen Steuerschlupflö-cher und müssen sie dann dringend wieder schließen.Auch das ist ein Kennzeichen Ihrer Politik: dass Sieständig Fehler Ihrer eigenen Regierungszeit korrigierenmüssen.Ich will an dieser Stelle zwei Bemerkungen zurTabaksteuer machen. Bei der Tabaksteuer haben Sie einMehraufkommen von 1 Milliarde Euro kalkuliert. Siewollten 1 Milliarde Euro mehr einnehmen, indem Siedie Tabaksteuer – gegen unseren Willen – schnell, insehr hohen Schritten erhöhen wollten. Dem haben wirreserviert gegenübergestanden, weil wir genau dieMarktreaktion vorhergesehen haben, nämlich dass dieLeute nicht auf das Rauchen verzichten – in Ihrem Ge-setzentwurf gab es ja keine gesundheitspolitische Ziel-setzung –, sondern in die Illegalität gehen und diese Ta-bakwaren an der Steuer vorbei konsumieren. Genau diesist jetzt geschehen. Es ist wunderbar, dass sich die Haus-haltspolitiker der Koalition heute Morgen einig waren– wie man auf „tagesschau.de“ nachlesen kann –, diezweite und dritte Stufe der Tabaksteuererhöhung abzu-blasen. Nur stellt sich da natürlich in der Haushaltsbera-tung die Frage: Was machen Sie denn mit den veran-schlagten Einnahmen aus der zweiten und dritten Stufeder Tabaksteuererhöhung? Ist das wieder so ein Schnell-schuss, für den Sie keine Gegenfinanzierung haben? Wiewollen Sie das überhaupt machen? Kehren Sie endlicheinmal zu einer planbaren, berechenbaren Politik zurück– dann haben wir wieder eine vernünftige Grundlage –,anstatt ständig Schnellschüsse aus der Hüfte abzugeben.
Ich halte nicht für gerechtfertigt, was der Bundes-finanzminister zur Deckung der Mindereinnahmen vor-schlägt: in die Krankenkasse zu greifen – die Kranken-kassen konnten durch die Gesundheitsreform einenÜberschuss von 2,5 Milliarden Euro verzeichnen – undsich dieses Geld für den Bundeshaushalt zu besorgen.Das ist unanständig gegenüber der Versichertengemein-schaft der gesetzlichen Krankenversicherung. Das wer-den wir nicht mittragen.
Sie haben die Gemeinden erwähnt. Ich will nur ein-mal darauf hinweisen, dass wir in diesem Jahr bezüglichder Gemeinden eine Steueramnestie beschlossen haben.Gemäß dieser Steueramnestie sollten Bund, Länder undKommunen 5 Milliarden Euro an Mehreinnahmen erhal-ten. Schauen wir uns das einmal an: Im ersten Halbjahrwaren es 224 Millionen Euro. Kein Mensch in diesemLand glaubt mehr, dass wir die 5 Milliarden Euro biszum Ende der Frist erreichen. Wo ist an dieser Stelle dieEntlastung der Kommunen um 900 Millionen Euro? Esgibt sie nicht. Bezüglich der Gewerbesteuerumlagemussten wir Sie im Vermittlungsausschuss dazu zwin-gen, die Kommunen zu entlasten. Durch Hartz IV wer-den die Kommunen nicht, wie Sie ständig zu Unrecht sa-gen, entlastet, sondern sie werden belastet. Auf eineGemeindefinanzreform wartet dieses Haus immer noch.Da wir über die Steuerpolitik reden, will ich an dieserStelle sagen, dass wir unser Steuerkonzept, in dem wirsowohl etwas zur Reform der Kommunalfinanzen alsauch zur Einkommen- und Körperschaftsteuer sagen, be-reits in erster Lesung hier im Deutschen Bundestag vor-gelegt haben. Es liegt jetzt im zuständigen Fachaus-schuss. Wenn Sie tatsächlich zu einer vernünftigenLösung in der Steuerpolitik kommen wollen, dann grei-fen Sie unseren Vorschlag an dieser Stelle auf und führenSie mit uns gemeinsam eine vernünftige Beratung durch.
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Dr. Michael MeisterDadurch können wir auch zu einer gemeinsamen Steuer-politik kommen. Das Motto muss lauten: niedrigereSteuersätze, Ausnahmetatbestände tatsächlich abschaf-fen.Herr Finanzminister, bezüglich der Ausnahmetatbe-stände sind wir wirklich einer Meinung, aber man mussdas natürlich im Zusammenhang tun. Sie können nichtnur – wie Sie das titulieren – Steuersubventionen strei-chen, sondern zeitgleich müssen Sie auch den Tarif sen-ken. Das gehört zusammen; das ist eine Einheit. Siehaben eine Tarifsenkung angekündigt und die Gegen-finanzierung erstellt. Als Sie gemerkt haben, dass dieLücke nicht geschlossen werden kann, wollten Sie wei-tere Gegenfinanzierungen durchführen. Das ist doch Ihrübliches Vorgehen an dieser Stelle. Das ist unseriös undeine falsche Politik.
Kehren Sie zu dem zurück, was wir vorgelegt haben!Wir haben hier ein Steuerkonzept vorgelegt. Danebenliegen Konzepte für die Arbeitsmarktpolitik und die So-zialreformen vor. Wir haben Ihnen angeboten, bei derHaushaltskonsolidierung mit Ihnen zusammenzuarbei-ten. Nehmen Sie diese Angebote an, dann haben Sie dieChance, aus Ihrer jetzigen Lage herauszukommen. An-sonsten glaube ich, dass der Eindruck der KolleginHermenau, dass in Ihren Reihen eine Sehnsucht nach derOpposition herrscht, relativ realistisch wiedergegebenworden ist.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Jörg-Otto Spiller,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Haushaltsdebatte ist die Chance für die Op-positionsfraktionen, darzulegen, welche Alternativen siezur Regierungspolitik haben.
Ich habe keine Alternativen gehört.
Herr Austermann, der jetzt davon träumt, in Schles-wig-Holstein Finanzminister zu werden,
hat sich genauso wie sein Landsmann, Herr Koppelin, anden § 1 des Schleswig-Holsteinischen Bergbaugesetzesgehalten: Vor der Hacke ist es duster.
Mehr war von Ihnen leider nicht zu hören.Herr Austermann, es ist ein Problem, dass Sie garnicht wissen, was zusammenpasst und was im Wider-spruch zueinander steht. Das war auch ein Problem beider Vorstellung Ihres Schattenkabinetts in Kiel. Sie sag-ten, Sie würden Beamtenstellen abbauen, während Siegleichzeitig aber neue Stellen für Staatssekretäre schaf-fen wollten – wahrscheinlich im Finanzministerium; sohatten Sie es ja wohl vorgesehen.
Herr Austermann, Sie haben uns hier verkündet, dassSie die Lücken im Haushalt durch Steuersenkungenschließen wollen. Das war noch nicht richtig überzeu-gend. Der Kollege Koppelin, der eine Weile über denHaushalt und über die Probleme damit gesprochen hat– ich fand das weithin seriös –,
verwies dann auf die Vorschläge des Kollegen Solms be-züglich eines neuen Steuersystems. Das Resultat diesesvon der FDP vorgeschlagenen Steuersystems wären rie-sige, kräftige Ausfälle bei den Steuereinnahmen. Wiedas zusammenpassen soll, müssen Sie uns vielleicht ir-gendwie verständlich machen.
Der Kollege Koppelin hat dann den schönen Satz ge-sagt, die Einnahmeverbesserungen, die die Bundesregie-rung und der Bundesfinanzminister Eichel erzielt haben,seien nur Abkassierereien bei den Bürgern gewesen.Herr Kollege Koppelin, Sie haben sich wahrscheinlichnur wenig mit dem Steueraufkommen in Deutschland inletzter Zeit befasst. Wir haben bei der Einkommensteuerund der Lohnsteuer eine massive Tarifsenkung gehabt.Das hat die ganze breite Masse der privaten Haushaltedeutlich entlastet.
Es hat auch sehr viele, insbesondere auch mittelständi-sche Unternehmen entlastet.Es gibt allerdings auch Menschen in Deutschland, diejetzt mehr Steuern zahlen als zu der Zeit, als Union undFDP die Bundesregierung gestellt haben.
Das liegt daran, dass die großen Scheunentore anSteuerschlupflöchern, die Sie, Herr Kollege Koppelin,für Ihre Klientelpolitik geöffnet haben, weithin geschlos-sen sind. Ein Unikum, das nur einer unions- und FDP-geführten Koalition zu verdanken ist: Das FinanzamtBad Homburg, das für die „Arme-Leute-Gegend“ west-lich von Frankfurt am Main mit der höchsten Dichte anEinkommensmillionären zuständig ist, hat 1997 bei derveranlagten Einkommensteuer mehr erstattet als einge-nommen.
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10986 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Jörg-Otto SpillerInzwischen wird in Bad Homburg wieder ein positivesAufkommen an Einkommensteuer erzielt. Das ist kor-rekt.
Bei der Körperschaftsteuer, Herr Kollege Koppelin,haben Sie die wirklich schrullige Idee gehabt,
dass Gewinne, die im Unternehmen verbleiben, steuer-lich stärker belastet sein sollen als ausgeschüttete Ge-winne. Wir haben eine vernünftige Reform der Körper-schaftsteuer gemacht,
damit die Gewinne, die im Unternehmen verbleiben,steuerlich nicht stärker belastet werden als die ausge-schütteten Erträge.
Viele Unternehmen haben sich die Steuerguthaben,die zu Ihren Zeiten angesammelt worden sind, ausschüt-ten lassen. Das hätten sie übrigens auch vorher machenkönnen. Aber die Unternehmen haben sich ihr Geld aufdiese Weise zurückgeholt. Inzwischen sprudeln die Gel-der aus der Körperschaftsteuer wieder – das ist erfreu-lich –, und zwar wegen einer Entscheidung, gegen dieSie, Herr Kollege Austermann und Ihre Fraktion, zu-nächst einmal heftig polemisiert haben. Es geht um die– so sagen wir das – Mindestgewinnbesteuerung, beider ein Unternehmen, wenn es Gewinne macht, Verlusteaus früheren Jahren nur begrenzt geltend machen kann.Diese Regelung ist nun wirklich positiv.Ich möchte noch eine Bemerkung zum Steueraufkom-men machen, weil das in der öffentlichen Debatte mit-unter untergeht. Es geht um die Entwicklung desLohnsteueraufkommens und das Aufkommen bei derveranlagten Einkommensteuer. In den meisten Steuer-statistiken kommt bei der veranlagten Einkommensteuerfast immer nur ein einstelliger Milliardenbetrag heraus,während die Einnahmen aus der Lohnsteuer in der Grö-ßenordnung von 125 oder 130 Milliarden Euro liegen.Das ist eine verkürzte Darstellung; denn das ausgewie-sene Kassenaufkommen bei der veranlagten Einkom-mensteuer ist ein Saldo aus dem Bruttoaufkommen undden Verrechnungen, beispielsweise der Erstattung an Ar-beitnehmer, aber auch der Investitionszulagen oder derberühmten Eigenheimzulage.Das Bruttoaufkommen der veranlagten Einkommen-steuer lag im vorigen Jahr bei einer Größenordnung von37 Milliarden Euro. Für dieses Jahr werden gut 38 Mil-liarden Euro erwartet. Das war immerhin rund ein Fünf-tel mehr als vor zehn Jahren, während das Aufkommenbei der Lohnsteuer, obwohl die Bruttolöhne und -gehäl-ter gegenüber 1994 in der Summe um ungefähr17 Prozent gestiegen sind, um 8 Prozent zurückgegan-gen ist. Dies ist auf eine Entlastung der Bürger zurück-zuführen. Genau das wollten wir.
– Herr Michelbach, die Lohnsumme ist aber gestiegen.Gegenüber dem Zeitraum von 1994 ist auch die Beschäf-tigung nicht zurückgegangen. Ich hoffe, Herr Koppelin,Sie wollen nicht zurück zu der Zeit, in der es sozusagenim Belieben von Steuerkünstlern stand, ob sie dem Ge-setz folgen oder nicht.
Eine Bemerkung noch zu dem Kollegen Meister. Erhat aus guten Gründen wenig zur Steuerpolitik derUnion gesagt. Da sind Sie sich ja auch noch nicht ganzeinig.
Das ist aber auch in Ordnung, denn Sie haben ja nochviel Zeit, um sich zu verständigen.
Nehmen Sie sich ruhig die Zeit. Ich glaube sogar, je in-tensiver Sie diese interessante Diskussion führen, destomehr Zeit werden Sie noch haben. Das ist eigentlich einegute Linie.Sie haben ein paar Bemerkungen zu den gesamtwirt-schaftlichen Auswirkungen und zu Maastricht gemacht.Zunächst einmal ist bei diesem Haushaltsentwurf festzu-stellen: Wir haben in dem Zeitraum seit 1999 im Durch-schnitt jährlich einen nominalen Anstieg der Ausgabenum rund 1 Prozent. Das heißt, real sind die Ausgabennicht gestiegen. Wir haben eine sehr zurückhaltendeAusgabenpolitik betrieben. Diese Entwicklung wird zuRecht mit dem Stichwort Konsolidierung beschrieben.Wir haben allerdings bei den Bemühungen, Steuer-schlupflöcher zu schließen, Subventionen zu kürzen undSteuervergünstigungen abzubauen, immer wieder gegenIhren Widerstand angehen müssen. Herr Meister hat an-gekündigt, das solle sich ändern. Ich bin gespannt. Bis-her war das noch nicht erkennbar.Aber ich sage Ihnen: Das wird eine wichtige Aufgabesein, nicht nur in diesem Hause, sondern auch im Bun-desrat. Der Bundesrat ist ein Bundesorgan und muss des-halb die gemeinsame Verantwortung für diesen Bundes-haushalt mittragen. Dazu gehört eben gerade auch derAbbau von Vergünstigungen und ungerechtfertigten Sub-ventionen. Wir könnten bei der Konsolidierung unseresHaushalts weiter sein, wenn die Mehrheit im Bundesratkonstruktiver wäre. Ich hoffe, Sie haben ein Stück Ein-fluss, Herr Meister, und vielleicht auch den Willen – derist ja nicht immer erkennbar –, dazu beizutragen.Wir sind jedenfalls auf einem guten Wege und wirwerden den klaren Kurs von Hans Eichel, den Dreiklang
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Jörg-Otto Spilleraus Konsolidierung, aus Strukturreformen und ausWachstumsimpulsen weiter stützen.
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich hatte mich eigentlich darauf gefreut, in derheutigen Lesung aus Hans Eichels gesammelten Mär-chen, Band 6 – der stand ja heute an –, einiges Neues zuvernehmen. Aber nachdem schon die Bände 1 bis 5 imBereich der Märchen geblieben sind und die angekün-digten Zahlen sich niemals realisiert haben, hat HerrEichel heute versucht, sich mit einem gewissen Ge-schick und mit großer Redegeschwindigkeit an den ei-gentlichen Problemen vorbeizumogeln.
Über den Haushalt habe ich nicht viel gehört. Daran hater auch gut getan, weil sich auch diese Haushaltszahlenim nächsten Jahr wiederum nicht einstellen werden undauch gar nicht einstellen können.
Im Rahmen der Analyse der ökonomischen Situationhat Herr Eichel allerdings einige Bemerkungen gemacht,die teilweise richtig, teilweise aber eben auch falsch wa-ren. Insbesondere sagte er: Kein Wachstum ohne solideStaatsfinanzen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,genau das Gegenteil ist richtig: Keine soliden Staatsfi-nanzen ohne Wachstum. Die Frage ist nicht: Wie kannich durch Sparen den Haushalt in Ordnung bringen? DieFrage ist vielmehr: Wie kann ich durch eine Dynamisie-rung der Wirtschaft und durch mehr Beschäftigung dieAusgaben einschränken und die Einnahmen erhöhen unddamit auch die Haushalte konsolidieren?
Die Antworten darauf haben Sie, Herr Eichel, ver-schwiegen oder Sie wissen sie nicht. Jedenfalls hat dierot-grüne Regierung in den entscheidenden Fragen dieentscheidenden Weichenstellungen nicht vorgenommen.
Es sind eigentlich drei Punkte, um die es geht. Hartz IVist im Kern richtig. Das haben wir nie bestritten. Das istaber nur eine Seite der Medaille. Es geht nicht nur da-rum, diejenigen, die Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfebeziehen, zu bewegen, in den Arbeitsmarkt zurückzu-kehren, sondern Sie müssen auf der anderen Seite denArbeitsmarkt auch öffnen. Das ist nicht in der notwendi-gen Form geschehen.
Heute Abend wird der Bundeskanzler – das habe ichdem Fernsehen entnommen – mit den Gewerkschafts-führern zusammentreffen. Das wäre der Zeitpunkt, HerrEichel – ich weiß nicht, ob Sie eingeladen sind –, denGewerkschaftsführern zu sagen: Es muss mit den starrenTarifverträgen Schluss sein. Das ist in der offenenWeltwirtschaft völlig unrealistisch. So bekommen wirkeine neuen Arbeitsplätze.
Das ist der eine Punkt.Der zweite Punkt, Herr Schmidt, ist die Senkung derLohnzusatzkosten, um die Arbeitsplätze zu entlasten.Das heißt Reform der Gesundheitspolitik, der Rentenpo-litik und der Pflegeversicherung. Wir dürfen nicht, wieSie es wollen, in ein staatliches Einheitssystem,
das aus einer Einkommensteuer II finanziert wird. Ei-nige von Ihnen haben bereits erkannt, dass das ein Irr-weg ist. Was wir brauchen, sind Wettbewerb, Privatisie-rung und Eigenverantwortung.
Das heißt, dass die Arbeitskosten von den Sozialkostengetrennt und die Arbeitsplätze auf die Weise finanziellentlastet werden.Der dritte Punkt – das ist das eigentliche Thema indieser Debatte – ist die Steuerreform. Sie müssen dieAnreize für Investitionen, aber auch für den Konsumdurch einfache und niedrige Steuern stärken.
Wir sind keine geschlossene Volkswirtschaft, sondernwir bewegen uns in der offenen Weltwirtschaft. Wirmüssen uns dem Wettbewerb und der Tatsache stellen,dass die um uns liegenden Industriestaaten eine niedri-gere Steuerbelastung haben. Sie können machen, wasSie wollen: Diesem Wettbewerbsdruck können Sie sichnicht entziehen. Also ist eine Steuerreform zwingendnotwendig, und zwar mit einer Steuerentlastung.
Wir entziehen uns überhaupt nicht der Verantwortung,Steuersubventionen und andere Subventionen zu kürzenoder konsequent zu streichen – aber nicht, Herr Eichel,um Ihre Schulden zu finanzieren, sondern um die Bürgerund die Wirtschaftssubjekte zu entlasten.
Nur so wird volkswirtschaftlich ein Schuh daraus. Wirhaben die konsequente Abschaffung aller steuerlichenSubventionen in unserem Steuerreformkonzept vorgese-hen. Die Eigenheimzulage, die keine Steuersubventionist, würde auch dazugehören.
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Dr. Hermann Otto SolmsNur dann wird daraus die Botschaft, dass es sich wiederlohnt, in Deutschland zu investieren und Arbeitsplätzezu schaffen. Das ist die eigentliche Quintessenz einervolkswirtschaftlichen Debatte.
Im Übrigen will ich Ihnen, Herr Eichel, sagen: IhreSteuerpolitik der letzten Jahre ist mit Widersprüchenübersät. Ich habe eine ganze Phalanx von Beispielen. Ichwill auf einige eingehen. Sie sprachen von der größtenSteuerreform aller Zeiten. Gleichzeitig haben Sie in ei-nem Brief an die Fraktionsvorsitzenden mitgeteilt, eineAbgeltungsteuer für Zinsen könne deshalb nicht kom-men, weil die Personenunternehmen nach der drittenStufe Ihrer Steuerreform immer noch mit bis zu52 Prozent belastet würden. Was zeigt das denn? Dieje-nigen, die in erster Linie in der Lage sind, Arbeitsplätzezu schaffen, werden steuerpolitisch am schlechtesten be-handelt.
Das macht doch keinen Sinn. Die Kapitalgesellschaftenwerden viel stärker entlastet. Das kann so nicht bleiben.Schon dieser Widerspruch zeigt, dass eine echte Steuer-reform mit einer Vereinheitlichung der Steuerbelastungzwingend notwendig ist.
– Das ist so. Er hat es selbst geschrieben. Ich kann Ihneneine Kopie des Briefes geben, wenn Sie es nicht wissen.Sie haben jetzt ein Kleinunternehmerförderungsge-setz auf den Weg gebracht, mit dem die Gewinnermitt-lung auf einem amtlichen Formular vorgeschrieben wird.Die Unternehmer sollen 82 Zeilen mit 82 Angaben aus-füllen, die im Gesetz nirgends vorgeschrieben sind unddie sie in aller Regel auch gar nicht haben. Was ist denndaran Förderung? Das löst das pure Chaos aus. Ichglaube, Sie haben gar nicht gewusst, was Ihnen Ihre Be-amten da aufschreiben. Das ist an Ihnen vorbeigelaufen.
Das nächste Beispiel ist die Neuregelung der Gesell-schafter-Fremdfinanzierung, § 8 a des Körperschaft-steuergesetzes. Ich weiß, dass das in steuerpolitischerHinsicht sehr schwierig und durch den Europäischen Ge-richtshof erzwungen ist. Aber die von Ihnen vorgesehe-nen Regelungen gehen nicht an.
Sie belasten gerade die kleinen und mittleren Unterneh-men in ihrer Eigenkapitalfinanzierung. In der Eigenkapi-talbasis liegt ohnehin die strukturelle Schwäche desdeutschen Mittelstands. Ihre Regelung wird zu weiterenInsolvenzen und Entlassungen führen.Ein weiteres Beispiel ist die Mindestbesteuerung.Herr Spiller ist gerade darauf eingegangen. Was Sie aus-geführt haben, ist völlig falsch. Einführung der Mindest-besteuerung heißt, dass entstandene Verluste nicht involler Höhe mit den erzielten Gewinnen verrechnet wer-den dürfen. Was heißt das im Grunde genommen? Siesozialisieren die Gewinne und privatisieren die Verluste.Auch das führt bei eigenkapitalschwachen Unternehmenzu Existenzkrisen.
Ein anderes Beispiel ist die Steueramnestie. Wir ha-ben darüber gesprochen, Herr Eichel, und ich habe Ihnendargelegt, dass die Steueramnestie nur dann Erfolg ha-ben wird, wenn Sie gleichzeitig dauerhaft eine maßvolleZinsbesteuerung durchsetzen – ich verweise auf die Ab-geltungsteuer –, die Vermögensteuer endgültig abschaf-fen, die Diskussion über die Erbschaftsteuer beendenund wenn Sie nicht noch zusätzlich eine neue Steuer imZusammenhang mit der Gesundheitsreform in die Dis-kussion einbringen würden. Das verunsichert die Sparer,die ihr Geld dann nicht zurückbringen. Das hat sich be-reits gezeigt. Sie haben 5 Milliarden Euro im Haushalts-plan eingesetzt, bis jetzt sind aber nur etwas mehr als270 Millionen Euro als Einnahme zu verzeichnen.Ich komme zu einem letzten Punkt. Sie haben ausge-führt, Energiespekulanten – da gebe es geheimnisvolleinternationale Kräfte – seien die Ursache dafür, warumes uns so schlecht gehe. Wer ist denn der Preistreiber inder Energiepolitik? Das ist doch der Staat.
– Hören Sie doch zu, Herr Schmidt! Ich will es Ihnen er-klären. – Von den 18 Cent, die ein privater Haushalt füreine Kilowattstunde Strom bezahlen muss, entfallen2,1 Cent auf die Ökosteuer, 2 Cent auf die Konzessions-abgabe zugunsten der Kommunen, 0,4 Cent auf die er-neuerbaren Energien und 0,3 Cent auf die Kraft-Wärme-Kopplung. Die Belastung in diesen Bereichen ist von2,28 Milliarden im Jahr 1998 bis heute auf 11,88 Milliar-den Euro angestiegen.
– Plus Mehrwertsteuer.Eines ist klar: Die Energiepreissteigerungen habeneine Farbe, und zwar grün. Auch Strompreissenkungenhaben eine Farbe, nämlich gelb: „Yello Strom“.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort der Kollegin Anja Hajduk, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich muss zunächst feststellen, dass wir Ihnenvon der Opposition die bisherigen Beiträge in der De-batte zu diesem Haushaltsplanentwurf nicht durchgehenlassen können.
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Anja Hajduk
Ich will das auch begründen.Es ist richtig, dass wir zum Beispiel von ausländi-scher Seite – man sollte schließlich auch Leute befragen,die Deutschland von außen betrachten – darauf aufmerk-sam gemacht werden, dass wir die Realitäten zur Kennt-nis nehmen und erkennen sollten, wo wir Probleme ha-ben, deren Lösung wir auch angehen müssen. Darüberkann man, wie gesagt, mit Bekannten, Journalisten undPolitikern im Ausland diskutieren. In diesem Zusam-menhang kann ich feststellen, dass wir durchaus bereitsind, anzuerkennen, dass die haushaltspolitische Lageschwierig ist. Das ist vonseiten der Opposition auch an-gemahnt worden.Es geht aber nicht an, dass Sie sich in dieser Debatte– wir diskutieren seit 10 Uhr und damit seit über dreiStunden – im Wesentlichen damit zufrieden geben, nega-tive haushälterische Entwicklungen anzuprangern. Daskönnen Sie zwar machen, aber es reicht nicht, unsereVorschläge zu verwerfen; Sie müssen vielmehr eigeneAntworten geben. Sie betreiben eine reine Verweige-rungshaltung.
Das werde ich Ihnen jetzt im Einzelnen nachweisen.Gerade Sie, Herr Austermann, haben sich hier wie je-mand verhalten, der Sehnsucht nach Kiel hat. Ich kanndas verstehen. Sie haben einen Wahlkampf vor sich.Ich komme auf die Position der CDU/CSU zurück, diesie gestern im Zusammenhang mit der Beratung desHaushaltsbegleitgesetzes vertreten hat. Sie mahnen Mutzur Kürzung bei den Ausgaben an. Die rot-grüne Regie-rung fordert – wir sind mit dieser Forderung nicht allein –,beim Subventionsabbau endlich den Agrarbereich an-zupacken, auch wenn es der CDU/CSU wehtut.
Hier müssen Sie sich einmal stellen. Bei der gestrigenBeratung des Entwurfs eines Haushaltsbegleitgesetzeshatten Ihre Kollegen aber nichts Besseres zu tun – dastrifft leider auch auf Herrn Koppelin von der FDP-Frak-tion zu; auch er hat schließlich bald Wahlkampf inSchleswig-Holstein –, als zu sagen: Wir können keineSonderopfer – so nennen Sie das – im Agrarbereich for-dern. Ich sage Ihnen: Das ist Quatsch. Wir müssen end-lich die Kraft aufbringen, mit althergebrachten Subven-tionen aufzuräumen. Wir können nicht immer wegenIhres Schielens auf Landtagswahlen kneifen.
Genau das tun Sie: Sie kneifen und stellen sich stur,wenn es um Subventionsabbau im Agrarbereich geht.Wir werden Ihnen aber Ihren Mangel an Antworten undIhre Ängstlichkeit nicht durchgehen lassen.
Sie könnten sich sogar hinter uns verstecken. Sagen Sieeinfach, dass es nicht Ihre Idee war. Aber geben Sie end-lich zu, dass es angesichts der Haushaltssituation nichtzumutbar ist, ängstlich und vorsichtig auf Beibehaltungalter Subventionen zu bestehen.
Frau Kollegin Hajduk, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Austermann?
Ja, sicher.
Bitte, Herr Austermann.
Frau Kollegin, stimmen Sie mir zu, dass im Dezem-
ber letzten Jahres im Vermittlungsausschuss klare Be-
schlüsse zum Subventionsabbau gefasst worden sind, die
erstens Kürzungen der Kohlesubventionen beinhalten
– davon sind Sie jetzt abgewichen – und die zweitens
vorsehen, die Landwirtschaft wegen der dramatischen
Situation, in der sich die Landwirte befinden, bei den
Kürzungen auszusparen? Sind Sie jetzt etwa der Mei-
nung, dass sich die wirtschaftliche Situation unserer bäu-
erlichen Familienbetriebe so verbessert hat, dass man
von der gemeinsamen Übereinkunft vom Dezember letz-
ten Jahres abweichen sollte?
Herr Kollege Austermann, ich habe die von der Unionim Vermittlungsausschuss eingenommene pauschaleHaltung, den Agrarbereich gänzlich aus den Kürzungenherauszunehmen, immer für falsch gehalten. Ich habedies auch schon im Plenum gesagt und bin noch heutedieser Meinung. Ich halte es für einen großen haushälte-rischen Irrtum, dass Sie sich an dieser Stelle nicht bewe-gen.
Herr Austermann, gerade Sie als haushaltspolitischerSprecher der CDU/CSU-Fraktion sollten diesbezüglichfür eine neue Position in Ihrer Fraktion werben.Es stimmt zwar, dass im Vermittlungsausschuss die-ses Ergebnis erzielt wurde. Aber ich bin angesichts derEntwicklung des Bundeshaushalts der Meinung, dass dieBundesregierung verpflichtet ist, Lösungen zu präsentie-ren. Sie darf sich nicht auf alten, falschen Kompromis-sen ausruhen. Deswegen finde ich es richtig, dass wirauch einen neuen Vorschlag betreffend die Eigenheim-zulage machen.
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Anja HajdukBeim Thema Kohlesubventionen kneife ich nicht.Sie wissen sicherlich, dass Rot und Grün einen unter-schiedlich stark ausgeprägten Ehrgeiz im Hinblick aufdie Weiterentwicklung der Degression haben. Aber fak-tisch wird der Subventionsabbaupfad auch bei der Kohlebeschritten. Ich bin sicher, dass unsere Einigung ange-sichts der Entwicklung des Kohlepreises auf dem Welt-markt einen stärkeren Abbau der Kohlesubventionen er-möglichen wird. Hier lasse ich mich gerne in die Pflichtnehmen. Das ist jedenfalls eine Aufgabe, die wir, dieGrünen, sehr ernst nehmen.
Ich möchte jetzt mit meiner Rede fortfahren. Schließ-lich möchte ich hier keine Landwirtschaftsdebatte füh-ren, auch wenn der Agrarbereich typisch für Ihr Verhal-ten ist. Ich möchte Sie noch mit anderen Bereichenbeglücken.In der Tat geht es auch bei der Eigenheimzulage umein großes Finanzvolumen. Wenn Sie sagen, dass auchSie erkannt hätten, dass wir Mittel für den Bildungs- undForschungsbereich freimachen und Mut zur Setzungneuer Prioritäten haben müssten, dann ist es nicht zu to-lerieren, dass Sie sich sperren, bei der Streichung derEigenheimzulage mitzumachen. Sie haben auch eineVerpflichtung in den Ländern und in den Kommunen, indenen Sie die Gestaltungskompetenz für Bildungsfragenhaben. Wenn Sie hier nicht zu Streichungen bereit sind,müssen Sie zumindest eine Alternative mit gleichemFinanzvolumen anbieten. Das, was Sie bisher gemachthaben, ist jedenfalls mangelhaft, aber leider typisch.Ich kann Ihnen gerade mit Hinweis auf die bevorste-hende Landtagswahl in Schleswig-Holstein nur raten:Orientieren Sie sich in dieser Frage doch einfach an derEmpfehlung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, daseinen weiter gehenden Subventionsabbau vorschlägt.Das sollte Sie ermutigen. Bremsen Sie den Subventions-abbau nicht! Denken Sie daran, dass sich eher die Regie-rung öffentliche Kritik für Subventionsabbau gefallenlassen muss! Verstecken Sie sich also ruhig hinter uns,wenn Sie es nötig haben. Aber lassen Sie uns gewähren.Das wäre für die Konsolidierung des Haushalts deröffentlichen Hand ein wichtiger Schritt.
Die Konzepte der Union sind wirklich desolat.
Sie schlagen vor – Herr Meister hat es gerade getan –,auf Ihr Konzept für den Bereich der sozialen Sicherungzurückzugreifen. Da muss ich Sie fragen: Herr Meister,was sollen wir denn da tun? Sollen wir jetzt eher dieCSU-Variante oder die CDU-Variante wählen? Es istrichtig, zu sagen, dass auch die Finanzierung des Ge-sundheitssystems reformiert werden muss. Sie sind indiesem Herbst eine Antwort darauf schuldig, wie einSteuerloch in Höhe von mindestens 25 Milliarden Eurogedeckt werden soll, wenn man Ihrem Vorschlag folgtund auf die Kopfpauschale umstellt.Sie können den Leuten mit Blick auf die Lohnneben-kosten und die Abkopplung vom Arbeitsmarkt keineVersprechungen machen, ohne Antworten auf die steuer-lichen Fragen zu haben, zum Beispiel darauf, wie derSolidarausgleich im Gesundheitsbereich funktionierensoll. Oder legen Sie keinen Wert auf eine Absicherungdes Solidarausgleichs? Diese Frage müssen Sie hier be-antworten.
Noch alberner ist es – die 100-Milliarden-Euro-Fragemuss Frau Merkel morgen wirklich beantworten –, dassSie ein illusionistisches Steuereinnahmekonzept verfol-gen. Herr Meister, Sie haben gesagt, wir sollten nicht ro-sarot malen. Das finde ich richtig. Wenn ich behaupte,dass wir auch nicht schwarz malen sollen, dann werdenSie ebenfalls nicken.Herr Eichel, unser Finanzminister, hat am Ende seinerRede eine gute Botschaft formuliert, als er gesagt hat:Wir sollten uns darauf besinnen, dass wir ein starkesLand sind, das allerdings große Herausforderungen zubewältigen hat. Aber zur rosaroten Brille im negativen,im kritischen Sinne gehört selbstverständlich auch, dassman Steuerpolitik nicht statisch betrachten darf.
Man darf aber auch nicht so vorgehen, dass man behaup-tet, wir könnten die Steuersätze in einem solchen Maßesenken, wie Sie das propagieren, und gleichzeitig dieVerbreiterung der Bemessungsgrundlage komplett ab-lehnen, wie Union und FDP es tun. Man muss schon er-kennen, dass wir dann ein Riesenhaushaltsdesaster erle-ben würden.
Wenn wir Ihnen folgen, dann haben wir ein struktu-relles Haushaltsproblem, mit dem wir den europäischenStabilitätspakt nie und nimmer erfüllen können. Deswe-gen sage ich Ihnen: Ihre Konzepte sind illusionistisch.Auf der Einnahmeseite werden Löcher gerissen, wäh-rend auf der Seite der sozialen Sicherungssysteme derSolidarausgleich hineingedichtet wird. Da bleiben SieAntworten schuldig. So kommen Sie durch diese herbst-lichen Beratungen nicht hindurch.
Ich möchte mit einigen Bemerkungen zu der Diskus-sion über den europäischen Stabilitäts- und Wachs-tumspakt schließen. Ich finde, Sie haben dazu ein biss-chen wenig gesagt. Sie haben zu der aktuellenDiskussion nämlich im Grunde gar keine Position bezo-gen. Es ist richtig, dass wir den Stabilitäts- und Wachs-tumspakt in den letzten Jahren nicht eingehalten haben.Mit Blick auf das nächste Jahr haben wir eine ziemlichschwierige Diskussion vor uns. Auch da werden wir ver-
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Anja Hajduksuchen, Sie in die Pflicht zu nehmen; schließlich legenauch Sie Wert darauf, dass wir das 3-Prozent-Kriteriumim nächsten Jahr erfüllen.Ich finde es aber auch wichtig, dass Sie einmal dazuStellung nehmen, was der Bundesfinanzminister zu die-sem Thema im letzten Jahr gesagt hat und was er zu demVorschlag der EU-Kommission heute sagen kann. Ichhalte es für gut, dass wir trotz der schwierigen Bilanz,die die deutsche Seite vorzulegen hat, sagen können: DieGrenzen und die Kriterien sollen weiterhin Bestand ha-ben.
– Das hat nichts mit „gnädig“ zu tun, sondern damit, wieSie sich dazu stellen, dass man in der Kommission ge-sagt hat: Es ist wohl richtig, die wirtschaftliche Entwick-lung stärker zu berücksichtigen. Sie haben sich hier dazugar nicht geäußert. Das finde ich oberflächlich von Ih-nen. Sie müssen sich dazu äußern. Es geht hier nämlichnicht um Opposition gegen die Politik der deutschen Re-gierung,
sondern darum, dass sich die Hälfte der europäischenStaaten in Schwierigkeiten befindet.Angesichts dessen wünsche ich mir von Ihrer Seiteeine differenzierte Haltung in der Diskussion über deneuropäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Ich werdevon Ihnen einfordern, dass Sie uns dabei unterstützen,im nächsten Jahr das 3-Prozent-Kriterium zu erfüllen.Ich glaube, das wird Sie in den Haushaltsberatungenmehr als uns fordern, vielleicht auch überfordern.
Ich werde das mit Interesse verfolgen.
Frau Kollegin.
Unterstützen Sie uns beim Subventionsabbau! Wenn
Sie das tun, dann haben wir schon einen ganzen Teil ge-
schafft.
Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Bartholomäus Kalb,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Heute Morgen hat der Bundesfinanzministersehr lange gesprochen. Er hat über alles Mögliche ge-sprochen, aber kaum über den Bundeshaushalt, nicht zurStruktur des Haushalts, nicht zu den Eckdaten, nicht zuden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen,
wohl auch deswegen nicht, weil der Haushalt, so wie ervorgelegt worden ist, unrealistisch ist, weil er eher einemMärchenbuch denn dem Schicksalsbuch der Nationgleicht.
Märchen sind laut Brockhaus fantastische Geschichten,die weder an Ort noch Zeit gebunden sind. Man hattewährend Ihrer Rede heute, Herr Minister Eichel, wirk-lich den Eindruck, Sie fühlten sich an Raum und Zeitnicht gebunden.
Der vorliegende Haushaltsentwurf belegt schon nachsechs Jahren das haushalts- und finanzpolitische Schei-tern der Bundesregierung. Sie haben die Staatsfinanzenan die Wand gefahren – mit verheerenden Auswirkungenfür die wirtschaftliche Lage im Land und negativen Fol-gen für ganz Europa.Heute früh hat Minister Eichel versucht, dieses Schei-tern in wohlklingenden Formulierungen zu verstecken,zum Beispiel zum angekündigten Wachstum. Er hat vonder Notwendigkeit gesprochen, die Reformen zu sichern,und davon, es gehe darum, haushaltspolitisch Kurs zuhalten usw. Aber von Sparen konnte da wirklich keineRede sein.Herr Minister Eichel, Sie haben mit keinem Wort er-wähnt, wann Sie denn einen ausgeglichenen Bundes-haushalt aufstellen wollen und wann ein ausgeglichenergesamtstaatlicher Haushalt wieder möglich ist. Vor ge-rade einmal zwei Jahren – allerdings vor der Bundes-tagswahl; das ist der kleine Unterschied – haben Sie fürdas Jahr 2003 – wörtlich – einen annähernd ausgegliche-nen Haushalt und für das Jahr 2006 einen ausgegliche-nen Haushalt angekündigt.
Wenige Monate später, nach der Bundestagswahl, muss-ten Sie einen Nachtragshaushalt vorlegen und haben dieNettoneuverschuldung auf 32 Milliarden Euro erhöht.
Für das Haushaltsjahr 2003, für das Sie einen annäherndausgeglichenen Haushalt angekündigt hatten, haben Siedie Neuverschuldung auf fast 40 Milliarden erhöhenmüssen. Die Menschen in unserem Land haben einen
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Bartholomäus KalbAnspruch darauf, zu erfahren, welches finanz- und haus-haltspolitische Desaster die Regierung Schröder zu ver-antworten hat.Der Haushaltsentwurf umfasst Ausgaben in der Grö-ßenordnung von 258 Milliarden Euro. Im Haushalt 1998waren es 233 Milliarden Euro. Die Ausgaben sind alsoerheblich gestiegen und allen Beteuerungen zum Trotznicht gesunken. Allein die Nettokreditaufnahme hat sichin der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung – KollegeAustermann hat bereits darauf hingewiesen – um rund190 Milliarden Euro erhöht.Ich habe noch im Gedächtnis, wie Sie hier einmal mittränenerstickter Stimme über die Probleme der Einheitund der Wiedervereinigung gesprochen haben. Weil Sieheute wieder den Versuch unternommen haben, sage ich:Sie werden mir zugeben müssen, dass die Verschul-dungssituation, die Nettokreditaufnahme und die Trans-ferleistungen der Jahre ab 1990 anders zu bewerten sind,als das in normalen Zeiten vor der Wiedervereinigungoder auch jetzt der Fall ist.
Sie wissen ganz genau – Sie brauchen sich nur dasTabellenwerk anzuschauen –, dass die damalige Regie-rung die Verschuldung innerhalb weniger Jahre auf einDrittel reduziert hatte und dass für 1990 eigentlich schonein ausgeglichener Haushalt möglich gewesen wäre. DieEntwicklung war dann anders. Ich sage: Die Entwick-lung war für unser Land und für unser Volk Gott seiDank anders. Entsprechend haben wir natürlich die Pro-bleme haushälterischer und finanzieller Art, die sich inder Folge daraus ergeben haben, zu würdigen.Die Haushalte der Jahre 2002 bis 2004 haben denvom Finanzminister geplanten Rahmen nicht eingehal-ten. Offenkundige Risiken wurden nicht berücksichtigt.Umfangreiche Nachtragshaushalte waren erforderlich.Auch jetzt fehlt dem Finanzminister Mut, rechtzeitig ge-genzusteuern und einen Nachtragshaushalt für 2004 vor-zulegen.Bei den Haushalten der Jahre 2002 bis 2004 – das giltauch für den vorliegenden Entwurf – übersteigt die Net-tokreditaufnahme die Höhe der Investitionen beträcht-lich. Die verfassungsrechtliche Vorgabe des Art. 115Grundgesetz wird mit Hilfskonstruktionen umgangen.Gleiches ist nun wieder beabsichtigt.Der Präsident des Bundesrechnungshofes, bestimmtkein CDU/CSU-Mann, hat schon im Sommer mitteilenlassen, der Rechnungshof sei schon seit langem der Auf-fassung, dass die Veräußerung von Bundesvermögennicht den laufenden Haushalt finanzieren dürfe, sondernder Tilgung der Bundesschulden dienen müsse.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bund trägtmit seiner Haushaltspolitik die Verantwortung dafür, dassDeutschland insgesamt die Vorgaben des europäischenStabilitätspaktes wiederholt verletzt. 2004 wirdDeutschland zum dritten Mal ein Haushaltsdefizit vondeutlich mehr als 3 Prozent, wahrscheinlich schon nahebei 4 Prozent, aufweisen. Solch eine Zwischenbilanz rot-grüner Haushalts- und Finanzpolitik ist verheerend fürdas Land, aber auch bezeichnend für Rot-Grün.Für 2005 ist keine Besserung in Sicht. Die Annahmenüber die wirtschaftliche Entwicklung sind unrealis-tisch. Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmenwerden hinter den Erwartungen zurückbleiben. Einekonjunkturelle Erholung ist nicht in Sicht. Die Binnen-nachfrage – Sie selber haben es ja eingeräumt – bleibtweiterhin schwach. Hauptursache dafür ist das man-gelnde Vertrauen der Menschen in die Politik und diemangelnde Verlässlichkeit dieser Regierung.
Diese Unsicherheit führt zu dem beklagten Konsumver-zicht bzw. zur Konsumzurückhaltung und letztlich auchzu geringeren Steuereinnahmen. Mittlerweile verzeich-nen wir über das Jahr gerechnet einen Verlust von520 000 Arbeitsplätzen. Wir haben mittlerweile die ge-ringste Beschäftigungsquote aller vergleichbaren Indus-trienationen.Zu einem anderen Thema, das vorhin bereits ange-sprochen wurde: Die Entwicklung der Energiepreisewirkt sich mittlerweile ebenfalls sehr nachteilig auf diewirtschaftliche Entwicklung und das wirtschaftlicheWachstum aus. Die Preissteigerungen – KollegeDr. Solms hat schon darauf hingewiesen – sind ganzüberwiegend auf politisches Handeln zurückzuführen.Ein Anteil von circa 40 Prozent an den Strompreisen istpolitisch bzw. staatlich veranlasst.
Ich fand es schon niedlich, am Sonntagabend von derFrau Lemke zu hören, dass man sich jetzt auch diesemProblem widmen wolle. Das hat sie jedenfalls im Fern-sehen so dargestellt. Schauen Sie sich nur einmal an,welches ungeheure Subventionsgebäude sich infolge desEEG neu aufbaut. Schauen Sie sich einmal die vielenWindparkgesellschaften an.
Aufgrund der Steuersubventionen, die hierfür gewährtwerden, handelt es sich zum größten Teil um Abschrei-bungs- und Verlustzuweisungsgesellschaften. Wichtig istIhnen aber nur, dass ein Thema grün angestrichen ist.Dann ist alles akzeptabel, dann gelten keine ordnungs-politischen Grundsätze mehr.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Haus-halt erfüllt nur auf dem Papier die Forderungen desArt. 115 des Grundgesetzes, gemäß dem die Investitio-nen höher sein müssen als die Nettokreditaufnahme.Durch das Einstellen von völlig unrealistischen Privati-sierungserlösen in Höhe von 15 Milliarden wird die Net-tokreditaufnahme künstlich niedrig gehalten. Ich habevorhin auf die Aussage des Bundesrechnungshofes hin-gewiesen. Sie verscherbeln im Moment das letzte Tafel-
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Bartholomäus Kalbsilber, um mit Buchungstricks noch einigermaßen beste-hen zu können.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne.
Herr Kalb, ich möchte Sie fragen, wie Sie zu dem
Vorschlag von Ministerpräsident Stoiber, eine 5-pro-
zentige Kürzung der Subventionen vorzunehmen, ste-
hen und ob Sie sich für den Fall, dass Sie sie befürwor-
ten, darüber im Klaren sind, was das bedeutet. Es würde
einen Baustopp auf der Museumsinsel, Kürzungen beim
Roten Kreuz, bei UNICEF, bei internationalen Kontak-
ten, bei der Sportförderung und bei der Bildung nach
sich ziehen und bis hin zu geringeren Mitteln für die Be-
kämpfung der Schwarzarbeit führen. Ich möchte diese
Liste nicht fortsetzen, aber das hätte wirklich dramati-
sche Folgen, insbesondere auch bei der Rente. Das
schneidet auch deshalb so dramatisch ein, weil, wie wir
beide ja wissen, ein sehr großer Anteil des Haushaltes
aus Pflichtaufgaben besteht und deshalb hinsichtlich
einer globalen 5-Prozent-Kürzung wenig Spielraum be-
steht. Wie stehen Sie also dazu?
Wir werden erstens hier im Bundestag als Mitgliederdes Haushaltsausschusses den Bundeshaushalt sehr sorg-fältig beraten und unsere eigenen Vorschläge einbringen,so wie es Kollege Austermann angekündigt hat.
Zweitens. Darüber hinausgehende Vorschläge ma-chen ja nur einen Sinn, wenn sie auch aufgegriffen wer-den. Diese sind also als ein Hinweis des bayerischen Mi-nisterpräsidenten bzw. des Parteivorsitzenden der CSUan die Bundesregierung zu verstehen, dass man bereitist, gemeinsam größte Kraftanstrengungen zu unterneh-men, um die öffentlichen Finanzen insgesamt wieder inOrdnung zu bringen.
Das setzt aber voraus – das wird immer unterschlagen –,dass diejenigen, die zurzeit in der Verantwortung stehenund Mehrheiten auf Bundesebene organisieren können,dazu auch bereit sind. Eine entsprechende Bereitschaftkann ich aber weit und breit nicht erkennen. Das würdenatürlich einschneidende Maßnahmen bedeuten, überdie sich die großen demokratischen Kräfte im Lande ei-nig sein müssten. Wir werden in diesem Lande noch un-ter großen Schmerzen erhebliche Sanierungsmaßnah-men vornehmen müssen, wenn wir mit unserer – vorallem Ihrer – Aussage ernst machen wollen, dass dieLasten nicht in die Zukunft verschoben werden sollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, trotz anderslautender Bekundungen des Finanzministers wirdDeutschland auch im nächsten Jahr den Stabilitätspaktverletzen.
Die Einhaltung des 3-Prozent-Kriteriums ist 2005nicht möglich. Dazu kommt, dass auch das Kriteriumdes Schuldenstandes weit überschritten werden wird.Mit rund 66 Prozent wird er eine Höchstmarke errei-chen. Vermutlich wird Deutschland 2005 das einzigeLand im Euroraum sein, das in so eklatanter Weise ge-gen den Maastricht-Vertrag verstößt.
Sie sind dabei, den Wachstums- und Stabilitätspaktauszuhöhlen. Sie fordern neue Elemente und länderspe-zifische Betrachtungen. Nötig sind aber nicht neue Be-trachtungsweisen, sondern nötig ist ein klares und über-schaubares System, das jeder verstehen kann und durchdas sich die Mitgliedsländer gleich behandelt fühlenkönnen.Im Entwurf für 2005 sind nicht nur die Einnahmendes Bundes zu hoch, sondern auch die Ausgaben zuniedrig angesetzt. Kollege Austermann hat bereits aufdie Folgen von Hartz IV und anderen Maßnahmen hin-gewiesen. Ein ganz großes Problem ist die dramatischsinkende Investitionsquote. Wenn die Investitionsquotenur noch bei etwa 8,5 Prozent liegt, ist das alarmierend.Das führt zu einem Substanzverlust in ungeheurem Aus-maß in diesem Lande.
Sie alle wissen, dass wir eine Investitionsquote des Bun-des von im Schnitt 12,5 bis 13 Prozent bräuchten, umden Substanzerhalt zu gewährleisten.
Wer nicht ausreichend investiert, gefährdet die Zukunft;denn er spart nicht, sondern verschiebt Lasten in die Zu-kunft. Aus dem bäuerlichen und dem handwerklichenBereich weiß man, wie schwer es für Betriebsüberneh-mer ist, wenn vor der Betriebsübergabe nicht ausrei-chend investiert worden ist, wenn die Betriebe nicht zu-kunftsfähig gemacht worden sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Institutder deutschen Wirtschaft hat vor kurzem die Bundesre-gierung zitiert, und zwar wie folgt:Laut Angaben der Bundesregierung sind geradeacht von zehn Autobahnkilometern uneinge-schränkt befahrbar, von den Bundesstraßen sogarweniger als 70 Prozent. Hinzu kommt, dass sichjede achte Brücke in einem kritischen Bauzustandbefindet. Insgesamt entsteht der Volkswirtschaft
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Bartholomäus Kalbdurch die resultierenden Staus ein geschätzter Scha-den von bis zu 100 Milliarden Euro pro Jahr.
Das belegt, wo die Probleme sind, wo Sie falsch han-deln, wie falsch Sie die Schwerpunkte setzen. Die Fern-straßenfinanzierung ist heruntergefahren und herunter-gewirtschaftet worden. Ich will jetzt mangels Zeit nichtüber die Maut und das Mautdebakel reden. Sie erwartenfür nächstes Jahr 3 Milliarden Euro mehr Einnahmen,aber Sie reduzieren die Ausgaben für den Verkehrs-wegeausbau.Das Thema Verlässlichkeit Ihrer Politik, auch gegen-über Partnern und gegenüber uns, etwa was die Einigungim Vermittlungsausschuss im Bereich Landwirtschaftund die Eigenheimzulage betrifft, ist von meinen Vorred-nern bereits angesprochen worden. Mit Leuten, die sichso schnell von Vereinbarungen verabschieden, ist es na-türlich sehr schwer, erneut zu Vereinbarungen zu kom-men. Bekanntlich bestehen Kompromisse immer ausGeben und Nehmen beider Seiten. Dann muss man aberauch einstehen für das, was man sich gemeinsam vorge-nommen hat.
Auch über die Folgewirkungen einer verfehltenSteuerpolitik – ich nenne beispielsweise die Mineralöl-steuer und die Ökosteuer – muss man reden. Schauen Siesich die Probleme im Zusammenhang mit dem Tank-tourismus an, die wir in allen Grenzregionen haben.Hier müssen Sie etwas tun. Nicht nur die Tankstellenbe-sitzer in den Grenzregionen sind die Leidtragenden.Auch Sie gehören dazu, weil Ihnen unzählige Steuer-milliarden praktisch durch die Finger gleiten.
Herr Kollege Kalb, denken Sie bitte an die Redezeit.
Herr Präsident, ich bitte Sie um jenes Maß an Gnade
und Nachsicht, das auch meiner Vorrednerin gewährt
worden ist.
Das sage ich auch ohne entsprechende Aufforderung
gerne zu. Ich bitte aber genauso um Verständnis, dass ich
diese Nachsicht nicht nur wohlwollend, sondern auch
gleichmäßig verteilen muss.
Herr Präsident, ich werde mich bemühen, sehr bald
zum Ende zu kommen.
Wie es mit der Berechenbarkeit und der Verlässlich-
keit der Politik aussieht, wird auch an einem anderen
Beispiel deutlich. In Ihrer Regierungszeit wurden im
Bundestag 90 Gesetze beschlossen, die das Steuerrecht
ändern. Da weiß doch niemand mehr, woran er ist. Was
wir brauchen, ist wieder eine Berechenbarkeit und eine
Verlässlichkeit der Politik.
Die eine oder andere Ungereimtheit kann vielleicht so-
gar hingenommen werden. Denn es ist besser, berechen-
bar und verlässlich zu sein, als ständig neu zu verun-
sichern.
Lieber Herr Kollege Poß, wenn Sie ständig neue Dro-
hungen – siehe Mindeststeuer, Erbschaftsteuer und Ver-
mögensteuer – in die Welt setzen, dann kommt kein
Geld zurück; denn die Menschen sind unter diesen Vo-
raussetzungen nicht bereit, zu investieren und Arbeits-
plätze zu schaffen. Kündigen Sie nicht immer eine Erhö-
hung der Erbschaftsteuer an! Verständigen wir uns doch
auf einen kleinen Teil: Nehmen Sie unseren Vorschlag,
dass Erben von Unternehmen die Chance haben sollten
– diesen Vorschlag hat Herr Oetker gestern unterstützt –,
sich die Erbschaftsteuer sozusagen zu verdienen, indem
sie innerhalb von zehn Jahren investieren, Existenzen si-
chern und Arbeitsplätze schaffen. Die Menschen sollten
sich nicht ständig damit beschäftigen müssen, wie sie
der Steuer entkommen können, sondern damit, wie sie
investieren und wie sie zur Zukunftsfähigkeit unseres
Landes beitragen können.
Herzlichen Dank.
Es gehört zu den ehernen Gesetzen dieser Debatte,
dass die sprechenden Kollegen die Nachsicht und den
Großmut des Präsidiums regelmäßig anzweifeln. Ich
muss noch einmal darauf aufmerksam machen, dass die
Großzügigkeit des Präsidiums immer auf Kosten der
nachfolgenden Redner der gleichen Fraktion geht. Ich
bitte das zu berücksichtigen, wenn wir gelegentlich et-
was hartnäckig auf der Einhaltung der angemeldeten Re-
dezeiten bestehen.
Nun hat die Kollegin Waltraud Lehn für die SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Bundeshaushalt 2005 istwirklich kein Schönwetterhaushalt. Wie viele europäi-sche Staaten befinden wir uns aufgrund der dreijährigenStagnation in schwierigem Fahrwasser. Aber unser Bootist stabil, die Mannschaft ist hervorragend
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Waltraud Lehnund außerdem ist Land in Sicht. Die schwierigsteStrecke liegt, wie Sie wissen, hinter uns. Jetzt kommt esdarauf an, Kurs zu halten.Deutschland ist ein starkes Land. Es gibt kein Land,in dem ich lieber leben möchte.
Ich glaube, das geht den meisten Menschen in unseremLand so, auch wenn es gelegentlich einmal regnet oderschneit.
Deutschland hat es verdient, dass sich alle, auch Sie,Herr Austermann, und die Kolleginnen und Kollegenvon der CDU/CSU und der FDP, dafür einsetzen, dass esweiter aufwärts geht.
Deswegen hilft es nicht, wenn positive Entwicklun-gen, wie etwa das stark gestiegene Gewerbesteuerauf-kommen, kleingeredet werden. Deswegen ist es schäd-lich, wenn die Opposition im Vermittlungsverfahren, wieetwa bei Hartz IV, Verschlechterungen für die Menschendurchsetzt, sich dann aber aus der Verantwortung stiehlt.
Deswegen ist es verantwortungslos, wenn HerrAustermann so tut, als ob die von ihm vorgeschlagenenKürzungen um 7,9 Milliarden Euro mal eben so ohneFolgen für viele Tausend Menschen durchgeführt wer-den könnten.
Deswegen ist es abenteuerlich, wenn Herr Stoiber einepauschale Kürzung des Haushalts um 5 Prozent vor-schlägt.
Dies ist abenteuerlich; denn der Haushalt beinhaltet zumBeispiel auch die Tilgung von Schulden.
Frau Kollegin Lehn, Sie misstrauen sicher aus gutem
Grunde dem Funktionieren der Mikrofonanlage. Aber
im Augenblick funktioniert sie tatsächlich.
Ich dachte bislang immer, Herr Präsident – vielleichtkönnten Sie für diesen Zeitraum die Uhr stoppen –, essei möglich, dass sich die Technik dem Menschen an-passt. Ich stelle gerade fest, dass Sie eine andere Sicht-weise haben, möchte Ihnen aber ausdrücklich widerspre-chen.
Ich habe gerade ausgeführt, dass es abenteuerlich ist,wenn Herr Stoiber eine pauschale Kürzung um 5 Prozentvorschlägt.
Denn der Haushalt beinhaltet – das wissen Sie – zumBeispiel die Tilgung von Schulden oder die Sicherstel-lung der Renten. Das macht 50 Prozent der Ausgabenaus. Im Klartext sagt Herr Stoiber also nichts anderes,als dass an anderen Stellen um 10 Prozent gekürzt wer-den muss. Jetzt frage ich Sie: Wollen Sie wirklich10 Prozent weniger für Bildung und Forschung? WollenSie wirklich 10 Prozent weniger für die Kinderbetreuungoder das Erziehungsgeld? Wollen Sie 10 Prozent weni-ger für Verkehrsinvestitionen, 10 Prozent weniger für dieUmwelt? Wollen Sie das alles?So stelle ich mir die Zukunft Deutschlands nicht vor –und ich hoffe, auch niemand von Ihnen.
So gewinnt man das Vertrauen der Menschen nicht, auchnicht, indem man herumeiert und nicht konkret aus-spricht, welche Politik man will, so wie Merz, Merkel,Stoiber und Austermann das derzeit praktizieren.Wir glauben fest, dass es sich lohnt, das Vertrauender Menschen zurückzugewinnen.
Dazu müssen wir ehrlich und offen sein. Wir müssen sa-gen, wie die Situation ist und warum sie so ist.
Dazu gehört auch, zu sagen, was geht und was nichtmehr geht. Deshalb hat Gerhard Schröder die bei man-chen unpopuläre, aber ehrliche Agenda 2010 auf denTisch gelegt.
Trotz aller Kritik bleibt es unser erklärtes Ziel, denSozialstaat zu stabilisieren. Deshalb stärken wir dieGemeinden, die das Herz unserer Demokratie sind. Des-halb optimieren wir die Arbeitsmarktpolitik und dieBedingungen für Arbeitssuchende. Wir entlasten die Ge-meinden im Jahr 2005, also im nächsten Jahr, um6,5 Milliarden Euro,
damit sie frei sind, mehr Geld für Schulen und mehrGeld für die Betreuung von Kindern auszugeben.
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10996 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Die Koalitionsfraktionen danken dem Bundesfinanz-minister ausdrücklich dafür,
dass er es geschafft hat, die Verfassungsgrenze desArt. 115 des Grundgesetzes ebenso einzuhalten
wie aus heutiger Sicht das Maastricht-Kriterium einesStaatsdefizits von 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktesnicht zu überschreiten.
Ich wiederhole – auch für Sie, Herr Kampeter –: DerEntwurf des Bundeshaushaltes 2005 ist und bleibt ver-fassungsfest.
Die Summe der Investitionen beträgt 22,8 MilliardenEuro. Die Nettokreditaufnahme liegt mit 22 MilliardenEuro unterhalb dieses Betrages. Damit ist dem Art. 115Rechnung getragen.Ich will überhaupt nicht verschweigen, dass uns derUmfang der Privatisierung wehtut; denn wie meineNachbarn und Freunde oft zu sagen pflegen: Was wegist, ist weg!
Wer das aber kritisiert, muss auch sagen, woher er diefehlenden 15 Milliarden Euro nehmen will.
Ich kann mich der Kollegin Hajduk nur anschließen:Diese Antwort sind Sie uns bisher im Konkreten vollund ganz schuldig geblieben.
Die unseriösen Vorschläge von Herrn Austermann undHerrn Stoiber sind dabei wenig hilfreich. Ich sage sogar:Sie sind noch nicht einmal populistisch; denn so dummist unser Volk nicht.
Geradezu verwerflich ist dabei übrigens der Vor-schlag von Herrn Austermann, die Kohlebeihilfen zustreichen,
und das in einer Zeit, in der die Energiepreise, wie Siealle wissen, davonpreschen. Kein Subventionsbereich
ist zudem in den letzten 15 Jahren – das betraf auch IhreRegierungszeit – kontinuierlich so weit zurückgeführtworden wie dieser Bereich.
Geradezu menschenverachtend ist der Vorschlag vonHerrn Austermann – so überall nachzulesen –,
öffentliches Geld aus dem zweiten Arbeitsmarkt zu zie-hen. Er will das Fördern gerade zu dem Zeitpunkt ab-schaffen, zu dem wir von den Menschen mehr fordern.Pfui! sage ich da.
– Herr Kampeter, ich glaube, ich habe von Hartz IVmehr begriffen, als Sie jemals verstehen werden, selbstwenn Sie sich bemühen würden.Der Haushalt wird auch nach Abschluss der Beratun-gen verfassungsfest sein. Auftretende Mehrbelastungenwie etwa die Mehrbeteiligung des Bundes an den Kostender Unterkunft oder die Januar-Auszahlung des Arbeits-losengeldes II an bisherige Arbeitslosenhilfeempfängerwerden wir – das werden Sie erleben – in den Beratun-gen auffangen.
Wir sind gemeinsam mit dem Bundesfinanzministerfest entschlossen, 2005 wieder das Maastricht-Krite-rium von 3 Prozent einzuhalten, und wir werden esschaffen.
Unsere Reformen greifen, sie greifen insbesonderebei den Sozialversicherungen. Im ersten Halbjahr 2003verbuchten die Krankenversicherungen noch ein Defi-zit in Höhe von 2 Milliarden Euro. Im ersten Halbjahrdieses Jahres gibt es einen Überschuss
in Höhe von 2,5 Milliarden Euro.
Außerdem wird die anziehende Konjunktur die Steuer-einnahmen steigern.
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Waltraud Lehn
Bei den Kommunen zeigt sich das schon. So sind dieGewerbesteuereinnahmen der Gemeinden, wie Siedoch wissen, im ersten Vierteljahr 2004 um 8,4 Prozentund im zweiten Vierteljahr sogar um 14,5 Prozent imVergleich zum Vorjahr gestiegen. Diese Entwicklung istein Indiz dafür, dass es in unserem Land wirtschaftlichendlich wieder aufwärts geht.
Die deutsche Wirtschaft ist auf Erfolgskurs. Leiderhat sich dieser positive Trend
auf den Arbeitsmarkt noch nicht ausgewirkt. Erfah-rungsgemäß folgt die Beschäftigungsentwicklung demKonjunkturverlauf mit einer spürbaren zeitlichen Ver-zögerung. Nicht nur ich, sondern auch viele außerhalbder Politik – Menschen, die etwas von Wirtschaft undWirtschaftsverläufen verstehen – sind sehr zuversicht-lich, dass sich die Situation wesentlich verbessern unddie Konjunktur – unterstützt durch unsere Reform der ar-beitsmarktpolitischen Instrumente – in den nächsten Mo-naten auch den Arbeitsmarkt erreichen wird.Das Vertrauen der Bürger und der Investoren in dieZukunft muss weiter gestärkt werden. Dazu tragen un-sere Reformmaßnahmen und die Verlässlichkeit desBundeskanzlers Gerhard Schröder bei. Sie stehen ganzim Gegensatz zu Ihrem Herumeiern und Mal-hier-und-dort-eine-Nebelkerze-Werfen. Sie schauen nur, wie rea-giert wird, um dann, sobald sich auch nur der leisesteHauch von Kritik zeigt, sofort wieder wegzutauchen.
Auch wenn wir hier eine Debatte im Deutschen Bun-destag führen, möchte ich anmerken, dass eine gehörigePortion an Mut und Zuversicht auch und insbesondereden Medien zukommt. Ich glaube, wir könnten alle mit-einander froh sein, wenn das Glas öfter mal als halb vollstatt immer nur als halb leer beschrieben würde.
Haushaltskonsolidierung ist und bleibt ein herausra-gendes finanzpolitisches Ziel, um ein solides Fundamentfür die Zukunft zu schaffen. Wir haben den Haushalt seitAntritt der rot-grünen Koalition konsequent konsolidiertund wir setzen diesen Kurs auch fort. So sind die Ausga-ben im Entwurf für das Jahr 2005 trotz der viel höherenArbeitsmarktausgaben sogar um rund 1,6 MilliardenEuro niedriger als 1998. Hier ist also insgesamt, berei-nigt um reine Umschichtungen, sogar ein Rückgang zuverzeichnen. Im Zeitraum von 2003 bis 2008, also überfünf Jahre, steigen die Ausgaben nur um 1,3 Prozent.
Im Jahresdurchschnitt macht das lediglich ein ViertelProzent aus – etwas, was Sie in den 16 Jahren, in denenSie an der Regierung waren, nicht ansatzweise erreichthaben.
Dadurch geht der Anteil der Bundesausgaben amBruttoinlandsprodukt natürlich kontinuierlich weiterzurück.Im Haushalt findet die Verwirklichung der zweitenStufe der Subventionskürzungen nach der Koch/Stein-brück-Liste ihren Niederschlag. Außerdem werden dieKürzungen von immerhin rund 2 Milliarden Euro, diebei den Beratungen während des letzten Haushalts be-schlossen worden sind, weiter fortgeschrieben.Wachstum und Konsolidierung bedingen einander.Ohne angemessenes Wachstum kann es keine dauer-hafte Reduzierung der öffentlichen Defizite geben. DieKonsolidierung muss deshalb von einer Strategie derWachstumsförderung begleitet werden. Hier setzen wirvor allem auf die Erhöhung der Kaufkraft und damit derBinnennachfrage, auf das Stärken der Städte und Ge-meinden
und auf die Bereiche Forschung und Bildung.Für das Investitionsprogramm zur Ausweitung derZahl der Ganztagsschulen werden wir trotz der schwieri-gen Haushaltslage auch im Jahr 2005 wieder Mittel inHöhe von rund 1 Milliarde Euro bereitstellen.
Die Eigenheimzulage wollen wir gänzlich streichen. Dieso eingesparten Mittel sollen für eine Innovationsoffen-sive zur nachhaltigen Stärkung Deutschlands als Wissen-schaftsstandort und als Bildungsstandort eingesetzt wer-den. Das sind beim Bund im nächsten Jahr zwar nur95 Millionen Euro; dieser Betrag steigt aber in den Fol-gejahren kontinuierlich bis zu einer Größe von 6 Milliar-den Euro an.Die Verkehrsinvestitionen des Bundes belaufen sichim Jahr 2005 auf 10,8 Milliarden Euro. Trotz der not-wendigen Konsolidierungen, die wir vornehmen, stehendamit 2005 sogar mehr Mittel für den Verkehrswegebauzur Verfügung als im Vollzug des laufenden Jahres.Wir stärken den Aufschwung schließlich auch mit derletzten Stufe der Steuerreform. Sie entlastet die Bürgerum weitere 7 Milliarden Euro. Dadurch wird die Kauf-kraft gestärkt. Auch an dieser Stelle will ich mit Blickauf die Diskussionen, die in den nächsten Wochen anste-hen, deutlich darauf hinweisen: Die SPD-Fraktion, dierot-grüne Regierungskoalition hat eine Senkung desSpitzensteuersatzes auf 45 Prozent vorgeschlagen unddiesen Vorschlag hier auch so eingebracht. Es waren
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Waltraud Lehnjedoch Sie, die im Vermittlungsausschuss dafür gesorgthaben, dass er auf 42 Prozent gesenkt wird.
Das müssen Sie also verantworten und auch einmal sa-gen.
Sie müssen auch einmal sagen: Nein, wir geben unsnicht damit zufrieden, die Ärmeren besser zu stellen, dieGeringverdienenden besser zu stellen, sondern wir wol-len auch denjenigen, die es gar nicht nötig haben, nochetwas geben.
Der Bund der Steuerzahler hat am 14. Juli dieses Jah-res wieder kritisiert, dass die Bürgerinnen und Bürger ihrEinkommen bis genau zu diesem Datum an den Staat ab-geliefert hätten
und erst ab dem 15. Juli bis zum Jahresende für dieeigene Kasse arbeiten dürften. Das ist eine gezielteVolksverdummung und Stimmungsmache durch HerrnDäke.
– Wenn Sie behaupten, dass das die Wahrheit ist – hörenSie gut zu, Herr Kampeter! –, muss ich Ihnen sagen: Sokann eigentlich nur jemand reden, dem der Sozialstaategal ist.
So redet jemand, dem bewährte Begriffe wie „Solidar-prinzip“ und „Generationenvertrag“ ein Dorn im Augesind.
Wer ist denn der Staat? Wo bleiben denn diese angeb-lich mehr als 50 Prozent des abgelieferten Einkommens,die zudem, wie Sie selbst wissen, böswilligerweise auchnoch viel zu hoch veranschlagt sind? Der größte Teil derBeiträge und Steuern wird doch zur Absicherung derMenschen verwendet.
Der Krankenkassenbeitrag dient der Gesundheitsvor-sorge der Menschen. Er fließt doch nicht der Bundes-kasse zu. Damit finanzieren wir keine Parlamente undkommunalen Vertretungen, Kindergärten und Schulen.Er unterliegt weitgehend der Selbstverwaltung und da-mit dem Einfluss der Menschen.
Weiß der Bund der Steuerzahler das nicht? Weiß HerrKampeter das nicht? Weiß die CDU/CSU das nicht?
Betrachten wir den Rentenversicherungsbeitrag. Die-ser deckt die Alterssicherung der Versicherten bei wei-tem nicht ab.
Die Renten sind nur finanzierbar, weil sich der Bundjährlich mit 80 Milliarden Euro aus dem Steueraufkom-men daran beteiligt.
Ein Drittel – bei 100 Euro sind das 33 bis 34 Euro – legtder Staat, legen wir durch unseren Haushalt dazu. DiesesGeld fließt also an die Bürger zurück.
Es verschwindet nicht in irgendwelchen schwarzen Lö-chern,
die Herr Kampeter ausgemacht haben will.Die Realität ist vielmehr: Unser Staat hat derzeit zugeringe Einnahmen, während die Ausgaben inzwischenwirklich auf das Notwendige heruntergefahren wordensind.
Wir wollen den Sozialstaat erhalten. Dafür benötigen wiraber auch Einnahmen. Deshalb ist uns die Bekämpfungvon Schwarzarbeit, von Steuerhinterziehung und Um-satzsteuerbetrug ein wichtiges Anliegen.
Nach Schätzungen werden dem Staat dadurch zweistel-lige Milliardenbeträge vorenthalten. Wir werden mit al-lem Nachdruck darauf hinwirken, dass dieser Sumpfausgetrocknet wird. So wird sich die Einnahmesituationdes Staates auch an dieser Stelle deutlich verbessern las-sen.
Die Opposition hat in ihrer Regierungszeit nicht nurjahrelang versagt, sondern viele – ich sage: zu viele –Änderungen unangemessen hinausgezögert oder garnicht erst angepackt. Wir haben die für unser Land wich-tigen Strukturreformen auf den Weg gebracht, die jetztzu wirken beginnen.
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Waltraud LehnEin Beispiel ist die gesetzliche Krankenversiche-rung. Hier war die Opposition wenig hilfreich. Sie hatuns im Vermittlungsausschuss manches Konzept ver-wässert oder zerschlagen. Sonst wären wir noch weiter.
Sie können Ihre Verantwortung beweisen, indem Sieunseren Vorschlägen jetzt zustimmen. Sie können auchselbst konkrete Vorschläge machen, über die wir mit-einander reden müssen. Aber dann müssen es auch Vor-schläge sein, die in Ihren eigenen Reihen Bestand haben.Meine Damen und Herren, Reformen und Verände-rungen, die die Bürger nicht begeistern und der SPDauch bittere Wahlniederlagen beschert haben, stehen imBlickpunkt der Öffentlichkeit und der Menschen in un-serem Land. Es ist nicht gut, dass Sie dabeistehen undnoch nicht einmal klammheimlich, sondern dreist-offenSchadenfreude zeigen. Weil diese Reformen unpopulärund schwer zu vermitteln sind, taktieren Sie, blockierenSie, verwirren Sie und verweigern Sie sich,
statt zumindest zu den wenigen Entscheidungen zu ste-hen, an denen Sie beteiligt waren; und wenn Sie beteiligtwaren, dann immer nur, um die Änderungen für dieMenschen in Deutschland noch zu verschärfen. Ichnenne nur die Stichworte Praxisgebühr oder Zahnersatz.
Frau Kollegin Lehn, Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.
Ich bin sofort fertig.
Sie werden sehen, dass unsere Reformen zunehmend
greifen. Die Einnahmen werden steigen. Die Sicherung
des Standortes Deutschland wird wieder zur Sicherung
bestehender und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze füh-
ren. Daran arbeiten wir. Das werden wir schaffen. Sie
werden dann dort sitzen bleiben, wo Sie hingehören: in
der Opposition.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jochen-Konrad
Fromme von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Eichel, Sie haben vorhin mit einer fulmi-nanten Rede, in der Sie überhaupt nicht über den Haus-halt gesprochen haben, geschickt vom Hauptproblemdieses Haushalts abgelenkt.
Ich muss schon sagen: Es ist erschreckend, dass außerder Kollegin Hermenau niemand hier über dieses Haupt-problem des Haushalts gesprochen hat, nämlich über dasstrukturelle Defizit. Daraus ergeben sich doch die Pro-bleme. Das strukturelle Defizit lag 1998 bei 12 Prozent;jetzt liegt es bei 15,5 Prozent, wenn man die 40 Milliar-den Euro umfassenden Risiken einmal realistisch be-rücksichtigt,
die von Experten, so beispielsweise vom DIW, – das istnicht meine Zahl – gesehen werden. Der Gesamthaushaltsah 1998 Ausgaben von 233,6 Milliarden Euro vor. Jetzthaben wir 258,3 Milliarden Euro; das ist ein Plus von9,3 Prozent. Wir hatten Einnahmen von 204,6 MilliardenEuro und haben jetzt 236 Milliarden Euro; das ist eineSteigerung von mehr als 15,6 Prozent. Meine Damenund Herren, Sie haben es geschafft, in Ihrer Regierungs-zeit das strukturelle Defizit wahnsinnig zu erhöhen; da-rin liegen die Probleme.
Die Kreditaufnahme ist doch nur die Folge davon, dassSie den Haushalt anders nicht mehr decken können. Ichwill es einmal einfach sagen: Die Einnahmen sind vielkleiner als die Ausgaben, und die Lücke ist unter IhrerRegie immer größer geworden; deshalb haben Sie solcheProbleme. Wenn dann Herr Eichel von „ein paar Risi-ken“ spricht, die die Experten mit bis zu 35 oder40 Milliarden Euro beziffern, kann ich nur sagen: DenAusspruch mit den „Peanuts“ hatten wir schon einmal;aber das hilft uns nicht weiter.
Sie haben davon gesprochen, dass wir uns beim Sub-ventionsabbau nicht konstruktiv verhalten hätten. Ichfrage Sie, Herr Eichel: Was hätten Sie denn in diesemJahr getan, wenn wir alles mitgemacht hätten? Dann hät-ten Sie gar kein Futter mehr, um die Lücken dieses Jah-res zu schließen.
Das Zweite ist: Subventionsabbau kann man doch nurmachen, um Strukturveränderungen zu finanzieren,
aber nicht, um laufende Ausgaben zu decken.
Sie benehmen sich so wie der Bauer, der sein Saatgutaufisst.
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Jochen-Konrad FrommeUnd im nächsten Jahr wundern Sie sich, wenn Sie denHaushalt nicht mehr unterfüttern können. Das ist dochIhr wahres Problem und nichts weiter.In diesem Haushalt kulminieren Ihre Probleme beider Arbeitsmarktpolitik, bei der Wirtschaftspolitik, beider Finanzpolitik und bei der Haushaltspolitik. MeineDamen und Herren, Sie stehen vor einem Riesenloch;das hat ja auch die Kollegin Hajduk gegenüber derPresse gesagt, hier hat sie es sich nicht mehr getraut. Sieschieben die Schuld für die schlechte Lage auf eine drei-jährige Stagnation. Aber Sie verschweigen Ihren eigenenBeitrag, den Sie zu dieser wirtschaftspolitischen Ent-wicklung geleistet haben.
Meine Damen und Herren, wer jedes Jahr im Durch-schnitt 0,5 Prozent der Konsumkraft weggenommen hat,der muss sich nicht wundern, wenn der Konsum nichtmehr funktioniert. Wenn die Leute kein Geld mehr ha-ben, dann können sie auch nichts kaufen oder keineReise mehr machen. Wenn sie nichts mehr ausgebenkönnen, dann gibt es keine Nachfrage mehr. Wenn eskeine Nachfrage gibt, gibt es keine Arbeit, und wenn eskeine Arbeit gibt, können keine Leute beschäftigt wer-den. Wenn keine Leute beschäftigt werden, dann gibt eshohe Sozialaufwendungen und niedrige Steuern; genaudas ist der Punkt. Wenn es dann um Steuern geht, lügenSie sich noch etwas in die Tasche, wie die Tabaksteuergezeigt hat.
Einen großen Beitrag haben Sie durch die Achter-bahnfahrt bei der Körperschaftsteuer geleistet. Wir hät-ten einmal die Großkonzerne in dieser Art und Weisevon der Körperschaftsteuer entlasten sollen, dann hätteich Ihre Reaktion sehen wollen. Das ist die soziale Aus-gewogenheit der Kollegin Lehn, die hier eben so einge-klagt wurde.Ich will es noch einmal sagen: 1998: 18,5 MilliardenEuro Körperschaftsteueraufkommen, 1999: 22,3 Milliar-den Euro, 2000: 23,6 Milliarden Euro – das war die Stei-gerung aus dem Aufschwung, den Sie übernommen ha-ben; denn die Gewinne kommen ja ein bisschen später –,2001: minus 0,4 Milliarden Euro, 2002: 2,9 MilliardenEuro, 2003: 8,3 Milliarden Euro, 2004: 12,4 MilliardenEuro, für 2005 rechnen Sie mit 16,6 Milliarden Euro– die kommen nicht –: Das sind 70 Milliarden Euro Kör-perschaftsteuer, die den öffentlichen Haushalten entgan-gen sind. Welche Einschnitte in das Sozialsystem hättensie sich ersparen können, wenn Sie es richtig gemachthätten!
Nun drohen Sie schon wieder mit den nächsten Steu-ererhöhungen: Die Grünen denken über einen Ausbauder Ökosteuer nach, die SPD will die Erbschaftsteuer er-höhen. Bei der Tabaksteuer kommen Sie jetzt vielleichtzur Vernunft. Das ist Ihr Haushalt; er ist jenseits jegli-cher Realität.Herr Eichel, Sie machen den größten Fehler, den einKämmerer machen kann: Sie veranschlagen die Ausga-ben zu niedrig und die Einnahmen zu hoch und wundernsich, dass die Realität Sie einholt. Ich kann Ihnen sagen:Jeder Kassenwart eines kleinen Vereins, der dies überdrei Jahre so gemacht hätte wie Sie, wäre längst gefeuertworden.
Sie lügen sich doch etwas in die Tasche. DurchHartz IV soll es einen Nachschlag für die Kommunengeben und Sie sagen, Sie wollten das mit einer globalenMinderausgabe finanzieren. Das ist erstens am Parla-ment vorbei und zweitens Augenwischerei, um denHaushalt formal mit Art. 115 des Grundgesetzes kompa-tibel zu machen. In Wahrheit wissen Sie doch schon,dass das gar nicht möglich ist.
Herr Kollege Fromme, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Hajduk?
Aber gern.
Bitte schön, Frau Hajduk.
Herr Kollege Fromme, ich höre Ihnen sehr konzen-triert und gerne zu.
Sie machen uns zum Vorwurf, dass wir angeblich dieHaushaltslücke strukturell ausgeweitet haben.
Daneben haben Sie gerade auch noch einmal die Öko-steuereinnahmen erwähnt, die Sie kritisch sehen. Siewissen, dass wir damit einen Zuschuss für die Rente fi-nanzieren, um die Lohnnebenkosten im Zaum zu halten.Es ist richtig, dass wir unter unserer Verantwortungstrukturell einen höheren Bundeszuschuss zur Renten-versicherung durchgesetzt haben, um die Kindererzie-hungszeiten besser anrechnen zu können. Dabei geht esum einen zweistelligen Milliardenbetrag. Das kann manals strukturelles Intervenieren ansehen.Ich muss Sie an dieser Stelle ganz konkret fragen undmöchte wissen: Wie verträgt sich Ihr Vorwurf bezüglichder strukturellen Lücke – Sie sagen, wir hätten die Aus-gaben strukturell ausgeweitet – mit den Plänen Ihrer ei-genen Partei, einen Betrag von über 22 Milliarden Eurofür die Rentenfinanzierung zu fordern, um weitere Zei-ten der Kindererziehung bei der Rente anrechnen zukönnen? Nehmen Sie bitte genau zu diesem Ziel Stel-
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Anja Hajduklung. Wollen Sie das anders erreichen oder halten Siediese Forderung der Union an dieser Stelle für falsch?
Frau Kollegin Hajduk, das zeigt doch Ihre statischeBetrachtungsweise. Wenn Sie zum Beispiel unsere Vor-stellungen bezüglich des Arbeitsmarkts nicht blockierenwürden
und den Menschen die Kaufkraft über die Ökosteuer, dieVersicherungsteuer und Ähnlichem nicht weggenommenhätten, dann hätten wir eine dynamischere Wirtschaft,aus der man das finanzieren könnte. Das ist doch Ihr Irr-tum: Sie nehmen den Leuten das Geld an der Stelle weg,an der es in den Kreislauf kommen könnte, um die Ent-wicklung zu beschleunigen. Das ist Ihr Problem.
Wenn man die richtige Dynamik in den Markt bringt– dazu sind Sie ganz offensichtlich nicht fähig; ansons-ten hätten Sie unter anderem unser Arbeitsmarktmoder-nisierungsgesetz nicht vom Tisch gefegt, sondern mitge-tragen, um für mehr Wachstum und Beschäftigung zusorgen –, dann kann man das auch finanzieren.
Jedes dritte Wort von Ihnen lautet „konsolidieren“.
Die öffentlichen Haushalte können auf Dauer nur auf derAusgabenseite konsolidiert werden. Hier haben Sie bisjetzt nichts fertig gebracht, sondern nur draufgesattelt.Sie sprechen immer von Nachhaltigkeit.Hohl und leer klingen einem heute die Nachhaltig-keitsphrasen von 1999 und 2000 im Ohr, als Eichelund vor allem seine grünen Mitstreiter Stein undBein schworen, sie wollten das Krebsgeschwür derStaatsverschuldung ausmerzen, weil Verschuldungnichts anderes als „Raubbau an den Lebenschancenkünftiger Generationen“ sei. Am Ende des aktuel-len Planungshorizonts … kalkuliert der Bundes-finanzminister jetzt 20 Milliarden neue Krediteein … Die nackten Zahlen belegen ungeschminktdie Kapitulation der rot-grünen Finanzpolitiker.Meine Damen und Herren, das ist Ihre Nachhaltigkeit.Das war übrigens ein Zitat Ihres Kollegen OswaldMetzger und nicht meine Erfindung.
Sie haben Ihre eigenen Konsolidierungsziele völligaufgegeben. Es war schon die Rede davon, dass Sie 2006einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen wollten. Das istjetzt überhaupt kein Thema mehr. Ihre „Nachhaltigkeit“führt doch dazu, dass Tafelsilber in den Orkus des lau-fenden Haushalts geworfen wird. Mit welchen Folgengeschieht das? Die Postaktien, die Sie jetzt zur Finanzie-rung laufender Ausgaben einsetzen, waren doch dafürgedacht, die Versorgungslasten abzudecken.
Was passiert nun? Außerhalb der Bücher entstehen Las-ten in Milliardenhöhe, die der Bundeshaushalt in Zu-kunft abdecken muss. Das ist unverantwortlich gegen-über den zukünftigen Generationen. Sie verschleuderndas Tafelsilber, anstatt es wenigstens für strukturelleVeränderungen einzusetzen. Vielmehr werfen Sie es wiePerlen vor die Säue.
Sie verlagern damit die Risiken auf künftige Generatio-nen. Genau dagegen haben sich die Grünen immer aus-gesprochen.Am Haushalt vorbei haben Sie die Kohlesubventionen,die sowieso zu hoch sind, noch gestundet. Sie sind imHaushalt gebucht und gestundet, womit künftige Forde-rungen auf die nächsten Bundeshaushalte übertragenwerden. Für den Schacht Konrad haben Sie 1 MilliardeEuro Vorausleistung gegenüber der Wirtschaft zu erstat-ten. Sie tricksen mit dem ERP-Vermögen und so geht esimmer weiter. Zwischen Reden und Handeln liegen beiIhnen Welten.Sie sprechen vom Sparen; konsolidieren heißt ja spa-ren. Aber zeigen Sie mir mal in den einzelnen Etats, wowirklich gespart wird. Die „Bild“-Zeitung schreibt:„Eichel will Büromöbel für 96 000 Euro“. Ist das spa-ren?
Sie beschäftigen Heerscharen von Gutachtern und ent-lassen das Personal. Sie geben immer mehr Geld für Öf-fentlichkeitsarbeit in Form von Meinungskauf aus, weilSie glauben, dass die Experten, die Sie beschäftigen, gutüber Sie reden. Aber die Menschen werden Ihnen diesesnicht durchgehen lassen.
Ihr Jäger 90 – früher wurde immer der Jäger 90 als Fi-nanzierungsvorschlag angeführt – sind heute Eigenheim-zulage und Agrarsubventionen. Dazu kann ich Ihnen nursagen: Das ist so unglaubwürdig, wie es nur sein kann.Sie legen immer wieder Sparvorschläge vor, von denenSie genau wissen, dass sie nicht zum Zuge kommen, da-mit Sie auf dem Papier ausgeglichene Haushalte haben.Am Ende kommt es dann aber anders.
Dann gibt es noch den „handlungsfähigen“ Finanz-minister. Er hat schon im Juni dieses Jahres erklärt, einNachtrag sei erforderlich. Das ist übrigens ein Vorgang,der sich in den letzten drei Jahren Jahr für Jahr wieder-holt hat. Was ist denn der Sinn eines Nachtrages? Der
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Jochen-Konrad FrommeNachtrag soll einer Entwicklung entgegensteuern, diegegenüber der Verabschiedung des Haushaltes eingetre-ten ist. Nun haben Sie in einem Punkt Recht: Diese klas-sische Situation haben wir nicht; denn Sie wissen schonbei der Verabschiedung des Haushaltes, dass alleskrumm und schief ist und manipuliert. Deswegen müss-ten Sie eigentlich den Haushalt gleichzeitig mit einemNachtrag verabschieden.Was machen Sie? Sie erklären, ein Nachtrag sei erfor-derlich. Das wollen Sie im November machen, wenn dieSteuerschätzung vorliegt. Im November aber können Sieüberhaupt nicht mehr gegensteuern. Das ist rein buch-halterisches Nachvollziehen. Ist denn der Finanzministerin seinem Handlungsvermögen so schwach, dass er nichtmehr gegensteuern kann?
Herr Eichel, sind Sie nur noch in der Lage, am Ende dieBuchhalternase anzubringen, aber nicht mehr zu steu-ern? Dann kann ich nur sagen: Werfen Sie diesen Haus-halt in den Papierkorb! Bringen Sie endlich eine diskus-sionsfähige Grundlage in den Bundestag ein! Am bestensollte dies ein neuer Kollege machen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Lothar Binding von
der SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Debatte über den Haushalt bietet im-mer auch Gelegenheit, an diejenigen zu denken, denenes im Staat wirklich schlecht geht.
Es geht vielen Leuten nicht gut. Daran kann man erken-nen, worin die Aufgabe des Haushalts besteht, nämlichihn in seiner dienenden Funktion für Soziales, Umweltund Kultur zu entwickeln. Deshalb ist eine rein monetäreund finanzpolitische Betrachtung sicherlich nicht ziel-führend.
Natürlich gibt es Menschen, die für die Bekämpfungder Armut sofort eine Lösung haben. Sie sagen: Nehmtes von den Reichen! Diesen „superguten“ Ansatz hörenwir von Oskar Gregor Lafonsi oder auch vonGyfontaine. Diese beiden haben vor und nach der Mög-lichkeit, Einfluss zu nehmen und das zu tun, was sie pre-digen, immer die richtigen Ideen. Aber während sie imAmt waren, haben sie merkwürdigerweise versagt.
Ich habe mich – deshalb habe ich diese etwas selt-same Einleitung gewählt – etwas gewundert: HerrAustermann hat Hans Eichel vorgeworfen, nicht überden Haushalt geredet, sondern einen Themensalat for-muliert zu haben.
Als Herr Eichel über die Kommunen gesprochen hat, hatHerr Kampeter gefragt: Stehen sie auch im Bundeshalt?
Man erkennt etwas ganz Interessantes: Derjenige, derim Bund eine reine Fiskalpolitik macht, kann nicht amZiel ankommen. Das will ich gleich etwas genauer zei-gen. Wer sich nämlich ein bisschen mit Verschuldungund Neuverschuldung befasst, der wird sehen, dass imZusammenhang mit den Maastricht-Kriterien immerHans Eichel den Kopf hinhalten muss, und zwar nichtnur für den Bundeshaushalt, sondern auch für die Län-derhaushalte, die Kommunalhaushalte und die Sozial-kassen. Hans Eichel bekommt in Europa Prügel fürDinge, die möglicherweise andere Leute zu verantwor-ten haben.Wenn ich einmal mit diesem Zollstock messe, wiesich die Verantwortung bis 1998 verteilt,
dann sehen Sie, dass ich kein Schwarzarbeiter bin, abermit dem Zollstock umgehen kann. Man erkennt daransehr genau den Schuldenstand bis 1998.
– Ja, die Roten waren auch ein bisschen beteiligt. Wersensibel ist und genau hinguckt, erkennt auch, dass dieGelben immer dabei waren.
Man erkennt aber auch die eigentlich geringe Zusatzbe-lastung in den letzten Jahren.
Gleichwohl merkt man: Die Dimension der Vorbelastun-gen, die wir 1998 in diesem Staat zu übernehmen hatten,erfordert ganz andere Anstrengungen, als Sie sie sich je-mals vorgenommen haben.
Ich setze ein paar ganz einfache Schlaglichter: IhreSozialpolitik lässt sich zusammenfassen mit dem Exis-tenzgrundlagengesetz. Jeder, der jetzt über Hartz sin-niert, sich darüber ärgert oder traurig ist, soll doch ein-fach dieses Gesetz einmal lesen. Dann weiß er, wo wirsozialpolitisch ankommen, wenn wir dieses Gesetz um-
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Lothar Binding
setzen. Die Zuverdienstregelungen sind vorhin schoneinmal erwähnt worden.Auch Ihren Vorschlag für das Kopfpauschalensystemmuss man sich einmal genauer anschauen. Das wäre eingravierender Eingriff in die Sozialgesetzgebung. Sie tunja so, als würden die Armen und die Reichen gleich be-handelt. Das klingt wunderbar, weil man ihnen scheinbargleich viel nimmt. Wer das als Sozialpolitik verkauft, dersoll den zweiten Blick wagen.Wer sich Ihre dritte große Idee, die merzsche Steuer-reform, anguckt, wird erkennen, dass Merz erstens ver-gessen hat, die Unternehmensteuerreform zu integrieren.Zweitens hat er vergessen, uns zu erklären, wie er dieseenormen Einnahmeausfälle im Bundeshaushalt über-haupt finanzieren will. Wir haben ja bereits gesehen, waspassiert, wenn wir diesen Weg gehen.
Jetzt will ich meinen Zollstock noch einmal ausklap-pen, weil wir eine „rote Phase“ hatten. Um deutlich zumachen, wie es aussähe, wenn Sie mit Schwarz-Gelb ander Regierung geblieben wären, habe ich diesen Teil desZollstocks einmal grob extrapoliert. Wir erkennen, dassdas nicht der richtige Weg sein kann.
Vorhin haben einige – ich glaube, Herr Meister wares – über die Körperschaftsteuer geredet. Sie haben ge-sagt, wir hätten Steuerschlupflöcher aufgerissen. AberSie wissen genau, dass die Körperschaftsteuer – diesekönnte man auch messen – vor unserer Reform demStaat nur geliehen war. Jeder Pfennig der Körperschaft-steuer, die Herr Waigel jemals eingenommen hat, mussteautomatisch nach einer gewissen Zeit, wenn an dieAktionäre ausgeschüttet wurde, immer komplett ausge-zahlt werden. Für mich waren diese so etwas wie heimli-che und nicht bilanzierte Schuldscheine von HerrnWaigel. Heute bilanzieren wir übrigens korrekt. Ebendeshalb stellen wir auch einen etwas anderen Haushaltauf, als Sie ihn damals vorgeschlagen haben.An dieser Stelle ist auch zu beweisen, dass wir sogarden Reichen nehmen und genommen haben. Jochen Poßoder Jörg-Otto Spiller haben das vorhin sehr schön amBeispiel Bad Homburg erklärt. Dort mussten 1997 plötz-lich mehr Steuern erstattet werden, als überhaupt einge-nommen worden waren. Komischerweise ist das heutenicht mehr so. Warum? Weil es weniger oder fast keineNullsteuermillionäre mehr gibt. Es ist absurderweise– das könnte auch Oskar Lafontaine irgendwannkapieren –
Das dritte Mal verkneife ich mir.Aber obwohl ich weiß, dass man mit jeder Zahl einDrittel seiner Zuhörer verliert, will ich doch noch sechsZahlen nennen. Das 100-Milliarden-Euro-Risiko Merkelist bisher nur ein Label; aber es hat einen konkreten Hin-tergrund. Frau Merkel hat irgendwie die Idee, 10 Milliar-den zusätzlich auszugeben für eine Steuerreform,40 Milliarden für eine Kopfpauschale, 22 Milliarden fürdie Anrechnung von Kindererziehungszeiten bei derRentenberechnung, 12 Milliarden für die Mindestrenteund 18 Milliarden für eine Kindergelderhöhung. Dasmacht zusammen 102 Milliarden. Ich frage: Wie willman das überhaupt finanzieren, wenn man sich überlegt,dass wir im Moment um 500 Millionen Euro und 1 Mil-liarde Euro kämpfen?
Hier geht es um den Faktor 100. Das Konzept liegt voll-kommen neben der Realität.Abschließend will ich etwas Positives sagen. Das,was mich besonders freut, ist, dass die CDU/CSU, diesich im letzten Jahr überhaupt nicht an den Haushaltsbe-ratungen beteiligt hat und sozusagen ausgezogen ist, indiesem Jahr zu den Beratungen wieder hereingekommenist.
Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Schirmbeck von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlichist das eine verkehrte Welt: Frau Lehn und Herr Poß vonder Regierungskoalition beschimpfen die Opposition.
Dabei sind Sie doch auf der besseren Seite. Sie sollen re-gieren. Das erwarten wir von Ihnen. Regieren Sie, ent-wickeln Sie schlüssige Konzepte, überzeugen Sie dieBevölkerung und setzen Sie diese Konzepte um!
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11004 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Georg SchirmbeckWas stellen wir an jedem Wahlsonntag fest? Sie kriegenan jedem Wahlsonntag eine volle Klatsche. Wenn Siedann dienstags oder mittwochs wieder hier sind, be-schimpfen Sie uns.
Herr Minister Eichel, Sie waren einmal Oberbürger-meister in Kassel.
Ich mache seit 27 Jahren Kommunalpolitik und habe zuden Kommunalpolitikern über alle Fraktionen hinwegein gutes Verhältnis und diese haben bei mir einen Ver-trauensvorschuss. Sie haben sich heute Morgen vor lau-fenden Fernsehkameras dazu verstiegen, den Kommu-nen anzukündigen – Herr Kollege Poß hat das nocheinmal unterstrichen –, dass wir, die kommunale Ebene,im nächsten Jahr um 6,5 Milliarden Euro entlastet wer-den.
– 6,6 Milliarden Euro, so kleinlich sind wir gar nicht. –Ich habe einmal ausgerechnet, was das für den LandkreisOsnabrück, in dem ich politische Verantwortung trage,bedeuten würde. Von den 6,6 Milliarden Euro entfieleein Zehntel auf Niedersachsen. Das wären 660 MillionenEuro. Auf den Landkreis Osnabrück entfiele ein Zwan-zigstel der Summe für das Land Niedersachsen, also einBetrag in Höhe von 32 Millionen bis 33 Millionen Euro.Ich sage Ihnen ehrlich: Wenn das eintritt, werden Sie so-fort zum Ehrenbürger im Landkreis Osnabrück gekürt.Das ist doch Fiktion, das ist dummes Zeug, was Sie hiererzählen! Die Realität ist, dass in Niedersachsen kaumein Landkreis bzw. eine Kommune den Haushalt aus-gleichen kann. Die Tendenz verschlechtert sich noch.Das ist doch die Realität.
Jetzt werden Sie fragen – das dürfen Sie auch –, waswir tun würden, wenn wir regieren würden, und welcheAlternativen wir hätten.
Die Realität ist doch, dass wir in Deutschland das Pro-blem haben, dass wir zu wenig Beschäftigung haben.
Wir ziehen uns zwar an den Arbeitslosenzahlen jeweilsam 4. oder 5. eines Monats hoch; aber in Wirklichkeit istviel entscheidender die Zahl der Menschen, die in Arbeitund Brot sind. Denn sie erbringen eine Wertschöpfung,sie zahlen Steuern und entrichten Beiträge zu den Sozial-versicherungskassen. Wir aber geben auf allen Ebenenüber 80 Milliarden Euro für die Verkleisterung der Ar-beitslosigkeit aus, nicht um sie zu beheben, sondern umdie Leute ruhig zu stellen. So ist doch die Realität.
Sie haben uns in der Vergangenheit große Konzepteangeboten. Ich erinnere mich noch an 1998. Einen Som-mer lang tanzte ein Herr Stollmann; anschließend, alsdas Kabinett gebildet wurde, war er zum Segeln in derSüdsee. Jetzt hat immerhin zwei Jahre lang ein HerrHartz getanzt. Herr Müntefering hat gesagt, Hartz müsseman langsam aus dem Gefecht ziehen. Herr Clement warzwischenzeitlich in Deutschland mit der Aktion „Team-arbeit für Deutschland“ unterwegs. Was hat das ge-bracht? Es hat viel gekostet, die Leute in die Irre geführtund die Beschäftigtenzahl in Deutschland ist zurückge-gangen. Das ist die Realität.Jetzt komme ich zu dem, was man tun kann. Ich binVorsitzender eines Vereins mit sieben Mitgliedern, derim letzten Jahr 169 Menschen, die im Durchschnitt ein-einhalb Jahre arbeitslos waren, vorbereitet hat, um sieüberhaupt in die Lage zu versetzen, Beschäftigung auf-zunehmen.
– Ich komme darauf zurück. – Der Landkreis Osna-brück, in dem ich Verantwortung trage, hat in den letz-ten zehn Jahren 7 000 vorher im Durchschnitt mehr alseineinhalb Jahre arbeitslose Menschen in Arbeit undBrot vermittelt. Davon sind über 65 Prozent heute nochin Beschäftigung.Einen Drehtüreffekt, wie Sie ihn vielleicht in Kasselerlebt haben, Herr Minister, in Verbindung mit dem ent-sprechenden kommunalpolitischen Desaster, das es dortgegeben hat, gibt es bei uns nicht. Das, was wir machen,gibt es nicht nur im Landkreis Osnabrück, sondern die-ses Beispiel wird auch in vielen anderen Kommunenaufgegriffen.
Unsere Arbeit hat im Ergebnis dazu geführt, dass wirnicht nur den 7 000 unmittelbar Betroffenen eine mensch-liche Perspektive geboten haben, sondern auch den Fami-lien, die in aller Regel dahinterstehen.Was haben wir eigentlich gemacht? Wir haben in diebetroffenen Menschen investiert, indem wir sie thera-piert und zum Arzt geschickt haben und indem wir un-terschiedlichste Aktionen durchgeführt haben. Alles zu-sammengerechnet haben wir im Kreishaushalt jährlich13 Millionen Euro gespart.Jetzt fragen Sie bestimmt, wer das alles bezahlt hat.Sicherlich ist das an der einen oder anderen Stelle auchdurch die Arbeitsverwaltung finanziert worden. Aber Siewerden auch feststellen, dass uns die Arbeitsverwaltungbzw. die Agentur für Arbeit, wie Sie sie inzwischenkünstlerisch umbenannt haben, oft genug Knüppel zwi-schen die Beine geworfen hat, weil sie uns nicht die er-forderliche Entscheidungsfreiheit gewährt hat, um denindividuellen Fall so bearbeiten zu können, wie es not-wendig ist.
Herr Kollege Schirmbeck, lassen Sie eine Zwischen-frage zu?
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004 11005
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Ich möchte keine Zwischenfragen beantworten. – Sie
können, so wie es die Arbeitsverwaltung macht, folgen-
dermaßen vorgehen: Sie bauen in Nienburg ein großes
Zelt auf einem Spargelfeld auf, schicken alle Langzeitar-
beitslosen dorthin und stellen nach zwei Tagen fest, dass
niemand mehr da ist. Sie können aber auch zielgerichtet
jeden einzelnen Langzeitarbeitslosen ansprechen, indivi-
duell etwas für ihn tun und ihn in die Situation bringen,
das, was Sie ihm mit christlicher Hand anbieten, auch
fairerweise annehmen zu können. Das ist Sozialpolitik
und hilft uns in Deutschland weiter, Herr Kollege
Binding. Wenn Sie uns in die sozialpolitische Ecke stel-
len wollen, dann weise ich darauf hin, dass unsere so-
ziale Marktwirtschaft das Produkt von CDU, CSU und
FDP ist. Darauf sind wir stolz.
Was brauchen wir in Deutschland in Wirklichkeit?
Heute Morgen wurde festgestellt, dass wir ein zweites
Standbein für den Aufschwung brauchen. Der Export
läuft; daneben brauchen wir ein weiteres Standbein. Herr
Minister, ich sage Ihnen, was an dieser Stelle notwendig
ist. Das zweite Standbein heißt Vertrauen.
Wir brauchen Vertrauen in die Handelnden und darin,
dass die beschlossenen Gesetze und getroffenen Verab-
redungen auch eingehalten werden. Wer investiert denn
in unserem Land, wenn er nicht weiß, ob er die Anlage
oder die Einrichtung, in die er investiert hat, in der nor-
malen Abschreibungszeit überhaupt betreiben kann?
Fragen Sie doch ihre rot-grüne Klientel, was Sie alles
machen. Sie verschrecken die Investoren im Land und
wundern sich, dass das eigentlich vorhandene Geld nicht
investiert wird. Zu mir kommen immer mehr Unterneh-
mer, die eine Idee haben und wissen, wie sie vorgehen
müssten, die sich aber dieses Theater erst einmal an-
schauen und die Sprechblasen anhören wollen statt zu
investieren.
Was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen. Der kleine
Sparer sagt sich: Ich weiß nicht, was morgen ist, ob ich
Arbeit habe und wie hoch meine Rente ausfallen wird. In
dieser Situation spart er weiter. Er bringt das Geld nicht
in den Wirtschaftskreislauf ein, obwohl er es ausgeben
könnte.
Das führt dazu, dass die Binnenkonjunktur und der Kon-
sum nicht angekurbelt werden. Das ist das konkrete Er-
gebnis des von Ihnen angerichteten Desasters.
Deshalb wiederhole ich: Das Wichtigste, das wir leis-
ten müssen, ist, dass die in Deutschland vorhandene Ar-
beit fairerweise denen angeboten wird, die heute keine
Arbeit haben, und zwar unter solchen Umständen, dass
sie dieser Arbeit überhaupt nachgehen können. Denn es
gibt in Deutschland Arbeit. In vielen Wirtschaftsberei-
chen gibt es keine Deutschen mehr. Dem Einwand, dass
dann die Arbeitskräfte aus Osteuropa kommen, halte ich
entgegen: Stellt euch einmal vor, die osteuropäischen
Arbeitskräfte, die bereits hier sind, würden streiken.
Dann würden ganze Wirtschaftsbereiche zusammenbre-
chen. Deshalb müssen wir die Arbeit fairerweise unserer
Klientel anbieten. In diesem Zusammenhang lässt sich
Vieles auf den Weg bringen.
Dass die Menschen Vertrauen in die Regierenden, in
die Handelnden bzw. in die haben, die handeln müssten,
ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass es in
Deutschland wieder aufwärts geht. Das geschieht am
besten dadurch, dass diese Regierung abtritt.
Herzlichen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Carsten Schneider von der SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kol-lege Schirmbeck, obwohl ich Ihre Rede sehr aufmerk-sam verfolgt habe,
habe ich keinen Bezug zu den aktuellen Haushaltspro-blemen und zu der heute anstehenden allgemeinen Fi-nanzdebatte erkennen können. Das zieht sich – das wer-den Sie sicherlich nicht gerne hören – wie ein roterFaden durch die Reden aller Abgeordneten Ihrer Frak-tion. Ich bedauere sehr, dass die heutige Finanzdebatteüber das Haushaltsjahr 2005, das für die Bundesrepublikund auch für die Regierung eine besondere Bedeutunghat, so beginnt. Ich wünsche mir eine Opposition, die ih-rer Verantwortung tatsächlich gerecht wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU– die Kollegen von der FDP nehme ich ausdrücklichaus –, Sie sind Ihrer Verantwortung schon im vorigenJahr nicht gerecht geworden, als Sie im Haushaltsaus-schuss nicht einen einzigen Änderungsantrag gestellt ha-ben. Das war Blockade und Arbeitsverweigerung purund ist leider eine Fortsetzung dessen, was Sie all dieJahre zuvor gemacht haben. Wir haben keine Antwortauf die Frage bekommen – Kollege Binding hat dies be-reits ausgeführt; man kann hier auch die „Welt amSonntag“ zurate ziehen, die wirklich kein sozialdemo-kratisches Blatt ist –, wie Sie Ihre Einsparvorschläge miteinem Gesamtvolumen von 100 Milliarden Euro finan-zieren wollen. Ich habe der Presse entnommen, dassHerr Austermann die Etatausgaben um 7,5 Milliar-den Euro kürzen will, während Herr Stoiber 12,9 Mil-liarden Euro vorschlägt. Wie viel und wo soll denn nunkonkret eingespart werden? Etwa bei der Land-wirtschaft? Oder ist sie wieder sakrosankt? Nichts ist
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11006 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Carsten Schneidererkennbar. Ich kann nur hoffen, dass Sie im Laufe derBeratungen – wir haben ja drei Monate Zeit – zu einerbesseren Einsicht kommen, Ihre Verantwortung wahr-nehmen und ihr auch gerecht werden.Nun zu den Zahlen und dem vom Kollegen Eichelheute Morgen vorgestellten Entwurf des Bundeshaus-halts 2005: Wir werden den Entwurf in den Ausschuss-beratungen sehr sorgsam prüfen und an der einen oderanderen Stelle, an der es sich anbietet, Änderungen vor-nehmen. Die Zeiten sind angesichts der wirtschaftlichenEntwicklung, insbesondere angesichts der Wachstums-schwäche in den vergangenen drei Jahren, die sich natür-lich auch auf die Einnahmesituation des Bundes und derLänder negativ ausgewirkt hat, und angesichts der Vor-belastung des Haushalts – ich erinnere nur daran, dasswir jedes Jahr 40 Milliarden Euro Zinszahlungen zu leis-ten haben – sehr schwierig.Kurz zu den Zahlen: Nach der Steuerschätzung vomMai dieses Jahres werden für 2005 Steuermindereinnah-men in Höhe von 9 Milliarden Euro erwartet. Wenn Sieim vorigen Jahr im Bundesrat Ihrer Verantwortung ge-recht geworden wären und an den entscheidenden Stel-len dem Subventionsabbau, der eine Verstetigung bzw.eine Verbreiterung der Einnahmebasis zur Folge gehabthätte, zugestimmt hätten, hätten wir alleine im Jahr 2005mit 4 Milliarden Euro und im Jahr 2006 – summiert –mit 10,6 Milliarden Euro mehr im Bundeshaushalt rech-nen können. Die Länder hätten 9,9 Milliarden Euro unddie Gemeinden 4,4 Milliarden Euro mehr zur Verfügunggehabt. Dieses Geld fehlt uns. In gewisser Weise ist esnicht nur eine Täuschung der Öffentlichkeit, sondern einFrevel, wenn man im Bundesrat jeden Vorschlag zurEinnahmeverbesserung ablehnt, um anschließend auf dieschlechte Finanzsituation der Länder hinzuweisen. Ichnenne als Beispiel nur Thüringen, dessen Nettokredit-aufnahme nach Maßgabe der mittelfristigen Finanzpla-nung in diesem Jahr bei null, tatsächlich aber bei1 Milliarde Euro liegt. Wir haben eine gemeinsame Ver-antwortung. Aber Sie sind sich dieser nicht bewusst undwerden ihr erst recht nicht gerecht. Ich halte dies in ei-nem Land mit einem föderalen System – ich habe dasschon in früheren Reden gesagt – einfach für verantwor-tungslos.
Es zeigt sich immer wieder – das ist am perfidesten –,dass Sie keine gemeinwohlorientierte Politik, sonderneine reine Klientelpolitik betreiben. Ich nenne als Bei-spiel nur die Agrarbeihilfen, über die wir im vorigenJahr auf Geheiß von Herrn Stoiber nicht verhandelndurften. Auch in der gestrigen Anhörung des Haushalts-ausschusses haben Sie nicht erkennen lassen, dass Siesich dazu durchringen können, an dieser Stelle Subven-tionen zu streichen, um die dadurch frei werdenden Mit-tel anderen Bereichen zur Verfügung zu stellen oder zurMinderung der Schuldenlast einzusetzen. Auch dies istnicht möglich. Letztendlich zahlen wir die Zinsen für dieSchulden, die dadurch zusätzlich entstehen.Es zeigt sich immer mehr, dass Sie sich dann, wenn esrichtig heiß wird, wenn Standfestigkeit gefragt ist, wennes heißt, bei den Bürgern für seine Ideen und Überzeu-gungen einzustehen, schnell vom Acker machen, undzwar schneller, als ich mir persönlich das habe vorstellenkönnen. Einen Ausreißer in negativer Hinsicht stellt da-bei der Ministerpräsident von Sachsen, Herr Milbradt,dar. Zuerst möchte er im Vermittlungsausschuss – dashat er auch öffentlich gemacht – mithilfe eines Existenz-gründergesetzes einen breiten Niedriglohnsektor im Os-ten Deutschlands etablieren. Wenn aber die – von unsabgemilderten – Hartz-IV-Reformen tatsächlich umge-setzt werden sollen, dann macht er sich vom Acker undhat nicht den Mumm, sich den Protesten zu stellen; viel-mehr stellt er sich an ihre Spitze. Das ist nicht nur per-fide, sondern auch verlogen. Wenn das das Führungsper-sonal der CDU ist, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht,Deutschland!
Noch ein paar Zahlen zur Klarheit des Bundeshaus-halts. Wir haben in den vergangenen Jahren eine eindeu-tig begrenzende Ausgabenpolitik betrieben. DasWachstum auf der Ausgabenseite ist sehr gering. Bei be-reinigter Betrachtung zeigt sich, dass es unterhalb der In-flationsrate liegt. Unser Problem war die von mir bereitsangesprochene Einnahmesituation, die besonders durchdie Arbeitsmarkt- und Wirtschaftslage gekennzeichnetist. Vor allem hatte sie an Ihrer Blockade der Verbesse-rung der Steuereinnahmebasis zu leiden.
Schauen wir uns die Ausgaben des Bundes an: ImJahr 2005 liegt die Ausgabenquote, gemessen am Brutto-inlandsprodukt, bei 11,5 Prozent. 1998 hat sie noch12,1 Prozent betragen. Die Kreditfinanzierungsquoteliegt 2005 mit 8,5 Prozent weitaus niedriger als 1998,wo sie noch sage und schreibe 12,3 Prozent betragen hat.Dies alles geschah in den letzten Jahren vor dem Hinter-grund einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Ba-sis.Aber ich möchte nicht zu sehr in der Vergangenheitverweilen, sondern im Rahmen dieser Haushaltsberatun-gen auf einige Punkte eingehen, die die Zukunft betref-fen. Das Kabinett hat mit Einbringung des Haushaltesdie Abschaffung der Eigenheimzulage auf den Weg ge-bracht. Das soll für den Bund im Finanzplanungszeit-raum bis 2008 frei werdende Mittel – das ist angesichtsknapper öffentlicher Kassen der richtige Weg – in Höhevon 3 Milliarden Euro bedeuten. Diese Mittel sollenkomplett in den Bereich „Bildung und Forschung“ in-vestiert werden.Ich halte dies für den richtigen Weg im Umgang mitder größten Einzelsubvention des Bundes. In Erfurt gibtes viel grüne Wiese und viele Neubaumaßnahmen.Wohnraum ist eigentlich – ich erinnere an die Diskussio-nen der vergangenen Jahre – zur Genüge vorhanden. Aufder einen Seite wird der Abriss und auf der anderen Seite
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004 11007
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Carsten Schneiderwird die Schaffung von Wohneigentum finanziert. DieEigenheimzulage ist eine Subvention, die wir nicht mehrbrauchen.
Ich bitte Sie deswegen, dem Haushalt zuzustimmen.Sorgen Sie mit dafür, dass wir insbesondere den Länderndie Mittel geben, die ihnen Spielräume verschaffen, ihrebildungspolitischen Vorstellungen, die sie für sich im-mer wieder sehr in Anspruch nehmen, tatsächlich umzu-setzen! Bei voller Wirksamkeit wären das insgesamt6 Milliarden Euro. Ich glaube, dass die Investitionenweg vom Beton hin zu mehr Bildung und Forschung inWissen der richtige Weg sind. Ich hoffe, dass Sie demletztendlich zustimmen werden.
Die Steigerungen im Haushalt für Bildung und For-schung umfassen mehr als eine reine Erhöhung derFinanzmittel; auch die Qualität der Ausgaben muss ver-bessert werden. Das heißt zum Beispiel, dass den großenForschungsorganisationen jährliche Steigerungen inHöhe von 3 Prozent, gespeist aus diesen Mitteln, zugesi-chert werden. Für die Verknüpfung von Hochschulenund Industrie ist es sehr wichtig, dass die vorhandenenKapazitäten – sie sind ausgesprochen gut; im Weltmaß-stab sind sie sogar wirklich hervorragend – stärker ge-nutzt werden, weswegen zum Beispiel mehr Doktoran-den eingestellt werden.Dies gelingt aber nur, wenn die Forschungsorganisa-tionen – ich nenne insbesondere die Max-Planck-Gesell-schaft – dies umsetzen wollen. Die Bundesregierung hatdie Einspeisung in einen Pakt für die Forschung vorge-schlagen. Ich als Berichterstatter für diesen Bereich be-halte mir vor, die 3-prozentige Erhöhung daran zu knüp-fen, dass die Qualität der Zusammenarbeit zwischenUniversitäten und Forschungsorganisationen tatsächlichverbessert wird. Ich kann die Empfänger der Mittel nurdazu auffordern, auf dem eingeschlagenen Weg voranzu-gehen.
Ich möchte auf ein anderes zentrales Problem zu spre-chen kommen. Auch gestern haben in mehreren Städten,insbesondere in Ostdeutschland, Menschen gegen diebeschlossenen Arbeitsmarktreformen demonstriert.
Ich persönlich nehme diese Proteste sehr ernst und stellemich ihnen. Ich meine, wir alle, die wir diesen Reformen– auch in der Überzeugung, dass sie notwendig sind –zugestimmt haben, haben die Verpflichtung, die Men-schen zu überzeugen. Das gilt in Ost- wie in West-deutschland. Dazu gehört aber nicht nur, die Hand zuheben, sondern dazu gehört auch, den Prozess zu mode-rieren und sich der Auseinandersetzung vor Ort zu stel-len.Dazu gehört des Weiteren – das merke ich in den Ge-sprächen mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen –ein positiver Blick in die Zukunft. Was die Förderungder neuen Bundesländer betrifft, so hat die Bundesregie-rung mit dem Solidarpakt II, der 2005 in Kraft tretenwird, eine entscheidende Weichenstellung bis zum Jahr2019 vorgenommen. Damit gibt es ein Gesamtvolumenvon 156 Milliarden Euro für die neuen Bundesländer.100 Milliarden Euro werden den Ländern direkt über-wiesen und 56 Milliarden Euro kommen aus dem Bun-deshaushalt. Ich möchte zu beiden Punkten noch etwassagen.Zum ersten Punkt. Ich erinnere mich daran, dass esbesonders der ehemalige Kollege Biedenkopf war, derdarauf gedrungen hat, dass diese Mittel den Ländern freizur Verfügung gestellt werden. Nun zeigt sich in der Dis-kussion über die Fortschrittsberichte seit 2002 – der Be-richt für 2003 wird uns im November vorliegen –, dassdiese Mittel nicht zweckgemäß eingesetzt werden, zu-mindest nicht in dem Umfang, der notwendig wäre.Ich kann den neuen Bundesländern nur sagen, dass sieder Solidarität, die sie sowohl gegenüber dem Bund alsauch gegenüber den alten Bundesländern in Anspruchnehmen, nur gerecht werden, wenn sie diese Mittel in-vestiv nutzen, nämlich vor allem zum Schließen der In-frastrukturlücke. Das tun sie nur sehr bedingt. Ich kannsie an dieser Stelle nur auffordern, dies zu ändern. An-sonsten würde es langfristig Schwierigkeiten geben, so-wohl was die Legitimation gegenüber der Bevölkerungals auch was die Akzeptanz hier im Deutschen Bundes-tag angeht.
Zum zweiten Punkt. Dabei geht es um das, was derKollege Austermann heute angesprochen hat, um dieGA-Mittel. Sie sind Bestandteil des Korbes 2, der56 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt. DieserKorb 2 ist festgelegt. Die GA-Mittel haben eine elemen-tare Bedeutung. Der Kollege hat heute Morgen behaup-tet – er ist nicht mehr hier, aber der Klarheit halber mussich es sagen –, dass diese Mittel um die Hälfte reduziertwerden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auchfür diesen Bereich einen Finanzplanungszeitraum, indem eine schrittweise degressive Absenkung vorgesehenist. Dafür gibt es einen regionalen Planungsausschuss.Dieser Absenkung haben die Kolleginnen und Kollegenvon der CDU/CSU im Bundesrat und im Bundestag zu-gestimmt.
Wir haben jetzt bis zum Jahr 2007 die Festlegung,dass die Gesamtlinie bei 700 Millionen Euro liegt. Siesollte nach der mittelfristigen Finanzplanung eigentlichniedriger sein. Weil Investitionen für Arbeitsplätze imersten Arbeitsmarkt absolute Priorität haben, haben wiruns als Ostdeutsche an dieser Stelle durchgesetzt. Ichmöchte mich beim Bundesfinanzminister und beim Bun-deswirtschaftsminister dafür bedanken, dass diese Mittel
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11008 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Carsten Schneidernun in der Höhe zur Verfügung stehen. Dann muss mansie aber auch einsetzen.Noch eine letzte Bemerkung dazu. Thüringen hatdiese Mittel im Jahr 2002 nur zu 75 Prozent und im Jahr2003 nur zu 65 Prozent in Anspruch genommen. Dasheißt – das muss man einmal klar sagen –: Sie sind lie-gen geblieben, weil es in diesem Land nicht möglichwar, klare Entscheidungen für Strukturreformen zu tref-fen.
Herr Kollege Schneider, Sie sind am Ende Ihrer
Redezeit.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Ich möchte nur noch einmal klar sagen: Der Bund
steht zu seinen Zusagen für die neuen Länder. Er steht zu
einer soliden Finanzpolitik, die in Teilbereichen natür-
lich der Zustimmung der Opposition bedarf. Werden Sie
dieser Verantwortung für unser Land gerecht und stim-
men auch Sie letztlich zu!
Danke sehr.
Weitere Wortmeldungen zur allgemeinen Finanzde-batte liegen nicht vor.Wir kommen damit zu Tagesordnungspunkt 1 c: Be-schlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu demAntrag des Präsidenten des Bundesrechnungshofes zurRechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushalts-jahr 2003 – Einzelplan 20 –, Drucksachen 15/2885 und15/3388. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieBeschlussempfehlung einstimmig angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung von EU-Richtlinien in nationales Steuer-recht und zur Änderung anderer Vorschriften
– Drucksache 15/3677 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-sung der Vorschriften über die Amtshilfe imBereich der Europäischen Union sowie zurUmsetzung der Richtlinie 2003/49/EG des Ra-tes vom 3. Juni 2003 über eine gemeinsameSteuerregelung für Zahlungen von Zinsen undLizenzgebühren zwischen verbundenen Unter-
– Drucksache 15/3679 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GOEs handelt sich um Überweisungen in vereinfachtenVerfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen zurfederführenden Beratung an den Finanzausschuss sowiegemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsaus-schuss zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf.Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 12 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des VN-Waffen-übereinkommens– Drucksache 15/2926 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses
– Drucksache 15/3568 –Berichterstattung:Abgeordnete Petra ErnstbergerRuprecht PolenzDr. Ludger VolmerHarald LeibrechtZweite Beratungund Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-rung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung desVN-Waffenübereinkommens, Drucksache 15/2926. DerAuswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3568,den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-ben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 12 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
zu der Unterrichtung durch die
BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates zurÄnderung der Richtlinie 77/388/EWG in Be-zug auf die mehrwertsteuerliche Behandlungvon Dienstleistungen im PostsektorKOM 234 endg., Ratsdok. 9060/03– Drucksachen 15/1153 Nr. 2.40, 15/3390 –Berichterstattung:Abgeordneter Johannes Singhammer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004 11009
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsDer Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-tung durch die Bundesregierung eine Entschließung an-zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen angenommen.Wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort undkommen zum Geschäftsbereich des Bundesministe-riums für Gesundheit und Soziale Sicherung.Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-nung um den Antrag der Fraktion der FDP zur sozialenPflegeversicherung auf Drucksache 15/3683 zu erwei-tern und diesen jetzt gleich als Zusatzpunkt 5 aufzuru-fen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist sobeschlossen.Sodann rufe ich die Tagesordnungspunkte 2 bis 5 so-wie die Zusatzpunkte 1 und 2 und den soeben aufgesetz-ten Zusatzpunkt 5 auf:2 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Berück-sichtigung der Kindererziehung im Beitrags-recht der sozialen Pflegeversicherung– Drucksache 15/3671 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss3 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung der Vorschriften zum diagnose-orientierten Fallpauschalensystem für Kran-kenhäuser und zur Änderung anderer Vor-schriften– Drucksache 15/3672 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. HansGeorg Faust, Horst Seehofer, Andreas Storm,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUVersorgungssicherheit für Patientinnen undPatienten durch sachgerechte Fallpauschalen– Drucksache 15/3450 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Gesetzes über die Einordnung desSozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch– Drucksache 15/3673 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenHaushaltsausschuss5 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Organi-sationsreform in der gesetzlichen Rentenversi-cherung
– Drucksache 15/3654 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOZP 1 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-sung der Finanzierung von Zahnersatz– Drucksache 15/3681 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten AndreasStorm, Annette Widmann-Mauz, Horst Seehofer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUFamilien entlasten statt Kinderlose bestrafen –Grundlegende Reform der Pflegeversiche-rung noch in dieser Wahlperiode einleiten– Drucksache 15/3682 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten DanielBahr , Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. DieterThomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPFamilien spürbar durch einen Kinder-Bonusentlasten – Keine Beitragserhöhungen in dersozialen Pflegeversicherung – GrundlegendeReform beginnen– Drucksache 15/3683 –Das Wort hat nun die Bundesministerin Ulla Schmidt.
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Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit undSoziale Sicherung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Manchmal wird gefragt, was der Begriff „Agenda“heiße. Es heißt „das, was zu tun ist“. Die Agenda 2010der Bundesregierung beschreibt, was zu tun ist, damit inunserem Land der Wohlstand und damit auch die Zu-kunft der nachwachsenden Generationen gesichert wird,auch im Hinblick darauf, dass auch unsere Kinder undunsere Kindeskinder die bestmögliche medizinische Be-handlung erhalten und es für die heute Jungen morgennoch eine sichere Altersversorgung gibt.Manchmal wird unterschätzt, dass hinter den Begrif-fen „Mobilität und Flexibilität in der heutigen Welt“,„weltweite scharfe Konkurrenz“ und „demographischeEntwicklung“, mit denen wir gerne operieren, Verände-rungen in Staat und Gesellschaft stehen, die von man-chen, vielleicht nicht zu Unrecht, mit den Umwälzungenam Beginn der Industriegesellschaft verglichen werden.Wenn das so ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, dannist es umso nötiger, gemeinsam darüber zu sprechen, wienotwendige Reformen aussehen können, damit diese Ge-sellschaft den neuen Herausforderungen gerecht wirdund die Menschen befähigt werden, mit diesen neuenHerausforderungen zu leben.Einer der Bereiche, die wir reformiert haben, ist dasGesundheitswesen. Ich glaube, dass wir zu Recht sagenkönnen, mit dem Konsens über die Gesundheitsreformeinen entscheidenden Schritt getan zu haben, um das Ge-sundheitssystem zu stabilisieren und die finanzielle Ent-wicklung der Krankenversicherungen zu sichern. Durchdiese Reform finden wir überhaupt erst die Zeit, um übereine grundlegende nachhaltige Weiterentwicklung zu re-den bzw. darüber, was in den kommenden Jahren nochnotwendigerweise getan werden muss.Wir haben mit der Gesundheitsreform nicht nur Bei-tragssatzanhebungen zu Beginn dieses Jahres in einemVolumen von 6 bis 8 Milliarden Euro verhindert, son-dern darüber hinaus dafür gesorgt, dass die gesetzlichenKrankenkassen im ersten Halbjahr 2004 erstmals seitüber zehn Jahren einen Überschuss erwirtschaftet haben,und zwar in Höhe von rund 2,5 Milliarden Euro. 2003hatten sie im gleichen Zeitraum ein Defizit von2 Milliarden Euro.
– Auch die FDP sollte die kleine mathematische Regelkennen, dass Schulden erst abgebaut werden können,wenn vorher ein Plus erwirtschaftet wurde. Ansonstenkönnen die Schulden nie abgebaut werden, meine Kolle-gen von der FDP.
Ein kleines bisschen Mathematik wäre auch für die Libe-ralen ganz gut.Wir haben uns der Verantwortung gestellt. Sie dage-gen sind damals aus den Verhandlungen ausgestiegen,weil Sie die pharmazeutische Industrie vor Zumutungenbewahren wollten. Das war Ihre Lobbyarbeit.
Erstmals seit langer Zeit haben wir die Entwicklungstoppen können, dass die Ausgaben für Arzneimittelimmer weiter steigen. Die gesetzlichen Krankenversi-cherungen konnten in den ersten sieben Monaten diesesJahres 1,7 Milliarden Euro einsparen. In diesen 1,7 Mil-liarden Euro ist auch der circa 800 Millionen Euro betra-gende Herstellerrabatt enthalten, den die pharmazeuti-sche Industrie in diesem Jahr gewährt, um sich an denEinsparungen im Gesundheitswesen zu beteiligen.
Außerdem profitieren erstmals seit langer Zeit viele Ver-sicherte von sinkenden Beiträgen; im ersten Schritt sinddas rund 27 Millionen Menschen.Das sind schnelle, sichtbare Erfolge. Bei Betrachtungdes Gesamtvolumens stellt man fest, dass wir nicht nurBeitragssatzanhebungen in einem Volumen von 6 bis8 Milliarden Euro verhindert, sondern im gleichen Zeit-raum auch über 5 Milliarden Euro eingespart haben, undzwar durch zusätzliche Einnahmen über Betriebsrenten,aber auch über Steuergelder, nämlich 500 Millionen Eurozur Abdeckung der familienpolitischen Leistungen.
– Nicht „aha“. Wir haben die Entscheidung getroffen,die familienpolitischen Leistungen über Steuergelderzu finanzieren; denn diese Leistungen sind nicht alleinSache der Beitragszahler und Beitragszahlerinnen. Dahaben wir vielleicht unterschiedliche Auffassungen.Ich erwarte – da bitte ich Sie um Unterstützung –,dass die Krankenkassen nach diesem ersten Halbjahr dieEntscheidung treffen, die Beiträge für die Versichertenzu senken.
Denn zu den erreichten Einsparungen haben vor allemdie Versicherten und die Patienten und Patientinnen bei-getragen, die für die Inanspruchnahme von Leistungenhöhere Zuzahlungen leisten mussten.Ich habe kein Verständnis dafür, dass wir uns jedenTag von Krankenkassenvertretern anhören müssen, wirsorgten für zu viel oder für zu wenig Reform, für zu vieloder für zu wenig Wettbewerb. Ich habe kein Verständ-nis dafür, dass die Unternehmen tagtäglich fordern, wirmüssten weitere Einschnitte vornehmen, um die Lohn-nebenkosten zu senken, und dass die Gewerkschaftenbehaupten, die Versicherten würden zu sehr belastet, unddass aber gleichzeitig weder die Selbstverwaltung nochdie Arbeitgeber, die Gewerkschaften oder die Vorständeder Krankenkassen handeln. Sie sollen jetzt handeln. Ichbin überzeugt, dass es richtig ist, jetzt massive Beitrags-satzsenkungen zu fordern; denn die Versicherten müs-sen sehen, dass Einsparungen durch Beitragssatzsenkun-gen an sie zurückgegeben werden. Da bitte ich Sie alleum Unterstützung.
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Bundesministerin Ulla SchmidtZweitens. Wir alle wissen, dass die Bezahlbarkeit desGesundheitswesens eng mit der Qualität zusammen-hängt. Die Strukturveränderungen, die auf den Weggebracht wurden, haben Bewegung in das Gesundheits-wesen gebracht. Neue Verträge über eine integrierte Ver-sorgung werden geschlossen. In Sachsen-Anhalt gibt esdas erste landesweite Hausarztmodell, an dem sich bis-her über 130 000 Versicherte und über 1 100 Ärzte undÄrztinnen beteiligten. Auch in Westdeutschland werdenmedizinische Versorgungszentren gegründet. All diessind die Wurzeln einer neuen Entwicklung, die in Zu-kunft fortgesetzt werden soll.Ich sage hier ganz deutlich: Diese Maßnahmen in An-griff zu nehmen und die Instrumente der Strukturverän-derungen zu nutzen gehört zu den Aufgaben, die dieKrankenkassen wahrnehmen und die wir weiter kritischbegleiten müssen. Wenn nichts geschieht und wenn sichdie Strukturen nicht verändern, dann werden wir irgend-wann an dem Punkt sein, an dem wir schon letztes Jahrstanden. Es war deshalb richtig, nicht nur umzufinanzie-ren, sondern auch strukturelle Veränderungen hin zumehr Wettbewerb und zu mehr Möglichkeiten der Ver-tragsgestaltung im Gesundheitswesen zu schaffen.Wir alle wissen aber auch, dass das Prinzip „Vorbeu-gen statt Heilen“ in unserem Land noch nicht so durch-gesetzt wird, wie es sein sollte. Wenn die Gesellschaftimmer älter wird, wir also Gott sei Dank immer längerleben, dann ist es für das Gesundheitssystem nicht soentscheidend, wie alt wir werden, sondern, wie wir altwerden. Deshalb ist es richtig, dass wir beschlossen ha-ben, ein Präventionsgesetz auf den Weg zu bringen. Wirwollen, dass in Deutschland Prävention endlich Vorrangvor Heilung hat und Prävention Schritt für Schritt zu ei-ner eigenständigen Säule im Gesundheitswesen ausge-baut wird. Denn was wir für die Prävention ausgeben,kann bei der Behandlung eingespart werden. Das ist gutfür die Menschen, weil sie gesünder leben, und das istgut für die Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens.
Deshalb bin ich froh, dass wir sowohl mit den Spitzen-verbänden der Krankenkassen, der Rentenversicherung,der Pflegeversicherung und der Unfallkasse als auch mitden Ländern darüber im Gespräch sind. Wir werden indiesem Jahr einen entsprechenden Entwurf in den Deut-schen Bundestag einbringen – genauso wie wir es vor ei-nem Jahr beschlossen haben.Wir müssen auch an einer anderen Stelle verhandeln.Es handelt sich um den Zahnersatz – ein leidigesThema.
Wir werden nicht umhinkommen, darüber zu reden, obdie im vergangenen Jahr beschlossene Regelung wirk-lich umsetzbar ist. Wenn Politiker merken, dass ein vonihnen gefasster Entschluss in der Praxis nur schwer um-zusetzen ist, dann bin ich dafür, dass man den Mut zurKorrektur hat. Ich sage noch einmal: Die Entscheidung,den Zahnersatz aus dem Leistungskatalog der gesetz-lichen Krankenversicherung herauszunehmen und ihndurch einen einheitlichen Pauschalbetrag zu finanzieren,ist nicht ohne weiteres umzusetzen.
Diese Entscheidung ist nicht nur sozial ungerecht, weildie Rentnerin mit einer Rente von 500 Euro den gleichenPauschalbetrag zahlen soll wie beispielsweise der Abge-ordnete, der 7 000 Euro verdient. Sie ist auch büro-kratisch und im Hinblick auf das Solidarprinzip dergesetzlichen Krankenversicherung systemfremd. MeineDamen und Herren von der CDU/CSU, Sie müssen sichentscheiden und daran mitwirken, dass wir zu einer Re-gelung kommen, die sozial gerecht ist, die die Menschennicht überfordert und die gleichzeitig unbürokratisch ist.
Wenn sich abzeichnet – das haben die Beratungen in-nerhalb der gesetzlichen Krankenkassen ergeben –, dassder Versicherungsbeitrag für den Zahnersatz eher bei10 Euro denn bei 5 Euro liegt und dass in diesem Beitragnur ein Anteil in Höhe von 2 bis 2,50 Euro pro Monatund pro Versicherten für den eigentlichen Zahnersatzenthalten ist, dann kann man an einer solchen Lösungnicht festhalten. Lassen Sie uns daher gemeinsam einenanderen Weg finden! Lassen wir alles beim Alten, wasden Zahnersatz angeht!
Er bleibt im Leistungskatalog der gesetzlichen Kranken-versicherung. Die Finanzierung erfolgt einkommensab-hängig, sodass niemand überfordert wird.Wir müssen alles dafür tun – auch da stehen wir in derVerantwortung –, dass die Beitragssatzziele, die wir imGesundheitssystemmodernisierungsgesetz festgelegt ha-ben, tatsächlich erreicht werden. Deshalb bitte ich Sie,dem Vorschlag, den ich Ihnen unterbreitet habe, zuzu-stimmen. Denn das ist die beste und die praktikabelsteLösung.
Man kann nicht alles beim Alten lassen und sich nichtfür die Senkung der Lohnnebenkosten interessieren.
– Das ist nicht Müntefering. Das könnten Sie, HerrStorm, oder ein anderer aus Ihren Reihen sein. Vielleichtwollten Sie sich nur über die nächsten drei Wochen biszu den Wahlen retten. Sie werden dann aber auch sagenmüssen, wie die Senkung der Lohnnebenkosten ausse-hen soll. Ich sage es einmal ganz deutlich: Das alles giltfür die Unternehmen ebenso wie für die Rentenversiche-rung, aber auch für alle Unternehmungen, die im Bereichdes Gesundheitssystems tätig sind.Ich nenne in diesem Zusammenhang ein paar Zahlen:Wenn 160 Millionen Euro in der Gesundheitswirtschafteingespart werden können, dann können dort Arbeits-plätze erhalten werden und dann kann es gelingen, dieArbeitsbedingungen in diesem Bereich durch die
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Bundesministerin Ulla SchmidtSchaffung neuer Arbeitsplätze zu verbessern. Einsparun-gen bei den Lohnnebenkosten haben Auswirkungen aufdie Kommunen, die Länder und den Bund. Man kannnicht sagen: „Macht ihr das mal allein; wir haben mitdem Ganzen nichts zu tun“ und anschließend das Hohe-lied der Kritik darüber singen, wie sich die Lohnneben-kosten entwickeln. Wenn Sie nicht bereit sind, mitzuma-chen, müssen Sie die Verantwortung für die Entwicklungder Lohnnebenkosten übernehmen, meine Damen undHerren von der CDU.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der auch in unseren Ge-schäftsbereich fällt, ist die Altersvorsorge. Wir habennicht nur in der letzten Legislaturperiode mit der Einfüh-rung der kapitalgedeckten Säule der privaten Altersvor-sorge einen ersten Schritt getan, sondern auch mit demNachhaltigkeitsgesetz dafür gesorgt, dass die Altersvor-sorge für die Jüngeren bezahlbar und für die Älteren ver-lässlich bleibt. Damit leistet die Bundesregierung so-wohl einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung derRentenversicherung als auch einen Beitrag zur wirt-schaftlichen Belebung und zum wirtschaftlichen Auf-schwung.Über 20 Millionen Bürgerinnen und Bürger habenmittlerweile eine zweite Säule im Bereich der Betriebs-rente aufgebaut oder eine private Zusatzversorgung ab-geschlossen. Damit sich diese positiven Zahlen weiterverbessern und noch mehr Menschen zusätzlich vorsor-gen, haben wir in diesem Jahr wichtige Veränderungenverabschiedet. Durch das Alterseinkünftegesetz habendie Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Zukunftmehr Geld zur Verfügung, um die private Altersvorsorgewirklich aufbauen zu können. Wir haben gleichzeitig dieVoraussetzungen der betrieblichen und privaten Alters-vorsorge attraktiver und unbürokratischer gestaltet.Zu einer attraktiven Rentenversicherung gehört auch,dass man die Rentenversicherungsträger fit für die Zu-kunft macht. Deshalb bringen wir heute das Gesetz zurOrganisationsreform in der gesetzlichen Rentenversiche-rung ein. Dieses Gesetz überwindet die Trennung vonArbeitern und Angestellten. Es trägt mit dazu bei, dassdie Ressourcen der Rentenversicherung so zielgerichtetwie möglich eingesetzt werden.
Ein letzter wichtiger Punkt, bei dem auch weit rei-chende Reformen anstehen, ist die soziale Pflege-versicherung. Sie wissen, dass die demographische He-rausforderung ganz erhebliche Auswirkungen auch aufdie Pflegeversicherung hat. Wir brauchen in Deutsch-land eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wiewir die Pflegeversicherung weiterentwickeln wollen undwir uns das Leben im Alter vorstellen. Wir braucheneine Debatte darüber, was über die Pflegeversicherunghinaus getan werden muss, damit die Menschen im Alterso selbstbestimmt, so gut wie möglich leben und solange wie möglich in ihrer angestammten Umgebungbleiben können. Diese Debatte werden wir anstoßen.
Sie umfasst vieles: die Kommunikation, die Potenzialeder älteren Generation, den Wohnungsbau oder die Mo-bilität älterer Menschen.Aber zunächst hat uns das Bundesverfassungsgerichtaufgegeben, in dem Beitragsrecht der Pflegeversiche-rung die Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen. Fürdiejenigen, die Kinder erziehen oder Kinder erzogen ha-ben, ist eine andere Beitragsgestaltung vorzusehen alsfür diejenigen, die keine Erziehungsleistungen erbrachthaben. Mit der Initiative der Koalitionsfraktionen, dieheute eingebracht wird, wird das Urteil fristgerecht um-gesetzt.Die momentane finanzielle Situation der Pflegeversi-cherung zwingt uns eigentlich, für alle die Beitragssätzeanzuheben. Wir setzen das Urteil jetzt aber so um, dassnur diejenigen, die keinen Beitrag über Erziehungsleis-tungen erbracht haben, durch eine Erhöhung des Beitra-ges belastet werden. Wir nehmen all diejenigen davonaus, die im kommenden Jahr 65 Jahre oder älter sind,weil – jetzt bitte ich die FDP, zuzuhören – das Bundes-verfassungsgericht gesagt hat, dass der Gesetzgeber dieUnterscheidung zwischen Kinder Erziehenden undNichterziehenden vernachlässigen kann, wenn eine Ge-neration dafür gesorgt hat, dass genügend Kinder gebo-ren wurden.
Die ältere Generation, die heute 65-Jährigen und Älte-ren, hat zu ihrer Zeit dafür gesorgt, dass der Generatio-nenvertrag eingehalten wurde. Zum Geburtenrückgangkam es Mitte der 60er-Jahre. Deshalb werden wir all die-jenigen, die nach 1940 geboren wurden und keine Kin-der erzogen haben oder erziehen, mit einem zusätzlichenBeitrag belasten.
Ich halte das für gerecht. Ich halte das auch für einenwirklich gangbaren Weg. Daher bitte ich all diejenigen,die sich immer wieder über Bundesverfassungsgerichts-urteile äußern, einmal einen Blick in das Urteil zu wer-fen. Dieser erleichtert in der Regel die Rechtsfindung.Sie würden dann auch erkennen, dass unser Vorschlagsehr genau der Begründung des Bundesverfassungsge-richts entspricht und wir damit auf dem richtigen Wegsind.
Mit dem von uns eingeschlagenen Weg werden wirdie Lohnnebenkosten stabilisieren und dazu beitragen,dass Beschäftigung in Deutschland wieder attraktiv wirdund Arbeit geschaffen werden kann. Ich sage noch ein-mal deutlich: Keine Reform der sozialen Sicherungssys-teme kann auf Dauer verkraften, wenn es kein Wachstumgibt, das zu Wohlstand führt. Die Menschen brauchenArbeit und die sozialen Sicherungssysteme leben vonBeitragszahlern.
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Bundesministerin Ulla SchmidtDeshalb sind die Reformen notwendig und wir neh-men sie vor. Die CDU muss bedenken, dass der Pflege-kasse bei ihrem Vorschlag 760 Millionen Euro fehlenwürden. Darüber hinaus muss sie berücksichtigen, dasseine allgemeine Beitragssatzanhebung zu einer Erhö-hung der Lohnnebenkosten führen wird.
Andere müssen sagen, woher sie das Geld nehmenwollen. Man muss schon Butter bei die Fische geben unddeutlich sagen, wie eine Reform finanziert werden soll.Vielleicht machen es sich manche so einfach wie dieSpitzenverbände der Pflegeversicherungen, die heute ge-sagt haben: Nehmt doch einfach Steuergelder und stecktsie in die Pflegeversicherung, das wäre am einfachsten;denn dann bräuchten wir uns keine Gedanken mehr da-rüber zu machen, wie das Ganze finanziert werden soll.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Storm von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirerleben derzeit fast jeden Tag aufs Neue, woran es derSozialpolitik von Rot-Grün am meisten mangelt: an kon-zeptioneller Klarheit, Verlässlichkeit und Berechenbar-keit,
gestern hü!, heute hott! und morgen gilt schon wiedereine neue Parole. Bei einem solchen Zickzackkurs müs-sen Sie sich nicht wundern, dass die Unterstützung derMenschen für dringend notwendige Reformen von Tagzu Tag geringer wird.
Beispiel Rente: Noch im Sommer 2003 bei den Ver-handlungen zur Gesundheitsreform haben Sie, FrauMinisterin, heilige Eide geschworen, dass es für dieRentner über die volle Beitragsbelastung von Betriebs-renten in der Krankenversicherung ab dem 1. Januar hi-naus keine aktuellen weiteren Belastungen geben soll.Wie wenig man sich auf diese Zusage verlassen konnte,haben die Rentner in diesem Jahr gleich zweimal zu spü-ren bekommen: Zuerst gab es die Verdoppelung desPflegeversicherungsbeitrags am 1. April und dann an-stelle der jährlichen Rentenerhöhung zur Jahresmitte dieNullrunde.Damit nicht genug, mit Ihrer im Frühjahr 2004 verab-schiedeten Rentenreform haben Sie eine neue Rentenfor-mel beschlossen. Damit wir uns nicht falsch verstehen:
Im Grundsatz halten wir die Ergänzung der Rentenfor-mel um einen Nachhaltigkeitsfaktor für richtig; denn erist im Grunde genommen nichts anderes als der demo-graphische Faktor, den wir schon vor der Wahl 1998 insGesetzblatt geschrieben haben.Was wir Ihnen aber vorwerfen, ist, dass Sie den neuenNachhaltigkeitsfaktor einfach auf den vor drei Jahrenbeschlossenen Riester-Faktor draufgesattelt haben. Dashat zur Folge, dass die Renten im nächsten Jahr um1 Prozent hinter der Lohnentwicklung der Beitragszahlerzurückbleiben. Im Klartext heißt das: Auch im kommen-den Jahr müssen sich die Rentner auf eine weitere Null-runde einstellen.
Mit Verlässlichkeit hat eine solche Rentenpolitik nichtsmehr zu tun.
Frau Ministerin, sowenig sich die Rentner auf IhreZusagen verlassen können, so wenig bietet Ihre im Früh-jahr 2004 verabschiedete Rentenreform eine Perspektivefür die heutigen Beitragszahler, für die junge Genera-tion. Erinnern wir uns: Mit Ihrer Rentenreform habenSie einen rentenpolitischen Paradigmenwechsel einge-leitet. Die Zusage, dass man nach einem vollen Arbeits-leben im Alter ein Nettorenteniveau von 67 Prozenterreichen kann, die noch 2001 unter Riester festgeschrie-ben wurde, wurde aufgegeben. Das Nettorentenniveausinkt bis zum Jahre 2030 auf etwa 50 Prozent.
Angesichts dieser massiven Kürzungen stellt sich dieFrage: Wie schaffen wir es, dass möglichst jeder Arbeit-nehmer eine ergänzende kapitalgedeckte Altersvorsorgeaufbauen kann?
Die Riester-Rente hat sich als Flop erwiesen. Daran än-dert auch das Alterseinkünftegesetz herzlich wenig. Des-halb brauchen wir neue Antworten. Wir dürfen nicht un-nötig Zeit verlieren und vor allen Dingen nicht auf dieVorlage des Alterssicherungsberichts Ende 2005 warten.Denn dann passiert in dieser Wahlperiode überhauptnichts mehr und das wissen Sie ganz genau.Deshalb mache ich Ihnen heute einen Vorschlag: Las-sen Sie uns gemeinsam darüber diskutieren, wie wir jetztschon die richtigen Weichenstellungen treffen können,um Altersarmut von morgen zu vermeiden. Unser Vor-schlag lautet: Alle Arbeitnehmer sollen bei Abschlussihres Arbeitsvertrages regelmäßig eine Entgeltumwand-lung in Höhe von bis zu 4 Prozent ihres Bruttolohnes zu-gunsten der betrieblichen Altersversorgung vereinbaren.Auf diese Weise würde die Entgeltumwandlung zum Re-gelfall. Wer sich bewusst dagegenentscheidet, kann imSinne einer Opting-out-Regelung auf diese Lösung ver-zichten. Um das Ganze aber dauerhaft attraktiv zu
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Andreas Stormgestalten, müssen wir schon heute das Signal geben, dasswir die Beitragsfreiheit der Entgeltumwandlung auchüber das Jahr 2008 hinaus aufrechterhalten. Mit der Ent-scheidung über diese Fragen dürfen wir aber nicht biszur nächsten Wahlperiode warten, sondern wir solltenschon in dieser Wahlperiode ein klares Signal geben.Rot-Grün zeigt auch beim Thema „Pflege“ keinerleiBerechenbarkeit und Verlässlichkeit. Vielmehr glänzenSie mit konzeptionellem Dilettantismus. Vor nunmehrdreieinhalb Jahren hat das Bundesverfassungsgerichteine Entlastung von Familien bei den Pflegebeiträgen abdem 1. Januar 2005 gefordert. Heute, nur vier Monatevor Torschluss, legen Sie einen Vorschlag vor, der fami-lienpolitisch falsch, verfassungsrechtlich bedenklich undhandwerklich mangelhaft ist. Wie hat das Bundesverfas-sungsgericht in seinem Urteil argumentiert? Die Kern-aussage des Urteils lautet: Die soziale Pflegeversiche-rung basiert auf einem Generationenvertrag, dennPflegebedürftigkeit tritt überwiegend im Alter auf. Eineumlagefinanzierte Pflegeversicherung kann nur dannfunktionieren, wenn genügend junge Beitragszahlernachrücken.Das Bundesverfassungsgericht spricht davon, dass dieErziehung von Kindern konstitutive Bedeutung für dasFunktionieren der Pflegeversicherung hat. Man brauchtzwei Beiträge: neben dem Geldbeitrag auch die Kinder-erziehung. Erziehungsleistung und Geldbeitrag stehengleichberechtigt nebeneinander.Deshalb verstößt es gegen das Grundgesetz, wenn Ver-sicherte, die Kinder erziehen, denselben Beitrag leistenmüssen wie andere Versicherte, die keine Kinder haben.Eine verfassungskonforme Lösung, Frau Ministerin, musszwingend eine Besserstellung von Versicherten, die aktu-ell Kinder erziehen, vorsehen, und zwar eine Besserstel-lung auf der Beitragsseite während der Erziehungsphase.
Was Sie vorschlagen, bedeutet keine Besserstellungwährend der Erziehungsphase. Versicherte mit Kindernbekommen bei Ihrer Lösung keinen einzigen Cent mehr.Der Kinderlosenzuschlag wird ausschließlich zum Stop-fen der Löcher in der Pflegeversicherung verwendet.
Dieser Vorschlag geht meilenweit an den Anforderungendes Verfassungsgerichts vorbei. Es ist kein Wunder, dassauch die Grünen massive Bedenken gegen diesen Ge-setzentwurf haben. Liebe Kollegin Selg, bleiben Sie andieser Stelle standhaft!
Wir haben einen Vorschlag gemacht, der keinen Straf-beitrag für Kinderlose, sondern eine echte Entlastung fürVersicherte mit Kindern vorsieht. Wer ein Kind unter18 Jahren erzieht, erhält nach unserem Vorschlag einenBeitragsbonus von 5 Euro je Kind und Monat. Auchführt unser Vorschlag nicht zu einer Anhebung derLohnnebenkosten, weil dieser zusätzliche Beitrag vonden Versicherten allein zu finanzieren wäre.
Dieser Vorschlag sieht die größte Entlastung dort vor,wo sie am dringendsten gebraucht wird: bei Menschenmit niedrigem Einkommen, bei Familien mit mehrerenKindern und bei Alleinerziehenden.Aber eines wird an dieser Stelle auch deutlich: Wirsind an den Grenzen der umlagefinanzierten Sozialver-sicherung angelangt.
Deshalb ist es unsere wichtigste Aufgabe, noch in dieserWahlperiode eine grundlegende Reform der Pflegeversi-cherung anzugehen,
auf dem Weg zu einem zumindest in weiten Teilen kapi-talgedeckten System.
Deshalb kann eine solche Lösung nur ein Übergang sein.
Meine Damen und Herren, ich komme zum unrühmli-chen Höhepunkt rot-grüner Unberechenbarkeit. Vor ei-nem Jahr haben über 90 Prozent der Mitglieder des Deut-schen Bundestages einer Neuregelung beim Zahnersatzzugestimmt, die Union, SPD und Grüne gemeinsam ver-einbart hatten. Dieser Kompromiss ist keiner Seite leichtgefallen. Aber wir stehen zu dem, was wir einmal ver-einbart haben. Unser Wort gilt.Pacta sunt servanda – das hat der Bundeskanzler vorzwei Monaten zum Thema Zahnersatz erklärt. Aberheute gilt dieses Wort für die Bundesregierung offenbarnicht mehr. Denn uns liegt ein Gesetzentwurf vor, durchden die Neuregelung des Zahnersatzes ausgehebelt undseine Ausgliederung aus dem Leistungskatalog derKrankenkassen vollständig rückgängig gemacht wird.Die Argumente, die dafür vorgetragen werden, sind anScheinheiligkeit kaum zu überbieten.
Da wird beispielsweise behauptet, der Zahnersatz seiplötzlich doppelt so teuer wie vor einem Jahr.Doch wie ist die Faktenlage? Bei der Anhörung desGesundheitsausschusses am 30. Juni 2003, also vor Be-ginn der Konsensgespräche zur Gesundheitsreform, hatder Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen vorgerech-net, dass sich die Sachkosten für den Zahnersatz in dergesetzlichen Krankenversicherung je Mitglied, also jeBeitragszahler, auf gut 6 Euro pro Monat belaufen; dazukommen dann noch die Verwaltungskosten.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie verwechseln im-mer Beitragszahler und Versicherte. Wenn Sie alle Fami-lienangehörigen berücksichtigen und die Kosten dann
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Andreas Stormaufteilen, kommen Sie auf nur 4,30 Euro – das haben dieVertreter der gesetzlichen Krankenkassen schon in derdamaligen Anhörung bestätigt –, aber je Beitragszahlersind es über 6 Euro.Vor drei Wochen, am 13. August 2004, hat der Chefder Barmer Ersatzkasse, Herr Fiedler, auf einer großenPressekonferenz erläutert, die Prämie für den Zahnersatzwerde im kommenden Jahr inklusive Verwaltungskostenvoraussichtlich 6,70 Euro pro Monat betragen. DieserBetrag entspricht ziemlich exakt den Erwartungen, dieman auch im Rahmen der Konsensgespräche des vergan-genen Jahres hatte.Voraussetzung für diese Prämienhöhe wäre aber gewe-sen, dass die Prämien für Rentner und Arbeitslose imQuellenabzugsverfahren eingezogen worden wären. Dashatten wir Ihnen, Frau Ministerin, im Mai dieses Jahresvorgeschlagen. Ihre Antwort lautete damals – ich zitiere –:Ich sehe derzeit keine Regelungslücken, die unverzüg-lich geschlossen werden müssten.
Frau Ministerin, Sie haben monatelang bewusst eineunbürokratische Regelung verschleppt. Die organisatori-schen Schwierigkeiten sind einzig und allein dadurchentstanden, dass die Bundesregierung es nicht geschaffthat, rechtzeitig die Voraussetzungen für einen unbüro-kratischen Beitragseinzug zu schaffen.
Aber in Wirklichkeit ging es Ihnen um etwas anderes:Sie haben seit Monaten alles getan, damit der Kompro-miss beim Thema Zahnersatz nicht rechtzeitig umgesetztwerden kann.
Damit ist auch klar: Sie tragen die Verantwortung dafür,dass die Neuregelung beim Zahnersatz nicht rechtzeitigzum 1. Januar 2005 in Kraft treten kann und dass daherauch die angestrebte Beitragssatzsenkung ausbleibenmuss.Meine Damen und Herren, trotz allem sind wir für al-ternative Vorschläge offen.
Aber nur unter zwei Voraussetzungen: Eine Neuregelungbeim Zahnersatz muss besser sein als die Lösung, diewir letztes Jahr gemeinsam vereinbart haben.
Zweitens muss sie zugleich besser sein als die derzeitigeLösung im System der GKV.
Ihr heute vorgelegter Gesetzentwurf erfüllt beide Vo-raussetzungen erkennbar nicht.
Wir wollten mit der Gesundheitsreform gemeinsam denVersicherten mehr Wahlmöglichkeiten für ihren Schutzbeim Zahnersatz geben. Rot-Grün will jetzt, dass dieVersicherten mehr bezahlen,
aber nicht selbst über Art und Umfang ihrer Versiche-rung entscheiden können.
Schon der Durchschnittsverdiener wird bei Ihrem Vor-schlag deutlich höher belastet als bei unserer Prämienlö-sung: Gegenüber den 6,70 Euro würde der Durch-schnittsverdiener bei einem prozentualen Beitrag von0,4 Prozent bereits mit 9,60 Euro belastet. Eine solcheMehrbelastung ohne Ziel und Konzept und ohne Vorteilfür den Versicherten kommt für uns so nicht in Betracht.Deshalb werden wir Ihren heutigen Gesetzentwurf ab-lehnen.
Wie wenig Berechenbarkeit und Verlässlichkeit diePolitik dieser Bundesregierung aufweist, hat erst am Wo-chenende der Bundesfinanzminister verdeutlicht. In ei-nem Interview hat er nahe gelegt, dass angesichts dereinbrechenden Tabaksteuereinnahmen der Bundeszu-schuss an die Krankenkassen zur Abgeltung versiche-rungsfremder Leistungen wieder infrage gestellt werdenmüsse. Die Koalition debattiert ja seit zwei Tagen wie-der darüber, ob man diese Gelder im Bundeshaushaltnicht einsparen kann. Es wäre ein weiterer Weg, erneutdie Beitragszahler zu belasten. Was ist eigentlich einKonsensergebnis wert, wenn Sie noch nicht einmal einJahr nach In-Kraft-Treten der Reform ein wesentlichesStück wieder außer Kraft setzen wollen?
Die Menschen haben genug von diesem ständigenHickhack; sie wollen eine Politik, die berechenbar istund Vertrauen verdient. Nur dann werden die dringendnotwendigen Reformen in der Sozial- und in der Ge-sundheitspolitik auch gelingen.
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Storm, Sie haben heftige Kritik an der Regierunggeübt. Wenn ich Ihnen richtig zugehört habe, haben Siekritisiert, es mangele an Klarheit, an Berechenbarkeit
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Birgitt Benderund an einer Konzeption. Das sind schwer wiegendeVorwürfe. Ich frage mich allerdings, ob diese Vorwürfevielleicht weniger über unsere Regierung aussagen alsüber die Zerrissenheit in der Union, die Sie mit diesemGetöse zu übertönen versuchen.
Schauen wir uns doch an, wie es bei Ihnen aussieht,meine Damen und Herren von der Union.
Nehmen wir das Beispiel Zahnersatz; Herr Storm hat esja auch schon erwähnt. Rot-Grün stellt fest: Die Lösung,wie sie damals im Kompromiss vereinbart wurde, istnicht umsetzbar, ist ein bürokratisches Monstrum.
Wir machen deswegen den Vorschlag, das zu verändern.Was passiert dann? Frau von der Leyen aus Niedersach-sen, die am Kompromiss beteiligt war, sagt: Das ist ei-gentlich wahr. Lassen wir doch die Lösung so, wie siejetzt ist. – Als Nächster sagt Herr Böhmer, der auch amKompromiss beteiligt war: Ja, da könnte man auch wie-der etwas ändern, es ist eigentlich nicht gar so geschickt.Als Dritter lässt Herr Seehofer streuen: Ich war ja nochnie dafür. – Da muss man zugeben: Sie sind noch der Be-rechenbarste in der ganzen Truppe; das ist immerhinwahr.
Dann sagt Frau Merkel: Wir sind gesprächsbereit. Bittelegt doch einmal einen Gesetzentwurf vor.Es folgt der zweite Akt: Wir haben einen Gesetzent-wurf auf dem Tisch. Was passiert? Die Union versinkt inSchweigen. Dann tagt das Präsidium und sagt: Wir sinddagegen. Jetzt ist interessant, was dann kommt – Stich-wörter: Klarheit, Berechenbarkeit und Konzeption –: Eswechseln die Begründungen für das Dagegensein! HerrWissmann sagt, es sei schlimm, weil die Arbeitnehmerbelastet würden – so, als sei die Entlastung der Arbeitge-ber und damit die Senkung der Lohnnebenkosten nochnie ein gemeinsames Anliegen gewesen.
Herr Seehofer sagt: Der Gesetzentwurf ist zu kompli-ziert. – Ich wusste gar nicht, Herr Seehofer, dass Siekeine Gesetzestexte lesen können. Herr Kauder schließ-lich sagt, das sei ganz schlimm, weil die Ministerin jetztden Kompromiss aufgegeben habe.
Das ist wahr, darum ging das Ganze ja. Auf Deutsch:Das, was Sie hier aufführen, erinnert wesentlich mehr anein Kasperletheater als an Klarheit, Berechenbarkeit undeine Konzeption.
Frau Kollegin Bender, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Zöller?
Bitte.
Frau Kollegin Bender, Sie haben gerade gesagt, dass
Kollege Seehofer vielleicht Schwierigkeiten mit Geset-
zestexten hat. Ich habe heute Ihren Gesetzesvorschlag
erhalten und zitiere einfach einmal den ersten Satz da-
raus. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihn mir er-
klären könnten. Es geht um die Änderung des GKV-Mo-
dernisierungsgesetzes, Nr. 36. Dort heißt es:
In Absatz 1 Satz 1 werden die Wörter „Die Kran-
kenkasse hat in ihrer Satzung nach den Vorgaben in
den Sätzen 2 bis 7“ durch die Wörter „Versicherte
haben nach den Vorgaben in den Sätzen 2 bis 7 An-
spruch auf“ und die Wörter „für die Fälle vorzuse-
hen“ durch die Wörter „in den Fällen“ ersetzt.
Ich kann Ihnen durchaus helfen. Wir können das jamal im Ausschuss machen. In solchen Fällen nimmt mandie alte Regelung im geltenden SGB V zur Hand, legtden Gesetzentwurf daneben und schaut sich an, welcheWörter gestrichen und ersetzt werden und wie sich dieBedeutung verändert.
Ich bin mir ganz sicher, dass Ihnen ein ehemaliger Ge-sundheitsminister hier auch noch Nachhilfe geben kann.
Jetzt sage ich einmal etwas zur Konzeption und zudem Kompromiss. Wir alle wissen doch, dass ein fairerWettbewerb zwischen der gesetzlichen und der privatenKrankenkasse, den Frau Merkel so gerne gehabt hätte,eine Schimäre ist. Das ist schlichtweg nicht umsetzbar.Es kann keinen Wettbewerb zwischen zwei Systemengeben, die nach völlig verschiedenen Regeln funktionie-ren.
Auf der einen Seite gibt es die gesetzlichen Krankenver-sicherungen mit einer Kontrahierungspflicht – das heißt,sie müssen jeden aufnehmen –, mit dem Solidarprinzipund mit dem Sachleistungsprinzip.
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Birgitt BenderAuf der anderen Seite gibt es die privaten Krankenversi-cherungen, die die Menschen nur nach entsprechenderRisikoselektion aufnehmen, die einkommensunabhän-gige Prämien verlangen und die im Übrigen nach demKostenerstattungsprinzip arbeiten und somit keinerleiMöglichkeit haben, die Qualität und Wirtschaftlichkeitder Leistungserbringung zu beeinflussen.Zwischen diesen verschiedenen Systemen kann eskeinen Wettbewerb geben.
Die Lösung, die wir des nächtens ausgehandelt hatten,bedeutete obendrein eine Stillstellung des Wettbewerbsunter den gesetzlichen Krankenkassen, weil für alle diegleichen Preise gelten sollten. Angesichts der Tatsache,dass man dann auch noch festgestellt hat, dass der Anteilfür die Verwaltungskosten bald so hoch ist wie der Bei-trag selbst, muss man sagen: Diese Lösung ist nicht gut.
Ich kann mich hier den Worten der Ministerin nur an-schließen: Wenn die Lösung schlecht ist, sollte man denMut haben, sie besser zu machen.Was ist der Vorteil des Gesetzentwurfs, den wir Ihnenvorlegen?
Es gibt wieder Wettbewerb unter den gesetzlichen Kran-kenkassen. Das heißt, beim Zahnersatz wird es wiederum Qualität und Wirtschaftlichkeit gehen. Gleichzei-tig ist diese Lösung, nach der der Zahnersatz in der GKVverbleibt, sein Beitragsanteil aber alleine von den Versi-cherten getragen wird, für die Versicherten billiger alsdie Pauschale – das müssen Sie sich nur einmal an-schauen – und verteilungsgerechter.
– Frau Widmann-Mauz, wenn Sie mir das nicht glauben,dann sage ich Ihnen: Jemand mit einem Einkommen von1 000 Euro zahlt in Zukunft 4 Euro als Beitragsanteil fürden Zahnersatz. Das bedeutet eine Zusatzbelastung von2 Euro. Die 6,50 Euro, die man sonst bezahlt hätte, er-reicht man erst, wenn man ein Einkommen nahe an derBeitragsbemessungsgrenze hat.
Vorteile für die Versicherten gibt es auf jeden Fall. Wiegesagt: Es gibt dann auch wieder Wettbewerb und mehrQualität.
– Ich glaube, das Problem der fehlenden Klarheit undder mangelnden Konzeptionsfähigkeit sollten Sie einmaluntereinander lösen. Ich sehe ja, dass Sie schon lebhaftins Gespräch vertieft sind.Herr Kollege Storm, Sie haben hier in Ansätzen auchüber die Rente gesprochen. Angesichts dessen, was dieUnion zu unserem Rentenversicherungsnachhaltigkeits-gesetz vorgelegt hat, frage ich mich, was bei Ihnen klarund konzeptionell überzeugend sein soll. Sie waren dochder Meinung, man müsse die Beitragsentwicklung indem Sinne festschreiben, dass der Beitrag nicht über20 Prozent steigt. Das ist niedriger als das, was wir vor-sehen. Gleichzeitig haben Sie verlangt, dass das Renten-niveau am Ende höher sein soll und dass man die Kin-dererziehungszeiten stärker berücksichtigt. Diesespolitische Konzept nennt man für gewöhnlich die Qua-dratur des Kreises.
Insofern kann ich Ihnen Qualität Ihrer Oppositionsarbeitleider nicht bescheinigen.
Im Übrigen haben Sie erklärt, die Riester-Rente seiein Flop. Das sehen wir nicht so. Allerdings muss nochÜberzeugungsarbeit geleistet werden. Aber wenn siedenn, Herr Storm, ein Flop wäre, dann ist es doch keineAntwort, den „Flop“ für alle verpflichtend zu machen.
Das ist doch nun wirklich nicht überzeugend. Außerdemführen Sie doch – genau wie wir – seit langem eine Dis-kussion über Eigenverantwortung. Ich verstehe Eigen-verantwortung so, dass man selber Entscheidungen trifft.Insofern passt es doch nicht zusammen, wenn man vomStaat gezwungen wird, per obligatorischer Entgeltum-wandlung privat vorzusorgen.
Das kann es ja nun auch nicht gewesen sein.Meine Damen und Herren von der Union, wenn sichder Pulverdampf ein bisschen verzieht, dann sieht mandoch, dass es in wesentlichen aktuellen Fragen so großeDifferenzen zwischen Rot-Grün auf der einen Seite undUnion auf der anderen Seite – sofern Sie selber irgend-wann mit sich einig werden – nicht gibt.
Frau Kollegin Bender, darf ich Sie noch einmal fra-
gen, ob Sie eine weitere Zwischenfrage von Herrn Storm
entgegennehmen möchten?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, ist Ihnen nicht der Unterschied zwi-schen der Entgeltumwandlung als Form der betrieblichen
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Andreas StormAltersvorsorge und der Riester-Rente bekannt? Weil dieRiester-Rente so nicht angenommen wird, habe ich ge-rade vorgeschlagen, einen anderen Weg zu gehen, derbisher sehr gut funktioniert hat, nämlich als Regelfall dieEntgeltumwandlung vorzusehen.
Natürlich ist das in der Konstruktion ein Unterschied.
Viele Menschen, durch tarifliche Regelungen angeregt,
entscheiden sich für die Entgeltumwandlung. Aber wenn
man von Eigenvorsorge und Eigenverantwortung
spricht, gleichzeitig jedoch die Eigenverantwortung per
Entgeltumwandlung für alle verpflichtend machen will,
halte ich das für einen Widerspruch in sich. Dieses Pro-
blem haben Sie nicht gelöst.
Ich schaue mir einmal an, was zurzeit vorliegt. Da
gibt es zum Beispiel die Organisationsreform in der Ren-
tenversicherung. Es hat zwar lange gedauert, bis man
sich mit den Ländern geeinigt hat, aber immerhin ist das
jetzt der Fall. Wir werden gemeinsam eine Reform auf
den Weg bringen, die Verwaltungsvereinfachungen er-
möglicht und hilft, 350 Millionen Euro im Jahr einzu-
sparen. Auch das sollte man einmal im Auge behalten.
Schauen wir uns einmal die Nachbesserungen beim
Preissystem für die Krankenhäuser an. Dass Sie dazu ei-
nen eigenen Antrag vorlegen, ist okay. Aber die Diffe-
renzen sind doch nicht unüberbrückbar. Wir sind uns je-
denfalls einig, dass durch das Fallpauschalensystem in
den Krankenhäusern erstmals das Leistungsgeschehen
transparent wird, Preisvergleiche möglich werden und
damit auch die Qualität und Wirtschaftlichkeit in den
Krankenhäusern steigt. Das ist uns ein gemeinsames An-
liegen.
Oder nehmen wir die Pflege. Den großen Wurf, die
große Strukturreform, von der wir alle wissen, dass sie
notwendig ist, legen auch Sie nicht vor.
Was die Umsetzung des Urteils zur Entlastung von Fa-
milien angeht, so kann man sich über die Ausgestaltung
streiten. Auch bei uns in der Koalition besteht noch Ge-
sprächsbedarf. Sie aber halten uns auf der einen Seite
entgegen, wie schrecklich es sei, manche Menschen stär-
ker zu belasten, schlagen auf der anderen Seite jedoch
selber vor, erst einmal einen erhöhten Beitrag von allen
zu erheben und dann Eltern mit Kindern wieder etwas
zurückzugeben, was ja letztlich auch nichts anderes be-
deutet als eine Belastung aller, wobei ein Teil der Entlas-
tungen von den Entlasteten selbst finanziert wird. Wis-
sen Sie: So schrecklich überzeugend ist auch das nicht
und vor allem in der Wirkung nicht so unterschiedlich.
Bei den aktuellen Fragen liegen nicht unbedingt Wel-
ten zwischen Rot-Grün auf der einen Seite und der Op-
position auf der anderen Seite.
Anders sieht es allerdings bei den längerfristigen Re-
formoptionen aus. Da sind wir manchmal Horst
Seehofer näher als der Union insgesamt. Immerhin hat
die Debatte um den Zahnersatz deutlich gemacht – das
ist vielleicht das Verdienst dieser Debatte –, dass wir in
der Gesundheitsversorgung zwei Systeme nebeneinan-
der haben, die ganz unterschiedlich funktionieren, und in
dem diejenigen, die gut verdienen, nur ihr privates Ri-
siko absichern, sich der Solidarität legal entziehen und
damit die Nachhaltigkeit der Finanzierung infrage stel-
len.
Deshalb werden wir über die Frage „Kopfgeld nach
Frau Merkel oder Bürgerversicherung als eine Versiche-
rung für alle mit Wettbewerb?“ noch heftig streiten müs-
sen.
Also: nicht kleinliche Streitereien, sondern Debatten
über die Grundlinien der Sozialpolitik, das halten wir für
wichtig und notwendig.
Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Ministerin Schmidt hat gerade gesagt, sie fordereeine Politik nach den Regeln der Mathematik. Bei denAnnahmen, nach denen diese Bundesregierung Gesund-heits- und Sozialpolitik betreibt, frage ich mich, ob dieseRegierung eigentlich noch nach den Regeln der Mathe-matik handelt. Bei der Tabaksteuererhöhung hatten Sieeine viel zu hohe Erwartung, die Beitragssätze, die Sieversprechen, sind viel zu niedrig, die Pauschale für denZahnersatz haben Sie mit 6 Euro kalkuliert und erst einJahr später haben Sie festgestellt, dass auch das zu ge-ring ist. Meine Damen und Herren, diese Bundesregie-rung betreibt eine Politik gegen alle Regeln der Mathe-matik und deswegen beteiligt sich die FDP-Oppositionnicht an dieser Politik.
Betrachten wir einmal die Zahlen der Pflegeversiche-rung. Wir haben heute etwa 1,9 Millionen Pflegebedürf-tige und werden im Jahre 2030 vermutlich 3 MillionenPflegebedürftige haben. Wir haben heute einen Beitrags-satz von 1,7 Prozent, im Jahre 2050 wird er im schlimms-ten Fall bei 6 Prozent liegen. Obwohl die Pflegeversiche-rung vor ein paar Monaten erst zehn Jahre alt gewordenist, erleben wir, dass die Probleme immer weiter steigen,weil die Leistungen nicht weiter angepasst werden. DieZahl der Pflegebedürftigen, die auf Sozialhilfe angewie-sen sind, wird weiter steigen. Die Pflegeversicherung isteinmal eingeführt worden, um gerade das zu verhindern.Meine Damen und Herren, die Probleme in der Pfle-geversicherung werden weiter zunehmen. Seit 1999 jagt
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Daniel Bahr
ein Rekorddefizit das nächste. Vermutlich wird das Defi-zit in diesem Jahr erstmals 1 Milliarde Euro betragen,aber diese Regierung erkennt immer noch nicht, dass beidieser Pflegeversicherung ein akuter Reformbedarf be-steht.
Die Reform ist dringend nötig. Die Pflegeversicherungmuss auf eine neue, solide finanzielle Basis gestellt wer-den, damit wir den Pflegekollaps verhindern und damitwir auch künftigen Pflegebedürftigen noch eine solidefinanzierte Pflegeversorgung gewährleisten können.Meine Damen und Herren, es lohnt nicht, die Reformder Pflegeversicherung immer weiter aufzuschieben,nicht mit einem Basta des Kanzlers und nicht mit demvorliegenden Gesetzentwurf, der die notwendige Reformnur in die Zukunft schieben will. Im Ergebnis ist Ihr Ge-setzentwurf, liebe rot-grüne Bundesregierung, dochnichts anderes als eine Beitragserhöhung für alle mitAusnahme derjenigen, die Kinder erziehen, und derRentnerinnen und Rentner. Sie wollen damit nur ein paarJahre Zeit gewinnen und die Reform auf die Zeit nachder Wahl schieben, weil Sie selbst nicht mehr die Kraftfür die Reform der Pflegeversicherung haben und das ei-ner anderen Bundesregierung überlassen wollen.
Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz, das Siehier vorgelegt haben, setzen Sie doch gar nicht das Ur-teil des Verfassungsgerichts um. Dieses Gesetz istnichts anderes als ein Kinderlosenbelastungsgesetz.
Das Bundesverfassungsgericht, Frau Schmidt, hat– ich kann Ihnen nur vorschlagen, es einmal nachzu-lesen – in seinem Urteil betont – ich zitiere –: Die Rege-lung muss den Eltern während der Zeit zugute kommen,in der sie Kinder betreuen und erziehen. – Dann machenwir das doch genauso: Führen wir eine spürbare Entlas-tung derjenigen ein, die in der Zeit der Kindererziehungeine besondere Belastung zu schultern haben! Die FDPhat eine spürbare Entlastung von 150 Euro pro Jahr inden ersten drei Lebensjahren des Kindes vorgeschlagen,die über Steuermittel finanziert wird.
Das ist finanziell für den Haushalt zu schultern. Es kos-tet im ersten Jahr 100 Millionen Euro.Schon im letzten Haushaltsjahr haben wir genug Ge-genvorschläge für Einsparungen gemacht und die FDPwird auch bei den kommenden Haushaltsberatungenwieder Einsparvorschläge machen, anders als andereOppositionsparteien. Warten Sie auf die Haushaltsbera-tungen!
100 Millionen Euro im ersten Jahr kostet dieser Vor-schlag, der unbürokratisch und einfach ist und der fürFamilien eine spürbare Entlastung bringt. Das ist etwasanderes als weitere Beitragserhöhungen, wie sie die Re-gierung vorschlägt. Tun Sie, Frau Schmidt, nicht so, alssei eine steuerfinanzierte Lösung nur ein Hirngespinstder FDP. Ihr eigener Regierungsberater Rürup hat einesteuerfinanzierte Lösung vorgeschlagen, die Pflege-kassen haben eine steuerfinanzierte Lösung vorgeschla-gen, alle Wirtschaftswissenschaftler, die sich mit dieserFrage beschäftigt haben, haben eine steuerfinanzierteLösung vorgeschlagen. Der VdK hat sich ebenfalls füreine steuerfinanzierte Lösung ausgesprochen und auchder Deutsche Familienverband hat dafür plädiert, einespürbare Familienentlastung über die Steuer zu errei-chen.Wir haben doch nichts anderes in der Rentenversiche-rung. Die Kindererziehungszeiten, die eine besondereBerücksichtigung und Anerkennung der Familienleis-tung sind, sind ebenfalls über einen Haushaltszuschusssteuerfinanziert. Warum gehen wir diesen Weg, der fi-nanziell beherrschbar ist, nicht auch in der Pflegeversi-cherung, damit es wirklich eine spürbare Entlastung fürFamilien gibt? Das ist unbürokratisch, einfach undkommt den Familien in der Zeit zugute, in der sie diehöchsten Belastungen haben.
Ich kann auch dem CDU-Vorschlag nicht viel abge-winnen. Letztlich schlagen auch Sie von der CDU/CSUnichts anderes als Beitragserhöhungen vor, nur dass Siedie Familien erst in einem zweiten Schritt entlasten wol-len. Herr Kollege Seehofer, Sie haben noch am 30. Ja-nuar in der Aktuellen Stunde selbst Frau Schmidt vorge-worfen, dass man nicht die Rentnerinnen und Rentnerbelasten kann, die früher einmal einen Beitrag erbrachthaben, indem sie Kinder erzogen haben. Ich zitiere wört-lich:Aber, Frau Schmidt, eines kann man nicht machen,nämlich Familien, die in der Vergangenheit Kindergroßgezogen haben und deren Kinder aus demHaus sind, jetzt einen höheren Pflegeversicherungs-beitrag zumuten, wie Sie es beabsichtigt haben.Denn diese Familien hatten niemals den Vorteil ei-nes Kinderbonus in der Vergangenheit.
Genau das ist der Vorschlag der CDU/CSU, den Sie jetztvorlegen. Sie entlasten nur die Familien und schaffeneine Beitragserhöhung für alle. Das lehnt die FDP ab.Daran wollen wir uns nicht beteiligen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, vornoch nicht einmal zwei Monaten haben Sie selbst in Pres-seerklärungen erklärt, dass Sie gegen Beitragserhöhungenseien. Ich verweise auf die Presseerklärung von AndreasStorm und Annette Widmann-Mauz vom 5. Juli 2004:
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Daniel Bahr
Um die Einnahmen der Pflegeversicherung zu sta-bilisieren, will Rot-Grün nun das Karlsruher Urteilzur Beitragsentlastung von Familien als Deckman-tel für Beitragserhöhungen missbrauchen. DieseVerknüpfung ist nicht akzeptabel.
Ich stelle fest: Sowohl die CDU/CSU als auch die rot-grüne Regierung missbrauchen das Urteil des Bundes-verfassungsgerichts für Beitragserhöhungen,
um den Reformbedarf in der Pflegeversicherung zweiJahre hinauszuschieben. Die Probleme in der Pflegever-sicherung löst das nicht.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Menschen in unseremLand brauchen auch in Zukunft soziale Sicherheit, dievon der Gemeinschaft finanziert wird. Alles, was wirzurzeit tun, dient diesem Zweck. Die Agenda 2010 istkein Angriff auf den Sozialstaat. Im Gegenteil: Sieschützt ihn, sie gibt ihm und den Menschen in unseremLand Zukunft. Sicher, sie bringt manche Veränderung,aber ein „Weiter so!“ würde den Sozialstaat ernsthaft inGefahr bringen.
Herr Storm, Ihr Beitrag war an einer Stelle an Schein-heiligkeit wirklich nicht mehr zu überbieten. Was wollenSie jetzt? Eine pauschale Kürzung im Haushalt von5 Prozent, wie in diesen Tagen von Herrn Stoiber vorge-tragen? Das hieße nämlich: 5 Prozent weniger für dieRentnerinnen und Rentner. Oder wollen Sie, dass wirinsgesamt mehr ausgeben? Da müssen Sie sich klar ent-scheiden und Ihre Entscheidung deutlich machen.
Wir erwarten 2005 Steuereinnahmen in Höhe von194,5 Milliarden Euro. Den größten Teil davon, mehr als125 Milliarden Euro – das sind 64 Prozent aller Steuer-einnahmen –, geben wir für soziale Leistungen aus. Von100 Euro Steuern, die wir einnehmen, geben wir 64 Eurofür soziale Leistungen aus. Das zeigt doch, wie absurdder Vorwurf in diesen Tagen ist, die Bundesregierungunter Gerhard Schröder betreibe eine Politik der sozialenKälte.
Ist es soziale Kälte, wenn wir rund 78 Milliarden Eurofür die Rentenversicherung ausgeben, wenn wir 30 Mil-liarden Euro für den Arbeitsmarkt ausgeben,
wenn wir 3,4 Milliarden Euro für die Familienpolitikausgeben, wenn wir 3 Milliarden Euro für Kriegsopfer-leistungen bereitstellen, wenn wir 3,6 Milliarden Eurofür Sozialleistungen an die Landwirte, 850 MillionenEuro für Wohngeld, 521 Millionen Euro für die Woh-nungsbauprämie oder 760 Millionen Euro für den Zivil-dienst ausgeben?
Noch einmal: Insgesamt geben wir im Haushalt für dasJahr 2005 rund 125 Milliarden Euro für soziale Leistun-gen aus. Soziale Kälte sieht wohl anders aus.Wer einen Eindruck davon gewinnen möchte, wie so-ziale Kälte wirklich aussieht, der sollte sich die Politikder CDU/CSU genauer ansehen. Würden nämlich diesozialpolitischen Vorstellungen Ihrer Parteivorsitzenden,Frau Merkel, umgesetzt, dann hätten wir in der Tat einesoziale Klimaverschärfung in unserem Land zu erwar-ten.
Einen Vorgeschmack darauf, was Frau Merkel und ihreMitstreiter wirklich wollen, haben wir bei den Verhand-lungen zu Hartz IV sehr konkret und belegbar erfahrenkönnen. Wäre es nach ihren Vorstellungen gegangen,dann hätten die Langzeitarbeitslosen bei der Zusammen-legung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe deutlich schär-fere Einschnitte hinnehmen müssen. Wenn sie sichdurchgesetzt hätten, dann wären die Bezieher von Ar-beitslosengeld II vom nächsten Jahr an nicht mehr ren-tenversichert. Wir haben das verhindert.Wenn sich die Union durchgesetzt hätte, würden El-tern und ihre Kinder bei längerer Arbeitslosigkeit künf-tig grundsätzlich gegenseitig haftbar gemacht. Das ha-ben wir verhindert. Wenn sich die Union durchgesetzthätte, dürften Kinder von Arbeitslosengeld-II-Empfän-gern zukünftig noch ganze 256 Euro auf ihrem Sparbuchhaben. Das haben wir verhindert.Aber nicht nur bei der Arbeitsmarktreform hat FrauMerkel gezeigt, wohin die Reise mit der Union wirklichgeht.
Bei der Krankenversicherung planen Sie mit der Ein-führung einer Kopfpauschale einen Radikalumbau. Diebewährte solidarische Krankenversicherung wäre damitam Ende. Frau Merkel hält es für richtig, wenn ein Gene-raldirektor genauso viel bezahlt wie sein Fahrer, wenneine Ärztin genauso viel bezahlt wie ihre Arzthelferin.Soziale Gerechtigkeit sieht nach den Vorstellungen vonFrau Merkel so aus, dass derjenige, der mehr verdient,zukünftig weniger und derjenige, der wenig verdient,künftig mehr bezahlt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004 11021
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Waltraud LehnIn diesem Sinne hat auch die „Süddeutsche Zeitung“diese Politik gestern zutreffend als „sozialpolitische Ge-frierschock-Politik“ bezeichnet.Die Allerschwächsten der Gesellschaft sollen nachdem Willen der CDU eine steuerfinanzierte Unterstüt-zung bekommen. Aber wie dieser soziale Ausgleich, der40 Milliarden Euro kosten würde, finanziert werden soll,wird von Ihnen nicht verraten. Da wird nicht vorgeschla-gen, dass wir die Umsatzsteuer erhöhen müssen oderdass durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer jeder nocheinmal kräftig zufassen muss.Dabei müssten Sie nur einmal über den Zaun blicken,um zu sehen, wie wenig praxistauglich Ihre Vorschlägesind. In der Schweiz gibt es die Kopfpauschale. Sie soll-ten einmal hinfahren und sich darüber informieren.
– Ich war in der Schweiz und berichte Ihnen, was manuns dort gesagt hat. Man beneidet uns in der Schweiz da-rum, dass wir Strukturveränderungen durchgeführt ha-ben, und hält die Kopfpauschale für die größte Bremse,um Strukturveränderungen zu erreichen.
Das schweizerische System ist übrigens das zweit-teuerste der Welt.Wir verfolgen einen anderen Weg. Wer viel zahlenkann und breitere Schultern hat, der zahlt auch mehr,und zwar jeder nach seiner finanziellen Leistungsfähig-keit. Sozialstaat heißt nicht nur, dass der Staat für Men-schen zahlt, die Hilfe brauchen. Er sorgt vielmehr auchdafür, dass sich die Starken und Reichen stärker und um-fassender beteiligen. Deshalb setzen wir auf die Bürger-versicherung. Deshalb nehmen wir Strukturveränderun-gen in der Krankenversicherung vor. Der merkelscheGrundsatz und ihr Einsatz in der Gesundheitspolitik hießPrivatisierung des Zahnersatzes. Das sollte ihr Einstiegin das große CDU-Reformprojekt Kopfpauschale sein.Aber auch die meisten Gesundheitspolitiker Ihrer Partei– auch wenn sie sich das im Moment nicht mehr zu sa-gen trauen – haben sehr wohl begriffen, dass eine Kopf-pauschale ein bürokratisches und sozial unausgewoge-nes Monster wäre, und haben den Rückzug angetreten.
Wir bleiben klar und ehrlich. Wir sagen Ja zum So-zialstaat. Wir belegen das mit Inhalten, genauso wie mitZahlen. In den Haushalt 2005 sind so viele Mittel für so-ziale Leistungen eingestellt worden wie niemals zuvor.Er wird dem Anspruch der Menschen, dann Hilfe zu be-kommen, wenn sie sie brauchen, mehr als gerecht. Wirfinden das gut so; das ist so; das soll auch so bleiben.Wir werden nicht nur dafür sorgen, dass wir hier eben-falls Spitzenreiter in Europa sein werden, sondern auchabsichern, dass dies so bleiben wird.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Widmann-
Mauz von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Frau Kollegin Lehn, wenn Sie von einem bewährtenSystem sprechen und davon, wie wunderbar sich alles indieser Bürgerzwangsversicherung organisieren lasse,dann müssen Sie sich schon fragen lassen: Wenn alles sowunderbar ist, warum sind dann, seit Sie an der Regie-rung sind, eigentlich die Beiträge zur gesetzlichen Kran-kenversicherung Jahr für Jahr gestiegen – wahrschein-lich weil Sie die bewährten Instrumente so gut einset-zen – und warum laufen Ihnen die Experten selbst ausIhren eigenen Kommissionen davon und sind der Mei-nung, dass ein solches Monstrum auf keinen Fall reali-sierbar wäre? Sie wissen, dass eine Bürgerzwangsversi-cherung keine Arbeitsplätze schafft, sondern vernichtet.Ich frage mich, wie Sie das den Menschen angesichtsvon 350 000 Arbeitslosen mehr im August dieses Jahresim Vergleich zum August 2002 zumuten können. Das er-fordert schon eine ganze Portion Mut. Ich kann Ihnennur sagen, was für die Union gilt: Was Arbeit schafft,das ist sozial. Diesen Anspruch haben Sie schon längstaufgegeben.
Wer den Sozialstaat will, muss Änderungsprozesseeinleiten, … und zwar auf der Basis von Sicherheitund Bezahlbarkeit.Das waren Ihre Worte im Juni letzten Jahres an dieserStelle, Frau Ministerin Schmidt. Was wir heute haben,sind nervöses Verändern und Nachbessern, Verschiebenund Korrigieren, und zwar auf der Basis totaler Verunsi-cherung und zunehmender Unbezahlbarkeit. Das ist beiHartz der Fall, das ist bei der Gesundheitsreform derFall, insbesondere bei der Reform der Pflegeversiche-rung, und – das entsprechende Gesetz wollen Sie heuteändern – das ist bei den Fallpauschalen der Fall. Es istdie Politik der Bürgerverunsicherung, die die Menschenauf die Straßen treibt, und nicht die Uneinsichtigkeit derMenschen, wie es Herr Benneter nach jeder verlorenenWahl erneut behauptet. Die Menschen wissen, worum esin diesem Land geht. Sie wissen auch, dass die SPD esnicht kann. Bei der SPD verbindet sich Orientierungs-losigkeit mit handwerklichen Fehlern und persönlichenFührungsschwächen. Das ist exekutive Politik jenseitsder Zumutbarkeit.
Hinzu kommt die Unglaubwürdigkeit von FrauSchmidt, insbesondere dann, wenn es ums Geld geht.Das haben Sie heute wieder in eindrucksvoller Weise be-stätigt. Vor der Bundestagswahl 2001 haben Sie ange-kündigt, in der gesetzlichen Krankenversicherung werdees 2002 ein ausgeglichenes Finanzergebnis geben.
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Annette Widmann-MauzErgebnis: Im Dezember wies die gesetzliche Kranken-versicherung ein Minus von 2,5 Milliarden Euro auf.Das gleiche Spiel wiederholte sich im Jahr 2003, nur mitdem Unterschied, dass diesmal nicht erst im Dezember,sondern schon im Frühjahr klar war, dass es ein Defizitin der gleichen Größenordnung geben wird. Im Jahr2004 und insbesondere heute verbreiten Sie wieder Opti-mismus. Die Kassen hätten die Schulden halbiert und2,5 Milliarden Euro Überschüsse erzielt. Sie kommenalso zu dem Ergebnis, dass Beitragssatzsenkungen an-stünden.Frau Schmidt, die Menschen glauben Ihnen das nichtmehr, und das aus gutem Grund. Denn auch 2004 ist dieLage wieder einmal angespannter, als Sie es den Men-schen weismachen wollen. Erst zum 31. August – es istalso gerade einmal ein paar Tage her – haben die Kassenbeim Bundesversicherungsamt erste Pläne zur Entschul-dung vorgelegt. Es sind noch keine Schulden beglichen,Frau Schmidt. Ihre Zuversicht, insbesondere in der zwei-ten Jahreshälfte könnten nochmals Überschüsse in Höhevon 2,4 Milliarden Euro erzielt werden, entbehrt dochjeglicher Grundlage. Selbst der Chef der Barmer, Fied-ler, warnt im „Handelsblatt“:Auf keinen Fall können wir den Erfolg des erstenHalbjahres wiederholen.
Frau Schmidt, solche Zahlen, wie Sie sie auch heutewieder vorgelegt haben, können eben nur bei Milchmäd-chenrechnungen herauskommen. Stichwort Tabak-steuer: Ihr Kollege Eichel stellt die Subventionen ausder Tabaksteuer zugunsten der gesetzlichen Krankenkas-sen infrage. Statt der erwarteten Mehreinnahmen gab esim ersten Halbjahr ein Minus. Das heißt, es steht doch inden Sternen, ob die zusätzlichen 500 Millionen Euro indiesem Jahr, die 2,5 Milliarden Euro im nächsten Jahrund die 4,2 Milliarden Euro im Jahr 2006 überhauptnoch fließen werden. Frau Bender – Sie haben sich ge-meldet –, auch Frau Hermenau, Ihre Fraktionskollegin,hat es heute auf den Punkt gebracht, als sie sagte, dasKonzept der Bundesregierung müsse komplett überar-beitet werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bender?
Jawohl.
Frau Kollegin, Sie bezweifeln, dass sich die Finanz-
lage der Kassen infolge der Gesundheitsreform durch-
greifend verbessert. Ich darf Sie daher fragen, was Sie
von folgendem Zitat halten:
Die Kassen werden 2006 finanziell top dastehen.
Sie werden ihre Schulden bewältigt haben und
deutlich niedrigere Beiträge als heute verlangen.
Das Zitat ist aus einem Interview mit Herrn Seehofer im
„Spiegel“ vom 30. August 2004.
Frau Kollegin Bender, würden Sie bitte stehen blei-
ben.
Liebe Frau Kollegin, auch an dieser Stelle muss klargesagt werden: Wir haben diese Prognosen nicht abge-geben. Wir stehen auch dazu, dass wir die Einsparungs-reserven mobilisieren wollen.
Aber so zu tun, als gäbe es in der gesetzlichen Kran-kenversicherung keine Probleme, als sei alles schon inButter und als müssten wir nur warten, bis das Heu inder Scheune ist, ist schlichtweg falsch. Sie nähren damitHoffnungen, die Sie am Jahresende nicht halten können,
und Sie verunsichern die Bürgerinnen und Bürger vonJahr zu Jahr aufs Neue. Da müssen Sie sich nicht wun-dern, wenn die Menschen auf die Straße gehen.
Sie wissen doch selbst ganz genau, Frau KolleginBender, dass es zur Jahresmitte hin etwa 3 MillionenVersicherte gibt, die die Belastungsobergrenze erreichthaben. Im zweiten Halbjahr werden es natürlich mehrMenschen werden, die von der Zuzahlung befreit sind.
– Das ist ja auch in Ordnung. – Aber dann so zu tun, alsob die Einnahmen an dieser Stelle gleich blieben und dieAusgaben so niedrig blieben, wie sie sind, ist doch ein-fach nicht redlich. Sie wissen genau, dass der Umfangder Zuzahlungen zurückgehen wird und dass die Leis-tungsausgaben im selben Umfang steigen werden.
Deshalb stimmen Ihre Rechnungen nicht. Hören Sie auf,die Menschen zu verunsichern und sie mit falschen Zah-len zu täuschen! Bleiben Sie auf dem Boden der Reali-tät! Ich glaube, dass haben die Beitragszahlerinnen undBeitragszahler verdient.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004 11023
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(D)
Annette Widmann-MauzViel dramatischer ist, dass die Bundesministerin heutekein Wort zu dem Wegbrechen der Einnahmen der ge-setzlichen Krankenversicherung gesagt hat. Die Mehr-einnahmen der GKV gehen doch ausschließlich daraufzurück, dass die Lebensversicherungen und die Betriebs-renten stärker verbeitragt wurden. Man hört kein Wortmehr von der Arbeitslosigkeit, also von den Problemender arbeitslosen Menschen in diesem Land, die Sie nichtlösen. Deshalb sage ich auch an dieser Stelle:350 000 Arbeitslose mehr, das sind die Hypotheken, mitdenen unsere gesetzliche Krankenversicherung zu kämp-fen hat. Kein Schönrechnen hilft an dieser Stelle.
Das jüngste Beispiel Ihrer Unzuverlässigkeit ist derZahnersatz. Noch vor einem Jahr haben Sie, FrauSchmidt, an dieser Stelle gesagt – Zitat –:Wir werden alles tun, um den Strukturwandel ein-zuleiten. Wir stellen den mündigen Patienten unddie mündige Patientin in den Mittelpunkt unsererBemühungen.Doch Mühe reicht eben nicht. Sie brauchen auch denWillen dazu.
Weder Frau Schmidt noch Herr Müntefering haben die-sen Willen gezeigt. Sie wollen keine Wahlfreiheit undSie wollen keinen Wettbewerb mit der privaten Kran-kenversicherung. Sie wollen die Finanzstruktur nichtverändern. Deshalb boykottieren Sie Ihren eigenen Be-schluss. Sie haben seinerzeit im Parlament die Hände ge-hoben. Sie täuschen seit Monaten mit falschen Zahlen,so auch heute wieder.Frau Schmidt, wie kommen Sie überhaupt zu dieserZahl von 10 Euro für die Pauschale? Es wäre doch ein-mal interessant, wenn dem Parlament aufgezeigt würde,wie Sie zu dieser Zahl gekommen sind; dann könnte mandas nachrechnen. Sie verunsichern und verunglimpfen,aber reale Zahlen legen Sie nicht vor.6,20 Euro für die Leistungsausgaben und 50 Cent fürdie Verwaltungskosten bei der unbürokratischen Rege-lung, das sind die Fakten und nicht das, was Sie hier dar-legen!
– Mein lieber Herr Dreßen, wenn Sie immer sagen, diePauschale sei so teuer, dann rechne ich Ihnen das einmalvor, nachdem ja Frau Bender in ihrer Aufregung die Bei-tragsbemessungsgrenze vorhin sehr weit heruntergesetzthat: Bei einem Einkommen von 2 000 Euro beträgt diePauschale 6,70 Euro und nach Ihrem Vorschlag 8 Euro.Für einen Durchschnittsverdiener beträgt die Pauschale6,70 Euro und nach Ihren Vorstellungen 9,60 Euro. Sogeht es weiter. Für ein Einkommen an der Beitragsbemes-sungsgrenze – die liegt noch deutlich über 3 000 Euro,liebe Frau Bender – beträgt die Pauschale 6,70 Euro undnach Ihren Vorstellungen 13,60 Euro. Was Sie den Men-schen da abnehmen wollen, ist also mehr als doppelt soviel.
Bleiben Sie an dieser Stelle redlich!
Seit neun Monaten ist das Gesetz in Kraft. Die Bevöl-kerung hat sich darauf eingestellt. Viele Menschen ha-ben bereits Privatverträge geschlossen. „Rein und raus,rein und raus“, das ist die Devise im Hause Schmidt,weil Sie, Frau Schmidt – das will ich Ihnen sagen –, esnicht können und weil Sie es auch nicht wollen.
Sie sind erstens nicht in der Lage, ein handwerklichesProblem, nämlich den Beitragseinzug, zu lösen, undzweitens wollen Sie die Prämie gar nicht. Seit Mai habenwir Sie aufgefordert, den Beschluss umzusetzen und dienotwendigen Fragen zu klären. Antwort aus dem HauseSchmidt: kein Handlungsbedarf. Statt zu handeln, sitzenSie aus und torpedieren den gemeinsam gefundenenKompromiss.Sie haben mit dem Hintertreiben schon früh begon-nen. Der erste Arbeitsentwurf sah die Ausgliederungüberhaupt nicht vor. Herr Müntefering hat schon im letz-ten Juli die gemeinsame politische Verantwortung abge-lehnt. Das alles zeigt, Frau Schmidt, dass Sie den ge-meinsam geschlossenen Vertrag nicht umsetzen wollen.Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf kündigenSie den Kompromiss in diesem Bereich auf. Sie spielenhier ein politisches Spiel auf dem Rücken der Versicher-ten. Dafür tragen Sie die Verantwortung.
Ich kann Ihnen sagen: Der Kompromiss, den wir ge-funden haben, ist allemal besser als jeder der Vorschläge,die Sie in der letzten Woche gemacht haben, und auchbesser als der Vorschlag, den Sie heute eingebracht ha-ben; denn Ihre Verschiebemodelle senken die Arbeits-kosten nicht. Sie verschieben sie nur auf die Arbeitneh-mer. Aber dort bleiben es Arbeitskosten. Bei jedemprozentualen Beitrag gilt: Von jedem Euro mehr an Ver-dienst bleibt netto weniger übrig. So schafft man keineArbeit, wenn überhaupt, dann nur im Bereich derSchwarzarbeit.Ihr Kniff mit dem Zusammenlegen der Regelungenfür das Krankengeld und den Zahnersatz bedeutetunter dem Strich sogar eine weitere Mehrbelastung fürdie Versicherten. Statt 6,70 Euro Pauschale verlangenSie ab 1. Juli nächsten Jahres vom Durchschnittsverdie-ner 21,60 Euro. Das sind die Zahlen! Das ist die Wahr-heit, mit der wir Sie am heutigen Tag konfrontieren müs-sen!Wir haben im Gesundheitskonsens gemeinsam einenZeitplan entwickelt. Der war uns sehr, sehr wichtig. Wa-rum? Wir haben Ihnen gesagt, dass den Belastungen, diewir den Menschen durch höhere Zuzahlungen oder
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Annette Widmann-Mauzdurch einen Sonderbeitrag aufbürden, Entlastungen ge-genüberstehen müssen, zum Beispiel über die Einnah-men aus der Tabaksteuererhöhung.
Sie wissen, dass das ein langsames Aufwachsen ist. Aberwenn Sie in dem Jahr, in dem die vollen Steuereinnah-men noch gar nicht eingehen, wenn sie überhaupt einge-hen, bei den Beiträgen die volle Last auferlegen wollen,dann hat das mit Gerechtigkeit nichts mehr zu tun unddann stellen Sie auch diesen wichtigen Bestandteil desKompromisses in Frage. Das ist mit uns nicht zu ma-chen.Sie haben den Kompromiss auch bereits in vielenweiteren Bereichen aufgekündigt. Ich nenne nur dasStichwort Verwaltungskosten. Da haben Sie bei denKrankenkassen schon wieder zig Ausnahmeregelungenvorgesehen. Ich nenne ein weiteres Stichwort: Bürger-versicherung durch die Hintertür. Das ist ja ein Gesetz,mit dem wir uns in diesem Haus ebenfalls noch befassenmüssen.Unglaubwürdig und unzuverlässig sind Sie auch beider Pflegeversicherung. Auch hier spalten Sie die Ge-sellschaft mit Ihrem jüngsten Last-Minute-Gesetzesvor-schlag zur Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsur-teils. Ein Beitragszuschlag nur für Kinderlose kommteben einer Strafabgabe gleich. Menschen, die aus wel-chen Gründen auch immer kinderlos geblieben sind,werden rein zum Stopfen der Löcher in der Pflegekasse,die Sie durch die Absenkung der Beiträge für die Ar-beitslosenhilfebezieher aufgerissen haben, herangezogenund damit abgezockt. Vor allem aber wird mit diesemStrafbeitrag für Kinderlose der Auftrag des Bundesver-fassungsgerichts nicht umgesetzt. Dieses hat nämlicheine Entlastung der Familien angemahnt. Diese erfolgtaber durch Ihren Vorschlag nicht. Keine Familie wirdnach Ihrem Vorschlag auch nur 1 Euro weniger als heutebezahlen. Von daher kommt ja auch die Kritik der Pfle-gekassen an Ihrem Gesetzentwurf, die wir heute verneh-men konnten.Wer Kinder erzieht, erbringt eine wertvolle Leistungfür unsere Gesellschaft. Deshalb brauchen wir eine echteEntlastung der Familien in der Zeit der Erziehungstätig-keit. Statt Kinderlosigkeit zu bestrafen, wollen wir Fami-lien während der Erziehungsphase entlasten. Wir errei-chen dieses dadurch, dass wir den Versicherten, dieKinder unter 18 Jahren erziehen, einen wirklichen Bei-tragsbonus von 5 Euro pro Kind und Monat gewähren:je mehr Kinder in der Familie, desto höher also die Ent-lastung. Bei einer Familie mit zwei Kindern und einemDurchschnittseinkommen halbiert sich so nach unserenVorstellungen der Beitrag zur Pflegeversicherung. Ge-mäß dem Gesetzesvorschlag von Rot-Grün zahlen Fami-lien mit einem Durchschnittseinkommen so wie heute17 Euro; gemäß dem Vorschlag der CDU/CSU werdenes 9 Euro sein. Diese Zahlen sprechen für sich.
Frau Kollegin, schauen Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Jawohl, Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Es bleibt wenig Zeit, auch noch den Bereich der Fall-
pauschalengesetzgebung in diesem Land den Menschen
darzustellen. Wir werden die Zeit im Ausschuss dafür
nutzen. Aber auch dieses Gesetz ist ein Beispiel dafür,
dass diejenigen, die sich auf den Gesetzgeber und die
Gesetze in unserem Land verlassen, am Ende diejenigen
sind, die dafür bestraft werden. Wir wissen: Wer sich auf
Rot-Grün verlässt, der hat von Anfang an verloren.
Dieser Zustand muss schleunigst ein Ende haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Diese Kampfrhetorik, bei der man davonspricht, wer hier wen verunsichert, und davon, wer sichin die Büsche schlägt, wenn es eng wird, möchte ich hiereigentlich nicht fortsetzen. Im Rahmen der heutigen Sit-zung möchte ich zu zwei Dingen Stellung nehmen: zumKinder-Berücksichtigungsgesetz in der Pflegeversiche-rung und zum Zweiten Fallpauschalenänderungsgesetz.Lassen Sie mich eingangs einige Worte zum Fallpau-schalenänderungsgesetz sagen: Die deutsche Kranken-hauslandschaft wird in den nächsten Jahren durch dieUmstellung von Krankenhausbudgets auf landesweiteFallpauschalen einen ungeheuren Wandel erfahren. Wirsind uns sehr wohl bewusst, dass den Kliniken durchhohe Anpassungsanforderungen große Leistungen abge-fordert werden. Dennoch wurden in der Vergangenheitund wird auch jetzt konstruktiv und an der Sache orien-tiert debattiert. Dieser Diskussionsprozess ist sehr wich-tig. Nur so kann es gelingen, letztendlich zu einem trag-fähigen Ergebnis zu kommen. Vor diesem Hintergrundbegrüßen wir auch das zentrale Vorhaben des Entwurfs,die Übergangsphase hin zum diagnoseorientierten Fall-pauschalensystem von drei auf vier Jahre zu verlängern,denn fast alle Akteure sind zu der Einsicht gelangt, dassdie Einführung des DRG-Systems mehr Zeit braucht.Auch ich glaube, dass eine Verzögerung über Gebühr da-durch nicht stattfindet.Wir Grüne sehen durchaus an manchen Stellen Dis-kussionsbedarf. So ist zum Beispiel zu prüfen, ob diespezielle Versorgung von Kindern im DRG-Systemsachgerecht abgebildet werden kann, denn Kinder sindnicht einfach kleine Erwachsene.
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Petra Selg
– Da schauen wir noch einmal drüber. – Auch die Berei-che reiner Epilepsiezentren und Palliativmedizin müssenwir uns noch einmal genau anschauen.
Insgesamt bezweifelt kaum noch ein Akteur, dass dieUmstellung auf das DRG-System grundsätzlich richtigist. Wir müssen nämlich wegkommen von den ineffi-zienten und verkrusteten Finanzierungsstrukturen. Dannwerden, wie ich glaube, in Zukunft Patientinnen und Pa-tienten die Nutznießer eines solchen Umstellungsprozes-ses sein. Ich denke, dass wir hier zusammen mit der Op-position zu einer guten Lösung kommen werden.Wesentlich schwieriger erscheint mir der momentaneWeg in der sozialen Pflegeversicherung.
Um hier aber gleich einer Legendenbildung über eineKoalitionskrise vorzubeugen: Es ist selbstverständlich,dass wir dieses Gesetz zur Umsetzung des Bundesver-fassungsgerichtsurteils noch in diesem Jahr beschließenwerden.
Die rot-grüne Regierung wird das gemeinsam tun.
Da braucht sich hier niemand falsche Hoffnungen zumachen; denn wir sind uns der Verantwortung bezüglichder Pflegeversicherung sehr wohl bewusst und werdendieses System, von dem viele Pflegebedürftige profitie-ren, nicht an die Wand fahren.
Ich möchte dennoch ganz offen sagen, dass uns Grü-nen der vorgelegte Gesetzentwurf einige Bauchschmer-zen bereitet.
Das zu sagen bin ich meinem politischen Selbstverständ-nis einfach schuldig; außerdem kämpfe ich gern mit of-fenem Visier. Wir sind der Ansicht, man sollte sich dasUrteil wirklich genau ansehen. Denn ob jemand Kindergezeugt hat oder nicht, war nicht das entscheidende Kri-terium für das Karlsruher Urteil. Entscheidend war dasKriterium, ob jemand Kinder erzieht oder nicht.
Aber tun wir hier doch bitte nicht so, als hätten wir ei-nen gordischen Knoten durchschlagen oder eine Super-lösung für alle Probleme gefunden! Die Frage ist: Wiekönnen wir Erziehung auf möglichst gerechte und un-komplizierte Art und Weise bemessen? In keinem derVorschläge finde ich darauf eine richtige Antwort.
– Dazu komme ich noch.In einem zentralen Punkt der Umsetzung des Urteilssind wir uns mit der SPD völlig einig: Wir werden inAnbetracht der Finanzsituation der Pflegeversicherungnicht anders können, als die geforderte Besserstellungrelativ zu erreichen. Entscheidend ist, dass bestimmteGruppen von Versicherten mit einem höheren Beitragbelastet werden müssen. Alle anderen Konzepte, diedurch die Lande schwirren, sind leider nur frommeWünsche. Eine wirkliche Entlastung Erziehender istüber einen geringeren Beitragssatz in der Pflegeversi-cherung oder auch über das Steuersystem – man schauesich bitte einmal den Haushalt an – schlicht und einfachnicht zu bezahlen und wir werden das auch nicht tun.
Sie sagen, Herr Bahr, bei Ihnen bekomme jedes Kind150 Euro und das sei ganz billig. Aber erstens muss dasGeld ja irgendwo herkommen. Die Steuern müssenebenfalls bezahlt werden und dazu sagen Sie wie immernichts, kein Wort zur Gegenfinanzierung.
Wir spielen doch hier nicht „Wünsch dir was“!
Zweitens wäre es nur deswegen einigermaßen güns-tig, weil Sie diesen Bonus nur in den ersten drei Lebens-jahren des Kindes gewähren wollen, weil da angeblichdie Familie durch die Erziehung am meisten belastet sei.So ein lebensfremder Quatsch kann wirklich nur von Po-litikern der FDP oder von jemandem kommen, der nochkeine Kinder erzogen hat.
Bei meinen drei Kindern waren die ersten drei Lebens-jahre, in denen in erster Linie Windeln und Babynahrunganfielen, wesentlich günstiger, als es die jetzigen sind, dasie in der Pubertät sind und für Schule und Versorgungmehr anfällt.
Die CDU/CSU will den Erziehenden einen Bonus fürjedes Kind geben. Lobenswert – das möchte ich wirklichsagen – finde ich an dem Konzept, dass Sie eingestehen,dass wir um eine Erhöhung des Beitragssatzes nicht um-hinkönnen. Für diese Ehrlichkeit vielen Dank; das meineich ernst.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage desKollegen Bahr?
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Ja.
– Mal schauen, was er bringt; aber der Vorschlag bezüg-
lich der ersten drei Lebensjahre ist witzig.
Frau Kollegin Selg, ich frage Sie, wie Sie dann erklä-
ren, warum in die gesetzliche Rentenversicherung ein
steuerlicher Zuschuss aus dem Haushalt für drei Jahre
Kindererziehungszeiten gezahlt wird. Nach Ihrer Logik
müssten es 18 Jahre sein. Hier geht es um die Würdi-
gung und Anerkennung der Erziehungsleistungen in der
gesetzlichen Rentenversicherung.
Lieber Herr Bahr, wie immer vermischen Sie einfach
Äpfel mit Birnen.
Das passt nicht zusammen. Die Anerkennung in der
Rentenversicherung ist gewährleistet, damit die Mütter
in den ersten drei Jahren zu Hause bleiben können.
– Oder natürlich die Väter. – Aber Sie können nicht
wirklich glauben, dass Erziehung in den ersten drei Jah-
ren teurer wäre als später. Sie haben keine Kinder; aber
Windeln und Babygläschen sind billiger als die Versor-
gung von drei schulpflichtigen Kindern, wie ich sie
habe; da kommen ganz andere Kosten auf einen zu. Ihr
Vorschlag ist lebensfremd und Ihr Vergleich passt nicht.
Zurück zur CDU/CSU. Herr Seehofer sagte, man
solle sich Zahlen und Fakten nicht schönrechnen. Des-
halb möchte ich Sie bitten: Tun Sie doch nicht so, als un-
terscheide sich Ihr Vorschlag elementar von unserem
Ansatz! Letztendlich belegen auch Sie Nichterziehende
mit einem höheren Beitragssatz als Erziehende; die Er-
ziehenden bekommen dann quasi hintenherum von ih-
rem Beitrag etwas wieder. Da kann man doch zu Recht
fragen: Wozu dieser Aufwand? Dann muss doch gleich
gesagt werden, dass ich den Bonus für mich zum Teil
selber finanzieren muss.
Was mich wirklich ärgert: Ihr Modell berücksichtigt
nicht die schwierige und defizitäre Lage der Pflegeversi-
cherung. Dieser Vorschlag wird nicht zur Stabilisierung
der Finanzen der Pflegeversicherung beitragen. Im Ge-
genteil: Er beschleunigt die Destabilisierung. Das finde
ich sehr verwerflich.
Ich möchte jetzt zu einem anderen entscheidenden
Punkt kommen. Wir Grüne haben immer gesagt – ich
wiederhole das an dieser Stelle –, dass uns die alleinige
Umsetzung des Urteils nicht ausreicht. Sie löst nicht den
Reformbedarf in der Pflegeversicherung. Ich denke,
dass die bekannten Reformbedarfe für demenziell er-
krankte Menschen, eine Dynamisierung der Leistungen,
eine Stärkung des ambulanten Sektors sowie vor allem
eine nachhaltige Finanzstruktur – mit Sicherheit nicht
nur kapitalgedeckt, Herr Bahr – unbedingt von uns ange-
gangen werden müssen, aber nicht, weil wir Grüne das
wollen, sondern weil Leistungserbringer und Pflegebe-
dürftige samt ihren Familien dringend darauf warten.
– Genau, das kostet Geld.
Die demographische Entwicklung war schon bei Ein-
führung der Pflegeversicherung bekannt.
Es reicht eben nicht aus, die Probleme immer nur zu be-
nennen. Bei allen weiteren Stufen der Reformen müssen
wir ganz klar sagen, dass sie Geld kosten werden und
dass sie mit finanziellen Belastungen verbunden sind.
Aber diese Tatsache nimmt die Opposition nie zur
Kenntnis. An keinem Ihrer Reformvorschläge hängt ein
Preisschild. Sie fordern immer nur, ohne zu sagen, wo-
her das Geld eigentlich kommen soll.
Deshalb mein Appell: Lassen Sie uns bitte offen mit
dieser Situation umgehen! Ich bin es einfach leid, die
Verantwortung für die seit zehn bis 15 Jahren in dem
System der sozialen Sicherung gemachten Fehler immer
zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün hin und her zu
schieben. Es ist wichtig, dass man den Menschen drau-
ßen im Land jetzt sagt, dass weitere Reformen dringend
notwendig sind und dass wir sie umsetzen werden.
Eines kann ich Ihnen sagen: Wir in der Koalition wer-
den weiter daran arbeiten und – da bin ich mir ganz
sicher – zu einem Ergebnis kommen. Wir waren in den
letzten Jahren bei allen Reformen mehr als standhaft.
Heute hü und morgen hott oder Wackelmännchen ist im
Moment eher bei der Opposition, vor allem bei der
CDU/CSU, zu finden.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dieter Thomae,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! 2,4 Milliarden Euro an Einsparungen sind
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Dr. Dieter Thomaeeigentlich ein stolzer Betrag. Das ist aber nur die eineSeite der Medaille.
Wenn man die andere Seite betrachtet, dann muss manfeststellen, dass dieser Überschuss dadurch erzieltwurde, dass Sie die Betriebsrenten – das ist ein großerBlock – herangezogen haben. Ich sage für die FDP sehrdeutlich: Das war ein unfaires Verfahren.
Eine solche Änderung kann man nur durchführen, wennman eine vernünftig lange Übergangsfrist einbaut.
– Nein, da waren wir nicht mehr dabei. Wir haben dasnicht mitgemacht; wir sind vorher ausgestiegen.
Das Thema Betriebsrenten werden wir noch im Aus-schuss behandeln. Sie werden feststellen, dass man mitden Bürgern so nicht umgehen kann.
Die Bürger haben für die Betriebsrenten gearbeitet undsie rechnen damit. Jetzt werden sie aber belastet.Ein zweiter wichtiger Punkt, über den ebenfalls nichtgesprochen wird, umfasst die gesamte Thematik rezept-freier Arzneimittel. Sie haben gesagt, dass Sie Einspa-rungen in Höhe von 800 Millionen Euro erzielen wür-den. Erstaunlich ist, dass Sie gegenwärtig darübernachdenken, weitere Ausnahmen zu gestatten, weil Siebei bestimmten Indikationen feststellen, dass die Ausga-ben in anderen Arzneimittelbereichen erheblich steigen.Für uns war es nie ein Thema, rezeptfreie Arzneimittelaus dem Leistungskatalog herauszunehmen. Ich halte esfür ausgesprochen falsch, diese Arzneimittel, die kaumNebenwirkungen haben, aus der Erstattungspflicht he-rauszunehmen. Das ist in meinen Augen ein falschesVerständnis von Therapie.
Der nächste Punkt. Wenn Sie ganz sachlich mitSelbsthilfegruppen diskutieren, dann müssen Sie fest-stellen, dass es in manchen Bereichen schon Ansätze derRationierung gibt. Diesem Vorwurf können Sie nichtentkommen. Sprechen Sie mit Stoma-Patienten oder mitanderen Patienten. Dieses Thema ist nicht wegzu-drücken. Sie können doch angesichts dessen nicht stolzsagen: Wir sind glücklich darüber, eine hohe Einspar-quote zu erzielen. Denn die medizinische Versorgungdieser Patienten ist eindeutig nicht gesichert.
Ich spreche gar nicht von den Themen Härtefälle, Pra-xisgebühr und Altenheime. Wie Sie dies organisiert ha-ben, war nicht korrekt.
Das ist nicht machbar. Das hat die FDP nicht mitge-macht. Wir sind für Zuzahlungen und für vernünftigeHärtefallregelungen; das bekenne ich. Aber wie Sie diesalles geregelt haben, ist nicht akzeptabel.
Jetzt sagen Sie: Wir sind sehr stolz. Ich weise Sie aufFolgendes hin: Wir werden in der BundesrepublikDeutschland in den nächsten Wochen und Monaten ganzgroße Probleme haben; denn die Krankenkassen habengegenüber einem großen Teil der Leistungserbringer, vorallen Dingen gegenüber den Krankenhäusern, hohe Ver-bindlichkeiten, die sie nicht bezahlen. Die Zahlungsfris-ten laufen drei bis vier Monate und länger. Gehen Sieeinmal in regionale Krankenhäuser und sprechen Sie mitden dortigen Verwaltungsdirektoren! Die sagen Ihnen:Thomae,
die Kreditlinien sind fast überzogen. Wir bekommenkeine Kredite mehr von unseren Banken.Sie sollten genau überlegen: Wollen Sie die Arbeits-plätze in den Krankenhäusern sichern oder wollen Sieauf diese Art und Weise Krankenhäuser in den Ruin trei-ben? Ich habe einmal in einem Bundesland die Zahl, inwelcher Höhe Rechnungen von Leistungserbringernnicht bezahlt werden, recherchiert und auf die Bundesre-publik hochgerechnet. Dabei kommt man auf eine Zahlvon mindestens 2,5 Milliarden Euro. Das ist eineSumme, die meiner Meinung nach zuerst beglichen wer-den muss, bevor man überhaupt über Beitragssenkungennachdenkt.
Denn so sind Arbeitsplätze zu sichern.Lassen Sie mich ganz kurz auf das Gesetz zur Einfüh-rung von Fallpauschalen eingehen. Sie alle wissen: Wirwaren für die Einführung der Fallpauschalen. Wir sindauch heute noch der Meinung, dass das Geld der Leis-tung folgen muss. Darüber gibt es nichts zu diskutieren.Denn die Fallpauschalen sind nach unserer Auffassungder Schlüssel dafür, von der Budgetierung wegzukom-men.Die Einführung der Fallpauschalen war aber zu hek-tisch. Wir haben immer wieder gesagt: Sie können dieLeistungen nicht zu 100 Prozent in Fallpauschalen über-führen.
Maximal 80 Prozent können erreicht werden; das wäreein großer Erfolg. – Jetzt zeigt sich, dass ein Wert von100 Prozent nicht erreichbar ist.Von daher werden wir natürlich eine Verlängerung derKonvergenzphase um ein Jahr akzeptieren. Ich halte dasfür richtig. Aber ich sage Ihnen auch sehr deutlich: Siehaben in dem Gesetzentwurf, den Sie jetzt vorgelegt ha-ben, meiner Meinung nach eine Menge bürokratischeund stark dem Budgetdenken anhaftende Formulierun-gen verwendet.
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11028 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Dr. Dieter ThomaeWir sollten ernsthaft darüber diskutieren, ob es nicht lan-desweite Basisfallwerte mit dem Charakter von Refe-renzwerten geben kann, sodass man auf Landesebeneweiterhin nach oben und nach unten verhandeln kann. Esgibt gute Argumente dafür, so vorzugehen. Ich denke,darüber zu diskutieren wird Aufgabe der nächsten Bera-tungen sein. Ich könnte mir vorstellen, dass wir, wennwir uns in diesen Punkten näher kommen würden, einersolchen Konzeption zustimmen würden.Leider habe ich nicht mehr viel Redezeit. Es wurdeviel von der Bürgerversicherung und der Kopfpauschalegesprochen. Die FDP sieht ein Prämienmodell mit sozia-lem Ausgleich vor. Ich denke, wir werden diese Thema-tik in absehbarer Zeit intensiv behandeln können und un-sere Konzepte abwägen können. Jeder hat das Recht,ausgiebig darüber zu diskutieren.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Lotz, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Herr Thomae, ich frage mich ab und zu, ob IhreWähler bzw. Wählerinnen es Ihnen immer danken, dassSie aus dem Vermittlungsverfahren um das GMG ausge-stiegen sind. Denn die Chance, das eine oder andere zuverändern, haben Sie damit nicht wahrgenommen.
Sie haben es sich einfach gemacht, sich weggeduckt unddamit war es erledigt.
Frau Widmann-Mauz, ich habe mich bei Ihrem Bei-trag vorhin gefragt, für was Ministerin Ulla Schmidtnicht verantwortlich ist; denn es blieb ja kaum etwasübrig, was die Ministerin nicht zu verantworten hat.
Es war wieder einmal eine echte Widmann-Mauz. Siehaben gebissen, um von der Uneinigkeit abzulenken, diein der Union herrscht. Beispielsweise sprachen Sie dieBeitragshöhe an und gingen zur Bürgerversicherungüber. Wir wollen die Bürgerversicherung, aber bisher ha-ben wir sie noch nicht.
– Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Das wäreetwas Schönes und Gutes, auf jeden Fall wäre es besserals die Kopfpauschale.
Ich wende mich nun an Herrn Storm. Auch bei ihmgab es das gleiche Szenario: Erst wurde die Katastrophean die Wand gemalt und dann versucht, das Heil zu prä-sentieren. Ich habe das Heil aber noch nicht gesehen.Stattdessen haben Sie wieder einmal einen ordentlichenBeitrag dazu geleistet, die Rentnerinnen und Rentner zuverunsichern. Thema Altersarmut: Diese Bundesregie-rung und diese Koalition haben die bedarfsabhängigeGrundsicherung auf den Weg gebracht.
Ich finde es nicht in Ordnung, wenn jetzt so getan wird,als wenn es sie gar nicht gäbe. In diesem Zusammen-hang will ich noch etwas zu Ihrem Angebot, die Entgelt-umwandlung verpflichtend zu gestalten, sagen. Ich kannmich noch gut an unsere Diskussion über die Riester-Rente erinnern; damals waren wir noch in Bonn. DerAspekt des Zwangssparens kam nach meiner Erinnerungaus Ihren Reihen. Das hat eine lebhafte Debatte in derBevölkerung ausgelöst. Damals wurde es verhindert.Heute müssen Sie allerdings schon die Antwort daraufgeben, was es für die Einnahmenseite der Rentenversi-cherung und der Krankenversicherung bedeutet, die Ent-geltumwandlung verpflichtend einzuführen. Das bedeu-tet, dass vorher verzichtet werden muss. Ich denke, dasist nicht der richtige Weg. Aber natürlich – das möchteich betonen – verschließen wir uns der Diskussion nicht.Ich möchte noch einige Worte zur Pflegeversiche-rung sagen. Frau Widmann-Mauz, Sie haben die Men-schen angesprochen, die ungewollt oder aus welchenGründen auch immer kinderlos sind. Das Bundesverfas-sungsgericht nimmt darauf überhaupt keinen Bezug. DasBundesverfassungsgericht sagt, dass die Menschen, dieKinder erziehen, entlastet werden sollen. Wir machendas mit dem Gesetzentwurf, den wir auf den Weg brin-gen.
Wir haben dabei gleichzeitig die Kassenlage der Pflege-versicherung im Auge. Aus Ihren Reihen kommt dochdie Frage:
Wie sieht die Kassenlage der Pflegeversicherung aus?An dieser Stelle schlagen wir zwei Fliegen mit einerKlappe.Der zweite Punkt ist, dass man an eine Entlastungnicht zu hohe Erwartungen knüpfen darf. Wie sieht derHöchstbeitrag zur Pflegeversicherung aus? Das sindnoch nicht einmal 30 Euro im Monat. Es kann also keingroßer Betrag herauskommen, wenn um die Erziehungs-leistung entlastet wird. Das möchte ich noch einmal be-tonen.Herr Bahr hat von den Familienleistungen gespro-chen. Diese Bundesregierung und diese Koalition habendie Familien entlastet und Reformen auf den Weg ge-bracht. Ab dem nächsten Jahr werden den Kommunen1,5 Milliarden Euro zur Betreuung von Kindern zur Ver-fügung stehen. Das kommt doch den Familien zugute.
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Erika Lotz
Es geht darum, Beitragszahler, die Kinder erziehen,besser zu stellen als kinderlose Beitragszahler. Demkommen wir mit diesem Gesetz nach. Dabei haben wirletztendlich auch die Einhaltung des Generationenver-trags im Auge. In der Vergangenheit gab es die Diskus-sion über die Beitragsbelastung der Rentnerinnen undRentner. Wir wurden gefragt: Wieso wollt ihr im Altermeinen Beitrag zur Pflegeversicherung erhöhen? Ichhabe doch Kinder erzogen. Diesem Argument entspre-chen wir mit unserem Gesetzentwurf.Jetzt möchte ich noch ein paar Worte zu Ihren Vor-schlägen sagen. Der Teilvorschlag der CDU/CSU, HerrStorm, bedeutet doch nur: linke Tasche, rechte Tasche.Sie erhöhen die Beiträge und es müssen dann 5 Euro ge-zahlt werden. Zum einen denke ich, dass dies nicht un-bürokratisch ist, wie Sie hier sagen, sondern dass damitVerwaltungsaufwand verbunden ist. Das ist der eine Teil.
Der andere Punkt, Herr Bahr, betrifft die von Ihnen ge-nannten 150 Euro im Jahr. Kollegin Selg hat ja schon ge-fragt, wo dieses Geld herkommen soll. Die Antwort blei-ben Sie schuldig.
Ich denke, dass dies nicht der richtige Weg ist.Dann noch ein paar Worte zum Zahnersatz, dessenFinanzierung jetzt anders geregelt werden soll: Sie ha-ben der Ministerin vorhin herbe Vorwürfe gemacht, dassdas, was wir im Kompromiss beschlossen haben, nichtumgesetzt wird.
Wenn sich nach den Beratungen herausstellt, dass da-durch ein riesengroßer Verwaltungsaufwand notwendigwird – es bedeutet Kosten, die in keinem Verhältnis ste-hen, und das eingenommene Geld landet nicht zur besse-ren Versorgung bei denjenigen, die den Zahnersatz brau-chen, und auch nicht bei den Zahnärzten oderZahntechnikern, sondern es wird für die Verwaltung aus-gegeben –, dann kann das nicht so bleiben. Wenn wir soetwas bemerken, dann müssen wir einen neuen Weg ge-hen.Ich darf Sie ganz herzlich bitten, sich das mit demVermittlungsausschuss noch einmal zu überlegen. Ichfinde es nicht in Ordnung, wenn er jetzt schon angekün-digt wird. Wir haben den Vorschlag noch nicht einmalmiteinander beraten und schon wird wieder mit Kettengerasselt und der Vermittlungsausschuss angedroht. Da-durch setzt eine Verunsicherung der Menschen ein.Wir gehen nicht hin und sagen, dass alles beim Altenbleibt, sondern wir stehen dazu: Entlastung der Lohnne-benkosten, letztendlich Entlastung der Arbeitgeber. Daszu vertreten ist nicht für jeden von uns leicht. Aber wirmachen es und stehen auch weiterhin dazu. Wir duckenuns nicht weg, wie manche, die den Kompromiss erstmit beschlossen haben, danach auf Tauchstation gehenund dann sogar die Spitze der Gegenbewegung anfüh-ren. Ich denke, das ist ein schlechter Stil.Ich fordere Sie noch einmal auf, über den Gesetzent-wurf mit uns ordentlich zu verhandeln und nicht schonvon vornherein mit dem Vermittlungsausschuss zu dro-hen. Ich habe die herzliche Bitte: Lassen Sie das wirk-lich uns, das Parlament, entscheiden und nicht nachherwieder einen kleineren Kreis, der es letztendlich zu ver-antworten hat. Ein Stück weit haben wir später wiederdamit zu tun. Daher an dieser Stelle meine herzlicheBitte und Aufforderung: Es ist eine gute Vorlage vorhan-den, lassen Sie es uns gemeinsam machen.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete derPDS.Sie, Frau Gesundheitsministerin Schmidt, feiern dieEinsparungen bei den Krankenkassen und erklären uner-müdlich, dass die Gesundheitsreform jetzt greifenwürde. Ja, die Gesundheitsreform greift, sie greift vor al-lem kranken Menschen in die Tasche. Derweil lassen dieversprochenen Entlastungen durch Senkung der Kran-kenkassenbeiträge weiter auf sich warten. Die Gesund-heitsreform hat bisher keinen einzigen Menschen gesün-der gemacht, aber viele ärmer.Ich kann Ihnen an einem Beispiel konkrete Zahlenliefern: In Berlin-Neukölln, dem größten SozialamtDeutschlands, ging die Zahl der Arztbesuche im Ver-gleich zum Vorjahr im ersten Quartal um fast 16 Prozentzurück. Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin kommtzu dem Schluss:
Die regionalen Unterschiede zeigen, dass es Men-schen in ärmeren Gebieten offenbar wesentlichschwerer fällt, die Praxisgebühr zu bezahlen, undsie deshalb häufiger als andere Patienten auf einenArztbesuch verzichten,so der Vorsitzende Richter-Reichhelm.Die stellvertretende Vorsitzende der KassenärztlichenVereinigung, Frau Dr. Angelika Prehn, berichtet, dass ei-nige ihrer Patienten aus Kostengründen sogar auf thera-peutisch notwendige Behandlungen wie Krankengym-nastik verzichten.Ich habe diese beiden Vertreter der KassenärztlichenVereinigung so ausführlich zitiert; denn wenn wir, diePDS-Abgeordneten, das Gleiche sagen, wird uns von der
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Dr. Gesine LötzschRegierung gern Populismus vorgeworfen. Herr Eichelhat sich heute Morgen schon unrühmlich damit hervor-getan.
Sie müssen endlich aufhören – damit meine ich die ge-samte Bundesregierung –, jeden des Populismus zu be-schuldigen, der Sie sachlich auf die unsozialen Wirkun-gen Ihrer Politik hinweist.
Die Praxisgebühr und die Zuzahlungen für Medika-mente und Behandlungen haben, wie es die Bundes-regierung vorausgesagt hat, eine Steuerungsfunktion.Aber sie steuern in die falsche Richtung: Sie steuern so-zial Schwache aus dem Gesundheitssystem heraus.
Wenn Sie eine soziale Gesundheitspolitik machen wol-len, dann müssen Sie die Praxisgebühr abschaffen unddie Zuzahlungsregelung entschärfen.
Wenn die Bundesregierung und auch die CDU dieUmsetzung guter Vorschläge, zum Beispiel zur Vermö-gensteuer oder zur Ausbildungsabgabe, verhindern wol-len, dann begründen sie das oft mit der Sorge um denVerlust von Arbeitsplätzen. Aber ich frage einmal ganznebenbei: Hat jemand im Gesundheitsministerium aus-gerechnet, wie viele Arbeitsplätze durch die Gesund-heitsreform bereits verloren gegangen sind und wie hochder Anteil der Frauen ist, die ihren Job im Gesundheits-wesen verloren haben?An einer Stelle will ich die Gesundheitsministerinausdrücklich loben.
Sie hat sich gegenüber Frau Merkel und gegenüber demKanzler durchgesetzt und die Kopfpauschale auf Zahn-ersatz gekippt. Wir, die PDS, wollen, dass der Zahner-satz wieder in den Leistungskatalog aufgenommen wird.Damit wollen wir zurück zu einer paritätischen Finanzie-rung.Aber ich will die Leistung von Frau MinisterinSchmidt nicht überbewerten; denn sie hatte mächtigenRückenwind durch die Anti-Hartz-Demonstrationen.Erst die massiven Proteste gegen die Praxisgebühr unddie Anti-Hartz-Demonstrationen haben der SPD und derCDU klar gemacht, dass die Kopfpauschale auf Zahner-satz bei den Bürgerinnen und Bürgern im Augenblicknicht durchsetzbar ist.Ich möchte allen Bürgerinnen und Bürgern, die sichdie Anti-Hartz-Demonstrationen bis jetzt am Fernse-her anschauten und glaubten, dass sie nicht direkt betrof-fen wären, sagen:
Der Protest der Menschen in Leipzig und anderen Städ-ten richtet sich nicht nur gegen die Kürzung des Arbeits-losengeldes, sondern auch gegen die unsoziale Ge-samtausrichtung der Politik der Bundesregierung, unddazu gehört die unsoziale Gesundheitspolitik.
Meine Damen und Herren, die Kollegin Lehn hat vor-hin in ihrer Rede über die Bürgerversicherung gespro-chen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,wenn Sie es mit der Bürgerversicherung ernst meinen,dann legen Sie noch vor Ablauf dieser Legislaturperiodeein Modell auf den Tisch und bringen Sie einen Gesetz-entwurf in den Bundestag ein, sagen Sie aber nicht, dassSie das erst nach 2006, also in der nächsten Legislatur-periode, machen wollen.
Wenn Sie es mit der Bürgerversicherung ernst meinen,arbeiten Sie ein Modell aus und legen Sie es auf denTisch des Bundestages. Unsere Unterstützung hätten Sie.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Luther, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als Haushälter erlaube ich mir, in der Haus-haltsdebatte etwas zum Haushalt zu sagen.
Lassen Sie mich mit einer globalen Aussage beginnen:Uns liegt der Entwurf des Haushalts 2005 vor. Ichglaube, auch dieser Haushalt ist nicht das Papier wert,auf dem er steht.
All die Risiken, die, wie wir alle wissen, noch nicht ein-gearbeitet sind, müssen im Laufe des Beratungsverfah-rens eingearbeitet werden.
Ich vermute, dass es wie in den letzten Jahren sein wird:dass wir zwar irgendeinen Haushalt verabschieden, aberein Jahr später feststellen, dass er mit der Wirklichkeitnichts zu tun hatte.Herr Eichel hat heute angekündigt, dass nach derSteuerschätzung im November dieses Jahres ein Nach-
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Dr. Michael Luthertragshaushalt aufgestellt wird. Das heißt, dass die Neu-verschuldung aufgestockt wird. Das werden wir 2005wieder zu tun haben. Aus meiner Sicht ist dieser Haus-halt in seiner jetzigen Form verfassungswidrig. Das liegtdaran, dass zum einen die Neuverschuldung zu hochund zum anderen die Investitionsquote, die Investitio-nen in Bildung, Forschung, Straßenbau und Wirtschafts-förderung, zu gering ist.Woran liegt das? Ich glaube, dass sich die Haushalts-struktur in den sechs Jahren unter Rot-Grün dramatischverschlechtert hat. Schuld daran sind zum einen die ho-hen Zinsen, die wir mittlerweile zu zahlen haben, zumanderen liegt das aber auch ganz besonders am Haushaltdes Bundesministeriums für Gesundheit und SozialeSicherung. Er ist mit einem Volumen von 84,7 Milliar-den Euro der größte Haushalt. Im Übrigen ist für dasnächste Jahr im Vergleich zu diesem Jahr eine Erhöhungum 1,2 Milliarden Euro geplant. Aber davon hat dasBundesministerium recht wenig, denn 81 MilliardenEuro gehen als Zuschüsse an die Sozialversicherungen:2,5 Milliarden Euro an die gesetzliche Krankenversiche-rung und 78,2 Milliarden Euro an die Rentenversiche-rung.Ich habe mir einmal die Frage gestellt: War das immerso? Oder hat sich das erst so entwickelt? Ich bin dieHaushaltsjahre durchgegangen und stelle fest: 1998, alsoim Jahr der Regierungsübernahme durch Rot-Grün, wares so, dass der Zuschuss an die Rentenkasse 22 Prozentdes gesamten Bundeshaushaltes ausgemacht hat. Jetzt,sechs Jahre später, sind es 30,3 Prozent. Mich wundertdann nicht, dass wir kein Geld für Investitionen haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lehn?
Das kann ich nicht abschlagen.
Herr Luther, wenn Sie richtigerweise feststellen, dass
der Zuschuss, den wir zur Rentenversicherung leisten,
sowohl prozentual als auch absolut permanent ansteigt,
können Sie mir dann auch die Frage beantworten, wie
Sie, wenn Sie an der Regierung gewesen wären, das Pro-
blem anders hätten lösen wollen?
Ich kann Ihnen das gerne beantworten und mache dasauch gleich in meiner Rede, aber um der Kontinuität wil-len möchte ich es nicht jetzt isoliert machen, wenn es ge-stattet ist.
Ich will noch einen anderen Gedanken hinzufügen,um die Dramatik zu verdeutlichen: 1998 betrug dieSchwankungsreserve noch eine Monatsrate, 2004 wer-den es nur noch 0,2 Monatsraten sein.
Eine Monatsrate entspricht 15,8 Milliarden Euro. Dem-zufolge ist der Rentenversicherung in den letzten sechsJahren eine Finanzierungsreserve von 12,6 MilliardenEuro – ich drücke es einmal so aus – geklaut worden.
– Die Rentenkasse hat sie nicht mehr.
Ohne diese Maßnahme müsste der Bundeszuschussheute 2 bis 3 Milliarden Euro höher sein. Das ist die Dra-matik. Deshalb haben wir kein Geld für Investitionen indie Zukunft. Deshalb sinkt die Beschäftigung und des-wegen haben wir keine Beitragszahler. Das ist der Unter-schied gegenüber der Politik, die wir gemacht hätten,wenn wir hätten weitermachen dürfen.
Sie haben 1998 einen Wahlkampf geführt – das vergesseich nicht – nach dem Motto „Was die Union vorlegt istunsozial“. Wir haben die blümsche Rentenreform zu-rückgenommen und das Erste und Zweite Krankenkas-senneuordnungsgesetz. Das hat zwei fatale Signale mitsich gebracht: Das eine fatale Signal war, dass die Men-schen glauben konnten, es geht so weiter. Sie gehen jetztnatürlich zu Recht auf die Straße, weil sie plötzlich fest-stellen: Alles wird völlig anders.
Das zweite fatale Signal war das Signal an die Wirt-schaft, die selbstverständlich gesehen hat, dass es sonicht weitergeht, und sich natürlich entsprechend einge-stellt hat. Die Abwanderung von Wirtschaft ausDeutschland hat etwas mit der Politik der letzten sechsJahre zu tun. Das hat etwas damit zu tun, dass wir heuteeine so schlechte Beschäftigungsstruktur in Deutsch-land haben: weniger Beitragszahler und natürlich geradediese dramatische Situation der Rentenkasse.Liebe Waltraud Lehn, deine Rede vorhin hat michschon ein bisschen gewundert;
deshalb will ich an dieser Stelle auch darauf eingehen.Du hast gesagt: „In den Haushalt 2005 sind so viele Mit-tel für soziale Leistungen eingestellt worden wie niemalszuvor.“
Was mich dabei allerdings wundert, ist, dass die Leutedas nicht merken; sie bekommen nämlich, obwohl mehrgeleistet wird, immer weniger.
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Dr. Michael LutherDas ist die Wahrheit und das muss man den Leuten auchdeutlich sagen.
Nach sechs Jahren Rot-Grün stellt sich für mich dieFrage: Wie geht es denn weiter?
Wie wird die Finanzierung der Rentenkassen in Zukunftsichergestellt? Die Schwankungsreserve ist aufge-braucht. Normalerweise müsste der BundeshaushaltEnde des Jahres, weil die Schwankungsreserve nichtausreicht, für die Finanzierung der Rente herangezogenwerden.Das ist deshalb nicht notwendig, weil in diesem Jahrdie GAGFAH-Immobilien verkauft werden und damiteine Finanzspritze zur Verfügung steht.Wir haben der Privatisierung der GAGFAH-Immobi-lien zugestimmt. Das ist vom Grundsatz her richtig.Diese Reserve hätte normalerweise aber dazu genutztwerden müssen, um wieder eine Schwankungsreserveaufzubauen.
Diese wird gleichwohl nur dafür genutzt, das Haushalts-loch der Rentenkasse am Jahresende zu schließen.
Für mich stellt sich deshalb natürlich die Frage, was2005 passiert.
Was wird dann angeboten und verkauft? Ich weiß esnicht. Ich denke, wir werden dieses Thema in den Haus-haltsberatungen ansprechen und diskutieren müssen.Lassen Sie mich noch einen Satz zu den Zuschüssenfür die gesetzliche Krankenversicherung sagen. Nie-mand von der Regierung hat hier etwas dazu gesagt. Ichstelle mir die Frage, ob es 2005, wie vereinbart, Zu-schüsse an die gesetzlichen Krankenversicherungen ge-ben wird oder nicht. Herr Eichel hat das infrage gestellt– das ist heute auch schon gesagt worden –,
weil die Tabaksteuer nicht in der geplanten Höhe anfällt.Auch das muss geklärt werden.Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle einmal auf dieGefährlichkeit hinweisen, die sich ergibt, wenn man be-stimmte Steuereinnahmen für bestimmte Ausgaben vor-sieht. Was ist, wenn die Leute plötzlich keine Lust mehr ha-ben, zu rauchen, was zur Folge hat, dass die Tabaksteuerund somit auch der Zuschuss wegfallen,
oder wenn sie andere Wege suchen?
Dasselbe Problem gibt es noch einmal, da die Leute fürdie Rente rasen sollen. Was tun sie aber? Sie gehen,wenn es geht, ins Ausland, um dadurch die Zahlung derMineralölsteuer in Deutschland zu umgehen.Daneben nenne ich auch die Öffentlichkeitsarbeit in derBundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Es gibtdie Besteuerung der Alcopops. Im Verhältnis zu den Be-trägen, die ständig genannt werden, ist dieser Betrag – essind 12 Millionen Euro – klein. Sie werden für die Auf-klärungsarbeit bei der BZgA eingesetzt. Was ist, wenndas passiert, was wir alle eigentlich wollen, dass nämlichgar keine Alcopops mehr verkauft werden?
Lassen Sie mich noch einige Sätze zu einem anderenBereich sagen. Zum Bundesgesundheitsministerium ge-hört eine Reihe von Instituten. Ich habe mich in diesemJahr auf den Weg gemacht und viele von ihnen besucht.Dort gibt es zwei Klagen, die ich ernst nehme. Die eineKlage lautet: Die Politik überträgt den Instituten mehr undmehr Aufgaben, weil sie notwendig sind. Allerdings folgtnicht in gleicher Weise die Finanzausstattung – wederfür die dafür notwendigen materiellen Dinge noch für dasPersonal –, weil die finanziellen Mittel nicht zur Verfü-gung stehen. Daneben wird den Instituten auch nicht ingleicher Weise gesagt, welche Aufgaben vielleicht nichtmehr geleistet werden sollen, was sie also weniger ma-chen müssen. Ich denke, dieser wichtigen Sache müssenwir uns gemeinsam stellen. Ich nenne das einmal Aufga-benkritik. Wie können wir uns in Anbetracht der Haus-haltslage auf das beschränken, was wichtig ist?Eine zweite Bemerkung von verschiedenen Institutenwar folgende: Es gibt bei dem einen oder anderen Insti-tut die Möglichkeit, Dienstleistungen anzubieten, dieauch von der Wirtschaft nachgefragt würden und für diedie Nachfrager Geld ausgeben würden, weil dieseDienstleistung als sehr wertvoll empfunden wird. Die In-stitute müssen aber in die Lage versetzt werden, dieseDienstleistungen anbieten zu können. Das heißt, manbraucht eine Investition in Infrastruktur und natürlichauch in Personal. Dafür gibt es kein Geld.Deswegen bin ich sehr für Folgendes: Wenn von denInstituten Geld für eine Dienstleistung eingenommenwird, dann sollten sie zumindest einen Großteil diesesGeldes behalten können, um diese Dienstleistung auchweiterhin leisten zu können. Hiermit stehen wir und dieInstitute im Widerspruch zu dem, was das BMF will.Das BMF möchte das Geld komplett einsammeln unddann nach Gutdünken wieder ausreichen. Ich denke, soschafft man keine Anreize, um beispielsweise die Insti-tute dafür zu begeistern, selbst Initiativen zu ergreifenund sich dadurch finanzielle Einnahmen zu verschaffen.
Lassen Sie mich noch kurz auf ein letztes Thema ein-gehen. Es ist dieser Tage wieder in der Kritik gewesen
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Dr. Michael Luther– ich sage das mit voller Ernsthaftigkeit –: Wir müssendarüber nachdenken, ob wir mit dem DoppelstandortBonn/Berlin so weitermachen können wie bisher. Wennman den Menschen sagt, dass zwar die Regierung seitfünf Jahren in Berlin ist, aber gleichzeitig die meistenBeamten des Bundesgesundheitsministeriums nach wievor in Bonn sitzen, dann fragen sie sich, ob das richtigsein kann.
Jetzt soll auch noch ein Neubau in Bonn für mittlerweile„nur noch“ 28 Millionen Euro errichtet werden.
Es wäre gut, vor dem Hintergrund der fortgeschritte-nen Entwicklung unseres Landes darüber nachzudenken,ob all das, was einmal vereinbart worden ist, noch richtigist und ob es für das Bundesministerium nicht vielleichthilfreicher wäre, wenn es wesentlich mehr Personal hiervor Ort hätte, sodass die Kommunikation im Ministe-rium selbst besser klappt. Das ist durchaus lohnenswertund darüber kann auch im Rahmen der Haushaltsbera-tungen diskutiert werden.Recht herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Es wurde hier vorhin angemahnt, man solle docheinmal sagen, was denn in diesem Land Sache ist, FrauWidmann-Mauz. Wenn wir das besprechen, werden wirhoffentlich dazu kommen, den Menschen zu sagen, wasSache ist und was unsere Vorstellungen sind. Vielleichtschaffen Sie es, in Ihrem letzten Beitrag deutlich zu ma-chen, was Ihre Vorstellungen dazu sind. Ich hoffe, dassSie diese Debatte nicht nur dazu benutzen, Ihre Klagevon vorhin zu verstärken, nämlich die Verunsicherungder Menschen.Ich will einfach einmal mit den Ursachen beginnen.Wir haben seit etwa drei Jahren ein Nullwachstum.
Wir alle wissen, dass dies zu einer Minderung der Bei-tragseinnahmen führt. Wir haben ein niedriges Lohnni-veau. Wir haben leider weiterhin sehr viele Arbeitslose.
Ich möchte aber auch daran erinnern, dass diese hoheArbeitslosenzahl schon vor 1998 existierte. Daher frageich Sie zurück: Woher kam denn diese Hinterlassen-schaft?
Die Defizite der letzten Jahre haben wir im Wesentli-chen durch Bundeszuschüsse, durch Beitragssatzerhö-hungen und jetzt durch die Gesundheitsreform – soschwer sie auch allen gefallen ist – mit Zuzahlungen undLeistungsveränderungen aufgefangen. Ich bin der festenÜberzeugung: Wir haben sie zu Recht aufgefangen, weiles einen Zusammenhang zwischen Beitragshöhe und Ar-beitsmarktsituation gibt. Dem wollen wir Rechnung tra-gen. Wir haben beschlossen, dies gemeinsam zu tun.Aber es bringt nichts, zu sagen, wir wollen diese Sys-teme zerstören. Das habe ich Ihrem Beitrag entnommen.Er war so negativ gefärbt, dass es niemandem klar unddeutlich werden kann, warum wir die sozialen Siche-rungssysteme in diesem Land unbedingt brauchen. Wirbrauchen sie aber gerade in schwierigen Zeiten, um densozialen Zusammenhalt dieser Gesellschaft zu garan-tieren und ihn abzusichern.
Wir brauchen sie ganz speziell als Signal an die Men-schen, die jetzt besonders verunsichert sind, weil sich indiesem Land auf einmal sehr viel verändert. Daher müs-sen wir deutlich machen, dass niemand mit den Lebens-risiken in dieser Gesellschaft alleine gelassen wird, son-dern dass diese Risiken weiterhin kollektiv abgesichertwerden.
Wenn man den Menschen dieses Vertrauen geben will,dann muss man ihnen auch sagen, dass unsere umlage-finanzierte Rente ein sicheres System ist, und zwar si-cherer als eine Aktie. Da gibt es keine Kursverluste.Aber wir müssen ihnen auch klar machen, dass wir das,was wir jetzt an Rente haben, in der Zukunft werden er-weitern müssen.Wir werden den Menschen erklären müssen, dass wireine gute Gesundheitsversorgung in diesem Land nurdann sicherstellen können, wenn wir nicht das gesund-heitliche Risiko privatisieren, sondern wenn wir bei dersolidarischen Krankenversicherung in diesem Landebleiben.
Es muss weiterhin gelten, dass Junge für Alte, Gesundefür Kranke, Singles für Familien und Gutverdienende fürSchlechterverdienende einstehen. Ich hoffe, dass in derZukunft nicht nur ein Teil unserer Gesellschaft füreinan-der einsteht, sondern dass in der Zukunft alle für alle indieser Gesellschaft einstehen.
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11034 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Gudrun Schaich-WalchDas Gleiche gilt für die Umlagefinanzierung derPflegeversicherung. Vor zehn Jahren haben die Men-schen praktisch aus dem Stand sofort Leistungen erhal-ten zu den Aufwendungen für die Pflege. Die Pflegever-sicherung ist keine Vollversicherung. So war sie nieangelegt. Das müssen wir den Menschen ehrlich sagen.Aber wir müssen ihnen natürlich auch ehrlich sagen,dass es Veränderungen in diesem System geben muss.Und da haben wir zum Teil eben eine andere Auffassungals Sie.Ich bin nicht der Überzeugung, dass kapitalgedeckteSysteme im gleichen Maße wirkungsvoll sind wie Umla-gesysteme.
Wenn das so wäre, hätten wir eine andere Situation inder PKV. Man muss doch ehrlich sagen: Auch die PKVist ein Umlagesystem, sie beinhaltet nur Momente derKapitaldeckung. Trotz dieser Momente der Kapitalde-ckung haben die privaten Krankenversicherungen mitjährlichen Beitragssatzsteigerungen von nahezu10 Prozent zu kämpfen.
Niemand kann mir sagen, dass wir das unbedingt anstre-ben müssen.
Wie ich vorhin schon sagte, bin ich davon überzeugt,dass von uns das Signal ausgehen muss: Wir brauchendie sozialen Sicherungssysteme, aber die sozialen Siche-rungssysteme müssen verändert werden. Wir müssen sieden gesellschaftlichen Veränderungen anpassen. Wirmüssen hinhören, um zum Beispiel zu erfahren, wo undwie die Menschen im Alter anders versorgt werdenmöchten, als es jetzt der Fall ist. Wir müssen vielleichtdie Arbeit anders als bisher über den Lebenszyklus ver-teilen.Wir müssen den Menschen aber auch sehr klar sagen,dass wir auch wirtschaftliche Notwendigkeiten zu be-rücksichtigen haben. Wir dürfen bei der Änderung dieserSysteme nicht nur an diejenigen denken, die jetzt Bei-träge zahlen und Leistungen bekommen, sondern wirmüssen auch die Entwicklung in 10, 20 oder 30 Jahrenberücksichtigen und entsprechend kalkulieren.Ich bin der festen Überzeugung, dass wir sehr viel aufden richtigen Weg gebracht haben. Jetzt wird es unsereAufgabe sein, zumindest dort, wo wir Änderungen ge-meinsam beschlossen haben, auch dafür Sorge zu tragen,dass wir diese Änderungen gemeinsam letztendlich zueinem Erfolg bringen.Herr Bahr, lassen Sie mich kurz etwas zu Ihnen sagen.Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Zitate,
weil Sie damit noch einmal gegenübergestellt haben, wieschnell sich doch Ansichten und Einsichten innerhalbder CDU/CSU ändern. Ich glaube, wir müssen überdiese Änderungen ganz ernsthaft und ehrlich miteinan-der reden. Dazu gehört auch, dass wir einmal über IhreVorstellungen zur Fortschreibung der Gesundheitsver-sorgung und zur Privatisierung des Systems reden. Ichbin davon überzeugt, dass es nicht trägt. Wir lehnen esab.
Es kann einfach nicht sein, dass wir solidarische Sys-teme zerstören, dass wir der Solidarität in dieser Gesell-schaft keinen Platz mehr geben und dass wir letztendlichMenschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens ste-hen, überfordern und in einem hohen Maße verun-sichern.
Deshalb glaube ich, dass der Weg, den Sie dort gehenwollen, der absolut falsche Weg ist.Wir haben, wie ich schon sagte, bei der Rentenversi-cherung den richtigen Weg eingeschlagen. Ich glaube,unsere ergänzenden Maßnahmen sind gut. Ich erwähnedie für die spätere Zukunft vorgesehene Besteuerung derRenten und die steuerliche Entlastung bei den Beitrags-zahlungen. Damit schaffen wir bei den jungen MenschenKapazitäten, die es ihnen ermöglichen, Zusatzversiche-rungen abzuschließen.Herr Luther, in einem Punkt muss man einfach ehr-lich sein. Niemand hat dieser Rentenversicherung durchdie Absenkung der Schwankungsreserve 15 MilliardenEuro geklaut. Dieses Geld haben die Rentnerinnen undRentner bekommen, denn wir haben damit verhindert,dass ihre Renten gekürzt werden mussten.
Auf der anderen Seite haben wir das Geld dazu benutzt,Beitragssteigerungen zu verhindern, weil wir sonst grö-ßere Probleme am Arbeitsmarkt bekommen hätten. Nie-mand hat dieses Geld weggenommen. Dieses Geld istda, auf Heller und Pfennig.
Ich fordere Sie wirklich auf, Ihre Aussage zu korrigie-ren, weil die Rentnerinnen und Rentner das Geld bekom-men haben.Wenn Ihre Vorstellung hinsichtlich des BeitragssatzesWirklichkeit werden würde, könnte ich ganz einfach nursagen: Gute Nacht! Der Vorschlag von Herrn Stoiber,der 5 Prozent pauschal kürzen will – die Kollegin Lehnhat es schon gesagt – bedeutet ganz schlicht und einfachentweder eine Erhöhung der Beitragssätze um 0,2 Pro-zent oder aber eine Kürzung der Renten um 1 Prozent.
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Gudrun Schaich-WalchDas kann doch in einer Situation, in der Sie Belastungenbeklagen, niemand wollen.
Mein zweiter Punkt, den ich ansprechen wollte, istder Verkauf der GAGFAH. Der Verkauf der GAGFAHwird dazu dienen, die Rentenversicherung liquide zuhalten und auf eine Bundesüberbrückung verzichten zukönnen.Zur Gesundheitsversorgung möchte ich Ihnen Fol-gendes sagen: Wir hätten gerne mehr Strukturelementein ihr gehabt. Wir haben sie nicht. Das tut uns sehr Leid.Vielleicht wären dann die Erfolge, die die Ministerinjetzt vorweisen kann, noch größer.Wir haben wirklich gut begonnen, indem wir zur Ver-besserung der Qualität der Versorgung beigetragen ha-ben. Zwei Punkte will ich herausstreichen. Wir habenein Plus von 25 Prozent bei den Ausgaben zur Vorsorge.Das sollte uns gemeinsam freuen. Wir haben ein Plus beiden Ausgaben für Schutzimpfungen in Höhe von10 Prozent und somit eine Zunahme der Zahl derSchutzimpfungen. Alles das sind Dinge, die richtig undwichtig sind.Zur Tabaksteuer sei nur so viel gesagt: Falls die Men-schen wirklich weniger rauchten, wäre es ein Segen.Falls die Menschen und besonders die Jugendlichen we-niger Alcopops trinken würden, wäre es ein Segen. Aberes ist genauso richtig, Familienleistungen, die in der ge-setzlichen Krankenversicherung sind, steuerzufinanzie-ren. Das ist ein richtiger Weg für die Zukunft.
Wir sind diesen Weg an einer Stelle gegangen undmüssen schauen, wie es bei der Pflegeversicherung inder Zukunft aussieht. Wir haben das Gesetz gemeinsambeschlossen. Ich glaube, dass der Weg, den wir in derPflegeversicherung gegangen sind – die Kollegin hat esgesagt –, ein richtiger Weg ist. Es ist aber auch wichtig,den Menschen deutlich zu machen, dass es das nicht ge-wesen sein kann. Wir werden darüber diskutieren müs-sen, dass zehn Jahre Beitragssatzstabilität dazu geführthaben, dass die Leistungen der Pflegeversicherung imPrinzip weniger geworden sind. Wir werden also überdie Dynamisierung reden müssen. Wir werden aber auchdarüber reden müssen, dass Menschen in der Zukunftanders leben wollen und wie wir das Verhältnis von am-bulanter und stationärer Pflege anders gestalten. Wirwerden den Menschen in diesem Land auch deutlich ma-chen, dass sie entscheiden – nicht nur das Parlament –und Signale geben müssen, wie viel ihnen die Pflege imAlter letztendlich wert ist. Diesen Diskussionsprozesswerden wir beginnen. Diese Diskussion gemeinsam mitder Gesellschaft wird am Ende zu einer Verbesserungführen.Jetzt noch einige wenige Worte zum Zahnersatz. Siekönnen hier rechnen, wie Sie wollen. 8,50 Euro von je-mandem zu verlangen, der ein Einkommen von1 000 Euro hat, und 8,50 Euro von jemandem, der einEinkommen von 10 000 Euro hat, zu erheben, bedeuteteine soziale Schieflage, die durch nichts schöngeredetwerden kann.
Das ist das erste Beispiel dafür, dass die Kopfpauscha-lenkiste nicht funktionieren kann. Sie haben es nochnicht einmal in diesem kleinen Segment geschafft, einensozialen Ausgleich herzustellen.
Wir haben darüber lange diskutiert und das im Rahmendes Kompromisses übernehmen müssen, was Sie gernewollten, damit wir die Verbesserungen machen konnten,die notwendig waren. Jetzt bitte ich Sie darum, sich nichteinfach hinzusetzen und zu sagen: Nein danke.Wenn Sie dabei bleiben, dann machen wir es alleine.Wir haben den Kompromiss aber gemeinsam gefunden.
Wir bieten Ihnen an, das Problem gemeinsam zu lösen,an dem Sie ersticken werden. Das garantiere ich Ihnen.Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel.
Lassen Sie es uns gemeinsam lösen. Wenn Sie es nichtmit uns gemeinsam machen wollen, dann machen wir esalleine.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/
CSU-Fraktion.
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen!
Wenn ich höre, was Sie, Frau Schaich-Walch, hier gebo-ten haben, dann habe ich die Befürchtung, dass Sie Ursa-che und Wirkung verwechselt haben.Ich möchte einige Anmerkungen machen, wie dieDiskussionslage über die Gesundheitsreform momentanist. Wir waren uns damals alle einig, dass wir gemein-sam eine Reform beschließen wollten, die das Gesund-heitssystem modernisieren sollte. Wir wollten die Defi-zite der Kassen abbauen und die Eigenverantwortung derBeteiligten stärken. Wir wollten mit Strukturmaßnahmeneine Effizienzsteigerung im System erreichen. Wir
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Wolfgang Zöllerwollten die Beiträge und damit auch die Lohnzusatzkos-ten senken.Aber ein Punkt kommt meines Erachtens in der Dis-kussion zu kurz: Wir wollten mit dieser Reform auch er-reichen, dass die am System Beteiligten endlich wiederüber Jahre hinweg Planungssicherheit haben, damit sieauch im Hinblick auf Investitionen in die Zukunft or-dentlich planen können. Planungssicherheit und Verläss-lichkeit sind für mich Voraussetzungen für Vertrauen.Vertrauen ist die Voraussetzung für die Akzeptanz einerReform.Ich habe mich über all diejenigen geärgert, die schonkurz nach der Veröffentlichung des Gesetzes im Bundes-gesetzblatt von der Notwendigkeit neuer Reformen spra-chen. Jetzt zeigen die ersten Ergebnisse, dass die ge-meinsam beschlossene Reform greift. Man könnte dieNotwendigkeit der Maßnahmen eigentlich mit guten Ar-gumenten untermauern. Umso schlimmer ist die jetzigeDiskussion über die Zurücknahme von Einzelmaßnah-men.
Rot-Grün kündigt den in mühsamen Verhandlungengemeinsam gefundenen Konsens über den Zahnersatzauf.
Unter den heute vorgetragenen Argumenten ist kein ein-ziges, das nicht auch schon damals in den Konsensver-handlungen vorgebracht wurde.
Die AOK hat bereits im Mai mitgeteilt, dass es, wenneine gesetzliche Regelung, die eine unbürokratische Ein-zugsvariante umfasse, ausbliebe, zu einem erheblichenBürokratieaufwand kommen würde. Deshalb hätten dieSpitzenverbände der Krankenkasse einen konkreten For-mulierungsvorschlag entwickelt, wie das Problem desBeitragseinzugs im Rahmen einer Gesetzesinitiative ge-löst werden könnte. Sie aber wollten das nicht. Das istder gravierende Unterschied.
Sie haben das Gesetz mitbeschlossen, wollten es abernicht umsetzen. Es ist unredlich, mit einem Konsens soumzugehen.
Wir stehen zu dem Konsens, weil – das ist so sicherwie das Amen in der Kirche – demnächst irgendeineGruppierung vorschlagen wird, auch noch einmal überdie Regelung des Krankengeldes zu reden. Auch dasstellt eine Belastung dar. Diese Woche hat Finanzminis-ter Eichel die Finanzierung der versicherungsfremdenLeistungen zumindest infrage gestellt.Auch ich kann gerne ein paar Einzelmaßnahmen nen-nen, bei denen ich mir eine andere Regelung vorstellenkönnte. Wir könnten über die nicht verschreibungs-pflichtigen Arzneimittel und über die Besteuerung derBetriebsrenten reden. Das wäre aber unredlich. Wennman einen Konsens gefunden hat, dann sollte man auchdazu stehen, statt sich im Nachhinein die Rosinen he-rauszupicken und nur aus wahltaktischen Gründen daseine oder andere Thema noch einmal aufzugreifen.
Wir haben damit eine große Chance vertan, den Bür-gern anhand von Ergebnissen – statt des 2003 bestehen-den Milliardendefizits der gesetzlichen Krankenkassenist 2004 ein Milliardenüberschuss zu verzeichnen – dieNotwendigkeit der Reformschritte wesentlich näherbringen zu können und sie nachvollziehbar zu machen.Sie werden von mir keinen Rat annehmen, aber ichdarf vielleicht eine Feststellung treffen. Rot-Grün hatzwei Reformen gemeinsam mit der Union durchgeführt.Ich darf an die Minijobs und die Gesundheitsreform er-innern. Beide Reformen haben zu positiven Ergebnissengeführt. Deshalb wäre es unklug, diesen Weg leichtsin-nig zu verlassen.Im Rahmen der Haushaltsberatungen diskutieren wirheute auch über das so genannte Kinderberücksichti-gungsgesetz. Wenn man ehrlich ist, dann ist das eigent-lich eine Bankrotterklärung von Rot-Grün, was Ihre Re-formbereitschaft und Reformfähigkeit bezüglich derPflege angeht.
Mich ärgert es durchaus, dass wir seit 1999 konstruk-tive Vorschläge – in Verbindung mit Finanzierungsvor-schlägen – unterbreitet haben, die von Ihnen immer wie-der mit der Begründung abgelehnt wurden, Sie würdendemnächst selbst ein Gesamtkonzept vorlegen. Seit 1999nehmen Sie entweder die brisante Lage der Pflegever-sicherung nicht ernst oder Sie ignorieren einfach die Be-dürfnisse der Bürger.
Ich hoffe, dass Letzteres nicht der Fall ist.Nach meiner Auffassung ist der heute von Ihnen ein-gebrachte Gesetzentwurf nicht ganz durchdacht, obwohlSie genügend Zeit hatten, ihn zu erarbeiten; denn Siewurden bereits im Jahr 2001 vom Bundesverfassungsge-richt aufgefordert, eine verfassungsgemäße Regelung zufinden. Eltern leisten mit der Erziehung ihrer Kinder ei-nen tatsächlichen Beitrag zur Pflegeversicherung. DieserErziehungsbeitrag ist nach dem Urteil des Bundesver-fassungsgerichts „innerhalb des Systems“ auszuglei-chen. Es fordert deshalb explizit eine Entlastung der Fa-milien während der Zeit der Betreuung und derErziehung.Jetzt schlägt Rot-Grün eine einseitige Belastung derKinderlosen vor. Aber es gibt keine spürbare Entlastungfür Familien in der Erziehungsphase. Das, was Sie vor-schlagen, ist nichts anderes als eine Rundummehrbelas-tung für Kinderlose, die einen horrenden Verwaltungs-
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Wolfgang Zölleraufwand zur Folge haben wird. Dagegen entspricht dasKinderbonusmodell der Union voll und ganz den Vorga-ben des Bundesverfassungsgerichts und ist familien-freundlich, und dies alles bei einer Beitragssatzerhö-hung, die sogar geringer ist als diejenige, die Sievorschlagen, und unter Vermeidung unnötiger Bürokra-tie. Deswegen sind wir der Meinung, dass unsere Lösungbesser ist.Lassen Sie mich dies an einem Zahlenbeispiel deut-lich machen. Nehmen wir als Beispiel das für 2004 an-gesetzte Durchschnittseinkommen eines Versicherten,das derzeit – monatsbezogen – bei etwa 2 450 Euro liegt.Bisher zahlt ein solcher Versicherter einen Pflegeversi-cherungsbeitrag von 20,80 Euro. Nach Ihrem Modellmüsste ein kinderloser Versicherter 27 Euro zahlen. Füreinen Versicherten mit einem oder mehreren Kindernbliebe es bei 20,80 Euro, das heißt, für diesen Versicher-ten würde sich nichts ändern. Nach unserem Modell müss-ten ein kinderloser Versicherter im Ergebnis 23,30 Euro, einVersicherter mit einem Kind 18,30 Euro und ein Versi-cherter mit zwei Kindern 13,30 Euro zahlen. Das bedeu-tet, dass Versicherte mit Kindern im Vergleich zur heuti-gen Belastung wesentlich besser gestellt würden. Denanderen Versicherten ist es zuzumuten, 0,1 Prozent mehrzu zahlen; denn es gibt eine gravierende Entlastung derFamilien.
Bei Versicherten mit niedrigen Einkommen kommt essogar dazu, dass der Beitrag zur Pflegeversicherungganz vom Bonus getragen wird. Das ist familienfreund-lich und auch sozial gerecht, weil Besserverdienendeweniger entlastet werden als Menschen mit niedrigemEinkommen. Dieser Vorschlag müsste Ihnen eigentlichentgegenkommen.
Wir sind uns aber auch darüber einig, dass eine solcheSofortmaßnahme uns nicht davon entbindet, eine längstüberfällige Reform der Pflegeversicherung in Angriff zunehmen. Wir diskutieren auch heute wieder – insbeson-dere die Rednerinnen und Redner der Grünen haben dasangesprochen – über den Grundsatz „ambulant vor sta-tionär“ und die Notwendigkeit einer rechtssicheren Ab-grenzung von Kranken- und Pflegeversicherung. In die-sem Zusammenhang möchte ich Sie Folgendes fragen:Im Gesetzentwurf steht, dass die medizinische Behand-lungspflege zum 1. Januar 2005 gesetzlich neu geregeltwerden muss. Wo bleibt hier Ihr Gesetzentwurf? Wird eswieder so sein, dass am 24. Dezember etwas vorgeschla-gen wird, das am 1. Januar gültig sein muss? DieseHausaufgabe haben Sie ebenfalls noch nicht gemacht.Wir sind des Weiteren der Meinung, dass die geriatri-sche Rehabilitation, die Prävention – hier sind wir unsGott sei Dank einig – und die Situation der Demenzkran-ken verbessert werden müssen. Aber wir können reden,so viel wir wollen, eines ist klar: Wir werden das Ge-sundheitssystem ohne kapitalgedeckte Elemente nichtzukunftssicher gestalten können.
Wir müssen den Mut haben, dies rechtzeitig anzugehen.Wir bitten die Bundesregierung, endlich eine grundle-gende Struktur- und Finanzreform im Bereich der Pfle-geversicherung in Angriff zu nehmen. Es gilt, hier keineZeit mehr zu verlieren.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/3671, 15/3672, 15/3450, 15/3673,
15/3654, 15/3681 und 15/3682 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die
Vorlage auf Drucksache 15/3450 zusätzlich an den Ver-
teidigungsausschuss überwiesen werden soll. Die Vor-
lage auf Drucksache 15/3683 – Zusatzpunkt 5 – soll an
dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache
15/3682 – Zusatzpunkt 2 – überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums des Innern. Das Wort hat der
Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-raten jetzt den Einzelplan 06. Ich will vorweg sagen:Dieser Haushaltsentwurf ist der Ausweis für eine solideund erfolgreiche Innenpolitik.
Er ist zugleich die Grundlage dafür, dass wir diese solideund erfolgreiche Innenpolitik fortsetzen werden undkönnen. Deshalb bitte ich Sie, diesem Haushalt zuzu-stimmen.Ich glaube, es ist ganz sinnvoll, einmal über die Ein-zelpositionen zu reden. Selbstverständlich hat sich auchdas Bundesinnenministerium an den Konsolidierungsbe-mühungen des Bundesfinanzministers solidarisch betei-ligen müssen. Gleichwohl ist es auch unter den sehrschwierigen Bedingungen restriktiver Ansätze im Bun-deshaushalt gelungen, die Ansätze im Einzelplan meinesHauses gerade im wichtigsten Aufgabenfeld, nämlichdem der inneren Sicherheit, so zu gestalten, dass er-folgreiche Arbeit geleistet werden kann.Lassen Sie mich eines einmal mehr feststellen:Deutschland gehört im internationalen Vergleich zu ei-nem der sichersten Länder in der Welt. Darauf könnenwir einigermaßen stolz sein.
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Bundesminister Otto SchilyIch finde, es besteht zuallererst Anlass, unseren Polizei-beamten in Bund und Ländern für diese große Leistung,für ihre hervorragende Arbeit Dank zu sagen.
In diesen Dank möchte ich auch diejenigen einbezie-hen, die in anderen Sicherheitsinstitutionen tätig sind:den Feuerwehren, dem Technischen Hilfswerk. In bei-den Einrichtungen wird partiell ehrenamtliche Tätigkeiterbracht. Aber es gibt auch eine Reihe von Hilfsorgani-sationen, die rein ehrenamtlich tätig sind. Gerade diesesSystem, das wir in Deutschland entwickelt haben, hatsich als sehr effizient erwiesen. Heute sollten wir aucheinmal den Hilfsorganisationen, dem Deutschen RotenKreuz, dem Arbeiter-Samariter-Bund, dem MalteserHilfsdienst, der Deutschen Gesellschaft zur RettungSchiffbrüchiger und vielen anderen, Dank sagen.
Es hat sich in diesem Zusammenhang übrigens alssehr hilfreich erwiesen, dass wir beim Bundesministe-rium des Innern einen Beirat ins Leben gerufen haben, indem diese Organisationen zu Wort kommen und ihrFachwissen und ihre Kompetenz in die Konzeptionie-rung von Maßnahmen im Bereich der inneren Sicherheiteinbringen können.Wenn Sie sich den Haushaltsentwurf anschauen, dannwerden Sie feststellen, dass knapp 70 Prozent der Aus-gaben dieses Einzelplanes mit 2,8 Milliarden Euro aufden Sicherheitsbereich entfallen. Gegenüber dem Soll2004 konnten die Ausgaben für die innere Sicherheit ins-gesamt um rund 1,7 Prozent gesteigert werden. Wenn ichmir einmal die Zahlen in meiner Amtszeit von 1999 bisins Haushaltsjahr 2005 hinein vor Augen führe, dannstelle ich fest, dass die Ausgaben im Sicherheitsbereichum 22 Prozent erhöht worden sind. Das ist solide, erfolg-reiche Innenpolitik der Bundesregierung.
Wenn man das dann für die einzelnen Bereiche be-trachtet, dann kommt man zu dem Ergebnis: Das gilt ins-besondere für den Bundesgrenzschutz, dessen Haus-haltsansatz 2005 gegenüber dem Soll 2004 eineErhöhung um rund 44 Millionen Euro erfährt. Das be-zieht sich insbesondere auf die Personalausgaben. Wirhaben auf diese Weise die Planstellenstruktur im Bun-desgrenzschutz erheblich verbessern können. Ich kannIhnen wirklich mit voller Überzeugung berichten: DieStimmung im Bundesgrenzschutz ist gerade auf derGrundlage einer solchen soliden und guten Politik so gutwie noch nie zuvor.
Darauf bilde ich mir einiges ein.Ich will nicht verhehlen, Kollege Diller – der Staats-sekretär ist ja anwesend –, dass das manchmal ein hartesRingen mit dem Bundesfinanzministerium war.
Aber wir haben uns immer einigen können. Ich bin demBundesfinanzministerium dankbar dafür, dass das gelun-gen ist.Gleiches gilt für den wichtigen Bereich des Bundes-kriminalamts, für das wir auch eine Erhöhung derEtatansätze vorsehen.Selbstverständlich will ich Ihnen aber nicht ver-schweigen, dass wir in einigen Bereichen – auch bei derinneren Sicherheit –, was Sachbeschaffungen angeht, be-stimmte Einschränkungen hinnehmen mussten. Das warangesichts der Notwendigkeit für alle Haushalte, Bei-träge zur Konsolidierung des Bundeshaushalts zu leis-ten, unausweichlich.Eine besondere Bedeutung haben in der modernenWelt die Maßnahmen, die wir für die Sicherheit in derInformationstechnik ergreifen müssen. Wir haben er-freulicherweise eine Erhöhung des Ansatzes für dasBundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik.Wenn man auch in dem Bereich die Zahlen von 1999 bis2005 betrachtet, dann stellt man fest, dass wir dort eineSteigerung der Ausgaben um rund 77 Prozent erreichthaben. Das ist eine gewaltige Steigerung. Auch das istAnlass zur Zufriedenheit.Ich will an der Stelle allerdings darauf hinweisen,dass die Gefahren in der Informationstechnik, auch wasdie Informations- und Kommunikationstechnik in denjeweiligen exekutiven Bereichen angeht, deutlich zuneh-men. Wir werden uns mit der Konzeptionierung in die-sem Bereich noch intensiver beschäftigen müssen. Ichmuss leider ankündigen, dass wir angesichts der Gefah-ren, die sich dort auftun, die Mittel vermutlich noch auf-stocken müssen. Ich bitte dafür dann um die Bereitschaftzu einer offenen und konstruktiven Debatte. Ich glaube,dass wir diese Gefahren nicht ernst genug nehmen kön-nen.Selbstverständlich hat auch die internationale Arbeitim Sicherheitsbereich eine hohe Bedeutung. Deshalbfreue ich mich darüber, dass im Haushaltsentwurf auchfür den Bereich die notwendigen Mittel bereitgestelltwerden können.Ich möchte aber doch einen Hinweis geben, gerademit Blick auf den Debattenverlauf heute Vormittag, weilmanche im Haus meinen, sie hätten ein Monopol aufKompetenz im Bereich der inneren Sicherheit.
– Mitunter wird das gerne in Anspruch genommen.
– Ich könnte das schon für mich in Anspruch nehmen,aber – –
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Bundesminister Otto Schily– Richtig, Herr von Klaeden, nur weiter so! Ich bin ja füreine konstruktive Diskussion. Es ist schön, dass ich Sieeinmal zur Heiterkeit bringe. Ich freue mich darüber,auch einmal in lachende Gesichter der Opposition zuschauen.
Ich will nun an das anknüpfen, was der KollegeEichel heute Vormittag angesprochen hat, nämlich dieVorschläge aus Bayern. In Bayern wird der Haushalts-ansatz für den Sicherheitsbereich um 3 Prozent gekürzt.
Das ist ja schon ganz interessant. Interessant ist aberauch der Vorschlag des Kollegen Stoiber, den Bundes-haushalt in allen Bereichen generell um 5 Prozent zukürzen. Ich will Ihnen kurz erläutern, was das beim BGSbedeuten würde. Es würde bedeuten, dass wir den Etatum 100 Millionen Euro kürzen müssten. Das ginge nurdurch eine Reduzierung des Personalkörpers der Polizei-vollzugsbeamten um bis zu 1 500 Beamtinnen und Be-amte; die Luftsicherheitskontrollen durch Private könn-ten nicht mehr im erforderlichen Umfang geleistetwerden; die Beschaffung und Bewegung von Fahrzeu-gen des Bundesgrenzschutzes könnte nicht mehr in demaus polizeifachlicher Sicht erforderlichen Umfang ge-leistet werden usw. Ähnliches gilt für den Bereich desBundeskriminalamtes. Ich glaube also, es ist schon dieZeit wert, einmal in den Mittelpunkt der Debatte zu stel-len, welche Vorschläge da in München im Moment imSchwange sind.
Vielleicht hat ja jemand Einfluss darauf. Herr Koschyk,Sie könnten ja einmal um ein Gespräch bitten und nach-fragen, ob das so ganz ernst gemeint war, was da vorge-schlagen wurde.
Meine Damen und Herren, selbstverständlich bieteteine Etatdebatte auch die Gelegenheit, über die Arbeit zusprechen. Das würde aber meine Redezeit jetzt bei wei-tem überschreiten. Ich will nur einige Fragen anspre-chen, die mir besonders aktuell erscheinen.
– Sehen Sie, in diesem Zwischenruf zeigt sich leider IhreUnkenntnis über den eigentlichen Sachverhalt. Es istnämlich nicht so, verehrter Herr Kollege, dass die Ein-führung des Digitalfunks an der Frage des Geldesscheitert, sondern sie scheitert an der mangelnden Be-reitschaft der Länder, dem Beschaffungsprozess einTempo zu geben, das frühere Entscheidungen zulässt.
Diese Frage möchte ich nämlich nicht allein auf Bundes-ebene entscheiden, sondern solidarisch mit den Länderngestalten, damit am Ende bundesweit ein technischesKonzept zur Umsetzung gelangt und nicht ein Fleckerl-teppich, wie man in Bayern sagen würde, entsteht. Des-halb nimmt dieses Projekt so viel Zeit in Anspruch.
Ich bin daran nicht schuld. Sie können sich gerne bei mirgenauer erkundigen; wir können das auch in einer Aus-schusssitzung debattieren. Ich will Ihnen dann gerne da-rüber Bericht erstatten.Ich möchte außerdem einen Punkt ansprechen, der inden Sommermonaten für eine lebhafte Debatte gesorgthat. Ich habe gehört, dass aus dem Bereich des Innenaus-schusses der Wunsch geäußert worden ist, darüber Nähe-res zu erfahren. Dem Wunsch, dass wir noch vor derinformellen Sitzung des Justiz- und Innenrates zusam-menzukommen, will ich gerne entsprechen. Ich werdeIhnen dann erläutern, welche Vorstellungen es gibt. FrauVerdonk, die holländische Ministerin für Migration undVertreterin der holländischen EU-Präsidentschaft, hatmich ausdrücklich eingeladen, in der JI-Konferenzmeine Vorstellungen zusammen mit Herrn Lubbers, demKommissar für das Flüchtlingswesen bei der UNO, derEU-Kommission darzulegen. Deshalb bitte ich um Ver-ständnis, dass ich heute dieses Thema nicht in allen Ein-zelheiten anspreche. Ich will Sie vorweg nur mit zweiSachverhalten bekannt machen, damit Sie sich auf dieseDebatte einstellen können.Ich verweise zum einen auf ein Dokument – ich habees jetzt leider nicht dabei, sodass ich darüber aus demKopf referieren muss; das tut mir Leid –, das die EU he-rausgegeben hat und in dem es um den verbessertenSchutz vor illegaler Migration im Mittelmeerraumgeht. Wenn Sie dieses Dokument studieren, werden Sieentdecken, dass dort eine Passage enthalten ist, in der ge-fordert wird, dass in den Ländern, von denen aus Schleu-serboote ihren Weg genommen haben, Aufnahmeein-richtungen geschaffen werden. Das ist also einVorschlag, der bereits von der EU gemacht worden ist.
Im Übrigen gibt es, von der Europäischen Kommis-sion in Auftrag gegeben, die Ausarbeitung einer Exper-tengruppe, die sich mit dem Thema beschäftigt, wie un-ter bestimmten Voraussetzungen auch außerhalb derMitgliedstaaten Asylanträge entgegengenommen undentschieden werden können. Ich glaube, dass diese bei-den Hinweise für eine Versachlichung der Debatte ganznützlich sind. Aber ich will nicht vorwegnehmen, waswir dann in der Ausschusssitzung zu debattieren habenwerden.Jetzt folgt ein etwas harter Sprung; ich mache sozusa-gen einen Exkurs, der mit diesem Thema nicht unmittel-bar etwas zu tun hat, der mir aber am Herzen liegt. Ichbin ja schon einmal dafür getadelt worden, dass ich michin der Etatdiskussion nicht zum Thema Sport äußere.Das will ich heute einmal tun, auch deshalb, weil ich einpaar Tage in Athen sein durfte und mich sehr darüber
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11040 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Bundesminister Otto Schilyfreue, dass sich unsere Athletinnen und Athleten – dasmöchte ich an den Anfang stellen – dort als gute Bot-schafterinnen und Botschafter unseres Landes erwiesenhaben
und mit herausragenden sportlichen Leistungen aufge-treten sind, wobei ich betone, dass auch ein fünfter,sechster oder siebter Platz eine großartige, grandiosesportliche Leistung ist.
Wir sollten nicht immer nur auf die Medaillen schauen.Deshalb meine ich auch, dass wir das Geld, das wir indiesem Bereich aufgewendet haben, richtig eingesetzthaben. Das wird uns nicht daran hindern, nach Ab-schluss der Olympischen Spiele gemeinsam mit denSportorganisationen noch einmal sehr genau zu schauen,wie wir die Mittel anders und effizienter einsetzen kön-nen. Wir haben uns eine umfassende und vertiefte De-batte über die Förderrichtlinien, das Förderprogrammund die Straffung der entsprechenden Trainings- undsonstigen Institutionen vorgenommen. Wir werden mitden Sportorganisationen in einen fairen Dialog eintreten.Es ist erfreulich, dass eine lebhafte Diskussion darüberin Gang gekommen ist, wie die Sportorganisationen sichselber wirkungsvoller und effizienter gestalten können.Ich unterstütze diesen Prozess mit allen Kräften und mitEntschiedenheit.
– Den Beifall können Sie doch spenden; das war docheine vernünftige Aussage.
Damit Sie noch mehr Beifall hören, sage ich: DieBundesregierung kann für sich in Anspruch nehmen,eine sehr erfolgreiche Sportpolitik betrieben zu haben.
Damit Sie das nicht nur von mir hören müssen, will ichHerrn Kotter zitieren, den Sie sicher kennen; er ist derwirklich verehrungswürdige Präsident eines der großenWintersportverbände, der sein Amt kürzlich nach vielenJahrzehnten abgegeben hat. Er hat mir in Bad Endorffreundlicherweise gesagt: Einen so guten Sportministerwie diesen hat die Bundesrepublik lange nicht gesehen. –Danke schön!
Sie können jetzt ruhig wieder klatschen, denn der, derdas gesagt hat, kommt eher aus Ihren Reihen.Lassen Sie mich in den beiden letzten Minuten zu ei-nem sehr ernsten Thema zurückkehren. Wir haben heuteMorgen der Geschehnisse in Beslan gedacht. Ichglaube, unter uns wird niemand sein, den diese Bilder jewieder verlassen werden, mich jedenfalls nicht. Dieserbrutale Kindermassenmord ist ein neuer Höhepunkt desblutrünstigen islamistischen Terrorismus. Ich denke,wir alle haben das mit Entsetzen und mit Abscheu wahr-genommen. Diese Bluttat beweist einmal mehr, welcheabgrundtiefen Gefahren uns mit dem islamistischen Ter-rorismus gegenüberstehen. Dieser Terrorismus beruftsich sogar noch in gotteslästerlicher Weise auf Allah. Alsdie Attentäter in die Schule stürmten, haben sie ihrenGott angerufen. Eine schlimmere Gotteslästerung kannich mir gar nicht vorstellen.Da wir diesem schauerlichen islamistischen Terroris-mus gegenüberstehen, dürfen wir uns nicht in feuilleto-nistischen Betrachtungen verlieren. Wir müssen wissen:Menschen, die solche Mordtaten verüben, verdienen un-sere tiefste Verachtung und die härteste Gegenwehr, dieman sich überhaupt nur vorstellen kann.
Deshalb bin ich dafür, dass wir an dieser Stelle zusam-menstehen und sagen, dass wir diesem Terrorismus nichtweichen werden.Ich empfehle eines – da bin ich mit GüntherBeckstein völlig einig; das will ich an dieser Stelle dank-bar hervorheben –: Man muss die Gefahren nüchtern undklar beschreiben; man darf sie nicht bagatellisieren. Esbesteht eine reale und ernste Gefahr auch für unser Land.Diese Gefahr existiert nicht nur fern unserer Grenzen.Deshalb müssen auch die Anstrengungen eher größerwerden, um dieser Gefahr entgegenzuwirken.Wenn es um Neuerungen geht, auch um Neuerungenim Rahmen der Föderalismusdebatte, bitte ich, nicht mitVorurteilen in eine solche Debatte hineinzugehen. Ichbin dankbar, dass der Kollege Behrens jetzt erkennenlässt, dass er in diesem Punkt durchaus gesprächsbereitist.Wir dürfen auf der anderen Seite nicht die Gelassen-heit aufgeben. Wenn wir uns selber sozusagen in einenZustand der ewigen Nervosität oder erst recht der Panikversetzen würden, dann hätte der Terrorismus gewon-nen. Äußerste Wachsamkeit und Anstrengungen, die wirnoch erhöhen müssen – möglicherweise mit mehr Geld,als wir bisher aufgewendet haben – auf der einen Seiteund der aufrechte Gang der Gelassenheit auf der anderenSeite sind die Voraussetzungen dafür, dass wir in derAuseinandersetzung mit dem Terrorismus bestehen wer-den.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Herr Minister, Sie haben mit einem sehr ernstenThema geendet, mit einem Thema, das sich für eine Be-handlung in diesem Rahmen kaum eignet. Trotzdem willich sagen, dass wir Ihnen in der Bewertung völlig zu-stimmen. Wir teilen auch Ihre Nachdenklichkeit. Sie ha-ben von Verachtung und Gegenwehr gesprochen. DieMöglichkeit zur Gegenwehr ist, wie Sie selber zumSchluss auch gesagt haben – wir stehen hier am Beginnder Haushaltsberatungen –, ein wesentliches Kriteriumbei der Bewertung Ihres Haushalts.Es ist menschlich schon verständlich, wenn Sie in Ih-rer Rede den Eindruck zu erwecken versuchen – bei demeinen oder anderen werden Sie damit vielleicht Erfolggehabt haben –, dass alles in bester Ordnung ist und dassSie alles im Griff haben.Wir teilen uneingeschränkt Ihr Lob und die Anerken-nung für die Arbeit des Bundesgrenzschutzes, der Poli-zeien und der Hilfsorganisationen. Selbst bei der Bewer-tung der Leistung der deutschen Olympioniken könnenwir uns sicherlich einigen. Aber das alles ist ja eigentlichnicht das Thema, weswegen wir hier in diesem Kreis zu-sammengekommen sind.Sie haben zu dem bekannten Hilfsmittel gegriffen, dieSteigerungen der Mittel von 1999 bis 2005 zum MaßstabIhrer erfolgreichen Arbeit zu machen und von den in denletzten sechs Jahren vorgenommenen Erhöhungen ummehr als 22 Prozent zu sprechen. Zur Wahrheit gehörteinfach, dass sich, wie alle wissen, die Sicherheitssitua-tion in unserem Lande in diesen sechs Jahren dramatischverändert hat. So dramatisch sind die Steigerungsratenvor diesem Hintergrund dann auch wieder nicht. Sie re-lativieren sich schon erheblich.
Ehrlich gesagt, Herr Minister, uns interessieren dieDurchschnittszahlen der letzten Jahre und auch die Erhö-hungen in dieser Zeit wenig. Uns interessiert vielmehrganz konkret – darauf hinzuweisen muss natürlich heutegestattet sein –, wie es im kommenden Jahr aussieht. Al-les andere, das, was in den letzten fünf Jahren war, kön-nen wir einmal in einer gemütlicheren Runde bespre-chen. Heute steht der Haushalt des Jahres 2005 an.Das muss ich noch quitt werden: Ihren Exkurs in denheutigen Vormittag und Ihren Ausflug nach Bayern fandich zwar bemerkenswert, für die Beratung des Einzel-plans 06 des Bundeshaushalts aber wenig geeignet.
Wenn Sie wirklich Bayern zum Vorbild nehmen, dannwäre ein Gespräch mit Herrn Koschyk oder Frau Mantelhilfreich. Den Begriff „Lernen“ darf man ja nicht ver-wenden; aber wenn Sie Bayern zum Beispiel nehmen,dann könnte ich Ihnen andere Aspekte des bayerischenHaushalts, etwa die Ausgeglichenheit zwischen Einnah-men und Ausgaben, nennen. Wenn man etwas lernenwill, dann sollte man schon genauer hinschauen. An-sonsten wollen wir uns ja mit dem Haushalt für das kom-mende Jahr befassen.Einen Wunsch habe ich dann doch: Wenn Sie schonExkurse machen, Herr Minister, dann hätte ich mir na-türlich schon gewünscht, dass Sie einen deutlicherenHinweis in Richtung Ihres Kollegen Fischer gegebenhätten, Schluss mit der jetzigen unsäglichen Visapolitikzu machen.
Vielleicht hilft Ihnen ja der Kollege Beckstein bei derFormulierung eines entsprechenden Briefes. Auch wirsind gerne dazu bereit. Aber ich meine es jetzt ganzernst: Wir bitten Sie dringend darum, dort tätig zu wer-den und nicht zuzuwarten, bis sich irgendjemand imAuswärtigen Amt vornehm-diplomatisch bewegt. Eshandelt sich hierbei um eine Frage der Sicherheit unddies betrifft das Ministerium des Innern. Wir erwartenvon Ihnen ganz konkret eine Maßnahme zusammen mitIhrem Kollegen Fischer. Wie gesagt, Sie erhalten vonuns jede Unterstützung.Ich hatte das Gefühl, mich ein wenig auf das beziehenzu müssen, was Sie eben ausgeführt haben, darf aberjetzt auf den Haushalt 2005 zu sprechen kommen. Ichwill das in aller Sachlichkeit tun. Wie gesagt, es istmenschlich verständlich, zu sagen, es sei alles in Ord-nung. Aber es gibt eben doch erhebliche Schwachstellenin diesem Haushalt. Über grundsätzliche Aspekte habenbereits heute Morgen der Kollege Austermann und wei-tere Fraktionskollegen gesprochen. Der Haushalt istoffenkundig verfassungswidrig, verstößt gegen dieMaastricht-Kriterien usw.Vor diesem Hintergrund ist es natürlich ein „besonde-res Vergnügen“, wenn man sich nun auch noch mit denEinzelplänen auseinander setzen muss. Wenn man dannnoch sieht, dass fast alle Ansätze innerhalb eines Einzel-planes gegenseitig deckungsfähig sind, habe ich so lang-sam das Gefühl, man sollte die Etatberatungen vereinfa-chen. Über ein solches Verfahren könnte man vielleichteinmal sprechen.Zweifellos sollten wir uns in diesem Hause einig da-rin sein, dass die Sicherheit der Menschen in unseremLande eindeutig ein Schwerpunkt in diesem Haushaltsein muss. Sie haben das auch angekündigt. Trotzdemmeine ich, dass man bei genauerem Hinsehen feststellenmuss, dass das, was Sie ganz zum Schluss gesagt haben,nämlich dass man vielleicht mehr Geld in die Hand neh-men muss, schon im Haushalt 2005 hätte geschehenmüssen.Herr Minister, meine Damen und Herren, jede Haus-haltsplanberatung auf kommunaler Ebene, auf Landes-ebene und auf Bundesebene ist – vielleicht haben Sie,Herr Kollege, das noch nicht mitgemacht; ich weiß, wiedas geht – in erster Linie keine Frage des Geldes, son-dern eine Frage der Prioritätensetzung. Deswegenmüssen wir schauen, ob die Prioritäten in dem Haushalt,der jetzt ansteht, richtig gesetzt worden sind. An einigenStellen – ein paar Beispiele werde ich nennen – sind wir
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Beatrix Philippder Auffassung, dass sie nicht richtig gesetzt wordensind.
Vielleicht vorher noch ein paar Worte dazu, was michsehr belastet; wir haben das einmal ansatzweise im In-nenausschuss besprochen. Wir befinden uns immer inder Situation des Re-agierens auf Terrorakte. Wennman darüber nachdenkt, warum das so ist, dann kommtman zu dem Ergebnis, dass das sicherlich damit zu tunhat, dass uns die Vorstellungskraft für das, was sich dieseMenschen ausdenken, fehlt. Es ist, glaube ich, auch neu,dass wir es mit Menschen zu tun haben, denen das ei-gene Leben überhaupt nichts wert ist, die bereit sind, ihreigenes Leben einzusetzen, und denen auch das Lebenvon Hunderten oder Tausenden von Kindern undErwachsenen nichts wert ist. Vor diesem Hintergrundmüssen wir alles Menschenmögliche – wirklich allesMenschenmögliche – im Bereich der Terrorismusbe-kämpfung tun. Wir müssen uns auch fragen, ob wir allesdazu Notwendige getan haben.Sie haben natürlich mit Recht darauf hingewiesen– das geschieht meiner Ansicht nach viel zu selten –,dass wir in besonderem Maße eine Fürsorgepflicht fürdiejenigen Menschen haben, die jeden Tag ihren Kopffür unsere Sicherheit hinhalten. Ich wünsche mir, dassdie Berichterstattung in den Medien weniger intensiv– zwar auch, aber weniger intensiv – über die Behand-lung von möglicherweise dort angetroffenen Verbre-chern stattfindet und stattdessen mehr auf die Ausstat-tungsbedingungen eingeht, unter denen Polizeien,Hilfsorganisationen usw. arbeiten müssen. Vielleichtkönnen wir uns in diesem Sinne auch einmal zusammen-finden.Ganz konkret – Herr Minister, das kann ich Ihnennicht ersparen –: Großereignisse – das wissen wir alle –bedürfen besonderer Maßnahmen, und das schon imVorfeld. Da nenne ich als Beispiel die Fußballwelt-meisterschaft, das Ereignis mit der größten Zuschauer-resonanz weltweit. Die Ausrichtung dieses Ereignissesist eine große Ehre, aber eben auch eine große Heraus-forderung. Man müsste eigentlich sagen können, dasswir ein gutes Gefühl haben; denn noch bis zum Ende desJahres 2003, Herr Minister, haben Sie gesagt, dass Siedie für die Weltmeisterschaft zuständigen Sicherheits-einrichtungen mit einem digitalen Funksystem ausrüs-ten würden. Nun hören wir: Erst 2008 ist damit zu rech-nen. Es ist ein Skandal, dass es nur noch zweieuropäische Staaten ohne jeden Digitalfunk gibt: Alba-nien und Deutschland.
– Kennen Sie noch einen? Die Situation wird aber nichtbesser, wenn wir auf drei oder vier Staaten kommen. –Jedenfalls sind wir in einer Reihe mit Albanien anzutref-fen, weil wir keinen Digitalfunk haben.Herr Minister, mir ist es auch – ich sage das einmaletwas locker – relativ wurscht, wie viele Staaten es sind.Wir haben rechtzeitig und immer wieder – ich weißnicht, ob Sie sich daran nicht erinnern – hier und imAusschuss darauf hingewiesen, dass es notwendig ist,die Vorbereitungen zu treffen. Wie gesagt, Sie habenselbst noch bis Ende letzten Jahres darauf hingewiesen,dass der Digitalfunk kommt. Im November letzten Jah-res, Herr Minister, haben Sie uns beschwichtigt bzw. zubeschwichtigen versucht.
– Herr Wiefelspütz, bei Ihnen scheint es ja gelungen zusein. – Ich zitiere jetzt aus der Haushaltsrede vom27. November 2003 den Minister höchstpersönlich.
– Das werden Sie jetzt sehen. Da mache ich Ihnen ja eineFreude, das freut mich aber. – Der Minister sagte:Deutschland würde sich entsetzlich blamieren,wenn es uns nicht gelingen sollte, das zu schaffen,was Finnland in relativ kurzer Zeit zustande ge-bracht hat …Dass man im Zusammenhang mit PISA von Finnlandlernen kann, haben inzwischen alle SPD-regierten Bun-desländer kapiert. Vielleicht könnte ja die SPD-Bundes-regierung von Finnland lernen, wenn es um die Einfüh-rung des Digitalfunks bzw. um die Zeit, die man dafürbraucht, geht.
Es stehen immer noch lediglich 5 Millionen Euro imHaushalt.
– Der Hinweis auf die Bundesländer interessiert michnicht.
– Dann muss man aber auch einmal darüber nachdenken,woran das liegt. – Der Minister setzt sich bei HerrnEichel nicht durch; denn eigentlich müsste er mehr Geldhaben. Er hat eben davon gesprochen, dass das nicht sogelungen ist und dass er sich den solidarischen Sparmaß-nahmen hat fügen müssen. Auch bei den Ländern setzter sich nicht durch, sodass wir im Endeffekt bei der Fuß-ballweltmeisterschaft keinen Digitalfunk haben werden.
– Wenn Sie dem widersprechen, dann rolle ich michwieder zusammen. Wenn Sie sagen, dass der Digitalfunkrechtzeitig kommt, dann brauchen wir dieses Thema hiernicht weiter zu vertiefen; das werden wir dann im Aus-schuss machen.Meine Damen und Herren, den nächsten Coup in Sa-chen Weltmeisterschaft hat Rot-Grün bei den Bereit-schaftspolizeien der Länder gelandet. Im Schwerpunk-tepapier zum Einzelplan 06 wird zwar richtig ausgeführt– ich zitiere –:
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Beatrix PhilippDie Bereitschaftspolizei ist nach wie vor mit ihrerspezialisierten Einsatz- und Organisationsform dastragende Element bei der Bewältigung von Großla-gen …Die Aktivitäten im Rahmen der Vorbereitung undDurchführung der Fußballweltmeisterschaft inDeutschland als nationales Großereignis, für dasdie Bundesregierung u. a. auch Sicherheitsgarantienübernommen hat, … unterstreichen die Notwendig-keit zum Einsatz modern ausgestatteter und profes-sionell handelnder Bereitschaftspolizeien, um dieinnere Sicherheit gewährleisten zu können.Nun denke ich, dass sich dies im Haushalt nieder-schlagen müsste. Es nutzt ja nichts, das in ein Schwer-punktepapier zu schreiben. Aber weit gefehlt, im Haus-halt ist um 2 Millionen Euro gekürzt worden. Damiterreichen die Zuwendungen für die Bereitschaftspoli-zeien der Länder den historischen Tiefststand von gan-zen 13,542 Millionen Euro. Das passt nicht unbedingt zuden zweifellos notwendigen Sicherheitsmaßnahmen und-paketen.Es passt vor allem dann nicht – deswegen sprach ichgerade von Prioritäten –, wenn für die Fußballweltmeis-terschaft 20,65 Millionen Euro im Bereich der Sportför-derung für eine Auftaktveranstaltung und für eine offizi-elle Eröffnungsveranstaltung einen Tag später zurVerfügung gestellt werden. Nun wird mir niemand sa-gen, dass ich gegen Feiern wäre. Aber wenn ich auf dereinen Seite quasi zwei Eröffnungsveranstaltungendurchführe und dafür 20 Millionen Euro ausgebe undauf der anderen Seite um 2 Millionen Euro kürze, dannpasst das nicht zusammen, dann sind die Prioritäten mei-ner Ansicht nach falsch gesetzt.
Das dritte Thema, das ich in aller Kürze in der mir zurVerfügung stehenden Zeit anspreche
– ich würde mich ja, wie Sie wissen, Herr Wiefelspütz,viel länger mit Ihnen auseinander setzen, aber es gehtleider nicht –, ist der Bereich der inneren Sicherheit im21. Jahrhundert. Ich sage das so pointiert, weil es sichum Telekommunikation und unsere Kommunikations-gesellschaft handelt. Es wird viel über E-Governmentund onlinefähige Dienstleistungen geredet. Für denInformationsverbund Berlin-Bonn, der vor allem inKrisenfällen eine sichere Kommunikation gewährleistensoll, weil er zum Beispiel unabhängig vom öffentlichenTelefonnetz funktioniert, wird eine Erhöhung zweifellosfür unstrittig und erforderlich gehalten, wenn man insSchwerpunktepapier schaut. Aber im Haushalt werdendie Investitionen um 18,212 Millionen Euro gekürzt,was einer Mittelkürzung von fast 50 Prozent entspricht.Die tolle Begründung hierfür – man findet sie übri-gens häufiger im Haushalt – zitiere ich aus dem Einzel-plan, Herr Minister: „Weniger wegen Verschieben vonMaßnahmen“. Das ist ganz toll. Wir werden im Aus-schuss – das wissen Sie von uns – genau nachfragen,welche Maßnahmen nun verschoben worden sind undwarum. Ganz sicherlich finden Sie auch eine Möglich-keit, uns eine Begründung dafür zu liefern.Mit dem Hinweis auf das Bundesamt für Sicherheitin der Informationstechnik werden eigentlich immerwieder kritische Nachfragen von allen, die sich durchComputerviren, terroristische Hackerangriffe usw. beun-ruhigt fühlen, beantwortet. Dieses Bundesamt bekommteine ständig größere Bedeutung, nicht nur im Schwer-punktepapier, sondern eigentlich auch in den Köpfen derMenschen. Ich zitiere aus dem Schwerpunktepapier:Um sich den wachsenden Herausforderungen durchzukünftige Bedrohungsszenarien stellen zu können,wird für die Zukunft im Rahmen des haushalterischMöglichen ein Personalaufwuchs im BSI ange-strebt.Weiter steht dort:Der Haushaltsentwurf sieht noch keine zusätzlichenStellen vor.Deswegen, Herr Minister, darf ich noch einmal nachfra-gen: Wenn bereits ein Personalfehl von 22,5 Stellen ge-genüber dem durch die Personalbedarfsermittlung aner-kannten Funktionsbedarf festgestellt wird, wüsste ichgern, warum beim BSI auch weiter noch eine lineareStellenkürzung von 1,5 Prozent vorgesehen ist.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!
Mit anderen Worten: Ich habe nur relativ wenige Bei-
spiele nennen können.
– Herr Wiefelspütz, Sie in einem ganz besonderen Maße
haben das Vergnügen, in den Beratungen weiteren Aus-
führungen von mir und meiner Fraktion folgen zu dür-
fen. Das Vergnügen haben wir ja nicht immer mit dem
Minister.
Ich wollte nur ein paar Beispiele dafür bringen, dass ge-
nau das, was jetzt im Haushalt für den Bereich des Bun-
desministers des Innern steht, unserer Ansicht nach in
vielen, vielen Fällen eine falsche Prioritätensetzung zur
Ausgangslage hatte.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauPhilipp, ich habe Ihren Ausführungen zum Thema Polizeisehr interessiert zugehört. Ich will Ihnen etwas aus Nie-dersachsen, dem Bundesland, aus dem ich komme, er-zählen.
Ihr Innenminister Schünemann ist gerade dabei, die Ver-besserungen, die mit Rot-Grün begonnen haben und vonder SPD fortgesetzt wurden,
zum Beispiel die Einführung der zweigeteilten Laufbahnfür die Polizei, rückgängig zu machen und die hohenAusbildungsstandards wieder abzusenken.
Zu Recht sagt die Polizei in Niedersachsen: Wir wollenkeine bayerischen Verhältnisse.
Angesichts dessen sollten Sie zuerst in Ihren eigenen Zu-ständigkeitsbereich schauen, bevor Sie auf diese Art undWeise die Innenpolitik der Bundesregierung angreifen.
Ich kann und will keine Worte der Beschreibung desTerroranschlags in Beslan finden. Ich habe einfach nurgesehen, bis heute aber nicht begriffen und realisiert,dass Menschen in der Lage sind, Kinder zu erschießenbzw. ihnen in den Kopf oder Rücken zu schießen. Mir isterneut klar geworden, dass dieser Terrorismus Hemm-schwellen überschreitet und dass wir große Schwierig-keiten haben, damit umzugehen.Es reicht mir nicht, erneut auszudrücken, wie betrof-fen und entsetzt wir sind. Zwar teile ich die Gefähr-dungsanalyse, die der Bundesinnenminister hier darge-stellt hat.
Weil ich allerdings glaube, dass dieser Ansatz falsch ist,möchte ich davor warnen, dass wir in Deutschland jetztdarüber diskutieren, wie nah oder fern dieser Terroris-mus unserem Land ist.
– Sie haben mit dieser Diskussion begonnen.Die Zivilbevölkerung jedes Landes ist von diesemTerrorismus betroffen und bedroht. Es ist unsere Auf-gabe, auf nationaler und internationaler Ebene alle An-strengungen zu unternehmen, um diesem Terror einEnde zu setzen. Mich hat – auch das möchte ich zu Be-ginn meiner Rede sagen – die kulturelle Geschlossenheitbeeindruckt, mit der in Frankreich auf die Entführungder französischen Journalisten reagiert wurde. Diese ge-sellschaftliche Geschlossenheit, dieses Zusammenspielund diese Unterstützung in der Auseinandersetzung mitdem Terrorismus wünsche ich mir auch bei uns.Es ist zu Recht gesagt worden, dass beim Einsatz derMittel Prioritäten gesetzt werden müssen. Ich möchtejetzt nicht nur über die Prioritäten innerhalb des Einzel-plans 06 reden; denn ich denke, dass sich auch interna-tional die Erkenntnis durchgesetzt hat – das geht auchaus dem 9/11-Bericht aus den USA hervor –, dass es füreine Lösung mit polizeilichen und militärischen MittelnGrenzen gibt.Deswegen ist eine meiner Forderungen an einen rot-grünen Bundeshaushalt, genau darauf zu achten, mitwelchen Mitteln der Repression und des Militärs, abereben auch mit welchen Mitteln der Außenpolitik wir die-sem Terrorismus begegnen. Für mich ist dabei ein sehrwichtiger Punkt, dass der Bundeskanzler öffentlich zuge-sagt hat, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeitund humanitäre Hilfe bis 2006 auf mindestens0,33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen.Diese Zusage müssen wir auch konkret im Haushalt wie-derfinden.
Meine Damen und Herren, wir Grüne – das kann ichhier nur anreißen – treten für ein umfassendes und nach-haltiges Sicherheitskonzept ein. Wir gehen davon aus,dass wir in Europa nur dann in einem Raum der Freiheitund Sicherheit leben können, wenn wir auch den Men-schen in den Armutsregionen eine Lebensperspektive– in einigen Teilen der Welt spricht man sogar von einerÜberlebensperspektive – geben. Ich glaube, dass ein sol-cher Gesamtansatz im Bereich der Sicherheit noch stär-ker herausgestellt werden muss.Der Herr Innenminister hat hier die Sommerdiskus-sion über die Einrichtung von Flüchtlingslagern inNordafrika angesprochen. Ich möchte nur sehr kurzdarauf eingehen, jedoch aus Sicht meiner Fraktion dazuzwei Dinge sagen: Ja, wir tragen Verantwortung dafür,dass Tausende Menschen auf der Flucht nach Europa imMittelmeer ertrinken. Ich habe keine Lösung für diesesProblem, aber wir tragen hier eine europäische Verant-wortung und können nicht wegschauen, wenn dieseMenschen vor unseren Küsten, vor unseren Grenzen er-trinken. Wir werden hier über Konzepte reden müssen.
Auch der andere Punkt ist aus Sicht meiner Fraktionganz klar und eindeutig: In Europa wird Flüchtlingen einMindestmaß an Schutz gewährt und wir sind an die Stan-dards des internationalen Völkerrechts gebunden, waswir auch sein wollen.
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Silke Stokar von NeufornUnter diesen Rahmenbedingungen sind wir offen für In-formation.Ich möchte in der Kürze der Redezeit auf ein paar an-dere Punkte des Haushaltes oder Punkte, die mit diesemHaushalt im Zusammenhang stehen, eingehen.
Wir wollen mehr Transparenz in der öffentlichen Verwal-tung. Deswegen werden wir in Kürze ein Informations-freiheitsgesetz schaffen.
– Ja, es hat sechs Jahre gedauert, dafür wird es jetzt rich-tig gut und darüber freue ich mich einfach. – Wir gehendavon aus, dass eine moderne öffentliche Verwaltung dieAktendeckel nicht zuklappt, sondern den Bürgerinnenund Bürgern den Zugang per Mausklick ermöglicht. DerZugang zur Information soll grundsätzlich offen sein;das ist ein ganz neuer Weg. Dabei sollen schutzwürdigeBelange natürlich gewahrt bleiben.
Ich glaube, dass dieser Weg in eine offene und transpa-rente Verwaltung auch ein Beitrag für mehr und transpa-rentere Demokratie in unserem Lande ist.
Wir haben in den vergangenen Jahren auch denDatenschutz modernisiert und ausgebaut. Ich freuemich sehr darüber, dass der deutsche Datenschutz wiedereine Stimme in Europa hat.
Dies ist angesichts des unübersichtlich gewordenen In-formationsaustauschs auf europäischer und internationa-ler Ebene auch von großer Bedeutung. Die Bürgerinnenund Bürger sind durchaus bereit, im Interesse von mehrSicherheit Daten bekannt zu geben. Aber die Bürgerin-nen und Bürger wollen auch wissen, was mit diesen Da-ten geschieht. Sie wollen sich auf eine vernünftige Da-tenschutzkontrolle verlassen können und sie wollenRechtssicherheit.Ich will gar nicht verhehlen, dass ich es in diesem Zu-sammenhang sehr begrüßt habe, dass das CAPPS-II-System in Amerika gescheitert ist – auch am Widerstanddortiger Bürgerrechtler und Datenschützer – und dassder geplante ausufernde Datenaustausch und Datenver-bund jetzt erst einmal nicht realisiert werden kann. ImBereich Datenschutz wollen wir das Datenschutzaudit-gesetz sowie die überfällige Reform des Bundesdaten-schutzgesetzes auf den Weg bringen.
Meine Damen und Herren, ich möchte, da wir als Par-lament diejenigen sind, die in den Ausschussberatungennoch Einfluss auf den Haushalt nehmen werden, zweiPunkte ansprechen, die mir sehr wichtig sind: Rot-Grünsteht dafür, die Zivilgesellschaft zu stärken. Ich kann esdaher nicht mittragen, dass in diesem Haushalt die An-sätze für Projekte gegen rechte Gewalt, die Ansätze imBereich „Bündnis für Demokratie und Toleranz“, dieAnsätze im Bereich der politischen Bildung und auch dieAnsätze zu Integrationsmaßnahmen, die nicht zum Zu-wanderungsgesetz gehören, in hohem Maße gekürztwerden sollen. Ich kündige hier meinen Kolleginnen undKollegen von der SPD-Fraktion Verhandlungs- und Be-ratungsgespräche an.
Angesichts der Wahlerfolge der NPD, die für mich inerster Linie immer eine politische Herausforderung ge-wesen sind, wäre es kurzsichtig, die Mittel in diesem Be-reich der zivilgesellschaftlichen Prävention zu streichen.
Wir stellten uns auch unserer Verantwortung für diedeutsche Geschichte. Dazu gehört auch die Aufarbei-tung der SED-Diktatur. Für meine Person möchte ich sa-gen: Die Stiftung zur Aufarbeitung der SPD – –
– Ich bitte um Entschuldigung. – Die Stiftung zur Aufar-beitung der SED-Diktatur findet unsere Unterstützunggenauso wie die Arbeit der Birthler-Behörde. Wir tretenauch künftig dafür ein, dass die Behörde, wie im Gesetzvorgesehen, dezentral arbeiten kann.
Das heißt konkret: Wir wollen das Außenstellenkonzeptsichern. Ich denke, ich habe die Ansätze hier sehr deut-lich gemacht. In dem einen oder anderen Punkt könnenSie mich ja durchaus unterstützen.Zur Stiftung für ehemalige politische Häftlinge willich ganz deutlich sagen: Ich weiß, dass ich mir hier mitmeinem Koalitionspartner noch nicht einig bin.
Ich habe hier mehrfach gesagt, dass der Zeitpunkt füreine Auflösung dieser Stiftung noch nicht gekommen ist.
Ich stehe dazu mit meinem Wort. Die Verhandlungenwerden ergeben, ob ich das durchhalte. Wir haben dieGültigkeit des Gesetzes bezüglich dieser Stiftung bis2007 verlängert. Ich verfolge den Ansatz, die Entschädi-gung für die Opfer des SED-Regimes in kleinen
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Silke Stokar von NeufornSchritten zu verbessern. Etwas anderes können wir nichtund habe ich auch nie zugesagt.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir muntereBeratungen im Innenausschuss. Ich denke, wir habeneine Reihe von Dingen zu diskutieren.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen: Wir,die Fraktionen, haben die Hoheit über diesen Haushalt.Ich gehe davon aus, dass der eingebrachte Haushaltsge-setzentwurf von uns gemäß unserer Prioritätensetzungweiter gestaltet wird.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Nach der aus unserer Sicht erfreulichen Zusammen-arbeit beim Zuwanderungsgesetz hat die FDP-Fraktionheute erneut Anlass, dem Bundesinnenminister Aner-kennung zu zollen, und zwar aus folgendem Grund:
In der nächsten Woche, am 17. September 2004, wirdOtto Schily im Hotel Adlon in Berlin mit einem Preisausgezeichnet, der seine besonderen Verdienste bei derPflege der transatlantischen Beziehungen würdigt. Wirfinden es wichtig und richtig, dass es in dieser Bundesre-gierung wenigstens einen Minister gibt, der die gutenBeziehungen zu den USA pflegt.
Ich erwähne dies aber auch noch aus einem anderenGrund: Die Laudatio wird der amerikanische Ministerfür Heimatschutz, Tom Ridge, halten. Herr Minister, dasgibt mir den Anlass dafür, zu erwähnen, dass wir alsBundesrepublik Deutschland natürlich unsere eigenenrechtsstaatlichen Traditionen zu bewahren haben. Dasist für uns das Kernthema der Innenpolitik im Jahre2004.
Wie gelingt es uns, angesichts der von Ihnen beschriebe-nen Bedrohung unserer Sicherheit alles zu tun, um dieSicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger zu wahren,zugleich aber trotzdem auch den freiheitlichen Gehaltdes Grundgesetzes und die klassische Rechtsstaatlichkeitzu bewahren? Das ist das Kernthema.
Über die Differenzen, die wir an manchen Stellen mitden amerikanischen Freunden haben, will ich nicht zulange reden. An dem einen Thema, dem sich mein Kol-lege Ernst Burgbacher sehr stark angenommen hat, näm-lich der Übermittlung von Fluggastdaten,
lässt sich dieser Grundkonflikt aber sehr deutlich aufzei-gen, Frau Kollegin Philipp. Es geht darum, einerseits zuakzeptieren, dass die Amerikaner bestimmte Sicherheits-bedürfnisse haben, andererseits aber auch deutlich zumachen, dass für uns bei der Übermittlung an persönli-chen Daten vieles zu weit geht.
Ich erwähne dies auch noch aus einem anderenGrund. Frau Kollegin Stokar von den Grünen hat unsschon in Verwirrung gestürzt.
Daniel Cohn-Bendit hat dies im Europawahlkampf zu ei-nem seiner Hauptthemen gemacht.
Als wir aber im Bundestag vorgeschlagen haben, dasssich die Bundesrepublik Deutschland in der Europäi-schen Union gegen die überzogene Übermittlung vonPassagierdaten wenden solle, haben die Grünen gegenunseren Antrag gestimmt. Das müssen Sie einmal erklä-ren, Frau Stokar.
Selbstverständlich haben auch wir unsere Sicherheits-interessen. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Poli-zei, Konrad Freiberg, hat in letzter Zeit zu Recht auf ei-nige Punkte hingewiesen. Es ist nicht verständlich, dasszu einer Zeit, in der alle von einer wachsenden Bedro-hung sprechen, die Polizeidichte, also das Verhältnis derPolizeibeamten zur Anzahl der Bürgerinnen und Bürger,sinkt statt steigt, und zwar auch in Bundesländern wieBayern und Nordrhein-Westfalen.
Damit sehen wir uns vonseiten eines erfahrenen Prakti-kers und Gewerkschafters in unserer Grundposition be-stätigt: Die Hauptsache bei der Gewährleistung der inne-ren Sicherheit ist ausreichend Personal, modernsteTechnik – Stichwort Digitalfunk – und natürlich genü-gende Finanzen für die Polizei und die sonstigen Sicher-heitsbehörden.Dies allein ist aber nicht das Thema. Herr Minister, esist keine Frage des Feuilletons, darüber nachzudenken,
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Dr. Max Stadlerob nicht doch manche Vorschläge der letzten Zeit mit er-schreckender Leichtigkeit von Grundrechtstraditionenabweichen, die wir in Deutschland 50 Jahre lang ge-pflegt haben.
Ich nenne einige Beispiele: Das Bundesverfassungs-gericht hat eine Entscheidung zum großen Lausch-angriff getroffen. Demnach steht die Neuregelung die-ses Instruments an. Übrigens wird es interessant sein,wie die Grünen im Bundestag abstimmen werden, aberdas sei nur am Rande bemerkt.
Von Ihrer Kollegin Brigitte Zypries von der Bundes-regierung kommt als Erstes ein Entwurf, der einen Kern-punkt dieses Themas, nämlich die Sicherung der Berufs-geheimnisse von Anwälten, Ärzten und auch vonJournalisten im Verhältnis zu ihren Informanten, in völ-lig unzureichender Weise regelt. Es gibt zu denken,wenn das die Reaktion der Bundesregierung auf eineEntscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist.Wir erleben auch in den Ländern, dass im polizeili-chen Bereich die klassische Vorgehensweise, an einekonkret begangene Straftat Verfolgungsmaßnahmen an-zuknüpfen oder bei konkret bestehenden Verdachtsmo-menten einzugreifen, immer mehr in Vergessenheit gerätund man stattdessen in die so genannten Vorfeldermitt-lungen mit der Folge hineinrutscht, dass polizeilichesEingreifen gar nicht mehr richtig abgrenzbar ist. Dazugehört für mich zum Beispiel die präventive Telefon-kontrolle, wie wir sie jetzt aus einigen Bundesländernkennen lernen. Es handelt sich dabei um eine Telefon-kontrolle, wenn jemand noch gar keine Straftat began-gen hat, sondern sie möglicherweise begehen wird. MeinKollege Jörg van Essen bemüht sich immer, das Aus-ufern der Telefonüberwachung in Deutschland mit seinenAnträgen zu beschneiden. Stattdessen erfahren wir ausden Bundesländern, dass es eine gegenteilige Tendenzgibt.Ich nenne ein nächstes Beispiel, das zeigt, dass Politik– das wissen wir alle – natürlich ein Kampf um die Be-griffe ist. Der Bundesinnenminister hat im Laufe der Zu-wanderungsdebatte die so genannte Sicherungshaft vor-geschlagen, sie aber zu Recht gegen unseren, aber auchgegen den Widerstand anderer, nicht durchsetzen kön-nen.
– Ich will Sie gerade zitieren, lieber Herr KollegeKoschyk. Nun hat der Kollege Koschyk dafür eine neueBegrifflichkeit gefunden. Herr Koschyk spricht jetztvom „polizeilichen Abwehrgewahrsam für Topgefähr-der“.
Das ist sehr geschickt formuliert, Herr Kollege Koschyk;denn jeder möchte sich gegen Topgefährder schützen.Dass die Polizei hier Abwehrmaßnahmen ergreifen soll,ist vermutlich ebenso unstreitig. Gewahrsam hört sichauch ein wenig schonender an als Sicherungshaft. Aberin beiden Fällen wird vorgeschlagen, Personen für län-gere Zeit, für ein, zwei Jahre, zu inhaftieren.
– Das ist in Ihren eigenen Vorschlägen enthalten. Es gehtdarum, Personen, denen man nichts nachweisen konnte,was zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt hätte,für längere Zeit zu inhaftieren. Auch in Zeiten der vonuns ernst genommenen Bedrohung muss man doch da-rüber nachdenken, ob das der richtige Weg ist. Wir glau-ben, dass er das nicht ist.
Meine Damen und Herren, es kommt noch schlim-mer. Mit den Beispielen, die ich Ihnen nenne, will ichversuchen, Nachdenklichkeit zu erzeugen. Es ist eigent-lich egal, ob sie von der einen oder der anderen Seitekommen.Das nächste Beispiel stammt aus einem Antrag derCDU/CSU, der hier im Bundestag gestellt worden ist.Darin insinuieren Sie, dass die Bundesrepublik Deutsch-land sich notfalls aus der Europäischen Menschen-rechtskonvention verabschieden soll. Es geht um IhrenAntrag auf der Drucksache 15/1239 mit dem Ziel, Ab-schiebungen zu erleichtern.Wir wissen alle, dass es manchmal durchaus schwerfällt, Abschiebungsschutz zu gewähren, weil Todesstrafeoder Folter drohen. Aber es gehört zu einem Rechtsstaat,sich zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu be-kennen.
Herr Stadler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koschyk?
Bitte.
Bitte, Herr Koschyk.
Nein, ich habe noch Redezeit.
Auf die Zeit achte ich. Das ist nicht Ihre Aufgabe.Keine Sorge.
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Herr Kollege Stadler, sind Sie denn bereit, zur Kennt-
nis zu nehmen, dass unser Antrag, aus dem Sie gerade
zitiert haben, das Ziel verfolgt, dass die Bundesrepublik
Deutschland sich mit anderen Unterzeichnerstaaten der
Europäischen Menschenrechtskonvention zusammen-
setzt und darüber diskutiert, wie man mit dem Phänomen
umgehen muss, dass Topgefährder, die eine Gefähr-
dung der Sicherheit nicht nur für unser Land, sondern
auch für andere Unterzeichnerstaaten der Europäischen
Menschenrechtskonvention bedeuten, zwar rechtskräf-
tig ausgewiesen, aber nicht abgeschoben werden kön-
nen? Und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
auch eine Persönlichkeit wie Professor Heilbronner in
mehreren Zeitungsinterviews und Fachaufsätzen dies als
Problem geschildert hat und dass wir es begrüßen, Herr
Kollege Stadler, dass mehrere Kollegen mit Herrn Mi-
nister Schily auf einer informellen Tagung in Bayern, zu
der Herr Minister Schily mehrere Innenministerkollegen
aus der Europäischen Union eingeladen hat, eine Ar-
beitsgruppe eingerichtet haben, in der darüber beraten
wird, wie man mit diesem Problem umgeht? Und sind
Sie denn nicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass dies
eine Herausforderung ist und dass wir nicht die Europäi-
sche Menschenrechtskonvention in ihrem Kerninhalt in-
frage gestellt wissen wollen, dass aber das Problem, wie
wir mit dieser Frage umgehen, gelöst werden muss?
Lieber Herr Kollege Koschyk, würde ich jetzt mit Ja
antworten, wäre es problematisch, denn Sie haben ein-
mal gefragt, ob ich bereit wäre, und einmal, ob ich nicht
bereit wäre,
sodass ich etwas länger ausholen muss. Dass dieses Pro-
blem, das Sie sehr treffend beschrieben haben, besteht,
steht außer Zweifel. Gerade deswegen haben wir in den
interfraktionellen Verhandlungen zum Zuwanderungsge-
setz nach einer Lösung für das Problem gesucht – Sie
sagten es –, dass jemand rechtskräftig ausgewiesen ist,
wir ihn aber nach unseren rechtsstaatlichen und humani-
tären Maßstäben nicht abschieben können, weil ihm
dann Folter oder Todesstrafe drohen.
Zunächst muss man klar sagen, ob es bei diesem
Grundprinzip bleiben soll.
Wir als FDP sagen ja und ich begrüße es sehr, wenn Sie
hier klarstellen, dass dies auch Ihre Meinung ist. Ihren
Antrag lese ich allerdings anders.
– Ich zitiere ihn. Ich bin jetzt dabei, Ihnen zu antworten
und Sie müssen die Antwort bitte mir überlassen. Ich
komme Ihrem Wunsch sowieso nach und zitiere aus Ih-
rem Antrag.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, die Abschiebungsvo-
raussetzungen müssten den aktuellen Herausforderun-
gen angepasst werden. Abschiebungsvoraussetzung ist
bisher, dass im Heimatland weder Todesstrafe noch Fol-
ter drohen. Was soll denn da wie angepasst werden? Da
gibt es jetzt wirklich nur ein Ja oder Nein. Entweder
bleibt es bei dieser Voraussetzung oder nicht.
Herr Kollege Koschyk, Sie haben eine sehr ausführli-
che Frage gestellt, die in viele Unterfragen unterteilt war.
Jetzt müssen Sie dem Kollegen Stadler die Möglichkeit
geben, in Ruhe zu antworten, und dürfen ihn nicht unter-
brechen.
Es ist eine komplizierte Frage. In den Kompromiss-verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz haben wir ver-sucht, eine Lösung zu finden, nämlich dass solche Perso-nen Meldeauflagen bekommen, Residenzpflichtenüberwacht werden und – das hat es meines Wissens imdeutschen Polizeirecht noch nie gegeben – dass ihnendie Benutzung von Kommunikationsmitteln verbotenwerden darf. Mit anderen Worten: Es gibt ein ganz dich-tes Kontrollnetz. Jetzt sollten wir erst einmal das, was indiesem Kompromiss vereinbart worden ist, in der Praxisprobieren.Ich habe nur meine Sorge zum Ausdruck gebracht,die sich aus folgendem Satz Ihres Antrags speist:Die Bundesregierung muss darum prüfen, wie …die Schutzpflichten, die sich aus … der Europäi-schen Menschenrechtskonvention erge-ben, in Übereinstimmung mit den Sicherheitserfor-dernissen Deutschlands gebracht werden können.Diese Prüfung ist richtig, aber ich habe die große Sorge– das ergibt sich aus dem Gesamtduktus Ihres Antrags –,dass Sie der Meinung sind, wir könnten uns von Grund-sätzen verabschieden, die wir bisher gemeinsam getra-gen haben.
Wenn Sie das heute damit korrigiert haben, ist es mirumso rechter.
Ich komme zum Schluss. Ich möchte für die FDP-Fraktion feststellen, dass die FDP die Frage, die ich ein-gangs gestellt habe, nämlich ob es möglich ist, in Zeiteneiner terroristischen Bedrohung den Freiheitsgehalt desGrundgesetzes aufrechtzuerhalten, die Rechtsstaatlich-keit zu bewahren und trotzdem zugleich die Sicherheitoptimal zu gewährleisten, eindeutig mit Ja beantwortet.
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Dr. Max Stadler
Es ist nicht nur möglich, sondern es ist sogar unserePflicht, die wir als Gesetzgeber erfüllen müssen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hartmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Innenpoli-tik! Nach diesem ernsten und bedeutenden Schlagab-tausch zwischen Union und FDP erlauben Sie mir bitte,zu Beginn zu sagen, dass ich mich ausdrücklich freue,Sie alle so frisch und erholt wiederzusehen. Ich freuemich darauf, dass jetzt die zweite Halbzeit dieser Legis-laturperiode in der Innenpolitik angepfiffen wird und bingespannt, wie das Spiel laufen wird.
Da haben Sie es nicht ganz einfach. Das war eben deut-lich zu spüren und zu hören. Unsere Mannschaft ist gutaufgestellt. Ich sage noch einmal ausdrücklich: Ich freuemich auf die Diskussion in den kommenden zwei Jahren,
denn in Wirklichkeit gehen wir zumindest im Ausschuss,wenn weniger Fernsehen und andere Öffentlichkeit an-wesend sind, sehr manierlich miteinander um.
Sie haben es nicht leicht, habe ich gesagt. Ich wieder-hole das gerne, geschätzte Frau Kollegin Philipp. Ichhabe Ihnen sehr gerne und aufmerksam zugehört. Es warschon zu spüren, dass Sie vor der Frage stehen, was maneigentlich macht, wenn man eine Politik, die richtig undin Ordnung ist, vorgelebt bekommt und diese medial er-fährt, trotzdem aber noch Opposition sein will. In dieserSituation befinden wir uns.
Wir haben einen Innenminister, der eines der schwierigs-ten Politikfelder in Deutschland und weltweit mit Erfolgbearbeitet und hohe Anerkennung in der Bevölkerunggenießt. Das macht es für Sie schwer und ist für uns gut.Dafür sind wir dankbar.
Sie müssen schon auf solche Nebenkriegsschauplätzeund Dauerkriegsschauplätze wie den Digitalfunk aus-weichen, um überhaupt noch einen Anknüpfungspunktzu finden. Ein Blick ins Grundgesetz – wir haben aucheine Föderalismuskommission, die kompetent über allediese Fragen diskutiert – genügt jedoch, um klar zu ma-chen: Der Bund ist bereit, seine Verpflichtung zu erfül-len. Jetzt sind die Länder dran. Das sind überwiegendunionsregierte Länder. Gehen Sie also hinaus und über-zeugen Sie Ihre Leute davon, dass der Digitalfunk finan-ziert wird.
Wir stehen nicht nur unter dem Eindruck der schreck-lichen Kindermorde, die der Bundesinnenminister amSchluss seiner Rede erwähnt hat. Wir schreiben heuteden 7. September. Sehr nahe an dem heutigen Datum,am 11. September vor drei Jahren, mussten wir erleben,wie durch die Anschläge auf das World Trade Centeralbtraumhafte Vorstellungen Realität wurden. Wir wur-den aus unserer vermeintlichen Sicherheit wachgerüttelt.Seit dieser Zeit wissen wir sehr genau, dass auch beiminternationalen und islamistischen Terrorismus auf bru-tale Weise die Globalisierung Einzug gehalten hat.Wir stehen vor einer epochalen Herausforderung, diesowohl bei der internationalen Zusammenarbeit als auchbei der Sicherheitsstruktur in Deutschland eine neueAusrichtung verlangt. Sie verlangt Wehrhaftigkeit unterDemokraten. Wir müssen die wehrhafte Demokratieengagiert und klar nach außen präsentieren und wir müs-sen auch nach innen neue Überlegungen anstellen, wasdie Behörden und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter angeht. Ziel muss es sein, Anschläge zu verhindern.Ich glaube, an dieser Stelle trennt uns nichts, meine Da-men und Herren von der Opposition. Ziel muss es auchsein, frühzeitig aufzuklären.Deutschland ist – das hat der Innenminister mit Rechtfestgestellt – ein sicheres Land, wiewohl nach wie voreine abstrakte Gefährdung besteht. Die Anschläge inMadrid haben gezeigt, dass wir innerhalb Europasebenfalls der Gefahr ausgesetzt sind.
– Geschätzte Frau Kollegin Philipp, ich bin beim Haus-halt, wenn ich über die Gefährdungen durch den Terro-rismus rede. Wo denn sonst?
Wir haben in diesem Haushalt die Ausgaben in die-sem Jahr um 51 Millionen Euro erhöht. Die innere Si-cherheit stellt einen Schwerpunkt dar. Der Haushalt um-fasst rund 4 Milliarden Euro, von denen 70 Prozent fürdie innere Sicherheit eingestellt sind. Der überwiegendeTeil davon ist für Personalausgaben vorgesehen; dennfür die innere Sicherheit werden Profis benötigt, ob beim
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Michael Hartmann
BGS, bei den Polizeien der Länder, dem THW, demBundesamt für Verfassungsschutz, dem BKA oder ande-ren Dienststellen. Es ist richtig, dass wir, während ein-zelne Länder deutliche Kürzungen beim Personal derPolizei vornehmen, die Personalausgaben für den Bun-desgrenzschutz erhöhen. Dort ist im Haushalt, den wirderzeit beraten, eine Erhöhung des Personalbestands auf31 600 vorgesehen. Das bedeutet 44 Millionen Euromehr, die zum Teil für Neueinstellungen, aber auch fürBeförderungen vorgesehen sind. Eine solche Sicher-heitspolitik ist zukunftsweisend, weil sie in die Men-schen investiert, die für uns den Buckel hinhalten, meineDamen und Herren.
Auch das Bundeskriminalamt wird in seiner Funk-tion als Zentralstelle eine Verstärkung erfahren undebenfalls mehr Geld für Personal erhalten. Indes zeigtein Blick in den Haushalt des Innenministers, dass imMinisterium selbst in den letzten Jahren Einsparungenbeim Personal vorgenommen wurden. Es wird quasibeim Häuptling gespart, während die Indianer an derFront mit mehr Geld für mehr Personal und Beförderun-gen ausgestattet werden.
Wenn wir den genialen Vorschlägen von Ministerprä-sident Stoiber folgen würden – Sie haben nach mir dasWort, Frau Mantel, und werden vielleicht den Knotenauflösen –,
dann würde jetzt eine 5-prozentige Kürzung greifen.Das würde bedeuten, dass wir auch im InnenhaushaltKürzungen vornehmen müssten. An welchen Stellenwäre das denn möglich? Beim Personal oder bei dertechnischen Ausstattung der Polizei? Oder sollen wir eswie das rühmliche Bundesland Hessen machen und beider Polizei insgesamt 1 000 Stellen einsparen? Das istnicht unser Weg. Ich bin gespannt, wie Sie das, was Ih-nen Ihr Ministerpräsident gerade zu dieser Debatte ein-gebrockt hat, auflösen werden.Lassen Sie mich noch eine weitere Anmerkung ma-chen, die nicht unbedingt mit dem Haushalt in Verbin-dung steht. Ich habe bereits die Föderalismuskommis-sion erwähnt und möchte noch einmal darauf zusprechen kommen. Ich glaube, dass sich die Reformfä-higkeit Deutschlands im Wesentlichen auch dadurch be-weisen wird, dass wir hinsichtlich der Aufteilung derKompetenzen zwischen Bund und Ländern eine Neu-regelung hinbekommen.
Es geht nicht nur um die großen sozialen Sicherungssys-teme, die wir neu organisieren müssen, sondern auch umdiesen Bereich. Es geht um wichtige Fragestellungen,auch was die innere Sicherheit anbelangt. Deshalb hoffeich, dass wir mit dem Engagement der Bundesjustizmi-nisterin, des Bundesinnenministers und der Kolleginnenund Kollegen aus unserer Fraktion erreichen werden,dass nicht jeder über die Reform des Föderalismus redet,aber dann, wenn es darum geht, tatsächlich etwas zu än-dern, sozusagen seinen Wurstzipfel bis aufs Messer ver-teidigt.Damit meine ich ganz konkret, dass wir das BKAauch gesetzlich stärken müssen; denn es braucht unbe-dingt eine Ermittlungsbefugnis im Vorfeld.
Da die Gefahrenabwehr derzeit Ländersache ist, kannbeispielsweise das BKA gegen einen ermittelten Gefähr-der nicht weiter vorgehen und muss die Länder bitten,die weitere Verfolgung der Spuren zu übernehmen. Dortsind die Ressourcen ebenfalls begrenzt und ist der Willenicht immer so stark ausgeprägt. Der Aufwand der Ab-stimmung ist außerdem sehr hoch. Deshalb ist da unddort schon auf eine dringend gebotene Observation ver-zichtet worden. Das ist ein Beispiel – ich könnte nochandere nennen –, das deutlich macht, dass es großen Re-formbedarf gibt. Wir müssen, wie gesagt, das BKA stär-ken. Unsere Fraktion ist dazu bereit.
Wenn wir in den nächsten Wochen über den Einzel-plan 06 diskutieren, sollte dies trotz aller notwendigenKontroversen so verlaufen, dass wir unserer Gesamtver-antwortung gerecht werden. Ich bin mir sicher, dass derWille dazu auf Ihrer Seite genauso ausgeprägt ist wie aufunserer Seite; denn letztendlich geht es bei der Siche-rung der inneren Sicherheit auch um die Stiftung und dieGewährung des innergesellschaftlichen Friedens. Sosehrwir uns über einzelne Punkte streiten mögen, so sehrsollten wir gemeinsam dafür sorgen, innergesellschaftli-chen Frieden zu stiften und zu bewahren.Danke sehr.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Mantel von
der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Minister, Sie haben wieHerr Hartmann wieder einmal Bayern angesprochen.Das freut mich natürlich besonders. Abgesehen von derNeiddebatte, die ständig von all denjenigen geführt wird,die nicht in Bayern leben, geben Sie, Herr Minister, mirsicherlich Recht, wenn ich sage, dass wir beide – ichschließe Sie einfach mit ein – im sichersten BundeslandDeutschlands wohnen. Das ist natürlich ein großes Ver-dienst von Günther Beckstein, den Sie an dieser Stelleschon gelobt haben.
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Dorothee MantelDie Haushaltsdebatte dient auch immer der Bestands-aufnahme, wie es um ein Ressort bestellt ist. In der Ge-samtwürdigung ergibt sich leider das Fazit, dass die in-nere Sicherheit für Rot-Grün keine Priorität hat. In allendenkbaren Bereichen wird verhindert und blockiert. DieIdeologen in den rot-grünen Reihen
– der erste hat schon wieder laut geschrien, Herr Edathy –
– danke, Herr Wiefelspütz; ich werde meine Aussage andieser Stelle noch belegen – nehmen dabei auch die Be-schädigung des Bundesinnenministers in Kauf. DiesesBild zeigt leider auch der Haushalt.Lob für den Etat ist fehl am Platz; denn nicht nur dieHöhe des Etats ist entscheidend, sondern auch, wie derEtat eingesetzt wird.
Dabei ist festzuhalten, dass die Etatmittel in Ausgabenfür Umzüge und Standortverlegungen mit allen Folge-kosten sicherlich nicht gut angelegt sind. Konkrete Zah-len beispielsweise über die Kosten des Umzugs desBND wurden zwar trotz mehrmaliger Aufforderung un-sererseits nie genannt. Aber die geschätzten Kosten fürNeubau und Umzug liegen bei circa 1 Milliarde Euro.
Der Umzug des BND und auch die vom Bundesinnen-minister noch vor einiger Zeit geplante Verlagerung desBKA zeigen eines ganz deutlich: Es soll eine Zentrali-sierung um jeden Preis geben. Das ist durchaus wörtlichzu nehmen. 1 Milliarde Euro allein für den BND-Um-zug! Dieser Betrag verteilt sich zwar über mehrere Jahre.Aber in der absoluten Höhe ist dies ein Viertel des ge-samten Haushalts des Bundesinnenministeriums. Fairer-weise muss man zugeben, dass es bei dieser Debattenicht nur Verlierer gab, Herr Minister. Zumindest dieMöbelpacker in Deutschland waren für Ihre Vorschlägesehr dankbar.
– Ihre Zwischenrufe sind das Allerniveauloseste. Des-wegen machen wir jetzt ernsthaft weiter.
– So kennen wir unsere Kollegen von der SPD.Der Drang der Bundesregierung zur Zentralisierungwird auch in kleinen Dingen sichtbar und kostet eben-falls Geld, das dann nicht mehr für wichtigere Aufgabenzur Verfügung steht. Ein Beispiel ist die eigene Eröff-nungsfeier für die Fußball-WM 2006 in Berlin, obwohldas Eröffnungsspiel bekanntlich in München stattfindenwird. Aber auf diesen Skandal wird mein KollegeNorbert Barthle später noch näher eingehen.Im Großen und im Kleinen fließt viel Geld für unnö-tige Zentralisierung und an anderer Stelle fehlt dann demBund das Geld, auch bei der Vorbereitung der Fußball-WM 2006.
Auch wenn es schon mehrmals angesprochen wurde,möchte ich noch einmal betonen, dass es bei der WM2006 in Deutschland kein flächendeckendes Digitalfunk-system geben wird. Diese Erkenntnis hat sich mittler-weile auch bei der Bundesregierung durchgesetzt. Wirvon der Opposition teilen die Einschätzung des Bundes-innenministers, dass es sich beim Digitalfunk um eine,so Herr Minister wörtlich, „sicherheitspolitische Not-wendigkeit“ handelt. Doch wenn es eine Notwendigkeitist, dann muss man dafür auch die notwendigen Mittelbereitstellen.
Nicht zu begrüßen ist die Tatsache, dass die Optionenfür die Sicherheit bei der Fußball-WM 2006 schon jetzteingeengt werden. Den Einsatz von NATO-Überwa-chungsflugzeugen hält der Bundesinnenminister für rela-tiv ausgeschlossen. Da die Bedrohungsszenarien heuteaber nicht bekannt sind, müssen wir uns alle Optionenoffen halten. Das betrifft auch den Einsatz der Bundes-wehr bei der WM 2006, beispielsweise zum Objekt-schutz.
Frau Kollegin Mantel, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Abgeordneten Schily?
Ich mag ihn persönlich zwar wahnsinnig gern; aberich würde meine Rede gern am Stück halten.
Herr Minister Schily, ich biete Ihnen aber gerne einVieraugengespräch an.
Ich will jetzt nicht nur über die falsche Prioritätenset-zung im Haushalt sprechen, weil viele Fehler und Ver-säumnisse der Bundesregierung mit der Finanzierungnichts zu tun haben.Der Wille, die innere Sicherheit zu verbessern, wirdvielfach nicht vom mangelnden Etat gebremst, sondern,wie bereits erwähnt, Herr Edathy, von den Ideologen in
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Dorothee Mantelder eigenen Koalition. In der SPD-Fraktion ist es nichtzum Besten bestellt, was die Sicherheitspolitik betrifft.
– Herr Edathy, Ihnen würde ich so etwas nie anbieten.
Ich muss es ganz einfach einmal sagen: Da spricht derreine Neid aus Ihnen.Ein Beispiel ist die Sicherungshaft für Terrorver-dächtige. Bundesinnenminister Schily schlug sie imRahmen der Gesetze zum Zuwanderungsgesetz vor.
– Wir sind jetzt bei einem ernsten Thema, meine Herren.Wenn Sie es noch nicht gemerkt haben, dann möchte ichSie darauf hinweisen. – Die Sicherungshaft sollte letztesMittel sein, wenn eine Abschiebung bei terrorverdächti-gen Personen nicht möglich ist. Die Union hat diesenVorschlag unterstützt, Herr Minister. Doch Schily schei-terte, wie so oft, an Rot-Grün. Die Aussage von FranzMüntefering dazu hört sich schon eher nach einer Dro-hung als nach einer Unterstützung der Fraktion an. Erhat nämlich wörtlich gesagt:Ich verlasse mich ganz auf Otto Schily. Er ist einMann, der die nötige Sensibilität hat.
Ein weiteres Beispiel: die Verschärfung des Versamm-lungsrechts. Im Juni 2004 wurde bekannt, dass es imBundesinnenministerium einen Gesetzentwurf gibt. Ver-boten werden sollten solche Demonstrationen, die anMahngedenkstätten stattfinden und im inhaltlichen Wi-derspruch zu den Gedenkstätten stehen. Verboten wer-den sollten auch die Verherrlichung und die Verharmlo-sung von Terrorakten und terroristischen Organisationenals Inhalt von Demonstrationen. Die Union hätte dieseRegelungen unterstützt;
doch es war wiederum so, dass die rot-grüne Koalitionnicht mitgespielt hat.
Frau Kollegin Mantel, Herr Kollege Hartmann
möchte ebenfalls eine Zwischenfrage stellen. Es könnte
sein, dass auch er einen Vieraugentermin haben möchte.
Herr Kollege Hartmann, gleiches Recht für alle beider Nichtzulassung von Zwischenfragen, aber nicht dasRecht auf ein weiteres Gespräch mit mir. Da es nicht soausschaut, als ob Sie irgendwann einmal in den nächstenJahren Bundesinnenminister werden, wird Ihnen ein sol-ches Gespräch auch nicht zuteil werden.
– Jetzt seien Sie einmal wieder ruhig!Wenn ich den Kollegen Wiefelspütz zitiere, wird esoffensichtlich:Ich weiß nicht, woher der Innenminister seineMehrheit im Bundestag nehmen will. Von der SPDbekommt er die nicht.Das hat der Kollege Wiefelspütz am 23. Juni 2004 ge-genüber der „taz“ gesagt. Der Kollege Volker Beck hatdas Ganze in derselben Ausgabe als „ziemlich abwegig“bezeichnet. Da zeigt sich wieder, dass die innere Sicher-heit für Rot-Grün anscheinend nicht wichtig ist.
Ein weiteres sehr wichtiges Beispiel: der Schleu-serskandal und die Ausstellung von Visa. Obwohl dasBundeskriminalamt Bedenken gegen einzelne Antrag-steller erhoben hat, wurden die Visa erteilt. Der Zusam-menhang zwischen Zuwanderung und innerer Sicherheitwurde von Rot-Grün schon seit jeher mit Hartnäckigkeitnegiert.
Das ist eine gefährliche Fehleinschätzung; denn geradebei der Erteilung von Visa besteht die Gefahr, sich Ge-fahrenpotenziale ins Land zu holen. Diese laxe Handha-bung der Erteilung von Visa zeigt: Hier besteht noch im-mer dringender Handlungsbedarf.Der Bundesinnenminister muss dem AuswärtigenAmt deutlicher entgegentreten, um den Erfordernissender inneren Sicherheit und auch seinem Amt gerecht zuwerden.
Herr Minister, eine scharfe Rüge mag zwar aufrütteln,aber für die Sicherheit ist damit noch nichts gewonnen.Vor allem ist der Bundesaußenminister in dieser Angele-genheit selbst gefragt und nicht bloß eine Antwort aufStaatssekretärsebene.Nur ein Beispiel, das im Juli hohe Wellen geschlagenhat: Ein Algerier, der im Schengener Informationssys-tem und auch in den öffentlich zugänglichen EU-Listenmit einem Hinweis auf Terrorverdacht erfasst ist, erhieltein Visum. Der Fall dieses mutmaßlichen Islamisten istnur die Krönung einer Reihe von Fehlern im Auswärti-gen Amt. Der Volmer-Erlass gilt trotz aller Fortschrei-bungen weiterhin. Es gilt noch immer: „im Zweifel fürdie Reisefreiheit“, obwohl offenkundig ist, dassDeutschland damit die Einreise für terroristische Gefah-renpotenziale erleichtert.Der Bundesinnenminister darf es nicht dulden, wenndas Außenministerium vorsätzlich gegen die geltendeRechtslage und gegen alle Gefährdungshinweise han-delt. Gerade heute hat die „Welt“ wieder darüber berich-tet, dass es eine explosionsartige Zunahme der Zahl von
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004 11053
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Dorothee MantelStrafanzeigen wegen der Erschleichung von Visa gabund gegen fünf Bedienstete des Auswärtigen Amts Er-mittlungsverfahren anhängig sind.
Der Bundeskanzler muss in dieser immer noch unge-lösten Frage eingreifen und diesen Skandal beenden. Tuter das nicht, zeigt er, dass auch für ihn die innere Sicher-heit keine Priorität besitzt.
Um eines möchten wir den Kanzler bitten. Er soll dasnicht zur Chefsache machen, weil das eine Garantie da-für wäre, dass es nicht funktioniert.
Es ist also kein Wunder, dass bei der inneren Sicher-heit in der Koalition niemand auf den Bundesinnen-minister hört. Wie wir wissen, gibt es fast keine Diskus-sion, in der sich nicht ein anderes Kabinettsmitglied oderein Mitglied der Koalition für kompetenter hält als derzuständige Minister. Das mussten wir den ganzen Som-mer ja auch in der Wirtschafts- und Steuerpolitik mit-erleben.Folgendes Fazit lässt sich ziehen: Egal ob der Bun-desinnenminister bei seinen Forderungen Unterstützungvon der Union erhält oder nicht – die Unterstützung inden eigenen Reihen fehlt. Genau das ist das Kern-problem der Innenpolitik in Deutschland.Eines muss man deutlich sagen: Herr Schily macht invielen Bereichen gute Ankündigungen, in manchen Be-reichen sehr gute Ankündigungen, doch allein davonverbessert sich die innere Sicherheit noch nicht. Manmuss diese Ankündigungen auch durchsetzen. Aber dieForderungen von ihm verhallen leider bereits an derPforte des eigenen Ministeriums. Sie verhallen in IhremGeschrei, meine Damen und Herren von der Regierungs-koalition; Ihnen ist sicherheitspolitisches Denken völligfremd.Das Zuwanderungsgesetz ist allein dem Verhand-lungswillen von CDU und CSU zu verdanken.
Seit den Anti-Terror-Paketen im Jahr 2001 hat derBundesinnenminister keine nennenswerten sicherheits-relevanten Vorschläge mehr durchsetzen können. Überein drittes Anti-Terror-Paket redet in der Regierungskoa-lition niemand mehr. Auch wenn es jetzt für Sie traurigist, meine Damen und Herren von Rot-Grün: Herr Schilymag noch so viele gute Ideen haben, bei denen wir ihnunterstützen würden – Sie tun es leider nicht. Der Volks-mund sagt: Außer Spesen nix gewesen. Wir sagen hin-sichtlich vieler Bereiche: Außer Ankündigungen nix ge-wesen. Das tut uns weh.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Sebastian Edathy von der
SPD-Fraktion.
Immer, immer!Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich hoffe, dass möglichst viele Menschen dieRede von Frau Mantel gehört haben. Ein besseres Argu-ment dafür, dass Fragen der inneren Sicherheit und derInnenpolitik allgemein bei der Koalition in besserenHänden sind als bei der größten Oppositionsfraktion,hätten wir selber gar nicht präsentieren können. Dankeschön dafür!
Es ist das zutage getreten, was man schon erwartenkonnte, als der Bundesinnenminister zu Beginn dieserDebatte sagte, es sei verwunderlich, dass einerseits derheimliche Führer der Opposition von CDU und CSU,Herr Stoiber, pauschale Kürzungen von 5 Prozent einfor-dert und Sie wohl andererseits bei Ihren Ausführungenzum Einzelplan 06 – das haben Sie ja gemacht – eher hö-here Ausgaben fordern würden gegenüber denen, die wirangesetzt haben.
Wir hätten in diesem Einzelplan 200 Millionen Euro we-niger zur Verfügung, wenn wir der Forderung des baye-rischen Ministerpräsidenten nach einer pauschalen Kür-zung um 5 Prozent nachkommen würden.
Meine Damen und Herren, der Herr Innenminister istauch Sportminister: Wenn widersprüchliches Verhalten,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, olympi-sche Disziplin in Athen gewesen wäre, hätten Sie einezusätzliche Goldmedaille für Deutschland errungen.
Der Haushaltsentwurf spiegelt die Wahrnehmung po-litischer Verantwortung wider. Das gilt mit Blick auf dieinnere Sicherheit – der Kollege Hartmann hat das ausge-führt – ebenso wie mit Blick auf gesellschafts- und inte-grationspolitische Fragen.
Mit der deutlichen Aufstockung der Mittel für dasBundesamt für Migration und Flüchtlinge unterstrei-chen wir beispielsweise, dass wir die Aufgaben der
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11054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Sebastian EdathyGestaltung von Zuwanderung und der Heranführung vonMigrantinnen und Migranten an unsere Gesellschafts-ordnung sehr ernst nehmen. Lange Zeit war eher die ge-ballte Faust als die ausgestreckte Hand das Sinnbilddeutscher Migrationspolitik. Dieser Haushalt unter-streicht schwarz auf weiß mit mehr Mitteln für Integra-tionsmaßnahmen, dass wir diese konservative Traditionaufgegeben haben und konstruktive rot-grüne Politik imInteresse dieses Landes machen.
Ein weiterer Meilenstein in Bezug auf die Integrationvon Minderheiten in Deutschland wird die Verabschie-dung des zur Beratung anstehenden Antidiskriminie-rungsgesetzes sein. Das liegt zwar federführend nichtim Verantwortungsbereich des Bundesinnenministers.Ich denke aber, dass wir uns als Innenpolitiker im Deut-schen Bundestag daran intensiv und konstruktiv beteili-gen sollten. Wir wollen, dass Schluss damit gemachtwird, dass Menschen wegen ihrer Hautfarbe der Weg indie Diskothek verbaut wird. Wir wollen, dass Schlussdamit gemacht wird, dass Menschen wegen eines aus-ländischen Nachnamens der Abschluss eines Versiche-rungsvertrages erschwert wird. Auch das wird wie dasZuwanderungsgesetz ein Baustein für ein weltoffenesund tolerantes Deutschland sein, das vom Respekt vordem einzelnen Bürger und der einzelnen Bürgerin ge-prägt ist.
Dass sich diese Koalition der Verantwortung für dieVerteidigung unserer pluralistischen Gesellschaftsord-nung stellt, in der Vielfalt nicht als Problem oder Risiko,sondern als Bereicherung und Chance angesehen wird,ist dem Haushaltsentwurf zu entnehmen. Das geht, umein Beispiel zu nennen, aus den Mitteln hervor, die imRahmen des vor einem Jahr ratifizierten Staatsvertragesdem Zentralrat der Juden für die Unterstützung der Ent-wicklung der jüdischen Gemeinden zur Verfügung ge-stellt werden. Ich glaube, dass wir hier sicherlich einver-nehmlich feststellen und uns darüber freuen können
– Herr Koschyk, dazu wollte ich gerade etwas sagen –,dass eine Einigung zwischen dem Zentralrat der Judenund den nicht dem Zentralrat angehörenden jüdischenGemeinden in Deutschland erzielt wurde.
Verantwortliches Handeln in dem Sinne, wie ich esaufgezeigt habe, wird auch deutlich bei der Fortsetzungder Finanzierung des Bündnisses für Demokratie undToleranz. Aus Mitteln des Bundeshaushaltes, nicht nuraus denen des Bundesinnenministeriums, wurden in denJahren 2001 bis 2004 über 80 Millionen Euro für diePrävention bzw. Bekämpfung von Rechtsextremismuszur Verfügung gestellt. Lassen Sie mich deutlich sagen:Wir dürfen hierbei nicht nachlassen. Im Gegenteil, wirbrauchen eine Verstetigung unseres Engagements; dennes geht bei dieser Frage um nichts weniger als um diedemokratische Kultur in Deutschland, es geht um nichtsweniger als um den Kern der Demokratie in Deutsch-land.
Auch deshalb ist es falsch und unverantwortlich,wenn im Nachgang zu den Wahlen im Saarland die Vor-sitzende der CDU/CSU-Fraktion die deutsche Sozial-demokratie mitverantwortlich macht für das erschre-ckend starke Abschneiden der NPD im Saarland.
Ich weise das für meine Fraktion nicht zuletzt angesichtsder Geschichte meiner Partei, aber auch, weil diese Be-hauptung völlig abwegig ist, auf das Schärfste zurück.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, stattsolchen Unsinn in die Welt zu setzen, hoffe ich, dass Siein diesem Jahr bei den Haushaltsberatungen auf etwasverzichten, was Sie in den letzten beiden Jahren leidergemacht haben, nämlich zu beantragen, die Mittel für dieRechtsextremismusbekämpfung zu streichen.
In Anlehnung an das, was Frau Kollegin Mantel hiergesagt hat: Frau Kollegin Mantel, ich bin sehr dafür,dass wir ohne Emotionen in aller Sachlichkeit darüberdiskutieren, ob das Demonstrationsrecht in Deutschlandausreichend ausgestaltet ist. Aber mindestens so wichtig,wie diese Debatte zu führen, ist doch, im Bereich derVorbeugung solcher Entwicklungen tätig zu werden unddiese nicht sträflich zu vernachlässigen. Dafür stehtdiese Koalition auch mit ihrem Haushaltsentwurf.
Herr Kollege Edathy, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Fricke?
Bitte.
Herr Kollege Edathy, ich höre Ihre Worte wohl, wasdie Frage angeht, einem wichtigen Problem, das in die-sem Staate nicht wieder auftreten darf, vorzubeugen undden Rechtsradikalismus an der Wurzel zu packen. Wiebeurteilen Sie aber vor diesem Hintergrund die Tatsache,dass die entsprechenden Titel in den verschiedenstenEinzelplänen des Bundeshaushaltes von Ihrer Regierungund mit Unterstützung der Koalition seit Jahren zurück-geführt werden?
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004 11055
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Die Mittel für die Bekämpfung des Rechtsextremis-
mus, die wir im Bundeshaushalt haben, sind im Wesent-
lichen im Einzelplan der Ministerin für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend verankert. Wenn Sie sich die
Entwicklung in den letzten Jahren dort anschauen, wer-
den Sie feststellen, dass wir, 2001 auf einem hohen Ni-
veau beginnend, eine stetige Förderung betrieben haben.
Ich gebe Ihnen aber Recht – das betrifft mit Blick auf
den Einzelplan 06 auch den Etatansatz für den Bereich
der politischen Bildung –, dass wir die Zeit, die wir als
Parlament und als diejenigen haben, die über diesen
Haushalt in der Endfassung zu beschließen haben wer-
den, dazu nutzen sollten, uns sehr genau mit der Frage
zu beschäftigen, ob wir es uns in der heutigen Zeit leis-
ten können, weniger politische Bildung zu betreiben. Ich
glaube, wir brauchen eher mehr politische Bildung, Herr
Kollege.
Ich hoffe, dass wir da konstruktiv zusammenarbeiten
können.
Ich darf in dem Zusammenhang, weil ich, wie auch
andere Kollegen, aus Niedersachsen komme, darauf hin-
weisen, dass die dortige CDU-geführte Landesregierung,
nämlich die Regierung Wulff, als erste Landesregierung
in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland über-
haupt auf den Gedanken gekommen ist, eine Landes-
zentrale für politische Bildung zu schließen; das soll
zum Jahresende geschehen.
Ich glaube, bei allen unterschiedlichen Positionen, die es
zwischen den Fraktionen und den Parteien gibt,
sollten wir gemeinsam gemäß der Überzeugung handeln,
dass wir in diesem Bereich in unserem Engagement
nicht nachlassen dürfen, Herr Kollege Grindel.
Herr Kollege Edathy, erlauben Sie auch eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Grindel?
Bitte.
Herr Kollege Edathy, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, dass die jetzige niedersächsische Landesregie-
rung bis ins Jahr 2007 gezwungen sein wird, nicht ver-
fassungsgemäße Haushalte vorzulegen, weil sie bei
Amtsantritt einen Haushalt übernommen hat, der so voll
von Schulden war, dass es kaum noch Spielraum für
Sparmaßnahmen gibt, und würden Sie mir die Frage be-
antworten, ob Sie der Auffassung sind, lieber die Mittel
für Frauenhäuser, Aidsaufklärung oder andere Dinge zu
streichen, als diese zugegebenermaßen schwierige Ent-
scheidung zu treffen, zu der es aber keine Alternative
gibt?
Herr Kollege Grindel, ich glaube, dass es immer poli-tische Alternativen gibt, wenn man sie denn wollte.
Wir sind ja hier nicht im niedersächsischen Landtag. Ichwollte nur an einem Beispiel deutlich machen, dass wirgemeinsam darauf achten sollten, keiner EntwicklungVorschub zu leisten, die in die falsche Richtung geht.Wir sprechen hier auch nicht über den Landeshaushaltvon Niedersachsen; aber ich finde es, um ein Beispiel zunennen – wenn Sie schon auf Niedersachsen Bezugnehmen –, sehr bezeichnend, dass im letzten Jahr derRegierung Gabriel 700 000 Euro für 180 Projekte undInitiativen gegen Rechtsextremismus in Niedersachsenzur Verfügung standen – –
– Darf ich im Zusammenhang ausführen, Herr Kollege,und können Sie vielleicht stehen bleiben, denn sonstgeht das von meiner Redezeit ab, obwohl ich gerade IhreFrage beantworte. – Dann halten Sie bitte noch einenMoment die Uhr an, Herr Präsident, damit ich die Beant-wortung der Frage des Kollegen Grindel abschließenkann.Wenn für knapp 200 Initiativen, die in Niedersachsenvor Ort demokratische Kultur stärken und entwickelngeholfen haben, im letzten Jahr der SPD-geführten Lan-desregierung 700 000 Euro zur Verfügung standen, jetztaber nur noch 40 000 Euro zur Verfügung stehen sollen,dann ist das eine Prioritätensetzung der neuen Landesre-gierung, die den Bereich der Demokratiestärkung undder politischen Bildung auf das Sträflichste vernachläs-sigt.
Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zurHeimkehrerstiftung und zum Bund der Vertriebenen sa-gen. Sie werden bei einem Blick in den Haushaltsent-wurf feststellen, dass trotz aller Sparnotwendigkeiteneine Fortschreibung der Ansätze aus dem Jahre 2004 er-folgt. Zusätzlich werden die Heimkehrerstiftung ebensowie die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge noch
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Sebastian Edathyeinen Zuschuss aus dem laufenden Haushalt bekommen.Das hält die SPD-Fraktion für richtig. Ich sage aber zu-gleich, dass der deutsche Steuerzahler erwarten könnenmuss, dass sich sowohl der Bund der Vertriebenen wieauch der Verband der Heimkehrer von revanchistischenund geschichtsrevisionistischen Positionen klar distan-zieren.
Ich erlaube mir, aus einem gestern erschienenen Inter-view mit dem polnischen Außenminister zu zitieren. Ersagte:Die Tätigkeiten des Bundes der Vertriebenen undder Preußischen Treuhand verursachen einen riesi-gen Schaden in den deutsch-polnischen Beziehun-gen.Er sagte weiter mit Blick auf Äußerungen aus der Unionzu der Rede von Bundeskanzler Schröder anlässlich desJahrestags des Aufstandes im Warschauer Getto:Es wäre in politischer und menschlicher Hinsichtwesentlich besser und klüger, wenn die Erklärungdes Kanzlers auch von der Opposition in Deutsch-land, der CDU und CSU, unterstützt worden wäre.
Beim Umgang mit der deutschen Geschichte darfman nicht relativieren und verzerren. Wenn man sichverschiedene Initiativen der Union im Innenausschussanschaut – die beispielsweise auf ein einheitliches Ge-denkstättenkonzept für Einrichtungen aus der NS- undSED-Diktatur sowie die Gleichsetzung der von Deut-schen und Ausländern geleisteten Zwangsarbeit ab-zielen –, dann muss man Zweifel haben, ob dieser Kon-sens nach wie vor besteht.
Ich sage abschließend: Es ist gut, dass in diesem LandSPD und Grüne für die Regierung und damit für die In-nenpolitik Verantwortung tragen. Dass wir unter feder-führender Zuständigkeit des Innenministers dieser Ver-antwortung gerecht werden, zeigt sich nicht zuletzt imEntwurf des Einzelplans 06 für das Jahr 2005.Danke sehr.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Barthle.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Herr Edathy, Ihre Ausführungen kom-mentiere ich lieber nicht; das erspare ich Ihnen und auchmir.
Das gilt übrigens für das meiste, was ich von Ihnen zulesen und zu hören bekomme.
Ich möchte Herrn Minister Schily ansprechen. HerrSchily, ich würdige es ausdrücklich, dass Sie sich heutezum Sport geäußert haben. Mein Appell hat gewirkt.Wenn meine jetzige Rede genauso wirkt, dann bin ichsehr zufrieden. Sie sind ein Sportminister, der sich beivielen großen Sportveranstaltungen sehen lässt. Das istin Ordnung. Ich vermute, Sie werden morgen Abendbeim Fussballländerspiel ebenfalls präsent sein. Ob dasnun zu der Wertung „bester Sportminister aller Zeiten“führen muss, will ich unkommentiert lassen. Ich vermuteeinmal, dass der Präsident des betreffenden Sportverban-des, den auch ich sehr gut kenne und der ein clevererMann ist, diesen Titel schon Ihrem Vorgänger und IhremVorvorgänger verliehen hat. Er sei Ihnen insofern ge-gönnt.Ich möchte an dieser Stelle meiner Fraktion und mei-ner Kollegin Susi Jaffke dafür Dank sagen, dass wir dieGelegenheit bekommen haben, zum Sport und zur Sport-politik dieser Bundesregierung zu sprechen; denn dievergangenen großen Sportereignisse – die Fußball-EMin Portugal, die Tour de France und die OlympischenSpiele in Athen – geben uns allen Anlass dazu. Ich willIhre Bewertung zwar nicht in Zweifel ziehen, Herr Mi-nister Schily. Aber ich muss schon sagen, dass die Men-schen draußen im Lande sehr wohl den Eindruck haben,dass es mit der Situation unseres Spitzensports nichtzum Allerbesten bestellt ist. Es gibt Licht und Schatten.Ich meine aber, dass der Schatten dominiert. Die Men-schen nehmen wahr, dass es eine kontinuierliche Ab-wärtsbewegung gibt und dass wir immer mehr Gefahrlaufen, von der Weltspitze abgehängt zu werden. Dasdeckt sich eigenartigerweise mit dem Erscheinungsbilddieser Regierung.Nun zum Sporthaushalt. Auf dem Papier sieht die be-treffende Titelgruppe eigentlich gut aus: Die Mittel fürdie Sportförderung steigen von 119 Millionen auf128 Millionen Euro. Aber die wichtigen Kennzahlen– nämlich die Mittel für zentrale Maßnahmen auf demGebiet des Sports, die Projektförderung für das FES unddas IAT, die Mittel zur Erhaltung von Sportstätten undfür die Ausstattung des BISp – bewegen sich etwa aufder gleichen Höhe wie im Vorjahr. Da wir nun alle wis-sen, dass Stagnation angesichts steigender Kosten fürPersonal und Mobilität Rückschritt bedeutet, kann mandiese Entwicklung nicht unbedingt loben.Ich möchte ein weiteres Kapitel, den „Goldenen PlanOst“, ansprechen. Getreu der alljährlich wiederkehren-den Zeremonie in dem Film „Dinner for one“ erscheintmir die Aussage „The same procedure as every year,Herr Minister“ gerechtfertigt. Zuerst wird dieser Haus-haltstitel auf null gestellt, dann gibt es aus allen Ecken,und zwar sowohl von der Opposition als auch von derRegierungskoalition, Protest
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Norbert Barthleund zuletzt entscheidet der Bundeskanzler aus seiner hö-heren Weisheit heraus, dass nun doch wieder Mittel ein-gestellt werden sollen; so jedenfalls war es in der „Berli-ner Zeitung“ zu lesen. Ich halte dieses Vorgehen fürziemlich unzumutbar; denn Investitionen in die Sport-infrastruktur bedürfen der Stetigkeit und der Verlässlich-keit.
Dieses von der Lust und Laune des Regierungschefs ab-hängende Hin und Her ist unwürdig.
Kommen wir jetzt zum eigentlichen Schatten, derüber Ihrem Sportetat hängt. Das ist die Tatsache, dasstrotz der Schieflage des Haushaltes zunächst einmal einAufwuchs festzustellen ist, ein Aufwuchs allerdings, derausschließlich mit den enormen Ausgaben für die Fuß-ballweltmeisterschaft zusammenhängt. Der Ansatz fürdas kulturelle Begleitprogramm ist in diesem Jahr mit10 Millionen Euro ausgestattet. Insgesamt sollen30 Millionen Euro in dieses Programm fließen. WirHaushälter haben einstimmig beschlossen, dass im ers-ten Jahr um 1 Million Euro gekürzt wird. Dennoch be-trägt diese Summe wieder 30 Millionen Euro. HerrSchily, das entspricht nicht dem Willen des Parlaments.
Schon deshalb, aber nicht nur deshalb, sondern auchaus Gerechtigkeitsgründen empfehle ich Ihnen, wennSie Kürzungsvorschläge suchen, an diesem Programmanzusetzen. Denn zu Recht sagen Vertreter andererSportarten: Warum bekommt eigentlich nur der FußballMittel und nicht wir? Schon im kommenden Jahr findetin Deutschland die Skiweltmeisterschaft und im Jahr2007 findet in Deutschland die Handballweltmeister-schaft statt. Dafür gibt es kein Geld. Deshalb ist dieseFrage gerechtfertigt.Vollkommen aus dem Ruder läuft aber ein andererTitel. Das sind die geplanten 22 Millionen Euro für diegesonderte Eröffnungsveranstaltung in Berlin am Vor-abend der eigentlichen WM-Eröffnung in München.
22 Millionen Euro für ein von André Heller konzipiertesSpektakel sozusagen am Vorabend der Bundestagswahl;sagen wir es doch einmal deutlich.
22 Millionen Euro für eine Fete der Bundesregierung aufKosten der Steuerzahler – und das bei diesen Haushalts-zahlen. 22 Millionen Euro, das ist mehr, als wir für dasgesamte Leistungssportpersonal in allen Sportarten indiesem Lande ausgeben. 22 Millionen Euro, das ist fastso viel, wie wir für alle Olympiastützpunkte und Bun-desleistungszentren zusammen ausgeben. 22 MillionenEuro, das ist doppelt so viel, wie wir für zentrale Trai-ningsmaßnahmen und Lehrgänge in allen Sportartenausgeben. 22 Millionen Euro, Herr Schily, das ist fastzehnmal so viel, wie wir für die Förderung unserer be-hinderten Sportler ausgeben.
22 Millionen Euro, das ist einfach zu viel.Wenn ich mir nicht nur diese Summe, sondern auchanschaue, wofür diese Mittel ausgegeben werden sollen,dann entstehen bei mir wirklich Fragen; denn besonders„erhellernd“ – wenn ich mir diesen Kalauer erlaubendarf – war ein Interview, dass Herr Heller im „Spiegel“vom 30. August dieses Jahres gegeben hat. Meine Fragean die Bundesregierung, wie es um die Details dieser Er-öffnungsveranstaltung steht, blieb unbeantwortet. MeineAntworten finde ich im „Spiegel“. O-Ton Heller – ichzitiere mit der Erlaubnis der Präsidentin –:Er treibt uns alle stets an, das Kühnste zu wagen.Wenn ich den Korb gelegentlich ein bisserl tieferhängen will, kommt der Herr Minister und sagt:Warum ein Kompromiss?Herr Heller spricht von Ihnen, Herr Schily. Da klingt einHang zum Gigantismus durch, den man Ihnen so eigent-lich nicht zutraut. „Das Kühnste wagen“, eine schöneFormulierung. Warum nicht in der Haushalts- undFinanzpolitik? Das, denke ich, wäre angemessen. Beider Fußball-WM-Eröffnungsfeier ist mir das etwas zuviel Gigantismus.Dann soll diese Veranstaltung unter dem Motto „DieWelt zu Gast bei Freunden“ stattfinden. Herr Heller be-absichtigt, eine Veranstaltung mit internationalen Künst-lern und Tausenden ausländischen Akteuren durchzufüh-ren. Diese sollen aus Afrika, Asien und Südamerika, alsovon überallher, kommen.
Stimmt da das Motto noch? Müsste es nicht heißen: „DieWelt zu Gast bei Fremden“ oder „Deutschland zu Gastbei Gästen“?
Das, denke ich, wäre angemessener.Meine Damen und Herren, jede andere Nation aufdieser Welt nutzt die Gelegenheit, sich selbst, seineMenschen, seine Kultur, seine Identität und seine Künst-ler darzustellen. Diese rot-grüne Regierung meint, miteinem Multikulti-Spektakel könnten wir uns der Weltbesser präsentieren. Das halte ich für nicht angemessen;da kann ich nur den Kopf schütteln.
Bei allem Respekt: Ein selbstbewusstes Verhältnis zureigenen Nation, zur eigenen Nationalität gestehe ichdem Minister zu, das hat er. Deshalb wundert mich dieseKonzeption so sehr.
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11058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Norbert BarthleEs soll übrigens noch etwas Weiteres geschehen: Aus-gerechnet der Künstler Hans Haacke, dessen Werk wirtagtäglich hier im Reichstag bewundern dürfen,
wurde damit beauftragt – ich zitiere noch einmal aus demInterview –, einen „unmissverständlichen Kommentar“zur „historischen Hypothek von Hitlers OlympischenSpielen 1936“ im Berliner Olympiastadion zu erarbeiten.Wenn ich den Kommentar meiner Besuchergruppen höre– den sollten auch Sie einmal hören –,
dann sehe ich im Nachhinein diejenigen bestätigt, diedamals gegen dieses Kunstwerk gestimmt haben.Dass sich Herr Heller als Sporthasser outet und be-kennt, dass er vom Fußball wenig hält, will ich hier nuram Rande erwähnen, das ist nicht so wichtig. Ich findees aber schon interessant, dass er sagt, am Fußball inte-ressierten ihn eher die Verlierer. Vielleicht erklärt das jadas besondere Interesse der Bundesregierung an HerrnHeller – und umgekehrt.
Noch etwas: Im selben Interview antwortet HerrHeller auf die Frage, ob denn nicht die Gefahr bestehe,dass die Eröffnungsveranstaltung von der Regierung alsÖffentlichkeitsarbeit missbraucht werde, klar und deut-lich, dass das aus professionellen Gründen gar nicht an-ders gehe. In der Mathematik sagt man: Quod erat de-monstrandum.
Ich glaube, die rot-grünen Haushaltspolitiker haben esmit der Mathematik nicht so sehr, deshalb übersetze ichdiesen Ausspruch auch: Was zu beweisen war.Ich fordere Sie auf, Herr Schily: Greifen Sie ein indieses falsche Konzept! Verabschieden Sie sich von die-ser Politshow mit fragwürdigen Inhalten! Wenn schoneine gesonderte Eröffnungsveranstaltung stattfinden soll,dann allenfalls am Ort des Eröffnungsspiels und zu er-heblich niedrigeren Kosten. Das wäre unser Anliegen.
– Dass von Ihrer Seite Schwachsinn kommt, das wusstenwir schon. Ich will das gar nicht aufgreifen.
Abschließend ein Appell an Sie, Herr Minister, dernicht in Ihren Zuständigkeitsbereich gehört. Wenn ichrichtig lese, heißt es in einem Beitrag von Bärbel Kraußin der „Stuttgarter Zeitung“ vom 1. September, dass imBereich der Bundeswehr ein erheblicher Stellenabbauvon 12 Prozent für die Sportlerstellen geplant ist. 95 der744 Sportlerstellen sollen angeblich gestrichen werden.Von 25 Sportförderkompanien blieben dann nur noch 15übrig. Herr Minister, sollte dies stimmen, dann brichtuns eine der wichtigsten Stützen des Spitzensports weg.Ich appelliere an Sie: Reden Sie mit Ihrem Kabinettskol-legen Herrn Struck und verhindern Sie, dass das Wirk-lichkeit wird! Denn ich befürchte, dass wir ansonsten imSpitzensport bald ganz weg sind vom Fenster. Vielleichtist das aber auch die Parallele zu der rot-grünen Bundes-regierung, die ich anfangs angesprochen habe.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Petra Pau hat gebeten, ihre Rede zu Pro-
tokoll geben zu dürfen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann verfahren wir so.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich lie-
gen nicht vor.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Justiz. Das Wort hat zunächst
Frau Justizministerin Brigitte Zypries.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Es ist nicht nur Zeit für den Haushalt, sondernauch für die Halbzeitbilanz der 15. Legislaturperiodedieses Bundestages. Ich denke, diese Halbzeit kann sich,was den Bereich des Justizministeriums angeht, durch-aus sehen lassen.
Wir haben – das wissen Sie – unsere Arbeit im BMJ,weil sie so vielfältig ist, in drei Bereiche aufgegliedert.Den ersten Bereich haben wir genannt: Schutz der Bür-gerinnen und Bürger vor Straftaten und die Verbesserungder Opferrechte. Der zweite Bereich ist der große Be-reich des Wirtschaftsrechtes und der Sicherung desStandortes Deutschland und der Verbraucherrechte. Dendritten Komplex könnte man mit „Modernisierung desRechtsstaats in unserer Gesellschaft insgesamt“ charak-terisieren.Im Hinblick auf den ersten Bereich möchte ich Siedaran erinnern, dass wir hier das Opferrechtsreformge-setz verabschiedet haben, das am 1. September diesesJahres in Kraft getreten ist. Es ist ein echter Fortschritt
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004 11059
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Bundesministerin Brigitte Zypriesbeim Opferschutz. Wir alle können gemeinsam stolz da-rauf sein, dass dies diesem Hause gelungen ist.
Mit dem Gesetz zur Änderung des Sexualstrafrechtshaben wir ganz konkret den Schutz der Opfer von sexu-ellem Missbrauch verbessert. Durch die Anhebung derStrafrahmen und die Einführung neuer Tatbestände indiesem Bereich ebenso wie beim Handel mit kinderpor-nographischem Material im Internet ist der Schutz jetztnoch besser und lückenloser geworden. Sie wissen, dassseit dem In-Kraft-Treten dieses Gesetzes am 1. Aprilletzten Jahres jede Sexualstraftat ausreichend ist – natür-lich beim Vorliegen der übrigen Voraussetzungen –, da-mit eine DNA-Analyse und -Speicherung angeordnetwerden kann. Das ist ein erheblicher Fortschritt bei derVerfolgung gerade dieser Taten.Wir haben uns auch – dafür möchte ich allen Beteilig-ten danken – sehr schnell auf eine Einführung der nach-träglichen Sicherungsverwahrung geeinigt. Dazuwaren wir durch das Bundesverfassungsgericht aufge-fordert. Ich meine, wir haben ein Gesetz geschaffen, mitdem wir angemessen auf Straftäter reagieren können, de-ren Gefährlichkeit sich erst im Verlauf der Haft zeigt.Bei diesem Gesetz haben wir aber auch die rechtsstaat-lichen Standards zugunsten dieser Täter in einer Weiseabgesichert, wie es, so meine ich, nicht besser geht. Esbedarf zweier Gutachter mit entsprechender Prognoseund das Gericht hat in einer Hauptverhandlung darüberzu entscheiden.Im Bereich der Terrorismusbekämpfung sind der EU-Haftbefehl und der Rahmenbeschluss zur Terrorismus-bekämpfung umgesetzt worden. Damit haben wir das In-strumentarium insoweit ergänzt.Ein Ziel unserer Rechtspolitik ist es auch, den Rah-men für Innovationen und für die Weiterentwicklungder Innovationen in Deutschland zu schaffen. Dabei istder Schutz des geistigen Eigentums im digitalen Zeital-ter natürlich ganz besonders wichtig. Deswegen habenwir bereits in der ersten Hälfte dieser Legislaturperiodedas Urheberrecht der digitalen Welt angepasst. Wir ha-ben, was auch in den Bereich der Entwicklung des Wirt-schaftsrechts und zur Standortentwicklung in Deutsch-land gehört, das Zehnpunkteprogramm für mehrAnlegerschutz und Unternehmensintegrität aufgelegt.Ich bin zuversichtlich hinsichtlich der Einführung vonmehr Transparenz. Ein wesentlicher Punkt dabei betrifftdas Einkommen von Managern und die Offenlegung ih-rer individuellen Bezüge, über die wir gerade diskutierenund die wir fordern.
Schließlich ist es uns auch mit dem Ersten Justizmo-dernisierungsgesetz gelungen, das aus dem Getriebe derJustiz zu entfernen, was man gemeinhin als Sand be-zeichnet, und stattdessen etwas Öl hineinzugießen. Vielekleine und große Hemmnisse sind beseitigt worden. Dasgängigste Beispiel ist die Verlängerung der zehntägigenUnterbrechungsmöglichkeit im Strafprozess. Nach derVerabschiedung des Gesetzes haben uns übrigens vieleAnfragen von Strafrichtern erreicht, die das Gesetz soschnell wie möglich im Bundesgesetzblatt sehen wolltenund darauf warteten. Dieser Wunsch konnte Ende letztenMonats erfüllt werden. Seitdem ist das Gesetz in Kraft.
Ein weiteres Gesetz, das die Arbeit der ersten zweiJahre kennzeichnet und bei dem mein Dank für die Mit-arbeit nicht nur an die Regierungsfraktionen geht, son-dern auch an die Opposition und hier namentlich an dieHerren Röttgen und Funke, befasst sich mit der Einfüh-rung eines neuen Kostenrechts bei der Anwaltschaftund bei den Gerichten. Wir haben es in gemeinsamerAktivität geschafft, eine angemessene Gebührenerhö-hung für Rechtsanwälte einzuführen. Wir haben damitneue Strukturen geschaffen, die es ermöglichen, wegvon den Gerichten und hin zu vorgerichtlicher Einigungzu kommen. Deshalb hoffen wir sehr, dass das Gesetz zueiner strukturellen Entlastung der Gerichte beitragenwird.Natürlich werden wir uns nicht auf diesen Lorbeeren– Sie sehen, es war schon ein erhebliches Programm, daswir durchgesetzt haben – ausruhen.
– Herr Röttgen, jetzt schmälern Sie Ihre eigenen Ver-dienste, die ich gerade gelobt habe, nicht.
Wir haben auch in der zweiten Hälfte der Legislatur-periode noch eine Menge vor. Ich möchte dazu jetzt nureinige Stichpunkte nennen, die wieder in die anfangs ge-nannten drei Rubriken einzuteilen sind.Zunächst geht es um die Änderung der Wohnraum-überwachung, ein Thema, das uns in dieser Form vomBundesverfassungsgericht vorgegeben wurde. Wir brau-chen bis Mitte nächsten Jahres eine klare und rechts-staatliche Antwort auf seine Entscheidung. Das lässt unsnicht allzu viel Zeit für ein nicht einfaches Thema. Aberdie Diskussion hat begonnen. Ich bin zuversichtlich,dass wir zu einem breiten Konsens kommen können. Indiesem Bereich werden wir das Begonnene also vollen-den.Das gilt auch für das Wirtschaftsrecht. Hier werdenwir die Reform des Bilanzrechts vorantreiben,
die Haftung von Vorständen für falsche Kapitalmarktin-formationen verschärfen und die Durchsetzung von Kla-gen geschädigter Anleger erleichtern, ein Ziel, das ge-rade durch die Skandale der Vergangenheit besondersdringlich geworden ist. Zum Bereich des Wirtschafts-rechts gehört auch die Reform des Versicherungsver-tragsrechts, die wir anpacken werden. Hierzu liegen
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Bundesministerin Brigitte ZypriesEmpfehlungen einer Expertenkommission vor. Im Mi-nisterium wird derzeit der entsprechende Gesetzentwurferarbeitet.Ganz oben auf die Tagesordnung gehört – hier bitteich das ganze Haus um Mithilfe – die Umsetzung derBiopatentrichtlinie;
denn Deutschland ist schon in der Verfristung. Hier ap-pelliere ich an alle Fraktionen; denn das ist, wenn ich daseinmal ganz offen sagen darf, kein Problem der Regie-rungsfraktionen. Vielmehr ist es so, dass die Konfliktebei diesen Themen quer durch alle Fraktionen gehen.Daher muss auch niemand mit dem Finger auf den ande-ren zeigen.
Deswegen wäre ich sehr froh, wenn nach der Anhö-rung, die für Ende dieses Monats geplant ist, zügig eineEntscheidung getroffen werden könnte. Denn es machtgar keinen Sinn, dass wir uns wegen Nichtumsetzungder Richtlinie auf Schadenersatz verurteilen lassen, umsie dann doch umzusetzen.
Meine Damen und Herren, alle Fraktionen werdensich noch um die Reform des Betreuungsrechts zu küm-mern haben, ein Vorhaben, das uns vor allen Dingen dieLänder angetragen haben und das sie besonders berührt,weil sie die Kosten zu tragen haben. Auch hier müssenwir bald und zügig zu einem Ergebnis kommen.Ich werde Ihnen ferner eine Reform des Unterhalts-rechts und des Versorgungsausgleichs vorlegen, mit derwir auch in diesen Bereichen Ungerechtigkeiten, die sicheingeschlichen haben, bereinigen wollen. Wir werdenden Vorschlag machen, ein „großes Familiengericht“einzuführen. Außerdem werden wir das Lebenspartner-schafts-Ergänzungsgesetz noch vorlegen.Ein weiteres Thema ist die Stärkung der Patienten-autonomie. Sie wissen, dass eine Debatte darüber begon-nen wurde, wie weit Patientenverfügungen reichen sollen.Auch in dieser Diskussion verlaufen die unterschiedli-chen Meinungen quer durch alle Fraktionen. Diese De-batte werden wir im zweiten Halbjahr dieses Jahres mitgrößerer Intensität zu führen haben. Ich bin froh, dass dieEnquete-Kommission dazu einen Vorschlag gemacht hat.Auch unser Haus hat hierzu eine hochrangig zusammen-gesetzte Arbeitsgruppe eingesetzt. Somit haben wir ge-nug Material, um über dieses Thema belastbar zu disku-tieren.Das Rechtsberatungsgesetz habe ich, wie Sie heute inden Zeitungen lesen können, gestern der Presse vorge-stellt. Dieser Gesetzentwurf wird ebenso wie der Diskus-sionsentwurf zur Strafprozessordnung, der im Bera-tungsverfahren steht, auf dem kommenden Juristentag inBonn debattiert werden. Ich bin froh, dass über diesebeiden großen Gesetzgebungsvorhaben, insbesondereüber die Änderung der Strafprozessordnung, mit vielenFachleuten sachgerecht diskutiert werden kann.
Ein anderer Punkt, an dem wir noch in diesem Jahrhart werden arbeiten müssen, ist die Reform des föde-ralen Systems. Sie wissen: Alle verfolgen das Ziel,Deutschland europatauglicher zu machen; alle verfolgendas Ziel einer Entflechtung der Zuständigkeiten vonBundestag und Bundesrat. Wir meinen, dass wir diesesZiel auch weiter verfolgen sollten. Wir sollten es auchmit aller Macht durchsetzen.Deswegen sollten wir nicht allzu sehr auf die Ideender Länder eingehen und andere Verflechtungen schaf-fen, indem wir das Zustimmungserfordernis in Art. 84des Grundgesetzes durch ein Zustimmungserfordernis inArt. 104 ersetzen und die Zuweisung von echten Kom-petenztiteln durch Zugriffsrechte ergänzen, die teilweise,wie die Länder fordern, unmittelbar in die Verfassunggeschrieben und teilweise einfachgesetzlich geregeltwerden sollen. Das ist nur eine neue Form von Vermi-schung im Recht, die es dem Rechtsanwender nachge-rade unmöglich macht, das Recht, das in seinem Bundes-land gerade gilt, zu finden. So etwas können wir, glaubeich, nicht unterstützen. Eines ist ganz sicher: Die Bevöl-kerung in diesem Lande will das alles nicht.
Die Bevölkerung in diesem Lande möchte klare und ein-heitliche Regeln und es kann nicht sein – diese Gefahrbesteht nach der letzten Entscheidung aus Karlsruhe –,dass es künftig einfacher ist, als Professor von Berlinnach Madrid zu wechseln als von Berlin nach Saarlouis.Das, meine Damen und Herren, müssen wir, meine ich,zu vermeiden suchen.
– Da gibt es keine Universität? Aber in Saarbrücken gibtes eine.Ich wäre dankbar, wenn sich alle Beteiligten diesesHauses darauf verständigen könnten, dass die Interessendes Bundestages insoweit gegenüber den Ländern ge-wahrt werden müssen. Diese Frontenstellung, wenn ichdas einmal so nennen darf, erscheint mir manchmal nichtrichtig gewährleistet und es wäre schön, wir könnten dastärker zueinander finden.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur zeitnahen Justiz-gewährung sagen. Das ist ein wichtiges Thema undgleichzeitig auch ein wichtiger Standortfaktor. Es machtkeinen Sinn, Gesetze zu machen, die gut und richtigsind, die dann aber nicht umgesetzt werden können. Des-halb braucht die Justiz die erforderlichen Ressourcen,um in der Kürze der Zeit möglichst richtige Urteile zufällen. Dazu gehört nicht nur, dass die Themen, die wirjetzt behandeln, in kürzerer Zeit abgearbeitet werden,sondern dazu gehört auch, dass für die neuen Aufgaben,die wir im Rahmen des europäischen Einigungsprozes-ses übernehmen – ich weise hier nur auf die neuen Auf-
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Bundesministerin Brigitte Zypriesgaben im Zusammenhang mit der Brüssel-IIa-Verord-nung im Kindschafts- und Familienrecht hin –, dieerforderlichen finanziellen und personellen Mittel zurVerfügung gestellt werden.Der Entwurf für den Haushalt des Bundesministeri-ums der Justiz im Jahr 2005, der Ihnen jetzt vorliegt, istein Beleg dafür, meine ich wenigstens, dass wir beidessinnvoll miteinander verbunden haben. Wir haben aufder einen Seite 7 Millionen Euro eingespart und damitzur Konsolidierung des Bundeshaushaltes beigetragen,andererseits haben wir es geschafft, die erforderlichePersonal- und Sachmittelausstattung zu gewährleisten.Aufgrund einer sparsamen, umsichtigen und effizientenMittelverwendung der Justiz – wofür ich insbesondereden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu danken habe,die darauf ja am meisten achten – war es möglich, dieGesamtausgaben gegenüber dem Vorjahr abzusenken.Mit Ausgaben von weniger als 339 Millionen Euro be-trägt der Anteil des Justizhaushaltes an den Gesamtaus-gaben des Bundeshaushaltes jetzt nicht mehr wie beimletzten Mal 0,14 Prozent, sondern nur noch 0,13 Prozent.Das Wort vom kleinen, aber feinen Justizhaushalt be-wahrheitet sich also einmal mehr.Es ist sehr erfreulich, dass sich dieser Haushalt na-hezu selbst finanziert: Den Ausgaben, die ich eben ge-nannt habe, stehen Einnahmen von über 322 Mil-lionen Euro gegenüber. Das ist eine Deckungsquote von95 Prozent. Diese erreichen wir vor allen Dingen durchdas Deutsche Patent- und Markenamt. Ich wäre dankbar,wenn der Kollege Götzer, der nach mir für die CDU/CSU reden wird, darstellen könnte, wie der Einsparvor-schlag des Ministerpräsidenten Stoiber in Höhe von5 Prozent im Haushalt des BMJ umgesetzt werden soll.Das macht exakt 17 Millio-nen Euro, die wir bei derStruktur des Haushaltes wirklich nur beim DeutschenPatent- und Markenamt einsparen könnten, einem Amt,das wir jetzt endlich, in unserer Regierungszeit – begon-nen durch meine Vorgängerin, weitergeführt von mir –,durch mehr Personal und vor allen Dingen die Einfüh-rung von sehr guter EDV in die Lage versetzt haben,zeitnah und schnell zu entscheiden. Dass die Patentewichtig sind für den Standort Deutschland, ist, glaubeich, unstreitig.
Ich denke, dass wir mit diesem Haushalt auch imJahre 2005 unsere Aufgaben bewältigen können; ichdenke aber auch, dass wir gemeinsam der Auffassungsind, dass den Einsparbemühungen im Justizhaushalt,wenn man den Grundsatz der effizienten Justizgewäh-rung beachten will, irgendwann Grenzen gesetzt sind.Über die sollten wir dann auch einmal gemeinsam reden.
Jetzt erteile ich dem schon genannten Abgeordneten
Dr. Wolfgang Götzer das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die Frau Justizministerin hat diese Haushalts-debatte zu einer kleinen Zwischenbilanz genutzt. Dasliegt in der Mitte der Legislaturperiode ja nahe. Auch ichwill das tun. Es wird Sie nicht überraschen, dass sie einbisschen anders ausfallen wird.
– Keine Sorge. Ich werde die Wahrheit sagen. Sie istnicht immer angenehm, aber das ist fair.Vor einem Jahr hatten wir noch Probleme, überhauptAnsatzpunkte für eine Beurteilung zu finden. Es warmangels Gesetzentwürfen und Initiativen aus den Reihender Regierungskoalition wirklich schwierig, selbst nurKritikpunkte zu finden. Das hat sich inzwischen quanti-tativ ein bisschen gebessert, inhaltlich allerdings kaum.Zunächst eine grundsätzliche Bemerkung zu unseremArbeitsbereich: Uns allen ist klar, dass die Rechtspolitikin der Öffentlichkeit nach wie vor kein großes Interessefindet. Dass wir im Rahmen der Haushaltsdebatte heutewieder zeitlich als Letzte an der Reihe sind, spricht wie sooft Bände. Wir wissen aber gleichwohl, dass die Rechts-politik sowohl in der Breite als auch in der Tiefe wiekaum ein anderes Themenfeld bewusstseinsprägend undauch ordnungsstiftend wirkt, wenn es sie denn gibt. So-weit sie überhaupt stattfindet, fehlt ihr bei dieser Regie-rung jedenfalls jegliche Konzeption.Wir erleben eine Abfolge von Gesetzesinitiativen ausunterschiedlichen Bereichen, die keine durchgehendeLinie oder eine über den Tag hinausweisende Zielrich-tung in der Rechtspolitik erkennen lassen.
Das, was vorgelegt wird, ist entweder lustlos fabriziert,mit heißer Nadel genäht oder im Ankündigungsstadiumstecken geblieben.
Auf der Tagesordnung des Rechtsausschusses muss manInitiativen der Regierungskoalition immer noch mühsamsuchen. Meist geht es um die Kenntnisnahme irgendwel-cher Berichte, mitberatende Voten oder, immer häufiger,um europäische Richtlinien und Rahmenbeschlüsse so-wie deren Umsetzung oder auch Nichtumsetzung.
Als konservativer Oppositionspolitiker ist es mir na-türlich lieber, dass weniger passiert, bevor Rot-Grün dieRechtspolitik als ideologische Spielwiese zur Gesell-schaftsveränderung nutzt. Trotzdem bin ich der Mei-nung, dass die Rechtspolitik so wenig Vorweisbaresauch nicht verdient hat.
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Dr. Wolfgang GötzerSie sollte aus dem Schattendasein in dieser Bundesregie-rung heraustreten,
was allerdings schwierig ist, weil die ganze Bundes-regierung ja nicht gerade von der Sonne verwöhnt ist.Ich will aber auch nicht mit Lob sparen. Gelegentlichwar es möglich, Sie dazu zu bringen, mit uns zusammengemeinsame Gesetze zu formulieren und zu verabschie-den.
Immerhin gehen die meisten der beschlossenen Gesetzeauf Initiativen der CDU/CSU oder des Bundesrats zu-rück.
So viel zum Lob.Frau Ministerin, Sie haben die nachträgliche Siche-rungsverwahrung erwähnt. Ich muss nicht noch einmalauf die Einzelheiten dieses Themas eingehen, das unslange genug beschäftigt hat: jahrelange Verweigerungs-haltung, Untätigkeit; dann waren Sie durch eine Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts gezwungen,tätig zu werden; anschließend ein Schnellschuss mit gro-ßen Lücken und Fehlern, dem wir nur aufgrund derZwangssituation, die ansonsten entstanden wäre, zuge-stimmt haben.Wie sich das im Sommerinterview der Frau Justiz-ministerin mit der „NJW“-Redaktion liest, möchte ichhier mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren:In nur fünf Monaten haben Bundesregierung, Bun-destag und Bundesrat die Vorgaben des BVerfG zudiesem lang umstrittenen Problem umgesetzt.
So kann man es auch darstellen.
– Ja, leicht verkürzt. Es ist nicht unklar, aber leicht ver-kürzt.Ein weiteres eher trauriges Kapitel ist das ThemaGraffiti. Auch das möchte ich hier weiß Gott nicht mehrinhaltlich erwähnen, weil es uns lang genug beschäftigthat.
Die Verhinderer sind bekannt. Sie sitzen hier mitten un-ter uns. Sie haben ihren Platz in der Mitte dieses Hauses,wo sie ideologisch überhaupt nicht hingehören.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, haben Sie doch wenigstens den Mut, unseren Ge-setzentwurf abzulehnen!
Sie lassen ihn liegen und behandeln ihn nicht. Das ist einganz schlechter parlamentarischer Stil.
Wir sollten das zum Anlass nehmen, endlich eine Ände-rung der Geschäftsordnung zu verlangen, damit so etwasin Zukunft nicht mehr möglich ist. Nichtbehandlungdurch liegenlassen ist kein guter parlamentarischer Stil.
Auch bei der Reform des Sanktionensystems zeigtsich die grundsätzlich problematische Einstellung vonRot-Grün gerade zum Strafrecht. Künftig sollen kurzeHaftstrafen in gemeinnützige Arbeit umgewandelt wer-den.
Wir sehen ganz klar: Kurze Haftstrafen werden von denGerichten nur dann ohne Bewährung ausgesprochen,wenn diese aus guten Gründen für den Täter nicht bzw.nicht mehr infrage kommen. Für diesen Täterkreis ist ge-meinnützige Arbeit keine angemessene Sanktion, zumalin diesem Entwurf vorgesehen ist, dass die Umsetzungder Haftstrafe in Arbeit nicht eins zu eins erfolgt. Einesolche Verharmlosung der Strafandrohung zerstört jedepräventive Wirkung des Strafrechts.
Andererseits schießt die Bundesregierung bei andererGelegenheit weit über das Ziel hinaus, so etwa bei demkürzlich durch die Medien geisternden Referentenent-wurf zur Erweiterung der heimlichen Gesprächsüber-wachung. Mit diesem Entwurf, der offensichtlich zwi-schen BMI und BMJ abgestimmt war, sollte dasAbhören von Ärzten, Journalisten, Rechtsanwälten undsogar Pfarrern im Beichtstuhl in großem Umfang zuge-lassen werden.
Damit wir uns recht verstehen: Wir sind dafür, das Straf-maß für bestimmte Straftaten aus dem Bereich der orga-nisierten Kriminalität so zu erhöhen,
dass das Abhören auch nach dem entsprechenden Urteildes Bundesverfassungsgerichts weiter möglich ist. Wirsind bei jeder Verbesserung der Verbrechensbekämpfungan Ihrer Seite, nicht aber, wenn rechtsstaatliche Grund-sätze über Bord geworfen werden.
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Dr. Wolfgang Götzer
Wir sind ja froh, wenn einmal von Ihrer Seite Überle-gungen zur schärferen Bekämpfung von Terror undorganisierter Kriminalität angestellt werden und esnicht immer heißt: Die geltenden Gesetze reichen aus.Aber dann beschäftigen Sie sich bitte einmal mit unserensicherheitspolitischen Forderungen. Da finden Sie eineganze Menge von sinnvollen und notwendigen Vorschlä-gen. Führen Sie beispielsweise die Kronzeugenregelungwieder ein!
– Das ist kein alter Hut, wie ein Oberlandesgericht vorwenigen Monaten festgestellt hat.Weiten Sie vor allem die Möglichkeiten der DNA-Analyse aus, die sich immer mehr als eine der wirksams-ten Waffen im Kampf gegen das Verbrechen herausstellt.
– Nur sehr halbherzig haben Sie das gemacht, Herr Kol-lege. Bayern liefert inzwischen rund ein Fünftel allerDNA-Datensätze bundesweit.
Ich kann dem bayerischen Innenminister Beckstein nurzustimmen,
wenn er fordert, dass die DNA-Analyse nicht auf die jet-zigen Deliktbereiche beschränkt bleiben darf, sondernStandard bei der erkennungsdienstlichen Behandlungwerden muss.Entschieden zu weit gehen Sie, meine Damen undHerren von der Regierungskoalition, mit der von Ihnengeplanten Zulassung der Stiefkindadoption durchgleichgeschlechtliche Lebenspartner. Sinn und Zweckdes Adoptionsrechts ist der Schutz der Interessen desKindes, nicht der Eltern.
Die vorgesehene Neuregelung hingegen – dies wird ganzklar angesichts des gesellschaftspolitischen Kontextes,in dem dies gerade die Befürworter des Gesetzes sehenund sehen wollen – soll ein weiterer Schritt hin zur völli-gen Gleichstellung homosexueller Paare sein. Um derenInteressen geht es in diesem Gesetz, nicht um das Kin-deswohl.
Das Kind wird lediglich instrumentalisiert, verehrte Kol-leginnen und Kollegen von der SPD.
Es wird seines zentralen Rechtes beraubt, nämlich desRechts auf Vater und Mutter.
Damit wird die Grenze überschritten, die der in unsererVerfassung verankerte besondere Schutz von Ehe undFamilie setzt.
– Da könnte ich Ihnen eine ganze Reihe von Beispielennennen, mit denen Sie Art. 6 des Grundgesetzes syste-matisch aushöhlen. Das gilt vor allem für Ihren Koali-tionspartner. Diese Vorstöße kommen weniger von derSPD. Aber Sie sitzen schließlich in einem Boot und Sielassen es sich ja gefallen, was Ihr Koalitionspartner seitJahren beharrlich vorhat.Kein Ruhmesblatt erwerben Sie sich, meine Damenund Herren von der Regierungskoalition, mit Ihrem Ge-setzentwurf zum Thema Menschenhandel. Trotz völ-kerrechtlicher und europarechtlicher Vorgaben aus denJahren 2000 und 2002, die Deutschland bis zum 1. Au-gust dieses Jahres hätte umsetzen müssen, hat die Bun-desregierung bis jetzt gebraucht, um schließlich einenEntwurf vorzulegen. Auf die Idee, dabei auch die so ge-nannten Freier zu bestrafen, die wissentlich die Lage vonzwangsweise nach Deutschland gebrachten und hier zurProstitution gezwungenen Frauen ausnutzen, ist Rot-Grün überhaupt nicht gekommen. Der Gesetzentwurfenthält hierzu kein Wort. Erst wir haben dieses Problemthematisiert und einen entsprechenden Entwurf für einenneuen Straftatbestand vorgelegt.Bis heute nicht umgesetzt sind zwei EU-Antidiskri-minierungsrichtlinien, weswegen die EuropäischeKommission inzwischen ein Vertragsverletzungsverfah-ren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitethat.
Die Biopatentrichtlinie haben Sie, verehrte Frau Mi-nisterin, vorher ja schon angesprochen. Das ist auch einThema, das uns offensichtlich Jahr für Jahr begleitet undnicht vom Tisch kommt.
– Was die Antidiskriminierungsrichtlinie angeht, HerrKollege, ist meine Begeisterung durchaus begrenzt,
aber wir wollen natürlich ein ordnungsgemäßes Verfah-ren haben.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch ein-mal auf den Europäischen Haftbefehl zu sprechen
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Dr. Wolfgang Götzerkommen, den ja auch Sie, Frau Justizministerin, erwähnthaben. Wir haben uns einer Harmonisierung letztlichnicht verschlossen und deshalb dem Gesetzentwurf imErgebnis zugestimmt. Die Bedenken sind bereits geäu-ßert worden, ich brauche sie nicht mehr zu erwähnen.Ich habe dieses Thema nicht deswegen angesprochenund auch nicht wegen der verspäteten Umsetzung, son-dern um auf die grundsätzliche Problematik im Zusam-menhang mit den aus Brüssel kommenden Richtlinienund Rahmenbeschlüssen hinzuweisen: Ich halte diesenBereich für höchst unbefriedigend und dringend lö-sungsbedürftig. Die Bundesregierung schenkt meinesErachtens den aus Brüssel kommenden Vorgaben zu we-nig und zu spät Beachtung.
Sie versäumt es, rechtzeitig – das heißt: im Vorfeld – aufdie geplanten Vorhaben Einfluss zu nehmen und diedeutschen Interessen auch in der Rechtspolitik nachhal-tig zu vertreten.Auf der parlamentarischen Ebene ist darüber hinausfestzustellen: Für uns Abgeordnete – ich glaube, dasempfinden alle, die damit befasst sind – besteht vor al-lem und zuerst nach wie vor ein Informationsdefizit. Da-ran hat auch die Einsetzung des Unterausschusses Euro-parecht vor vielen Jahren nichts Wesentliches geändert.Nach wie vor erfahren wir häufig zu spät von BrüsselerInitiativen, um noch ausreichend diskutieren und ange-messen handeln zu können. Was hier dringend Not tut,ist eine Art Frühwarnsystem, um rechtzeitig agieren zukönnen.
Unverzichtbar ist in diesem Zusammenhang aucheine frühzeitige Unterrichtung der parlamentarischenGremien durch die Bundesregierung, Frau Ministerin.
– Das ist gut, wenn es denn so ist. Vielleicht sind wirnoch unterschiedlicher Auffassung, was „frühzeitig“ und„umfassend“ angeht. Ich denke, hier lässt sich noch daseine oder andere verbessern. Wir nehmen jedenfalls zurKenntnis, dass das Problem bereits erkannt ist.Notwendig ist aber auch eine bessere Informationspo-litik der EU-Organe und es ist höchste Zeit für ein eige-nes Büro des Deutschen Bundestages in Brüssel.
Neben dem Informationsdefizit haben wir weiter einUmsetzungsdefizit. Beispiele auch aus dieser Legislatur-periode habe ich bereits genannt. Auch hierfür müssenVorkehrungen getroffen und Instrumentarien eingeführtwerden, um die Zeitpläne einzuhalten. Die Bundesregie-rung müsste sich beispielsweise verpflichten, dem Deut-schen Bundestag spätestens zwölf Monate vor Ablaufder Umsetzungsfrist einen Gesetzentwurf vorzulegen. Eskann doch nicht sein, dass Deutschland bei der Umset-zung von Richtlinien in der EU – vor der Erweiterung –den zwölften Platz einnimmt. Ich will von diesem Vor-wurf übrigens frühere Bundesregierungen keineswegsausnehmen.
Aber nur, weil es in diesem Punkt eine offensichtlichlangjährige Verhaltenskontinuität von Bundesregierun-gen unterschiedlicher Zusammensetzung gibt, solltenwir es trotzdem nicht einfach so hinnehmen und dabeibelassen.
Hier besteht dringender Bedarf, gemeinsam nach Lö-sungswegen aus dieser Situation zu suchen. Das Ar-beitsprogramm der Kommission für 2005, das für dieMitgliedstaaten wieder umfangreiche Änderungen ge-rade im Bereich des Zivilrechts und auch des Strafrechtsvorsieht, wäre ein geeignetes Betätigungsfeld dafür. Wirbieten Ihnen unsere Zusammenarbeit dabei ausdrücklichan.So weit eine kurze Zwischenbilanz der Rechtspolitikdieser Bundesregierung aus Sicht der Union in dieserersten Lesung. Die zweite und dritte Lesung des Haus-halts wird Gelegenheit bieten, weitere Felder anzuspre-chen. Bis dahin könnten Sie, sehr verehrte Frau Ministe-rin, und Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen derRegierungskoalition, die Zeit schon einmal sinnvoll nut-zen und über Verbesserungen bei Ihrer Arbeit nachden-ken. Eine gute Gelegenheit – ich möchte fast sagen: einePflichtveranstaltung – ist der 65. Deutsche Juristentag,der in der übernächsten Woche in Bonn stattfindet undsich bekanntlich dem Thema widmet: „Was ist gute Ge-setzgebung?“ Ich denke, dort können Sie eine Mengelernen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jerzy Montag.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-ginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Götzer, wirdiskutieren am Abend über den Justizhaushalt. Aberschauen Sie auf die Ränge! Bürgerinnen und Bürger sindnoch da. So schlecht ist die Zeit für unsere Debatte nicht.Wir werden draußen gehört.
Die Besetzung der Fraktionen ist vielleicht nicht gar sogut. Ich aber freue mich, dass in unserer Fraktion sogareine Außenpolitikerin zu uns Rechtspolitikern gefundenhat und dass Marianne Tritz bei uns ist während dieserDebatte. Danke schön.
Ich halte meine dritte Rede zum Haushalt und stellefolgende Zahlen fest: Der Bundesjustizhaushalt – ich
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Jerzy Montagnehme den Haushalt des Bundesverfassungsgerichtshinzu – hat ein Volumen von 355 Millionen Euro. ImVergleich zum Gesamthaushalt von 255 Milliarden Eurobefinden wir uns hier im Bereich von 0,13 Promille. Wirhaben Ausgaben in Höhe von 338 Millionen Euro undEinnahmen in Höhe von 322 Millionen Euro. Damitwerden die Ausgaben zu 95 Prozent von innen herausgedeckt. Bei einem solchen Haushaltsansatz brauchenwir in der zweiten und dritten Lesung an einzelnenPunkten nicht mehr groß herumzukritteln. Bei einemsolchen Haushaltsansatz ist es richtig, dem Bundesjus-tizministerium Anerkennung und Dank für diese Haus-haltsführung auszusprechen.
So klein der Haushalt auch ist, so wichtig ist das fürunser Land, was mit diesem Haushalt finanziert wird.Vom Bundespatentgericht und dem Deutschen Patent-und Markenamt bis zum Bundesverfassungsgericht leis-ten die Institutionen ganz hervorragende Arbeit. Ich will,ohne die anderen hintanzustellen, ganz besonders dieBundesgerichte erwähnen. Sie praktizieren den Rechts-staat, den die Verfassung und wir, das Parlament, mit un-serer Arbeit vorgeben.
Von der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts, gerade der aus dem letzten Jahr, will ich ganzgerne aus aktuellem Anlass das Urteil zur akustischenWohnraumüberwachung hervorheben. Dieses Urteil warmutig, weil es scheinbar und vordergründig den Straf-verfolgern Steine in den Weg gelegt hat;
es war unbequem, weil für uns Parlamentarier eine ver-fassungsgemäße Regelung der akustischen Wohnraum-überwachung sicherlich nicht einfacher geworden ist.Aber mit diesem Urteil war das Bundesverfassungsge-richt ganz unbestechlich auf der Seite der Bürgerinnenund Bürger und ihrer in ihrem Kern unantastbarenGrund- und Menschenrechte. Ich finde, dass dieses Ur-teil – wie auch die Urteile des Bundesgerichtshofes zuden Terroristenverfahren in Hamburg – beweist, dass derRechtsstaat bei den Institutionen, die mit den Mittelndieses Haushalts bezahlt werden, in den besten Händenist. Zu sparen, meine Damen und Herren von der Oppo-sition, gibt es bei einem Haushalt von 0,13 Promillenichts.
Das Geld, das wir haben, brauchen wir für eine solideFinanzierung und, so weit es nur möglich ist – davon binich überzeugt –, für einen Aufwuchs im Justizbereich.Ich will einen Gedanken aus meiner letzten Haushalts-rede aufgreifen und sagen: Dank und Anerkennung andie Institutionen der Bundesgerichte und anderer im Be-reich des Justizministeriums ist das eine; wir müssenaber für Geld, für Personal und für eine moderne Aus-stattung auf diesem Gebiet sorgen, damit der Rechts-schutz für die Bürgerinnen und Bürger sehr nah und ef-fektiv vollzogen werden kann. Gerade durch dieInstitutionen im Bereich des Justizhaushalts – ich greifegerne das auf, was Sie, Herr Kollege Götzer, gesagt ha-ben – wird die Arbeit geleistet, mit der wir uns in den eu-ropäischen Einigungsprozess einbringen. Deswegen istes wichtig, dass wir auch in diesen Bereichen nicht nach-lassen, dafür zu sorgen, dass das Geld vorhanden ist, da-mit die Qualität stimmt, mit der Rechtsstaat und Rechts-staatlichkeit in Deutschland ausgestattet sind.Ich denke, man kann nicht den Bundesgerichten einLob aussprechen, ohne gleichzeitig über die aktuelle De-batte zur möglichen Zusammenlegung der Fachge-richtsbarkeiten zu diskutieren. Es gibt dazu die ver-schiedensten Modelle und Zielvorgaben. Ich glaube,eines ist für meine Fraktion bzw. die rot-grüne Koalitionklar: Es darf keine Zusammenlegung von Fachgerichtengeben, bei der die Unabhängigkeit der Richter angetastetund in Mitleidenschaft gezogen wird.
Das fängt bei der Versetzbarkeit an. Die Versetzbar-keit wird zur Verschiebbarkeit. Das ist der Anfang vomEnde jeglicher Unabhängigkeit der Richter. Deswegenmeinen wir, dass der Einsatz der Richter in ihren konkre-ten Arbeitsfeldern nicht in die Hände der Politik gehört,sondern der Präsidien der Gerichte selber. In diesemRahmen bewegt sich auch unser Vorschlag zur so ge-nannten Zusammenlegung der Sozial- und Verwaltungs-gerichtsbarkeit: beide Gerichtsbarkeiten unter ein ge-meinsames Dach mit einem gemeinsamen Präsidium zustellen.Ich will darauf hinweisen, dass die Fünfgliedrigkeitder Fachgerichtsbarkeit in Deutschland zwar im Grund-gesetz festgeschrieben ist; sie steht aber nicht unter einerEwigkeitsgarantie. Deswegen meine ich, dass wir sehrwohl eine Diskussion darüber führen müssen, welcheVerbesserungen zu erwarten sind und welche Einbußenwir dem gegenüberstellen müssen.
Ich hoffe, dass wir gemeinsam – wir brauchen eine ge-meinsame Abstimmung des Bundestages dafür – zu ei-ner Lösung finden können, die in die Zukunft weist,sachgerecht ist und die Rechtsstaatlichkeit in Deutsch-land aufrechterhält.
Alles zusammen genommen ist meine Zwischenbi-lanz: Die rot-grüne Rechtspolitik – Frau Bundesministe-rin Zypries hat Bilanz und Ausblick vor Ihnen ausgebrei-tet – ist voll in Fahrt.
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Jerzy MontagSie beschweren sich, dass wir Ihnen jetzt zu viele Ge-setzentwürfe vorlegen, meine Damen und Herren vonder Opposition.
Während es Ihnen vor einem Jahr zu wenige waren,müssen Sie jetzt schwitzen und nacharbeiten, um das,was wir Ihnen zur Bearbeitung vorlegen, zumindest zulesen.
Ich hatte im Rahmen der Haushaltsdebatte über dieseFrage einen Disput mit dem werten Kollegen Fricke vonder FDP. Wir haben uns über die Frage des Jugendstraf-vollzuggesetzes unterhalten.
Seit April liegt Ihnen ein Gesetzentwurf vor.
Dazu haben wir noch nichts gehört. Dabei handelt essich um den ersten Gesetzentwurf zu diesem Thema seitvielen Jahren. Er stammt von uns, nicht von Ihnen. Siewerden sich aber damit auseinander setzen müssen.
Zum Schluss will ich noch etwas zu der Frage ausfüh-ren, was wir in unserer Rechtspolitik von der Oppositionübernehmen. Aus der Fülle der Beispiele, die sich dafüranbieten, will ich das Justizmodernisierungsgesetz he-rausgreifen. Wir haben in diesem Zusammenhang ver-nünftige Vorschläge unterbreitet, vernünftig und ruhigmit Ihnen diskutiert und Ihnen klar gemacht, dass IhrJustizbeschleunigungsgesetz nicht praktikabel und sinn-voll ist. Daraufhin haben Sie Ihren Entwurf zurückgezo-gen und unser Justizmodernisierungsgesetz unterstützt.Wir haben es als „Erstes Justizmodernisierungsgesetz“bezeichnet und sind so zu einem Ergebnis gekommen.Eine solche Mitarbeit von Ihrer Seite wünsche ich mirauch für die zweite Hälfte.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Fricke.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Herr Kollege Montag, es ist richtig und es ist auchgut, dass das Gesetz zustande gekommen ist. Wir habenaber noch weitere Projekte im Strafvollzug vor uns, beidenen es auch zu Ergebnissen kommen muss. Aber dazuwerden Sie – davon haben Sie uns ja überzeugt – sicher-lich entsprechende Vorschläge vorlegen, um uns zumSchwitzen zu bringen.Die FDP-Fraktion ist froh, wenn sie ob möglichst vie-ler vernünftiger rechtspolitischer Vorlagen der Regie-rungskoalition oder der Regierung zum Schwitzenkommt. Denn das wäre im Sinne unseres Rechtsstaatsund es wäre besser als das, was bisher passiert ist.
Als Haushälter kann man eine einfache Frage stellen:Wie viel kostet den Bundesbürger das Bundesjustizmi-nisterium in seinem Einzelplan? Es kostet jeden Bundes-bürger 20 Cent bezogen auf das ganze Jahr. Das sind20 Cent für den Rechtsstaat und kein einziger Cent mehr.Die von Ihnen beschriebene gute Entwicklung, FrauMinisterin, dass die Höhe der Einnahmen inzwischennahezu der Höhe der Ausgaben entspricht, mag zwarnett sein, aber Sie wissen genau, dass wir die gute Ein-nahmesituation nur einer Cash Cow zu verdanken haben,die ihren Sitz in München hat. Dabei handelt es sich umdas Deutsche Patent- und Markenamt, das diese Mittelauswirft.Ob wir das auf Dauer halten können, ist im Hinblickauf die europäische Rechtsprechung fraglich. Wenn dieEinnahmen aus diesem Bereich wegbrechen sollten,dann sehe ich nicht, dass Herr Diller das aus seinemHaushalt bezahlen wird. Vielmehr wird dann Druck aufunseren Einzelplan ausgeübt werden. Ob er diesenDruck angesichts eines so knapp genähten Haushaltesaushalten wird, wage ich – mit Verlaub – zu bezweifeln.Wenn man über den Justizhaushalt diskutiert – HerrKollege Montag, hier komme ich auf das zurück, wasSie gesagt haben –, dann muss man auch über diejenigenreden, die Justiz betreiben, beispielsweise die Gerichte.Da ich bei den Fachgerichtsbarkeiten eine ähnlicheSichtweise habe, bitte ich die Koalition, noch einmal insich zu gehen und darüber nachzudenken, warum zweiFachgerichtsbarkeiten außerhalb des Justizministeriumsangesiedelt sind. Denn man darf nicht vergessen: Jemehr Fachgerichtsbarkeiten außerhalb des Justizministe-riums angesiedelt werden, desto mehr werden sie Über-legungen anheim fallen, die nicht unbedingt etwas mitdem Rechtsstaat zu tun haben und allgemeinen Einspar-möglichkeiten geschuldet sind.Herr Kollege Götzer, ich glaube, Sie haben selber ein-gesehen, dass man nicht 5 Prozent des Justizhaushaltseinsparen kann.
Ich bin mir nicht sicher, wie Herr Stoiber seinen Vor-schlag gemeint hat. Ich sehe hier jedenfalls eine Gefahrfür den Rechtsstaat. Denn wenn man knapp kalkuliert,wenn man klare Kanten festlegt, wo sollen dann noch5 Prozent eingespart werden?Da Rechtsschutz nur aufgrund guter Rechtsberatungmöglich ist, möchte ich kurz das Rechtsberatungs-gesetz ansprechen, das uns mit Sicherheit noch in dennächsten Wochen und Monaten beschäftigen wird. Es ist
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Otto Frickerichtig, dass wir dieses Gesetz modernisieren wollen.Das ist sicherlich auch notwendig. Wir müssen uns indiesem Bereich bestimmt von einigen althergebrachtenDingen trennen. Aber eines möchte ich ganz klar unddeutlich sagen: Wir müssen wissen, wen wir mit diesemGesetz schützen wollen. Ich hatte in der Sommerpausewieder Gelegenheit, ein wenig meinem Beruf als Anwaltnachzugehen.
– Das ist eine Frage, wie viel Zeit man aufwendet, liebeKollegin. – Als Anwalt sage ich, dass wir es angesichtsder Anwaltsschwemme nie und nimmer schaffen wer-den, Anwälte durch das Rechtsberatungsgesetz zu schüt-zen. Ich glaube, darin sind wir uns alle einig; denn einAnwalt kann angesichts der großen Konkurrenz nichtmehr dadurch geschützt werden, dass er „kleinereDinge“ in einer vernünftigen Einnahme-Überschuss-Rechnung darstellt. Das klappt einfach nicht mehr.Was wir aber von einer guten Rechtsberatung, einerguten Rechtsdienstleistung erwarten dürfen, ist ein Ver-braucherschutz, der zwei Dinge ermöglicht: Der Ver-braucher muss erstens wissen, an welchen Anwalt ersich vertrauensvoll wenden kann, und muss zweitens si-cher sein, dass er nicht ins Leere fällt, wenn der Anwaltirrt, an den er sich gewendet hat. Ich bitte Sie, genau zuprüfen, ob die von Ihnen geforderte Haftpflichtversiche-rung hier wirklich ausreicht; denn wenn im Rechts-schutzbereich ein Bürger ins Leere fällt und auf seinemSchaden sitzen bleibt, dann ist das zum Schaden des ge-samten Rechtsstaates.
Ich möchte noch einen anderen Punkt im Zusammen-hang mit dem Rechtsberatungsgesetz ansprechen. Ichmöchte im Rechtsberatungsbereich keine Interessen-kollision; denn das zeichnet den Beruf des Anwalts aus.Das mag zwar auch andere Berufsgruppen auszeichnen.Aber ich sage Ihnen ganz klar: Eine Bank, eine Versiche-rung oder ein Automobilklub wie der ADAC haben im-mer eigene Interessen. Wenn wir nicht klarstellen, dasses keine Kontroversen gibt, dann wird das Rechtsdienst-leistungsgesetz im Zweifel nicht den Effekt erzielen, denwir haben wollen.Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, beidem wir von der FDP in den nächsten zwei Jahren nochReformbedarf sehen. Das ist die Telefonüberwachung,die heute noch gar nicht erwähnt worden ist. Hier erwar-ten wir einiges mehr. Hier wird sicherlich viel harte Ar-beit notwendig sein. Aber hier muss sich etwas tun. Ichbin gespannt, wie die Koalition das lösen wird.
Die Reform des Jugendstrafvollzugs ist auf dem Weg.Im Bereich der Untersuchungshaft ist der Weg der Re-formen noch nicht beschritten worden. Das wird aber er-forderlich sein. Im Bereich Graffitibekämpfung tut sichnoch immer nichts, wobei ich es wichtig finde, dass wirregelmäßig alle zehn Sitzungswochen über das ThemaGraffiti reden. Vielleicht höhlt der stete Tropfen selbstden ströbeleschen Stein irgendwann einmal aus.
Zum Abschluss noch Folgendes: Das Buch, welchesich hier in der Hand halte, werden Sie sicherlich kennen,Frau Ministerin, es ist das „Handbuch der Rechtsförm-lichkeit“. Ein Justizhaushalt mit wenig Geld bedeutet,dass man beim Personal auf das beschränkt ist, was nochmöglich ist. Das momentane Zusammenspiel von Bun-destag und Bundesrat sowie die handwerklichen Män-gel, die wir bei Gesetzen feststellen, deuten für mich an,dass die Rechtsförmlichkeitsprüfung im Endeffektnicht mehr richtig erfolgt. Beim Verfassungsrecht undbeim Völkerrecht erfolgt sie zumindest nach außen – obsie nach innen durchgeführt wird, kann ich nicht beurtei-len; das findet sich auch in dem Handbuch, das Ihre Vor-gängerin in zweiter Auflage herausgegeben hat – über-haupt nicht mehr.Als Haushälter darf ich Sie nur bitten – auch im Hin-blick auf den Schadensersatz, der uns bei der Biopatent-richtlinie droht, und den Verstoß gegen alle möglichenStabilitätsrichtlinien, die für uns gelten –: Prüfen Sie ge-nau und prüfen Sie auch fordernder! Lassen Sie sich imZweifel nicht – siehe Caroline-Urteil – durch unjuristi-schen Rat in die falsche Richtung drängen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ministe-rin hat eine eindrucksvolle Bilanz der ersten zwei Jahredieser Legislaturperiode vorgelegt. Sie hat einen Aus-blick auf das gegeben, was wir in den kommenden zweiJahren noch alles vor uns haben. Herr Kollege Götzer,was Sie hier vorgetragen haben, hatte mit der Realitätwenig zu tun. Die Gespenster rot-grüner Rechtspolitik,die Sie heute Abend hier durch den Reichstag haben rei-ten lassen, waren nichts anderes als schwarze Ideologie.Das will ich Ihnen dazu einmal sagen.
Ich denke, mehr ist dem nicht hinzuzufügen.Der Kollege Fricke hat zu Recht darauf hingewiesen,dass Ihr ehemaliger Kanzlerkandidat Stoiber den Vor-schlag gemacht hat, bei diesem Haushalt noch einmal5 Prozent einzusparen. Das Volumen des Einzelplans desBundesministeriums der Justiz beträgt 339 MillionenEuro. Würden wir dem Vorschlag von Stoiber folgen,müsste der Justizhaushalt um 17 Millionen Euro gekürztwerden. Sie sollten uns bis zur zweiten und dritten Le-sung sagen, wo wir das im Ergebnis machen sollen.
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11068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Joachim StünkerIhre Diskussionsbeiträge und vor allen Dingen IhreNovellierungsvorhaben – wir treffen uns diese Wochewieder und wollen über Ihr Begehren, Herr Montag, undunser Begehren reden, etwas beim Opferentschädi-gungsgesetz zu machen – wären glaubwürdiger, wennSie uns auf der anderen Seite sagten, wo wir weitere17 Millionen Euro einsparen sollen. Wenn wir nämlichunser gemeinsames Vorhaben umsetzen, dann werdendiese 17 Millionen Euro, die auf der einen Seite einge-spart werden, auf der anderen Seite gleich wieder ausge-geben. Handeln und Reden müssen also irgendwie inÜbereinstimmung gebracht werden. Das ist genau das,was bei Ihnen auf der Strecke bleibt.Herr Kollege Fricke, Sie haben ein Jugendstrafvoll-zugsgesetz angemahnt. Sie haben uns dafür gelobt, dasses jetzt da ist. Sie haben dieses schöne Beispiel mit den20 Cent gebracht. Es bezog sich wohl auf den Bundes-haushalt. Beim Jugendstrafvollzugsgesetz wird manwieder einmal eines der großen Probleme der Rechts-politik erleben: 16 Länder werden bei uns auf der Mattestehen, sie werden uns sagen, wie teuer die Umsetzungall der guten Vorschläge der Bundesjustizministerin ist,und man wird erklären, warum man das so nicht wirdmachen können. Herr Kollege Götzer, dann sind wirwieder bei den Realitäten der Rechtspolitik. Denen soll-ten wir uns dann einmal zuwenden.Ich kann Ihnen heute Abend hier nur sagen: Wir, Rot-Grün, sind – um einen größeren Bogen zu spannen – stolzauf das, was wir in der Rechtspolitik seit 1998 erreichtund auf den Weg gebracht haben. Wir haben nämlichden Stillstand von 16 Jahren Kohl-Regierung überwun-den.
Ich sage Ihnen: Seit 1998 hat die Rechtspolitik keinMauerblümchendasein mehr geführt, sondern sie stehtwiederholt im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Dis-kurses.
Ich muss mich ein bisschen beeilen, weil mir meineVorredner ein bisschen Zeit weggenommen haben, wiemir gesagt wurde.
– Nein, nein. – Wir Sozialdemokraten haben heuteAbend noch ein Hoffest. Dahin wollen wir gleich noch.Ein Punkt ist mir ganz wichtig. Ich bin dankbar dafürund finde es gut, dass es uns gelungen ist – das habenwir 1998 angestoßen –, dafür zu sorgen, dass die seit lan-gem überfällige Reformdebatte in der Justiz jetzt endlichauch in einem breiteren Feld und mit einem breiten Kon-sens eröffnet worden ist. Kein anderes Thema beschäf-tigt die Rechtspolitik in Bund und Ländern seit 50 Jah-ren nämlich so sehr wie die Modernisierung der Justiz.Wir alle wissen, wie weit wir in 50 Jahren gekommensind. Letzten Endes ist man im Schneckentempo voran-gekommen.Auch wir, Rot-Grün, haben seit 1998 lernen müssen,wie zähflüssig in der Justiz Reformen voranzubringensind. Dabei ist die Judikative die dritte Säule der Gewal-tenteilung in unserem Verfassungsaufbau. Deshalb isteine effektive, effiziente und transparente Gerichtsbar-keit eine der Grundvoraussetzungen für gesellschaftli-chen Frieden in einem demokratisch verfassten Staats-wesen. Dies gilt umso mehr in Zeiten wie denen, indenen wir leben, nämlich in Zeiten des Wandels und desUmbruchs.Die Justizgewährungspflicht des Staates im Privat-rechtsverkehr der einzelnen Rechtssubjekte hat – dieFrau Ministerin hat darauf hingewiesen – ebenso Verfas-sungsrang wie der Rechtsweg gegen hoheitliche Ent-scheidungen des Staates. Sorge macht uns, dass wir zu-nehmend feststellen müssen, dass wir das nicht mehr sozügig umsetzen können, wie das in unserer Gesellschaftnotwendig wäre. Das ist ein Problem, das uns im Ergeb-nis alle gemeinsam angeht und bei dem wir als Deut-scher Bundestag gemeinsam, wie ich meine, an Lösun-gen zu arbeiten haben. Deshalb ist nach meinerÜberzeugung eine große Justizreform unumgänglich; ichbetone: unumgänglich. Wir sollten gemeinsam über dieFrage der großen Justizreform reden.Diese große Justizreform muss meines Erachtensdrei wesentliche Ziele erreichen: Wir wollen entschei-den, was zukünftig wichtig ist. Das ist die Frage derKonzentration. Wir wollen einfach und klar arbeiten, da-mit die Bevölkerung die Justiz versteht. Das ist die Frageder Deregulierung. Wir wollen abgeben, denke ich, wasandere ökonomischer erledigen können.
Ich bin sehr froh und dankbar, dass wir vor der Som-merpause gemeinsam schon ein so genanntes ErstesJustizmodernisierungsgesetz haben verabschieden kön-nen. Aus der Erfahrung der guten Zusammenarbeit da-bei, Herr Kollege Röttgen, bitte ich Sie, dass wir die Ar-beit und die Diskussion aufnehmen, um in dieserLegislaturperiode möglichst noch zu einem Zweiten Jus-tizmodernisierungsgesetz zu kommen.
Ich möchte den Gedanken aufnehmen, den HerrMontag schon geäußert hat. Ich bin der Justizminister-konferenz sehr dankbar dafür, dass sie auf ihrer Tagungvom 17. bis 18. Juni dieses Jahres in Bremen einen, wieich finde, wirklich wichtigen Ansatz für eine grundle-gende Strukturreform beschlossen hat. Zum Thema derErrichtung einer einheitlichen öffentlich-rechtlichenFachgerichtsbarkeit hat die Konferenz wie folgt be-schlossen: Wir sprechen uns für die Schaffung einer bun-desrechtlichen Länderöffnungsklausel aus, die es denLändern ermöglichen soll, Fachgerichtsbarkeiten zusam-menzuführen. – Es geht nicht darum, zusammenzulegen,sondern darum, zusammenzuführen, das heißt im Ergeb-nis, kooperativ zu führen. Das ist der entscheidende Un-terschied dabei.
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Joachim StünkerDie Länder Baden-Württemberg und Sachsen, HerrKollege Röttgen, haben in Vollzug dieses Beschlusseszwischenzeitlich einen entsprechenden Vorschlag imBundesrat eingebracht. Dieser Ansatz einer Strukturre-form ist nach meiner festen Überzeugung zu unterstüt-zen. Ich betone das mit Nachdruck und sage das im Wis-sen um die Probleme und auch im Wissen um dieGegner einer solchen Reform.Wir haben in Deutschland circa 20 900 Richterinnenund Richter. Hiervon arbeiten in der ordentlichen Ge-richtsbarkeit 15 456, in der Verwaltungsgerichtsbarkeit2 316, in der Sozialgerichtsbarkeit 1 274 und in derFinanzgerichtsbarkeit 661. Dass die kooperative Zusam-menfügung dieser drei zuletzt genannten Gerichtsbarkei-ten unter einem organisatorischen Dach personalwirt-schaftliche Vorteile für die Länder hat
und auch Synergieeffekte mit sich bringt, ist letztlich un-abweisbar; das kann niemand bestreiten.Deshalb bedauere ich sehr, Herr Kollege Röttgen,dass Sie am 8. Juli dieses Jahres mit einigen Sprecher-kollegen Ihrer Fraktion diesen Vorschlag der beidenLänder bereits in Bausch und Bogen abgelehnt haben,bevor die Diskussion überhaupt begonnen hat.
Ihre Begründung war vordergründig populistisch – wirstehen vor wichtigen Landtagswahlen – und nichts ande-res, Herr Kollege Röttgen.
Sie war in sich auch nicht stimmig. Die Frau Ministerinhat schon darauf hingewiesen: Wenn Sie im Rahmen un-serer Diskussion in der Föderalismuskommission verfas-sungsunmittelbare Zugriffe der Länder befürworten,dann können Sie einer solchen Öffnungsklausel inhalt-lich nicht widersprechen.
Das hat keine Stringenz und macht auch keinen Sinn,Herr Kollege Röttgen.
Es ist einfach schädlich und schade, wenn wir die Fragender Modernisierung der Justiz dem Populismus ausset-zen und der Alltagspolitik überlassen; denn dann kom-men wir in der Modernisierung nicht weiter.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Röttgen? An sich ist Ihre Redezeit schon abgelaufen.
Natürlich. Herrn Röttgen gestatte ich das immer gern.
Das ist eine solidarische Aktion, um Ihre Redezeit et-
was zu verlängern.
Herr Kollege Stünker, wir haben Argumente für diese
Position vorgetragen und in die Diskussion eingebracht.
Ich glaube, es ist legitim, wenn jeder seine Position ver-
tritt. Es kann aber nicht sein, dass die einen Gesetzesent-
würfe einbringen und die anderen dazu keine Meinung
haben dürfen. Wir haben argumentativ Position bezogen.
Die Neigung, eine solche vorschnell als populistisch
oder sonst was zu verurteilen, sollte man vielleicht eher
unterdrücken.
Nun komme ich zu meiner Frage. In der Föderalismus-
debatte, die Sie angesprochen haben, haben Sie ja große
Vorbehalte gegenüber den Zugriffsrechten geäußert. Sie
machen ja auch keinen Vorschlag, wie das Gerichtswesen
in der Bundesrepublik Deutschland bundeseinheitlich or-
ganisiert werden kann, sondern Sie unterstützen und be-
fürworten den Vorschlag der Länder, eine Öffnungsklau-
sel einzuführen, also dass jedes Land für sich selbst
entscheiden soll, wie es das öffentlich-rechtliche Ge-
richtswesen organisiert. Sind Sie nun der Auffassung,
dass wir das Gerichtswesen föderalisieren, also die ent-
sprechende Gesetzgebungskompetenz den Ländern über-
tragen sollen, oder sind Sie nicht dieser Auffassung?
Ich bin natürlich nicht dieser Auffassung, Herr Kol-lege Röttgen. Ich habe erstens darauf hingewiesen, dasses nicht stimmig ist, wenn Sie im Zusammenhang mitder Öffnungsklausel eine gewisse Zersplitterung bekla-gen,
obwohl sich eine ganz andere Zersplitterung durch dieEinführung der von Ihnen befürworteten verfassungsun-mittelbaren Zugriffsrechte im materiellen Recht ergäbe.Natürlich wünsche ich mir keine Zersplitterung.Das Zweite ist – das wissen Sie genauso gut wie ich –,dass eine Öffnungsklausel immer der erste Fuß in der Türist, um auf lange Sicht zu dem Ergebnis zu kommen, dasman sich letztendlich wünscht. So verstehe ich die Funk-tion von Öffnungsklauseln, von denen wir ja auch schonin anderen Bereichen Gebrauch gemacht haben.Lassen Sie mich von daher noch einmal sagen: Mirliegt es wirklich am Herzen, hier in diesem Parlamentbei der Diskussion über eine Modernisierung der Justizvoranzukommen. Wir sind in den letzten Jahren ein gu-tes Stück weit vorangekommen, nachdem wir 50 Jahrehinterhergehinkt und im Grunde keine großen Ergeb-nisse erzielt haben. Es wäre eine große Leistung, wennwir gemeinsam zumindest die ersten Schritte gehen wür-den. Diese sind einfach dringend notwendig vor demHintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung, die wirheute haben bzw. die wir noch vor uns haben.Schönen Dank.
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11070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 7. September 2004
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Jetzt hat noch einmal der Kollege Norbert Barthle das
Wort.
Danke, Frau Präsidentin. Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Es ist gut, dass ich heute zum Ab-schluss eines langen Tages der Debatten über den Bun-deshaushalt 2005 als Haushälter zum Justizhaushaltreden darf. Ich nehme nämlich an, das gibt einen dochetwas versöhnlicheren Abschluss.Es war heute ja viel die Rede von einem offenkundigverfassungswidrigen und unsoliden Haushaltsentwurfsowie von Makulatur. Von daher ist es ganz gut, amAbend dieses Tages über ein kleines feines Ministeriummit unbeugsamen Staatsdienern zu sprechen, das sichwie Asterix standhaft dem Trend zu immer höhererStaatsverschuldung widersetzt. Da, Frau Zypries, ist eswohl am besten, wenn ich die Zahlen sprechen lasse,denn sie sprechen für sich. Ihre Einnahmen, die rund95 Prozent des Etats abdecken, sollen 2005 von 312 auf322 Millionen Euro steigen. Gleichzeitig ist ein Rück-gang der Gesamtausgaben von 340 auf 338 MillionenEuro vorgesehen.
Vorausgesetzt, dass Ihre Zahlen stimmen und nicht wiebei Herrn Eichel die Ausgaben heruntergerechnet unddie Einnahmen hochgerechnet wurden,
möchte ich Sie auch im Namen der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion ganz herzlich zu Ihrem Musterhaushalt be-glückwünschen. Ich meine sogar, es wäre ganz gut,wenn der Herr Diller Ihren Haushalt allen Kabinettskol-legen als Bettlektüre zur Verfügung stellen würde. Daswäre vielleicht eine Möglichkeit, davon zu lernen.
Wenn man sich den Haushalt anschaut, stellt man fest,dass sich kaum Veränderungen gegenüber dem Vorjah-resentwurf ergeben haben. Das ist so in Ordnung. Beivielen Ansätzen – sächliche Ausgaben, Personalausga-ben usw. – sind wir nämlich sozusagen am Rande des-sen, was machbar ist. Es gibt nurmehr wenige Möglich-keiten für Einsparvorschläge. Ich denke an IT-Ausgabenund Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit. Wir werdendementsprechende Vorschläge machen.Für die Öffentlichkeitsarbeit haben Sie 263 000 Eurovorgesehen. Das ist im Vergleich zu anderen Ministerienwohltuend wenig. Viel sparen lässt sich da sicherlichnicht,
denn der Etat ist nicht hoch. Aber auch Kleinvieh machtbekanntlich Mist.
Wenn ich mir den Haushalt des Generalbundesan-walts anschaue, finde ich allerdings schon noch einenkleinen Schönheitsfleck in Ihrem Etat. Seit ich Haushäl-ter bin, genau seit zwei Jahren, argumentiere ich immergegen einen bestimmten Titel, und zwar gegen den Titel„Härteleistungen für Opfer rechtsextremistischerGewalt“. Ich meine nach wie vor, dass dieser Titel Aus-druck einer ideologisch bedingten Einäugigkeit der rot-grünen Bundesregierung ist. Die Ausführungen des Kol-legen Edathy, der nicht mehr unter uns ist, haben mich indieser Auffassung bestätigt.
Wenn ich allerdings sehe, dass Sie für diesen Titel nurnoch 500 000 Euro vorgesehen haben, für den ursprüng-lich einmal 5 Millionen Euro angesetzt waren, dann binich zuversichtlich, dass er im nächsten Haushalt vollendsausläuft. Und seien wir ehrlich: Eigentlich war er schonimmer als Steinbruch für die Umsetzung der globalenMinderausgabe vorgesehen. Insofern war es vielleichtganz gut, dass es ihn gab; aber der Haushaltsklarheit undHaushaltswahrheit dient das nicht.Auch dieses Jahr droht dem Justizetat eine globaleMinderausgabe von 3 Millionen Euro. Ich bin gespanntauf Ihre Vorschläge, Frau Ministerin. Ich sehe, wie ge-sagt, nur wenige Bereiche, in denen Sie noch sparenkönnen. Beim Deutschen Patent- und Markenamtkönnen wir mit Sicherheit nicht sparen; denn damit wür-den Sie die Kuh schlachten, von deren Milch Sie leben.Das DPMA hat – das wurde schon gesagt – im kommen-den Jahr erhöhte Einnahmen zu erwarten. Deshalb musses unser Bemühen sein, die Arbeitsmöglichkeiten desDPMA kontinuierlich und stetig zu verbessern. Ich binfroh, dass Sie unseren diesbezüglichen Anregungen auchimmer gefolgt sind.Ein Blick auf die Zahl der Patentanmeldungen zeigt,dass in den ersten sieben Monaten des Jahres 2004 ge-genüber dem Vorjahr eine Steigerung von 5 Prozent zuverzeichnen ist.
Das heißt, in diesem Land gibt es nach wie vor Kreativi-tät und ein hohes Potenzial an Erfindungsgeist.
Nebenbei bemerkt liegt Baden-Württemberg da ganzvorne und in Baden-Württemberg liegt mein Heimat-kreis, der Ostalbkreis, ganz vorne. Wir sind das Land derTüftler und Denker, eine Region für Patente und Talente,und so soll es auch bleiben.
Dass das Deutsche Patent- und Markenamt auch einExportschlager ist, wissen wir. Wir konnten uns erst un-längst in China davon überzeugen, dass viele uns in die-
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Norbert Barthlesem Bereich nacheifern. Deshalb kann ich Sie nur be-stärken, dort nicht zu sparen.Insofern glaube ich, dass der Entwurf des Einzel-plans 07 eine gute Beratungsgrundlage darstellt. Den-noch darf ich Ihnen zusichern, dass wir von der Unionuns an allen Bemühungen, einen verfassungsgemäßenHaushalt vorzulegen, konstruktiv beteiligen werden.Wir von der Union werden auch zu Ihrem Haushalt Ein-sparvorschläge machen, wenn auch nicht in der Größen-ordnung von 3 Prozent, wie es dem Beschluss unsererArbeitsgruppe entsprechen würde. Es ist klar, dass dasin Ihrem Etat nicht machbar ist. Aber wenn man sparenwill, kann man ein bisschen auch bei Ihnen sparen. Woernsthaft gespart werden soll, finden sich auch Berei-che, in denen Einsparvorschläge realisiert werden kön-nen. Das gilt auch für Ihr so mustergültiges Ministe-rium.
In diesem Sinne wünsche ich uns erfolgreiche Bera-tungen. Ich bedanke mich für die Geduld nach diesemlangen Tag und wünsche noch einen schönen Abend –vielleicht bei den Bayern, denn die feiern heute den Ein-stieg ins Oktoberfest.
Ich glaube, an diesem schönen Sommerabend gibt es
ein paar Angebote.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind da-
mit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Mittwoch, den 8. September,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Schönen Abend!