Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten können, müssen einige Mitglieder in Gremien neu gewählt werden.
Aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes scheidet Frau Kollegin MatthäusMaier als ordentliches Mitglied aus. Die Fraktion der SPD schlägt vor, daß Frau Kollegin Anke Fuchs , bisher stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß, an ihre Stelle tritt. Als neues stellvertretendes Mitglied wird Frau Kollegin Gudrun Weyel vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit sind die Kollegin Anke Fuchs als ordentliches Mitglied und die Abgeordnete Gudrun Weyel als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß eingesetzt.
Aus dem Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes scheidet ebenfalls Frau Kollegin Ingrid Matthäus-Maier als ordentliches Mitglied aus. Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolger Herrn Kollegen Harald Schäfer , der bisher stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß war, vor. Neues stellvertretendes Mitglied soll Herr Kollege Gunter Huonker werden.
Sind Sie auch damit einverstanden? — Das ist der Fall. Damit sind der Abgeordnete Harald Schäfer als ordentliches Mitglied und der Abgeordnete Gunter Huonker als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.
Wir setzen jetzt die Aussprache zu Punkt 1 der Tagesordnung fort.
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1992
— Drucksache 12/1000 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 — Drucksache 12/1001 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
Nach der interfraktionellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache insgesamt neun Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Als erster Redner hat Herr Bundesminister Möllemann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die wirtschaftliche Entwicklung im vereinten Deutschland hat zwei ganz verschiedene Gesichter. In den alten Bundesländern läuft der Konjunkturmotor weiter stetig mit guter Tourenzahl. Die Wachstumsimpulse sind nach wie vor durch den Nachholbedarf in den neuen Bundesländern geprägt und schlagen sich unverändert in den Auftragsbüchern der Industrie nieder.Hervorzuheben bleibt: Die Investitionen in den alten Ländern sind weiterhin stark expansiv. Im westlichen Teil der Bundesrepublik ist das Bruttosozialprodukt in der ersten Jahreshälfte 1991 real um 4,5 höher als vor einem Jahr. Dieses hohe Tempo wird die Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte nicht ganz halten können. Die Gründe: Zum einen haben sich die Exportüberschüsse gegenüber früheren Jahren zurückgebildet, und zum anderen wird sich die inländische und zum Teil stürmische Nachfrage bei den privaten Verbrauchern im Jahresverlauf etwas beruhigen. Dabei dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, daß die Steuer- und Abgabenerhöhungen zur Finanzierung der Einigungslasten auch Spuren hinterlassen.Seit geraumer Zeit ist die Bundesrepublik der Wachstumsmotor in Europa. In einer konjunkturellen Schwächeperiode der Weltwirtschaft steht sie in einer besonderen Verantwortung. Gerade unsere Partner in Europa verfolgen mit Interesse, ob der Konjunkturkessel in der Bundesrepublik weiter unter Dampf bleibt. Wohl und Wehe vieler unserer Handelspartner sind mehr denn je mit einer starken deutschen Wirtschaft verknüpft. Der Nachfragesog im Gefolge der Einheit hat einen erheblichen Beitrag zur Stützung
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3122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Bundesminister Jürgen W. Möllemannder Weltkonjunktur geleistet und das Nachlassen der Wirtschaftskräfte dort zum Teil ausgleichen können.Im ersten Halbjahr dieses Jahres haben wir für 20 Milliarden DM mehr Güter importiert, als wir selbst auf den Weltmärkten abgesetzt haben. Der ehemalige Exportweltmeister Bundesrepublik zeigt sich in einem anderen Gewand. Diese Entwicklung ist durch Sonderfaktoren der deutschen Einheit sicher überzeichnet. Mittelfristig können wir deshalb eine Normalisierung der Handelsströme erwarten.Die jetzt eingetretene Beruhigung bei den Auftriebskräften ist kein Rezessionsvorbote. Wenn die Finanzpolitik die Konsolidierung weiter ernst nimmt und die Tarifparteien ihrer gesamtwirtschaftlichen Mitverantwortung entsprechen, wird die Konjunktur robust bleiben und wird sich die Wirtschaftsleistung auch im nächsten Jahr auf dem Wachstumspfad bewegen.
Meine Damen, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anpassungskrise in den neuen Bundesländern war unvermeidlich. Das Bruttosozialprodukt der neuen Bundesländer machte im ersten Halbjahr lediglich 8,3 % der westdeutschen Wirtschaftsleistung aus. Die Betriebe sind zu einem guten Teil personell noch überbesetzt. Die Folge liegt rechnerisch auf der Hand, nämlich eine Produktivität von deutlich weniger als 30 % im Vergleich zwischen Ost-und Westdeutschland.Tatsache ist aber auch, daß die Anpassung in vollem Gange ist. Positive Signale in Teilbereichen, etwa im Baubereich, sind sichtbare Zeichen der wirtschaftlichen Regenerierung. Im nächsten Jahr können wir realistischerweise mit 60 Milliarden DM rechnen, die mit Hilfe der Fördermaßnahmen und der investiv wirksamen Anreizpolitik der Bundesregierung von der Wirtschaft in Ostdeutschland plaziert werden. Wachstumsraten bis zu 10 % im Osten werden dann in einem dynamischen Aufholprozeß durchaus möglich sein.Die zunehmende Einübung marktwirtschaftlicher Denk- und Verhaltensweisen in Handel, Handwerk und Dienstleistungswirtschaft ist der Boden, auf dem die wirtschaftliche Erneuerung gedeiht.
Die fortschreitende Privatisierung von Treuhandunternehmen, Kooperationen zwischen ost- und westdeutschen Betrieben und die Existenzgründungen schaffen und sichern viele wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Allein im Mittelstand der neuen Bundesländer werden in diesem Jahr über 400 000 neue Arbeitsplätze entstehen.Wir legen Wert auf eine allgemeine Investitionsförderung, die allen die gleichen Chancen bei wirtschaftlichem Neubeginn eröffnet. Der Markt muß der Kompaß für lohnende Investitionen sein.
Mit aktiver Struktursteuerung und Investitionslenkung in einzelnen Regionen haben die Menschen inder DDR 40 Jahre lang schlechte Erfahrungen gemacht. Wer glaubt, hier den Stein der Weisen gefunden zu haben — wie etwa mit dem sogenannten nationalen Aufbauprogramm die Kolleginnen und Kollegen von der SPD — , stellt grundlegende Prinzipien unserer Wirtschaftsordnung ohne Not in Frage.
Die noch bestehenden wirtschaftlichen Verwerfungen in Ostdeutschland treten naturgemäß am Arbeitsmarkt deutlich zutage.
— Nun seien Sie doch nicht gleich am Anfang schon polemisch.
Am frühen Morgen! Entspannt bleiben!
Den ständig neuen Beschäftigungsrekorden im Westen steht der Abbau unproduktiver Arbeitsplätze im Osten gegenüber.
— Also, ich bin heute morgen wieder einmal um 5 Uhr aufgestanden, um von Münster in Westfalen hierher zu kommen.
Dann kann man mich doch nicht als Spätaufsteher bezeichnen. Ich bin also ganz schön wach!Die nochmals sprunghaft gestiegene Zahl von Menschen, die sich bei den Arbeitsämtern beschäftigungslos gemeldet haben, ist auf Sondereinflüsse der ausgelaufenen Kündigungsschutzabkommen und der Warteschleifenregelungen im öffentlichen Dienst zurückzuführen. Ohne etwas beschönigen zu wollen: Im Jahresdurchschnitt 1991 dürfte die Arbeitslosenzahl bei etwas über 1 Million liegen. Zum Jahresende könnte sie auf ca. 1,5 Millionen ansteigen. Das ist viel; das ist zu viel, insbesondere aus der Sicht der ganz konkret Betroffenen. Aber es ist erfreulicherweise deutlich weniger, als viele von uns hier befürchtet haben. Der Prozeß verläuft positiver als erwartet.Der Anpassungsprozeß ist unvermeidlich, wenn wir dauerhafte Beschäftigung in wettbewerbsfähigen Betrieben aufbauen wollen. Deshalb müssen wir von den Menschen die Bereitschaft fordern, sich mit Qualifizierung und Mobilität das Rüstzeug für die modernen Arbeitsplätze anzueignen. Ich rufe deshalb die Bürger in Ostdeutschland erneut zur notwendigen Geduld und gleichzeitig zur Initiative auf. Nehmen Sie die Angebote zur Aus- und Fortbildung wahr! Las-
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Bundesminister Jürgen W. Möllemannsen Sie sich von den Schwierigkeiten im Übergang nicht entmutigen!
Meine Damen und Herren, mit Sorge sehen wir die Lohnsteigerungen und die zum Teil schon bis 1994 festgelegten weiteren Entwicklungen. Diese haben manchen der um ihre Existenz kämpfenden Betriebe eine Kostenlawine beschert, die den Abbau vieler Arbeitsplätze erheblich beschleunigt hat. Diese Entwicklung erweist sich für die Arbeitnehmer als Bumerang.
Die Lohnentwicklung hat die Orientierung an der Produktivität inzwischen verloren.
Die Folgen dieser verfehlten Tarifpolitik machen sich auch in den Staatskassen bemerkbar. Zusätzliche Transferzahlungen aus dem Westen werden für konsumtive Zwecke erforderlich und stehen für die bedeutsameren investiven Aufgaben, etwa bei der Modernisierung der Infrastruktur, nicht mehr zur Verfügung.Bei allem Verständnis für den Wunsch nach Einkommensangleichung kann man derartig grundlegende Zusammenhänge nicht ungestraft ignorieren. Das gefährdet auch die wirtschaftliche Stabilität im Westen, auf die wir dringend angewiesen sind. Ich wiederhole hier meinen Vorschlag, an Öffnungsklauseln bei Tarifverträgen vorurteilsfreier heranzugehen.
Die Menschen in den Unternehmen, die vor die Wahl gestellt werden — zeitlich begrenzte Abweichung vom Tariflohn oder Betriebsschließung? — , denken in dieser Frage vielleicht etwas anders als die Gewerkschaftszentralen in Stuttgart und Frankfurt.
Ich stelle inzwischen im übrigen eine größere Flexibilität bei der SPD fest, die sich mittlerweile mit dem Gedanken des Investivlohnes offensichtlich angefreundet hat. Wir sollten uns gemeinsam überlegen, wie die berechtigten Anliegen der Beschäftigten und die Notwendigkeit einer Lohnanpassung mit Augenmaß besser miteinander verzahnt werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf die Haushaltsund Finanzpolitik kommt in dieser Situation eine besondere Verantwortung zu. Sie muß die notwendigen Mittel für die Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern zur Verfügung stellen und gleichzeitig den Strukturwandel sozial abfedern. Das ist immer wieder eine schwierige Gratwanderung. Die benötigten Mittel müssen so finanziert sein, daß die Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft nicht überfordert wird. Konstruktives Zusammenwirken aller Beteiligten ist erforderlich. Das bedeut: Die Geldpolitik der Bundesbank braucht die entschlosseneUnterstützung durch Parlament und Regierung. Schon um das Vertrauen ausländischer Investoren nicht zu gefährden, müssen wir den Weg der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen entschlossen weitergehen. Staatsausgaben und Neuverschuldung müssen enger begrenzt werden.Wir dürfen uns auch nicht auf den Ergebnissen der ersten Subventionskürzungsrunde ausruhen. Die Steuerschraube darf sich nicht weiter drehen; sonst verlieren wir das Vertrauen der Bürger und wir verlieren — was genau so schlimm ist — die Gestaltungsfähigkeit in der Politik.Die hohe staatliche Neuverschuldung in diesem Jahr ist durch die Wiedervereinigung entstanden und in ihrer Höhe von etwa 5 % des Bruttosozialprodukts nur mit diesem geschichtlichen Ereignis zu rechtfertigen. Sie wird nach dem Finanzplan der Bundesregierung von 1991 bis 1995 stufenweise auf 25 Milliarden DM zurückgeführt. Damit wird auch die Rückführung der Staatsquote, die uns in den 80er Jahren erfolgreich gelungen war, wieder möglich. Sie bleibt eine vordringliche Aufgabe auf unserem Weg zu mehr Markt und weniger Staat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Beschluß zum Subventionsabbau vor der Sommerpause war ein
wichtiger und notwendiger Kraftakt.
Ich weiß, daß man — auch ich selbst — manches in diesem Vorgang handwerklich und auch in der Präsentation besser hätte machen können.
— Ja, warum nicht? Diejenigen, die hier alles fehlerfrei machen, mögen das für sich reklamieren.
Aber es war ein wichtiger Einstieg in die Verbesserung der Situation der Staatsfinanzen, und ich will jetzt an einem Beispiel deutlich machen, weshalb wir mit bestimmten Argumentationsweisen nicht so fortfahren können, wie es bislang geschehen ist.
Sie erleben in diesen Tagen unablässig — und hier im Parlament ist es auch geschehen — am Beispiel der Subventionen für die deutsche Steinkohle, wie die Fakten ungerührt verdreht werden. Derzeit kostet die Tonne deutscher Steinkohle auf Grund der hohen Kosten, die wir wegen der spezifischen Förderbedingungen aufwenden müssen, knapp 290 DM.
Auf dem Weltmarkt kostet die Tonne im Augenblick 97 DM. Der Differenzbetrag wird von den Menschen in unserem Land über Steuern und Abgaben finanziert. Wir, die Bürger dieses Landes, zahlen im Augen-
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Bundesminister Jürgen W. Möllemannblick für jeden im Steinkohlebergbau tätigen Bergmann pro Jahr 76 000 DM Zuschuß.
Pro Kopf pro Jahr 76 000 DM! Meine Damen und Herren, dies ist nicht durchzuhalten!
Dies kann niemand vernünftigerweise in einer Zeit dauerhaft vertreten, in der wir die Mittel dringend brauchen und in der vor allem kein Mensch daran denkt, den Kumpels im Braunkohlentagebau in den neuen Bundesländern, z. B. in der Lausitz, auch nur ansatzweise eine Arbeitsplatzgarantie zu geben. Dort wird ein drastischer Abbau vorgenommen, um die Braunkohle ohne Subventionen wettbewerbsfähig zu machen.
Wir können — ich sage es noch einmal — einen solchen hohen Subventionsansatz nicht weiter fortschreiben. Es gibt dafür auch in keiner anderen Branche ein Beispiel, und es hat keinen Zweck, den Menschen im Bergbau etwas anderes zu suggerieren. Es wird ihnen zur Zeit immer noch suggeriert.
Meine Damen und Herren, Ausgabenkürzungen bleiben eine ständige Aufgabe über den Subventionsbeschluß hinaus, wenn — wie derzeit — ständig neue, zusätzliche Ausgaben auf uns zukommen. Wir müssen alle Ausgabenpositionen auf ihre Berechtigung überprüfen. Wenn wir z. B. die von allen Parteien des Bundestages befürwortete Korrektur beim Familienlastenausgleich und bei der Flankierung des § 218 in die Wirklichkeit umsetzen wollen — dafür spricht sehr viel; das wird einen Milliardenaufwand kosten —, dann müssen wir den Ausgleich durch Kürzungen an anderer Stelle vornehmen. Es geht nicht an, daß der hierfür erforderliche Betrag entweder durch höhere Steuern oder durch eine Anhebung der Nettokreditaufnahme finanziert wird. Wir werden die Kraft haben müssen, nicht nur segnend durch die Lande zu eilen und den Menschen Neues zu verteilen, sondern ihnen auch zu sagen, was nicht mehr geht. Das ist nicht das Einfachere, aber wir müssen es machen.
Die Belastung mit Steuern und Abgaben hat ihre Grenze erreicht. Die jetzt von der Bundesregierung beschlossene Anhebung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt — —
— Das ist ein guter Vorschlag, aber meine freundschaftliche Vor- und Fürsorge für den Kollegen Norbert würde mich natürlich dazu verpflichten, ganzbesonders vorsichtig zu springen, wenn man das überhaupt kann.
Die jetzt von der Bundesregierung vorgesehene Mehrwertsteueranhebung um einen Prozentpunkt ist wegen der Harmonisierung der Steuern in der Europäischen Gemeinschaft notwendig.
Weitere Belastungen dürfen nicht im Rahmen allgemeiner Steuererhöhungen hinzukommen. Unsere Wirtschaft muß ohnehin die höchsten Lohnzusatzkosten der Welt und hohe ertragsunabhängige Steuerlasten verkraften.
Deswegen will ich hier auch klar sagen, daß aus der Sicht des Bundeswirtschaftsministers jedes Gedankenspiel mit der Idee, die angekündigte Absenkung der Beiträge für die Bundesanstalt für Arbeit vielleicht doch nicht vorzunehmen, nicht in Ordnung ist, und deswegen will ich ebenso hinzufügen, daß es auch nicht in Ordnung wäre, den Betrieben über eine 1%ige weitere Umlage die Kosten für die Pflegeversicherung aufzubürden.
Das kann so nicht gehen.
Unser Ziel ist die Entlastung bei den ertragsunabhängigen Steuern sowie die Korrektur der hohen Steuersätze.
Diese sind für ausländische Investoren, die sich in Deutschland, insbesondere in den neuen Bundesländern, engagieren sollen, eher abschreckend. Insofern ist die Unternehmenssteuerreform auch ein Stück Sozialpolitik; denn sie sorgt mit dafür, daß Investoren zu uns kommen, Unternehmungen aufbauen, ausbauen und damit Arbeitsplätze sichern.Meine Damen und Herren, die wirtschaftspolitischen Aufgaben im Innern der Bundesrepublik müssen wir im Einklang mit unserer internationalen Verantwortung erfüllen. Deswegen möchte ich zum Schluß noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der uns in den nächsten Wochen und Monaten sehr beschäftigen wird: Die Bundesregierung setzt sich intensiv für die Sicherung des internationalen Freihandels ein und unterstützt den schnellen Abschluß eines neuen GATT-Abkommens. Wir sind wie keine andere Nation darauf angewiesen, daß wir einen möglichst ungehinderten Zugang zu allen internationalen Märkten haben.
Wir müssen, mehr als jeder andere, exportieren können; die Zahlen der letzten Jahre zeigen es. Im Jahre 1990 etwa haben wir 35 % aller Güter und Dienstleistungen, die bei uns produziert wurden, auf ausländi-
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Bundesminister Jürgen W. Möllemannschen Märkten verkauft. Zum Vergleich: Frankreich 24 %, Japan 15 %, USA 8 %.Niemand wäre schwerer betroffen als die deutsche Volkswirtschaft, wenn es uns nicht gelänge, das System des internationalen Freihandels zu sichern. Deswegen setzt sich die Bundesregierung nachdrücklich dafür ein, daß es noch in diesem Jahr zu einem Abschluß der Uruguay-Runde und zur Sicherung des internationalen Freihandels kommt. Dabei werden auch einige Branchenegoismen zurückstehen müssen.
Das gilt für alle diejenigen Bereiche, in denen wir selber durch Stützungsmaßnahmen, kartellartige Vereinbarungen u. ä. den freien Handel hemmen. Wir können von anderen gutes und beispielhaftes Verhalten nur erwarten, wenn wir selber dazu bereit sind. Das gilt auch für den Bereich, den ich zuvor nannte, sicher aber auch für die Agrarpolitik; das ist wohl wahr.Zusammengefaßt, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich sagen, daß die wirtschaftliche Situation in diesem Jahr und nach aller Voraussicht auch im nächsten Jahr Grund zu der Annahme gibt, daß nach dem neunten Jahr wirtschaftlichen Aufschwungs in Folge auch ein zehntes Jahr folgen wird — eine beispiellose Entwicklung in ganz Europa.
Gewiß wird niemand reklamieren, daß das allein oder auch nur zuvörderst das Verdienst einer Regierung ist.
So schlecht kann die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung aber wohl nicht sein, wenn es 10 Jahre nacheinander eine so exzellente wirtschaftliche Entwicklung gibt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Abgeordnete Wolfgang Roth.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte anläßlich der Einbringung des Bundeshaushalts 1992 hat schon ihre Seltsamkeit. Der Herr Bundeswirtschaftsminister beklagt lauthals die viel zu hohe Staatsverschuldung. Auch sein Parteivorsitzender, Graf Lambsdorff, hat das gestern getan,
und zwar in Worten, die wir unterstützen können; ich habe daran keine Kritik zu üben. Nur, was folgt daraus? Es folgen keinerlei Entscheidungen zur Reduzierung der tatsächlich viel zu hohen Staatskredite,
allerhöchstens Lippenbekenntnisse, Schönfärbereien oder Profilierungsaktionen.Beispiel: die sogenannten Subventionskürzungen. Im Grunde gibt der Bundeswirtschaftsminister, wenn er heute die Lage dramatisiert, ja zu, daß die sogenannten Subventionskürzungen gar nichts gebracht haben. Ich kann auch erklären, warum. Nehmen wir die Kürzung der AB-Maßnahmen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden gestrichen.
Zwar wurde damit in einem Posten des Etats tatsächlich etwas weggestrichen; nur machen an anderer Stelle des Haushalts dieselben Problemfälle zusätzliche Arbeitslosenunterstützung notwendig; Einsparung gleich Null, aber die Operation hat Menschen um Arbeit gebracht, und jetzt bezahlen wir das Nichtstun.Ganz ähnlich ist es bei der Werfthilfe oder bei der Unterstützung im Bereich der Kohle. Es ist doch nicht so, daß derartige Streichungen keine Arbeitsplatzeffekte hätten. Natürlich fallen Arbeitsplätze bei den Werften und im Kohlebergbau weg. Wo sind da die Einsparungen? Meine Meinung ist, daß das ganze Theater um Subventionskürzungen im Grunde die Lage nicht verändert hat. Insofern hat der Herr Bundeswirtschaftsminister recht: Die Lage ist dramatisch geblieben und hat sich nicht verbessert.Meine Damen und Herren, zurück zur Konsolidierung der Staatsfinanzen: Wirtschaftspolitisch entscheidend ist doch, daß die Staatsverschuldung die Zinsen nach oben treibt und zunehmend als gefährliche Investitionsbremse wirkt — übrigens am schlimmsten im Wohnungsbau, auf dem Sektor, auf dem wir inzwischen wegen der gewaltigen Wohnungsnot den stärksten Bedarf haben.Der Zugriff des Staates auf den Kapitalmarkt nimmt immer mehr zu. Dieses Jahr beanspruchen Bund, Länder, Gemeinden und die Schattenhaushalte, die Sie gebildet haben, am Kapitalmarkt etwa 200 Milliarden DM. Das heißt, der Staat nimmt mehr als die Hälfte der freiwilligen Ersparnisse in Anspruch. Dies ist wirtschaftspolitisch nicht mehr zu tragen. Dieser Kredithunger des Staates verdrängt private Investitionen und verschlechtert damit die Möglichkeit einer schnellen Integration Ostdeutschlands in die westdeutsche Wirtschaft.
Ich bin auch der Meinung, daß diese Zinssteigerungen für die notwendigen Modernisierungen unserer Volkswirtschaft gefährlich sind. Wir sehen Probleme in der Wettbewerbsfähigkeit. Ich habe da eine andere Position als Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister. Steigende Zinsen auf den Kapitalmärkten machen Investitionen in Finanzanlagen, in Geldvermögen, weit attraktiver als arbeitsplatzschaffende Investitionen in Produktivkapital. Die Folge davon ist, daß die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern zunehmen wird und daß der Zuschußbedarf zur Einkommenssicherung und für Sozialausgaben größer wird, als es bei einer soliden Finanzpolitik der Fall wäre. All das sieht der Bundeswirtschaftsminister offenbar auch so, wenn
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Wolfgang Rothman seinen Worten glauben darf. Aber mit der Vorlage dieses Haushalts geschieht überhaupt nichts, um das wirksam zu bekämpfen.
Meine Damen und Herren, es ist doch völlig klar, daß nur eine mutige Kombination von Ausgabenkürzungen auf der einen Seite und Einnahmeverbesserungen auf der anderen Seite Abhilfe bringen
und die unerträgliche Neuverschuldung reduzieren kann. In einem föderativen System ist das nur möglich, wenn alle Beteiligten, die im Bund und die in den Ländern, gemeinsam Lösungen finden. Genau an dieser Stelle nimmt die Regierungskoalition — auch Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, und Ihre Partei — eine völlig falsche Weichenstellung vor. Glauben Sie wirklich, daß tragfähige Kompromisse zwischen der Koalition und der Mehrheit im Bundesrat möglich sind, wenn Sie unsoziale Entscheidungen in der Steuerpolitik an den Anfang stellen?
Was Sie beschließen — jene Kombination von Erhöhung der Mehrwertsteuer, d. h. in besonderem Maße Abschneiden des Einkommens der Bezieher kleiner Einkommen, und Senkung der Vermögensteuer bzw. Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer — , das ist nicht einmal ein Verhandlungsangebot an die Opposition. Das müssen Sie wissen!
Was hat dies mit der Wirtschaft zu tun? Wenn Sie Steuervorschläge machen, von denen Sie ganz genau wissen, daß sie zwischen Regierung und Opposition nicht einmal verhandlungsfähig sind, dann verunsichern Sie die Wirtschaft über Monate mit falschen Versprechungen. Das ist die Wahrheit!
Es wird mit uns keine Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und es wird keine Vermögensteuersenkung geben, weil das nicht in die Landschaft paßt, weder wirtschaftlich noch sozial. Wir können nicht von der breiten Masse Opfer verlangen und wenigen Reichen etwas geben. Das geht sozial nicht!
Karl Schiller, auf den Sie sich so liebenswerterweise in der Attacke gegen die SPD zuweilen berufen wollen, hat für diesen Problemfall einen schönen Begriff gefunden. Er hat gesagt: In jeder Phase brauchen wir soziale Symmetrie. Was Sie in der Steuerpolitik vorschlagen, ist soziale Asymmetrie, wenn nicht sozialer Zynismus.
Meine Damen und Herren, wenn Sie mit uns zusammen — dazu sind wir bereit — die Begrenzung derSchulden und die Begrenzung der Kreditaufnahme wollen, müssen Sie bereit sein, von Ihren Positionen herunterzukommen; Sie müssen ernsthafte Verhandlungen und Gespräche beginnen.Das zweite wichtige Thema dieser Wirtschaftsdebatte im Rahmen der Haushaltsdebatte ist das Thema neue Bundesländer. Die Perspektiven für die neuen Bundesländer, insbesondere was das Kernproblem angeht, sind seit der Beratung des Bundeshaushalts im Frühjahr nicht besser geworden. Das Kernproblem ist die weitgehende Entindustrialisierung des Ostens unserer Republik, die Zerschlagung alter industrieller Strukturen, ohne daß neue, tragfähige Strukturen in der Industrie zu sehen sind.Sie, Herr Wirtschaftsminister, haben gerade wieder erwähnt, Sie sähen die Lage im Osten positiv. Sie haben auf Dienstleistungen hingewiesen und haben gesagt, dort seien neue Strukturen entstanden. Sicherlich: Wir haben auf diesem Gebiet einen Fortschritt im Osten. Das ist alles richtig.Aber machen wir uns keine Illusionen, so froh ich über diesen Tatbestand bin: Ein Land kann nicht allein von Banken, Versicherungen, Gastwirtschaften und Imbißstuben oder Bauaktivitäten allein leben.
Was wir brauchen, ist eine industrielle Basis im Osten. Für die Erholung dieser industriellen Basis gibt es leider keinerlei Hinweise. Genau hier versagt die Bundesregierung in ihrer Politik: Die alten Strukturen brechen immer schneller weg, ohne daß neue Arbeitsplätze entstehen.Übrigens kommt natürlich verstärkt hinzu — wofür ich Sie nicht verantwortlich mache — , daß im Osten Aufträge, insbesondere aus der Sowjetunion, storniert werden. Bei der Außenhandelsbank in Moskau liegen meterhoch Anträge von Unternehmen für Importe industrieller Güter, die nicht genehmigt werden, weil keiner verantwortlich ist oder sich verantwortlich fühlt. Das ist eine Phase, die uns im Osten erheblich zusätzliche Schwierigkeiten bereitet.Wenn das nun richtig ist, müssen wir von der Philosophie der Treuhand wegkommen, einerseits zu privatisieren und andererseits, wenn das nicht gelingt, sofort stillzulegen. Wir müssen wissen, daß wegen der besonderen Umstände, insbesondere im Osten, viele Unternehmen jetzt Pleite machen werden, die in zwei, drei Jahren, wenn sich die Sowjetunion stabilisiert hat und wenn die anderen osteuropäischen Länder neue Märkte haben werden, lebensfähig wären. Wenn es erhaltenswerte Strukturen gibt, muß man jetzt helfen, daß sie „Brückenbaumaßnahmen" bekommen. Dafür treten wir in Richtung auf die Treuhand ein.
Das heißt, das bisherige Treuhandkonzept kann nicht aufgehen.Im übrigen muß ich an dieser Stelle fragen: Was soll denn der Purismus: privatisieren oder stillegen? — Wenn wir dies in der Bundesrepublik Deutschland gemacht hätten, gäbe es keine Krupp-AG mehr; dann gäbe es keine AEG mehr; dann wäre Salzgitter vor
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Wolfgang RothJahrzehnten Pleite gegangen. Ich erinnere mich an die Zeit: Der VW-Konzern hätte erhebliche Schwierigkeiten gehabt, wenn er nicht sogar untergegangen wäre. Das ist die Wahrheit.Wir haben, egal wer Wirtschaftsminister war, ob Erhard oder später Schiller, in Notsituationen immer eingegriffen, wenn wir wußten, daß mittelfristig Marktchancen vorhanden waren. Das ist die richtige Politik.
Wir müssen also im Treuhandgesetz klar formulieren, daß in dieser Übergangs- und Anpassungsphase auch eine aktive Strukturpolitik ihren Platz hat und notwendig ist.Herr Möllemann, Sie haben vor mehr als einem Jahr die Verantwortung für die Treuhandanstalt gefordert. Sie sagten, es sei richtig, daß der für Strukturpolitik regional wie sektoral zuständige Minister die Verantwortung haben müsse. Ich kann das heute noch immer unterstützen. Es zeigt sich, daß der Fiskalminister nicht die industriepolitische Strategie entwickelt, um Ostdeutschland in eine neue Zukunft zu bringen.
Um es konkret zu sagen: Chemiearbeitsplätze muß es im Raum Halle auch dann geben, wenn die Privatisierung nicht so schnell gelingt, wie man es erwartet hat. Werften an der Küste von Mecklenburg-Vorpommern müssen auch dann erhalten werden, wenn wir nicht schnell industrielle, private Partner im Westen bekommen. Wir haben bislang keine bekommen. Wo sind sie denn, die westdeutschen Werften? Wo ist Thyssen? Thyssen ist weiß Gott ein reiches Unternehmen. Warum engagiert es sich nicht? Weil die Unternehmen nicht in der Lage sind, die Sanierung kurzfristig unter dem privaten Kalkül vorzunehmen. Deshalb ist nach meiner Auffassung eine industriepolitische Verantwortung des Bundes auf diesem Gebiet notwendig.Es sind inzwischen, meine Damen und Herren — ich sage das, weil sie Zwischenrufe machen, die die Lage verharmlosen — , 80 Prozent der früheren industriellen Arbeitsplätze im Osten weggebrochen. 80 Prozent!
Wollen Sie auch noch die restlichen 20 Prozent zerstören? Vor dieser Alternative stehen wir inzwischen.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeswirtschaftsminister hat auch heute wieder zur Konjunktur Stellung genommen. Er hat wiederum — wie in seiner Pressekonferenz am Freitag — die 4,5 % Wirtschaftswachstum des zweiten Quartals gepriesen. Auch ich bin froh darüber, daß wir dieses Wirtschaftswachstum erreicht haben; denn sonst sähe es bei den Staatsfinanzen noch schlechter aus.
Aber ich möchte doch ein paar kritische Nachfragen stellen.Die „Süddeutsche Zeitung" hat in diesem Zusammenhang zu Recht von einer „geliehenen" Konjunktur gesprochen, die an der Grenze ihrer Entfaltungsmöglichkeit sei. Mit „geliehen" meinte die „Süddeutsche Zeitung" ein Doppeltes: Die westdeutsche Konjunktur ist durch die gewaltig steigende Nachfrage aus dem Osten entstanden und ist also insofern geliehen. Diese Nachfragesteigerung im Osten wurde durch eine gigantische Staatsverschuldung im Westen finanziert. Wenn Sie so wollen, war das ja nichts anderes als eine Keynesianische Wirtschaftsstrategie, genau die, die Sie traditionell eigentlich immer abgelehnt haben. Aber diese Strategie hatte in diesem Fall einen großen Webfehler; denn Staatskredite wurden nicht in Investitionen gesteckt, sondern es wurden Staatskredite ausschließlich für konsumtive Ausgaben aufgenommen.
Die „Süddeutsche Zeitung" hat völlig recht: Eine derartige Strategie kann man nicht lange durchhalten. Sie sind selbst, wie Sie zugeben, an die Grenzen gekommen. Wenn das stimmt, wäre ich nicht so optimistisch, was die Vorausschau anbetrifft.Im Grunde sind die Staatskredite, wenn Sie so wollen, nur wie Wasser in einem Durchlauferhitzer durch die neuen Bundesländer gejagt und in den Westen zurückgeschleust worden. Das kann und wird auf die Dauer nicht gutgehen.Eines kommt hinzu — ich bedaure eigentlich, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß Sie das gar nicht erwähnt haben — : Wir sehen zur Zeit eine Abschwächung im Export. Ich sehe das nicht nur positiv, sondern, wenn ich die Strukturen, die Sektoren betrachte, mit großer Besorgnis. Im Automobilbereich haben wir eine deutliche Abschwächung der Exportmöglichkeiten, insbesondere in Richtung USA. Der Maschinenbau ist beim Export bereits in eine schwere Krise gekommen. Das wird nur durch andere Sektoren, von denen ich gerade gesprochen habe, ausgeglichen.Ich mache mir wirklich Sorgen um die Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft. Wir müssen nach meiner Überzeugung darauf achten, ob es nicht so sein könnte, daß die Japaner, nachdem sie den amerikanischen Markt, insbesondere bei Autos, aufgerollt haben, jetzt in Stoßrichtung Europa starten, was zu erheblichen Schwierigkeiten vor allem in der Automobilindustrie führen könnte.Ich finde, daß es, was die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und der Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft anbetrifft, aus dieser Bundesregierung keinerlei Anstöße mehr gibt. Übrigens wird das auch in der Industrie beklagt. Die Anwort, daß Indu-
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Wolfgang Rothstriepolitik mit Marktwirtschaft unvereinbar sei, wird international allmählich nur noch belächelt.Übrigens, Herr Möllemann, was soll ich eigentlich davon halten, daß Sie aktive Industriepolitik verweigern, während der Chef des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, Herr Seitz, einer der Hauptberater des Herrn Genscher, ein dramatisches Buch schreibt über die Notwendigkeit von Industriepolitik, um die japanische Herausforderung zu beantworten? Wo ist da eigentlich die Strategie?Ich stimme weitgehend den Analysen von Herrn Seitz zu, auch gewissen Antworten, die uns und den Gewerkschaften auf diesem Gebiet weh tun werden.Wir werden dieses Thema Industriepolitik zwischen Unternehmen, Gewerkschaften, Staat und Wissenschaft diskutieren müssen. Wir müssen nach meiner Überzeugung eine aktive, erneuerungsorientierte und leistungssteigernde Industriepolitik in der Bundesrepublik Deutschland bekommen.Hierzu gehört auch eine ökologisch orientierte Wirtschaftspolitik. Es ist doch völlig offenkundig, daß die althergebrachten Wachstumsmodelle der Industriestaaten für die ganze Welt so nicht mehr brauchbar sind. Wir brauchen umweltverträgliche Produkte und Produktionsverfahren. Diese kommen nur auf den Markt, wenn gesetzliche Instrumente, Auflagen oder Förderungen, eingesetzt werden, um ökologische Produktionsweisen und umweltgerechtere Produkte durchzusetzen. Man darf das nicht als lästige staatliche Einmischung verstehen, sondern im Grunde ist das hier eine industriepolitische Vision mit großer Zukunft. Ökologisches Wirtschaften wird die Marktchance der 90er Jahre und des nächsten Jahrtausends sein. Deshalb : Industriepolitik in ökologischer Erneuerung.
Ich will nur an einer Stelle zeigen, was Realität ist. Herr Bundeswirtschaftsminister, wir wissen, daß alternative Energiequellen die Zukunft sind. Die Forschung auf diesem Gebiet ist sehr gering. In Ihrem Etat gibt es zudem nicht einmal ausreichend Mittel zur Markteinführung schon vorhandener Instrumente bzw. Produkte der alternativen Energien, beispielsweise im Solarbereich. Ich fordere Sie auf, auf diesem Gebiet eine aktivere Politik zu betreiben, weil in der Tat hier Chancen vorhanden sind.
Mein Urteil zur Wirtschaftspolitik der Bundesregierung lautet: Sie ist viel zu kurzatmig, sie zielt auf den aktuellen Effekt. Sie ist taktisch ausgerichtet, ihr fehlt im Grunde jede Strategie. Sie motiviert nicht, ihr fehlt der Anreiz zur Anstrengung, zur Leistung, insbesondere auch in Richtung auf die ökologische Erneuerung. Sie ist im Grunde opportunistisch, weil sie nicht ehrlich sagt, daß wir wirklich alle Opfer bringen müssen, wenn wir den Osten in den Westen integrieren wollen. Konkrete Antworten auf diesem Gebiet werden verweigert.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Glos.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wer sich versprochen hat, durch die Rede von Herrn Roth neue Rezepte zu hören, wie die Herausforderungen, die zweifelsohne vorhanden sind, gelöst werden sollen, ist sehr bitter enttäuscht.
Herr Roth, Sie haben auch durch Ihre Ausführungen zur Steuerpolitik gezeigt, daß Sie von investitions-und wachstumsfreundlicher Steuerpolitik nicht die geringste Ahnung haben.
— Ganz ruhig! Sie werden es abwarten können.Wir stehen vor gewaltigen finanz- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen sowohl in unserem Land als auch in unserer Umgebung durch die Veränderungen in Ost- und in Südosteuropa. Wir haben eine doppelte Aufgabe: Wir müssen den Wiederaufbau des durch den Sozialismus zerstörten östlichen Teils unseres Landes fördern, und wir müssen gleichzeitige Hilfe beim Umstrukturierungsprozeß der Reformstaaten in Osteuropa und in der Sowjetunion geben.Die eigentlichen Wirtschaftsreformen in der UdSSR können im Grunde erst beginnen, wenn dort zwischen der Union und ihren Republiken Klarheit über die künftige verfassungsmäßige Ordnung geschaffen ist. Korruption, Mißwirtschaft und organisierter Mangel müssen dringend beendet werden. Wir wissen, daß es zwangsläufig zu einer sehr schwierigen Übergangsphase kommen wird, daß viel Geduld und langer Atem notwendig sein werden. Es gibt dabei keine Patentrezepte. Wir spüren das ja auch beim Umstellungsprozeß der Wirtschaft im anderen Teil unseres Vaterlandes.Es ist ganz leicht, aus ganzen Eiern Rühreier zu machen. Aber es ist ganz schwer oder fast unmöglich, aus Rühreiern wieder Spiegeleier zu machen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Gerade weil dieser Umstellungsprozeß so schwierig ist und gerade weil so viel Kraft erforderlich ist, ist es ganz wichtig, daß wir die richtige Therapie anwenden. Die richtige Therapie ist die Politik der Sozialen Marktwirtschaft, so wie wir sie von Ludwig Erhard übernommen haben. Dieser Weg hat unser Land nach vorne gebracht, und dieser Weg ist der einzig richtige für Ost- und für Südosteuropa.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3129
Michael GlosIch begrüße ausdrücklich die jetzt laufenden Bemühungen, die Sowjetunion an den Internationalen Währungsfonds heranzuführen, sei es über eine Assoziierung oder als Vollmitglied. Denn die Bundesrepublik Deutschland, die schon mit gewaltigen Summen geholfen hat, wäre alleine überfordert, wenn sie diese Last zusätzlich tragen sollte. Ich bin der Meinung, wir sind bis an die Grenzen des Verkraftbaren gegangen. Wir müssen uns überlegen, wie wir unsere Kräfte jetzt konzentrieren können, und vor allen Dingen, wie wir unsere Partnerstaaten dazu bringen, mit einzusteigen. Wir dürfen die Grenzen unserer Möglichkeiten nicht überschreiten. Wir können nicht Zahlmeister für die ganze Welt sein. Es bedarf jetzt einer fairen Lastenverteilung zwischen den Industrieländern des Westens.
Vor allen Dingen unsere japanischen Freunde müssen stärker ran. Es geht nicht an, daß sie gewaltige Handelsbilanzüberschüsse auch auf Kosten der anderen Industrieländer anhäufen und daß sie sich dann solchen Aufgaben versagen. Wenn sie erst tätig werden wollen, wenn sie ihre Autos in der Sowjetunion gegen gutes Bargeld verkaufen können, ist es zu spät. Wenn sie glauben, wir finanzieren die Übergangszeit und lassen uns noch unsere eigenen Märkte kaputtmachen, dann ist das nicht der Weg, der auf die Dauer zu einer ordentlichen Übereinkunft zwischen Partnern führen kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit einer Überforderung der deutschen Volkswirtschaft würde niemandem, schon gar nicht den Reformstaaten Ost-und Mitteleuropas, gedient sein. Wir sind in den Belastungen der öffentlichen Haushalte, aber auch bei den Steuer- und Abgabenquoten bis an die Grenze des Verkraftbaren gegangen. Ich halte deshalb überhaut nichts von Überlegungen, die Mehrwertsteuer bei uns um einen weiteren Prozentpunkt zu erhöhen, um damit Hilfen für die Sowjetunion zu finanzieren.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen aufpassen, daß wir die Grenzen des Verkraftbaren nicht überschreiten. Das gilt nicht nur für die Steuerlastquote, sondern das gilt für die Abgabenquote insgesamt. Deswegen muß auch bei der Pflegeversicherung nach einem Weg gesucht werden, der die Abgabenquote insgesamt nicht erhöht. Wir dürfen unserer Wirtschaft nicht zu viele Lasten aufbürden.
Eines ist sicher: Nur wenn wir selbst stark bleiben, dann können wir auch anderen helfen. Es ist ein Glücksfall für unser Land, daß wir auf die gewaltige Herausforderung des inneren Zusammenwachsens Deutschlands sowie auf die rasante Entwicklung im Osten wirtschaftlich so gut vorbereitet waren.Ein wiedervereinigungsbedingtes Wirtschaftswachstum von real 4,8 % im zweiten Quartal zeigt, daß im Westen unseres Landes die Konjunkturlokomotive weiterhin unter Dampf steht.Auch die gestern veröffentlichten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit waren erfreulich. Die Arbeitslosigkeit ist sowohl im Westen als auch im Osten unseres Vaterlandes weiter zurückgegangen.Trotz aller Notwendigkeit für eine finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung der neuen Bundesländer und trotz der erforderlichen Ausgabendisziplin in den öffentlichen Haushalten bedarf es nach wie vor einer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die den Nährboden dafür bereitet, daß der wirtschaftliche Aufschwung im Westen unseres Landes nicht abbricht und im Osten mehr und mehr in Gang kommt.
Auch wenn die Gefahr besteht, daß von der linken Seite dieses Hauses wieder Lärm entsteht, komme ich jetzt zur Steuerpolitik. Gerade weil wir im internationalen Standortwettbewerb auch künftig an der Spitze bleiben wollen, müssen wir die Unternehmensteuern noch investitions- und beschäftigungsfreundlicher gestalten, als sie schon von uns gestaltet wurden, damit vorhandene Arbeitsplätze gesichert und neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Deswegen ist die geplante Unternehmensteuerentlastung in Wahrheit eine Reform der Besteuerung von Investitionen und Arbeitsplätzen.
Das ist die richtige Überschrift für dieses Reformwerk.
Herr Roth hat heute nahtlos an die Ausführungen von Herrn Engholm angeknüpft,
der schon gestern gezeigt hat, daß er in Sachen Unternehmensbesteuerung keinerlei Sensibilität besitzt, sondern hier im Gegenteil den Blickwinkel des Neides in den Vordergrund schiebt
und dabei Investoren verunsichert.
Herr Abgeordneter Glos, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
Aber gerne.
Herr Kollege, wenn Sie schon die soziale Ungerechtigkeit nicht verstehen, die darin liegt, daß Sie die Mehrwertsteuer anheben, um die Vermögensteuer zu senken, dann frage ich Sie, ob Sie mir denn wenigstens darin folgen, daß von Investitionsförderung keine Rede sein kann, wenn Sie das Halten von Vermögen und Kapital entlasten, aber die degressive Abschreibung verschlechtern mit der Folge, daß das Investieren steuerlich schlechtergestellt wird.
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3130 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Der erste Teil Ihrer Frage enthält eine Unterstellung, die ich zurückweisen muß: Wir erhöhen die Mehrwertsteuer nicht, um Unternehmensteuerentlastungen vorzunehmen, sondern dies wird neutral umfinanziert.
— Schauen Sie sich das Konzept an. Es werden Abschreibungsvergünstigungen eingeschränkt, und dafür werden andere Betriebsteuern gesenkt.
Soviel zum ersten Teil Ihrer Frage.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht, so kann ich sagen: Wenn Sie dem Herrn Roth richtig zugehört hätten — es lohnt sich nicht immer,
aber er hat auch Richtiges gesagt — , dann wäre Ihnen der Zusammenhang klar geworden: Er hat davor gewarnt, daß durch die hohen Zinsen das Investieren in risikoloses Kapital immer mehr üblich wird
und daß dadurch Investitionen eingeschränkt werden.
Wenn ich Eigenkapital, das in Betrieben dringend als Risikokapital gebraucht wird, jetzt noch mit einer sehr hohen betrieblichen Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer belaste, dann mache ich das Investieren noch uninteressanter, wodurch das Hin- und Herschieben von Finanzanlagen interessanter wird. Das ist einer neben vielen anderen Gründen, warum wir eine Unternehmensteuerreform durchführen werden.
Herr Glos, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Poß?
Nein, wir haben hier keine Fragestunde.
Ich möchte meine Ausführungen gerne zu Ende bringen.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, ich sage Ihnen: Wenn Sie mit Ihrer Politik des Neidschürens
und mit Ihrer Politik der Verweigerung so weitermachen, indem Sie Komplexe schüren und sagen, wir würden umverteilen von unten nach oben,
dann werden wir nicht einmal die „Holzklasse " im gesamten Deutschland erreichen, vor der Herr Engholm warnte. Er hat ja davon gesprochen, wir hätten eine „Plüschklasse" und eine „Holzklasse"
. Ich mag diese Klassenvergleiche sowieso nicht. Ich kann nur sagen: Wenn die Sozialdemokraten regieren würden, dann gäbe es eine Holzklasse in ganz Deutschland, und nach kurzer Zeit würde die Holzklasse vom Krückstock abgelöst werden, an dem unsere Wirtschaft gehen würde.
— Ich kann das an Hand von Beispielen belegen. Hier sitzt der Herr Senatspräsident von Bremen, Herr Wedemeier. In Bremen regiert seit langer Zeit die SPD. Meines Wissens ist die dortige Pro-Kopf-Verschuldung mit 21 000 DM doppelt so hoch wie im übrigen Bundesgebiet.
— Inzwischen sind es 23 000 DM; Schulden vermehren sich sehr schnell. — Die Arbeitslosenquote ist mit 10,5 % ebenfalls doppelt so hoch wie in den westlichen Bundesländern.
— Ganz genau, das ist die Holzklasse, die uns allen droht, wenn Sozialisten überall regieren.
Politik der Union ist es dagegen, durch eine vorausschauende Gestaltung der steuerlichen Rahmenbedingungen rentable Investitionen möglich zu machen, Arbeitsplätze zu schaffen und ein angemessenes Wirtschaftswachstum zu garantieren, damit die „Plüschklasse", um bei dem Bild von Herrn Engholm zu bleiben, in Ost und West erreicht werden kann.Zugegeben — hier muß ich mich insbesondere an meine Landsleute in den neuen Bundesländern wenden — , bis dies alles geschafft sein wird, ist sicher ein weiter Weg zurückzulegen. Es gehört viel Geduld dazu, diese Wegstrecke zurückzulegen. Wir müssen die Mitbürger im Osten bitten, die Ärmel auf zukrempeln. Die allermeisten tun es. Dafür mein herzlicher Dank. Ich möchte an dieser Stelle auch all denen meinen Respekt aussprechen, die aus dem Westen in die neuen Bundesländer gegangen sind und dort mithelfen, sei es als Investoren, sei es als Verwaltungsleute und seien es selbst unsere Kollegen aus der Politik, die ihre Stühle vertauscht haben.
Ich glaube, daß sie einen guten und wichtigen Dienst für das Zusammenwachsen unseres Vaterlandes leisten. Ich bedanke mich auch bei den Kaufleuten, Handwerkern, Fabrikanten und Industriellen, die sich, aus dem Westen kommend, bemühen, in den neuen Bundesländern zu investieren, und die sich nicht entmutigen lassen, weil es dort noch ein ganzes Stück schwieriger ist, was die Verwaltungsabläufe betrifft.Im Bundeshaushalt 1992, über den wir hier debattieren, stehen für die neuen Länder über 100 Milliarden DM bereit. Das ist mehr als ein Viertel der Gesamtausgaben des Bundes. Das Gemeinschaftswerk „Aufschwung Ost" ist dabei, ein voller Erfolg zu wer-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3131
Michael Glosden. Zwei Drittel der für dieses Jahr vorgesehenen 12 Milliarden DM sind bereits in Aufträge umgesetzt worden. Die Wirtschaftsexperten und -institute bestätigen uns, daß sich die Anzeichen für den Beginn der wirtschaftlichen Regeneration in den neuen Bundesländern mehr und mehr zeigen. Jeder, der Augen im Kopf hat, der hinüberfährt, kann das mit eigenen Augen sehen. Ein CDU-Kollege hat mir gestern gesagt, das Land verändert sich stündlich. Das ist auch mein Eindruck aus den Besuchen in den neuen Bundesländern. Es verändert sich zum Besseren, meine sehr verehrten Damen und Herren.Eine positive Entwicklung verzeichnet in allererster Linie das ostdeutsche Baugewerbe. Doch auch in der Industrie ist nach Befragungen trotz des jetzt noch zu erwartenden Produktionsrückgangs vorsichtiger Optimismus zu erwarten.
Für das Handwerk ist im zweiten Halbjahr mit einer deutlichen Steigerung der Wertschöpfung zu rechnen. Ähnliches gilt für die Dienstleistungsunternehmen. Wir müssen allerdings aufpassen, daß wir bei den AB-Maßnahmen nicht zuviel des Guten tun. Die Grenzen sind dort erreicht, wo Aufträge für das heimische Handwerk gefährdet werden. Hier kann ich nur an die Kommunalpolitiker appellieren, eine entsprechende Sensibilität an den Tag zu legen.
Der Ausbau eines dynamischen Mittelstandes kommt gut voran. Seit Anfang 1990 sind 440 000 Gewerbebetriebe neu gegründet worden. Auch das Tempo der Privatisierung von Unternehmen hat erheblich zugenommen. Die Treuhandanstalt hat bisher 3 000 Unternehmen verkauft. Damit wird die Basis für unternehmerisches Denken in den neuen Ländern mehr und mehr verbreitert. Ich bin der Meinung, je schneller privatisiert wird, desto billiger wird die Angelegenheit für den deutschen Steuerzahler.
Herr Roth, es macht keinen Sinn, Produkte herzustellen, die hinterher vom Markt nicht gebraucht werden. Wir machen diesen Fehler schon — irgendwann werden wir ihn korrigieren müssen — bei unserer Landwirtschaftspolitik. Wir produzieren Güter, z. B. auf dem Getreidesektor, die nicht gebraucht werden, lagern sie für viel Geld ein und suchen Käufer auf dem Weltmarkt. So etwas kann auch zur Nahrungsmittelvorsorge dienen. Es ist auch dazu da, um in Notzeiten zu helfen. Wenn ich allerdings Industrieprodukte herstelle, für die es keinen Markt gibt, bleibt nur die Müllbeseitigung. Und die ist teuer und schwierig. Das dürfen wir allein der Umwelt zuliebe nicht tun, meine sehr verehrten Damen und Herren.Die deutsche Sozialdemokratie tut sich mit übertriebenen, sorgenvollen Kommentaren für die Zukunft der ostdeutschen Wirtschaft, den Kurs der Finanzpolitik und die Entwicklung der D-Mark an den Devisenmärkten hervor. Herr Roth hat das eben wieder getan. Man gefällt sich darin, warnend den Zeigefinger zu heben, von der Politik die notwendigen Kurskorrekturen anzumahnen, und zeigt ansonsten keine konstruktiven Lösungsansätze auf. Jedem Kritiker muß klar sein, welch fatale Wirkung das Einstimmen in den Chor kollektiver Befürchtungen haben kann, wie wir es von den Sozialdemokraten gewohnt sind. Gäbe es eine Weltmeisterschaft im Schüren von Pessimismus, wäre die SPD endlich wieder in der Lage, Weltspitze zu werden.
Woher nehmen Sie eigentlich den Mut, sich in Bonn— so wie es der Herr Roth wieder getan hat und Sie gestern — zum finanzpolitischen Saubermann bzw. zur finanzpolitischen Sauberfrau, wie man heute so schön sagt, aufzuschwingen
und den Konkursrichter zu beschwören? Gestern hat der Herr Bundeskanzler vorgerechnet, daß alles, was wir an Schulden haben,
allein auf den von Ihnen übernommenen Schulden plus den Zinsen und Zinseszinsen beruht, die seitdem zu leisten waren. Das ist eine objektive Tatsache. Das können Sie nachrechnen, Herr Vogel.
Nehmen wir doch einmal die von Ihnen regierten Bundesländer. Sind denn das Musterbeispiele? Im Gegenteil.
— Das Beispiel Bremen habe ich schon gebracht. Da ist nichts übernommen worden.
— Sie verwechseln Bremen mit dem Saarland. Das sollten Sie nicht tun, auch wenn Sie sich so viel über den Herrn Lafontaine geärgert haben. Immer sauber auseinanderhalten, Herr Vogel.Der Herr Senatspräsident Wedemeier, der Gelegenheit hat, zu erwidern, hält es offensichtlich mit seinem Parteivorsitzenden Engholm, der sich unlängst gegenüber der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" beim Bund für scharfes Sparen ausgesprochen hat— auch wenn es weh tut, hat er gesagt — , allerdings unter Hinweis darauf, daß in seinem Land, in Schleswig-Holstein, nichts mehr läuft.
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3132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Michael GlosJeder möchte beim Engerschnallen am Gürtel des anderen fummeln und den eigenen Gürtel dabei verschonen.
Das ist eine typisch sozialdemokratische Haltung: tiefschürfende wirtschaftspolitische Diagnosen einerseits, aber Anmahnen der schmerzhaften Therapien beim politischen Gegner andererseits.Geduld und Verständnis in den alten und neuen Bundesländern bleibt das Gebot der Stunde. Nicht jedes soziale oder wirtschaftliche Problem kann in demselben Umfang und Tempo angepackt werden, wie es bisher der Fall war. Beim Einsatz knapper öffentlicher Mittel muß gelten, daß sie in hohem Maß zunächst dort eingesetzt werden, wo sie am dringendsten benötigt werden. Das ist vermutlich im Osten unseres Vaterlandes. Da müssen wir auch einmal überprüfen, ob wir nicht in vielen Bereichen etwas langsamer voranschreiten müssen als in der Vergangenheit.
— Ja, ich bringe Ihnen gerne ein Beispiel.
Die Bürgermeister meines Wahlkreises beklagen sich, daß sie sehr hohe Auflagen und weiteren Druck bekommen, was die Abwasserreinigung anbelangt. Hier wird angemahnt, daß Kläranlagen, die funktionieren, noch besser funktionieren sollen. Ich verstehe das Ganze technisch nicht; aber dazu gehört ein wahnsinnig hoher Investitionsaufwand, um an der Grenze noch mehr zu erreichen. Da wir eine gesamtdeutsche Umwelt haben, wäre es, glaube ich, richtig, wenn wir bei uns einmal eine Weile diese Forderungen aussetzten und die knappen Mittel dorthin schichteten, wo sie dringender gebraucht werden, wo überhaupt noch keine Kläranlagen, Luftreinigungsanlagen und ähnliche Dinge existieren,
ganz abgesehen davon, daß die Kapazitäten in der Industrie für diese Dinge nicht gleichzeitig zweimal beansprucht werden können.Darüber muß nachgedacht werden. Das gilt insbesondere auch für die Strukturhilfemittel, die im Bundeshaushalt ab 1992 zu Recht in die neuen Länder umgelenkt werden sollen. Ich halte diese Maßnahme für richtig.Neue Prioritäten bedingen nun einmal, daß Nachrangiges zurückgestellt wird. Jede Mark, die dem Bundesfinanzminister für noch so gut gemeinte Wohltaten im Westen abgerungen wird, fehlt zwangsläufig im Osten unseres Landes. Deswegen kommen wir auch am weiteren Subventionsabbau nicht vorbei. Ich bin allerdings gespannt, wie der Herr Möllemann die neue Linie seiner Partei bei der Werfthilfe erklärt. Subventionsabbau ist wichtig. Das ist ein ganz ernstes Kapitel. Manchmal etwas mehr Durchsetzung, etwas weniger Theaterdonner, glaube ich, wäre diesem ernsten Kapitel angemessen.
Das, was wirklich gespart worden ist, ist dem Bundesfinanzminister zu verdanken, bei dem ich mich ausdrücklich dafür bedanke, daß er mit ruhiger Hand diesen seriösen finanzpolitischen Kurs durchhält. Der Finanzminister fürs Sparen, der Wirtschaftsminister etwas mehr für den Theaterdonner. Aber auch daran haben wir uns gewöhnt, und Trommeln gehört ganz bestimmt zum Handwerk.
— Ich habe schon das gelbe Licht. Sie rufen und fragen soviel dazwischen, und das Ganze geht auf Kosten meiner Redezeit. Sie werden es sicher bedauern, daß ich jetzt bald enden muß.Ich darf abschließend — das ist eine vernichtende Absage an das, was Herr Roth industriepolitisch gefordert hat — aus dem Sondergutachten des Sachverständigenrates zitieren. Er sagt, es wäre verfehlt, die Reform einer vorher zentral geleiteten Wirtschaft durch eine Struktur- und Industriepolitik zu betreiben. An anderer Stelle sagt der Sachverständigenrat: „Die kritische Wirtschaftslage in den neuen Bundesländern erfordert nicht die Abkehr von einer auf Marktkräfte setzenden Wirtschaftspolitik, sondern deren konsequente Anwendung." Genau das haben wir mit unserer Politik getan. Das wollen wir mit dem Bundeshaushalt 1992 fortsetzen. Wir werden uns auf diesem Weg nicht irremachen lassen.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Zywietz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe für meinen Beitrag zum Bundeshaushalt 1992 nicht soviel Zeit, aber dennoch möchte ich versuchen, mich nicht hetzen zu lassen; denn schließlich sind wir bei einer ernsthaften Arbeit und nicht irgendwo auf der Flucht.
— Haushaltspolitik war und ist immer ernsthafte Arbeit; das ist keine Sache für Rhetorik oder Polemik, sondern das ist Knochenarbeit. Das weiß doch jeder, der hier im Saal sitzt. Und hier sitzt ja immer nur der vernünftige Teil aller Fraktionen.
Natürlich ist Haushaltspolitik eine schwierige Arbeit. Dazu möchte ich ein paar Anmerkungen machen. Ich habe nur so wenig Zeit, weil ich gehört habe, daß es aus Gründen, die ich mir nur ganz schwer erklären kann, eine sogenannte Bremer Runde gibt. Vermutlich soll da das Beispiel dargestellt werden, wie man einen Landeshaushalt mit ganz wenig Staatsverschuldung führen kann. Ich habe jetzt zwei Tage lang gehört, was die Koalition und was mit Hilfe oder Mitarbeit der FDP in dieser Koalition verkehrt gemacht wird, nämlich die Staatsverschuldung. Ich war immer gespannt, den theoretischen Gedankenansatz zu hören, wie man diese Staatsverschuldung abbremsen, abbauen kann, wie man sie einfach unnötig machen kann.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3133
Werner ZywietzIch vermute, daß jetzt praktische Hinweise am Beispiel Bremen geliefert werden. Wir werden das hören.
Ich möchte einmal die Ausgangslage in ganz wenigen Strichen für diese 92er Haushaltsdebatte kennzeichnen. Wenn ich nur den Teil der Staatsverschuldung — das ist ein unangenehmer, ein harter Teil einer Haushaltsdebatte — herausgreife, dann fällt mir ein, daß es dieses Problem seit 1972 ununterbrochen gibt. Ich möchte niemanden anklagen, sondern nur jeden vor Übermut warnen, der sagt: Ich weiß, wie es geht. Denn beteiligt waren alle daran — das ist eine ganz simple Feststellung — , der eine mit mehr, der andere mit weniger Erfolg. Es scheint sich also um eine schwierige Aufgabe zu handeln. Aber an die müssen wir herangehen.Zweitens befinden wir uns nicht in einem Staat, der schlecht strukturiert ist. Mein Eindruck ist, wir leben in einem wohlhabenden Staat mit zufriedenen Bürgern, mit einem Haushalt, der das Notwendige leistet, der in der Tat aus unserer Sicht aber noch ein zu hohes Defizit hat. Das ist das Problem. Aber wir sind kein Armutsstaat. Man muß nicht ein Zerrbild eines Staates, einer Gesellschaft zeichnen, die vor dem Ausverkauf, dem Bankrott oder totaler Fehlleitung steht. Das geht an der Sache total vorbei.
Wenn wir an die Remedur gehen oder nur ein paar Facetten liefern wollen, was man wohl tun kann, dann stelle ich fest: Der Abbau der Staatsverschuldung muß sukzessive an der Ausgabenseite angesetzt werden. Das ist der entscheidende Punkt. Steuerpolitisch kann man durch die eine oder andere Steuererhöhung etwas Milderung schaffen. Angesichts der Gesamtstrukturen kann das aber nur über die Reduktion auf der Ausgabenseite gehen. Da hat das Bemühen um den Abbau von Subventionen seinen Platz.Wir nehmen für uns gern in Anspruch, daß der Wirtschaftsminister Möllemann das sehr deutlich und sehr drastisch zu seinem Thema und damit auch zum Thema der FDP gemacht hat und auch Erfolge vorweisen kann, die nötig sind.
Er hat das in sportlich engagierter Weise getan. Ich möchte ihn fast ermutigen, noch einmal sozusagen gezielt auf den Haufen des Subventionsabbaus zu springen. Das kann gar nicht schaden; denn die Arbeit muß weitergehen. Das wissen wir.
— Die Werftenhilfe. Ich will da einmal aus dem Gedankenrahmen herausgehen und dieses Stichwort aufnehmen. Wenn wir uns darauf verständigen können, daß die Schnelligkeit und das Volumen des Abbaus bei der Werftenhilfe zum Muster für den Subventionsabbau in allen anderen Bereichen gemacht werden,
dann sind wir sehr schnell ein gutes Stück weiter. Ich will die Werftenhilfe gar nicht in toto verteidigen. Aber die Werften sind — wie andere Bereiche auch — eine Branche, die ihre Probleme hat. Auch wenn sie nun aber gerade nicht bei Ihnen im Wahlkreis, sondern an der Küste, im Norden, nicht aber im bayerischen oder im baden-württembergischen Hügelland zu Hause ist und kein Problem der Alpenregion ist, kann man die Augen vor den Problemen noch lange nicht verschließen. Eine gewisse Berechtigung ist gegeben, über Zeit und Umfang kann man sprechen.Ich möchte jedoch alle diejenigen warnen, die immer sagen, Werftenhilfe dürfe nicht sein; der Kollege Manfred Richter wird dazu noch Ausführungen machen. Denen kann ich nur sagen: Schauen wir einmal auf andere Bemühungen in Sachen Subventionsabbau. Wenn ich so argumentiere, kann ich auch fragen: Warum geben wir einem Konzern wie Daimler oder anderen — um nur einmal willkürlich Adressen zu nennen — soviel Geld? Die können das auch selber bezahlen.
Da kommen wir auf ein Feld, auf dem wir uns alle noch gemeinsam anstrengen können.
Wir wollen den Weg des Subventionsabbaus gehen. Nur, was sind denn die Stichworte für eine konsequentere Konsolidierung, die nötig ist? Wenig an der Steuerschraube drehen, denn das Fummeln an fremden Gürteln, aber auch das Drehen an Steuerschrauben sind alles nicht die richtigen Rezepturen. Auch der Staat muß sich darauf einstellen — und da helfen alle Theorien nichts —, daß er auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als er per Steuer einnimmt. Wir haben eine ausreichend hohe Staatsquote, die nicht weiter erhöht werden darf. Deswegen muß man sich zur Decke strecken und mit dem, was per Steuergesetzgebung und Steuerbelastung in die Staatshaushalte kommt, auf Sicht gesehen auskommen. Das wird die Grundregel für alle weiteren politischen Bemühungen sein.Wenn ich mir nun Äußerungen der Opposition vor Augen führe, stelle ich fest, daß sie reichlich widersprüchlich sind. Wir wollen das in einem Stufenplan machen. Das vorliegende Paket ist ein erster, vorzeigbarer Schritt. Wir wissen doch alle: Wenn man übergewichtig ist, soll man keine Gewaltkuren machen. Das ist ungesund, und man sieht anschließend schlecht aus. Hat man ein bißchen zuviel Staatsverschuldung, kann man die auch nicht in einem Hauruck-Kurs abbauen. Auch das ist ungesund, und man sieht nachher schlecht aus. Man muß schon einen Stufenplan machen. Dabei sind wir, und auf diesem Weg muß es weitergehen. Sie sind zum Mitmachen eingeladen. Das ist das ganze Erfolgsrezept.Wer sich die Verschuldung anschaut, stellt fest, daß — wenn auch nicht überall — doch einige besondere Faktoren ursächlich sind. Ich erinnere nur an Energiekrisen, ich erinnere an die deutsche Einheit, die wir begrüßen, die jedoch auch ihre Konsequenzen hat. Ich
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3134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Werner Zywietzfrage mich aber, warum Kommunalhaushalte, warum Länderhaushalte so verschuldet sind, die keine oder nur eine geringe Berührung mit diesen Sonderfaktoren hatten.
So wächst z. B. der Landesetat Schleswig-Holsteins um 5 %. Die haben 40 % Personalausgaben. Da muß man fragen, ob nicht auch hier ein Stopp vorgenommen, ein Stück Privatisierung stärker eingeführt werden muß, damit wir von Sockelbeträgen von 40 % Personalausgaben in Landesetats beispielsweise wegkommen. Der Bundeshaushalt ist da relativ gut vorzeigbar, auch wenn er Belastungen durch Sonderfaktoren verkraften muß. Aber Gemeinden und Länder haben sich in diesem Bereich viel zuwenig angestrengt. Und auch das sind, wie man so schön zu sagen pflegt, Hände des öffentlichen Finanzverhaltens.
Wir müssen also diesen Weg weitergehen: abspekken, weitere Subventionsüberprüfung. Aber auch die großen Haushaltsbrocken wird man auf den Prüfstand zu stellen haben. Man kann sich nicht nur auf Subventionen fixieren. Zwar mußte das soziale Netz wegen des Nachholbedarfs in den neuen Ländern verstärkt werden. Aber das kann keine Dauererscheinung sein. Die Beschäftigungspolitik ist so anzulegen, daß aus einer speziellen, sozial orientierten Hilfe — sofern man keine rentierlichen Arbeitsplätze hat — , aus einer Überlebenshilfe Hilfe zum Überwechseln in eine Beschäftigung wird.
Aber am Ende müssen sich selbst tragende, sich selbst verdienende Arbeitsplätze stehen.
Diesen Brückenschlag müssen wir mit staatlicher Unterstützung und dem, was in diesen Haushalten noch vorgesehen ist, möglichst rasch schaffen. Dann werden wir Einnahmen verbessern, insbesondere in den neuen Bundesländern, und einiges im Sozialetat und in anderen Bereichen abbauen können. Das wird sich wohltuend auf den Abbau der Verschuldung auswirken. Das ist eine der großen Herausforderungen, vor denen wir stehen.Ich meine, wir haben gute Chancen, das zu schaffen: In den beiden vorigen Haushalten war der konsumtive Ausgabenanteil für die neuen Bundesländer noch höher als der investive Anteil. Mit diesem Haushalt bekommen wir erstmals die Kurve: Der investive Anteil wird größer als der konsumtive Ausgabenanteil. Das ist ein erstes Zeichen dafür, daß wir wirklich nachhaltig und solide zu einer besseren Strukturierung der Wirtschaft in den Ostländern kommen. Ich bin sicher: Wenn sich dieser Anteil noch weiter verbessert, sind wir auf gutem Wege.
Heilmittel gibt es nicht. Aber ich sage: Nicht so sehr auf die Steuerseite schauen. Das lohnt auch nicht. Da wird uns die SPD mit ihrer sehr verquasten programmatischen Haltung und ihren widersprüchlichen Aussagen — Stichwort: Mehrheit im Bundesrat — viel zuviel Ärger machen. Das bringt nichts.Gehen wir vielmehr den eigenen Weg, der auch der richtige ist:
Sparen wir, privatisieren wir, bringen wir mehr Effizienz in den Staatsapparat. Dann werden wir auf dem Wege sein, daß wir im nächsten Jahr einen Haushalt beraten, der einen noch geringeren Schuldenanteil hat.Vielen Dank.
Als nächster hat der Abgeordnete Werner Schulz das Wort.
Werte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Glauben versetzt Berge, heißt es. Mir scheint, die Bundesregierung hat das etwas zu wörtlich genommen. Sie versucht, die wirtschaftliche Einigung Deutschlands und die notwendige Umstrukturierung Ostdeutschlands mehr auf Glauben denn auf begründete Konzeptionen zu stützen.Da gab es den Glauben an die heilsame Wirkung einer schnellen Einführung der D-Mark, den allerdings mit der Bundesregierung kaum jemand teilen mochte.
Da gab es den Glauben an die Möglichkeit, eine ganze Volkswirtschaft, eine todkranke dazu, auf die schnelle zu privatisieren, ohne sie dabei endgültig zu ruinieren. Da gibt es immer noch den Glauben, staatliche Struktur- und Industriepolitik sei verhängnisvoll.Wir sollten es in der Wirtschaftspolitik nicht mit Glauben versuchen, sondern mit Wissen und Vernunft. Das kostet weniger Arbeitsplätze.Seit Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion hat sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation im Osten Deutschlands dramatisch zugespitzt. Das Niveau der wirtschaftlichen Aktivität ist insgesamt drastisch gesunken. Um gut 65 % sank die Bruttowertschöpfung der Industrie vom ersten Halbjahr 1990 bis zum ersten Halbjahr 1991, und das, obwohl sie im vorangegangenen Jahr ebenfalls deutlich gefallen war.Selbst der erhoffte Beschäftigungseffekt im Dienstleistungsgewerbe, das in der DDR stark unterentwikkelt war, ist bislang ausgeblieben.
Gegenwärtig weiß niemand, welche Wirtschaftsbranchen im Osten Zukunft haben. Das ist einer der wenig genannten Gründe für ausbleibende Investitionen.Investoren sollten jetzt mit voller Montur ins kalte Wasser springen — genau den Schritt wagen, der uns
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Werner Schulz
bei der Wirtschafts- und Währungsunion empfohlen wurde — zu denen, die dort verzweifelt schwimmen und erbarmungslos unterzugehen drohen. Jetzt gilt es Risikobereitschaft, die so viel gelobte Stärke der Marktwirtschaft, zu beweisen, bevor die Bedenkenträger einer risikolosen Marktaufteilung vor Ort sind.Bei aller Freude über Existenzgründungen — die nicht nur beim Start unterstützt werden müssen, weil es ein großes Wagnis für Menschen ist, die keine marktwirtschaftliche Erfahrung haben und zudem einem harten Wettbewerb ausgesetzt sind — : Gleichzeitig brechen Existenzen zusammen, z. B. mittelständische Betriebe, Handwerksbetriebe, Kommissionshandel, die sich unter hohem Kraftaufwand sogar zu SED-Zeiten gehalten haben. Die Treuhandanstalt rechnet noch in diesem Jahr mit 400 000 Arbeitslosen zusätzlich.Der Wert der Warenlieferungen aus der alten Bundesrepublik in die neuen Bundesländer ist im Juni 1991 gegenüber dem Vorjahresmonat um 17 To gestiegen. Der Wert der entsprechenden Lieferungen von Ost nach West nahm dagegen um 38 % ab.
Sechsmal so viele Waren wandern von West nach Ost über die nicht mehr existierende Grenze als in umgekehrter Richtung.Die Steuereinnahmen der ostdeutschen Länder liegen teilweise deutlich unter den in den Haushaltsplänen eingestellten Werten. So ist von vorgesehenen 3,6 Milliarden DM Steuereinnahmen des Landes Sachsen-Anhalt bisher lediglich 1 Milliarde DM in der Kasse.Wir Bürger der ehemaligen DDR wissen sehr gut, daß die Ursache dieser für die Menschen im Osten existenzbedrohenden Entwicklung in erster Linie in dem menschenfeindlichen und ineffizienten Gesellschafts- und Wirtschaftssystem der DDR zu suchen ist. Aber das spricht die Bundesregierung nicht frei von der Verantwortung für ihren Anteil an der Misere.
Mit jedem Tag zieht die Behauptung weniger, daß die Mißerfolge und Fehler der Bundesregierung eine direkte Folge der Erblast des Sozialismus seien. Sie haben sich an dieses Argumentationsmuster gewöhnt. Aber das macht es nicht überzeugender.
Der Treuhandanstalt, die unbestreitbar einiges bei der Privatisierung erreicht hat, fehlt nach wie vor ein überzeugendes Konzept für die große Zahl der ihr anvertrauten Unternehmen, die auf kurze Zeit nicht privatisierbar, aber auf mittlere Sicht sanierungsfähig sind. Wenn diese Betriebe dichtgemacht werden oder verkommen, dann wird die industrielle Basis in Ostdeutschland beängstigend schmal. „In ihrer Struktur, Arbeitsweise und Größe" — schreibt Harry Maier, ein früherer DDR-Ökonom, der es weiß — „ähnelt dieTreuhand sehr stark der ehemaligen Plankommission der DDR. "Den Unternehmen hat sie die Entscheidungsbefugnisse genommen, und das Management ist völlig von ihr abhängig. Zwangsweise teilt sie auch die Gebrechen ihrer Vorgängerin: Sie unterliegt keinerlei demokratischer Kontrolle und trägt nicht das Risiko für ihre Entscheidungen.
Wir fordern seit März dieses Jahres, der Treuhandanstalt einen gesetzlichen Sanierungsauftrag zu geben, und haben, wie Sie wissen, vor der Sommerpause einen solchen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht. Ministerpräsident Engholm hat diese Woche in Leipzig ebenfalls einen solchen Auftrag gefordert. Dann ist dies sicherlich in der SPD Konsens. Schließen Sie sich unserem Gesetzentwurf an, meine Damen und Herren von der SPD; gemeinsam mit dem christdemokratischen Arbeitnehmerflügel haben wir dann eine satte Mehrheit für dieses notwendige Vorhaben.
Ein weiteres Hindernis für eine sozial und ökologisch gestaltete Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland ist der unglaubliche Stromvertrag, den westdeutsche Energiemultis, unterstützt von der Bundesregierung, mit der Regierung de Maizière geschlossen haben. Dieser Vertrag steht nurmehr auf tönernen Füßen. Weit über hundert Kommunen in den neuen Ländern sind bereit, ihre Eigentumsrechte an den Energieversorgungseinrichtungen einzuklagen. Darüber hinaus wird immer deutlicher, daß auch die neuen Länder Eigentumsrechte an den Energieversorgungseinrichtungen, insbesondere den lukrativen Leitungsnetzen, besitzen.Die Einrichtung von Stadtwerken, die viele Kommunen fordern, kann ein guter Schritt zur Entwicklung einer dezentralen, hocheffizienten und wegweisenden Energieversorgung sein. Diese Bestrebungen sollten von der Bundesregierung unterstützt und nicht gehemmt werden.Wir können Sie nur auffordern: Tun Sie im Interesse der Länder und Kommunen in Ostdeutschland das, was notwendig ist. Machen Sie den beteiligten Energieversorgungsunternehmen klar, daß der Stromvertrag nicht zu halten sein wird, und ebnen Sie den Weg für eine zügige Revision dieses ungleichen Vertrages. Es geht doch nicht darum, die westdeutschen Energieunternehmen vom Markt zu drängen.Selbst der routinierte Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Rudi Walther, hat Schwierigkeiten, die zugunsten des Beitrittsgebietes vorgesehenen Haushaltsmittel zu finden. Wie mag es da erst den Bürgerinnen und Bürgern in Ostdeutschland gehen, durch die verwirrende Vielfalt von Fördermitteln, Steuervergünstigungen, Zuschüssen, Zuwendungen, Hilfen durchzublicken? Solches Förderwirrwarr ist nicht nur äußerst undurchsichtig für Antragsteller und Verwaltung, es zeugt auch von mangelnder Konzeption.3136 Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991Werner Schulz
Es ist gerade noch möglich, den Mittelabfluß der unterschiedlichen Programme zur Kenntnis zu nehmen. Ihre Wirksamkeit jedoch zu überwachen und zu verbessern, die regional sehr abweichenden Verhältnisse einzubeziehen, ist mit Sicherheit schon nicht mehr möglich. Um Investitionsanreize zu erzielen, ist das Sammelsurium von über 700 Fördermaßnahmen zu kompliziert, zu verzweigt und unübersichtlich.Angesichts der deutlichen regionalen und sektoralen Unterschiede, die sich an divergierenden Entwicklungen etwa der Investitionen oder der Arbeitslosenquote nachzeichnen lassen, ist es an der Zeit, gezielt und konzentriert Schwerpunkte bei der Förderung zu setzen. Erst im Rahmen regionaler Entwicklungskonzepte werden Umschulung und Qualifizierung mehr leisten, als die Arbeitslosen zwei Jahre aus der Statistik herauszunehmen.
Dezentralisierte Strukturentwicklung ist eine wichtige Voraussetzung für einen sinnvollen Weg aus der Wirtschaftskrise.Lassen Sie mich zum Schluß einige Bemerkungen zur wirtschaftspolitischen Vernunft des vorgelegten Haushaltes 1992 machen. Es gibt sicher Situationen, in denen sozial schmerzhafte und ungerechte Maßnahmen wirtschaftspolitisch unausweichlich sind. Die von der Bundesregierung angestrebte Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1 % und ein mögliches weiteres Prozent eiserne Reserve ist es nicht. Daß sie die öffentlichen Haushalte nicht nur auffüllt, sondern zu Teilen auch belastet, sei nur am Rande erwähnt. Gerade unter den Bedingungen einer aufkommenden Stagflation ist diese preistreibende Steuer Gift. Die Bundesbank hat die Antwort bereits gegeben und der inflationären Haushaltspolitik die kontraktive Geldpolitik entgegengesetzt. Das ist der Mechanismus der Stagflation.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Als nächster hat Herr Abgeordneter Henn das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist mir im Prinzip richtig unangenehm, daß ich an den Anfang meiner Ausführungen ein Zitat von Wolfram Engels stellen muß, ein für mich zutiefst antigewerkschaftlicher Reaktionär, Sprecher des Kronsberger Kreises und Herausgeber der „Wirtschaftswoche".
— Das ist mir bekannt, aber er hat geistig nicht viel mit ihm zu tun.Wolfram Engels hat Mitte August in der „Wirtschaftswoche" geschrieben — ich zitiere — :In den letzten Wochen verging kein Tag, an dem nicht irgendeine Erfolgsmeldung über den Ticker gelaufen wäre. Daraus schließen dann die Experten, der Aufschwung Ost stünde vor der Tür. EinFehlschluß: Wenn über die Hälfte der Kaufkraft im Osten aus westdeutschen Quellen stammt, dann florieren natürlich Einzelhandel, Reisebüros, Banken, Baubetriebe oder Tankstellen, aber eben nur so lange, wie die Transfers fließen. Wird der Strom abgeschaltet, dann geht das Licht im Osten wieder aus. Wenn die neuen Bundesländer wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen sollen, dann brauchen sie eine eigene konkurrenzfähige Produktion. Die aber geht zurück und wird wohl noch weiter schrumpfen.Dieser Beschreibung und der grundsätzlichen Schlußfolgerung muß man leider zustimmen. Ostdeutschland braucht konkurrenzfähige Produktionen und Produktionsstätten. Das ist eine ganz und gar schlichte Wahrheit. Und allen Erfolgsmeldungen zum Trotz verbessert sich die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Ex-DDR nicht, sondern sie verschlechtert sich.
Die Käufer der rund 3 000 privatisierten Betriebe haben Investitionszusagen in der Größenordnung von 65 Milliarden DM gemacht. Verteilt auf einen durchschnittlichen Investionszeitraum von ca. drei Jahren macht das etwa 20 bis 22 Milliarden DM jährlich. Das ist viel zuwenig für die Herstellung gleichgewichtiger wettbewerbsfähiger Produktionsstrukturen in Deutschland. Das Verhältnis der in der gewerblichen Wirtschaft vernichteten zu den tatsächlich neu geschaffenen Arbeitsplätzen beträgt günstigstenfalls 10:1.Auf etwa 60 Milliarden DM ist die Gesamtinvestitionssumme in der Ex-DDR im Jahr 1991 einzuschätzen. Das ist knapp die Hälfte dessen, was unseres Erachtens mindestens nötig wäre, um die Strukturanpassung im Osten ökonomisch und sozial zu bewältigen. In der Sprache von Karl Schiller hieß das: „Die Pferde saufen nicht. "An Kapitalmangel in Gesamtdeutschland kann es nicht liegen. Es gibt wohl niemanden, der ernsthaft bestreiten würde, daß in der privaten Wirtschaft Mittel in Höhe von mehreren 100 Milliarden DM zur Verfügung stehen, daß die westdeutschen Unternehmen in den 80er Jahren allem öffentlichen Gejammer über die Gefährdung des Industriestandorts Bundesrepublik zum Trotz Gewinne eingefahren haben wie noch nie. Ich verweise hier noch einmal auf den Bundesbankbericht vom Mai dieses Jahres.Selbst der Bundeskanzler hat gestern die westdeutschen Unternehmen als Hauptnutznießer der deutschen Einheit ausgemacht. Und wo er recht hat, hat er recht.
Allein die Banken kassieren 10 Milliarden DM Zinsen für die Altschulden der Ex-DDR-Betriebe. Im zweiten Quartal 1991 wurden für 47 Milliarden DM Waren von West nach Ost geliefert; in umgekehrter Richtung waren es 8 Milliarden DM. Das heißt, die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3137
Bernd Henndeutsche Einheit ist für etliche ein schönes Geschäft.Ich verstehe allerdings nicht, wie eine solche Erkenntnis des Kanzlers mit der Absicht seines Kabinetts zusammengeht, die Unternehmensteuern weiter senken zu wollen. Wenn die Gewinnsituation der 80er Jahre zu dieser enormen Bildung von Finanzpolstern bei Industrieunternehmen und Banken führen konnte und diese ihre nationale Verpflichtung zu Investitionen in strukturschwachen Gebieten und vor allem im Osten nicht erfüllen — ich habe Art. 14 des Grundgesetzes immer so verstanden, daß in dieser Weise eine Verpflichtung vorliegt — , wäre es da nicht richtiger, das Gegenteil zu tun und die Unternehmensteuern wieder zu erhöhen und ausschließlich Investitionen in strukturschwachen Gebieten — ob in Ost oder West — mit gegebenenfalls höheren Zulagen zu bedenken? Was in aller Welt sollen sonst die Mittel sein, die die Pferde dazu bringen, wieder zu saufen?Der Kanzler hat gestern hier das Wort „Industriepolitik" in den Mund genommen, was mich schon sehr gewundert hat, weil ich geglaubt habe, das sei in dieser Regierung ein Tabuwort. Er hat in diesem Zusammenhang von langen Zeiträumen gesprochen, von globalen Wettbewerbsregionen Japan, USA und Europa. Einen Moment lang schien es mir sogar, als sei da irgendwo eine Konzeption, die auch für die konkreten Sorgen und Nöte unserer Bürgerinnen und Bürger in Ost- und Westdeutschland Antworten, Perspektiven für die nähere Zukunft erkennen ließe. Aber statt dessen kam nur die altbekannte Formel, daß schon früher alles nicht so schnell gehen konnte und daß Wunder auch jetzt etwas länger dauern. Es kam der Appell zur Geduld, zum gemeinsamen Anpacken usw. — mit anderen Worten: metaphysische Holzwolle.Der Bundesfinanzminister hatte einen Tag vorher zumindest relativ deutlich formuliert, wo er Grenzen für Industriepolitik und Industriesanierung sieht — ich zitiere — :Vor allem bei den großen Sanierungsvorhaben — Schiffbau, Chemie, Metall — sind allerdings strengste finanzielle Maßstäbe anzulegen. Im Interesse des wirtschaftlichen Aufschwungs dürfen alte, durch Autarkie und Prestigestreben entstandene Strukturen — bei allem Bemühen um sozial verträgliche Lösungen — nicht unkritisch erhalten werden.Damit ist — in nette Worte gekleidet — das brutale Sterben vieler weiterer Produktionsstandorte angekündigt.Mir ist in diesem Zusammenhang völlig unklar, was die Entstehungsgeschichte von Strukturen — ob Autarkie oder Prestigestreben — als Kriterium für ihre Erhaltungswürdigkeit hergeben soll. Ich muß hier wieder daran erinnern — auch der Kollege Roth hat das heute getan — , daß solche Kriterien für Erhaltungswürdigkeit nach dem Krieg für „KdF-Stadt" — sprich: Wolfsburg — oder für „Hermann-GöringStadt" — sprich: Salzgitter — Gott sei Dank nicht gegolten haben. Wenn diese Kriterien gegolten hätten, dann hätte man diese Regionen in agrarwirtschaftliche Zonen zurückverwandeln müssen. Das ist Gott seiDank nicht geschehen. Entscheidend müssen die sozialen Interessen von konkreten Menschen in einer konkreten Region heute sein sowie die Frage, welche Alternativen es für diese Menschen gibt.Ich appelliere an Sie: Behandeln Sie die Bürger der ehemaligen DDR nicht wie Bürger zweiter Klasse. Verweigern Sie ihnen nicht die Instrumentarien, die für die Westbürger in der Nachkriegszeit gegolten haben.
Ich will diese Koalition vielleicht doch daran erinnern, daß noch Anfang der 80er Jahre — das ist ja gar nicht so lange her — im Zeichen der Krise der westeuropäischen Stahlindustrie ein Instrumentarium angewendet worden ist, was man nun wirklich eher im Osten vermutet hätte. Fünf Jahre lang wurden nach den Regeln des EGKS-Vertrages in der Stahlindustrie Produktionsquoten und Preise für die einzelnen Hersteller reguliert — die Stahlindustrie befindet sich heute im übrigen wieder im freien Wettbewerb —; damit wurden Standorte erhalten. Es gingen zwar auch Zehntausende Arbeitsplätze verloren; aber dies geschah im wesentlichen für die Betroffenen sozial verträglich. Die Tempoverzögerung — auch wenn sie, wie in Rheinhausen, erst erkämpft werden mußte — hat den Regionen zumindest geholfen, die Umstrukturierung etwas leichter zu bewältigen.Die ostdeutsche Stahlindustrie soll jetzt offensichtlich vor die Hunde gehen. Über Riesa in Sachsen ist das Aus bereits verhängt worden. Eisenhüttenstadt hat auf Dauer keine Chance, wenn ihr die Treuhand, wie in den letzten Tagen geschehen, verweigert, ein neues Warmwalzwerk zu bauen. Warum, um alles in der Welt, sind Sie nicht bereit, das zu tun bzw. über Brüssel zu regeln, was im Westen von 1982 bis 1986, also zur Zeit Ihrer Regierung, Prinzip war? Warum soll es nicht möglich sein, im deutsch-deutschen Kontext für eine gewisse Zeit eine Produktionsaufteilung vorzunehmen, die den ostdeutschen Standorten etwa 15 % der Gesamtstahlmenge sichert — das entspräche der ursprünglichen Produktionsverteilung —, um diesen Standorten für die Umstrukturierung Luft zu verschaffen?Lothar de Maizière hat im April 1990 vor der Volkskammer gesagt: „Die Überwindung der Teilung ist nur durch Teilen möglich. " Wenn in Deutschland, in Europa oder in der Welt die Märkte nicht wachsen, dann wird es, wenn wir gleichgewichtige Strukturen in Deutschland wollen, nicht anders gehen, als daß auf dem Gebiet Gesamtdeutschlands auch eine Teilung der Produktion stattfindet. Insoweit, meine ich, müssen Sie hierfür Instrumentarien anbieten. Ich habe das eben am Beispiel der Stahlindustrie beschrieben.Herr Möllemann hat heute wieder so getan, als sei jedes Lenken und Eingreifen in wirtschaftliche Entwicklung eine Verletzung der Prinzipien, die in der Vergangenheit hier eine Rolle gespielt haben. Sie wissen selbst, daß das Unsinn ist. Ich glaube, wir würden Tage brauchen, wenn wir alle Regulierungs- und Subventionstatbestände der Vergangenheit hier aufzählen und beschreiben wollten. Man könnte anfangen mit den zu Beginn der 50er Jahre vorgenomme-
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3138 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Bernd Heimnen massiven Exportsubventionen, die ja ein wesentliches Element des Aufschwungs nach dem Kriege gewesen sind. Das heißt, das, was hier von uns verlangt wird, ist kein Sündenfall. Im übrigen korrespondiert es sogar mit einer Andeutung des Kanzlers, der hier gestern davon sprach, daß wir jetzt nicht die Stunde der reinen marktwirtschaftlichen Lehre haben. Es wird höchste Zeit, daß das wirtschaftspolitische Laisser-faire ein Ende hat. Mehr und mehr Betriebe in der Ex-DDR werden zu verlängerten Werkbänken von westlichen Unternehmen. Es wird wohl kaum noch eine Konzernzentrale in Ostdeutschland geben. Die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten sind fast auf Null gefahren. Von ehemals 80 000 Beschäftigten in diesem Bereich sind noch ganze 12 000 verblieben. Mehr und mehr junge, qualifizierte, leistungsstarke Arbeitskräfte wandern in den Westen.
Herr Henn, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja, ich komme zum Schluß.
Ich denke, Sie müssen schleunigst einen Kurswechsel vornehmen, denn wenn Sie diesen Kurswechsel nicht vornehmen, dann werden die Chancen für eine Umkehr des Prozesses, der jetzt in Ostdeutschland stattfindet, immer schlechter, und dafür tragen Sie die politische Verantwortung.
Das Wort erteile ich nun dem Präsidenten des Senats der Freien Hansestadt Bremen, Herrn Bürgermeister Wedemeier.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wollte ursprünglich zunächst zum Thema Subventionsabbau Stellung nehmen, aber nun ist eine Bremer Runde angesagt.
— So ein Zufall, Herr Richter. — Ich bin ganz zuversichtlich, daß die Abgeordneten und Staatssekretäre aus Bremen, die hier in Bonn tätig sind, beweisen werden, daß sie hier in Bonn für ihr Land tätig sind.
Ich weiß, daß sie das sind. Ich komme noch darauf zurück.
— Das will ich auch tun, aber ich will auch etwas zu Ihrer Holzklasse sagen, Herr Kollege.
— Dazu kann ich Ihnen auch etwas sagen. Nur müssen Sie dazu meine Redezeit verlängern. Dann gebe ich Ihnen auch noch Tips.
Jetzt will ich einmal auf den Einwurf des Kollegen aus dem Frankenland eingehen, was die Holzklasse Bremen angeht.
Ich würde doch auch aus dieser Entfernung raten, Menschen einer anderen Stadt nicht so einfach abzuqualifizieren, wie Sie das hier versucht haben.
Herr Bürgermeister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glos?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn Sie das nicht auf meine Redezeit anrechnen, ja.
Herr Senatspräsident, würden Sie mir bitte bestätigen, daß ich Bremen nicht als Holzklasse bezeichnet habe, sondern gesagt habe, wo sozialdemokratische Politik hinführen kann?
Ich habe mich auf Äußerungen von Herrn Engholm in Bremen bezogen, der gesagt hat, daß die Gefahr besteht, daß eine Plüschklasse West und eine Holzklasse Ost existiert. Das war der einzige Zusammenhang mit Bremen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Okay. Dann bitte ich Sie herzlich, Ihre eigene Rede nachzulesen. Dann wissen Sie Bescheid, was Sie gesagt haben. Ich habe gedacht, das wüßte man nach so kurzer Zeit noch. Lesen Sie Ihre Rede bitte nach.Wenn Sie sozialdemokratisch regierte Länder ansprechen, dann haben Sie Schleswig-Holstein und das Saarland im Sinn. Ich kann auch noch Niedersachsen hinzufügen. Dazu darf ich Ihnen folgendes sagen, und das weist vielleicht darauf hin, daß die Fragen, wie Arbeitslosigkeit entsteht, wie man sie bewältigen soll, wie die Menschen davon betroffen sind, nicht unbedingt immer etwas damit zu tun haben, wer wann wo regiert, aber sehr wohl damit zu tun haben, wer wann welche Instrumente eingesetzt hat.
Nachdem im Saarland, in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein die SPD die Regierung übernommen hat, werden in diesen Ländern jetzt endlich die Instrumente eingesetzt, die Arbeitslosen wirklich helfen.
Vorher war da nichts.
Das dazu.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3139
Präsident des Senats Klaus Wedemeier
Wenn dann noch danach gefragt wird, wie das in Bremen mit dem Sparen sei, will ich Ihnen dazu auch noch etwas sagen. Wenn Sie die Berichte der Deutschen Bundesbank lesen würden, könnten Sie feststellen, daß die Deutsche Bundesbank gerade das Land Bremen wegen der Haushaltsführung der letzten zehn Jahre lobt. Wir haben in den letzten zehn Jahren — das ist dort nachzulesen — netto 3 000 Stellen abgebaut; das finden Sie, relativ gesehen, in keinem anderen Land.
— Ich habe schon einmal gesagt, Herr Kollege Neumann, daß der Glaube, man könne der Arbeitslosigkeit durch eine Einstellungspolitik des öffentlichen Dienstes begegnen, falsch war. Es kommt immer darauf an, was man dann für Konsequenzen gezogen hat. Wenn Sie die Ausgaben von 1970 bis 1990 bei allen Ländern vergleichen, werden Sie feststellen, daß wir darunter liegen.Wir haben also im Personalbereich und im konsumtiven Bereich erheblich konsolidiert, die Investitionen aufgestockt. Das müssen wir uns nicht mehr nachsagen lassen. Wir haben vielmehr seit zehn Jahren gehandelt.Meine Damen und Herren, ich warne aber davor, sich hier hinzustellen und ganz allgemein zu Ländern und Gemeinden zu sagen, sie würden der Haushaltskonsolidierung nicht den Vorrang geben. Ich habe bei solchen Bemerkungen in diesem Hause den Eindruck — entschuldigen Sie bitte — , daß Sie sehr weit von den Problemen der Gemeinden entfernt sind.
Bitte beachten Sie dabei, daß Sie es sind, die uns in den Gemeinden, in den Ländern die Mittel für den Wohnungsbau und die Mittel für den Städtebau nehmen, unsere Sozialhilfekosten hochtreiben, weil Sie eben nichts gegen den Pflegenotstand tun,
weil Sie nichts gegen die Arbeitslosigkeit tun.
Sie novellieren das Arbeitsförderungsgesetz, und dann wollen Sie im Bundeshaushalt auch noch Mittel streichen. Wir in den Gemeinden müssen das, was hier an falscher Politik gemacht wird, bezahlen und aushalten.
Herr Bürgermeister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich möchte meine Redezeit ausnutzen.Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dafür dankbar, daß er — weil das auch anderen immer wieder passieren kann; ich selbst bin da nicht ausgeschlossen — , zum Subventionsabbau gesagt hat, es habe Präsentationsfehler und handwerkliche Fehler gegeben. In der Tat! Ich habe schon im Juni in der Debatte hier gesagt, man solle es Ihnen nicht als Schwäche auslegen, wenn Ihre Beschlüsse wieder einzeln einkassiert würden, sondern eher als die Fähigkeit, zu neuen Einsichten zu kommen. Dies ist ja passiert, wenn zum Teil auch noch nicht ausreichend genug.Sie sind noch einmal auf die Kohle eingegangen. Ich denke, meine Damen und Herren, Subventionen, auch Wettbewerbshilfen in einer Sozialen Marktwirtschaft sind ein legales Instrument der Wirtschaftspolitik im Einzelfall. Sie können auch volkswirtschaftlich unverzichtbar sein. Das trifft z. B. auf die Kohle zu. Wir sind verantwortlich für die Sicherheit der Grundversorgung in Deutschland.
Ich verstehe den Einwand mit der EG. Ich verstehe aber nicht, warum Bundesminister Möllemann ohne Not den Jahrhundertvertrag einfach in Frage stellt.
Ich sage ohne Not, obwohl ich den EG-Druck verstehe: Sehr geehrter Herr Bundesminister, solange es keine abgestimmte Konzeption auf EG-Ebene, unter den Mitgliedstaaten, gibt, sind die einzelnen Staaten in der Pflicht, für ihre Grundversorgung zu sichern.
Darum macht es wenig Sinn, jetzt mit Zahlen über Importkohle und heimische Kohle zu kommen. Bitte machen Sie dann eine gesamtwirtschaftliche, eine volkswirtschaftliche Rechnung auf. Dann wissen Sie, wie schief Ihre Zahlen sind, die Sie hier nennen.
Nun haben die Bergarbeiter an Rhein und Ruhr und an der Saar nicht das Glück, daß es heute eine NRW-oder Saarrunde gibt, weil etwa Landtagswahlen vor der Tür stehen. Sie haben das Pech, daß das nicht der Fall ist. In Bremen aber gibt es Landtagswahlen.
— Ja, das finde ich mutig; auch das muß ich einmal sagen.
— Selbstverständlich, Herr Neumann.
— Nun hört doch damit auf. Wir wollen nur feststellen,daß er nicht gegen mich angetreten ist. Dafür gibt es
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3140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Präsident des Senats Klaus Wedemeier
Gründe, die nicht nur im Portemonnaie zu suchen sind.
Meine Damen und Herren, die Werftarbeiter in ganz Norddeutschland können froh sein, daß sich etwas tut. Ich will zunächst einmal sagen, daß es sich bei der Wettbewerbshilfe nicht um eine Subvention handelt. Die Hilfen sind notwendig, weil es auf internationaler Ebene nicht gelungen ist, gleiche Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Deshalb sind Hilfen für die Werften notwendig.
— Ich wiederhole laut, was er gesagt hat: „Wenn Sie in Bremen die Löhne von Korea einführen, dann ginge das".— Nur, damit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wissen, wie die FDP darüber denkt. Ich halte das für ganz wichtig.Es ist eine Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers, dafür zu sorgen, daß international gleiche Wettbewerbsbedingungen hergestellt werden.
Solange er dabei erfolglos ist, kann er nicht in Deutschland die Wettbewerbshilfe streichen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben bei der EG Ihre Zustimmung dazu gegeben — ich will das nicht kritisieren —, daß in den EG-Staaten 15 % Wettbewerbshilfe gegeben werden. Die EG hat als Begründung angegeben, diese Wettbewerbshilfe diene der Verteidigung eines europäischen Schiffbauanteils. Wie wahr! In Deutschland gibt es 9,5 % Wettbewerbshilfe; das wissen Sie auch. Ich habe Sie im Juni darauf hingewiesen, was passiert, wenn Sie das nicht zurücknehmen. Ich habe Sie auf Japan und Korea hingewiesen. Da gibt es zwar keine direkte Wettbewerbshilfe, sondern da werden die Bilanzen der Unternehmen einfach durch den Staat ausgeglichen, in Korea zum Beispiel. Das ist natürlich keine Wettbewerbshilfe.Sie haben hier damals heftig dagegen geredet. Ich habe Sie auf die dramatischen Folgen und darauf hingewiesen, daß wir in Nordwestdeutschland bei den Werften bereits 41 000 Arbeitsplätze verloren haben. Das hat alles nichts geholfen, Sie haben das für richtig gehalten. Ich war den Abgeordneten in diesem Hause, die dafür gesorgt haben, daß ein Teil der Wettbewerbshilfe wieder freigegeben wurde, für diese Entscheidung sehr dankbar, weil das den Werften geholfen hat. Wenn das nicht geschehen wäre, hätte man nicht einmal mehr Aufträge akquirieren können.
— Nein, das Thema ist nicht vorbei. Die Frage ist: Wie glaubwürdig ist das Wort des Bundeswirtschaftsministers jetzt?
Da hilft auch nicht Ihre Fraktionssitzung in Bremen, wo Sie auf Druck der Bremer oder der Norddeutschen anders entschieden haben. Ich habe heute einer Rede entnommen, daß das Thema eben noch nicht abgeschlossen ist. Es ist deshalb nicht abgeschlossen, weil Sie in der Zwischenzeit unwahrscheinlich viel Schaden angerichtet haben. Das ist doch das Problem.
Sie haben nicht nur die Werftarbeiter verunsichert, Sie haben auch ohne jeden Grund die Unternehmen verunsichert. Das ist das Problem.
Man kann nicht auf internationaler Ebene einen weichen Kurs und bei uns einen harten Kurs verfolgen. Niemand war dabei an Ihrer Seite, Herr Richter, das wissen Sie, Sie wissen, daß die CDU in Bremen heftig gegen diese Subventionskürzungen, gegen diese Kürzung der Wettbewerbshilfe, gekämpft hat, genauso wie alle anderen. Deshalb haben Sie am Ende diesen Schwenk gemacht.Ich will dem jetzt nur noch hinzufügen — —
— Herr Richter, ich könnte Ihnen einen Zeitungsartikel zeigen. Darin haben Sie die Kürzung der Wettbewerbshilfe um 160 Millionen als Ihren Erfolg bezeichnet; Sie hätten Herrn Möllemann überzeugt, daß man das über mehrere Jahre strecken müsse. Und dann haben Sie die Abfinanzierung der letzten Jahre mit dem aktuellen Programm verwechselt.
— Reden wir nicht weiter darüber.
— Ich bin auch sonst hier.
Herr Richter, Sie können eine Zwischenfrage stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich verstehe Ihre Aufregung, Herr Richter. Ich will wissen — mit mir auch andere Parteien in Bremen —,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3141
Präsident des Senats Klaus Wedemeier
ob das, was jetzt gesagt worden ist, auch wirklich gilt oder ob es nach dem 29. anders aussieht als heute.
Ich will noch ein zweites Thema ansprechen, weil auch das etwas mit Wirtschaftspolitik zu tun, nämlich die Strukturhilfe. Damit Sie nicht meinen, ich hielte Wahlkampfreden, beziehe ich mich auf zwei Zitate von Kollegen aus Bremen, damit klar wird, daß ich für alle Bremer Parteien rede. Der Vorsitzende der SPD-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft, Herr Kudella, hat zu dem Vorschlag, die Strukturhilfe zu streichen, folgendes gesagt:
— CDU-Fraktion. Wenn er SPD-Fraktionsvorsitzender wäre, wären auch wir schon bei 23 %.Herr Kudella, CDU, sagt folgendes: „Bei dieser Bundesregierung ist man vor Überraschungen ja nie sicher. "
Soweit der CDU-Fraktionsvorsitzende.Herr Jäger von der FDP ergänzt und appelliert an die Bundesregierung, das Land Bremen nicht weiter zu beuteln. Das war ein Zitat.Ich will das alles nicht kommentieren, zumal die CDU dazu sagt, daß der Parlamentarische Staatssekretär, den wir in Bonn haben, von alledem nichts gewußt hat.
Das Problem ist, daß es sich auch hier — das wissen Sie, die das jetzt machen, genau — um Wortbruch handelt.Wir haben uns beim Strukturhilfegesetz, nachdem lange über die sogenannte Albrecht-Initiative diskutiert worden ist, darauf geeinigt, dieses Strukturhilfegesetz für zehn Jahre aufzulegen.
— Für zehn Jahre.Es war schon damals klar, daß so manches Kriterium des Strukturhilfegesetzes nicht stimmt. Darum sind ja auch zwei Länder zum Bundesverfassungsgericht gegangen. Die Albrecht-Initiative wäre die sinnvollere gewesen.
Damals hatte sich der gesamte Bundesrat dieser Initiative angeschlossen. Aber die Bundesregierung hat das nicht machen wollen und deshalb die Strukturhilfe vorgeschlagen.Wir haben uns auf diese Strukturhilfe und auf dieses Gesetz verlassen. Die Länder sind auf Grund dieses Gesetzes Verpflichtungen eingegangen, die langfristig waren, weil das Gesetz bis 1998 gelten sollte.
— Jawohl, es sollte zum 1. Januar 1992 überprüft werden. Das heißt aber nicht, daß es abgeschafft werden sollte. Das ist nämlich das Problem.
Herr Bürgermeister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Weng?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn ich mit meiner Rede zu Ende bin, gerne. Andernfalls werde ich gleich wegen der Redezeit gemahnt.
Nein, das wird nicht auf Ihre Redezeit angerechnet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann bin ich selbstverständlich dazu bereit.
Herr Bürgermeister, ist Ihnen bewußt, daß in dem Gesetz eine Revisionsklausel enthalten ist — eine Detaildiskussion ist hier leider nicht möglich — und daß diese Revisionsklausel nach Herstellung der deutschen Einheit ganz sicher die politische Überlegung einbeziehen muß, ob man diese Mittel zugunsten der neuen Bundesländer einsetzt, wie das von uns geplant ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann Ihnen das fast wörtlich zitieren. Im Strukturhilfegesetz steht, daß die Verteilung der Finanzhilfen zum 1. Januar 1992 angepaßt wird. Aber es ist nicht von einem vorzeitigen Auslaufen des Strukturhilfegesetzes die Rede. Das ist das Problem.
— Ja, wir wollen das den Realitäten anpassen. Ich will dazu einen Vorschlag machen. Den Realitäten anpassen heißt aber nicht, die struktur- und finanzschwachen Länder im Westen völlig im Stich zu lassen. Das heißt es nicht.
Ich darf Sie darauf hinweisen, daß sich alle Ministerpräsidenten der Deutschen Länder — alle! — am 28. Februar einstimmig darauf verständigt haben, daß dann, wenn das Strukturhilfegesetz revidiert werden soll, selbstverständlich die Situation der neuen Länder, aber — ich zitiere — „auch die der struktur- und finanzschwachen alten Länder zu berücksichtigen ist" . Nur darum bitte ich.Dem entspricht nicht das schlichte Abschaffen des Gesetzes, sondern nur eine Revision, bei der wir die neuen Länder einbeziehen, bei der wir aber die alten Länder, die strukturschwach sind — es werden welche als strukturschwach gehandelt, die es gar nicht sind —, ebenfalls mit berücksichtigen. Das ist das Anliegen.Jetzt will ich dazu einen Vorschlag machen. Ich hoffe, daß wir uns, weil ja klar ist, daß dieses Strukturhilfegesetz im Bundesrat keine Mehrheit findet, miteinander verständigen.
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3142 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Präsident des Senats Klaus Wedemeier
Mein Vorschlag sollte, bitte, einbezogen werden. Er hilft auch den Gemeinden, so wie wir das damals mit der Albrecht-Initiative wollten.Erstens. Ich meine, wir sollten die Strukturhilfe für die alten Länder zum 31. Dezember 1994 auslaufen lassen und für die Zeit von 1992 bis 1994 statt 2,45 Milliarden DM per anno 2 Milliarden DM zur Verfügung stellen, aber den Verteilungsschlüssel an Hand objektiver Kriterien überprüfen und aktualisieren. Zumindest darin bin ich mit der FDP einig.Zweitens. Wir sollten den neuen Ländern und ihren Gemeinden von 1992 bis 1994 jährlich 2 Milliarden DM als Bundesbeteiligung an ihren Sozialhilfelasten zahlen.Drittens. Ab 1. Januar 1995 sollten wir, weil dann das Strukturhilfegesetz ausgelaufen ist, zu einer prozentualen Beteiligung des Bundes an den Sozialhilfekosten kommen. Warum? Auch und gerade für die neuen Bundesländer und ihre Gemeinden ist es wichtig, daß sie von den Sozialhilfekosten, die auf Grund der Arbeitslosigkeit entstehen, entlastet werden. Das ist das Entscheidende.
Es hilft den Ländern und Gemeinden wenig, wenn sie wieder zweckgebundene Mittel zur Verfügung gestellt bekommen, die sie wegen der Zweckbindung nicht abrufen können. Das merken wir doch schon bei den jetzigen Investitionsmaßnahmen und -mitteln. Die Länder, besonders die Gemeinden in den neuen Ländern, brauchen die Entlastung bei konsumtiven Ausgaben. Damit ist sehr viel mehr getan als mit weiteren investiven Hilfen.
Meine Damen und Herren, auch die Tatsache, daß Sie dem Saarland und Bremen wegen der Haushaltsnotlage doppelte Beträge zuweisen wollen, hilft wenig weiter. Erstens ist der Köder erkannt. Zweitens brauchen wir eine Gesamtlösung im staatlichen Finanzausgleich und nicht Einzellösungen. Wir müßten uns endlich zusammensetzen und diese Gesamtlösung finden.Sie würden übrigens den Ländern und Gemeinden im alten Bundesgebiet und im neuen Bundesgebiet noch eine weitere Entlastung zuteil werden lassen, wenn sich wenigstens CDU und SPD darauf verständigen könnten, endlich eine Pflegeversicherung einzuführen.
Wir zahlen in Bremen — nur um einmal eine Zahl aus Bremen zu nennen — 200 Millionen DM für Pflege. Dieses Geld könnte ich für investive Maßnahmen einsetzen, um Arbeitslosigkeit zu beseitigen, die hier beklagt wird. Das kann ich aber nicht, weil ich die Pflege bezahlen muß. Deshalb wäre es auch im Interesse der betroffenen Menschen sinnvoll, wenn eine solche Pflegeversicherung endlich eingeführt werden könnte.
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Neumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist etwas ungewöhnlich, daß im Rahmen einer Haushaltsdebatte des deutschen Bundestages gerade der Bremer Bürgermeister das Wort nimmt. Aber wenn, wie Sie alle wissen, am 29. September Wahlen im Lande Bremen stattfinden, erklärt dies alles.Verehrter Herr Bürgermeister, ich habe auch Verständnis dafür, daß Sie hier versuchen, bezogen auf die Verantwortung für die bremische Finanzmisere, dem Deutschen Bundestag etwas zu erzählen, weil Ihnen das in Bremen auf Grund der dortigen Kenntnisse kaum einer mehr abnimmt, nämlich die Aussage, daß sich das Bundesland Bremen wegen äußerer Einflüsse völlig unverschuldet jetzt in einer finanziell schwierigen Situation befindet.Es ist natürlich nicht wahr, daß das alles ausschließlich der bremischen Politik anzurechnen ist. Selbstverständlich gibt es Momente — wie die Krise in der Werftindustrie — , die zu dieser schwierigen, existentiell bedrohenden Lage dieses kleinen Bundeslandes beigetragen haben. Aber Sie wissen ganz genau, daß Ihre Vorgänger und Sie in entscheidendem Maße durch eine verfehlte Finanz- und Wirtschaftspolitik auch zu dieser Misere beigetragen haben. Das ist die Ausgangsposition.
Ich möchte noch eine Bemerkung machen, damit hier nichts Falsches verbreitet wird: Mein Kollege Glos hat nicht davon gesprochen, daß Bremen gleichzusetzen sei mit einer Holzklasse — obwohl die Schiffe in der Vergangenheit von Holz getragen wurden und das so schlecht auch nicht wäre.
— Ja, das ist schon lange her; aber es ist gut, daß Sie es noch wissen. — Er hat gesagt, daß es, bezogen auf die finanzielle Ausstattung von Regionen, Holz- und Plüschklassen gibt und daß wir uns in Bremen leider nicht in einer Plüschklasse befinden. Darüber klagen Sie doch dauernd, Herr Bürgermeister; deswegen sind Sie hier ja aufgetreten. Was Ihr Kollege Grobecker, der Finanzsenator, sagte, als er Bremen zum Armenhaus gestempelt hat, ist weitaus deutlicher als das, was mein Kollege Glos hier ausgeführt hat. — Dies wollte ich eingangs noch sagen.Ich möchte zu den Punkten, die Sie hier sachlich angesprochen haben, wenige Bemerkungen machen. Thema eins: Die Werftensituation. Ich stelle fest, daß es trotz des in Bremen herrschenden Wahlkampfes keine Unterschiede in der Bewertung gibt. Eine weitere Reduzierung der Werftenhilfe, wie es ursprünglich vorgesehen war, ist nicht vertretbar. Sie würde die deutsche Werftindustrie, nachdem bereits ein Abbau von zwei Dritteln der Arbeitsplätze und damit ein sogenanntes Gesundschrumpfen in den letzten Jahren erfolgt ist, mitten in einer Konsolidierungsphase treffen und gerade für mittelständische Werften existenzbedrohend sein. Sie würde auch für manche Regionen, insbesondere für die Region Bremerhaven, wo
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3143
Bernd Neumann
jeder dritte industrielle Arbeitsplatz vom Schiffbau abhängig ist, katastrophale Folgen haben.Aber ich füge hinzu — dies ist auch an den Bundeswirtschaftsminister gerichtet — : Dies wäre nicht nur aus sozialpolitischen Aspekten, sondern aus meiner Sicht ebenso aus wirtschafts- und industriepolitischen Aspekten falsch. Wir sind nach wie vor eine der größten Exportnationen. In diesem Zusammenhang halte ich es für unverzichtbar, daß wir über eine eigenständige Schiffahrt und damit auch über einen eigenständigen Schiffbau verfügen.
Was Herr Möllemann, bezogen auf den Subventionsabbau macht, ist im Prinzip richtig. Nur muß man dann genau definieren, was unter Subventionen zu verstehen ist. Wenn Subventionen an Unternehmen gegeben werden und dann wettbewerbsverzerrend wirken, an Unternehmen gegeben werden, die normalerweise im Markt nicht wettbewerbsfähig sind, dann ist ihre Streichung oder Reduzierung richtig.Ich darf für die deutsche Werftindustrie — hier würde ich die Kohle nicht ohne weiteres als Vergleich heranziehen — sagen: Sie hat sich gesundgeschrumpft. Sie gehört zu den mit modernster Technologie ausgestatteten Werften in der Welt. Die Tatsache, daß sie jetzt Hilfe braucht, hängt nur damit zusammen, daß in anderen Ländern drastisch gefördert wird.Ich darf darauf hinweisen, daß wir die Fördersätze für die deutschen Werften von 20 % auf 14 %) und jetzt auf 9,5 % reduziert haben, obwohl auf Grund der Bestimmungen der EG-Kommission noch 14,9 % vertretbar wären. Die deutsche Werftindustrie hat bereits die niedrigste Förderquote.Ein wichtiges Argument — auch das richte ich noch einmal an den Bundeswirtschaftsminister — ist die Tatsache, daß auf Grund der kontinuierlichen Beschlüsse des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages die Werften sozusagen im Vertrauen darauf, daß dies so kommt, bereits Verträge abgeschlossen haben, die sie nicht einhalten könnten, wenn wir jetzt kürzten.Wir freuen uns genauso wie Sie, Herr Waltemathe, daß die CDU/CSU-Fraktion in den gesamten zurückliegenden Wochen und Monaten ihre Position beibehalten hat — das ist noch einmal durch den Beschluß vom letzten Montag deutlich geworden —, daß eine weitere Kürzung der Werfthilfen zum jetzigen Zeitpunkt unvertretbar ist.Ich füge hinzu: Es ist bedauerlich, daß durch das vom Wirtschaftsminister ausgelöste Hin und Her in dieser Frage
Unsicherheiten und Ängste bei den Betroffenen an der Küste hervorgerufen wurden. Ich muß dies hier sagen, selbst wenn es Mitglieder der eigenen Regierung trifft. Aber auch umgekehrt ist man ja nicht besonders zimperlich, wie ich den Zeitungen in Bremen täglich entnehmen kann.Meine Damen und Herren, abschließend zu diesem Thema: Der Abbau von Subventionen im Schiffbau setzt internationale Vereinbarungen voraus. Es muß vom Bundeswirtschaftsminister erwartet werden, daß er eine langfristig angelegte Schiffbaupolitik betreibt, die den Realitäten des internationalen Wettbewerbs Rechnung trägt. Insofern, Herr Kollege Glos und meine Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion, bedanke ich mich bei Ihnen auch im Namen der vielen tausenden Werftarbeiter sehr ausdrücklich dafür, daß Sie ihre konsequente Haltung der nicht weiteren Streichung beibehalten haben.
Meine Damen und Herren, Herr Wedemeier hat einen anderen Punkt angesprochen. Er betrifft die sogenannte Strukturhilfe für strukturschwache Länder. So sehr es natürlich jeden angeht, will ich vom Grundsatz her einmal feststellen: Es gibt natürlich schon zu denken, wenn wir — in Anbetracht der kritischen Situation in den fünf neuen deutschen Bundesländern — acht von elf Ländern der alten Bundesrepublik nach wie vor als notleidend betrachten und in die Strukturhilfe einbeziehen. Das muß zum Überdenken Anlaß geben, so sehr es richtig ist, daß hier bestimmte Vereinbarungen geschlossen worden sind.Meine Damen und Herren, weil dies richtig ist, ist es auch richtig, in einer solchen Situation darüber nachzudenken, ob die Strukturhilfe in dieser Weise mit diesen vielen Milliarden weiter fortgesetzt werden soll. Ich finde es im Prinzip richtig, daß auch die alten Bundesländer ihren Beitrag dazu leisten, daß im anderen Teil Deutschlands vernünftige und gleiche Lebensverhältnisse hergestellt werden.
Natürlich ist das Bundesland Bremen wegen seiner ohnehin schon bestehenden finanziellen Handlungsunfähigkeit kaum in der Lage, Herr Kollege Borchert, eine weitere Streichung zu verkraften. Deshalb unterstützen wir natürlich die Zielsetzung, bei den Verhandlungen möglichst das zu erhalten, was Bremen insgesamt zugesagt worden ist. Das hebe ich an dieser Stelle ausdrücklich hervor.Im übrigen darf ich zur Erklärung hinzufügen: Herr Bürgermeister Wedemeier, weil ja die besonders kritische finanzielle Situation unseres Bundeslandes gesehen wird, ist Bremen zum Teil von den infolge der deutschen Einheit zu erbringenden Leistungen in bezug auf die Umsatzsteuer suspendiert.
— Sie sind im Rahmen der gesamten Verteilung zum Teil reduziert worden; das wissen Sie ganz genau. Andere Bundesländer tragen einen Teil, den Bremen normalerweise leisten würde, mit.Ich darf hinzufügen: Herr Wedemeier, dieses Thema eignet sich, selbst wenn Sie es jetzt in Bremen versuchen, nun wirklich nicht zur Dramatisierung. Warum nicht? So sehr wir jede Mark brauchen: Hier geht es, bezogen auf den Anteil des Bundes, wenn man es in einem Saldo verrechnet, um 13 Millionen pro Jahr — wenn ich die Niedersachsen-Regelung
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hinzunehme, sind es 23 Millionen DM im Jahr —, und das bei einem Haushalt, der weit mehr als 6 Milliarden DM im Lande Bremen ausmacht. Das heißt, es sind 0,1 %. Insofern ist Bremen in diesem Punkt nicht besonders bedroht, obwohl ich zugebe, es wäre sehr schön, auch hier nichts leisten zu müssen.Aber, meine Damen und Herren, es kann ja wohl nicht wahr sein, daß wir unsere moralischen und politischen Verpflichtungen im Vollzug der deutschen Einheit, nämlich die baldige Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, unterlassen, nur weil sich z. B. das Bundesland Bremen auf Grund jahrzehntelanger verfehlter sozialdemokratischer Finanzpolitik in einer finanziellen Sackgasse befindet. Das kann nicht die Konsequenz sein.Meine Damen und Herren, wir sind auch dafür— das wissen Sie —, daß über den Finanzausgleich und die Rolle der Stadtstaaten geredet wird. Hier gibt es Ungerechtigkeiten, und hier gibt es ja auch Gespräche, die wir gemeinsam mit dem Bundeskanzler geführt haben und die ihre Fortsetzung finden müssen.
Herr Kollege Neumann, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Lassen Sie mich abschließend folgendes feststellen: Herr Bürgermeister Wedemeier, Sie können für die langjährigen Versäumnisse bremischer SPD-Politik und das daraus resultierende wirtschaftliche und finanzielle Desaster nicht die Bundesregierung verantwortlich machen.
— Nein, das ist keine Pflichtübung, sondern das sage ich Ihnen, Herr Waltemathe, weil auch Sie immer Schwierigkeiten haben, sich hier in Bonn für die Bremer Freunde durchzusetzen.
Herr Kollege Neumann, noch ein Schlußsatz!
Ich habe meinen Schlußsatz unterbrochen und setze ihn fort.
Meine Damen und Herren, wir setzen uns dafür ein, daß Bremen auch in Zukunft geholfen wird. Aber in erster Linie, Herr Bürgermeister Wedemeier, müssen Sie vor Ort, im Lande Bremen, das eigene Haus in Ordnung bringen. Sie müssen erst einmal Ihre Schularbeiten machen. Lassen Sie mich im Sinne Ihres Fraktionsvorsitzenden oberlehrerhaft sagen: Ihre bisherigen Leistungen waren mangelhaft.
Meine Damen und Herren, wir haben eine lange Debatte vor uns. Sie wird noch länger, wenn jeder Redner seine Redezeit ein gutes Stück überschreitet. Bitte nehmen Sie alle doch zur Kenntnis, daß hier vorn eine Minute vor Schluß Ihrer Redezeit ein gelbes Licht aufleuchtet und daß ein rotes Licht aufleuchtet, wenn die Redezeit zu Ende ist. Es geht nicht, daß man noch längere Passagen verliest. Es macht keinen Spaß, von hier oben aus zu sagen: Hören Sie jetzt auf zu reden.
— Sie irren, Herr Kollege Gerster; der Präsident ist immer gerecht nach allen Seiten.
Das Wort hat der Kollege Manfred Richter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß der Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen hier herkommt, um uns zu erklären, wie man solide Haushaltspolitik macht, ist an sich schon ein starkes Stück.
Was er dann im weiteren Verlauf seiner Rede insbesondere zu einem Thema, das mir wirklich am Herzen liegt, gesagt hat, nämlich zur Schiffbauförderung, hat dem Faß nun wirklich den Boden ausgeschlagen, und das an einem Tag, an dem die Bremer SPD eine Anzeige in die Zeitung gebracht hat, die ein Skandal ist. Sie macht im Grunde deutlich, daß es der SPD nicht um die Sache geht, sondern daß es ihr nur um einen billigen Wahlkampfgag geht. Sie sollten sich was schämen!
Ich sehe Frau Janz, die Landesvorsitzende der SPD, hier nicht, aber ich würde es auch sagen, wenn sie im Saal wäre: So kann man das nicht machen. Es spricht ja auch für sich, daß sich die Kollegin auf einer Belegschaftsversammlung der Werftarbeiter hinstellt und dicke Backen macht, während hier andere die Debatte führen müssen. Ich habe nichts von dem zurückzunehmen, was ich den Werftarbeitern gesagt habe, nicht ein Wort! Aber ich möchte heute von Frau Janz hören, wie die Haltung der SPD ist. Wie ist sie denn? Haben Sie etwa eine klammheimliche Freude verspürt, als die Werfthilfe in der Diskussion war? Das muß man glauben, wenn man diese Anzeige liest.Uns geht es um die Sache, um nichts anderes.
Es waren sachliche Gründe, die dazu geführt haben, daß wir eine lange Diskussion mit den Betroffenen, mit den Arbeitnehmern und mit den Wirtschaftsvertretern in diesem Bereich, gehabt haben und daß wir diesen Bereich aus dem Katalog der Bundesregierung herausgenommen haben.Wir haben von einer Kürzung Abstand genommen, und es hat gute Gründe dafür gegeben. Der Schiffbaumarkt ist ein Weltmarkt. Die Verhältnisse auf diesem Weltmarkt sind nicht in Ordnung.
— Hören Sie einmal zu, denn auch die Kollegin, die den Mund auf den Betriebsversammlungen aufmacht, darf hier auch reden; es ist ja nicht so, als ob nur wir das dürften. — Ausländische Mitbewerber werden durch die jeweilige Subventionspraxis in einen Wettbewerbsvorteil gebracht, den unsere Werften nicht ausgleichen können, obwohl die Produkte in Ordnung
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Manfred Richter
sind. Die internationale Wettbewerbsverzerrung im Schiffbaumarkt ist beträchtlich, und zwar insbesondere durch fernöstliche Mitbewerber.Wir haben unsere Schiffbaustruktur in der Vergangenheit in schmerzhaften Schritten in Ordnung gebracht. Das ist auch wichtig. Wir in Europa haben ein Interesse daran, daß wir uns nicht eines Tages einem fernöstlichen Monopol beugen müssen. Dem Ausgleich dieser Wettbewerbsverzerrung dient die Schiffbauförderung, nichts anderem.Ich begrüße es sehr, daß der Bundeswirtschaftsminister angekündigt hat, daß die Bundesregierung aktiv werden wird, um die ausländischen Mitbewerber zu einer Aufgabe ihrer Subventionspraxis zu bewegen. Ich wünsche der Bundesregierung dabei viel Erfolg. Wenn die internationale Wettbewerbsverzerrung beendet wäre, wären in der Tat auch unsere nationalen Schiffbaufördermittel entbehrlich. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Kürzung jedoch ausgesetzt.Unsere Werften sind leistungsfähig. Ihre Produkte sind gut. Ein modernes Schiff ist eben kein zusammengeschweißter Metallkörper, sondern es ist ein Stück Hochtechnologie. Nicht nur im Schiffbau selbst, sondern auch in der Zulieferindustrie werden Produkte entwickelt und verkauft, die auf dem Weltmarkt mithalten können, auch ohne Subventionen, wenn die anderen Nationen ihre unfaire Praxis einstellen.Das Ziel heißt also weiterhin Subventionsabbau. Das ist richtig so. Die jetzt vorgesehenen Kürzungen von über 30 Milliarden DM bewirken auf Dauer noch nicht die notwendige Haushaltsentlastung. Wir wollen, daß auch in Zukunft der Haushalt verantwortbar bleibt, solide bleibt und eben nicht das eintritt, was im Lande Bremen lang geübte Praxis ist: daß eine Verletzung der Haushaltsordnung praktisch schon der Normalfall ist. Der Finanzsenator des Landes Bremen hat einen zu Herzen gehenden Brief geschrieben; den braucht man nur nachzulesen.Meine Damen und Herren, ich sage nicht, daß die schwierige Lage in Bremen allein die Schuld der regierenden SPD ist. Darauf hat Herr Neumann eben hingewiesen. Ich teile diese Ansicht. Natürlich nimmt Bremen z. B. mit seinen Hafenlasten gesamtstaatliche Aufgaben wahr. Das wird durch den Bund auch abgegolten. Nicht alles ist hausgemacht. Aber es gibt eben auch eine ganze Menge hausgemachter Ursachen für die bremische Misere. Bremen ist arm, aber es leistet sich Dinge, die sich andere nicht leisten. Außerdem folgt es immer noch der Maxime: Wenn ich nicht mehr weiter kann, fang' ich 'ne neue Behörde an. Da wird dann eine Zentralstelle eingerichtet, und die verwaltet sich selbst und macht nur Kosten, und das bei einer Haushaltssituation, die der Stadt überhaupt keinen Bewegungsspielraum läßt. Nein, dem Bundeshaushalt soll es nicht so ergehen, wie es dem Bremer Landeshaushalt seit vielen Jahren ergangen ist.
Deshalb muß die Bundesregierung, muß der Bundeswirtschaftsminister beim Abbau von Subventionen Erfolg haben. Unsere Unterstützung dabei hat er.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann.
Vielen Dank, Herr Präsident. — Ich möchte, weil mich ein bestimmter Abschnitt der Debatte überrascht hat, gerne zwei Sachen klarstellen. Die Koalitionsfraktionen haben in den vergangenen Tagen beschlossen, eine Korrektur vorzunehmen, aber nicht an einer Presseerklärung des Bundeswirtschaftsministers oder einer persönlichen Absichtserklärung, sondern an einem beschlossenen Haushaltsgesetzentwurf des Bundeskabinetts. Ich finde es bemerkenswert, wenn sich ein Mitglied desselben hierherstellt und so tut, als sei das die persönliche Meinung eines Kabinettmitglieds. Am 10. Juli hat das Bundeskabinett den Haushalt 1992 und die mittelfristige Finanzplanung beschlossen. Die Zahlen, über die wir reden, können Sie nachlesen. Union und FDP haben nach einer intensiven Diskussion eine bestimmte Korrektur vorgenommen. Diese Korrektur trage ich mit, mit folgender Begründung, die Herr Kollege Richter angesprochen hat.In der Tat ist es bei den derzeitig laufenden GATT-Verhandlungen wie auch bei den Abstimmungen der EG noch nicht möglich gewesen, wettbewerbende Staaten zur Korrektur ihrer zum Teil beträchtlichen Subventionspolitik zu bewegen. Das wollen wir tun. Bis uns das gelungen ist, soll die entsprechende, von uns intendierte Veränderung ausgesetzt werden. Darüber, daß diese Subventionierung abgeschafft werden soll, wird wohl jeder mit uns einer Meinung sein.Denn, meine Damen und Herren, die Zahlen sind eindeutig. Wir hatten im Jahre 1984 373 Millionen DM Zusagen und damit einen Anteil der Zusagen von Wettbewerbshilfen für die Werften und Werfthilfe von 11,9 % an den Aufträgen. Im Jahre 1986 hatten wir 277 Millionen DM Zusagen und damit 18 % Anteil an den Aufträgen, im Jahre 1989 Zusagen von 696 Millionen DM und damit einen Anteil von 14 % und im Jahre 1990 Zusagen von 751 Millionen DM und damit einen Anteil von 31 %. Oder anders gesagt: Im Blick auf die Arbeitsplätze im Handelsschiffbau zahlten wir im Jahre 1985 pro Kopf der dort Beschäftigten 26 000 DM Zuschuß, im Jahre 1987 29 000 DM, im Jahre 1989 47 000 DM und im Jahre 1990 49 000 DM. Meine Damen und Herren, daß das volkswirtschaftlicher Unfug ist, daß wir anfangen — eventuell auch noch abgestimmt zwischen den verschiedenen Staaten — , in einigen wenigen Branchen ein Negativbeispiel zu geben, das sofort Nachfolgetatbestände in vielen anderen Wirtschaftszweigen auslöst, die dann auch Subventionen haben wollen, muß man so deutlich sagen können.
Ich sage hier also in aller Klarheit: Auch wenn in Bremen Wahlkampf ist, kann man diese Fakten nicht verdrängen. Unser Ziel muß sein, von der Subventionspolitik herunterzukommen, natürlich abgestimmt mit unseren Handelspartnern an anderer Stelle, wenn es eben möglich ist.Aber lieber Herr Wedemeier, ich fand zweierlei nicht in Ordnung: erstens daß Sie den Eindruck erweckt haben, als hätten die Koalitionsfraktionen das
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Bundesminister Jürgen Möllemannnicht so klar beschlossen. Das ist jetzt beschlossen. Damit ist die Sache bis zu einer einheitlichen Regelung ausgesetzt.Zweitens. Sie haben dann gesagt, es sei nicht in Ordnung, einen Subventionsprozeß so zu gestalten, wie das jetzt läuft, und haben dann den Vergleich zur Kohle gezogen. Wissen Sie, womit ich konfrontiert werde? Mit lauter Repräsentanten von befreundeten Staaten, Australien, USA, Kolumbien, Polen, die mir sagen: Wir sind doch bereit, euch unsere Kohle für 90 DM zu verkaufen. Und wir schotten ab, lassen die nicht rein, zahlen Subventionen, 75 000 DM für jeden deutschen Bergmann.
Das ist doch kein vernünftiger Vorgang. Ich weiß nicht, was Ihr Debattenbeitrag eigentlich an Plausibilität ausweisen sollte. Wenn Sie so in Bremen Wirtschaftspolitik betreiben, wundert mich der Zustand, den Herr Kollege Richter beschrieben hat, allerdings nicht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Matthias Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich frage mich, sozusagen im Interesse vieler Kollegen in diesem Hause, ob es eine gute Übung ist, daß wir manchen Bürgermeister, Senatspräsidenten oder Ministerpräsidenten immer nur wenige Tage vor einer Wahl bei Reden in diesem Hause sehen,
um sie dann für vier Jahre nicht wiederzusehen. Ich frage mich, ob diese Art von Schaufenster-Debatten einer Haushaltsberatung guttut.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben recht, wenn Sie ihre subventionspolitischen Ziele formulieren, und Sie haben unsere Unterstützung, wenn Sie mit dem Finanzminister Einsparungen verlangen. Sie sagen zu Recht: In einer Sozialen Marktwirtschaft müssen Subventionen immer wieder auf den Prüfstand. Das gilt natürlich für alle Bereiche. Ich frage mich nur, ob es gut ist, wenn Sie versuchen, die Subventionskürzungsdiskussion nach dem Motto einer Echternacher Springprozession zu organisieren:
Zwei Schritte vor, zwei zurück.
Im Mai dieses Jahres haben Sie Werftensubventionen in Höhe von 170 Millionen DM freigegeben, nachdem Sie zuvor die Streichung sämtlicher Werfthilfen vorgeschlagen hatten und im Vorgriff darauf die Kreditanstalt für Wiederaufbau angewiesen hatten, für 1992 keine neuen Zuwendungsbescheide auszustellen. Im Juli dieses Jahres haben Sie dann wieder eine Kürzung der Werftensubventionen in Höhe von 160 Millionen DM für den Zeitraum 1992 bis 1994 vorgeschlagen und einen entsprechenden Kabinettsbeschluß erwirkt. Zufälligerweise wenige Wochen vor den Bremer Wahlen haben Sie dann dem Vorschlag der FDP-Fraktion, der in der CDU/CSU-Fraktion seit Wochen auf dem Tisch war, plötzlich zugestimmt und Ihre Haltung wieder korrigiert. Jeder von uns macht Fehler — und Sie haben selber von „handwerklichen Fehlern" gesprochen —, aber, lieber Kollege Möllemann, ich glaube, wir brauchen, wenn wir die Subventionsabbauziele ernst meinen, mehr Stetigkeit, Zuverlässigkeit und Geradlinigkeit in unserer Politik;
denn nur dann verstehen die Menschen, worum es uns im Kern geht.
Ich darf mir nach der Bremer Runde erlauben, wieder auf den Kern dieser Wirtschaftsdebatte zurückzukehren: Fast die Hälfte der Ausgaben im Einzelplan 09 sind einigungsbedingte Ausgaben. Das ist auch richtig so; denn wir alle wissen, die Wirtschaft in den neuen Bundesländern befindet sich in einem schmerzhaften Umstrukturierungsprozeß, dessen Talsohle noch nicht völlig durchschritten ist. Und trotzdem, bei all diesen Schwierigkeiten, die keiner von uns leugnet, gibt es positive Anzeichen, die Anlaß zu einem begründeten Optimismus geben, daß wir in absehbarer Zeit in den neuen Bundesländern wirtschaftlich über den Berg kommen.Die Bauwirtschaft entwickelt sich zur Konjunkturlokomotive für die ostdeutsche Wirtschaft. Wir verzeichnen beim Bau deutlich gestiegene Auftragseingänge: im März plus 41 %, im April plus 11 %, im Mai gar plus 50 % , im Juni plus 28 %. Die Baukonjunktur ist deutlich angesprungen. Wenn wir noch einmal rekapitulieren, wie die Situation in Westdeutschland in der Nachkriegszeit war, dann können wir sagen: Wenn die Baukonjunktur angesprungen ist, dann war das in der Regel die Initialzündung mit einem gewissen Zeitverzug für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage insgesamt. Deswegen ist es ein gutes Zeichen, wenn in ostdeutschen Bundesländern die Bauwirtschaft vorankommt.Auch der Aufbau mittelständischer Strukturen kommt voran. Ich denke an Bäcker, Metzger, Friseure, Maler, Tischler, Drogerien, Textil- und Bekleidungsgeschäfte.Meine Damen und Herren, wir haben seit Jahresanfang 1990 eine Existenzgründungswelle im Mittelstand in den neuen Bundesländern zu verzeichnen. Bis zur Jahresmitte 1991 wurden 375 000 Gewerbebetriebe angemeldet.Wir sprechen hier über den Bundeshaushalt: Seit dem März 1990 bis Ende Juni 1991 konnten aus dem ERP-Programm rund 111 000 Einzelförderungen mit einem Kreditvolumen von 12 Milliarden DM gerade für diesen Mittelstand auf den Weg gebracht werden.Eines ist doch ganz klar, nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in den neuen Bundesländern: Wenn wir den Erfolg dort erreichen wollen, dann brauchen wir Hundertausende von kleinen und mitt-
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Matthias Wissmannleren Betrieben, Menschen, die sich selbständig machen.
Das ist eine Entwicklung, die wir begünstigen. Wir wissen, auch im Westen stammen von tausend neu geschaffenen Arbeitsplätzen über 900 aus Betrieben zwischen 1 und 100 Beschäftigten und die restlichen aus Betrieben zwischen 100 und 1 000 Beschäftigten, während die Betriebe mit über 1 000 Beschäftigten im Schnitt im weltweiten Wettbwerb stehen und eher zu Anpassungen gezwungen sind. Der Mittelstand ist die Voraussetzung dafür, daß es in Ostdeutschland weiter aufwärts gehen wird.
Das müssen auch Sie von der SPD begreifen, wenn Sie über ihre Vorstellungen von Industriepolitik sprechen.Ich will ein jüngstes Datum nennen, weil wir kurz vor der sozialpolitischen Debatte stehen, ein erfreuliches Zeichen: Im August ist erstmals die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern leicht zurückgegangen. Natürlich wissen wir, daß wir noch nicht über den Berg sind, natürlich wissen wir, daß die Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt nicht allein den Marktkräften zu verdanken ist. Ich finde, die Sozialdemokraten sollten hier auch dem Bundesarbeitsminister einmal dafür danken, daß er mit seiner arbeitsmarktpolitischen Strategie mit dazu beiträgt, daß die Arbeitslosigkeit nicht die Höhen erreicht, die wir sonst erreicht hätten und daß wir den Menschen helfen, mit Umschulung, Weiterbildung, Qualifizierung, auch mit ABM,
zu einer Verbesserung der Situation zu kommen.Herr Kollege Roth, Sie und viele andere haben in den letzten Jahren immer wieder Horrorvisionen über die Entwicklung in West- und Ostdeutschland an die Wand gemalt. Noch vor zwei Monaten haben viele sozialdemokratische Kollegen vor einer drohenden Ausbildungskatastrophe in den ostdeutschen Bundesländern gewarnt. Wie sind die Zahlen heute? Ende Juli standen rund 20 000 noch nicht besetzten Ausbildungsstellen insgesamt 40 000 Bewerber gegenüber. Alles, was wir aus der Entwicklung der letzten Tage und Wochen hören, besagt, daß sich die Situation bis Ende September vermutlich weiter verbessern wird. Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt vor zwei Tagen: Die befürchtete Ausbildungsplatzkatastrophe ist Gott sei Dank ausgeblieben. Ich finde, es wäre gut, wenn wir gemeinsam bei aller Erkenntnis der großen Schwierigkeiten auch solche positiven Nachrichten zur Kenntnis nehmen würden, denn die Menschen brauchen Ermutigung, um durch die Talsohle hin-durchzukommen,
und sie brauchen die Hoffnung, daß wir im Jahre 1992 den Turnaround, die wirtschaftliche Wende in Ostdeutschland erreichen können.Meine Damen und Herren, Ende 1990 haben sich bereits 1 100 westdeutsche Unternehmen in den neuen Bundesländern engagiert. Die Investitionspläne dieser Unternehmen summieren sich bis Mitte dieses Jahrzehnts auf 70 Milliarden DM. 400 000 Arbeitsplätze sollen damit geschaffen werden. Das heißt: Wir kommen ungeachtet aller Schwierigkeiten voran, wir können die Schwierigkeiten meistern. Diese Schwierigkeiten sind ja nicht ein Ergebnis von Sozialer Marktwirtschaft, sondern ein Ergebnis von 40 Jahren Kommandowirtschaft.
Diese Schwierigkeiten haben wir jetzt gemeinsam auszubaden und zu bewältigen.Lassen Sie mich einen kritischen Satz zur Privatisierung von Wohnungen in den neuen Bundesländern sagen; denn hier zeigt sich leider nur wenig Bewegung. Gegenwärtig sind 41 % des gesamten Wohnungsbestands in den neuen Bundesländern in der Hand der Städte und Gemeinden. Die Mieterlöse für die Kommunen sind so gering, daß ihr Aufkommen für den Unterhalt der Wohnungen nicht ausreicht, von Renovierung oder Modernisierung der Wohnungen ganz zu schweigen.Hier ist im Interesse der Menschen ein enormer Nachholbedarf zu befriedigen. Eine jüngste Meinungsumfrage sagt, daß 500 000 Haushalte in den neuen Bundesländern innerhalb von zwei Jahren Wohneigentum zur Eigennutzung erwerben wollen. Bis heute — das sage ich an uns alle gerichtet: Bund, Länder und Gemeinden — ist die Privatisierung von Wohnungen in den neuen Bundesländern nicht genügend vorangekommen.
Deswegen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich: Hier muß die Bundesregierung — ich bitte hier insbesondere auch die Bundesbauministerin — Initiativen entfalten, eine konzertierte Aktion durchführen und den Städten und Gemeinden auch Sachverstand zur Verfügung stellen —
die sind häufig mit anderen drängenden Schwierigkeiten beschäftigt — , damit die Menschen drüben, die Wohnungen erwerben wollen und sie dann auch modernisieren wollen, dies auch endlich können, damit wir zu einer Modernisierung der Wohnungen
und zu einer Entlastung von der Sorge kommen, mit ständig steigenden Mieten auf Dauer auch die persönliche soziale Situation nicht bewältigen zu können.Aber eines ist auch klar: All die großen Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern werden wir nur bewältigen können, wenn die westdeutsche Wirtschaft ihre hohe Dynamik behält. Im ersten Halbjahr 1991 lag die Steigerung des Bruttosozialprodukts real bei 4,5 %. Die Beschäftigung in Westdeutschland hat seit dem zweiten Quartal 1990 um rund 860 000 Personen zugenommen.
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Matthias WissmannDeswegen brauchen wir die Fortsetzung der Politik marktwirtschaftlicher Erneuerung, einer stabilitätsgerechten, die Wachstumskräfte fördernden Steuer-, Finanz- und Wachstumspolitik.
Ich wäre froh Herr Kollege Roth, wenn sich die Sozialdemokraten endlich darauf besinnen könnten, eine solche Politik — die auch heißt: Unternehmensteuerreform, Unternehmen für den europäischen Binnenmarkt fit machen — nicht länger zu verteufeln, sondern zu unterstützen. Dann könnten wir um die Einzelheiten ringen, aber wären uns wenigstens über die Grundlinie einig.
Ich finde, das brauchen unsere Unternehmen, wenn sie vorankommen sollen.Herr Roth, eine Bitte: Stimmen Sie Ihre Wirtschafts-und Finanzpolitik in den sozialdemokratischen Reihen doch einmal etwas besser ab.
Sie sprachen vorhin von Zinserhöhungen. Natürlich sind alle über die Zinslasten besorgt, die die Bürger treffen. Da sagt Herr Blessing, Ihr neuer Bundesgeschäftsführer, der offensichtlich versucht, eine gewisse Ordnung in das Tohuwabohu Ihrer Organisation zu bringen
— Herr Roth, eine Erfahrung haben wir gemacht: Lautstärke überdeckt nie konzeptionelle Schwäche —,
zum Beschluß der Bundesbank, die Bundesbank habe recht. Am selben Tag sagt Herr Roth, die Entscheidung der Bundesbank sei zu bedauern.
Ich wüßte gern: Wo ist eigentlich Ihr finanz-, steuer-und wirtschaftspolitisches Konzept? Haben Sie außer Absagen an unsere Politik eigentlich eine konstruktive eigene Politik zu formulieren?
In dieser Debatte jedenfalls ist die Antwort darauf ausgeblieben.Ich wünsche mir, daß wir endlich um Alternativen ringen können und daß es nicht nur um destruktives Gegenüberstellen sozialdemokratischer Politik geht.
— Herr Präsident, ich weiß nicht, ob ich noch die Möglichkeit habe, die Frage entgegenzunehmen. Ich tue es gern.
Sie haben noch ein paar Sekunden. Aber die Frage und die Antwort werden Ihnen ja nicht angerechnet. Also ist dieser Dialog mit dem Kollegen Roth möglich.
Bitte, Herr Kollege Roth.
Wären Sie so lieb, mein Zitat, das Sie da mißbraucht haben, voll zur Kenntnis zu nehmen? Ich habe gesagt, diese Zinserhöhung durch die Bundesbank sei zu bedauern, aber diese Maßnahme sei die logische Folge einer verfehlten Schuldenpolitik der Bundesregierung. Insofern — nehmen Sie das zur Kenntnis — sind die Aussagen des lieben Herrn Blessing und meine Aussage nahezu identisch.
Ich freue mich über diese Zwischenfrage, Herr Präsident. Denn ich habe die beiden Erklärungen mitgebracht.
Wörtliches Zitat Roth, SPD, im Deutschen Bundestag — auf einem Fraktionsbogen — , vom 15. August 1991:
Die Entscheidung des Zentralbankrats ist zu bedauern. Die Erhöhung der Leitzinsen wird in der gegenwärtigen kritischen konjunkturellen Situation negative Auswirkungen auf die Investitionen haben.
Jetzt lese ich aus dem Presseservice der SPD vor. Es erklärt SPD-Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing:
Die Bundesbank hat recht. Sie hat sich Sorgen um die Inflation gemacht.
Meine Damen und Herren von der SPD, klären Sie endlich Ihre Positionen! Dann sind Sie eine glaubwürdige Alternative auch hier im Deutschen Bundestag.
Ich erteile dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung ist mit Abstand der größte Einzelplan dieses Bundeshaushalts; seine Steigerung ist größer als die der Gesamtausgaben. Er ist damit auch das Dokument, daß dies ein Haushalt der sozialen Verantwortung ist.Nationale Einheit ist die eine Seite, soziale Einheit die andere. Ohne soziale Einheit wäre die nationale Einheit eine Halbheit.
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Bundesminister Dr. Norbert BlümDeshalb liegt ein Schwergewicht des Sozialhaushalts auf der Sozialpolitik zugunsten der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. 21,6 Milliarden DM dieses Haushalts sind durch die Einigung bedingt.Das größte Finanzvolumen, der größte Geldbrocken dieses Sozialhaushalts ist das Geld für die Rentenversicherung aus unserer gesamtstaatlichen Verantwortung für die ältere Generation: 61 Milliarden DM für die Rentenversicherung, 10 Milliarden DM davon bedingt durch die deutsche Einheit. Es ist ein höherer Bundeszuschuß als je zuvor, ausgelöst auch durch die Neuregelung des Bundeszuschusses, die wir gemeinsam mit dem Rentenreformgesetz 1992 beschlossen haben, und durch höhere Leistungen im Zusammenhang mit dem Rentenüberleitungsgesetz, das die rentenpolitische Einheit schaffen soll.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in diesem Haus ja viel Gelegenheit zur Kontroverse und zum Konflikt. Wir sollten dem Konflikt nicht aus dem Weg gehen; er ist das Salz in der Suppe der Demokratie.Dennoch finde ich es gut, wenn wir uns in Sachen Rentenpolitik weiterhin um ein Höchstmaß von politischem Konsens bemühen.
Ich bedanke mich bei allen, sowohl was die Rentenreform anlangt, die sich jetzt im neuen Bundeszuschuß niederschlägt, als auch hinsichtlich der Rentenüberleitungen. Ich glaube, es ist auch ein Teil des Vertrauenskapitals, daß wir die Rente aus dem Streit herausbringen und daß Rentenpolitik über den Zeitraum von Legislaturperioden hinaus betrieben wird.Der Bundeszuschuß im Zusammenhang mit den Kindererziehungszeiten macht 4,9 Milliarden DM aus. Ab 1992 werden für Kinder, die nach dem 1. Januar geboren werden, die Kindererziehungszeiten von einem Jahr auf drei Jahre erhöht. Das ist ein weiterer wichtiger Fortschritt auch zur Flankierung des Erziehungsurlaubs, zur Flankierung unserer Familienpolitik.Mit dem Rentenreformgesetz, das durch diesen Haushalt finanziell unterstützt wird, wird zum erstenmal das Angebot einer Teilrente gemacht. Ich finde, das ist mehr als nur ein rentenpolitischer Fortschritt. Es sollte ein Beitrag sein zur Humanisierung des Arbeitslebens, ganz besonders zur Humanisierung des Übergangs von der Erwerbsarbeit in den Ruhestand. Die Teilrente kann mit einem Teillohn kombiniert werden. Auf diese Weise kann der Übergang ohne wesentliche Einkommensverluste so gestaltet werden, daß man nicht von heute auf morgen mit der Erwerbsarbeit Schluß macht. Schließlich ist der Mensch ja keine Maschine, die abgestellt wird.Unsere Rentenpolitik zeigt sich auch in der Verantwortung für die Rentner in den neuen Bundesländern. In den neuen Bundesländern sind die Renten in den ersten zwölf Monaten um durchschnittlich 66 % gestiegen. Damit sind die Rentner mit die ersten, die an den Früchten der deutschen Einheit partizipieren. Sie haben es auch verdient: Das ist jene Generation, die die größten Leiden dieses Jahrhunderts ertragen mußte, nämlich zwei Weltkriege, die deutsche Teilung, 40 Jahre Sozialismus.Ihre Zukunft ist kürzer als die Zukunft der Jungen. Deshalb haben wir für die Wiedergutmachung nicht so viel Zeit. Deshalb müssen wir mit aller Kraft unserer Verantwortung für die ältere Generation gerecht werden, mit aller Kraft unsere Unterstützung aufbringen, damit es den Rentnern ganz besonders in den neuen Bundesländern besser geht, als es ihnen in 40 Jahren Sozialismus gegangen ist.
Nach dem Renten-Überleitungsgesetz werden 900 000 Witwen in den neuen Bundesländern durch eine ordentliche Witwenversorgung ihr Einkommen verbessern. 150 000 Witwen werden überhaupt zum erstenmal eine Witwenrente erhalten.
Das sind handfeste Verbesserungen für eine Generation, die — ich sage es noch einmal — viel mitgemacht hat.200 000 werden früher in Rente gehen können. Das ist in dieser Situation im übrigen auch eine arbeitsmarktpolitische Entlastung.Der Zugang zur Invalidenversicherung wird verbessert. Das soll auch dazu beitragen, daß jemand nicht mit ruinierter Gesundheit in Rente geht, sondern man ermöglicht ihm frühzeitig, bevor er verschlissen und kaputt ist, den verdienten Ruhestand.Meine Damen und Herren, wir haben das alles geschafft — das wird von manchen übersehen — , obwohl wir die Beiträge zur Rentenversicherung in Schach gehalten haben, und zwar in einer Weise, wie wir es uns selber gemeinsam nicht zugetraut haben. Trotz milliardenschwerer Belastungen durch Rentenanhebungen liegen die Beiträge zur Rentenversicherung unter jenem Satz, den wir bei der Rentenreform geschätzt haben. Damals haben wir 18,7 % für 1991 geschätzt. Wir liegen aber bei 17,7 %. Damals haben wir 19 % für 1995 geschätzt. Nach der jetzigen Lage werden es 18,2 % sein.Wir machen eine Politik, die auf die Lohnnebenkosten Rücksicht nimmt.
— Die Zahlen sprechen dafür. Wir sind besser als unsere eigenen Prognosen. Bei früheren Regierungen gab es Zeiten, in denen dies umgekehrt war. Ich finde die jetzige Situation eigentlich brauchbarer.Ich bleibe dabei: Unsere Sozialpolitik lebt von dem Grundgedanken der Solidarität zwischen den Generationen. Das ist im übrigen geradezu auch ein Kulturgesetz. Ich habe vor wenigen Tagen als Empfehlung für die Sozialpolitik gehört: Jede Generation sorgt für sich selber. Das wäre ein Traditionsbruch in unserer Sozialpolitik. Es wäre aber nicht nur ein Traditionsbruch, sondern es wäre auch eine Kulturrevolution. Über Jahrtausende hat sich die Solidarität zwischen den Generationen bewährt.Ein Gebot — unter den Zehn Geboten das einzige Gebot, das mit einer irdischen Verheißung versehen
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Bundesminister Dr. Norbert Blümist — behandelt die Generationensolidarität. Immer war es so: Die Jungen arbeiten für die Alten im sicheren Wissen, daß auch sie einmal alt werden. Sozialpolitik kann von noch so klugen Menschen organisiert werden, sie wird immer bezahlt aus der Arbeit der jetzt aktiven Generation. Wie eine Gesellschaft die Alten behandelt, das ist auch Maßstab ihrer Kultur und ihrer Solidarität. Deshalb bekenne ich mich uneingeschränkt zur Generationensolidarität in unserer Sozialpolitik.
Auch die zweite große Herausforderung unseres Sozialstaats Deutschland findet in diesem Haushalt ihren Niederschlag: Unser Engagement in der Arbeitsmarktpolitik. 14,1 Milliarden DM sind in diesem Haushalt für aktive Arbeitsmarktpolitik, für Arbeitslosenversicherung vorgesehen. Hinzu kommen die Leistungen der Bundesanstalt.Es ist ja gut, daß nicht alle Verelendungsprognosen eingetroffen sind.
Ich will nur daran erinnern: 40 % Arbeitslose wurden befürchtet und uns für Mitte des Jahres vorausgesagt; aber es sind 12,1 %. 12,1 % sind immer noch zuviel. Niemand darf denken, ich würde diese Zahl als Erfolgsmeldung ausgeben. Aber die Zeichen der Besserung sind doch zu sehen. Ich finde, wir müssen diese Zeichen der Besserung auch mit öffentlicher Anerkennung versehen. Es geht doch auch darum, Mut zu machen. Mit Pessimismus ist noch nie ein Problem gelöst worden.
Die Kurzarbeit geht zurück. Ich hoffe, daß die Arbeitsmarktpolitik auch weiterhin ihre flankierende Dienstleistung erbringen kann. Aber die Arbeitsmarktpolitik kann private Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht ersetzen.
Aber sie ist ein Damm gegen Hoffnungslosigkeit. Ich weiß, daß sie von manchen kritisiert worden ist. Aber, meine Damen und Herren, wer hier kritisieren will, soll aufstehen und einmal beschreiben, was passiert wäre, wenn wir nicht großzügig Kurzarbeit gewährt hätten, wenn wir nicht Vorruhestand und Altersübergangsgeld angeboten hätten — milliardenschwer, aber 500 000 sind damit vor Arbeitslosigkeit bewahrt worden — , wenn wir nicht Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifizierung angeboten hätten.Außerhalb jeden Streites: Diese arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen haben einen beschäftigungspolitischen Entlastungseffekt von 1,8 Millionen ausgelöst. 1,8 Millionen! Das sind Einzelschicksale. Stellen Sie sich einmal einen Arbeitsmarkt ohne jene arbeitsmarktpolitischen Instrumente vor!Ich gestehe auch: Wir waren arbeitsmarktpolitisch erfolgreicher, als wir und andere — einschließlich der Opposition — uns zugetraut hatten. Wir hatten für Qualifizierung — von Unkenrufen, wir würden es nicht schaffen, begleitet — 550 000 Eintritte geplant und eingesetzt. Im August, also kurz nach Halbzeit, haben wir 536 000. Wir werden im Dezember in die Nähe von 700 000 kommen.Wir hatten — begleitet von Unkenrufen, wir würden es nie schaffen — für dieses Jahr 280 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geplant. Im August waren wir bei 262 000, und wir werden bis Dezember an die Grenze von 400 000 kommen.
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß viele daran mitgewirkt haben. Ich möchte mich ganz besonders auch bei denen bedanken, die vor Ort Initiativen ergriffen haben. Qualifizierung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind wichtige sozialpolitische Maßnahmen gegen Hoffnungslosigkeit und für Modernisierung.Freilich, dieser Erfolg hat uns auch in finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Deshalb bedanke ich mich beim Finanzminister, daß wir 5,4 Milliarden DM nachschießen. Ich bitte Haushaltsausschuß und Plenum, diesem Vorschlag zu folgen. Wir setzen damit eine hilfreiche Arbeitsmarktpolitik fort. Von den 3 Milliarden DM Verpflichtungsermächtigungen werden im nächsten Jahr 2 Milliarden DM ausgabenwirksam werden.Ich sehe es auch so, daß wir — an Stelle der alten sozialistischen Planwirtschaft — die Wirtschaft der neuen Bundesländer jetzt nicht zu einer ABM-Wirtschaft machen können.
Aber sie hat weiterhin flankierende Funktion. Frau Kollegin Albowitz, wenn wir schon Geld zahlen, finde ich es dreimal sinnvoller, aktiv Arbeit zu bezahlen, als passiv Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
Wir müssen die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Qualifizierungsmaßnahmen nach dem Quantitätsschub jetzt auch mit einem qualitativen Schub verbinden. Wir müssen die Umschulung stärker auf ihre Verwertbarkeit im Erwerbsleben konzentrieren und ABM vor Mißbrauch schützen. ABM soll dem Arbeitsmarkt, insbesondere dem Mittelstand, keine Konkurrenz machen. Deshalb werden auch mit den Lohnkostenzuschüssen in der Regel immer noch maßgeschneiderte Lösungen angestrebt; 90 % werden für Sachkosten aufgebracht.Meine Damen und Herren, worauf ich ganz besonders stolz bin — aber, ich glaube, wir können es gemeinsam sein — , ist folgendes: Trotz dieser großen Anstrengungen, mit denen wir auch große arbeitsmarktpolitische Erfolge erzielt haben, senken wir den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung so, wie wir es angekündigt haben.
Es bleibt auch bei den arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen im Westen. Ich finde, die Gruppe der Langzeitarbeitslosen braucht besonders Unterstützung, und das nicht nur mit Geld. Die Langzeitarbeitslosen sind jene Gruppe, die durch lange Arbeitslosigkeit möglicherweise auch dem normalen Erwerbsle-
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Bundesminister Dr. Norbert Blümben entwöhnt ist. Hier bedarf es auch psychologischer Unterstützung, insbesondere für jene, die gesundheitliche Anstrengungen unternehmen müssen.Ich appelliere in diesem Zusammenhang auch noch einmal an die öffentlichen Arbeitgeber, nicht — wie fast allerorts — mit schlechtem Beispiel voranzugehen, die Pflichtquote bei der Schwerbehindertenbeschäftigung nicht zu erfüllen. Das finde ich — ohne viele Worte verlieren zu wollen — einen Skandal.
Man kann nicht Unternehmer auffordern, Pflichtquoten zu erfüllen, wenn der Staat nicht mit gutem Beispiel vorangeht. Ich kann Sie beruhigen — auch im Blick auf mögliche Zwischenfragen — : Die Bundesregierung erfüllt ihre Pflicht.Soziale Einheit verlangt freilich die Mobilisierung aller Kräfte. Aber das beschränkt sich nicht einfach auf die Übernahme schon funktionierender Modelle. Unsere Gesellschaft muß weiterentwickelt werden. Unsere Gesellschaft ist nie statisch.Ich denke, wir stimmen darin überein, daß unser Sozialstaat Deutschland eine große Lücke hat, eine Frage ungenügend beantwortet hat: die Frage der Pflegebedürftigen. Wir haben beim Thema Alter vornehmlich eine Antwort: Rente. Diese Antwort genügt weder denjenigen, die noch mitwirken wollen, die nicht im Ruhestand verharren wollen, noch genügt sie denjenigen, die hilfsbedürftig sind. Wir brauchen eine neue Kultur des Helfens. Die alte Großfamilie gibt es so nicht mehr. Und auch der Weg zu ihr zurück ist versperrt, ist keine Zukunftshoffnung. Wir brauchen eine neue Kultur der Nachbarschaft, eine Sozialpolitik der kleinen Kreise, nicht nur der großen Apparate.Deshalb hoffe ich und setze darauf, daß dieser Deutsche Bundestag nach 20 Jahren Diskussion endlich eine anständige Antwort auf das Thema Pflege gibt
— eine Antwort, die sozial verkraftbare Beiträge enthält, eine Antwort, die nicht nur ferne Zukunftshoffnungen weckt, sondern den jetzt Pflegebedürftigen hilft, eine Antwort, die nicht nur Geld verteilt, sondern eine neue Infrastruktur ambulanter Unterstützung anbietet. Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit, daß ausgerechnet jene, die als Samariter tätig sind, die ihre Angehörigen aufopferungsvoll rund um die Uhr pflegen — meistens haben wir das den Frauen überlassen — , selber keine Rentenversicherung haben und im Alter selber der Sozialhilfe zum Opfer fallen. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit, die so nicht bleiben kann.
Deshalb gilt für die stationäre Pflege: Es ist sowohl mit dem Gedanken von Leistung wie mit dem Gedanken von Eigentum unvereinbar, daß der Großteil derjenigen, die im Pflegeheim untergebracht sind, ihren Aufenthalt mit der Sozialhilfe bezahlen müssen. Das ist ein Schlag ins Gesicht einer Gesellschaft, die doch Leistung bewerten will. Im Pflegefall sind alle gleich, sind alle Taschengeldbesitzer. Das kann am Ende dieses Jahrhunderts keine humane Antwort sein.
Wer Eigentum so hoch wie ich schätzt, muß dafür sorgen, daß es im Pflegefalle nicht verstaatlicht, nicht sozialisiert wird. Beides sind auch ordnungspolitisch wichtige Kriterien einer anständigen Lösung. Aber über alle Ordnungspolitik hinaus muß uns rühren, daß Menschen auf Hilfe angewiesen sind und ein Sozialstaat, der viel Geld hat für Risiken, die viel kleiner sind,
diese Pflegebedürftigen im Stich läßt. Das darf nicht so bleiben.Ich sehe auch eine Weiterentwicklung unserer Gesellschaft in der Einkommenspolitik. Die alte Tarifmaschine, die nur den Konsumlohn verteilt, kann nie die Hoffnung auf gerechten Lohn erfüllen. Arbeit und Kapital erwirtschaften das volkswirtschaftliche Ergebnis, aber dieses Ergebnis kann nicht verfuttert, vertrunken und konsumiert werden. Ein Teil davon muß zurückgelegt und investiert werden. Ich frage mit der christlichen Soziallehre, weshalb das, was investiert werden muß, nur einer Seite zugute kommt. Es ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, Entlohnung konsumtiv wie investiv vorzunehmen, und zu den uralten Ideen der Sozialen Marktwirtschaft gehört „Eigentum in Arbeitnehmerhand".
Das war die große Hoffnung der Sozialen Marktwirtschaft, das Programm Ludwig Erhards.Wir haben unsere Ziele im westlichen Wirtschaftswunder erreicht. Aber hinter dem Ziel „Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand" sind wir zurückgeblieben. Wir dürfen diesen westlichen Fehler jetzt im Osten nicht wiederholen. Wir können aus Fehlern klug werden. In einer Zeit, in der Kapital zu Recht subventioniert wird, um Arbeitsplätze zu schaffen, darf das Gebot der Gerechtigkeit nicht zur Seite gedrängt werden.Deshalb auch meine Aufforderung, daß die Tarifpartner nicht nur die alten Konsumlohnmaschine laufen lassen. Hier ist der Verteilungsspielraum vielfach begrenzt. Hier sind Erfolge sehr leicht zu unterlaufen. Inflation und Arbeitslosigkeit können triumphale Tarifergebnisse ins Nichts auflösen.Es ist Zeit, über die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft nachzudenken. Der Sozialismus hat diese Fragen nicht beantwortet. Der Kapitalismus beantwortet sie auch nicht. Unsere Antwort heißt Soziale Marktwirtschaft. Zu dieser Sozialen Marktwirtschaft gehört nicht nur Phantasie. Dazu gehört auch der Mut, die Notwendigkeiten durchzusetzen, auch wenn sich Widerstände dagegen auftürmen.Ich bedauere, daß in unserer Diskussion eine fast flatterhafte Aufgeregtheit aufgetreten ist. Wenn nicht jeden Tag eine neue Idee genannt wird, bricht Langeweile aus. Ein Handwerker, der so arbeiten würde,
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3152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Bundesminister Dr. Norbert Blümwürde keinen Stuhl zustande bringen. Es gilt, auch jene Ideen, die wir noch nicht verwirklicht haben, mit Kraft durchzusetzen. Dazu zählen Pflegeversicherung und Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rudolf Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Bundeshaushalte so etwas wie die Hauptbücher der Politik der jeweiligen Bundesregierungen und der sie stützenden Koalitionsfraktionen sind, dann sind Haushaltsdebatten Gelegenheiten zur grundsätzlichen Diskussion zwischen Regierung und Opposition. Sie sind Gelegenheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich zu machen.Es geht um eine sozialpolitische Bestandsaufnahme. Der Haushaltsentwurf für das Jahr 1992, das zweite Haushaltsgesetz des vereinten Deutschland, bietet allerdings kaum die Chance, Gemeinsames herauszustreichen. Zwischen der Politik dieser Bundesregierung und den Vorstellungen der Sozialdemokratie überwiegt das Trennende. Die Verantwortung des Bundestages für unser Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland ist unteilbar. Sie ist unabhängig von der uns im parlamentarischen Konzert jeweils zugewiesenen Rolle als Regierungs- oder Oppositionsfraktion. Unserem Verständnis von parlamentarischer Verantwortung entspricht es daher auch, die Unterschiede zur Politik der Bundesregierung deutlich zu machen. Dies ist unsere politische Pflicht als Oppositionsfraktion.Ich will an dieser Stelle einen Einschub machen und sagen: In welcher Welt muß ein Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung leben, der vor wenigen Wochen, zum 1. April dieses Jahres, in einem Handstreich die Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 2,5 % erhöhte — macht 20,6 Milliarden DM an Lohnnebenkosten für neun Monate — und sich jetzt hier hinstellt und erklärt, die Bundesregierung nehme in ihrer Politik Rücksicht auf Lohnnebenkosten?
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Der Mathematiker Adam Riese, würde er heute leben, würde von Norbert Blüm totgeschlagen.
Seit dem 3. Oktober des vergangenen Jahres hat sich die zentrale Aufgabe deutscher Politik nicht geändert, der staatsrechtlichen Einheit die soziale Vereinigung Deutschlands folgen zu lassen. Soziale Einheit ist ja nicht nur eine West-Ost-Frage, soziale Einheit ist ja auch eine Frage des Aufeinanderzubewegens der unterschiedlichen sozialen Gruppen und Schichten unseres gesamten Gemeinwesens.Es gilt aber die Feststellung: Die Politik der Regierung tritt auf der Stelle, führt an manchen Punkten sogar hinter das Erreichte zurück. Aber hier sind wir von sozialer Einheit noch weit entfernt.Für uns ist auch eine Frage der sozialen Einheit, wie sich deutsche Politik für die Chancen der jungen und der zukünftigen Generationen einsetzt: ob wir sie sichern oder sie gefährden. Auch hier trifft das Urteil zu: von sozialer Einheit weit entfernt.Im Gegenteil, die Politik der Staatsverschuldung und der weiter anhaltenden einseitigen Verteilung des erwirtschafteten Volksvermögens ist eine schwere Bedrohung dieses Zieles; sie ist eine Hypothek für die Chancen der nachfolgenden Generationen.Wie eigentlich anders könnte soziale Einheit erreicht werden als durch zielgerichtete Sozialpolitik, durch aktive, gestaltende Gesellschaftspolitik? Das für diesen Bereich verantwortliche Kabinettsquartett, von Herrn Blüm bis Frau Hasselfeldt, von Frau Rönsch bis Frau Merkel, hat sich bisher vor der Beantwortung grundlegender Fragen gedrückt.Ich will deshalb heute wiederholen, was ich sie bei der dritten Lesung des Bundeshaushaltes 1991 gefragt habe. Für welche Sozialpolitik stehen Sie eigentlich: Sozialpolitik als aktive gesellschaftspolitische Gestaltung oder Sozialpolitik als Restgröße der anderen Politikfelder? Sozialpolitik als wirksames Mittel zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung, zur Beseitigung der Ein-Drittel/Zwei-Drittel-Gesellschaft oder Sozialpolitik als Instrument zur Befriedung der Menschen mit den bestehenden Zuständen? Sozialpolitik als Fortentwicklung unserer Gesellschaft oder Sozialpolitik als ein Sichabfinden mit bestehenden Strukturen?Warum beantworten diese vier Minister diese Fragen nicht? Ihre Politik jedenfalls offenbart, daß sie sich in aller Regel gegen ein fortschrittliches Verständnis von Sozialpolitik entscheiden. Sie wollen nicht begreifen, daß Sozialpolitik vor allem eine Frage der Qualität und weniger der Quantität der politischen Maßnahmen ist. In beinahe jeder Haushaltsrede renommiert der Bundesarbeitsminister mit der Höhe des Sozialetats und bejubelt mit dem üblichen Tremolo in der Stimme die Tatsache, daß dies der größte Einzeletat des Bundeshaushaltes sei. Ich nenne dies eine politische Frivolität.
— Leichtfertigkeit, Herr Kollege.Wer als Bundesarbeitsminister die höchste Zahl von Arbeitslosen zu vertreten hat
— übrigens nur noch übertroffen von den Arbeitsmarktkatastrophen der Weimarer Republik — , der hat naturgemäß den größten Sozialetat.
Das aber alles ist doch kein Grund, meine Damen und Herren, sich selbst zu beweihräuchern. Die Höhe des Etats ist doch kein Ausdruck guter Sozialpolitik.
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Rudolf DreßlerAls im Jahre 1974 zum ersten Male die Sozialausgaben den Verteidigungsetat als größten Einzelposten überflügelten, haben sozialdemokratische Bundesminister dieses zusätzliche Geld für eine Verbesserung des Kindergeldes,
für die Entwicklung eines arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums, für die Dynamisierung der Kriegsopferversorgung ausgegeben
und nicht zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit, meine Damen und Herren.
Hier wird der prinzipielle und qualitative sozialpolitische Unterschied zwischen Ihnen und der Sozialdemokratie deutlich. Wir entwickelten mit dem Arbeitsförderungsgesetz ein arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium.
Finanzierung von Arbeitslosigkeit ist immer teurer als Finanzierung von Arbeit. Aber der Arbeitsminister stellt sich hier hin und feiert die haushaltspolitischen Konsequenzen seiner Politik Jahr für Jahr als Erfolg. Das nenne ich eine schlimme Irreführung.Zur Charakterisierung Ihrer fortwährenden sozialpolitischen Selbstbeweihräucherung, Herr Blüm, fällt mir eigentlich nur das bekannte Zitat aus dem „Götz von Berlichingen" ein:
„Wo viel Licht ist, fällt viel Schatten."
— Die Bemerkungen der Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion beweisen, daß sie den „Götz von Berlichingen" nicht zu Ende gelesen haben.
Ihre Sozialpolitik wirft große Schatten auf die gesellschaftspolitische Landschaft. Licht, so sage ich, das sind die ebenso zahlreichen wie wohlfeilen Ankündigungen. Schatten, das sind die tatsächlichen wirtschaftspolitischen Beschlüsse und deren gesellschaftliche Folgen. Wir Sozialdemokraten wissen: Kernelement jeder Sozialpolitik ist praktizierte gesamtgesellschaftliche Solidarität. Der Bundeshaushalt zeigt, diese Regierung redet von Solidarität, aber hinter dem Schwall der Worte praktiziert sie das Gegenteil: Unternehmensteuersenkung für wenige, Mehrwertsteuererhöhung für alle,
Vermögensteuersenkung für einige, höhere Arbeitslosenversicherungsbeiträge für alle. Das ist Ihr Verständnis von gesellschaftlicher Solidarität. Sie stellen sie auf den Kopf.
Sie treiben übrigens damit auch Schindluder mit der deutschen Sprache. Weite Teile dieser Koalition diffamieren Sozialpolitik als staatlich oder behördlich verordnete Bevormundung des einzelnen. Zumindest aber behaupten sie, von sozialpolitischen Maßnahmen gingen Wirkungen aus, die den einzelnen in seiner freien Entscheidung beeinträchtigten. Das Gegenteil ist wahr: Sozialpolitik, richtig angewandt, setzt den einzelnen erst in den Stand, sich frei zu entscheiden, meine Damen und Herren.
Eine Ehefrau mit zwei Kindern, deren Mann 10 000 Mark im Monat verdient, kann in der Regel frei entscheiden, ob sie einen Beruf ausüben will. Eine Ehefrau in gleicher Situation bei 2 000 oder 3 000 Mark Einkommen kann dies in der Regel nicht.
Sie kann es erst, wenn es ihr durch eine vernünftige Sozialpolitik ermöglicht wird.
Sozialpolitik wirkt deshalb nicht entmündigend und beeinträchtigt nicht die individuelle Entscheidung; nein, sie wirkt emanzipatorisch und ermöglicht sie erst.Wenn ich in die Einzeletats dieses Haushalts blicke, ob und wo Sozialpolitik in diesem Sinne strategisch Weichen stellt, so lautet das traurige Ergebnis: Fehlanzeige. Dieser Haushalt offenbart gesellschaftspolitische Orientierungslosigkeit, er legt die politische Gestaltungsunfähigkeit dieser Regierung schonungslos offen. Er reagiert, wo er aktiv Akzente setzen müßte. Es ist der Haushalt einer Regierung, die die Entwicklung nicht positiv vorantreibt, sondern die selber von den Ereignissen getrieben wird.
Wenn es das Ziel ist, die Einheit sozial zu gestalten, dann ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gewiß das traurigste Kapitel im Buche dieser Einheit. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Ich rede hier nicht über die Verantwortung des SED-Regimes für seine Hinterlassenschaft; die ist ohnehin unauslöschlich. Ich rede ausschließlich von jener Verantwortung, die die Bundesregierung trägt; denn die gibt es auch. Zu spät hat sie beschäftigungspolitisch reagiert, und diese Reaktion war halbherzig, war inkonsequent und war eine Springprozession mit Pausen und Wartezeiten.
Richtig ist, was die „Süddeutsche Zeitung" am 1. Juli zusammenfassend über die Arbeitsmarktpolitik der Regierung schrieb: „Die Angst vor angebli-
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Rudolf Dreßlerchen sozialistischen Experimenten ist größer als der Mut zu neuen Wegen." Warum stattet die Regierung die sachlich vernünftige Verlängerung der Zahlung von Kurzarbeitergeld in den neuen Ländern nicht so aus, daß damit zugleich Initiative und Bereitschaft zur beruflichen Bildung belohnt werden? Um die Neigung zur beruflichen Bildung zu fördern, greift sie statt dessen zum Instrument der Sperrzeit, wenn ein Angebot nicht angenommen wird. Strafe statt Anreiz— das ist nicht nur falsch, es offenbart auch ein reichlich obrigkeitsstaatliches und autoritäres Denken. Warum wird die Einrichtung von Beschäftigungsgesellschaften zuerst als Möglichkeit in den Einigungsvertrag hineingeschrieben, dann billigend zugeschaut, wenn sich 150 solcher Einrichtungen gründen, anschließend aber zugelassen, daß der TreuhandVorstand durch ein Monate dauerndes Gezerre Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften hintertreibt?Wo liegt der Sinn solcher Politik? — Ich will es Ihnen sagen: Er gründet sich in Ihrem prinzipiellen Mißtrauen gegenüber einer aktiven Arbeitsmarktpolitik schlechthin, und erst recht, wenn sie Dynamik und Modellcharakter für ganz Deutschland entwickeln könnte. Sie wollen eben — im Gegensatz zur SPD — keine aktiv gestaltende Sozialpolitik.Welchen Sinn hat es eigentlich, den Fördersatz bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Osten um 10 zu senken? — Das spart im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit vielleicht 200 oder 300 Millionen DM, signalisiert aber allen Arbeitnehmern in den neuen Ländern, daß nach nur neun Monaten schon wieder auf Bremsen umgeschaltet wird. Ich frage: Warum?Gleiches gilt übrigens für die Kürzung der Gelder zur Arbeitsbeschaffung im Westen: 1,6 Milliarden DM will die Bundesregierung bei ABM-West in den kommenden drei Jahren sparen, weil der Bundeshaushalt konsolidiert werden muß.
— Ich garantiere Ihnen, Herr Louven, daß diese angeblich gesparten 1,6 Milliarden DM durch Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bis auf wenige Millionen wieder jenen zufließen werden, denen Sie die ABM-Zuweisung zuvor entzogen haben. Die Methode lautet: Löcher stopfen und dafür neue aufreißen, Politik ohne Hand und Fuß.Regierung und Koalition müssen endlich die richtigen Konsequenzen ziehen. Deshalb fordern wir Sie auf, das Instrumentarium systematisch zu einer tragfähigen Brücke in die Soziale Marktwirtschaft auszubauen. Es ist unschwer abzusehen, daß die halbherzige, unschlüssige und widersprüchliche Arbeitsmarktpolitik schlimme Folgen haben wird.Nun feiern Sie die neuesten Arbeitsmarktzahlen als Trendwende.
—Wie schön wäre es, Herr Louven, wenn es doch nur wahr wäre!Aber zunächst einmal ist diese Koalition, gemessen an Ihren vollmundigen Sprüchen zu Beginn des Einigungsprozesses, mehr als bescheiden geworden. Jetzt werden schon Arbeitslosenzahlen gefeiert, die — man stelle sich das vor — bei „nur" einer Million in Ostdeutschland liegen.
Jeder weiß, das ist weniger als die halbe Wahrheit. Jeder in diesem Hause freut sich über jeden Betrieb, der nicht schließen muß. Aber glauben nicht auch Sie, Herr Louven, daß bei ca. vier Millionen Arbeitsplätzen, die seit November 1989 weggefallen sind, endlich eine wirklichkeitsnahe Reaktion der Regierung und der Koalitionsfraktionen angebracht wäre?
Wenn nämlich in Ostdeutschland nur noch 40 % dessen produziert wird, was vor der Maueröffnung erzeugt wurde, frage ich Sie, ob dies wirklich einen Grund zur Selbstzufriedenheit darstellt, weil es nämlich nicht noch schlimmer gekommen ist.
Wer so denkt und argumentiert, geht nicht nur leichtfertig mit dem Schicksal von Menschen um, der hat auch etwas zu verbergen: seine Mitverantwortung am Ausmaß dieser beschäftigungspolitisch schlimmen Situation.Ein weiteres Feld, die Familienpolitik, will ich mit einer hoffentlich übereinstimmenden Feststellung einleiten. Ein Land ohne Kinder ist langweilig.
Eine Gesellschaft ohne Kinder wird träge, unbeweglich, schließt sich ab vor Spontaneität, vor Lebensfreude, verzichtet auf intellektuelle und menschliche Herausforderungen, ist eine Gesellschaft ohne Perspektive.
Unser aller Ehrlichkeit ist gefragt, wenn wir darauf antworten, ob wir in der praktischen Politik aus dieser gemeinsamen Erkenntnis in ausreichendem Maße die Konsequenzen ziehen und die Verpflichtungen erfüllen, die uns dies auferlegt. Wie fast alle modernen Industriegesellschaften ist auch die der Bundesrepublik eben nicht kinderfreundlich. Sie ist in manchen Bereichen sogar ausgesprochen kinderfeindlich.Nun ist zwar richtig, daß die Verantwortung für die Erziehung von Kindern nicht der Politik obliegt; da gehört sie auch nicht hin. Aber die Politik hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß den Eltern eine verantwortungsbewußte, selbstbestimmte Kindererziehung möglich wird. Wir alle haben selbstkritisch einzuräumen, daß es eine Reihe von Versäumnissen aufzuarbeiten gilt, wenn unsere Reden über eine kinderfreundliche Gesellschaft nicht Lippenbekenntnisse bleiben sollen. Es sind nicht die großen Reden, die weiterhelfen, sondern zähe und zielstrebige Kleinarbeit. Dazu sind wir alle gemeinsam aufgefordert.
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Rudolf DreßlerNun wird die Bundesregierung nicht müde, sondern sie ist immer wieder dabei, eine angeblich familien- und kinderfreundliche Politik, vor allem im Bereich des Familienlastenausgleichs, zu loben. Legenden, meine Damen und Herren, sollte man gar nicht erst aufkommen lassen.Das vorbildliche Kernstück eines vernünftigen Familienlastenausgleichs, das gleiche Kindergeld für alle, zu sozialliberaler Zeit geschaffen, hat diese Koalition wieder abgeschafft. Sie haben es durch eine Mischung von Kindergeld, ebenso unsozialen wie unzulänglichen Kinderfreibeträgen und Kindergeldzuschlägen ersetzt.
Das ist die Wirklichkeit.Obwohl das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen im letzten Jahr die Kinderfreibeträge und die einkommensabhängige Minderung des Kindergeldes als verfassungswidrig bezeichnet hat,
erklären Sie sich nach dem letzten Kabinettsbeschluß nur zu einer Anhebung des Erstkindergeldes um 20 DM und einer geringfügigen Erhöhung der Kinderfreibeträge auf 4 104 DM bereit.
Die Tageszeitung „Die Welt" berichtet dazu am 3. September, vor zwei Tagen, daß die zuständige Familienministerin, Frau Rönsch, diese Erhöhung als verfassungswidrig bezeichnet und ihre Zustimmung im Kabinett verweigert habe.
Wir teilen diese Auffassung von Frau Rönsch. Gleichwohl, meine Damen und Herren, kann ich Frau Rönsch die unangenehme Frage nicht ersparen, was sie daraus eigentlich für politische Konsequenzen zieht.
Es ist ja wohl kein alltäglicher Vorgang, wenn das Kabinett gegen das Votum der Ressortministerin einen Beschluß faßt, den diese nicht nur für falsch, sondern für verfassungswidrig hält. Anschließend geht alles zur Tagesordnung über und tut so, als sei eigentlich gar nichts. Frau Rönsch, wenn Sie das so akzeptieren, stellen Sie sich dann nicht selbst Fragen nach Ihrer Rolle und nach Ihrem Gewicht im Kabinett?
Die Koalition wäre gut beraten, die Konzeption der SPD-Bundestagsfraktion zu unterstützen. Wir wollen das Kindergeld für alle auf monatlich 230 DM erhöhen, die unsozialen Kinderfreibeträge und die Kindergeldzuschläge abschaffen
und den Splittingvorteil maßvoll begrenzen.
— Dann müssen auch Sie einmal etwas in den Vereinigungstopf geben. Dann wird auch Ihnen als Bundestagsabgeordnete einmal etwas abgezogen und nicht nur immer denen, die unterhalb Ihrer Verdienstgrenze liegen.
Es ist doch fast ein Treppenwitz: Die Sozialdemokratie tritt im Bundestagswahlkampf an, daß auch wir einmal zur Ader gelassen werden, und Sie sorgen dafür, daß wir monatlich mehr bekommen. Das ist doch ein Treppenwitz der Geschichte.
Meine Damen und Herren, für Familien ab vier Kindern haben wir einen zusätzlichen Familienzuschlag von 100 DM pro Monat und Kind vorgesehen. Unser Modell entspricht nach Ansatz und Umfang im Gegensatz zu Ihren Vorstellungen den Anforderungen des Verfassungsgerichts. Es ist darüber hinaus aufkommensneutral ausgestaltet und damit sicher finanzierbar. Wir verbinden auf diese Weise soziale Gerechtigkeit für die Familien mit Kindern mit finanzpolitischer Solidität, einer Eigenschaft, die Ihnen und Ihrer Bundesregierung völlig abhanden gekommen zu sein scheint.Steuerpolitik ist immer auch Sozialpolitik, nicht nur beim Familienlastenausgleich. Der unsoziale steuerpolitische Schlingerkurs dieser Koalition ist schon mehrfach in dieser Debatte zur Sprache gekommen. Mehrwertsteuererhöhung einerseits, Vermögensteuersenkung andererseits! Ich wiederhole: Das sind besonders einprägsame Beispiele.
In zunehmendem Maße verheddert sich die Koalition dabei in Widersprüche. Einen der vielen eindrucksvollen Beweise lieferte die FDP. 12. August, 11.51 Uhr, Deutsche Presseagentur — Zitat — :Der haushaltspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Wolfgang Weng, will die Erhöhung der Mehrwertsteuer allenfalls zulassen, um damit die Neuverschuldung des Staates zu senken.12. August, 13.30 Uhr, also 99 Minuten später, meldet die Deutsche Presseagentur — Zitat — :Lambsdorff: Höhere Mehrwertsteuer allenfalls zur Finanzierung von Unternehmensteuerentlastungen.Ich frage: Was denn nun, Herr Weng, Herr Cronenberg?
Gerade erst haben die Deutschen von Herrn Waigelmühsam das Grundwissen erlernt, daß die nach den
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3156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Rudolf DreßlerWahlen beschlossenen Steuererhöhungen nur wegen des Golfkrieges notwendig waren. Jetzt will er uns in einem zweiten Grundkurs gemeinsam mit Herrn Möllemann lehren, daß die Mehrwertsteuererhöhung für die Unterstützung Rußlands benötigt werde. Peng! Da platzt Graf Lambsdorff mit dem Argument der Unternehmensteuersenkung dazwischen. Nach welchem Lehrplan arbeitet Ihre Koalition eigentlich? Man sehnt sich ja förmlich nach den Zeiten zurück, in denen Professor Schreckenberger die Regierungs- und Koalitionspolitik koordinierte, meine Damen und Herren.
Glauben Sie denn wirklich, dieses Durcheinander schaffe das notwendige wirtschafts- und finanzpolitische Vertrauen?Herr Geißler kommentierte die geplante Steueroperation dieser Koalition noch am 2. September, also vor drei Tagen, im Deutschlandfunk, morgens früh, kurz nach der Tagesschau — Zitat — :Ich glaube, daß es nicht möglich ist, für den 1. Januar 1993 die Mehrwertsteuer zu erhöhen und auf der anderen Seite dann die Vermögensteuer ganz abzuschaffen. Das hat mit den Prinzipien der Steuergerechtigkeit nichts zu tun.Wie wahr, wie wahr, Herr Geißler!
Nur, welche Konsequenz zieht der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Geißler daraus für die steuerpolitischen Beschlüsse seiner Fraktion? Über den Rundfunk steuer- und sozialpolitisch Richtiges zu verkündigen und hier im Hause Falsches zu beschließen, das geht nicht einmal mehr dann, wenn man wie diese Koalition nur noch über Rudimente von steuerpolitischer Glaubwürdigkeit verfügt.Man sagt, diese Bundesregierung besitze auch eine Gesundheitsministerin.
Ich denke, sie braucht auch eine; denn die Probleme, die im Gesundheitswesen zu lösen sind und die ihr zum größten Teil der Arbeitsminister hinterlassen hat, sind erheblich.Aber, Frau Hasselfeldt, glauben Sie wirklich, mit Tieftauchen vor den Problemen könnten Sie ihnen entgehen oder diese gar lösen? Ihr beharrliches Schweigen zur Gesundheitspolitik ist nicht nur vielsagend im Hinblick auf die Bewertung der politischen Erbschaft Ihres Kollegen Blüm, es offenbart auch Ihre eigene Ratlosigkeit.Was ist denn nun mit den Erfolgen des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes? War das so umwerfend, daß deshalb nunmehr aus Ihrem Ministerium die Kunde dringt, man müsse die Reform reformieren, gleichsam als Gesundheitsreform-Reformgesetz?In Wirklichkeit wissen Sie alle längst: Dieses Gesetz war eine Pleite. Es ist in seiner Gänze gescheitert, trotz der Milliardenabkassiererei bei den Kranken, trotz der Leistungskürzungen für die Versicherten.
Nichts von dem in dieser Koalition so hoch gelobten Instrumentarium des Gesetzes hat funktioniert, Herr Louven: die Festbeträge: gescheitert, die Arzneimittelrichtlinien: nicht genutzt,
die gepriesene Steuerungswirkung der Selbstbeteiligung: eine Chimäre, das Kündigungsrecht bei Krankenhausbetten: undurchführbar — soll ich weitermachen? —, neue Pflegeleistungen: auf dem Verwaltungswege erdrosselt, Fahrtkostenbegrenzung: durch die Praxis ad absurdum geführt — soll ich noch weitermachen? —,
Erreichung des Einsparziels: um Längen verfehlt.
Meine Damen und Herren, man stelle sich vor: Zwei Jahre seit Inkrafttreten des Gesetzes sind vergangen, und die Krankenversicherung erzielte im ersten Halbjahr 1991 in Westdeutschland ein Rekorddefizit von 3,5 Milliarden DM. Wann dämmert es Ihnen eigentlich, daß die Probleme im Gesundheitswesen struktureller Art sind, denen man mit Kostendämpfungspolitik nicht beikommt? Jeder ahnt heute schon: Beitragssatzerhöhungen sind vorprogrammiert.Was, Frau Hasselfeldt, wollen Sie nun tun? Was sind Ihre Vorschläge? Was sind Ihre Rezepte? Wie wollen Sie die Krankenhauskosten stabil halten und zugleich den Pflegenotstand überwinden? Fragen über Fragen, und zu alledem schweigt die Ministerin.Angesichts dieser Lage ist das Urteil nicht schwer: Das deutsche Gesundheitswesen geht schweren Zeiten entgegen.Sozialpolitik als Ausgrenzung, Sozialpolitik als Spaltung, Sozialpolitik als Entsolidarisierung, das sind Tendenzen, die auch in der Rentenpolitik der Regierungskoalition klar und deutlich zu erkennen sind. Ich sage das bewußt, obwohl wir die Rentenreform gemeinsam beschlossen haben und obwohl die SPD-Fraktion erst vor elf Wochen mit ihren Stimmen das Inkrafttreten des Rentenüberleitungsgesetzes ermöglicht hat. Die Tatsache, daß es immer wieder notwendig ist, Kompromisse zu schließen — allein schon wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat — , kann nicht verdecken, wo die gesellschaftspolitischen Probleme liegen.Nehmen wir das Rentenüberleitungsgesetz als Beispiel, und zwar in der ursprünglichen Fassung, in der es nach dem Willen der Regierung und der Koalitionsfraktionen in Kraft getreten wäre, wenn Sozialdemokraten nicht korrigierend eingegriffen hätten. Ist es nicht eine Politik der Spaltung, wenn der Eigentums-und Vertrauensschutz der Rente in Ost und West unterschiedlich praktiziert wird?Im Westen wäre aus guten Gründen schon ein Eingriff in die künftigen Rentenerhöhungen verfassungsrechtlich als höchst problematisch erachtet worden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3157
Rudolf DreßlerErst recht wäre jede Minderung bereits erworbener und zugesicherter Anwartschaften ein Tabu.Im Osten wollte die Koalition ganz anders vorgehen: Für die übergroße Mehrzahl der ab dem 1. Januar 1992 neu zugehenden Rentnerinnen und Rentner wollte die Regierung die dynamischen Rentenanwartschaften, die ihnen die Herren Kohl und de Maizière im Juni 1990 zugesagt hatten, durch Umrechnung auf das bundesdeutsche Rentenrecht reduzieren. Dies sollte für den Rentenzugang ab dem 1. Juli 1995 ohne den mindesten Bestandschutz gelten. Das hätte zum Teil dramatische Verschlechterungen für über 80 % der Betroffenen bedeutet. Erst in zähen Verhandlungen konnte die SPD eine gewisse Milderung der Eingriffe und eine Verbesserung der Bestandsschutzregelung erreichen.Ich frage: Ist es nicht eine Politik der Spaltung, wenn die Regierung und die Koalitionsfraktionen versuchen, praktisch die gesamte kulturelle, wissenschaftliche und technische Führungsschicht der ehemaligen DDR pauschal unter Systemverdacht zu stellen und durch Versorgungskürzungen abzustrafen? Vom Professor für Molekularbiologie bis zum Grundschullehrer, von der Ballettänzerin bis zur Kinderärztin sollte das Fallbeil der Versorgungskürzung niedergehen.
Ist es nicht eine Politik der Ausgrenzung, wenn versucht wird, die in der ehemaligen DDR vorhandenen Regelungen zum Schutz vor Altersarmut so schnell wie möglich zu zertrümmern? Genau dies hatten die Bundesregierung und ihre Koalitionsfraktionen vor, und zwar um zu verhindern, daß die berechtigte Forderung Auftrieb erhält, auch im Westen endlich etwas Durchgreifendes gegen die skandalöse Altersarmut zu unternehmen. Nicht weniger als 640 000 Renterinnen und 35 000 Rentner wären nach den ursprünglichen Plänen der Regierung früher oder später zum Sozialamt geschickt worden. Wir waren es, die sichergestellt haben, daß der Sozialzuschlag dynamisiert wird und daß er bis zum Jahresende 1996 erhalten bleibt, d. h. lange genug, um ihn in eine vernünftige Dauerregelung für Ost- und Westdeutschland zu überführen, meine Damen und Herren.Ist es nicht eine Politik der Entsolidarisierung, wenn bei der Vereinheitlichung der Rentensysteme beider deutscher Staaten die damit verbundenen Kosten den Beitragszahlern aufgebürdet werden? Wo blieb das Versprechen von Bundesarbeitsminister Blüm, die Kosten der Einheit seien vom Steuerzahler zu finanzieren? Wo blieb der solidarische Beitrag der Selbständigen und Beamten? Und wo blieb, um ein Spezialthema anzusprechen, das besonders die Kolleginnen und Kollegen von der FDP interessieren wird, der Solidarbeitrag jener Berufsgruppen, die sich in berufsständischen Versorgungswerken organisieren und die sich jetzt dank der Politik der FDP in der sorglosen Gewißheit wohlfühlen können, daß die Altlasten der Ärzte- und Zahnärzteversorgung aus der ehemaligen DDR von den beitragszahlenden Arbeitern und Angestellten getragen werden?
Wo blieb das alles?Jammervoll ist das Bild, das diese Regierung beim Thema Pflege bietet. Seit nunmehr fast einem Jahr ist der Bundesarbeitsminister damit beschäftigt, in Veranstaltungen seine pflegepolitischen Absichtserklärungen öffentlich aufzuplustern. Das für die Menschen Entscheidende aber fehlt: der verbindliche Beschluß der CDU/CSU-Fraktion und der Bundesregierung, was sie in Sachen Pflege eigentlich inhaltlich wollen, meine Damen und Herren.
Das einzige Ergebnis dieser Veranstaltungsreihe ist der öffentliche Eindruck unwürdiger Zänkereien in der Koalition wie in den Reihen der Union. Die Koalition ist bei der Lösung dieser gesellschaftspolitisch exemplarischen Problematik seit dem Dezember 1990 handlungsunfähig.Die unerträgliche Situation ist zugleich ein politisches Armutszeugnis für den amtierenden Arbeitsminister. Er hat es nicht einmal fertiggebracht, seine eigene Partei zu einer eindeutigen Haltung bei der Pflege zu bringen.
Dabei sind die Grundgedanken seiner Vorstellung, die trotz fehlender Konkretisierung so vollmundig als Blüm-Modell gehandelt werden, durchaus richtig und unterstützenswert. Es wäre ja auch ein Wunder, wenn dies nicht so wäre; denn sie sind bei uns abgeschrieben.
— Ich beklage mich doch gar nicht darüber. Ich bin ja froh, daß Herr Blüm endlich vernünftig geworden ist. Jetzt wollen wir, daß auch Sie noch vernünftig werden.
Ich will Herrn Blüm deshalb ausdrücklich ermuntern: Bleiben Sie konsequent, Herr Blüm. Wenn Sie schon abschreiben, dann aber ganz.
Übernehmen Sie unseren Gesetzentwurf, den wir vor der Sommerpause vorgestellt haben und in diesem Monat im Parlament einbringen werden! Herr Blüm, beherzigen Sie die Lebensweisheit: Das Bessere ist der Feind des Guten.
Es werden ja ganz merkwürdige Diskussionen in der Koalition zu diesem Thema geführt. Es geht etwa um die Frage: Arbeitgeberbeitrag zur Pflegeversicherung — ja oder nein? Für uns Sozialdemokraten ist die Antwort klar: Arbeitgeberbeitrag — ja. Was denn eigentlich sonst?
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Rudolf DreßlerDie Arbeitgeberverbände reklamieren doch so gerne ihre Pflicht zur und ihren Anspruch auf Mitgestaltung des Sozialsstaats. Das ist ja auch richtig. Soll es jetzt auf einmal nicht mehr gelten?Es gibt ja nunmehr die vielsagende Angebotspalette der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, 55 Milliarden DM zur Pflege beizusteuern.
Zwar gleicht dies dem originellen Versuch, mit einer kleinen Mettwurst nach einer Seite Speck zu werfen. Aber festgehalten zu werden verdient zunächst einmal das prinzipielle Eingeständnis, sich zur Mitfinanzierung der Pflegeversicherung verpflichtet zu fühlen. Alles andere wäre ja auch ein Schelmenspiel. Die Koalition sollte das in dieser Frage — wo ist Herr Wissmann? — ausdrücklich als Ermutigung begreifen.Dann wird die Frage einer Sozialversicherungslösung oder einer Privatversicherungslösung diskutiert, oder es wird eine Mischlösung ins Gespräch gebracht: Wahlfreiheit für die Betroffenen. Besonders letzteres hört sich gut an, zu gut, um den Trick, der dahintersteckt, nicht zu erkennen. Was für eine Wahlfreiheit soll das denn eigentlich sein, bei der Ältere mit geringerem Einkommen zwischen einer Privatversicherung, die sie nicht bezahlen können, und der Sozialversicherung wählen können? Hier feiert doch wieder jene Art gesellschaftspolitischer Differenzierungsideologie fröhliche Urstände, bei der sich die wenigen zu Lasten der vielen verabschieden und finanziell breitmachen können.Für die sozialdemokratische Fraktion steht fest: Die Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit erfordert ein solidarisches Finanzierungskonzept — alle für alle — wie bei der Renten- und der Krankenversicherung. Je größer die Solidargemeinschaft, desto gerechter die Finanzierung. Von einem solchen Lösungsweg darf eine verantwortungsvolle Sozialpolitik nicht abgehen, meine Damen und Herren.
Ich wiederhole: Wir werden unseren Gesetzentwurf in diesem Monat einbringen. Die betroffenen Menschen sollen wissen, daß sie sich auf die deutsche Sozialdemokratie verlassen können.
Ob Sie, Herr Blüm, einen Gesetzentwurf zustande bringen oder nicht, eines ist sicher: Unser Gesetzentwurf wird Ihnen und allen Ihren Mitrednern die Chance bieten, hier in diesem Hause den Wahrheitsbeweis für Ihre Reden und Ihre Versprechungen anzutreten, und zwar mit Ihrer eigenen Stimme.
Meine Damen und Herren, zusammengefaßt ergibt sich: Die im Bundeshaushalt in Zahlen niedergelegte Essenz deutscher Regierungspolitik bietet ein trauriges Bild ohne inhaltliche Orientierung, die Entscheidung nicht treibend, sondern von den Ereignissen getrieben,
schwankend und steuerungslos, die Sorgen und Nöte der Menschen außer acht lassend. Sie bietet damit ein exaktes Spiegelbild des inneren Zustandes dieser Koalition. So läßt sich das Ziel, die Einheit sozial zu gestalten, in angemesser Zeit nicht erreichen. So ist die deutsche Einheit nicht zu vollenden.Herr Geißler hat heute morgen in einem Radio-Interview von einem Inzuchtverhalten bei der CDU/ CSU gesprochen.
Das ist kaum steigerungsfähig. — Der Wortlaut liegt vor mir. — Das Urteil über Ihre Politik, Herr Geißler, d. h. über die Politik Ihrer Partei, gebührt letztlich den Wählerinnen und Wählern. In allen Wahlen seit jener Bundestagswahl, der Sie Ihren Auftrag verdanken, urteilen diese Wählerinnen und Wähler gleich. Sie sagen: Wir haben eine schlechte Bundesregierung. — Dem kann sich die SPD-Bundestagsfraktion nur anschließen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Heiner Geißler das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dreßler, das letzte Zitat ist typisch für das, was Sie vorhin zu einem anderen Interview gesagt haben, nämlich daß halbe Wahrheiten oft schlimmer sind als ganze Lügen. Ich habe mich heute morgen gegen eine Inzucht-Diskussion ausgesprochen.
— Ich habe mich gegen eine Inzucht-Diskussion ausgesprochen.Jetzt will ich etwas sagen, damit Sie nicht der Auffassung sind, ich würde in einem Interview morgens in der Frühe etwas sagen und hier im Parlament dazu schweigen. Wir befinden uns in der ersten Lesung des Haushalts und auch der Steueränderungsgesetze. Sie haben ja auch an Verbesserungen der parlamentarischen Arbeit unter Vorsitz unserer Kollegin Hamm-Brücher mitgewirkt. Ich finde es schon merkwürdig, daß Sie alles schon als Fait accompli hinstellen wollen.Zur Unternehmenssteuerreform gibt es einen Vorschlag der Bundesregierung; das ist richtig. Aber selbstverständlich müssen wir über diesen wie über jeden anderen Vorschlag auch diskutieren. Wenn Sie richtig zitieren, dann wissen Sie genau, daß ich mich nicht gegen eine Entlastung der Unternehmen ausgesprochen habe, sondern daß ich etwas ganz anderes gesagt habe. Ich habe gesagt, daß die auch von mir als notwendig angesehene Entlastung der Unternehmen nicht nur der Großindustrie zugute kommen darf, sondern daß wir einen Teil der vorgesehenen Entlastung
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Dr. Heiner Geißlerfür die kleinen und mittleren Betriebe verwenden sollten, die 75 % der Arbeitsplätze vorhalten, und habe sogar konkrete Vorschläge gemacht, z. B. eine steuerliche Verbesserung der Altersversorgung der Selbständigen, eine steuerliche Verbesserung der Forschungsinvestitionen und der Umweltinvestitionen und eine steuerliche Verbesserung der Bereitstellung des Risikokapitals.Das wollte ich hier zur Steuerung der Wahrheit sagen. Wir befinden uns mitten in der Diskussion. Das heißt, in der ersten Lesung dieses Haushalts und der Steueränderungsgesetze werden wir darüber diskutieren. Wenn Sie schon alles wissen und für richtig halten, bevor wir überhaupt mit der Beratung angefangen haben, dann mache ich Sie darauf aufmerksam: In einer Gesellschaft, in der alle dasselbe denken, wird ohnehin nicht viel gedacht.
Zur Antwort, Herr Kollege Dreßler.
5. September 1991, 7.44 Uhr, also heute morgen, Deutscher Depeschen-Dienst:
Der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler hat seine Partei zur Rückkehr zu sachorientierter Politik aufgefordert, die die Menschen interessiere. Durch „Inzuchtdiskussionen" finde die Union keine neuen Anhänger, sagte Geißler am Donnerstag im Deutschlandfunk. Die CDU müsse wieder als Volkspartei für die Menschen erkennbar sein und ihren Kompetenzverlust in Wirtschafts- und Sozialfragen wieder wettmachen.
Meine Damen und Herren, ich habe in meiner Rede nichts anderes gesagt, nur mit nicht ganz so kräftigen Worten wie Herr Geißler:
daß die CDU in Wirtschafts- und Sozialfragen ihre Kompetenz verloren habe. Zu der Bewertung, daß Sie eine Inzuchtdiskussion haben, von der Sie zurückkehren müssen, habe ich mich allerdings nicht verstehen können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dieter-Julius Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vorab eine kurze Bemerkung zu unserer heutigen sozialpolitischen Debatte. Mit Recht klagen die Fraktionen und auch ich über die Redezeitverteilung. Eine Ursache ist die unglückliche Zellteilung des ehemaligen Ministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.
So sympathisch die drei Ministerinnen sind — ich finde sie in der Tat sympathisch — , so überflüssig fand ich diese Teilung.
Da alle drei Ministerinnen reden wollen — ich kann das verstehen —, wird die Redezeit für die Fraktionen kräftig beschnitten. Ich war schon geneigt, für die Kolleginnen Albowitz und Frau Dr. Babel und den Kollegen Thomae, die einige Richtigstellungen insbesondere zu der Rede des Kollegen Rudolf Dreßler vornehmen werden, ganz zu verzichten. Einige Äußerungen von Norbert Blüm haben mich allerdings veranlaßt, trotzdem einige Sätze hier zu sagen, damit nicht für die Koalition in unzulässiger Weise ein Zusammenhang zwischen den Themen Pflegeversicherung und Generationenvertrag hergestellt wird.
Die Generationensolidarität ist für mich ein unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaft. Sie ist ein Bestandteil unserer Kultur.
Aber diese Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer die nächste Generation überbelastet — nur darum geht es — , der kündigt in Wirklichkeit den Generationenvertrag auf. Der Generationenvertrag, lieber Norbert Blüm, beruht nicht nur auf Beitragszahlungen, läßt sich nicht auf Beitragszahlungen reduzieren — das wäre im Grunde genommen auch menschenverachtend — , sondern der Generationenvertrag beinhaltet auch den generativen Beitrag, einen entscheidenden Beitrag. Deshalb müssen qualitativ unterschiedliche Risiken auch unterschiedlich abgesichert werden.
Rudolf Dreßler hat recht, wenn er sagt, daß die Sozialpolitik kein Reparaturbetrieb oder — ich will es korrigierend sagen — nicht nur ein Reparaturbetrieb sein muß. Natürlich, lieber Rudolf Dreßler, reparieren wir jetzt in den neuen Bundesländern. Natürlich muß die Sozialpolitik gestalten. Praktizierte Gestaltung ist ein überzeugender, ein ordentlicher Familienlastenausgleich. Weil dem so ist, möchte ich den Kollegen Norbert Blüm und Rudolf Dreßler eindringlichst ins Stammbuch schreiben, daß der schlechteste Familienlastenausgleich, die schlechteste Familienpolitik die Überbelastung der nächsten Generation ist.
Das Wort hat die Abgeordnete Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über den Haushaltsplan des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung wird von Regierungsseite regelmäßig mit dem Hinweis eingeleitet, daß der Sozialhaushalt den größten Etatposten darstelle. Bei den veranschlagten 92,8 Milliarden DM ist das in der Tat der Fall. Wer sich allerdings als Minister damit rühmt, gleicht einem Hausbesitzer — oder einer Hausbesitzerin —, der da sagt, mein Haus ist wunderbar, die Reparaturkosten steigen von Jahr zu Jahr. Eine Steigerung des Sozialetats ist nicht per se ein Ruhmesblatt für die Politik dieser Regierung. Sie kann auch — und das ist ja gegenwärtig zweifellos der Fall — ein Indiz sein für die Zunahme sozialer Probleme.In der Ex-DDR steigen Erwerbslosigkeit und Armut. Die neu geschaffene Sozialhilfeabhängigkeit alter Menschen in Heimen, die demnächst rapide steigen-
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Christina Schenkden Mieten usw. sind weitere zentrale Aspekte. Die Lebensverhältnisse haben sich drastisch verändert. Für einige wurden sie besser, für viele wesentlich schlechter.
Meine Damen und Herren, Sozialpolitik kann an den Resultaten des Anschlusses und einer Zerstörung der Wirtschaft der DDR nichts ändern. Sie könnte jedoch durch aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik abfedernd wirken. Entscheidend für die Effizienz derartiger Maßnahmen ist allerdings ihre konzeptionelle Ausgestaltung, d. h. die Frage, ob daraus auch längerfristige Perspektiven resultieren. Es ist heute hier schon festgestellt worden: Die Talsohle der Arbeitslosigkeit, insbesondere in den östlichen Bundesländern, ist keineswegs erreicht. Die offizielle Arbeitslosenzahl ist zwar saisonbedingt in diesem Monat nicht gestiegen, aber Grund für eine Entwarnung gibt es absolut nicht. Selbst die Bundesanstalt für Arbeit rechnet bis Ende des Jahres mit einer Zahl von 1,5 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen. Aber ein vollständiges Bild, meine Damen und Herren, ergibt sich erst, wenn mitberücksichtigt wird, daß gleichzeitig ca. 1,5 Millionen in Kurzarbeit sind, bis Ende des Jahres 400 000 in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen untergebracht werden sollen, bis dahin fast ebensoviele in den Vorruhestand geschickt werden und einige hunderttausend mit Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen beschäftigt werden. Im Klartext bedeutet das, daß bestenfalls die Hälfte aller Erwerbstätigen in der Ex-DDR beschäftigt sein wird. Wann, wie und ob die andere Hälfte in den Bereich der Beschäftigten wieder integriert werden kann, ist heute noch nicht absehbar.Arbeitsbeschaffungs-, Umschulungs- und auch Fortbildungsmaßnahmen haben für Menschen, die sonst auf der Straße stehen würden, zwar zunächst eine wichtige Auffangfunktion — das ist absolut unbestritten —, aber im Grunde genommen ist die Frage eine ganz andere, nämlich die: Wie soll es weitergehen, wenn die AB-Maßnahmen auslaufen, zumal die Laufzeit künftig auf ein Jahr begrenzt, die Verlängerungsmöglichkeiten drastisch eingeschränkt und die finanzielle Ausstattung reduziert werden sollen? Wie soll es weitergehen, wenn sich herausstellt, daß viele Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen keine Perspektiven bieten?In diesem Zusammenhang ist es eine der größten Gemeinheiten, die gemacht werden, daß gegenwärtig Hauswirtschaftskurse in großer Zahl für Mädchen angeboten werden. Die sind kontraproduktiv und absolut kein Beitrag für zukünftige Berufschancen. Sie wären höchstens dann erträglich, höchstens dann akzeptabel, wenn sie Jungen vorbehalten blieben, zur Verbesserung der Chancengleichheit des männlichen Geschlechts bei der Arbeitsteilung im Haushalt.Als es im Zuge der Einigung endlich auch um die sogenannte Sozialunion ging, bestanden im Grunde genommen zwei Optionen: Die einen hofften darauf, daß sich gerade im sozialen Bereich positive Elemente aus der DDR übernehmen ließen. Das hätte bedeutet, daß die Einheit in Gestalt eines beiderseitigen sozialen Reformprozesses vollzogen worden wäre, der auch im Westen einiges in Bewegung gebracht hätte. Derartige Vorstellungen sind jedenfalls damals vom Unabhängigen Frauenverband und auch von einem Großteil der Bürgerbewegungen bei den Verhandlungen am Runden Tisch vertreten worden. Das Ziel der anderen, voran die politischen Kräfte der derzeitigen Regierungskoalition, war hingegen die möglichst reibungslose Übertragung des altbundesrepublikanischen Systems auf das Beitrittsgebiet. Das hat sich durchgesetzt, was sehr negative Konsequenzen hat, wie jeder sieht, der nicht absichtlich wegsieht.Was das nahezu ausschließlich lohn- und beitragsbezogene soziale Sicherungssystem im Westen nicht leisten kann, vermag es im Osten erst recht nicht. Im Gegenteil, die eklatanten Mängel dieses Sozialsystems werden auf Grund des nach wie vor gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Ost-West-Gefälles besonders augenfällig. Im Beitrittsgebiet zeichnet sich ein Prozeß der zunehmenden Verarmung ab, von dem sowohl junge Erwerbslose als auch viele ältere Menschen betroffen sind. Erst kürzlich hat der DGB eine Studie zur Armutsentwicklung in den neuen Bundesländern veröffentlicht, die in seinem Auftrag erstellt worden ist. Dieser Studie zufolge ist bis Ende dieses Jahres mit ca. 200 000 Sozialhilfeempfängern und -empfängerinnen in der Ex-DDR zu rechnen. Dabei handelt es sich vorrangig um Menschen, die aus dem sozialen Sicherungsnetz von Arbeitslosenversicherung und Rente herausfallen. Darüber hinaus sind es weitere 800 000 Erwerbslose, Rentnerinnen und Rentner, deren Situation nur auf Grund des Sozialzuschlages, der derzeit im Osten noch gezahlt wird, gerade noch erträglich gemacht wird. Auch im Westen steigt die Zahl der Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen stetig an und liegt inzwischen bei über 3 Millionen. Insgesamt leben damit in Deutschland, einem der reichsten Länder dieser Erde, mehrere Millionen Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Dabei ist die Dunkelziffer noch nicht mal berücksichtigt.Mit Sicherheit werden demnächst im Osten auf Grund der bevorstehenden Mietsteigerungen noch mehr Menschen ergänzende Sozialhilfe beziehen müssen, nicht zu vergessen die 90 % der in Heimen lebenden alten Menschen, die seit dem Auslaufen der staatlichen Finanzierung die Pflegesätze nicht mehr mit ihrer niedrigen Rente bestreiten können, die jetzt ebenfalls auf die entwürdigende Sozialhilfe verwiesen wurden.Diese Entwicklung war auch mit wenig Phantasie vorhersehbar, und sie begründet ein weiteres Mal die Notwendigkeit einer grundlegenden strukturellen Reform des sozialen Sicherungssystems. Kernpunkt der Reform muß die Einführung eines Grundeinkommens sein, das existenzsichernd ist, unabhängig von Antragstellung und Bedürftigkeitsprüfung, gewährt wird. Dabei sollte dann nicht nur das Erwerbseinkommen berücksichtigt werden, sondern ebenso gesellschaftlich notwendige Arbeiten, wie das Aufziehen von Kindern und die Pflege von Alten und Kranken.Wir haben bereits anläßlich der Verabschiedung des Rentenüberleitungsgesetzes darauf hingewiesen, daß längerfristig vor allem Frauen in der Ex-DDR zu den Verliererinnen dieser einseitigen Anschlußpolitik zählen werden. Dabei darf allerdings nicht vergessen
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Christina Schenkwerden, daß auch im Westen nach wie vor ausschließlich Frauen von Altersarmut betroffen sind.95 % der Menschen im Osten, deren Rente durch den Sozialzuschlag aufgestockt werden muß, sind Frauen. Insgesamt sind 30 % der ostdeutschen Rentnerinnen auf Sozialhilfe angewiesen. Damit wird im Osten jetzt das Realität, was im Westen schon lange gang und gäbe ist. Wenn Altersarmut im bestehenden System verhindert werden soll, ist die Einführung eines existenzsichernden Mindesteinkommens unverzichtbar.In der Debatte um die Verabschiedung des Rentenüberleitungsgesetzes haben selbst die Regierungsparteien nach langer und zäher Auseinandersetzung einem Entschließungsantrag zugestimmt, der sich für eine Ausweitung der eigenständigen Alterssicherung von Frauen ausspricht. Ich meine, man darf gespannt sein, was daraus wird.Abschließend möchte ich noch ein weiteres, brisantes sozialpolitisches Problem ansprechen, nämlich die Pflegeversicherung. Hier droht der Koalitionsstreit die Lösung des längst überfälligen Problems ein weiteres Mal hinauszuzögern. Der Streit geht dabei vor allem um die Frage, ob die Pflege eine allgemeine gesellschaftliche Aufgabe darstellt und als solche auch sozial abgesichert werden soll, oder ob Pflegebedürftigkeit als privates Risiko selbst getragen und privat versichert werden muß.Wir unsererseits vom Bündnis 90/DIE GRÜNEN könnten uns der Position derer anschließen, die für ein Sozialversicherungsmodell plädieren, vorausgesetzt, Beamte und Beamtinnen sowie Selbständige werden in die Beitragspflicht mit einbezogen, vorausgesetzt weiterhin, daß qualitative Fragen der Pflege endlich Priorität bekommen. Dabei muß an die Impulse angeknüpft werden, die in den letzten Jahren von der Selbsthilfebewegung Behinderter und alter Menschen ausgegangen sind. Es geht dabei um solche Aspekte, wie Wahlfreiheit, selbstbestimmtes Leben auch im Alter, um den Vorrang aktivierender und präventiver Hilfe und nicht zuletzt um die existenzsichernde finanzielle und soziale Absicherung derer, die die Pflegearbeit leisten.Es kann nicht vorausgesetzt werden, daß Frauen, auf deren Schultern diese Aufgabe bis jetzt vorrangig lag, noch lange weiter bereit sind, diese gesellschaftliche Arbeit allein und weitgehend unentgeltlich zu tragen. Dies und der bereits existierende Pflegenotstand machen ein sofortiges Handeln und klare Entscheidungen erforderlich.Hauptmotiv der gegenwärtigen Diskussion scheint hingegen allein der Finanzierungsaspekt zu sein. Hören Sie endlich auf damit! Fangen Sie damit an, über Inhalte der Pflegeproblematik zu diskutieren! Denn daraus ergeben sich die Prämissen zukünftiger Regelungen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Alexander Warrikoff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Wiedervereinigung hat den Gesetzgeber, die Regierung, aber auch das ganze Volk vor ungewöhnliche Herausforderungen gestellt. Auf diesem Hintergrund bedarf es einer grundsätzlichen Auffassung, die sich der Zukunft positiv zuwendet. Deswegen bedauere ich es, Herr Dreßler, wenn Sie hier Mutlosigkeit, Perspektivlosigkeit verbreiten, wenn Sie den Menschen in den neuen Ländern sagen, es geht abwärts und nicht aufwärts, wenn Sie ihnen nicht Mut machen, sondern genau das Gegenteil.
Heiner Geißler hat vor einigen Monaten von dieser Stelle aus bei diesem Thema gesagt: Herr Dreßler, das ist verantwortungslos. Ich schließe mich dem an.
Der Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung ist von diesen Herausforderungen ganz besonders betroffen. Ich möchte hier zwei wichtige Bereiche unterscheiden: das Gebiet, das der Gesetzgeber mit der Regierung, mit der Verwaltung bewältigen kann, und das Gebiet, auf dem Politik allein nicht genügt, auf dem die Wirtschaft, Arbeitgeber, Arbeitnehmer — kurz: die ganze Gesellschaft — gefordert sind.Zunächst zum Gesetzgeber: Herr Bundesminister Blüm, Ihr Haus, Sie und auch dieses Haus haben dafür gesorgt, daß auf dem Gebiet der Sozialgesetzgebung alles Wesentliche in kurzer Zeit — die deutsche Wiedervereinigung ist elf Monate und drei Tage her — vollzogen wurde: Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung und zuletzt die Rentenversicherung und Unfallversicherung im Juni, übrigens im Einvernehmen mit der Opposition.Die Bedeutung der Rentenversicherung kann überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden: sowohl für die, die in den neuen Ländern jetzt Rente bekommen, als auch für die, die eines Tages alle einmal, wie wir hoffen, gesunde und fröhliche Rentner sein werden. Die Rentner bekommen eine Rente, die sich nicht an den Willkürentscheidungen des ZK der SED — oder wer auch immer das festgelegt hat — orientiert, sondern sie bekommen eine Rente, die sich an der Produktivität der arbeitenden Menschen und an deren Einkünften orientiert. Diese Einkünfte werden nicht vom Ministerium für Arbeit und Löhne — so hieß das — festgelegt, sondern sie werden von freien Gewerkschaften und freien Arbeitgeberverbänden festgelegt; sie liegen dann den Renten zugrunde.
Im Haushalt haben wir aus diesen wichtigen, großen Veränderungen die Konsequenzen zu ziehen, die Sie, Herr Bundesarbeitsminister Blüm, vorhin dargestellt haben.Ich möchte diese Gelegenheit zu einem Wort des Dankes und einem Wort des Respekts benutzen. Wenn man sich unser Sozialgesetzbuch ansieht, dann ist man von der Fülle der Vorschriften schon tief beeindruckt; sie sind auch notwendig. Man ist auch tief beeindruckt, wie es den Beamten und anderen Mitarbeitern, z. B. der Sozialversicherungsträger, gelungen
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Dr. Alexander Warrikoffist, dieses überaus komplizierte Werk in so wenigen Monaten in den neuen Ländern umzusetzen. Ich finde, das ist eine hervorragende Leistung. Wir sollten all denen, die daran mitgewirkt haben, Dank aussprechen.
Das zweite Wort ist ein Wort des Respekts vor den Menschen in den neuen Ländern. Wenn man sich einmal überlegt, was wir ihnen alles an Neuem zumuten mußten, wie unendlich viel diese Menschen in sich aufnehmen, verarbeiten mußten, damit fertig werden mußten, dann kommt man zu dem Schluß, daß es überwältigend ist, wie gut sie das geschafft haben.
Der zweite Arbeitsbereich, den ich hier anspreche, betrifft weniger den Gesetzgeber als vor allem die Gesamtgesellschaft und da ganz besonders — im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung — den Arbeitsmarkt. Hier kommt es nicht darauf an, Gesetze zu verändern, sondern die dreidimensionale Wirklichkeit. Diese dreidimensionale Wirklichkeit, die verändert werden muß, besteht aus heruntergekommenen Betrieben, aus veralteter Technik, aus Verzicht auf zukunftsgerichtete Investitionen über Jahrzehnte hinweg
— das nimmt er alles nicht zur Kenntnis — und aus Produkten, die der erste Hauch des Wettbewerbs am Weltmarkt weggeblasen hat.Daran, meine Damen und Herren, sind nicht etwa die Menschen schuld, die dort gearbeitet haben. Die Arbeitnehmer in Zwickau, die Autowerker dort, hätten ihren Trabi von Jahr zu Jahr sehr gern so weiterentwickelt, daß er im Jahre 1991 oder 1992 dem Weltmaßstab standgehalten hätte. Sie durften es aber nicht, weil eine starre staatliche Zwangswirtschaft sie daran gehindert hat. Auch hätten sie gern genug Trabis gebaut; aber auch dazu hat man ihnen nicht die Möglichkeit gegeben.
— Herr Dreßler, wenn ich mir überlege, was Sie alles in Ihrer Rede angesprochen haben, dann komme ich zu dem Ergebnis, daß das unendlich viel weniger mit dem Haushalt zu tun hatte als das, was ich hier jetzt sage.
Das hat sehr viel mit dem Haushalt zu tun. Aber es dürfte Ihrer Aufmerksamkeit vielleicht entgangen sein, daß wir es hier mit dem Haushalt des Bundesministers für Arbeit zu tun haben. Und da geht es ganz zentral um die Frage der Arbeitsplätze.
Wenn Herr Dreßler nicht versteht, daß die Produktivität der Wirtschaft in den neuen Ländern etwas mit dem Haushalt dieses Ministeriums zu tun hat, dann hat er das Gesamtproblem nicht verstanden.
Das Problem besteht übrigens nicht nur im Zusammenbruch der Produktionseinrichtungen, sondern auch in ganz neuen Herausforderungen an die Menschen selbst, die ja in den vergangenen Jahrzehnten nicht zu Verantwortungsbewußtsein, zu Leistungsbereitschaft, zu Ideenreichtum gebracht wurden, sondern wo dieses ausdrücklich unterbunden wurde.Nun stehen wir vor den Trümmern dieser Wirtschaft, mit der Folge, daß natürlich unvermeidbar in all diesen Betrieben, die nicht mehr weiterbestehen können, Arbeitslosigkeit entsteht.Wenn ich Herrn Dreßler richtig verstanden habe— wenn es nicht ein so ernstes Thema wäre, hätte ich wahrscheinlich laut gelacht — , haben Sie den Versuch unternommen, dem Herrn Bundesarbeitsminister Blüm die Schuld an diesen Arbeitslosen zu geben. Das ist eine bemerkenswerte Leistung — eine bemerkenswerte Leistung.
— Sie haben in Ihrer Rede darauf abgehoben.Nun kommt es darauf an, neue Arbeitsplätze zu schaffen, weil das Schicksal der Arbeitslosigkeit ganz besonders bitter ist, ganz besonders bitter übrigens auch in den neuen Ländern, weil es da ein neues Lebensrisiko ist.Ich appelliere an alle, die davon betroffen sind, um ein wenig Verständnis, daß es sehr viel schwerer ist, Arbeitsplätze zu schaffen, die am Markt ein Einkommen von 2 200 DM im Monat, was wir für das nächste Jahr erwarten, rechtfertigen, als Arbeitsplätze aufrechtzuerhalten, die mit etwa 1 000 Mark der DDR bezahlt worden sind. Ich appelliere bei der künftigen Entwicklung der Löhne und Arbeitnehmereinkommen an die Tarifvertragsparteien, damit Produktivität erreicht wird, denn nur dann entstehen sichere Arbeitsplätze.Es wäre sehr bedenklich, wenn wir eine Situation hätten, die darin besteht, daß die Löhne hoch und die Arbeitsplätze weg sind. Wir sind für Übergangslösungen. Ich brauche diese ganzen Übergangslösungen nicht aufzuzählen — das hat der Herr Bundesarbeitsminister getan — , die auch wirken, die aber keine Dauerlösung sind.Wenn allerdings die SPD auf diesem Hintergrund jetzt den Vorwurf macht, wir würden keine aktive Arbeitsmarktpolitik machen, dann muß ich sagen, daß ich einigermaßen verblüfft bin. Das Gesamtausmaß der Maßnahmen geht bei weitem über alles hinweg, was je in den alten Bundesländern gemacht wurde. Es geht vor allem unendlich weit über das hinweg, Herr Dreßler, was Sie als Staatssekretär im Jahre 1982 zu vertreten hatten.
Im Jahr 1982 hatte die alte Bundesrepublik einen Stand von 2 Millionen Arbeitslosen mit dramatisch steigender Tendenz; Sie waren Staatssekretär.
Ihre „aktive Arbeitsmarktpolitik" bestand darin, daßSie 29 000 ABM-Stellen hatten, ganze 29 000. Heute
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Dr. Alexander Warrikoffhaben wir eine Arbeitslosigkeit von 1,6 Millionen in den alten und von 1 Million in den neuen Bundesländern.
In den neuen Bundesländern gibt es ein Programm, das 261 000 ABM-Stellen vorsieht. 29 000 Stellen waren es damals bei Ihnen, 261 000 sind es in den neuen Bundesländern bei uns!
— Genau. Die Zahl der ABM-Stellen in den neuen Ländern weist eine steigende Tendenz auf.Damit das ganze Ausmaß des Unterschieds in der Qualität zwischen der Politik von Norbert Blüm und der damaligen Politik von Herrn Dreßler klar wird, möchte ich hinzufügen: Norbert Blüm hat die Folgen eines katastrophalen Zusammenbruchs des sozialistischen Wirtschaftssystems zu verkraften; das hatten Sie, Herr Dreßler, damals nicht. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, was man von Ihren Bemerkungen zur aktiven Arbeitsmarktpolitik zu halten hat.Im Gegensatz zur SPD begrüßen wir die Erfolge. Es gibt in den neuen Bundesländern eine Million neue Arbeitsplätze und einige hunderttausend Betriebsgründungen. Vor allem gibt es dort eine ganz großartige Lernbereitschaft. Ich stelle mit großer Freude fest, daß 536 000 Menschen — Sie nannten die Zahl ebenfalls — die Fortbildungs-, Umschuldungs- und Qualifizierungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit in Anspruch nehmen. Davon sind übrigens 56 % Frauen. Das ist eine sehr wichtige und erfreuliche Zahl.Diese Qualifizierung wird sicherstellen, daß die Arbeitnehmer in den neuen Ländern genauso schnell und genauso überzeugend die Spitzenklasse an Qualität in der Welt erreichen werden, wie das hier bei uns der Fall ist. „Made in Germany” ist schon heute, und zwar mit Recht, nicht mehr „Made in West-Germany” , sondern auch hier haben wir das eine Deutschland.Unsere Arbeits- und Sozialpolitik bezieht sich natürlich auch auf die alten Bundesländer. Ich stelle hier gern fest, daß sich beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitisch die Einigung zunächst für die alten Bundesländer positiv ausgewirkt hat. Die Einigung hat in den alten Bundesländern einen Zuwachs von 900 000 Beschäftigten innerhalb eines Jahres gebracht. Die Arbeitslosigkeit ist stark zurückgegangen.Ich darf übrigens auch an dieser Stelle an die neuesten Zahlen erinnern, die wir aus Nürnberg bekommen haben, die ermutigend sind, übrigens ganz besonders ermutigend in bezug auf den sehr hohen Rückgang der Teilzeitarbeit. Hier habe ich bezüglich der neuen Länder die Zahl von 134 000 in Erinnerung.Ohne die Einigung wäre Deutschland wahrscheinlich stärker in den weltwirtschaftlichen Sog einer doch gedämpften Konjunktur gezogen worden, als dies jetzt der Fall ist. Ich stelle aber vor allem und zusätzlich mit Nachdruck und mit Befriedigung fest, daß die Kosten der deutschen Einheit, Herr Bundesarbeitsminister, nicht zu Lasten der Sozialsysteme gegangen sind. Alle großen Programme werden weitergeführt. Die Rentner haben am 1. Juli 5,04 % mehr bekommen. Alle Sicherungssysteme halten, sind stabil und werden zuverlässig weitergeführt.Daüber hinaus ist es keineswegs so, daß wir nur das, was vorhanden ist, erhalten, sondern wir bauen weiter aus. Der Sozialstaat Deutschland wird weiterentwikkelt. Es besteht Konsens, daß auf dem Gebiet der Pflegeversicherung, einem ganz neuen und wichtigen Gebiet, etwas Entscheidendes geschehen muß.
Das die sozialen Sicherungssysteme nicht nur standhalten, sondern fortentwickelt werden, könnten manche als selbstverständlich bezeichnen.
Das fällt in Zeiten äußerster Kraftanstrengung, wenn unendlich viel Energie, auch wirtschaftliche Energie und finanzielle Mittel, in die Verwirklichung des Ziels der Herstellung vergleichbarer Lebensverhältnisse gesteckt werden muß, nicht vom Himmel. Eine gesunde Wirtschaft und, daraus folgend, eine soziale Sicherheit sind nicht selbstverständlich. Sie beruhen vor allem auf der Leistung aller, die anpacken und etwas bewegen; aber sie beruhen natürlich auch und ganz besonders auf der großartigen Politik unserer Bundesregierung unter Helmut Kohl und unseres Bundesarbeitsministers Norbert Blüm.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Jahr Anschlußpolitik heißt für mich Bilanz zu ziehen über die Situation der Menschen in den neuen Bundesländern, und zwar ohne Heuchelei und Beschönigung. Dabei will ich auch nicht diejenigen vergessen, die im Westen die Zeche dieser Politik zu bezahlen haben; denn von „gleicher Lastenverteilung", wie uns der Herr Finanzminister glauben machen will, kann nun wirklich nicht die Rede sein, weder in Ost noch in West.Immer noch gilt die Devise, die Kosten der Einheit auf die sozial Schwächsten abzuwälzen, hüben wie drüben. Daran zu zweifeln, daß diese Absicht auch künftig fortbesteht, gibt der eingebrachte Haushalt, insbesondere Einzelplan 11, überhaupt keinen Anlaß. Die Prioritäten werden nicht neu gesetzt, die Gelder nicht vorrangig dort eingebracht, wo sie am dringendsten gebraucht werden.Typisch dafür ist, daß bei aller Veränderung der weltpolitischen Lage — mein Kollege Uli Briefs hat schon darauf verwiesen — der Verteidigungshaushalt unangetastet bleibt und mit 52 Milliarden DM immer noch einen der dicksten Brocken in diesem Haushalt ausmacht. Hier sind für mich die von Bun-
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3164 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Petra Blässdesminister Waigel in Abrede gestellten Spielräume des vorgelegten Haushaltsentwurfs, die so bitter nötig wären, um zu verhindern, daß die Kosten des Anschlusses — wohlgemerkt, das sind neue Kosten, die dem Crash-Kurs des Anschlusses geschuldet sind — vor allem zu Lasten der Menschen in den neuen Ländern gehen. Es mag zwar sein, daß die Wiedervereinigungsaufgaben finanzpolitisch bewältigt sind, wie es in der Haushaltsrede von Herrn Waigel lapidar heißt, aber hinter dieser haushaltstechnischen Floskel verbergen sich Hunderttausende von Menschenschicksalen, verbirgt sich Existenzangst, Mutlosigkeit und Verzweiflung von Frauen, von Jugendlichen, von alten Menschen. Finanzpolitik alleine reicht eben nicht, Herr Waigel, wenn es um Menschen geht.Welche Anforderungen bestehen, um die Wiedervereinigungsaufgaben unter sozialen Gesichtspunkten zu bewältigen, darüber geben die gestrigen Arbeitslosenzahlen ebenso Auskunft wie die Bilanz der Kosten, die aufzubringen wären, um die durch skandalöse Abwicklungen gerissenen Löcher bei zentralen Aufgaben der öffentlichen Hand stopfen zu können — wie etwa bei den Kindereinrichtungen, in der Gesundheitsversorgung, bei Beratungs- und Kulturangeboten, um nur einiges zu nennen, was für mich Mindeststandards sozialen Besitzstandes von Bürgerinnen und Bürgern aus der ehemaligen DDR sind. Weder der Einzelplan 11 des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung noch der Gesundheitsetat und schon gar nicht der Ansatz für Frauen und Jugend oder der für Familien und Senioren sind so ausgestattet, daß die anstehenden sozialen Aufgaben in diesem reichen Land BRD wirklich zu bewältigen sind, um die alten und neuen gesellschaftlichen Probleme radikal, nämlich an der Wurzel, anpacken zu können.Mit 128,8 Milliarden DM machen zwar diese vier Ministerienbereiche etwa ein Drittel des Gesamtetats aus, aber bei genauerer Betrachtung der Einzelansätze wird deutlich, daß davon der Löwenanteil von über 100 Milliarden DM für Individualleistungen aufgewandt werden muß, die nach dem Gesetz zwingend geregelt sind. Dies sind vor allem Zuweisungen an die Rentenversicherungsträger und die Bundesanstalt für Arbeit sowie die Mittel für das Kinder- und Erziehungsgeld oder die Ausgaben für Zivildienstleistende, um nur die dicksten Brocken zu nennen. Nur ganze 20 Milliarden DM sind frei.Das Dilemma dieser Situation ist, daß mit diesen Haushaltsansätzen lediglich an den Folgen des Anschlusses und anderer gesellschaftlicher Fehlentwicklungen herumgedoktert werden kann, nicht aber Raum ist für wirklich gestaltende
sozialpolitische Maßnahmen, für Maßnahmen, die ein sozialpolitisches Umdenken, die tatsächliche strukturelle Veränderungen unserer Sozialpolitik zulassen.Ich will ein kleines Beispiel aus dem Einzelplan 11 nennen, das dieses Problem eindrucksvoll symbolisiert. Der Titel mit dem klangvollen Namen „Förderungen der Erprobung neuer Wege in der Arbeitsmarktpolitik" wurde trotz der sich anbahnenden Beschäftigungskatastrophe in den neuen Bundesländern und einem Sockel von Arbeitslosen in den alten Bundesländern, den man ja wohl immer noch Massenarbeitslosigkeit nennen muß, mit 3,5 Millionen DM auf dem niedrigen Stand des Jahres 1990 eingefroren. Dem stehen in diesem Haushalt 8,5 Milliarden DM, die zur Finanzierung der Arbeitslosenhilfe aufgebracht werden müssen, gegenüber.Das ist meines Erachtens die Crux: Seit Jahren ist es völlig selbstverständlich geworden, daß statt einer wirkungsvollen Struktur- und Beschäftigungspolitik mit etlichen Milliarden des Sozialetats die Folgen von Arbeitslosigkeit abgefedert werden. Mit den Folgen des Anschlusses kommt eben genau dieser Seite der Sozialpolitik eine Schlüsselrolle zu. Statt, daß in neue beschäftigungspolitische Konzepte mit Zukunftsperspektive investiert wird, wird die Zwei-Drittel-Gesellschaft gesamtdeutsch etabliert. Sage keiner den Menschen in Ostdeutschland, das sei ein Übergangsproblem! Ebenso wie in den alten Bundesländern werden auch wir es mit dem Phänomen zu tun bekommen, daß ganze Bevölkerungsgruppen auf Dauer marginalisiert sind, daß Armut und Obdachlosigkeit zum gesellschaftlichen Alltag gehören.Meine Sorge, daß die Frauen hier wieder eine Spitzenposition einnehmen, ist angesichts der besonders brutalen Verdrängung der Frauen aus dem Erwerbsleben mehr als begründet. Schon heute sind 58,5 % der Erwerbslosen in den neuen Bundesländern Frauen; in einzelnen Regionen wie Thüringen und Sachsen liegt dieser Anteil bei bis zu 70 % Produktionsstandorte mit traditionell — auch für die ehemalige DDR — hohem Frauenanteil und wesentliche Teile der Landwirtschaft sind dafür ausschlaggebend.Aber Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ist nicht allein ein Problem von Frauen. Fast eine halbe Million Männer sind davon betroffen. Mit dem Auslaufen der Kurzarbeiterinnen- und Kurzarbeiterregelung werden noch Hunderttausende dazukommen. Das Problem ist erst in seiner Gesamtheit erfaßbar: wenn Vorruheständler und Vorruheständlerinnen, Bezieher und Bezieherinnen von Altersübergangsgeld und auch diejenigen einbezogen werden, die — entgegen den Versprechungen des Bundeskanzlers — bei der Lehrstellensuche leer ausgegangen sind.Die einzige Antwort aus dem Hause Blüm sind Qualifizierungsmaßnahmen und ABM. Natürlich ist eine Beschäftigung in AB-Maßnahmen besser, als schon jetzt auf der Straße zu stehen. Aber klar ist doch auch: Wenn daraus keine Arbeitsplätze entstehen — was ich im Moment ernsthaft befürchte — , kann keine zukunftsträchtige Standortpolitik betrieben werden, wird der Kahlschlag nur zeitlich verschoben.
Das Arbeitslosengeld betrug Ende Juni 1991 in den neuen Bundesländern durchschnittlich 627 DM, für Frauen nur rund 562 DM. Wenn sich die Wohnkosten ab 1. Oktober von durchschnittlich 63 DM auf durchschnittlich 295 DM erhöhen und Anspruchsberechtigte im Durchschnitt nur 70 DM Wohngeld erhalten,
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Petra Blässist für viele ein Abgleiten in die Sozialhilfe bereits vorprogrammiert. Eine alleinerziehende Frau beispielsweise müßte — nach diesen Durchschnittswerten berechnet — mit 337 DM monatlich zurechtkommen. Wie heißt es doch so schön in einer deutschen Spruchweisheit: Zum Leben zu wenig .. .Wie die finanziellen Spielräume für Arbeitslosenhilfeempfängerinnen und -empfänger aussehen, brauche ich sicher nicht weiter auszurechnen, abgesehen davon, daß bei der Arbeitslosenhilfe soziale Relikte wie die Bedürftigkeitsprüfung greifen, was dazu führt, daß mehr als zwei Drittel der Frauen, die Arbeitslosenhilfe beantragen, leer ausgehen und damit existentiell in völlige Abhängikeit von ihren Ehemännern oder von Transferleistungen Dritter geraten — für die übergroße Mehrheit der Frauen aus den ostdeutschen Ländern eine bittere Erfahrung. Sie sind die großen Verliererinnen des Anschlusses. Ihre strukturelle Benachteiligung hat deutlich zugenommen. Die Verstärkung patriarchalischer Tendenzen ist unübersehbar.
— Zum Beispiel erkennbar an den Zahlen, die ich brachte.
Die weiträumige Schließung von Kindertagesstätten und die drastische Erhöhung der Kosten für diese Einrichtungen sind eine weitere Möglichkeit, auch Frauen in den neuen Bundesländern auf ihre Rolle in der Familie festzulegen. Und dahinter, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsbank — ich muß es leider sagen — , steckt Methode.
Es ist beabsichtigt, das traditionelle Frauenbild auch in den neuen Bundesländern durchzusetzen und Frauen als sogenannte Manövriermasse für konjunkturelle Schwünge uneingeschränkt zur Verfügung zu haben.
— Das habe ich selber geschrieben.Dem Widerstand der westdeutschen Frauenbewegung ist es zu danken, daß dies nicht mehr so ungebrochen funktioniert. Selbst Frau Rönsch muß heute zur Kenntnis nehmen, daß Berufstätigkeit zum festen Bestandteil weiblicher Lebensplanung auch im Westen geworden ist. Ihre Angebote zur finanziellen Abgeltung von Erziehungsarbeit und die Ausdehnung des Erziehungsurlaubs sind allerdings nur ein halbherziger Schritt, wenn auf Grund der miesen finanziellen Ausstattung doch nur wieder Frauen diese Möglichkeit wahrnehmen.
Ein weiteres Beispiel dafür, daß der endlose Kreislauf weiblicher Benachteiligung laufend reproduziert wird, sind die sogenannten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. In der Regel sind das solche, die jenseits der Versicherungspflicht liegen. Nach jüngst veröffentlichten Zahlen gibt es davon in der Bundesrepublik allein 6 Millionen. Daß überwiegend Frauen in solche Arbeitsverhältnisse gedrängt werden, läßt sich jeder Teilzeitarbeitsstatistik entnehmen. Die Folge: keine Absicherung bei Krankheit oder im Falle von Arbeitslosigkeit, und für die Rente ist auch nichts anrechenbar.Meine Damen und Herren, ich habe meinen Standpunkt zu dem im Rentenüberleitungsgesetz festgeschriebenen sogenannten Rentenkompromiß hier schon ausreichend dargelegt. Ich finde ihn nach wie vor zutiefst unsozial und werde die Betroffenen weiter ermuntern, ihre Ansprüche gerichtlich einzuklagen.
Zwar ist der Zuschuß von 60,6 Milliarden DM in die Rentenkassen enorm, aber die einzelne Rentnerin, der einzelne Rentner, insbesondere in den neuen Bundesländern, schaut voll Sorge auf die bevorstehenden Mietsteigerungen, auf Tarif- und Gebührenerhöhungen und die sonstige Zunahme der Lebenshaltungskosten.
Der alleinstehenden Rentnerin beispielsweise stehen trotz Wohngeld durchschnittlich nur 491 DM zur Verfügung, und eine solche Summe bedeutet jetzt natürlich wirklich etwas anderes als vorher.
— Fragen Sie doch bitte die Rentnerinnen und Rentner.
Ich habe sie im Sommer sehr oft gefragt.Noch ein Wort zum Gesundheitsetat: Hier wird gar nicht mehr der Versuch unternommen, den weiteren Abbau sozialer Leistungen zu verschleiern. Kürzungen von 10,6 % bei gleichzeitiger Zerschlagung eines gut funktionierenden Systems gesundheitlicher Vor-und Fürsorge in den neuen Bundesländern
empfinde ich als sozialpolitischen Skandal.
— Ich habe ja wohl das Recht, hier meine Meinung zu sagen.
Keine einzige wissenschaftliche Einrichtung der Medizin in Ostdeutschland wird derzeit vom Bund gefördert. Dies gilt z. B.
für die Auflösung des Zentralinstituts für Herz- und Kreislaufkrankheiten und für die Krebsforschung. Weder das Krebsregister der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR noch das zweifellos her-
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Petra Blässvorragende Vorsorgeprogramm für Schwangere, die an Diabetes erkrankt sind, mit einem Zentralinstitut in Karlsburg bei Greifswald werden fortgeführt. Das entspricht der Strategie einer bewußten Schleifung analog der Charité, wenn es gar nicht anders geht, auch mit unlauteren Mitteln. Das haben die letzten Tage deutlich gezeigt.Gesundheit wird also mehr und mehr zur Privatangelegenheit deklariert. Die hitzigen Debatten um die Absicherung von Pflegebedürftigkeit sind dafür ein beredtes Beispiel.
Unter dem Stichwort „gestaltende Sozialpolitik" spricht sich die PDS/Linke Liste für die Einrichtung eines Pflegefonds aus, für den 25 Milliarden DM an Haushaltsmitteln bereitzustellen sind.
— Wo die herzukriegen sind, habe ich am Anfang gesagt.Sozialpolitisch gestaltend eingreifen heißt für uns auch, in Anlehnung an den Vorschlag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft die Forderung zu erheben, daß sich der Bund zur Hälfte an den Kosten für den Erhalt von Krippen, Kindergärten und Horten in den neuen Bundesländern beteiligt.
Damit wollen wir der massiven Mobilitätseinschränkung von Frauen entgegenwirken.Wir halten es für erforderlich, daß Struktur- und Beschäftigungsprogramme aufgelegt werden, die Beschäftigung von Frauen zum Schwerpunkt haben. Dabei muß gelten, daß keine Stunde Arbeit ohne ausreichenden Versicherungsschutz geleistet werden darf.Die Abgeordnetengruppe der PDS/Linke Liste wird darüber hinaus in den kommenden Monaten Initiativen zu folgenden Bereichen in den Bundestag einbringen: Antrag zur Bildung einer Enquete-Kommission „Soziale Katastrophe in Ostdeutschland"
— daß das notwendig ist, zeigen die Zahlen — , Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf mindestens 75 % des Nettogehalts, Abschaffung der menschenunwürdigen Bedürftigkeitsprüfung
und der Zumutbarkeitsregeln im Arbeitsförderungsgesetz,
gezielter Einsatz öffentlicher Mittel für Umschulungen und Schaffung von Qualifikations- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Frauen,
Sicherung und Ausbau von Arbeitsplätzen durch Förderung ostdeutscher Erzeugnisse,
Erhalt und Ausbau der sozialen Infrastruktur sowie Förderung regionaler Struktur- und Beschäftigungsprogramme.Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Uelhoff das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der letzte Satz war der einzige, den ich hier unterschreiben kann.
Im übrigen ballt sich einem doch die Faust in der Tasche, wenn Vertreter der SED-Nachfolgeorganisation uns hier sagen wollen, wie man eine vernünftige Sozialpolitik macht.
Sie haben 18 Millionen deutsche Menschen in eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe geführt.
Ich kann nur sagen: Schämt euch, schweigt und lernt! Das wäre die richtige Konsequenz.
Meine Damen und Herren, ich habe heute in einer Zeitung einen richtigen Satz gelesen, den ich zitieren möchte, weil er eigentlich die große Überschrift über unsere gesamte Haushaltsdiskussion ist:Der Spielraum für Neuverschuldung und Steuererhöhung ist verbraucht.Dies ist leider auch in der Sozialpolitik ein gültiger Satz.
Wenn ich heute morgen aus Bremen etwa höre,
daß es gilt, die Werftindustrie zu subventionieren,dann werde ich daran erinnert, daß in meinem Wahlkreis durch Strukturprobleme etwa 20 000 Arbeits-
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Dr. Klaus-Dieter Uelhoffplätze in der Schuhindustrie verloren gegangen sind. Ich erinnere an manche Regionen insbesondere im Westen, aber wohl auch im Osten, wo durch die erfreuliche Abrüstung große wirtschaftliche und sozialpolitische Probleme entstanden sind. Hier erwarten wir vom Koalitionsabkommen — darin steht es — Hilfen etwa im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe.Das Entscheidende aber muß sein — deswegen habe ich diese Beispiele erwähnt — , daß wir aus dem einzelnen, regionalen Denken wieder herausfinden und das wichtige gemeinsame Ziel im Auge behalten, um das es bei Haushaltsberatungen immer, aber dieses Mal mehr denn je geht, nämlich die Stabilität der Deutschen Mark und unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Dieses schafft und sichert Arbeitsplätze, und dieses finanziert und ermöglicht damit eine konstruktive Sozialpolitik.Doch wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herren im Westen, wissen, daß die finanziellen Herausforderungen bei der Umgestaltung im östlichen Teil Deutschlands wesentlich größer sind als im Westen. Teilung durch Teilen überwinden — ein guter Satz. Ich würde es für gut halten, wenn diese These nicht nur bei Sonntagsreden, sondern insbesondere auch von Oppositionspolitikern vor Ort im Westen vertreten würde.Die Probleme des Arbeitsmarktes sind im Osten um Lichtjahre größer als im Westen, doch auch im Westen gibt es strukturschwache Räume, in denen Arbeitsmarktpolitik eine wichtige soziale Komponente einer erfreulichen Wirtschaftspolitik ist. Umgekehrt wird die Arbeitsmarktpolitik immer den rentablen Arbeitsplatz und nicht irgendeine Beschäftigung zum Ziele haben.
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, so sinnvoll sie auf Zeit, jetzt insbesondere in Ostdeutschland, sind, haben immer nur für den Übergang einen Sinn.
Ich möchte deshalb in diesem Zusammenhang ein paar Gedanken zu Kap. 11 12, Bundesanstalt für Arbeit, äußern, der wegen der Selbstverwaltung der Bundesanstalt dem Haushaltsgesetzgeber Deutscher Bundestag nur einen sehr geringen Anteil gibt, weil wir im wesentlichen nur über Zuweisungen sprechen können. Es hat mich in dem Zusammenhang schon interessiert, wenn ich vor wenigen Tagen in der Zeitung las, die Sonderzahlung von 5 Milliarden DM, die von der Bundesregierung für ABM zur Verfügung gestellt wurde, werde 1991 nicht angetastet.Ich sage hier aus grundsätzlichen Erwägungen und nicht in aller Bescheidenheit, sondern mit allem Nachdruck: Die Spielregeln unserer parlamentarischen Demokratie sehen anders aus. Wenn ich unsere bewährte verfassungsmäßige Ordnung richtig einschätze, Herr Bundesarbeitsminister und Herr Bundesfinanzminister, stellt nicht die Bundesregierung der Bundesanstalt für Arbeit 5 Milliarden DM zur Verfügung; vielmehr führen Minderausgaben aus dem Haushaltsplan 1991 grundsätzlich zu einer Verringerung der Nettokreditaufnahme für den laufendenHaushalt. Dies hätte angesichts der Zinsbelastung der Staatsfinanzen dem Haushalt im übrigen sehr gut getan.Es waren wohl Zwänge bei der Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft und die auch von mir voll gestützte Absicht, AB-Maßnahmen im Beitrittsgebiet fortführen zu können, die dazu geführt haben, daß die Bundesregierung dem Parlament jetzt anderes vorschlägt. Das Parlament wird also gründlich zu prüfen haben, wie sich die Bundesanstalt die Fortführung der ABM-Programme vorstellt — in der Sache nötig, aber bei größter Sparsamkeit.Ich will auch sehr deutlich sagen: Wir werden mit einem Gesetzesbeschluß darüber zu befinden haben, in welcher Höhe — etwa 5 Milliarden DM — der Bundesanstalt für Arbeit Mittel zur Verbesserung ihrer Rücklagensituation bereitgestellt werden. Dies ist bisher nicht geschehen. Das ist unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, und darauf möchte ich im Interesse des Parlaments mit allem Nachdruck hinweisen.
Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend ein paar Anmerkungen zur Arbeitsbeschaffung machen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, so wichtig sie sind, dürfen kein Zauberwort für Dienstleistungen zum Billigtarif oder für die Entlastung kommunaler Haushalte sein. Es gab in West und Ost viel Mißbrauch; die Presse hat darüber berichtet. Sehr wichtig, meine ich, ist die Zusammenarbeit der Arbeitsämter mit berufsständischen Organisationen, insbesondere den Handwerkskammern und den Industrie- und Handelskammern.
Sie sollten bei der Bewertung mitwirken, ob diese oder jene Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nicht in Konkurrenz zur gewerblichen Wirtschaft steht.
Ich meine auch, daß die Umstrukturierung der Wirtschaft im Osten sozialverträglich erfolgen muß und daß deshalb eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme eine wichtige Brücke zu einem neuen, rentablen Arbeitsplatz ist. Aber ich verkenne bei aller sozialen Bedeutung nicht, daß der Finanzrahmen begrenzt ist und daß die Gefahr der Ausnutzung — durch die Träger, nicht durch den betroffenen Arbeitslosen — sehr groß ist. Deshalb sollten wir bei den fortlaufenden Beratungen über die Bundesanstalt darüber nachdenken, inwieweit durch differenzierte Lösungen bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine größere Effektuierung ermöglicht wird, zum Beispiel durch Erhöhung der Eigenbeteiligung des Trägers. Das ist sicherlich im Osten weniger möglich als im Westen und bei einer Kommune leichter durchzusetzen als bei einem gemeinnützigen Wohlfahrtsverband. Ich stelle mir vor, daß wir über die Senkung der Regelförderungsdauer von zwei Jahren nachdenken sollten. Ich halte es für sehr wichtig, auch die degressive Staffelung der Fördersätze im Verlauf einer Maßnahme in die Debatte zu bringen. Schließlich sollte grundsätzlich keine Förderung von ABM-Trägern erfolgen, die faktisch in
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Dr. Klaus-Dieter UelhoffKonkurrenz zu im Westen bestehenden oder im Osten im Aufbau befindlichen Gewerbebetrieben stehen.
Meine Damen und Herren, wir werden im Verlauf der nächsten Wochen sehr genau zu prüfen haben, inwieweit die Bundesanstalt für Arbeit in eigener Verantwortung diesen wichtigen, teuren, aber notwendigen Komplex auch selbstkritisch durchforstet. In jedem Fall — lassen Sie mich dies abschließend sagen — danke ich Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister, für die Sisyphusarbeit, die Sie in der Vergangenheit und Gegenwart geleistet haben und auch in der Zukunft leisten werden, wenn es darum geht in Ostdeutschland eine solche Situation zu schaffen, daß in der ganzen Bundesrepublik Deutschland gleiche Lebensverhältnisse bestehen. Ein letztes Dankeschön noch für Ihre Aussage, daß der Beitragssatz für die Bundesanstalt zum 1. Januar 1992 gesenkt wird. Dies, meine ich, ist wichtig für die Glaubwürdigkeit staatlicher Finanzpolitik und ist ein wichtiger Beitrag zur Leistungsbereitschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Ottmar Schreiner das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Uelhoff, es ist schon fast an der Grenze zur Unverschämtheit,
wenn Sie die SPD-Fraktion auffordern, vor Ort die Erkenntnis „Teilung läßt sich nur durch Teilen überwinden" zu verbreiten.
Ein erheblicher Teil der Probleme, die wir heute bei der sozialen Gestaltung der Einheit haben, hängt doch damit zusammen, daß Ihre Partei und die Bundesregierung im Wahlkampf des vergangenen Jahres nicht den Mut hatten, den Menschen die Wahrheit zu sagen,
daß die Überwindung der Teilung soziale Opfer auch im Westen kostet. Sie haben im Gegenteil die Menschen bewußt hinters Licht geführt. Das ist einer der Gründe für die Probleme, die wir heute im östlichen Teil Deutschlands flächendeckend haben.
— Das hat Herr Lafontaine ganz bewußt gesagt. Sie haben doch den Wahlkampf mit der These „Steuererhöhungen sind unter keinen Umständen notwendig" bestritten, schon zum damaligen Zeitpunkt wohl wissend, daß dies überhaupt nicht gehen könnte.
Also stellen Sie sich jetzt nicht hier hin und ermahnenuns! Sie müssen sich an die eigene Brust klopfen. Werim Glashaus sitzt, sollte wirklich nicht mit Steinen werfen.
—Wir hatten bereits in der aufgeheizten Atmosphäre des Wahlkampfs gesagt, daß die Sozialdemokratische Partei davon ausgeht, daß es gar nicht anders geht.
— Meine Güte, wir können das immer wieder sagen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zu dem Irrglauben des Kollegen Warrikoff begrüßt die Sozialdemokratische Fraktion ausdrücklich das neuerliche Ziel der Bundesanstalt für Arbeit, die Zahl der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den ostdeutschen Ländern bis zum Ende dieses Jahres auf dann 400 000 zu steigern.
Wir selbst hatten schon im Verlauf der Haushaltsdebatte vom März dieses Jahres eine weitere Aufstokkung gefordert, um die dramatischen Beschäftigungseinbrüche in Ostdeutschland wenigstens teilweise und vorübergehend aufzufangen.Jetzt wird es weniger toll für Sie: Nach allgemeinem Verständnis ist es — der Kollege Uelhoff hat eben zu recht darauf hingewiesen — in Zeiten wirtschaftlichen Strukturwandels Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik, Massenarbeitlosigkeit zu verhindern und für von Arbeitslosigkeit betroffene und bedrohte Menschen eine Brücke zu regulären Anschlußbeschäftigungen zu schlagen. Diese Funktion kann der Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung für Ostdeutschland nun gerade nicht zugrunde gelegt werden.Tatsächlich haben Sie dem seit Mitte des vorigen Jahres erkennbaren intensiven Drängen der Bundesanstalt und der politischen Opposition nach Ausweitung der Maßnahmen in diesem Hause stattgegeben, weil Sie befürchten mußten, daß sich die Massenarbeitslosigkeit in den ostdeutschen Ländern der politischen Kalkulierbarkeit und Berechenbarkeit entziehen könnte. Die Angst vor sozialen Unruhen war eines der wesentlichen und treibenden Motive für das Handeln der Bundesregierung.
Damit bleibt aber die zentrale Frage: Wo ist das rettende Ufer, zu dem die extensive Arbeitsmarktpolitik eine Brücke bauen soll? Welche industrie- und damit beschäftigungspolitischen Konzeptionen hat die Bundesregierung?
Wo sind die Perspektiven für eine reguläre Anschlußbeschäftigung derjenigen, die vorübergehend in einerArbeitsmarktmaßnahme Schutz gefunden haben? —
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Ottmar SchreinerDie traurige Wahrheit ist, daß die Bundesregierung auch nicht die Ansätze einer Konzeption hat.Damit läuft die Arbeitsmarktpolitik allerdings Gefahr, den Problemberg nur um ein oder zwei Jahre zu verschieben, statt zur Lösung der Probleme beizutragen. Zuletzt könnten diejenigen Oberwasser bekommen, die immer schon gegen eine extensive Arbeitsmarktpolitik waren und sind, weil sie dahinter „zeitlich subventionierte Aufbewahranstalten" vermuten.
Ich betone deshalb noch einmal und ausdrücklich: Die Wirksamkeit der in Gang gebrachten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen hängt auf mittlere Sicht entscheidend davon ab, ob die Arbeitsmarktpolitik ihrerseits durch wirksame wirtschafts- und strukturpolitische Maßnahmen unterstützt wird.
Die struktur- und sozialpolitische Überbrückungsfunktion der Arbeitsmarktpolitik steht und fällt damit, ob durch Investitionen dauerhaft Arbeits- und Ausbildungsplätze im privaten und öffentlichen Bereich geschaffen werden. Nur so kann die Arbeitsmarktpolitik über den Tag hinausführen und mehr als nur ein Notnagel in schwieriger Zeit sein.Der Dreh- und Angelpunkt der ostdeutschen Beschäftigungsentwicklung ist eine Antwort auf die Frage, ob der ehemalige Industriestandort DDR eine angemessene Zukunftsperspektive hat. Diese Antwort sind die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen bis zur heutigen Stunde schuldig geblieben. Diese Antwort haben Sie bislang nicht gegeben.
Damit aber steht und fällt die Sinnhaftigkeit jeder Arbeitsmarktpolitik.Nun sind gerade die Treuhandunternehmen derjenige wirtschaftliche Sektor, der besonders drastisch von Beschäftigungsrückgängen betroffen ist. Dazu gehören vor allem die ehemaligen Kombinate der Industrie und damit die Bereiche, die am stärksten dem Konkurrenzdruck westdeutscher und ausländischer Unternehmungen ausgesetzt sind. Ihre Marktsituation ist auch aus diesen Gründen besonders kritisch.Nach einer Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg soll die Zahl der Arbeitsplätze in den Treuhand-Unternehmen im Laufe dieses Jahres um etwa 1,4 Millionen, also um rund die Hälfte, zurückgehen. Im kommenden Jahr sollen nochmals etwa 200 000 Arbeitsplätze in diesem Bereich abgebaut werden. Bis zum Ende dieses Jahres kann die Gesamtzahl der Erwerbstätigen in der ehemaligen DDR auf rund sechs Millionen sinken. In dieser Zahl befinden sich etwa 1,3 Millionen Kurzarbeiter. Gegenüber dem Herbst 1989 würde dies bedeutet, daß etwa jeder Zweite in Ostdeutschland bis Ende dieses Jahres seinen Arbeitsplatz verloren hat oder kurzarbeitet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist dabei auch wenig tröstlich, daß die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen keineswegs mit dem weitaus höheren Verlust von Erwerbsarbeitsplätzen identisch ist. Immer noch verlassen Monat für Monat — bis zum heutigen Tag — Tausende von vor allem jungen Ostdeutschen mangels einer beruflichen Zukunft ihre Heimat, um sich in Westdeutschland eine neue Lebensperspektive aufzubauen.
Diese Entwicklung ist in hohem Maße schädlich,
weil sie in Ostdeutschland zu einen enormen Defizit an gut qualifizierten Fachkräften führt und damit betriebliche Ansiedlungen zusätzlich erschwert.
— Das ist natürlich besser, als arbeitslos zu sein. Aber Sie bewegen sich damit in einem Teufelskreis, weil das Angebot von gut qualifizierten Fachleuten natürlich eine zwingende Voraussetzung für unternehmerische Ansiedlungen sind.
— Dafür sorgen Sie ja gerade nicht, sonst würde der Marsch vom Ostteil in den Westteil der Republik nicht fortgesetzt werden.
Diesen dramatischen Beschäftigungseinbrüchen steht keine auch nur in Ansätzen erkennbare Konzeption gegenüber.
Die wirtschafts- und beschäftigungspolitische Gestaltung der deutschen Einheit hat Sie völlig überfordert. Statt die Eigentumsfrage einer raschen Regelung zuzuführen und den zügigen Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur und Verwaltung anzustoßen, schloß die Bundesregierung über Monate hinweg die Augen und hoffte im Zustand ideologischer Verklärung auf ein Wunder des Markts.
Statt der Treuhand von Anfang an einen klaren gesetzlichen Sanierungsauftrag in die Hand zu geben, lassen Sie bis zur Stunde die Dinge treiben.Die SPD-Fraktion hat in diesem Hause und anderswo immer wieder darauf hingewiesen, daß die Treuhand gleichrangig durch Sanierung und Privatisierung auf eine effiziente Wirtschaftsstruktur in den neuen Ländern hinzuwirken hat. Wir halten zudem den unbedingten Vorrang der Sanierung für strukturpolitisch unverzichtbar und absolut unerläßlich für solche Betriebe, die mittelfristig am Markt eine Chance haben. Eine noch so expansive Arbeitsmarktpolitik kann die dringend notwendige Strukturpolitik eben nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Eine
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Ottmar SchreinerStrukturpolitik findet aber nicht statt; das ist das zentrale Problem.
Ich sage Ihnen, daß das grundlegende Dilemma Ihrer Politik ist, daß Sie keine industrie- und damit auch beschäftigungspolitische Konzeption haben, auf die die Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen perspektivisch hinorientiert werden könnten. Eine dringend notwendige konzeptionelle Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Arbeitsmarktpolitik, also zwischen den Bundesministern für Wirtschaft sowie Arbeit und Soziales fand und findet erkennbar nicht statt.Aber auch Ihre Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne ist von Widersprüchen und Ungereimtheiten geprägt. Statt im Frühsommer dieses Jahres die Treuhand zur Initiierung von Beschäftigungsgesellschaften anzuregen, verkroch sich die Bundesregierung, weil die internen Meinungsunterschiede zu einer totalen Selbstblockade geführt hatten. Betriebsnahe Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften hätten ihrerseits einen wertvollen Beitrag im Rahmen einer Sanierungsstrategie zu leisten. Durch die Aneignung von Primär- und Weiterqualifikationen und durch die Verbesserung der betrieblichen Infrastruktur wäre es gerade nicht um die Konservierung wettbewerbsunfähiger Strukturen gegangen. Hauptgegenstand der Beschäftigungsgesellschaften — ganz im Gegensatz dazu — war gerade die Verbesserung der Angebotsbedingungen durch eine qualifikationsorientierte und infrastrukturelle Förderung des unternehmerischen Wandels.Statt die besondere Kurzarbeitergeldregelung Ost angesichts der bekannten Probleme längerfristig zu terminieren, wurschteln Sie von einer kurzatmigen Verlängerung zur nächsten. Wie unter diesen Umständen die Kurzarbeiterzeiten für wirklich sinnvolle und solide Weiterbildungsmaßnahmen genutzt werden können, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung. Bis zur Stunde ist übrigens offen, ob es eine Verlängerung über das Jahr 1991 hinaus geben wird. Ich fordere Sie gerne auf, sich dazu hier zu äußern.Statt die Frauen gleichberechtigt in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen einzubeziehen, sehen Sie tatenlos zu, wie Frauen in den ostdeutschen Ländern zum Hauptverlierer des Beschäftigungseinbruches werden.
Mit ca. 35 % liegt der Frauenanteil beispielsweise an den ABM-Beschäftigten noch niedriger als im Westen, während der Anteil der Frauen an der Gesamtarbeitslosigkeit in Ostdeutschland bei ca. 60 % liegt.
— Das sind die Zahlen, lieber Herr Kollege.Statt die Finanzierung der notwendigen Solidarmaßnahmen auf eine sozial gerechte und durchschaubare Grundlage zu stellen, werden fast wöchentlich neue Milliardenspiele aufgeführt, deren Finanzierungsgrundlage selbst einem professionellen Haushälter wie dem Kollegen Uelhoff große Rätsel aufgeben. Unklar ist bis zur Stunde auch, ob der Steuerlüge nun eine Beitragslüge folgt. Bekanntlich hat die Bundesregierung versprochen, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zum 1. Januar 1992 um 0,5 Prozentpunkte abzusenken.
Sie könnte dies um so problemloser tun, wenn sie sich unserem Vorschlag einer Arbeitsmarktabgabe anschließen würde, die alle Bürgerinnen und Bürger— und eben nicht nur die Arbeitnehmerschaft — alleine in ein solidarisches Finanzierungskonzept einbindet.
— Was heißt „Wollen Sie die noch immer"? Das Problem ist doch, daß die Träger der Hauptlast der Finanzierungskosten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind, während wir mit unserem Vorschlag alle Bürger in eine solidarische Finanzierungsstruktur einbinden wollten.Der Bundesarbeitsminister unterstützt unseren Vorschlag, kann sich aber — wie üblich — im Kreis der Koalitionsfraktionen nicht durchsetzen.
Statt die Arbeitslosigkeit im Osten wie im Westen entschieden zu bekämpfen, werden, Herr Bundesarbeitsminister, die östlichen gegen die westlichen Arbeitslosen ausgespielt.
Jedermann weiß, daß es gerade die prinzipiell positiven sozialpolitischen Erfahrungen mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Westen waren, die oft erfolgreich Langzeitarbeitslosen, älteren Arbeitnehmern, Ungelernten und Leistungsgeminderten eine weiterführende berufliche Perspektive eröffnen konnten und die gerade deshalb einen Export dieser Maßnahmen in die neuen Länder als zweckmäßig erscheinen ließen.Vor diesem Hintergrund — Herr Blüm, es ist grotesk —,
klingt es geradezu nach Hohn und Spott, wenn die Bundesregierung das Instrument Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in ihren finanzpolitischen Betrachtungen nunmehr der Gesichtspflege Möllemanns zuliebe zu einer gewöhnlichen Subvention degradiert. Das ist Hohn und Spott aus vielerlei Gründen.Die für die nächsten drei Jahre beabsichtigte Streichung von etwa 1,6 Milliarden DM an ABM-Geldern für Westdeutschland ist ein sozialpolitisches Eigentor erster Klasse. Die Langzeitarbeitslosen im Westen, deren AB-Maßnahmen gestrichen werden, sollen einen Teil der Zeche für die Misere auf dem östlichen Arbeitsmarkt zahlen.Hinzu kommt, daß dieser „Kraftakt ohne Effekt"— wie ihn die „Süddeutsche Zeitung" nannte — fi-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3171
Ottmar Schreinernanzpolitisch, Herr Uelhoff, nur eine Umschichtung bedeutet. Die Bundesregierung selbst, Herr Blüm vorneweg, hat in ihren Erläuterungen zum arbeitsmarktpolitischen Teil des Gemeinschaftswerks Aufbau Ost in einer Broschüre vom April 1991 festgestellt, daß die Beschäftigung von Arbeitslosen in ABM insgesamt gesehen — Zitat — „nicht teurer ist als durch Arbeitslosigkeit erzwungenes Nichtstun".Wenn das so ist, fragt man doch, warum 1,6 Milliarden DM unter finanzpolitischen Gesichtspunkten abgebaut werden sollen.
Selbst Sie können doch diesen Hirnriß nicht nachvollziehen — oder können Sie das? Haben Sie eine besondere Eignung, diesen Hirnriß nachvollziehen zu können? Sie scheinen besondere Fachqualifikationen zu haben.In einer weiteren Broschüre des Arbeitsministehums vom August dieses Jahres — Titel „Vereinsgründung und ABM" — heißt es zutreffend — Zitat — :Für den Arbeitslosen ist es wichtig, zu wissen, daß spätere Arbeitgeber erfahrungsgemäß die Zeiten einer Beschäftigung, auch wenn es sich um eine AB-Beschäftigung handelt, besser bewerten als Arbeitslosigkeit mit entsprechenden Lücken in der praktischen Berufsausbildung.Richtig!Was soll dann das Geschwätz vom angeblichen Subventionsabbau? Wen wollen Sie eigentlich für dumm verkaufen? Wer soll Ihnen diese grotesken Widersprüche zwischen der Selbstdarstellung der Bundesregierung und den Broschüren einerseits und Ihren Forderungen nach Subventionsabbau andererseits eigentlich noch abnehmen?Die Bundesregierung hat dem ABM-Instrument mit der Subventionseinstufung zudem einen zusätzlichen Bärendienst erwiesen. Ich zitiere die „Süddeutsche Zeitung" vom Juli dieses Jahres:Die Einstufung der AB-Mittel als Subvention ist um so pikanter, als die EG-Kommission seit langem versucht, die deutschen ABM-Gelder als wettbewerbsverzerrende Lohnzuschüsse zu definieren und als nicht EG-konforme Unternehmenssubventionierung in Frage zu stellen.Zusammengefaßt: Die Kürzung um 1,6 Milliarden DM hat also einen dreifachen Preis: Sie spielen die Langzeitarbeitslosen im Westen gegen die Arbeitslosen im Osten aus. Sie bewirken finanzpolitisch nichts, da es sich um eine kostenneutrale Umverteilung von aktiver Arbeitsmarktpolitik zugunsten der Finanzierung von Arbeitslosigkeit handelt. Sie liefern den Euro-Bürokraten in Brüssel zusätzliche Argumente, um ein bewährtes Instrument zu kappen. Soviel Unfug auf einmal ist sehr selten und verdient als Leistung eigener Art fast schon wieder Respekt.
Offensichtlich hat im Kampf der Gladiatoren der „Riesenstaatsmann" Möllemann — zitiert nach FranzJosef Strauß — den Sieg gegen den „Herkules" Blüm — zitiert nach ihm selbst — davongetragen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Ihr politisches Sündenregister ist reichlich lang. Ablaßkäufe sind seit den Bemühungen des Herrn Luther aus der Mode gekommen. Nicht aus der Mode gekommen sind klassische Ablenkungsmanöver, sei es die von der rechten Seite dieses Hauses völlig verantwortungslos geführte Asyldebatte, die immer dann bemüht wird, wenn man in der Patsche sitzt, sei es die bewährte Doppelstrategie von Herrn Minister Blüm.
— Fragen Sie einmal die Kirchen, was sie von Ihrer verantwortungslosen Hetze gegen Fremde in der Bundesrepublik halten. Fragen Sie einmal Ihre Kirchen.
Sie sind mir ein merkwürdiger Christ. Sie scheinen mir mehr Parteichrist als Christ zu sein.
Die merkwürdige Doppelstrategie von Ihnen, Herr Blüm, ist: Mal sind Sie der selbsternannte Herkules der Bundesregierung, mal sind Sie ein politisch ohnmächtiger Oppositionspolitiker.Sie haben in der „Süddeutschen Zeitung" vom 9. August dieses Jahres in die Manege gerufen: „Wie wär's, Frau Breuel? Wie wär's, Herr Steinkühler?" Sie fordern das in der Tat ungleiche Paar auf, die in Westdeutschland zutiefst ungerechte Verteilung des Produktionsvermögens in Ostdeutschland erst gar nicht aufkommen zu lassen.Ja, meine Gute, sitzen denn neuerdings Frau Breuel und Herr Steinkühler in der Bundesregierung? Oder sitzen Sie noch in der Bundesregierung? Das ist doch dann die Frage.
Herr Abgeordneter Schreiner, Sie haben Ihre Redezeit sehr deutlich überschritten. Ich würde mich fast dem Verdacht unzulässiger Bevorzugung aussetzen, wenn ich Sie jetzt nicht aufforderte, Schluß zu machen.
Ich komme jetzt auch zum abschließenden Satz.Herr Blüm, wir sichern Ihnen gerne die Unterstützung der SPD-Fraktion zu, wenn Sie mit einem brauchbaren Vorschlag kommen. Zu befürchten steht aber anderes. Blüm bleibt sich selbst treu nach dem Motto: Der Berg kreißt und gebiert mal wieder ein Mäuslein.Danke.
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3172 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Kauder das Wort.
Herr Kollege Schreiner, ich weise in aller Schärfe Ihren Satz zurück, daß wir eine unverantwortliche Hetze gegen Ausländer in unserem Land treiben.
Dies ist ein unglaublicher Griff daneben.
Es geht nicht darum, daß wir ein Thema hochziehen, sondern darum, daß wir ein Problem lösen müssen, das von der Bevölkerung in unserem ganzen Land als solches betrachtet wird und das auch von SPD-Politikern als solches betrachtet wird. Ich weise nur auf den Bürgermeister von Bremen hin, und ich weise darauf hin, daß die SPD im Bundesland Baden-Württemberg im Augenblick einen unglaublichen Eiertanz in dieser Frage vollführt. Spöri sagt: Wir ändern das Grundgesetz. Heute wird er von seinem Landesvorsitzenden Maurer in der Zeitung abgemeiert, und es heißt: Wir ändern das Grundgesetz nicht.
— Er wird nicht aufgeklärt, sondern dies ist schlicht und ergreifend ein Eiertanz. Im Schwäbischen würde man sagen: Mit dem, was hier von der SPD gemacht wird, wird der Wähler „versäckelt".
Zur Erwiderung erteile ich dem Abgeordneten Schreiner das Wort.
Lieber Herr Kollege Kauder, die Wahrheit ist, daß die CDU/CSU-Fraktion, seitdem ich als Kandidat Bundestagswahlkämpfe mitmache, also seit 1980,
immer wieder in der Schlußphase, angefangen vom Süden der Republik und dann flächendeckend auf die gesamte Bundesrepublik übergehend, genau dieses Thema hochgefahren hat, weil Sie auf Stammtischstimmungen spekulieren, die Ihnen in der Wahlkampfzeit entgegenkommen könnten.
Ich sage Ihnen zusätzlich: Sie haben mit Ihrem unverantwortlichen reaktionären Gezerre um dieses Thema mit dazu beigetragen, in der deutschen Sprache eine massive Sprachverschmutzung herbeizuführen, weil das Wort Asylant heute geradezu zu einer Beleidigung geworden ist, wiewohl es um anerkannte Asylberechtigte geht, die politische Gründe im behördlichen Anerkennungsverfahren bestätigt bekommen haben.
Ich fordere Sie ausdrücklich auf: Lesen Sie einmal nach, was die katholische und die evangelische Kirche zu Ihrem unverantwortlichen Treiben sagen.
— Sie sind mir schöne Parteichristen, also wirklich. Das ist ja eine sonderbare Ansammlung, wirklich eine sonderbare Ansammlung.
Also, wissen Sie, in der Bibel steht nicht der Satz: Liebe deinen nächsten Deutschen. Der Satz ist etwas kürzer.
Ich
möchte darauf aufmerksam machen, Herr Abgeordneter Fuchtel, daß wir uns bei der Einführung der sinnvollen Kurzintervention darauf verständigt haben, daß nicht mit einer Kurzintervention auf die Erwiderung zu einer Kurzintervention geantwortet werden kann. Da ich befürchte, daß dies Ihre Absicht ist, wollte ich mich vorher vergewissern, daß Sie von dieser Geschäftsordnungslage Kenntnis haben.
Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Albowitz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich hätte ich es ganz spannend gefunden, wenn wir jetzt noch ein paar Kurzinterventionen ausgetauscht hätten — so sage ich einmal —,
weil es auch zur Parlamentsdebatte gehört, sich nicht nur gegenseitig das Vorgeschriebene vorzulesen. Das hat man bei dem Kollegen Schreiner eben deutlich gesehen.Ich möchte, bevor ich Ihnen die Grundzüge meiner Haltung noch einmal darlege, gerne eben auf zwei Bemerkungen eingehen, die der sozialpolitische Sprecher der SPD, Herr Dreßler, vorhin in seiner Rede gemacht hat.Herr Kollege Dreßler, Sie haben sich freundlicherweise in Ihrem Beitrag mit den Liberalen beschäftigt. Das freut mich ganz besonders. Es freut mich auch, daß Sie unsere Meinungsäußerungen so aufmerksam verfolgen. Das tun wir im Hinblick auf die Ihrigen natürlich auch.Wenn Sie und der Kollege Schreiner die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen soeben massiv
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3173
Ina Albowitzim Hinblick auf die Arbeitsmarktpolitik kritisiert haben, dann ist das eine Wasser reden und das andere Wein trinken.
— Herr Schreiner, jetzt bin ich dran.
— Ich bin noch dran. Ich habe Sie doch ganz in Ruhe ausreden lassen.
Ich zitiere Herrn Dreßler laut Presseservice der SPD vom 30. August: „Die Arbeitsmarktpolitik ist doch bei genauerem Hinsehen das einzige Feld der Bundespolitik in den neuen Ländern, das sichtbare Erfolge vorzuweisen hat. " — Ich danke Ihnen.
— Sind wir uns einig? — Vielen Dank.
Hochverehrter Herr Abgeordneter Schreiner! Sie haben Ihre Redezeit überschritten, Sie haben in einer Kurzintervention geantwortet. Wenn Sie sich jetzt einmal ein paar Minuten zurückhalten würden, dann würden Sie einen sinnvollen Beitrag zu dieser Debatte leisten.
Ich hoffe, das ist jetzt nicht von meiner Redezeit abgegangen, Herr Präsident. — Okay.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß wir Haushälter in dem Unternehmen Bundeshaushalt die Abteilung „Wunschvorstellungen und Blütenträume" geschlossen haben, ist zwar bekannt, aber offensichtlich hat es sich noch nicht überall herumgesprochen. Deshalb sage ich es noch einmal laut und deutlich: Diese Abteilung ist kw gestellt, und zwar, wie ein Blick in die mittelfristige Finanzplanung zeigt, für ziemlich lange Zeit.
Darauf komme ich noch einmal zurück.
Ein überproportionales Wachstum wird auch in diesem Jahr nach Abschluß aller Haushaltsberatungen mit Sicherheit wieder der Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vorweisen. Im Regierungsentwurf ist eine Steigerung von 5,3 vorgesehen, während der Gesamthaushalt um 3 wachsen soll. Das Volumen des Etatentwurfs liegt bei 92,8 Milliarden DM; das entspricht einem Anteil von 22 % am Gesamthaushalt.Doch in diesem Einzelplan sind nur zwei Drittel aller Sozialausgaben des Gesamthaushalts enthalten. Noch hinzu kommen so große Ausgabenblöcke wie das Kindergeld mit 23,2 Milliarden DM oder das Erziehungsgeld mit 8,2 Milliarden DM, die im Einzelplan des Bundesministers für Familie und Senioren etatisiert sind.Die Gesamtaufwendungen des Bundes für die soziale Sicherung belaufen sich für 1992 auf rund 145 Milliarden DM. Das ist mehr als ein Drittel des Gesamthaushalts, wahrlich eine stolze Summe. Weitere Milliarden-Erhöhungen stehen im Raum, über deren Umsetzung wir bei der jetzt anstehenden Beratung ausführlich reden müssen.Angesichts der sich überschlagenden Ereignisse bei der Bewältigung der durch die deutsche Einheit entstandenen sozialpolitischen Aufgaben ist aber fast in Vergessenheit geraten, daß auch ein Gesetz in großem Umfang Auswirkungen auf den Haushalt hat, welches 1989 beschlossen wurde. Vor zwei Jahren verabschiedete der Bundestag mit großem Konsens das Renten-Reformgesetz, um den Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Die damals beschlossene Dynamisierung der Rente wird nun vollendet, indem auch der Bundeszuschuß für die Anrechnung der Kindererziehungszeiten und Leistungen für Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 in den dynamischen Bundeszuschuß einbezogen werden. Diese Dynamisierung erfolgt zudem ab 1992 nach einem neuen System, welches gewährleisten soll, daß Bundeszuschuß, Beitragssatz und Rentenanhebung selbstregulierend miteinander verbunden sind.Durch das im Juni dieses Jahres verabschiedete Renten-Überleitungsgesetz wird ab dem 1. Januar 1992 das Rentenrecht in ganz Deutschland vereinheitlicht. Der Haushalt 1992 wird dadurch zusätzlich mit 1,9 Milliarden DM belastet, um die der Bundeszuschuß an die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten in den neuen Ländern steigt.Meine Damen und Herren, die vor wenigen Tagen bekanntgewordene Aufstockung der Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Jahre 1992 auf 5 Milliarden DM sieht die FDP nicht mit Begeisterung.
Wie der Defizitausgleich erfolgen soll, ist ein besonderes Kapitel für sich und wirft nach unserer Auffassung auch haushaltsrechtliche Fragen auf, die noch zu klären sind. Der Kollege Uelhoff ist vorhin dankenswerterweise schon auf diesen Punkt eingegangen.Die Tatsache, daß die Zahl der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern bis Ende dieses Jahres 400 000 statt der ursprünglich erwarteten 280 000 betragen wird, ist nach anderslautenden Sommerlochverkündigungen eine Überraschung ganz besonderer Art. Welche finanziellen Konsequenzen der Bundesarbeitsminister daraus zieht, konnten wir Parlamentarier zu Beginn dieser Woche in epischer Breite aus der Zeitung erfahren. Herr Arbeitsminister, die Öffentlichkeitsarbeit Ihres Hauses ist übrigens eine neue Variante in dem Spiel zwischen Parlament, Haushalts- und Fachausschuß
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3174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Ina Albowitzund eröffnet für uns Haushälter völlig neue Perspektiven als Streichkonzert. Das können wir uns nämlich alles sparen, wenn wir gleich die „Zeit" und die FAZ lesen.
Daß in der besonderen Situation der Einigung mit den vielfältigen wirtschaftlichen Anpassungsprozessen das Instrument der Arbeitsbeschaffung notwendig war und auch noch ist, bestreiten wir nicht. Wir müssen uns jedoch darüber im klaren sein, daß AB-Maßnahmen kein Allheilmittel sind und daß mit diesem Instrument sehr sorgsam umgegangen werden muß.
Daß die Zahl der ABM-Stellen für 1991 um 120 000 höher sein wird, ist ja auch nicht uneingeschränkt positiv zu bewerten. In einer Phase, in der die vielfältigen Investitionshilfen im Rahmen der Initiative „Aufschwung Ost" zu wirken beginnen, wo viele Betriebe endlich Licht am Ende des Tunnels sehen, kann eine unbedacht eingesetzte AB-Maßnahme schlimme Folgen haben. Es häufen sich die Klagen seitens des Handwerks, daß Kommunen und andere öffentliche Arbeitgeber Aufträge kostengünstig über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen abwickeln und Handwerksbetriebe, die das eigentliche Rückgrat des wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Ländern sein müssen, dann leer ausgehen.
Im schlimmsten Fall kann sogar der Konkurs die Folge sein, da ein gerade gegründeter mittelständischer Betrieb nicht mit dem durch AB hochsubventionierten öffentlichen Anbieter konkurrieren kann. Das kann und darf doch nicht die Zielsetzung von AB-Maßnahmen sein, meine Damen und Herren.
Diese Fehlentwicklungen werden wir auch nicht mit der Kürzung der Zuschüsse für Lohn- und Sachkosten beheben.Herr Bundesarbeitsminister, der Kollege Schreiner hat eben eine Broschüre aus Ihrem Hause angesprochen, die ich gestern abend — ich habe es mir extra draufgeschrieben, weil ich es schon atemberaubend fand: 4. September 1991, 17 Uhr — erhalten habe. Es kann nicht wahr sein, daß Hochglanzbroschüren mit der Anleitung zu Vereinsgründungen aus Ihrem Hause kommen, Ende August Datumsschluß ist und die von der Bundesanstalt für Arbeit inzwischen geänderten Erlasse immer noch verkünden. Sie müssen mir als gelernter Werbekauffrau nicht erklären, wie man mit so etwas umgeht. Ich hätte gesagt: Eigentor, Einstampfen am 31. August.
Ich sage noch einmal, meine Damen und Herren, daß wir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht in Frage stellen, die in den Bereichen angesiedelt sind, in denen die Arbeit ansonsten nicht ausgeführt werden kann, und somit auch kein Unternehmen verdrängt wird. Ich betone das so deutlich, um gleich dem großen Wehgeschrei vorzubeugen, das sich in der Regel bei solchen Diskussionen mit dem Vorwurf der angeblichen sozialen Kälte entzündet. Doch es muß den Menschen, denen Arbeitslosigkeit droht, auch gesagt werden, daß es auf Dauer eine schlimmere soziale Härte sein kann, wenn Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen den Aufbau einer flexiblen Wirtschaft verzögern oder sogar verhindern.
Deshalb müssen wir ständig darauf achten, daß sich die ABM-Programme nicht zu Selbst- und Dauerläufern entwickeln.
Die von der Koalition eingesetzte Kommission wird hier neue Überlegungen erarbeiten müssen.
Meine Damen und Herren, wir Haushälter müssen in Zukunft dem Haushaltsplan der Bundesanstalt für Arbeit mehr Beachtung schenken. Wie hier mit Milliardenschätzungen jongliert wird, ist schon atemberaubend.
Daß das Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt in der jetzigen Form nicht mehr zeitgemäß ist, weiß auch jeder
— wir können ja unterschiedliche Meinungen haben— und beweist sich gerade jetzt in der schwierigen Situation auf Teilen des Arbeitsmarktes. Ein weiter Bereich der Tätigkeit der Bundesanstalt könnte nach unserer Auffassung besser und effizienter durch private Arbeitsvermittler erfolgen. Die Lockerung des Monopols muß endlich in Angriff genommen werden, auch im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt.
Er kann und darf nach Auffassung der Liberalen nicht unantastbar bleiben.
— Das wird Ihnen 1993 schon alles beigebracht, Herr Kollege.
Nicht näher eingehen will ich an dieser Stelle auf die Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung. Ich möchte jetzt nur betonen, daß die Haushälter darauf achten werden, daß in Sachen Pflege keine parallelen Strukturen bei der Einrichtung von Zusatzreferaten in den Häusern und der Organisation von Modellprojekten in den Ministerien für Arbeit und Sozialordnung und für Gesundheit aufgebaut werden. Ein zweigleisiges Fahren auf Grund des Ehrgeizes zweier Ministerien, hier die Nase vorne zu haben, können wir uns finanziell nicht leisten und macht auch in der Sache keinen Sinn.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3175
Ina AlbowitzWie in vielen anderen Bereichen steigen auch die Ausgaben der Krankenkassen für die Krankenhauspflegesätze.
Unerläßlich ist daher eine baldige Reform der Krankenhausfinanzierung. Die vorgeschlagenen bzw. die im Raum stehenden Neuerungen, etwa die verbindliche Festschreibung von Sonderentgelten für bestimmte Krankenhausleistungen und die Einführung unterschiedlicher Pflegesätze für verschiedene Krankenhausabteilungen, reichen dafür nach unserer Auffassung nicht aus.Dringend notwendig ist statt dessen eine Reform, die von sich aus den Krankenhäusern mehr Anreiz zu höherer Wirtschaftlichkeit gibt.
Kernpunkt der Reform muß ein Entgeltsystem sein, das neben einer Basispauschale einen differenzierten Zuschlag enthält, der sich jeweils nach der pflegerischen Leistung und der Art der medizinischen Versorgung richtet.Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist nach unserer Auffassung, daß das Selbstkostendeckungsprinzip aufgehoben wird. Warum soll ein Krankenhaus keine Gewinne erwirtschaften können? Damit werden private Investitionen möglich, durch die die finanzielle Belastung der Allgemeinheit verringert wird.
Zum Haushalt des Bundesgesundheitsministeriums gab es Anfang 1991 heftige Diskussionen um die Finanzierung von Modellprojekten bei der Aids-Bekämpfung. Dabei war zu Beginn der Modellprogramme die Geschäftsgrundlage klar — und sie ist es auch heute noch — , daß nach der Anschubfinanzierung durch den Bund die Kosten der Programme von den Ländern übernommen werden. Doch wie in vielen anderen Bereichen möchten die Länder dieser Verpflichtung dann aus dem Weg gehen. Dies werden wir nicht zulassen.
Der Bund hat die Modellfinanzierung im Aids-Bereich für 1991 noch einmal zu einem großen Teil übernommen. 1992 wird diese Finanzierung hauptsächlich auf Anschubprojekte für Modelle in den neuen Bundesländern beschränkt bleiben. Aber auch da gilt dann, daß sie nach Ablauf der Übergangszeit diese Finanzierung übernehmen müssen.Im Gesamthaushalt fällt auf, daß keinerlei Weichen im Hinblick auf eine wichtige Entscheidung gestellt wurden, die der Deutsche Bundestag in kurzer Zeit zu treffen hat. Damit meine ich die Diskussion über den § 218. Unabhängig von dem Gesetz, das die Abgeordneten verabschieden werden, steht fest, daß flankierende Maßnahmen, die schwangeren Frauen die Entscheidung für das Kind erleichtern sollen, unabdingbar sind.
Das steht in allen bisher eingebrachten Gesetzentwürfen und wird, nehme ich an, auch in dem der CDU/CSU-Fraktion nicht fehlen.Die Fraktionen und die Gruppen bekennen sich auch durchweg dazu, daß diese Maßnahmen Geld kosten werden, da es sich bei der Schaffung eines kinderfreundlichen Klimas um eine Aufgabe mit höchster Priorität handelt. Doch der Bundeshaushalt 1992 stellt in dieser Beziehung noch keine eindeutigen Weichen. Zwar werden das Erstkindergeld auf 70 DM pro Monat und der Kinderfreibetrag erhöht; auch wird ab dem 1. Januar 1993 die Zahlung des Erziehungsgelds auf 24 Monate verlängert.
Doch bis auf einen Hilfsfonds für schwangere Frauen in Not im Einzelplan des Bundesministeriums für Familie und Senioren fehlen nach meiner Auffassung eindeutige Zeichensetzungen.
Was diesen Hilfsfonds, Frau Ministerin, in Höhe von 40 Millionen betrifft, bin ich durchaus der Auffassung, daß wir darüber noch einmal reden müssen. Ich finde es sehr merkwürdig, daß durch diesen Fonds die Förderung der Wohnungssanierung durch Mieter, selbstnutzende Wohnungseigentümer und Mitglieder von Wohnungsbaugenossenschaften sowie die Kosten für Wohnraumbeschaffung beim Ministerium für Familie und Senioren unter diesem Titel und nicht beim Bundesbauministerium eingestellt worden sind. Ich denke, darüber sollten wir reden.
Daß die Defizite im Bereich der Familien- und Frauenpolitik noch so groß sind, ist angesichts der vollzogenen Trennung der Ministerien um so unverständlicher.
Es reicht nicht aus, lediglich mit der Schaffung eines Frauen-Ressorts ein politisches Zeichen setzen zu wollen.
Dazu gehört, daß dem entsprechende Maßnahmen folgen, nämlich Maßnahmen, die die Defizite in unserer Gesellschaft bei einer aktiven Frauen- und Familienpolitik ausgleichen.
Eine der Hauptaufgaben des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft ist es, Voraussetzungen zu schaffen, daß die Jugendlichen in den neuen Bundesländern einen Ausbildungsplatz erhalten. Das dafür notwendige Ausbildungsförderungsprogramm wird mit 75 Millionen DM im laufenden Jahr und mit weiteren 175 Millionen DM im Jahre 1992 finanziert werden. Daraus sollen Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten Zuschüsse in Höhe von 5 000 DM pro neuem Ausbildungsplatz erhalten.Das ist, meine Kolleginnen und Kollegen, mit Sicherheit ein wirksamer Beitrag zum Auf- und Ausbau einer gesunden mittelständischen Wirtschaftsstruktur und des dualen Ausbildungssystems in den neuen
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3176 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Ina AlbowitzBundesländern und aktive Hilfe für die Jugend im Beitrittsgebiet.Am Schluß meiner Rede möchte ich ein paar allgemeine Anmerkungen zu den Haushaltsberatungen 1992 machen. Noch mehr als in allen anderen Jahren muß das Prinzip der Sparsamkeit das Handeln bestimmen. Eine Konsolidierungspolitik mit niedrigen Ausgabenzuwächsen, durch die der Staat wieder einen ausreichenden finanziellen Spielraum zurückgewinnt und die negativen Auswirkungen auf den Wirtschaftskreislauf begrenzt werden, ist unerläßlich. Das gilt um so mehr, als in dem Haushalt 1992 zahlreiche Haushaltsrisiken enthalten sind, die dann unvermeidbare Ausgaben zur Folge haben.Diesen Sparappell sollten sich jedoch nicht nur die Abgeordneten im Haushaltsausschuß zu Herzen nehmen. Wenn ich daran denke, wie viele Ausgabenwünsche aus Ministerien, Verbänden und sonstigen Bereichen an mich herangetragen werden, habe ich das Gefühl, daß dort die Besonderheit der derzeitigen Situation noch nicht bewußt geworden ist oder diese einfach nach dem Sankt-Florians-Prinzip hartnäckig ignoriert wird.
Ich hoffe, inzwischen ist jedem klar, daß dies wirklich der falsche Heilige der Finanz- und Haushaltspolitik ist. Daß der Personalhaushalt der öffentlichen Hand besonders restriktiv gefahren werden muß, wird der Haushaltsausschuß nach seinem Beschluß 1991 bei den Beratungen für das kommende Jahr noch einmal bekräftigen.Ich sagte schon zu Beginn meiner Rede: Die Abteilung „Wunschvorstellungen und Blütenträume" ist „kw" gestellt.Ich danke Ihnen.
Bevor ich der Gesundheitsministerin Frau Hasselfeldt das Wort gebe, erteile ich dem Abgeordneten Dr. Briefs einen Ordnungsruf für den Vorwurf: „Sie stehen in der Tradition eines Massenmörders wie Globke."
Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gesundheit ist kostbar. Wie sehr, merken wir häufig erst, wenn wir krank sind. Dabei ist Krankheit längst nicht mehr nur ein schicksalhaftes Ereignis. Gesundes Leben, gesunde Ernährung, gesunde Arbeit, eine gesunde Umwelt und damit die Gesundheit schlechthin sind heute mehr denn je beeinflußbar, und auch im Falle der Krankheit steht heute dem Menschen weit mehr Hilfe zur Verfügung als früher.Daß die damit verbundenen Aufgaben nicht immer leicht sind, liegt auf der Hand. Aber sie sind mit unserem erfolgreichen Gesundheitssystem zu lösen. Dieses zu erhalten, zu sichern und weiter auszubauen, dafür steht die Bundesregierung.
Gesundheit ist auch in finanzieller Hinsicht kostbar. Im kommenden Jahr werden die Deutschen über 410 Milliarden DM für ihre Gesundheit ausgeben. Angesichts dieser Größenordnung, die 13 % unseres Bruttosozialprodukts beträgt und die fast soviel wie der gesamte Bundeshaushalt ausmacht, darf man sich nicht durch leichtlebige Sommerlochthemen ablenken lassen,
z. B. Drogenfreigabe, sogenannte „Kiloprämien" oder die Diskussion über Karenztage. All dies, was uns in den letzten Wochen in den Medien beschäftigt hat, ist alles andere als eine solide gesundheitspolitische Basis, alles andere als solide gesundheitspolitische Instrumente.
Die Höhe dieser Gesamtausgaben, von denen ich sprach, zeigt aber auch, daß der Gesundheitsetat kein Subventionsetat ist.Unser Gesundheitssystem baut auf dem Fundament der selbstverwalteten, der beitragsfinanzierten Krankenkassen auf. Ein größerer Bundesanteil an dem Gesamtetat würde das Gewicht der Selbstverwaltung zwangsläufig zurückdrängen und staatlichen Gesundheitsdiensten den Weg ebnen. Das wird es mit dieser Bundesregierung nicht geben.
Der vorliegende Etatentwurf des Gesundheitsministeriums berücksichtigt nicht alle Investitionshilfen des Bundes, die in den Gesundheitsbereich der neuen Länder fließen werden. Wie gut diese angenommen werden, zeigt das Beispiel des Eigenkapitalhilfeprogramms. Hier beleben die Ärzte der neuen Länder etwa 35 % des Bewilligungsvolumens. Dies macht deutlich, daß dieses Programm auch und gerade im Gesundheitswesen sehr gut, zum Wohle der Menschen angenommen wurde.Auch die übrigen Finanzierungshilfen für die Länder und Gemeinden zum Neuaufbau des Gesundheitswesens in den neuen Ländern sind erfolgreich. Das Zwischenergebnis kann sich sehen lassen: Das Versorgungsnetz der Krankenversicherung funktioniert. Es haben sich mittlerweile fast 12 000 Ärzte und 7 000 Zahnärzte in freier Praxis niedergelassen. Etwa 75 % aller bisher staatlichen Apotheken sind privatisiert. Allen steht das gesamte Arzneimittelsortiment der gesamten Bundesrepublik zur Verfügung — eine wesentliche Verbesserung für die Menschen in den neuen Ländern. Und nicht zuletzt: Die Förderung der Krankenhausbetten ist sichergestellt. Die Krankenhausplanungen kommen voran und verbessern die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3177
Bundesministerin Gerda HasselfeldtVoraussetzungen für neue Krankenhausinvestitionen.Dies zeigt, daß hier enorme Aufbauleistungen der Menschen in den neuen Ländern, der Verantwortlichen der Selbstverwaltungen erbracht wurden. Dafür sollten wir, die wir politisch die Verantwortung tragen, alle miteinander diesen Menschen Dank sagen.
Die gesundheitliche Versorgung in den neuen Ländern ist also gesichert. Dabei besteht kein Zweifel, daß noch vieles verbessert wird. Die Bundesregierung wird ihren Teil dazu beitragen.
Aber es sind auch die Länder und Gemeinden gefordert.
— Ich komme darauf zu sprechen. Wenn Sie zuhören, werden Sie das heraushören. — Gerade die Länder sind z. B. bei den Tarifvereinbarungen im Gesundheitswesen gefordert. Dabei mache ich kein Hehl daraus, daß die starre Haltung der schleswig-holsteinischen Finanzministerin mich außerordentlich verärgert.
— Meine Damen und Herren, wir reden über die Situation der Menschen in den neuen Ländern,
und da sind wir alle miteinander in der Verantwortung. — Wenn die Vorsitzende der Tarifgemeinschaft deutscher Länder bei der Anrechnung der Beschäftigungszeiten für die Krankenschwestern und Krankenpfleger vor dem für nächste Woche vereinbarten Tarifgespräch keinerlei Bewegung in der Sache zeigt, dann mag sie das den Betroffenen selbst erklären.
Ich jedenfalls stehe zu der auch von mir unterschriebenen „Berliner Erklärung", die sich für eine uneingeschränkte Anerkennung der Dienstjahre für die Krankenschwestern und die Krankenpfleger ausspricht.
Ich habe nicht das geringste Verständnis für die politische Diskriminierung des Pflegepersonals. Wer diesem, so wie Frau Simonis es Anfang dieser Woche getan hat, vorwirft, es sei längst — ich zitiere — „nicht so weiß gestärkt und fleckenlos, wie es glauben machen wolle", wer also allen Mitarbeitern des ehemaligen DDR-Gesundheitswesens Stasi-Verflechtung und SED-Hörigkeit unterstellt, der zeigt keinerlei Bereitschaft zu fairen Tarifverhandlungen.
Frau Ministerin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jungmann zu beantworten?
Ja; bitte sehr.
Frau Ministerin, sind Sie bereit, zuzugeben, daß Ihr letzter Satz eine Interpretation Ihrerseits der Aussage von Frau Simonis war, und können Sie hier für die Bundesregierung versichern, daß auch der Innenminister, der Teil des Tarifpartners Arbeitgeber ist, Ihre Berliner Erklärung so unterstützt und bei den Tarifverhandlungen so durchsetzen will, wie Sie das hier angedeutet haben?
Herr Kollege, ich habe Frau Simonis zitiert, so wie es wörtlich in der Zeitung als ein Zitat von ihr gestanden ist,
nämlich, daß sie dem Pflegepersonal vorwirft — ich zitiere —, es sei nicht so weiß gestärkt und fleckenlos, wie es glauben machen wolle. Sie wissen, daß in dieser Aussage auch die Verbindung mit SED- und Stasi-Anhängerschaft getätigt wurde.
Diese pauschale Verunglimpfung lassen wir auf den Schwestern und Pflegern, die tagtäglich ihre Arbeit an den Patienten tun, nicht sitzen.
Zum zweiten: Sie wissen, daß ich mich in der Frage der Anerkennung der Beschäftigungszeiten der Krankenschwestern und Krankenpfleger mit den Länderkollegen und mit den Verbänden in Berlin zusammengesetzt habe und wir einmütig diese „Berliner Erklärung" mitverabschiedet haben, daß aber für die Tarifverhandlungen in dieser Frage nicht federführend die Bundesregierung tätig ist, sondern eben die Tarifgemeinschaft Deutscher Länder.
Abgesehen von den 230 Millionen DM, die für Bundesleistungen nach dem Mutterschutzgesetz bereitgestellt werden, dominieren bei den Gesundheitsausgaben des Einzelplans 15 mit rund 58 Millionen DM nach wie vor die Ausgaben für die Aids-Bekämpfung.
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3178 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Entschuldigung, ich muß Sie noch einmal unterbrechen. Der Abgeordnete will wissen, ob er noch eine Frage stellen darf.
Entschuldigung, ich habe beide Fragen beantwortet.
Wenn der Abgeordnete darüber hinaus noch etwas wissen will, bitte sehr.
Ich habe gesagt, welche Meinung ich vertrete.
Und diese Meinung ist auch mit dem Bundesinnenminister abgestimmt.
Aber federführend zuständig ist die Tarifgemeinschaft Deutscher Länder. Deshalb können Sie, wenn Sie etwas für die Schwestern und Pfleger tun wollen, Ihren Einfluß bei Ihrer Parteikollegin Frau Simonis geltend machen.
Ich bitte, mit meinem Beitrag fortfahren zu dürfen. Ich sprach von den Mitteln für die Aids-Bekämpfung. Dieser hohe Einsatz für die Aids-Bekämpfung gilt trotz der seit langem geplanten Mittelreduzierung. Meine Vorrednerin hat darauf hingewiesen.Selbst die immer wieder aufflackernde Kritik an dieser Mittelreduzierung ändert nichts daran, daß die Aids-Bekämpfung keine vom Bund zu finanzierende Daueraufgabe ist. Trotzdem haben wir dafür gesorgt, daß die bisher von uns geförderten Modellprojekte von den Ländern und Kommunen weitergeführt werden können. Diese werden jetzt einen Großteil der Stellen selbst weiterführen. Viele werden in die Regelfinanzierung übernommen. Der Bund wird seinerseits mit über 20 Millionen DM einen Schwerpunkt in den neuen Ländern setzen.Natürlich ist mir bewußt, daß mit diesem Haushaltsansatz nicht alle Wünsche erfüllt werden können. Der trotz anderer finanzverfassungsrechtlicher Vorgaben fortgesetzte Mitteleinsatz des Bundes im Bereich der Aids-Bekämpfung sollte aber kein Anlaß zur Klage, sondern Ansporn zu ergänzendem finanziellem Engagement der Länder sein.Dies gilt auch für die Drogenbekämpfung, eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Tage. 1991 starben bis August bundesweit 1 226 Menschen an den Folgen ihrer Drogensucht. Das sind jetzt schon 475 Drogentote mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum.Selbstverständlich werden wir auch im nächsten Jahr umfangreiche Mittel zur Drogenbekämpfung zur Verfügung stellen. Insgesamt stehen im Haushalt der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung dafür rund 30 Millionen DM bereit, für die Drogenaufklärung zusätzlich 6 Millionen DM.Weitere Schwerpunkte sind die Modellmaßnahmen in der Psychiatrie sowie zur besseren Versorgung von Krebspatienten und chronisch Kranken. Insgesamt stehen dafür über 70 Millionen DM zur Verfügung. Nicht zuletzt werden wir den Aufbau einer Spenderdatei für Knochenmarktransplantationen mit etwa 12 Millionen DM unterstützen.Fast alle Einzelansätze enthalten besondere Aufgabenschwerpunkte für die neuen Länder, z. B. für den Aufbau neuer Tumorzentren und onkologischer Schwerpunkte, für die Förderung von Herz- und Rheumazentren, für Maßnahmen zur Versorgung von Diabetikern, für psychiatrische Modellmaßnahmen oder auch für Aufbau- und Beratungshilfen.Dies ist geboten, um unserem Ziel gerecht zu werden, möglichst schnell die gesundheitliche Versorgung dem Niveau der westlichen Bundesländer anzupassen.
Vorschnelle Interpretationen, Herr Kollege Dreßler, und leichtfertige Pauschalurteile sind auch in der Gesundheitspolitik wenig hilfreich.
Sie haben heute in Ihrem Beitrag davon gesprochen, daß die Gesundheitsreform gescheitert sei.
Ich darf Sie daran erinnern, Herr Kollege Dreßler, daß Sie vor drei Jahren gesagt haben — ich zitiere Sie —, das Gesundheits-Reformgesetz sei ein Gesetz „zur Zerstörung der sozialen Krankenversicherung". Ich frage Sie heute: Wo ist denn die soziale Krankenversicherung zerstört worden?
Wir haben nach wie vor ein Krankenversicherungssystem, um das wir weltweit beneidet werden.
Ich verstehe natürlich gut, daß Sie sich heute angesichts der Erfolge
— ich komme gleich darauf — auf andere Spekulationen zurückziehen und nunmehr das Scheitern der Gesundheitsreform verkünden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3179
Eine lebhafte Debatte ist ja wünschenswert. Aber ich bitte doch sehr, es nicht zu übertreiben.
Das kann ich überhaupt nicht, Herr Kollege.
Frau Ministerin, fahren Sie fort.
Ich frage Sie heute, Herr Dreßler: Wo ist denn dieses Gesetz gescheitert, wenn die Beitragssätze, die sich jahrelang und permanent nach oben bewegt haben, mit dem Gesundheits-Reformgesetz nicht nur stabil gehalten, sondern sogar gesenkt werden konnten?
Ich frage Sie: Wie kommen Sie denn zu der Äußerung, daß das Festbetragssystem gescheitert sei,
wenn im Ergebnis jetzt schon, obwohl noch nicht alles umgesetzt ist, feststellbar ist, daß damit Einsparungen in Höhe von etwa 1 Milliarde DM zu verzeichnen waren, und zwar ungefähr die Hälfte bei den Krankenkassen und die andere Hälfte bei den Versicherten, weil die persönliche Zuzahlung wegfällt?Dies ist nicht ein Scheitern, sondern es ist ein Erfolg dieser Gesundheitsrefom für die Versicherten.
Dabei leugne ich überhaupt nicht die Gefahren— das will ich deutlich sagen — , die sich aus der Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung ergeben. Nach den jetzt vorliegenden Finanzergebnissen für das erste Halbjahr 1991 setzt sich die nunmehr schon seit über einem Jahr anhaltende expansive Ausgabenentwicklung ungebrochen fort.
— Ich habe gesagt: Ich leugne nicht die Gefahren, die dahinterstehen. Diese schleichende Aufzehrung der bisherigen Beitragsentlastungen kann nicht tatenlos hingenommen werden. Darüber sind wir uns im klaren.
Noch gehe ich allerdings davon aus, daß die zur Steuerung der Ausgabenentwicklung bereitstehenden Instrumente, die im Gesundheits-Reformgesetz enthalten sind, umgesetzt werden. Dabei geht es vor allem um die Einführung wirksamerer Wirtschaftlichkeitsprüfungen im ambulanten und stationären Bereich,
es geht um die Reduzierung des überhöhten Arzneimittelkonsums mit Hilfe von Richtgrößen,
und es geht um die Verbesserung der Kosten- und Leistungstransparenz.Dafür sind gute Instrumente im Gesundheits-Reformgesetz vorhanden; nur müssen sie auch umgesetzt werden.
Sie können gern dabei mithelfen, indem Sie Ihren Einfluß auf die Selbstverwaltungspartner ausüben, damit sie ihrer Aufgabe, die ihnen durch das GesundheitsReformgesetz zugewiesen wurde, tatsächlich gerecht werden.
Dort, wo die Gesundheitspolitik durch zusätzliche Reformschritte weitere Einsparpotentiale erschließen kann, wird und muß dies mit besonderem Nachdruck geschehen. Dies gilt sowohl für die dringend erforderliche Krankenhausreform als auch für die Organisationsreform. Hier sind wir bei der Erarbeitung. Einige Elemente hat die Frau Kollegin ja schon angesprochen.
Gleichzeitig bleibe ich bei meinem Vorschlag, nicht nur die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern, sondern alle durch eine Korrektur der Zuzahlungsregelung für Arzneimittel vor unsozialen Belastungen zu schützen.
Meine Vorschläge dazu sind bekannt: Entweder reduzieren wir die bisher vorgesehene 15%ige Eigenbeteiligung auf 10 %
oder wir verlängern die zur Zeit gültige Rezeptgebührregelung für einige Jahre.In jedem Fall — ich sage das hier deutlich — will ich ein Versprechen halten, nämlich: Für Festbetragsarzneimittel darf es keine Zuzahlung geben.
Die Gesundheitspolitik geht natürlich weit über die hier diskutierten Finanzierungsfragen hinaus. Gesundheit läßt sich in aller Regel nicht einfach kaufen.
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3180 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Bundesministerin Gerda HasselfeldtNicht jede Krankheit kann durch Geld geheilt werden. Aber beide sind für jeden von uns beeinflußbar. Vorbeugen ist immer besser als Heilen.
Politik für unsere Gesundheit darf sich deshalb nicht nur auf die Krankenkassenpolitik beschränken, so unumstritten wichtig diese zur Zeit ist. Ebensowenig darf sie auf vermeintlich erzieherische Maßnahmen des Lohnabzugs im Krankheitsfall heruntergebrochen werden. Krank zu sein darf nicht mit dem Vorwurf belastet werden, versagt zu haben.
Kranke bedürfen nicht nur materieller, sie bedürfen vor allem auch unserer menschlichen Solidarität. Hierfür steht die Politik der Bundesregierung.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie, daß ich eine Berner-kung zu den vorherigen Kurzinterventionen des Kollegen Schreiner und des Herrn Kauder mache.
— Ich mache das sehr wohl. — Herr Kauder, Sie wissen genau, daß die CDU Baden-Württembergs — Sie vertreten ja diese Partei, und Sie sollen ja in nächster Zeit ein besonderer Repräsentant werden —
erklärt hat — er wird Generalsekretär — , daß sie das Thema Asyl zum Wahlkampfthema für die Landtagswahlen in Baden-Württemberg machen wird.
Ich liege nicht falsch, wenn ich dazu feststelle: Das Thema wird deshalb so hochgespielt, weil Sie damit in Baden-Württemberg von den Skandalen der früheren Regierung Späth ablenken wollen. Dieses Thema kommt Ihnen gerade recht, weil Sie damit die Schuldenpolitik, die Wohnungsmisere usw. vertuschen wollen.
Mein Kollege Dreßler hat in seiner sozialpolitischen Grundsatzrede daran erinnert, daß diese Republik auch eine Gesundheitsministerin hat. Ich denke, es tut not, daß man daran erinnert.
Die Gesundheitsministerin fällt nämlich vor allem durch eines auf: durch beharrliches Schweigen zu den drängendsten gesundheitspolitischen Problemen,
ob es um das Gesundheits-Reformgesetz geht, Arzneimittelfestbeträge — wo sind denn Ihre konkreten Vorschläge? —,
die Organisationsreform der Krankenversicherung oder das Thema Pflegenotstand.
Dieses Gesundheitsministerium gleicht einem Trappistenkloster, wenn es um konzeptionelle Vorschläge zur Lösung von Problemen geht.
Beweisen Sie uns, daß wir unrecht hatten mit unserer Auffassung, daß es falsch ist, die Kompetenz für die Krankenversicherung aus dem Bundesarbeitsministerium herauszulösen! Ihre Meinung bzw. die der Bundesregierung war ja, daß eine konzeptionelle Neugestaltung von Gesundheitspolitik nach der Übertragung aller gesundheitspolitischen Kompetenzen auf ein einziges Ministerium der Gesundheitspolitik besser bekomme.Bis jetzt ist nur eines deutlich: Die Übernahme der Kompetenz für die Krankenversicherung, die sich die Ministerin so sehnlich gewünscht hatte, hat bisher nicht zu Taten geführt. Diese aber wären dringendst notwendig angesichts der Herausforderungen, vor denen die Gesundheitspolitik steht.Allerdings: In diesem Bereich haben Sie ein schweres Erbe angetreten, hat doch Ihr Vorgänger, der Kollege Blüm, in Wahrnehmung seiner Kompetenzen erhebliches Unheil angerichtet. Das Stichwort Gesundheits-Reformgesetz steht für vieles.Dieses Gesundheits-Reformgesetz ist nicht nur als eines der öffentlich und intern am heftigsten umstrittenen Gesetzeswerke dieser Koalition in die Annalen des Deutschen Bundestags eingegangen; es ist auch jenes Gesetz, Frau Minister, dessen Scheitern schon 24 Monate nach Inkrafttreten an Hand von belegbaren Zahlen offenkundig geworden ist. Sie haben mit diesem Gesetz keine strukturellen Ursachen für die überschäumenden Gesundheitskosten beseitigt. Sie haben Kranke zur Kasse gebeten, Versicherten die Leistungen gekürzt, aber die eigentlichen Quellen, die die Kosten verursachen, weitestgehend unangetastet gelassen; und das wissen Sie.
Wann begreifen auch Sie endlich, daß das Betreiben von Kostendämpfungspolitik, bei der die Patienten zur Kasse gebeten werden, ein Kurieren von Symptomen bedeutet und nur tatsächliche Strukturveränderungen im Sinne einer Reform weiterhelfen können?Ich habe Ihnen bei der Verabschiedung des Gesundheits-Reformgesetzes am 25. November 1988
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3181
Klaus Kirschnerprophezeit: Binnen zweier Jahre reden wir in diesem Haus über die nächste Kostenwelle im Gesundheitswesen. — Das ist eingetreten. Zwei Jahre später, im ersten Halbjahr 1991, stehen die Krankenkassen vor einem Defizit von 3,5 Milliarden DM.
— Lesen Sie doch einmal die Ergebnisse der Spitzenverbände der GKV nach!
— Hier in den alten Bundesländern. Sie kennen doch die Statistik KV 45.
Wer hat denn hier geflunkert, und wer hat denn hier die Wahrheit gesagt?Meine Damen und Herren, die Öffentlichkeit führt eine breite Diskussion über die neue Kostenwelle im Gesundheitswesen; die Ministerin äußert sich nicht dazu, wie sie diese in Griff bekommen will. Sie bieten weder Vorschläge an, noch lassen Sie erkennen, daß Sie sich zu einer grundlegenden Strukturreform unseres Gesundheitswesens durchgerungen haben.Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist noch nicht einmal klar, ob Sie bereit und in der Lage sind, das in der Regierungserklärung gegebene Versprechen einzulösen, eine Teilreform des Gesundheitswesens, nämlich die Organisationsreform der Krankenversicherung, in Angriff zu nehmen und auch durchzusetzen. Ich gebe allerdings zu: Das, was in Ihrer Koalitionsvereinbarung steht, ist nichts anderes als der Versuch der Quadratur des Kreises. Auch das ist sicherlich eines der Probleme, vor denen Sie stehen.Meine Damen und Herren, man geht nicht fehl, wenn man die Prophezeiung wagt, daß im Jahre 1992, spätestens 1993 bei diesem Ausgabentrend in der gesetzlichen Krankenversicherung auf breiter Front eine erneute spürbare Beitragssatzerhöhung befürchtet werden muß. Frau Ministerin, was gedenken Sie zu tun? Sie haben hier keine Antworten gegeben.Kernelemente des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes waren und sind die Festbeträge, hier vor allem im Arzneimittelbereich. Ich will daran erinnern, daß die Koalition bei der Verabschiedung des Gesetzes versprochen hat, daß 80 % des Arzneimittelmarktes unter das Instrument der Festbeträge fallen würden. Dies sollte zum Ende dieses Jahres erledigt sein. Der Kollege Thomae lacht; er weiß, warum.Der derzeitige Anteil der festbetragsfähigen Präparate von knapp 30 To des Marktes wird nicht wesentlich gesteigert werden können. Alle Fachleute sind sich darin einig: Das Instrument ist weitestgehend ausgereizt. Tatsächlich werden also nur ca. 35 T. des gesamten Arzneimittelmarktes festbetragsfähig. Es ist also genau das eingetreten, was uns die Experten bei der Anhörung im Ausschuß zu dem damaligen Gesetzentwurf gesagt haben, was Sie nicht wahrhaben wollten.Das heißt aber, daß ab 1. Januar des kommenden Jahres für die restlichen Präparate — das sind immerhin weit mehr als 60 % — die erhöhte Selbstbeteiligung von 15% — höchstens 15 DM — je Medikament fällig wird. Wissen Sie eigentlich, meine Damen und Herren, was dies für die Kranken bedeutet? —
Ein abermaliges Abkassieren in Milliardenhöhe.
Ich will keinen Zweifel daran lassen: Die SPD-Fraktion wird alles in ihren Kräften Stehende tun, um das Inkrafttreten dieser unsozialen Regelung zu Beginn des neuen Jahres zu verhindern.
Wir werden noch in diesem Monat einen Gesetzentwurf einbringen, mit dem das Inkrafttreten der 15%igen Verordnungsgebühr je Medikament zunächst um drei Jahre verschoben wird. Wir werden Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, dann zwingen, hier Farbe zu bekennen,
hier erneut über Ihren unsinnigen Beschluß zu dieser Rezeptgebühr abzustimmen. Eine Verschiebung von drei Jahren bedeutet drei Jahre Zeit für eine wirkliche Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der kassenärztlichen Versorgung. Ich meine, dies ist dringendst notwendig.Festbeträge sind auch in ihrer strukturell-finanzwirtschaftlichen Zielsetzung gescheitert. Sie sollten einen Beitrag zur Stabilisierung der Arzneimittelausgaben unserer Krankenkassen leisten.
Diesen Beitrag haben sie nicht geleistet.Im Gegenteil: Die Arzneimittelausgaben der Krankenkassen sind so hoch wie nie.
— Schauen Sie sich doch einmal die Statistik an. Im ersten Halbjahr 1991 wurden von der Krankenversicherung fast 9 % mehr Geld für Arzneimittel ausgegeben. Das können Sie doch nicht wegdiskutieren. Schauen Sie sich die Finanzentwicklung doch einmal an! Das kann nicht als Erfolg des Festbetragskonzeptes bewertet werden, sondern es ist der Beweis des Scheiterns dieses Konzeptes und nichts anderes. Haben Sie wirklich geglaubt, die bundesdeutsche Pharmaindustrie hätte auf einmal ihr Ziel aufgegeben, aus dem Arzneimittelmarkt dieses Landes herauszuholen, was herauszuholen ist, nur weil Sie Festbeträge eingeführt haben?Das, was die Arzneimittelindustrie an Preiseinbußen auf dem Markt für Festbetragsarzneimittel hat hinnehmen müssen, wurde durch Umsatzsteigerung bei weitem wieder ausgeglichen. Die Zahl der Arzneimittelverordnungen ist deutlich gestiegen. Um 11ist der Arzneimittelumsatz der Apotheken gestiegen. Absatzförderung nennt man so etwas.
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3182 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Klaus KirschnerWir brauchen ein neues Konzept. Wir brauchen Preisverhandlungen zwischen pharmazeutischer Industrie und Krankenkassen.
Wir brauchen auf der Basis dieser Preisverhandlungen endlich eine Positivliste der verordnungsfähigen Präparate, so wie dies auch in anderen Ländern üblich ist.
Es gibt auch noch ein zweites Element des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes, das vor allen Dingen die FDP-Fraktion geradezu euphorisch als ausgabenstabilisierend gefeiert hat. Ich rede von der angeblich steuernden Wirkung der Selbstbeteiligung. In einem Bereich Ihres Konzeptes haben Sie die Selbstbeteiligung drastisch erhöht. Ich erinnere an die Versorgung mit Zahnersatz. Statt früher 20 % hat nunmehr der Patient 40 % der Leistungen aus eigener Tasche zu zahlen. Sie versprachen sich davon eine sachgerechtere — gemeint war zurückhaltendere — Inanspruchnahme von Zahnersatzleistungen. Um die soziale Grobheit dieses Instruments noch zu verstärken, haben Sie mit der Erhöhung der Selbstbeteiligung zugleich auch noch das Kostenerstattungsprinzip eingeführt.Nach zwei Jahren kann die Frage, ob Selbstbeteiligung steuernd wirkt oder nicht, nun auch von Ihnen beantwortet werden. An Hand von Zahlen belegbar kann Ihre Antwort nur so lauten, wie die unsere bereits vor zwei Jahren lautete: Selbstbeteiligung wirkt nicht steuernd, Selbstbeteiligung ist lediglich eine zusätzliche Finanzierungsquelle, eine Umverteilung von der Solidargemeinschaft zum Geldbeutel des einzelnen Versicherten.
Meine Damen und Herren, die höchsten Steigerungsraten bei den großen Kostenblöcken der Krankenkassen liegen genau in jenen Bereichen, wo Sie die Kostenerhöhung durch hohe Selbstbeteiligung haben verhindern wollen: beim Zahnersatz mit sage und schreibe 15,3 % im ersten Halbjahr 1991.Meine Damen und Herren, die Sicherung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung in den ostdeutschen Bundesländern stand unter dem Motto „West gleich gut — Ost gleich schlecht". So wurden die Polikliniken ruiniert, ohne zu prüfen, ob nicht eine Reihe von ihnen einen sinnvollen Beitrag zur ambulanten Versorgung leisten könnten, ohne Rücksicht auf die Patienten, ohne Rücksicht auf die dort Beschäftigten.
Diese Polikliniken wurden ausschließlich auf dem Altar der standespolitischen Interessen der westdeutschen Ärzteschaft geopfert.
Das ist die Sachlage.Damit es klar ist: Wir kommen nicht auf die Idee, im Gebiet der alten Bundesrepublik Polikliniken einzurichten.
Aber, meine Damen und Herren, neue Formen der ärztlichen Versorgung, die auch mittlerweile, Herr Kollege Dr. Altherr, selbst in weiten Kreisen der Ärzteschaft diskutiert werden, durch Umbau von Polikliniken zunächst einmal in einer sinnvollen Form zu erproben wäre doch möglich gewesen.
Es wurde durch Ihre Politik erstickt und unmöglich gemacht. Auch hier gilt: Sie haben keine Kraft zur politischen Neugestaltung.
Sie treiben nicht, Sie sind die Getriebenen. Sie überlassen die Dinge sich selbst. Sie überlassen sie den Interessengruppen.
Was konnte dies deutlicher unter Beweis stellen als der durch Ihre Politik mit herbeigeführte Pflegenotstand in den ostdeutschen Kliniken?
Sie haben der Entwicklung tatenlos zugesehen und erst eingegriffen, als der Kollaps unmittelbar bevorstand. Frau Ministerin, das, was Sie hier gerade gesagt haben, bedeutet doch nichts anderes, als daß Sie sich hinter den Tarifvertragsparteien verstecken, obwohl doch die Bundesregierung mit am Tisch gesessen hat
und jene Regelung mit beschlossen hat, die eine so ungerechte Entlohnung der Krankenpflegekräfte und anderer Gesundheitsfachberufe in den ostdeutschen Ländern bewirkte.Meine Damen und Herren, ein besonders trauriges Beispiel Ihrer gesundheitspolitischen Untätigkeit bietet die Situation unserer psychisch kranken Mitbürger. Fast 16 Jahre sind vergangen, seit die von diesem Haus eingesetzte Psychiatrie-Enquetekommission ihre richtungsweisenden Empfehlungen zur Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker unterbreitet hat.Elf Jahre sind vergangen, seitdem die sozialliberale Koalition in einem Modellprogramm „Psychiatrie" versucht hat, neue fortschrittlichere Formen der psychiatrischen Versorgung zu erproben.Nichts ist seitdem geschehen, was einen wirklichen Durchbruch bedeutet hätte. Im Gegenteil, vieles, was sich im Modellprogramm der sozialliberalen Koalition als sinnvoll erwiesen hat, haben Sie wieder vor die Hunde gehen lassen; denn Sie haben sich geweigert, die notwendigen Verbesserungen in das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung zu übernehmen.Ich will hier daran erinnern, daß die SPD-Bundestagsfraktion zweimal gemeinsam mit den SPD-regier-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3183
Klaus Kirschnerten Ländern entsprechende Gesetzentwürfe in diesem Hause und im Bundesrat zur Abstimmung gestellt hat. Zweimal hat Ihre Mehrheit, haben Sie diese Gesetzentwürfe abgelehnt.Ich sage Ihnen hier heute zu: Wir werden einen weiteren Anlauf nehmen. Wir werden unsere Initiative zur Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker wiederholen.Können Sie sich eigentlich nicht vorstellen, wie Ihre politische Untätigkeit auf die in der Psychiatrie Beschäftigten wirkt, auf Ärztinnen und Ärzte, auf Pflegerinnen und Pfleger und auf das sonstige Personal, die sich unter unsäglichen Mühen und nicht immer guten Voraussetzungen abrackern, eine vernünftige psychiatrische Behandlung zustande zu bringen? Auch zu diesem Problem: Schweigen von der Ministerin, nicht der Hauch einer Andeutung, wie sie diesen Problemen gerecht werden will.Die Auswirkungen des sogenannten GesundheitsReformgesetzes, die Neugestaltung des Gesundheitswesens in den ostdeutschen Bundesländern und die psychiatrische Versorgung — drei ausgewählte Problemkreise des Gesundheitswesens, an denen sich schlagend beweisen läßt, daß diese Bundesregierung und diese Ministerin über kein gesundheitspolitisches Konzept verfügen, daß Gesundheitspolitik in dieser Regierung praktisch nicht stattfindet.
Wie könnte ich da so vermessen sein und annehmen, diese Bundesregierung hätte auf dem so schwierigen Feld der Organisationsreform der Krankenversicherung, das ebenfalls dringendst einer Lösung zugeführt werden muß, auch nur die Andeutung eines Konzeptes oder gar dezidierte Vorstellungen?Meine Damen und Herren, die Bundesregierung — dieses Urteil ist wirklich nicht ungerecht — ist auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik handlungsunfähig.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Thomae.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Einheit Deutschlands besteht ein Jahr. Ich denke, unser großes gesundheitspolitisches Ziel, was wir uns vorgenommen haben, das System und den Standard unserer Versorgung auf die neuen Bundesländer zu übertragen, ist weitgehend gesichert.Natürlich bekennen wir, daß es noch Schwierigkeiten gibt, daß Probleme vorhanden sind. Im groben aber können wir sagen, die gesundheitliche Versorgung ist gesichert, nicht nur in Allgemeinpraxen, sondern durch eine vernünftige Umwandlung der Polikliniken auch in Ärztehäusern.
Das ist nicht nur ein Erfolg der Selbstverwaltungsorgane in diesem Lande, sondern auch ein Erfolg derMinisterin hier in Bonn. Dafür sollten wir auch einmal danken.
Meine Damen und Herren, es war gar nicht so einfach, diese Strukturen zu verändern. Denken Sie doch einmal daran, wie von seiten der SPD ihre Theorien übertragen werden sollten. Ich denke, die Übertragung der Apotheken in privaten Besitz hat sicherlich erheblich dazu beigetragen, daß die Bürger der neuen Bundesländer nun die Arzneimittel bekommen, die auch wir hier auf dem Markt haben,
und heute hochwertige Arzneimittel zur Versorgung in Anspruch nehmen können.Unser freiheitliches Gesundheitswesen hat sich auch drüben bewährt, und das, meine Damen und Herren, trotz der großen Unkenrufe auch von seiten der Opposition. Ich bin sehr froh, daß wir heute sagen können, daß sich der Beitragssatz von 12,8 %, den wir damals dort eingeführt haben, bewährt hat. Seit wenigen Tagen liegt die Statistik auf dem Tisch, und wir erkennen, daß die Einnahmen knapp über den Ausgaben liegen. Man kann auch dies sagen: Hier hat das Ministerium sauber gearbeitet, hat vernünftig kalkuliert und hat dadurch auch die Versorgung sichergestellt. Die Opposition hat in dieser Beziehung erhebliche Unterstützung der Bundesregierung erwartet und gefordert, aber zum Glück waren unsere Überlegungen richtig. Daher können wir von seiten der Regierung auch auf die Übertragung dieses Systems stolz sein.
Ich bekenne aber, die Kassenlage wird uns zwingen, in den nächsten Tagen darüber zu diskutieren, ob wir den jetzigen Beitragssatz so, wie es im Gesetz steht, freigeben oder weiter verlängern. Hier besteht noch ein Bedarf zu intensiver Diskussion zwischen CDU/ CSU und FDP.
— Es freut mich sehr, daß Sie für solche Diskussionen offen sind.Nun komme ich zum Gesundheits-Reformgesetz. Meine Damen und Herren, mit dem Gesundheits-Reformgesetz haben wir Bedingungen geschaffen, um die freiheitliche Versorgung zu sichern. Wir haben in den ersten Jahren die Beitragssätze auch in den Griff bekommen und haben die Versorgung gestärkt. Aber nun erkennen wir, daß die Beitragssätze steigen. In der Tat muß die Koalition sich überlegen, in welche Richtung sie geht. Sie kennen die Vorstellungen der FDP. Hier ist ganz bewußt gesagt worden, die FDP will die Selbstbeteiligung und die Kostenerstattung möglichst in allen Bereichen des Gesundheitswesens. Wir denken, daß dies die einzig vernünftige Chance ist. Denn wir kennen die Altersstruktur; wir wissen, daß wegen der Altersstruktur die Beitragssätze um zwischen 3 und 4 % steigen müssen.Welche Alternativen haben wir, um einen Anstieg der Lohnnebenkosten zu verhindern? Nur drei. Erste Möglichkeit: Wir gliedern Leistungen aus. Zweite
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3184 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Dr. Dieter ThomaeMöglichkeit: Wir führen die Selbstbeteiligung ein. Die dritte Möglichkeit wäre: Die Beiträge steigen. Die FDP entscheidet sich für eine Selbstbeteiligung mit Kostenerstattung und denkt, auf Grund der Einkommensentwicklung ist dies gerecht, aber auch auf Grund der Erbschaftsfolge in diesem Lande. Daher glauben wir, daß die Verantwortlichkeit nennenswert gestärkt werden muß.Sie alle haben eben die Arzneimittel angesprochen. Die Opposition weiß, daß hier innerhalb der Koalition ein Streit besteht. Auf der einen Seite haben wir Produkte, für die Festbeträge gelten, und auf der anderen Seite Produkte, die außerhalb der Festbeträge liegen. Das Gesetz sieht vor, daß am 1. Januar 1992 eine Selbstbeteiligung von 15 % eingeführt werden soll. Die CDU schlägt eine Verschiebung vor. Dies lehnt die FDP ab. Die FDP schlägt den Einstieg in die Selbstbeteiligung in allen Bereichen vor. Ich denke, dies wäre ein vernünftiger, gangbarer Weg.
— Herr Geißler, wir sind uns dessen sehr bewußt.
Wir sehen aber keine andere Möglichkeit, als über die Selbstbeteiligung noch einen weiteren Beitrag der Versicherten einzufordern.Sie kennen die unterschiedlichen Philosophien. Sie gelten auch für die Krankenhausfinanzierung. Meine Damen und Herren, wir können nicht immer davon reden, wir wollten im Gesundheitssektor etwas schaffen, wenn wir nicht den Mut aufbringen, im Krankenhausbereich wirklich aktiv zu werden.
Ich glaube, daß man im Krankenhauswesen nur in kleinen Schritten Erfolg erzielen kann. Ich sehe nur eine Chance: daß wir zunächst im chirurgischen Bereich beginnen und Sonderentgeltformen einführen, um die Ausgabenflut zu dämpfen. Ich bitte die Ministerin, sich wirklich aktiv um ein Konzept zu bemühen, damit wir mit den Sonderentgeltformen vorankommen, vom Selbstkostenprinzip wegkommen hin zu echten Preisen. Diese Preise müssen die Chance bieten, daß der Patient und der einweisende Arzt auswählen können, in welches Krankenhaus der Patient geht. Nur auf diese Art und Weise werden wir Chancen haben.
Es kann nicht sein, daß die Krankenkassen die Kosten über Pflegesätze kalkulieren und ihnen damit die Möglichkeit gegeben wird, alle anfallenden Kosten erstattet zu bekommen. Damit geht jedes Management, jede ökonomische Überlegung verloren. Die Chance der Gewinnerzielung wird damit von vornherein behindert — ein System, das überhaupt nicht in die Soziale Marktwirtschaft paßt; es ist reine Planwirtschaft. Von diesem System müssen wir unbedingt wegkommen.
Vorletzter Punkt: Organisationsreform. In den Koalitionsvereinbarungen ist hierüber etwas gesagt. Stichwort ist, es solle kein kassenartenübergreifender Finanzausgleich geschaffen werden. Dies ist und bleibt der Standpunkt der FDP. Wir können nur hoffen, daß die Ministerin weder auf Regionalisierung noch auf kassenartenübergreifenden Finanzausgleich setzt, sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite.Einen Punkt habe ich bisher nicht angesprochen, der mir in den neuen Bundesländern noch sehr viel Sorge macht, und hier müssen wir wirklich in der Zukunft noch sehr viel tun: Ich beziehe mich auf die Krankenhäuser in den neuen Bundesländern. Nicht nur der mißliche Tarifvertrag hat dort viel Porzellan zerschlagen, sondern auch die Ausstattung der Krankenhäuser muß erheblich gefördert werden, zumal man weiß, daß die Summe, die von der Bundesregierung für Schulen, Altenheime und Krankenhäuser zur Verfügung gestellt wurde, nur zu einem geringen Anteil in die Krankenhäuser geflossen ist. Dies kann auf Dauer nicht akzeptiert werden.
Wir müssen in den Krankenhäusern der neuen Bundesländer die Tür öffnen; denn die Länder und der Bund werden nicht in der Lage sein, dies in kürzester Zeit zu finanzieren.Daher brauchen wir die Krankenhausreform. Daher brauchen wir private Investoren, die bereit sind, Gelder in Krankenhäuser zu investieren, um die gesundheitliche Versorgung abzusichern. Geben Sie westdeutschen Investoren zu vernünftigen Bedingungen die Chance zu investieren. Wir werden dann das Problem der Versorgung in den neuen Bundesländern dann recht bald über die Bühne bringen. Aber dazu brauchen wir Konzepte, und zwar auch Finanzierungskonzepte, Frau Ministerin.Letzter Punkt: Es ist, was ich bedauere, nichts zu den langen Versprechungen gesagt worden, die hinsichtlich der Berufsbilder gemacht worden sind. Diese Koalition muß in dieser Wahlperiode endlich ihr Versprechen einhalten, die Berufsbilder zu schaffen, die sie seit vielen Jahren plant. Andernfalls sind wir unglaubwürdig. Wir sollten damit anfangen. Ich hoffe, daß wir dieses Versprechen in dieser Wahlperiode einhalten können.Vielen Dank.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Kriedner das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich wirklich darüber gewundert, daß Sie, Herr Kirschner, als Sie sich setzten, nicht über das haben lachen müssen, was Sie zum Schluß gesagt haben.
Ihre Kritik an der Ministerin für Gesundheit
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3185
Arnulf Kriednerist doch nun wirklich bereits mit Ihren Worten zusammengebrochen.Vor Ihnen hat Frau Hasselfeldt gesprochen. Sie hat Sie mit Charme und Zurückhaltung — ich staune eigentlich über die Zurückhaltung, die sie gebraucht hat — widerlegt. Sie haben dann dasselbe dumme Zeug wieder erzählt.
— Ich bitte um Nachsicht, daß ich diesen unparlamentarischen Begriff gebraucht habe. Sie haben dasselbe Unqualifizierte wieder erzählt, was vorher schon gesagt worden ist.
Ich will mich durch die Zwischenrufe, die hier kommen, gar nicht so sehr ablenken lassen, sondern ich möchte zur Sache kommen. Herr Schreiner, Sie haben vorhin gesagt, die Arbeitslosen Ost würden gegen die Arbeitslosen West ausgespielt. Ich frage mich nur, wie Sie den Mut haben können, so etwas zu sagen, wenn gleichzeitig — Frau Hasselfeldt hat vorhin darauf Bezug genommen — eine Ministerin, die Ihrer Partei angehört, mit diffamierenden Äußerungen über einen ganzen Berufsstand und über die Leute im Osten herzieht.
Ich muß schon sagen: Es ist eine Dreistigkeit, so etwas in dieser Art und Weise, wie Sie das getan haben, vorzuführen, ohne wenigstens den persönlichen Mut zu haben, dann auch einmal zu sagen, daß sich einer aus den eigenen Reihen mit seinen Äußerungen ganz kräftig vertan hat. Nein, Sie gehen doch ans Mikrophon und versuchen das, was die Dame getan hat, zu rechtfertigen. Ich halte das für einen bemerkenswerten Vorgang in diesem Haus.
— Ich bin bei der Sache, und zwar ganz kräftig.
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Schreiner möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zuzulassen?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege, können Sie mir nachweisen, in welcher Form und mit welchem Inhalt ich in meinem Redebeitrag eine mir nicht bekannte Äußerung einer Kollegin unterstützt habe?
Ich habe gesagt: Sie haben das nicht getan, und habe das bedauert. Sie haben mir nicht richtig zugehört.
— Sie können mich durch Ihre ständigen Zwischenrufe nicht stören. Ich hoffe nur, daß es mir, wenn Sie dauernd dazwischenreden, bei meiner Redezeit nicht angerechnet wird.
Meine Damen und Herren, wir reden jetzt über den Einzelplan 15. Dieser Einzelplan 15 steht unter dem Gesamtgesichtspunkt „Sparen und trotzdem Gestalten". Dieser Gesichtspunkt ist hier in vorhergehenden Redebeiträgen bereits ausführlich zum Ausdruck gebracht worden. Trotz allem erhält dieser Einzelplan 15 einen Schwerpunkt bei Maßnahmen, dort, wo es am notwendigsten ist, nämlich in den neuen Bundesländern. Das haben Sie, wie bei Ihren Beiträgen deutlich wurde, offensichtlich alles überlesen. Ich möchte das hier noch einmal betonen.
Die AIDS-Forschung ist für die neuen Länder ein ungeheuer wichtiges Thema. Es sind hier zwar nur 50 Millionen DM im Haushalt 1991 eingestellt; aber diese 50 Millionen DM sind vordringlich für Aufgaben im Osten vorgesehen. Die Westländer werden selbst für die Maßnahmen zu sorgen haben. Deshalb gibt es dort im Bundeshaushalt selbst eine Reduzierung.
Dasselbe trifft auf einen anderen Bereich zu. Der letzte Redner von der SPD hat beklagt, daß Maßnahmen der Psychiatrie und der Psychohygiene nicht ausreichend bedacht seien. Nun kann man darüber streiten, was ausreichend ist. Aber immerhin ist bei diesem Ansatz eine kräftige Erhöhung zu verzeichnen. Das haben Sie vielleicht überlesen, als Sie sich den Haushalt angesehen haben. In den Erläuterungen steht, daß ganz besonders Maßnahmen in den neuen Bundesländern aus diesem Titel finanziert werden sollen.
Das Notprogramm Trinkwasser ist aufgestockt worden. Der Erfahrungsaustausch im Gesundheitswesen zwischen Ost und West wird fortgesetzt werden. Die Beratung in den osteuropäischen Staaten wird fortgesetzt werden usw.
Ich sage: Es sind Schüsse ins Leere, es sind einfach nur leere Bekundungen, die Sie hier zum Ausdruck bringen, wenn Sie a) die Behauptung aufstellen, es würde keine Gesundheitspolitik betrieben — na gut, einer Opposition steht es immer zu, so etwas zu sagen, auch wenn sie es nicht belegen kann —,
und wenn sie b) die Haushaltszahlen nicht so wiedergeben, wie sie im Haushaltsplanentwurf stehen.
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Kirschner möchte eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?
Nein, jetzt nicht mehr.
Okay.
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3186 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Er kann ja anschließend eine Intervention machen.
— Habe ich hier schon Angst gezeigt? Auch vor Ihnen habe ich keine!
Meine Damen und Herren, ich will aber als Abgeordneter aus einem östlichen Bundesland ganz bewußt auch ein paar kritische Akzente setzen. Ich lese z. B. in diesem Haushaltsentwurf, daß es für die epidemiologischen Untersuchungen bei AIDS sechs Stellen gibt, die sich allesamt in den alten Bundesländern befinden: in Berlin, in Frankfurt am Main, in Hamburg, in Köln, in München und in Nürnberg-Erlangen. Ich erwarte, Frau Hasselfeldt, daß Ihr Ministerium darüber nachdenkt, wann denn endlich etwas zum Ausgleich in Richtung Osten getan wird, d. h. wann wir Stellen solcher Art auch im Osten schaffen können. Denn wir können mit der jetzigen Struktur natürlich nicht die Zukunft im Gesundheitswesen gestalten. Deshalb erwarte ich, daß auf diesem Gebiet etwas geschieht.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, noch etwas zur vorhergehenden Haushaltsdebatte sagen, um den Haushalt 1991, die ja nicht so sehr weit zurückliegt. Da hat die Opposition geradezu apokalyptische Bilder über die Zustände des Gesundheitswesens im Osten gemalt. Diese Apokalypse ist genau-sowenig eingetreten wie die, die Sie bei den Arbeitslosenzahlen gemalt haben. All das, was jetzt zu registrieren ist, ist das Ergebnis eines Prozesses eines halben Jahres, eines Dreivierteljahres. Sie haben schweigen müssen. Im Grunde genommen, Herr Kirschner, haben Sie dazu gar nichts ausgesagt. Sie haben zwar behauptet, es sei nicht alles so gelaufen, wie erwartet. Aber ich hätte Sie einmal hören wollen, wenn es so gelaufen wäre, wie Sie bei der letzten Haushaltsdebatte hier erklärt haben.
Im Osten hat die Umorientierung des Gesundheitswesens zweifellos positiv gewirkt. Das wissen Sie genau so gut wie ich, weil Sie dort drüben schon Besuche gemacht haben. Wenn Sie sich vor Ort einmal anschauen, wie Arztpraxen laufen, wie die Umstellung von den Polikliniken auf die Allgemeinkrankenhäuser vonstatten geht, dann müssen Sie doch zugeben, daß das weit entfernt von den von Ihnen hier vorgetragenen Bildern ist.
Sie sollten doch wenigstens einmal in einer solchen Debatte den Mut haben
— die Größe, jawohl —, einzuräumen, daß etwas gut gelaufen ist, von dem Sie vorher behauptet hatten, es würde überhaupt nicht laufen. Aber ich glaube, ich wende mich da an die Falschen.
— Das können wir gerne nachlesen. — Sie sind nicht in der Lage, so etwas einzuräumen.
Einer Ihrer Redner — ich glaube, Sie waren es selber, Herr Kirschner — hat vom Trappistenkloster gesprochen. Man kann viel Schlechtes über die SPD sagen, aber eins muß man feststellen: Zu den Trappisten gehören Sie nicht, meine Damen und Herren.
Sie erzählen meistens sehr viel mit sehr wenig Inhalt. Sie erzählen eigentlich das Typische, was eine Opposition sagen muß. Sie sind nicht bereit, irgend etwas Positives anzuerkennen.
Aber weil auch in der Opposition manchmal etwas Richtiges gesagt wird,
nehme ich ein Wort auf, das der jetzt nicht mehr anwesende Kollege Dreßler heute morgen gebraucht hat. Das war übrigens das einzige, was, wie ich fand, an seiner Rede richtig war. Er hat nämlich gesagt: Das Bessere ist der Feind des Guten.
— Das ist zwar nicht neu, das hat schon oft jemand benutzt, aber weil dieser Satz richtig ist, bleiben wir ganz im Sinne dieses Satzes dabei: Uns ist ein Theo Waigel lieber als ein Dreßler.
Uns ist ein Theo Waigel lieber als eine Frau Matthäus-Maier.
Es ist uns auch ein Blüm lieber . . .
— Ich denke dabei immer an Ihre personellen Alternativen, meine Damen und Herren. Wir bleiben bei diesem Spruch. Deshalb behalten wir auch diese Regierung, die alles in allem, auch in der Gesundheitspolitik, die richtige Linie aufzeigt: kein lautes Geschrei, kein ständiges An-die-Decke-Malen einer Apokalypse, sondern eine ruhige, sachliche und richtige Gesundheitspolitik.
Frau Minister, wir machen hier einen fliegenden Wechsel, aber Sie haben trotzdem das Wort. Bitte sehr.
Ich muß fast sagen: Meine Herren Präsidenten! Meine Damen und Herren! Der Haushalt 1992 sieht für das Bundesministerium für Frauen und Jugend 2,56 Milliarden DM vor. Das sind 1,2 Milliarden DM weniger als 1991. Dies ist aber kein Zeichen von weniger frauen- und jugendpolitischen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3187
Bundesministerin Dr. Angela Dorothea MerkelAktivitäten, wie es von der Opposition wider besseres Wissen behauptet wird.
Diese Entwicklung hat sehr einfache Gründe. Im Grund kennen Sie sie, und es ist traurig, daß ich sie hier noch einmal aufführen muß.Erstens. Der Zuschuß des Bundes für die Sicherung der Kinderbetreuungseinrichtungen in den neuen Bundesländern in Höhe von 1 Milliarde DM war bis zum 30. Juni 1991 begrenzt.
— Wir brauchen die Verfassungsdiskussionen und die Zuständigkeiten von Ländern und dem Bund heute, glaube ich, nicht zu erörtern.Zweitens. Die Zahl der Zivildienstleistenden in den neuen Bundesländern wird 1992 geringer sein, als angenommen. Hier werden nach den heutigen Schätzungen 230 Millionen DM weniger benötigt. Falls sie doch benötigt werden, werden wir sie auch bekommen.Der Haushalt 1992 ist jetzt so angelegt, daß er dem Ministerium für wichtige frauen- und jugendpolitische Vorhaben neue Spielräume eröffnet. So stehen für frauenpolitische Maßnahmen jetzt 20 Millionen DM zur Verfügung statt wie im vorigen Jahr 15 Millionen DM. Damit haben sich die Mittel für die frauenpolitischen Maßnahmen um über 30 % erhöht. Ich denke, das findet auch Ihre Zustimmung.Es findet bestimmt auch Ihre Zustimmung, daß aus dem Sonderprogramm mit 5 Millionen DM im nächsten Jahr, 1992, reguläre Mittel in den Haushalt eingebracht werden können, die uns zu einer kontinuierlichen Arbeit ermutigen.
— Sie kennen ja das Ende der Haushaltsberatungen in diesem Jahr noch nicht.Wir haben sichergestellt, daß die Hilfe für Frauen in den neuen Bundesländern, der Aufbau von Organisationen, die Information und Beratung auch 1992 fortgesetzt werden kann.
— Wollen wir nicht einander zuhören?
Das diesjährige Sonderprogramm mit 3,8 Millionen DM zum Aufbau von Frauenverbänden und -gruppen sowie 1,2 Millionen DM als Anschubfinanzierung von Frauenhäusern hatte eine große Resonanz. Wir haben über 1 400 Anträge für die Frauenverbandsarbeit und über 90 Anträge für Frauenhäuser erhalten. Das Gesamtantragsvolumen betrug damit 50 Millionen DM und ist zehnmal so hoch wie die zur Verfügung stehende Summe.Ich denke, wir ersehen daraus ganz eindeutig, daß die Frauen in den neuen Bundesländern beginnen, sich zu organisieren, daß sie sich zusammenschließen und daß wir auf einem guten Weg zu einer pluralen Frauenverbandsstruktur sind. Wir ersehen daraus ferner, daß natürlich in den neuen Bundesländern inZukunft gerade auch für frauenpolitische Themen verstärkt Anstrengungen unternommen werden müssen.Eine deutliche Erhöhung und damit auch mehr Bewegungsfreiheit wird es im Bereich der Jugendpolitik geben. Die Mittel für den Bundesjugendplan werden von 180 Millionen DM auf 203 Millionen DM angehoben. Die zusätzlichen Mittel in Höhe von 20 Millionen DM werden wir für ein neues Aktionsprogramm der Bundesregierung gegen Aggressivität und Gewalt unter Jugendlichen einsetzen. Ich denke, wir sind uns alle darüber einig, daß dies ein wirklicher Schwerpunkt unserer Arbeit im Bereich der Jugendpolitik sein sollte.Die Zunahme der Gewalttätigkeit, insbesondere im rechtsradikalen Spektrum, unter Jugendlichen hat in den neuen Bundesländern ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen. Wir müssen uns intensiv nach den Gründen dieser Entwicklung fragen und danach, was wir tun können. Untersuchungen zeigen: Jugendliche sind am ehesten bereit, sich radikalen Gruppierungen anzuschließen, wenn sie aus vertrauten Lebenszusammenhängen herausgerissen werden. Wenn sie plötzlich mit neuen, sehr komplizierten Verhältnissen konfrontiert werden, dann sind sie besonders empfänglich für einfache Antworten. Aber die Zeit der einfachen Antworten, die es in dem einfachen, aber brutalen System des SED-Staates gab, ist vorbei. Eine freie, eine demokratische Gesellschaft kann auf komplexe Fragen keine einfachen Antworten geben. Wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich in dieser vielfältigeren und komplexeren Welt zurechtzufinden.Wir erarbeiten deshalb zusammen mit den Ländern ein Konzept gegen Aggression und Gewalt Jugendlicher. Neben konkreten Projekten in besonders betroffenen Gebieten, wie beispielsweise in der Region Dresden, werden wir auch entsprechende Forschungsvorhaben und vor allen Dingen Fortbildungsangebote und Aufklärungsmaßnahmen einplanen.Ganz entscheidend dafür, daß Jugendliche Chancen für sich und ihr weiteres Leben sehen, ist, daß es uns gemeinsam gelingt, allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anzubieten. Ich denke, wir wissen heute, daß alles für den Erfolg dieser Bemühungen spricht. Damit findet die Lehrstellenkatastrophe, die lange von seiten der Opposition angekündigt war, nicht statt. Das ist auf die großen Anstrengungen von Industrie und Handwerk aber auch auf die Lehrstellenoffensive der Bundesregierung zurückzuführen, die dafür ja 250 Millionen DM bereitgestellt hat.Es kann allerdings nicht übersehen werden, daß es junge Frauen auf dem Lehrstellenmarkt schwerer haben als junge Männer. Sie werden weniger vermittelt, sind mehr in überbetrieblichen Ausbildungsstätten und suchen sich häufiger in den westlichen Bundesländern einen Ausbildungsplatz.Von dieser Stelle muß ich noch einmal an die Betriebe appellieren. Ich habe das bereits in einem Brief insbesondere an die Banken und Sparkassen getan. Ich muß auch noch einmal darauf hinweisen, daß es ein EG-Anpassungsgesetz gibt, in dem ganz deutlich
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3188 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Bundesministerin Dr. Angela Dorothea Merkelwird, daß Mädchen gegenüber Jungen nicht benachteiligt werden dürfen.In den neuen Bundesländern sind zahlreiche soziale Initiativen auf allen Ebenen entstanden. Sie kümmern sich, wie z. B. die Projektgruppe zur Einrichtung von Frauenhäusern, solidarisch um diejenigen, die Hilfe am notwendigsten brauchen. Sie haben zum Ziel, Probleme, vor denen sie stehen, selbst in die Hand zu nehmen. Vor allem wollen sie die Vertretung ihrer Interessen nicht länger anderen, beispielsweise dem Staat überlassen.Ich denke, hier entsteht eine neue soziale und politische Kultur, der wir als Politiker Hilfe zur Selbsthilfe geben müssen. Hier sehe ich auch den wichtigsten Beitrag des Frauen- und Jugendministeriums.Aber wir müssen natürlich unser Augenmerk auch auf die Entwicklung in Europa insgesamt richten. Das, was wir modellartig in den beiden Teilen Deutschlands erleben, vollzieht sich auf europäischer Ebene ja jetzt noch einmal. Wir haben es in den letzten Tagen und Wochen in voller Dimension erlebt. Ich erinnere hier nur z. B. an die Länder des Baltikums. Viele Menschen gerade in den baltischen Staaten empfinden die Umwälzungen als weitaus gravierender, als sie von den Menschen in den neuen Bundesländern empfunden wurden, weil sie nämlich niemanden haben, der ihnen automatisch helfen wird und auf dessen Hilfe sie immer rechnen können. Ich denke, wir sollten deshalb diesen Dingen auch in unserer Jugendpolitik Rechnung tragen, z. B. im Bereich des internationalen Jugendaustauschs.
In diesem Jahr fand der „Sommer der Begegnung" statt. Ich denke, bei allen unseren Begegnungsmaßnahmen in den nächsten Jahren sollten wir darauf achten, daß Jugendliche aus anderen Ländern, insbesondere aus den osteuropäischen Staaten und hier wiederum aus dem Baltikum, teilnehmen können.
Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal bei den Verbänden für den „Sommer der Begegnung " bedanken. Dieser „Sommer der Begegnung" war, glaube ich, ein großer Erfolg. Er hat sehr große Anforderungen an die Verbände gestellt,
denn sie mußten ihre Anträge innerhalb sehr kurzer Zeit abgeben. 80 000 Jugendliche hatten in diesem Sommer auf diese Art und Weise die Möglichkeit, in Ost und West einander zu begegnen und Gespräche miteinander zu führen. Ich glaube, das ist wirklich ein Beitrag zur inneren Einheit Deutschlands.
Ein großes Problem ist natürlich die Frauenarbeitslosigkeit. Wir wissen, daß Frauen heute immer noch überproportional von der Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wir haben in unserer Arbeit auf frauenpolitischem Gebiet deshalb vor allem darauf Wert gelegt, daß Frauen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit an den Umschulungs-, Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beteiligt werden.Wir müssen allerdings sagen, daß es bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen noch große Defizite gibt. Nur etwa 35 % der Frauen sind an den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beteiligt, und das bei einer Frauenarbeitslosigkeit von 58 %. Ich habe mich deshalb an die Treuhandanstalt gewendet mit dem Ziel, daß bei der Schließung von Betrieben auch darauf geachtet wird, daß typische Frauenbetriebe nicht häufiger geschlossen werden, als das bei Männerbetrieben der Fall ist.
— Die Trauhandanstalt hat gesagt, daß sie sich darum kümmern werde. Ich habe auch mit den Gewerkschaften gesprochen. Ich habe gesagt, daß die Branchengewerkschaften der frauentypischen Berufe mindestens so intensiv wie die IG Metall für die Belange ihrer Mitglieder kämpfen sollten. Der Parlamentarische Staatssekretär in meinem Hause, Herr Hintze, hat im Juli alle Landesarbeitsämter in den neuen Bundesländern besucht. Dabei wurde Übereinstimmung erzielt, daß mehr arbeitsmarktpolitische Projekte für Frauen in Angriff genommen werden. Wir werden uns das bei weiteren Reisen im Herbst noch einmal ansehen und darauf achten, ob auf diesem Gebiet wirklich gehandelt wird.Ich möchte sagen, daß ich in diesem Zusammenhang den Erlaß der Bundesanstalt für Arbeit vom 26. August ausdrücklich begrüße. In ihm wird nämlich der Vorrang der Frauen bei der Vermittlung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen festgelegt. Danach kann ein Zuschuß bis zu 100 % der Lohnkosten gewährt werden, wenn in der Maßnahme überwiegend arbeitslose Frauen beschäftigt werden.
Ich wiederhole an dieser Stelle trotzdem noch einmal meinen Appell an die Bürgermeister, an die Landräte, an die Arbeitsverwaltung und an die kommunalen Frauenbeauftragten in den neuen Bundesländern: Unterstützen Sie die Einrichtung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Frauen, und zwar vor allem in den Regionen und den Branchen, in denen Frauen stark vertreten sind!Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen, daß ich glaube, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine ganz wichtige Einrichtung in der Zeit des Übergangs von der Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft ist. Wir können auf die AB-Maßnahmen nicht verzichten. Wir werden sie mindestens noch ein weiteres Jahr brauchen. Wir wissen alle, daß es vorrangig natürlich um die Schaffung neuer Arbeitsplätze geht, wir wissen aber auch, daß dies in vielen Bereichen eine gewisse Zeit braucht.Frauen auf ihrem schwierigen Weg in die neue Gesellschaft zu begleiten, sie zu informieren und zu beraten, das ist eine wesentliche Aufgabe für die Beratungsstellen. Solche Beratungsstellen werden wir in allen neuen Bundesländern einrichten. Sie werden im September oder Anfang Oktober in den neuen Bundesländern eröffnet werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3189
Bundesministerin Dr. Angela Dorothea MerkelFrauen haben einen Anspruch auf berufliche Tätigkeit und auf größere Chancen im Beruf. Das gilt sowohl für die Frauen in den westlichen Bundesländern als auch für die Frauen in den östlichen Bundesländern.
Ich denke, das Hauptproblem, das dem immer noch im Wege steht, ist das Problem, wie man Beruf und Familie besser vereinbaren kann. Wir werden die Rolle der Frauen in der Berufs- und Arbeitswelt bei der Vorbereitung eines Gleichberechtigungsgesetzes berücksichtigen, das im nächsten Jahr eingebracht werden soll und an dem wir schon jetzt intensiv arbeiten. Wir werden mit diesem Gesetz die Frauenförderung in der Bundesverwaltung auf eine gesetzliche Grundlage stellen. Wir werden die Mitwirkungsrechte der Betriebs- und Personalräte bei der Frauenförderung festschreiben. Wir wollen sichern, daß die Position von Frauen durch die Novellierung des arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetzes verbessert und gesichert wird. Wir werden für mehr Gerechtigkeit bei der Berufung von Männern und Frauen in Gremien, auf deren Besetzung die Bundesregierung einen Einfluß hat, sorgen.
Weil es auch für die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen wichtig ist, halte ich an meinem Ziel fest, den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gesetzlich zu verankern. Insbesondere die ostdeutschen Bundesländer haben hier eine Vorreiterrolle übernommen. Ihre finanziellen Anstrengungen und die Unterstützung des Bundes über ABM und das Gemeinschaftswerk „Aufschwung Ost" haben dazu geführt, daß die von der Opposition erwartete völlige Schließung der Kindereinrichtungen ausgeblieben ist.
— Auch in diesem Herbst sind ausreichend Kindergartenplätze vorhanden, und Sie haben etwas ganz anderes prognostiziert.
Stehen Sie doch dazu! Wir haben heute in drei von fünf neuen Bundesländern Gesetze, in denen der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz festgeschrieben ist. Was haben Sie uns nicht alles im Frühjahr erzählt!
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Wolf?
Frau Ministerin, Sie sagen, im Moment wären alle Nachfragen gesichert. Gehen wir einmal davon aus, daß dem so ist. Sie wissen aber ganz genau, daß sehr viele Frauen arbeitslos sind und deswegen zu Hause bei den Kindern bleiben. Wir hoffen, daß sie alle wieder in Arbeit kommen. Dann suchen sie einen Kindergartenplatz. Inzwischen sind aber soundso viele geschlossen, weil die Nachfrage fehlte. Sehen Sie die Situation kommen, daß die Nachfrage wieder steigt und dann die Plätze weg sind?
Frau Wolf, es hat überhaupt keinen Sinn, daß wir ständig über theoretische Möglichkeiten diskutieren.
Ich kann Ihnen Beispiele aus meinem Wahlkreis sagen. In Zingst gibt es Kindereinrichtungen, die zu 47 % ausgelastet sind. Sie sind heute vollkommen offen. Wenn sie um 20 % oder 30 % reduziert werden, bleiben immer noch 30 % der Plätze frei. Ich sehe zur Zeit noch nicht die Variante, daß jemand, der sein Kind neu in einen Kindergarten bringen will, keinen Platz findet. Ich finde, wir sollten dann darüber sprechen, wenn dieser Fall eintritt, und nicht vorher. Es ist außerdem so, daß die Zahl der Eltern, die ihre Kinder in Kindereinrichtungen bringen, angestiegen ist. Auch das ist eine Tatsache. Die Eltern haben sich inzwischen an die Beiträge gewöhnt,
und sie bringen ihre Kinder wieder in die Kindereinrichtungen. Ich finde, wir sollten gemeinsam an die Eltern appellieren, ihre Kinder auch bei Arbeitslosigkeit vormittags in einen Kindergarten zu bringen. Wir wissen, aus jugendpolitischer Sicht ist das sowieso erstrebenswert. Ich denke, sie tun es dann auch. In Stralsund sind genauso viele Kinder im Kindergarten wie vor der Wende.
Frau Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Wolf?
Ich nehme Ihnen ab, daß Sie wirklich engagiert sind und dafür sorgen wollen, daß das gesichert ist.
Aber jetzt eine Frage.
Wir brauchen uns hier nicht gegenseitig Lob auszusprechen. Wir sprechen hier über Tatsachen. Ich bitte Sie darum, bei diesen Tatsachen zu bleiben.
Ich frage ja nach Tatsachen. Auch bei Betrieben argumentieren wir so: Es ist besser, man erhält sie, weil es schwieriger ist, sie wieder aufzumachen, wenn sie weg sind.
Sehen Sie den gleichen Sachverhalt nicht auch bei Kindergärten?
Nehmen wir als Beispiel für einen Betrieb Buna. Wollen wir dieses Werk erhalten und warten, bis die Arbeiter eines Tages dort wieder arbeiten können? Das wollen wir nicht.
— Das führt jetzt in eine sehr grundsätzliche Diskussion. Ich bin der Meinung, daß wir die sozialistischen
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3190 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Bundesministerin Dr. Angela Dorothea MerkelStaatsbetriebe nicht erhalten wollen und nicht erhalten müssen
und daß auch kein Mensch daran interessiert ist, daß sie in dem Maße erhalten bleiben.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Niehuis?
Ihre Antwort auf Frau Wolf hat mich verunsichert. Sie hatten gerade gesagt, daß Sie dafür sorgen möchten, daß ein Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz verankert wird. Sie hätten der Frau Wolf nur zu sagen brauchen: Mit einem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz läuft das schon. Nun kommt meine Frage. Sie haben hinsichtlich der Kinderbetreuungseinrichtungen — die Rede war von 1 Milliarde DM — gesagt, das sei Sache der Länder und Kommunen. Kann ich davon ausgehen, daß Sie den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz so verstehen, daß der Bund kein Geld über den Länderfinanzausgleich geben wird?
Wir haben über diese Dinge überhaupt nicht gesprochen. Ich habe davon gesprochen, daß ich der festen Überzeugung bin, daß die Länder viel Wert darauf legen werden, den Kultusbereich für sich zu haben, und daß sie auch für die Gestaltung der Kindergärten verantwortlich sein wollen. Genau darüber habe ich gesprochen. Das ist eines der wesentlichen Prinzipien des Föderalismus.
Ich habe noch einen allerletzten Punkt: Ich glaube, wir müssen auch weiterhin den Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt und sexueller Ausbeutung verstärken. Hier sehe ich gesetzlichen Handlungsbedarf. Kinder und Jugendliche müssen vor Pornographie, bei der Herstellung und beim Konsum, wirkungsvoller geschützt werden, und wir werden zum anderen einen neuen Anlauf für ein Frauenhausfinanzierungsgesetz unternehmen.
— Ja.
Die Frauenfachkonferenz der Gleichstellungsstellen aus Bund und Ländern hat eine Arbeitsgruppe hierzu eingesetzt, die bereits ihre Beratungen aufgenommen hat. Ich kann nur hoffen, daß auch die Frauenministerinnen aus der Oppositionspartei uns helfen werden, daß wir mit diesem Gesetz vorankommen; denn es wäre aus meiner Sicht dringlichst, bedarf aber der Zustimmung der Länder.
Die kommen dann eventuell aus Ihrer Partei und werden uns sicherlich sehr helfen.
Frauen und Jugendliche — ich glaube, das haben wir gesehen — bedürfen einer aktiven politischen Begleitung. Wir werden auch im nächsten Jahr unseren Beitrag dazu kontinuierlich leisten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Verehrte Frau Minister, ich bitte noch mal um Nachsicht wegen der Schwierigkeiten bei der Worterteilung.
Nun hat die Frau Abgeordnete Ingrid Becker-Inglau das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Divide et impera!
— Sie sehen, auch Frauen sind noch nicht mit ihrem Latein am Ende; denn „Teile und herrsche" — liebe Kolleginnen und Kollegen, so ist die Übersetzung, und ich dachte, daß das gerade bei Ihnen ein schon ganz besonders bekannter Spruch sei — scheint offensichtlich die Überschrift der Gleichstellungspolitik des Kanzlers und seiner Bundesregierung. Merkwürdig wie die Teilung eines Ministeriums in drei ist auch die Verteilung der Zuständigkeiten.
— Richtig. Aber es ist immer noch so.
Aber durch unvermeidbare Überschneidungen ist wenigstens der Konflikt, um es sarkastisch zu formulieren, zwischen den Mini-Ministerien und damit deren Untätigkeit gesichert. Aus einem geringen Haushalt wurden drei bedeutungslose Mini-Haushalte geschnitten,
sichtbar daran, daß schon der zweite Haushalt, den die Frauenministerin machen mußte, um ein Drittel gekürzt wurde.
Der Grund: Die Kinderbetreuungseinrichtungen in den neuen Ländern werden nicht mehr vom Bund mitfinanziert. Bleibt also die Frage: Was ist mit der vielversprechenden Formulierung „Anspruch auf einen Kindergartenplatz" in Einigungsvertrag und Regierungserklärung geworden?
Aber wir haben ja gerade von Frau Merkel gehört, daß dieser Haushalt noch gar nicht der endgültige Haushalt ist und daß wir uns noch auf einige Überraschungen freuen dürfen.Zum anderen könnten Sie natürlich sagen: Aber dafür ist der Familienhaushalt um 14,7 % gewachsen. Doch dieser so löbliche Zuwachs gilt allein der längst fälligen Erstkindergelderhöhung, dem Kinderzuschlag und der längst beschlossenen Verlängerung der Bezugsdauer von Erziehungsgeld. Im selben Zuge wurden allerdings die Mittel im Bereich der Betreu-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3191
Ingrid Becker-Inglauung von Asylsuchenden und Aussiedlern, die wirklich notwendig sind, gekürzt oder nicht bedarfsgerecht angesetzt.Was erwarten wir denn als Gleichstellungspolitik von der Bundesregierung? Der Handlungsbedarf ist doch so groß, daß er nicht mehr zu übersehen ist. Wie reagiert die Bundesregierung, und welche Lösungsvorschläge bietet sie an? Wie sichert sie diese politisch und finanziell in ihrer Durchführung? Seit gestern frage ich: Wie weit will diese Bundesregierung die Unterdrückung und Diskriminierung der Frauen eigentlich treiben?
— Warten Sie mal ab, was ich Ihnen gleich noch sage!Der besonders erschreckende Beweis liegt seit gestern auf dem Tisch, Herr Rüttgers. Die Vorschläge zu der im Einigungsvertrag geforderten Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs müssen diskutiert werden. Die Meinungsführerschaft der CSU im Schulterschluß mit der katholischen Kirche hat auch die CDU übernommen.Die CDU/CSU propagiert eine Indikationenregelung, die weit hinter die augenblicklich geltende zurückfällt.
Sie spricht den Frauen selbst nach einer Vergewaltigung das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ab. Familienministerin Rönsch zielte mit ihren Leitsätzen vor der Sommerpause bereits in die gleiche Richtung. Ich frage: Was geht eigentlich in den Köpfen derer vor, die zu solchen Ergebnissen kommen?
Frau Minister Merkel, für die in der ehemaligen DDR die Fristenregelung eine Selbstverständlichkeit war, und die zu Beginn ihrer Amtszeit noch Fristenregelung und Beratung empfahl
— so ist es — , erschöpfte sich dann in unverbindlichen Erklärungen und steht nun hinter den Vorschlägen ihrer Fraktion. Frau Merkel, welch ein Wandel! Und ich frage Sie auch: Wodurch?
Das scheinen Sie sich jetzt immer wieder fragen lassen zu müssen.Ich frage Sie deshalb: Was wollen Sie eigentlich den Frauen in den neuen Ländern und uns Frauen hier in den alten Bundesländern noch an Rückschritt antun?
Wir Frauen sind empört und, ich sage auch, enttäuscht. Was denken Sie sich eigentlich dabei, wenn Sie Frauen über Strafandrohung zum Gebären zwingen wollen, und was tun Sie, um eine kinder- und familienfreundliche Republik wirklich zu realisieren?Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten treten mit unserem Gesetzentwurf, der in der übernächsten Sitzungswoche debattiert wird, für die Schaffung einer solchen Republik ein, in der nicht nur der vorgeburtliche, sondern auch der Schutz des Lebens nach der Geburt durch umfassende Hilfen und die Respektierung der Eigenverantwortung der Frau gewürdigt wird.
Wir wollen, daß es in Zukunft für Frauen keine Wiederholung von Memmingen und keine entwürdigenden Zwangsuntersuchungen an der Grenze mehr gibt. Wir wollen, daß damit endgültig Schluß ist.
Wir hoffen, daß die Frauen und auch die auf geklärten Männer in unserem Land mit den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten einer solcher für die Frauen entwürdigenden, von der CDU/CSU vorgelegten Regelung mit allen Mitteln entgegentreten.Auch die FDP will mit ihrem Gesetzentwurf einer Fristenregelung nicht auf Strafe für Frauen verzichten; das bedauern wir sehr. Mit einer Beratungspflicht will sie Frauen eine eigenverantwortliche Entscheidung absprechen, statt zu überlegen, wie Kinder in eine kinderfreundliche und familienfreundliche Umgebung hineingeboren werden können, statt zu überlegen, wie Schwangerschaftskonflikte vermieden werden können.
— Den der FDP aber sicher!Der CSU-Vorsitzende und Bundesfinanzminister kann mit dieser Strafandrohung Kosten sparen, mit einer Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen, bei der familienpolitische, sozialpolitische und arbeitsrechtliche Leistungen nicht mehr im Vordergrund stehen wie bei dem im Bundestag vorgelegten SPD-Entwurf eines Familien- und Schwangerenhilfegesetzes. Dieses — das wissen wir — kostet Geld, vor allem weil es darum geht, bestehende Benachteiligungen für Frauen und Mütter zu beseitigen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Frauen lassen uns bei der Verwirklichung zur Gleichstellung hin nicht allein auf die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs reduzieren. Denn im Erwerbsleben und in anderen Lebensbereichen sind Männer und Frauen noch immer nicht gleichgestellt. Es geht zur Zeit vor allem darum, den Anspruch der Frauen bei der Angleichung der Lebensbedingungen im vereinten Deutschland einzulösen. Familie und Beruf müssen miteinander vereinbar sein, Frauen müssen eine Grundsicherung ihrer Rente bekommen. Gleiche Bildungschancen müssen gewährt sein. Gleiche Chancen für Frauen und Män-
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3192 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Ingrid Becker-Inglauner bilden die Voraussetzung für die gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen und auch in der Erwerbsarbeit und in der Familie. Von einer Frauenministerin und einer Familienministerin erwarten wir, daß sie sich für die Schaffung dieser Voraussetzung gerade in ihren Haushalten einsetzen.
Die deutsche Einigung hat uns die große Chance gegeben, die positiven und negativen Erfahrungen des Lebens in unterschiedlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen zu bilanzieren und daraus eine neue einheitliche Demokratie zu gestalten.Von den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen in den neuen Bundesländern sind Frauen und Kinder besonders betroffen. In der ehemaligen DDR waren Frauen in der Verfassung gleichberechtigt. — Das ist auch bei uns so. Aber 90 % der Frauen waren erwerbstätig. Hinzu kamen großzügige Freistellungsregelungen nach der Geburt und bei der Erkrankung von Kindern.Und was ist bei der allerorts propagierten Angleichung der Lebensverhältnisse für die Frauen herausgekommen? — Frauen waren die ersten, die nach der Wende entlassen wurden. Dabei haben fast alle Frauen in den neuen Bundesländern eine gute und abgeschlossene Berufsausbildung und jahrelange Berufserfahrung. Mädchen ergattern inzwischen seltener einen Ausbildungsplatz und werden in die sogenannten frauentypischen Berufe verwiesen. Sie verlieren somit ihre Berufschancen und ihre Zukunftschancen, obwohl sie vorher selbstverständlich in allen Berufszweigen ausgebildet wurden. Das umfangreiche Instrumentarium, das den Frauen Berufstätigkeit und damit wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglichte — also Kinderkrippen, Kindergärten, Horte, Freistellungsregelungen — , wird unter dem nun geltenden westlichen Recht abgebaut.Die eigene Berufstätigkeit und die rentenrechtliche Anerkennung von Pflege und Erziehung machten die Frauen in der DDR vom Mann wirtschaftlich weitgehend unabhängig. Deshalb haben Frauen in den neuen Ländern ein größeres Selbstbewußtsein. Allerdings ist inzwischen bekannt und auch deutlich geworden, daß die Rolle der Frau in der DDR nie diskutiert wurde. Die Frauen in den neuen Ländern sind auf die Erfahrungen mit der für sie neuen Benachteiligung nicht vorbereitet.So können Vorurteile und das Handeln nach einem traditionellen Rollenbild ungehindert wirken: 59,3 % aller Arbeitslosen in den neuen Bundesländern sind Frauen; ihre Arbeitslosenquote liegt bei 14,6 %. Dagegen sind 40,7 % der Männer arbeitslos, bei einer Quote von 9,6 %. Dabei ist die Welle neuer Arbeitslosigkeit noch nicht beendet; denn Kurzarbeit null oder die sogenannte Warteschleife im öffentlichen Dienst dauert noch an.Die Bundesregierung setzt dieser Entwicklung nichts entgegen. Im Gegenteil: Die ehemals 90%igeErwerbsquote der Frauen wird zusätzlich wie von selbst noch tiefer sinken,
nämlich dann, wenn die Zahl der Kindertagesstätten weiterhin zurückgeht und die Elternbeiträge steigen. Immer mehr Frauen werden durch drohende Arbeitslosigkeit nun auch in den neuen Ländern in ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse gedrängt. Das heißt: Altersarmut von Frauen ist vorprogrammiert.In der Berufsausbildung zeigt sich ein ebenso katastrophales Bild: Allein in den neuen Ländern hatten 42 000 Jugendliche bis Ende Juli — nur einen Monat vor Beginn des neuen Ausbildungsjahres — noch keinen Ausbildungsplatz; davon waren 56 % Frauen. Das heißt: Sie waren wieder überproportional stark betroffen. Insgesamt stehen dieses Jahr 160 000 Bewerberinnen und Bewerber einem Ausbildungsplatzangebot von 103 000 Plätzen gegenüber. Eine Wahl hinsichtlich des Berufspektrums gibt es nicht.Mädchen finden — wenn überhaupt — nur schwer einen Ausbildungsplatz, der auch gute Berufsaussichten bietet. In den neuen Ländern werden Mädchen und junge Frauen massiv aus den Bereichen zurückgedrängt, in denen in der ehemaligen DDR überwiegend Frauen beschäftigt waren, z. B. im Bankbereich und im Handel. Jetzt werden z. B. männliche Auszubildende und Arbeitnehmer von den meist westdeutschen Banken bevorzugt. Für Mädchen werden an vielen Orten verstärkt Plätze im Hotel- und Gaststättengewerbe oder im Hauswirtschaftsbereich geschaffen und angeboten.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat festgestellt: Über 50 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten nicht mehr im gewerblich-technischen Bereich, sondern im Dienstleistungsbereich. Ich frage hier die Frauenministerin: Mit welchen Maßnahmen steuern Sie hier gegen? Wie wird sich das für die Frauen zukünftig entwickeln? Wir finden in diesem Haushalt keinen einzigen Ansatz, der hier im Weiter- und Ausbildungsbereich entgegenwirken könnte. Frau Merkel, nicht eine Mark ist dafür im Haushalt.Ebensowenig haben sich Frauenministerium und Familienministerium gerührt, als die Änderung des § 5 AFG vom Bundesrat vorgeschlagen wurde, daß Frauen durch geeignete Angebote und Informationen an den arbeitsmarktpolitischen Förderinstrumenten der Bundesanstalt für Arbeit entsprechend ihrem Anteil an den registrierten Arbeitslosen beteiligt werden. Dies hätte für die Frauen einen Rechtsanspruch auf Gleichbehandlung bei der Vermittlung in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gebracht und hätte den Frauen auch eine größere Bereitstellung von sinnvollen Angeboten zur beruflichen Fortbildung eingebracht.
Frau Merkel, wir fordern Sie auf, mischen Sie sich ein bei der Ausbildungsstruktur, ebenso im Hochschulbereich. Sie hätten hier die Bundeskompetenz
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3193
Ingrid Becker-Inglauwahrnehmen müssen. Statt dessen war der Einsatz bei der Förderung von Wissenschaftlerinnen bildungspolitisch und haushaltspolitisch in der Versenkung verschwunden, obwohl es jetzt ein Frauenministerium gibt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen doch: Das Zusammenwachsen Deutschlands muß selbstverständlich auch ein Zusammenwachsen von Bildung, Wissenschaft und Kultur für Frauen und Männer zu gleichen Teilen sein. Diese Bereiche sind eine zentrale Voraussetzung für die soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung und den Wohlstand unseres Landes.Für die Bundesrepublik Deutschland besteht die Gefahr, daß Bildung und berufliche Qualifikation langfristig ungesichert bleiben. Arbeitsmarkt, wirtschaftliche Entwicklung, Hochschulen und berufliche Bildung, Vorbereitung auf ein gemeinsames Europa, internationale Kooperation, besonders in den europäischen Ländern, dazu, meinen wir, müssen auch eine Frauen- und eine Familienministerin, wenn sie zukunftsorientiert arbeiten, Stellung beziehen.
Auch in der Frage der Anerkennung der DDR-Berufsabschlüsse, die ja in vielen sozialen Berufen nicht gewährt wird, hören wir von der Frauen- und der Familienministerin nichts. Herr Waigel und seine Länderkolleginnen und -kollegen werden sich über dieses Ducken der beiden Ministerinnen vor ihnen freuen.Ich frage mich auch: Warum schweigen die Ministerinnen bei den Qualifizierungsangeboten im Erziehungsbereich, so wie Sie es eigentlich im wirtschaftlichen Bereich als Selbstverständlichkeit inzwischen gesehen haben? Sie hätten sich auch hier einmischen müssen. Warum lassen Sie eine Degradierung dieser Berufe zu?Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Herstellung gleicher Lebensverhältnisse bedarf es also weitgehender Überlegungen als rein arbeitsmarktpolitischer Zahlenvergleiche. Sozialpolitische und familienpolitische Fragen müssen auch gelöst werden.
Unsere Gesellschaft braucht Kinder. Kinder sind unsere Zukunft, und wir müssen sie mit Liebe in einer kinderfreundlichen Gesellschaft behandeln und aufwachsen lassen. Aber ist es richtig, diese große gesellschaftliche Aufgabe so zu reduzieren, daß Frauen dafür von allen anderen gesellschaftlichen Erfahrungen „freigestellt" werden? Nein, so geht es nicht.Bisher beteiligten sich Männer und Väter noch viel zuwenig an Aufgaben in der Familie, trotz Erziehungsurlaubs und Erziehungsgeldes für Väter und Mütter. Sie lassen sich lieber selbst noch mitversorgen und mitbetreuen — in Ost und West.
Damit Frauen eine eigene erfolgreiche Berufstätigkeit ausüben, sich aktiv an allen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens beteiligen können und gleichzeitig Kinder und Jugendliche ihr eigenes soziales Umfeld aufbauen und gesellschaftlicheErfahrungen machen können, brauchen wir Kinderkrippen, Kindergärten, Horte und andere entsprechende Einrichtungen.
Wie gesagt, im Haushaltsplan „Frauen und Jugend" sind jedoch — entgegen allen Empfehlungen und Forderungen — alle Mittel für die Kostenbeteiligung des Bundes an den Kindergärten in den neuen Ländern gestrichen. Damit die Kommunen einen Teil dieser Einrichtungen überhaupt noch erhalten können, sind Elternbeiträge von etwa 200 DM im Durchschnitt pro Kind jetzt erforderlich.Können Sie mir einmal sagen, Frau Ministerin Merkel, welche der beinahe 60 % der arbeitslosen Frauen das überhaupt bezahlen kann? Und können Sie dann auch verstehen, daß viele ihre Kinder zu Hause behalten müssen, weil sie diese Kosten nicht aufbringen können?
Das ist eine schlimme Situation, vor allem wenn man bedenkt, daß vorher 95 % der drei- bis sechsjährigen Kinder tagsüber in Kindergärten waren, 56 % der Kinder im Alter bis zu drei Jahren in Krippen und 88 % der sechs- bis zehnjährigen Kinder in Schulhorten betreut wurden. Diese Zahlen sollte man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das ist es, wonach wir streben. Aber das wird dort jetzt abgebaut, und zwar unter dem Motto: Das ist bedarfsgerecht.Ein weiteres trauriges Kapitel der ungelösten Politik für Frauen ist die zunehmende Gewalt: Gewalt durch Jugendliche und sogar Kinder, Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, Gewalt gegen Frauen, Gewalt auch in Ehe und Familie. Dem mit zunehmender Gewalt steigenden Bedarf an Frauenhäusern stehen Untätigkeit und Ignoranz der beiden Ministerien gegenüber, die sich eigentlich hätten betroffen fühlen müssen. Von den 1,2 Millionen DM des ersten Frauenhaushalts, die als Anschubfinanzierung gedacht waren, ist nichts mehr zu finden. Dabei sind Zahl und Ausstattung von Frauenhäusern in den neuen Ländern noch immer völlig unzureichend.
Zum Schluß möchte ich festhalten: In den Haushaltsvorgaben der Bundesregierung sind keine finanziellen Voraussetzungen geschaffen, um die Lebensverhältnisse für Frauen und ihre Familien in den östlichen und westlichen Bundesländern anzugleichen und zu verbessern. Für Frauen in den neuen Bundesländern sind die Lebensverhältnisse unerträglich schlecht geworden. Beide zuständigen Ministerinnen waren nicht in der Lage, die Interessen von Frauen und Familien im Bundeshaushalt durchzusetzen.Deshalb fordern wir von der Bundesregierung, daß Frauen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit auch in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vermittelt werden können.Deshalb fordern wir, daß Mädchen anteilig Ausbildungsplätze in zukunftsorientierten Berufen erhalten. Deshalb fordern wir, daß Frauenförderung im öffent-
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3194 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Ingrid Becker-Inglaulichen Dienst, vor allem in Bundesbehörden, in die Tat umgesetzt wird.Deshalb fordern wir, arbeitszeitrechtliche und arbeitsrechtliche Vorschriften dahin gehend zu überprüfen, daß sie nicht als „Schutzvorschrift" gegen die Beschäftigung von Frauen eingesetzt werden können.Deshalb fordern wir, die Gleichstellung von Frauen gesetzlich auf Bundes- und auf EG-Ebene durchzusetzen. Deshalb fordern wir, Kindertageseinrichtungen in den neuen Ländern weiter mit Kostenbeteiligung des Bundes zu finanzieren und den Rechtsanspruch auch in den alten Bundesländern umzusetzen.
Deshalb fordern wir, weiterhin Frauenhäuser in den neuen Ländern einzurichten, mit einer Anschubfinanzierung durch den Bund.Deshalb fordern wir, bei der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs ein umfassendes Angebot an sozialen Hilfen vorzusehen.Frau Merkel, für die Realisierung dieser Forderungen fehlt uns in Ihrem Haushalt jede Mark. Deshalb sollten Sie sich auch außerhalb von Wahlkampfzeiten auf Ihre Aufgaben als Frauenministerin besinnen. Sie sollten nicht glauben, mit einem Preisausschreiben die großen Frauenprobleme dieser Zeit lösen zu können.
— Auch das hätten Sie bereits einsparen können.
Frau Kollegin Bekker-Inglau, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Das hätte sie bereits sparen können. Ich glaube, es gab genügend Sachen, die man hier aufgezeigt hat.
In den nächsten Monaten kommen große Aufgaben auf uns zu. Wenn das Engagement für die Gleichberechtigung bei den beiden Ministerinnen deutlicher zum Ausdruck kommen wird, dann sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten an ihrer Seite.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr die Frau Abgeordnete Susanne Jaffke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Glück, daß die CDU keine Quotenregelung hat!
Die diffamierende Kritik der Opposition am vorliegenden Haushaltsentwurf wegen seiner angeblichen sozialen Unverträglichkeiten hat bisher nur zweierlei deutlich gemacht: Ihre sozial- und wirtschaftspolitische Inkompetenz sowie Ihre Unfähigkeit, diesen Entwurf richtig zu lesen,
geschweige denn, zu verstehen.Wer sich den Haushaltsplan genau ansieht, stellt fest, daß erstens die sozialpolitischen Maßnahmen der Regierung durchdacht und zukunftsweisend sind
und daß zweitens diese Maßnahmen zur Überwindung sozialer Schieflagen gezielt, der Situation angemessen und erfolgversprechend sind.
— Getroffene Hunde bellen, sagt man bei uns zu Hause.Ein Beispiel: Der Bundesjugendplan 1992 wird um 20 Millionen DM auf 203 Millionen DM aufgestockt. Dieses Geld soll vor allem dazu verwendet werden, soziale Mißstände in der Jugendszene der neuen Bundesländer zu beseitigen, deren Ursache die engstirnige, ideologievergiftete Jugendpolitik von SED und FDJ war und ist.
Wir stehen jetzt vor den Problemen, die ein menschenverachtendes System durch 40 Jahre Gängelung der Jugend geschaffen hat. Die negativen Folgen der sozialistischen Bewußtseinsbildung liegen uns jetzt klar vor Augen. Alte Tabuthemen in Ostdeutschland wie Gewalt und politischer Extremismus, Drogenmißbrauch und Ausländerfeindlichkeit unter Jugendlichen drängen nach Aufarbeitung.
Diese Mißstände existierten schon seit jeher, sind aber verbrecherischerweise immer totgeschwiegen worden,
nach der alten Methode für erfolgreichen Selbstbetrug, daß nicht sein kann, was nicht sein darf.Der Idealismus der Jugend in den neuen Ländern ist von einem Regime der Phrasendrescher und von wirklichkeitsfremden Marx-Engels-Dogmatikern mißbraucht worden. Was bedeutet das jetzt für unser Handeln?Wir dürfen nicht zulassen, daß die Jugendlichen nach dem Verlust ihrer staatlich verordneten politischen Orientierung im revolutionären Herbst 1989 ihr persönliches Heil in politischer Apathie oder Radikalität suchen oder sich in Mißtrauen und Zynismus gegenüber Politik und Staat flüchten. Ziel muß es sein, durch Hilfe zur Selbsthilfe den Jugendlichen neue Perspektiven für eigenständiges persönliches Handeln zu geben.Auch wir dürfen jetzt nicht in den alten Fehler verfallen und den Jugendlichen einen neuen Weg vorgeben. Die Aufgabe aller staatlichen Institutionen kann nur darin bestehen, einen Rahmen zu schaffen, Raum zu geben, den die Jugendlichen selbstbestimmt ausfüllen und gestalten können.Mit der Erhöhung des Finanzrahmens des Bundesjugendplans wird diesem Raum ein neues Fundament gegeben. Nur auf dieser Basis sehe ich eine Chance,
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Susanne Jaffkedie geistigen Verwüstungen, die der Sozialismus hinterlassen hat, zu überwinden.
Dieses Förderprogramm fußt auf den Prinzipien von individueller Selbstverantwortung, gesellschaftlicher Solidarität und dezentraler Durchführung. Es ist deshalb erfolgversprechend, weil es nicht als bürokratische Zwangsmaßnahme umgesetzt wird, sondern die freien Träger der Jugendarbeit vor Ort unterstützt.Auch die Ausweisung von 11 Millionen DM für Bau und Einrichtung von Jugendherbergen und Jugendbegegnungsstätten fügt sich in diese Konzeption. Durch die Finanzierung internationaler Begegnungsstätten für Jugendliche leistet die Bundesregierung zum einen einen wichtigen Beitrag, um den Jugendlichen neue Felder des eigenen Engagements zu eröffnen, und zum anderen, um Vorbehalte gegenüber unseren Nachbarn jenseits der Grenzen abzubauen.Die Bekämpfung des Gefühls der Perspektivlosigkeit und der Abbau von Vorurteilen gegenüber Ausländern im Inland wie im Ausland stellen ohne Zweifel einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Entwicklung eines neuen, eines jungen Europa dar.Ein zweites Beispiel: Im Entwurf des Bundeshaushalts ist vorgesehen, das Kindergeld, den Kindergeldzuschlag und den Kinderfreibetrag zu erhöhen, auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen. Die vorgesehenen Leistungen sind beträchtlich. Die Aufstockung des Kindergelds erfolgt um rund 3,1 Milliarden DM. Die Erhöhung des Kinderfreibetrags wird zu einer Entlastung der Familien um rund 3,6 Milliarden DM führen. Das zeigt, wieviel uns die materielle Besserstellung unserer Familien wert ist.
Die Bundesregierung hat seit der Übernahme der Regierungsverantwortung 1982 eine konsequente Familienpolitik geführt. In den zehn Jahren unionsgeführter Regierung haben sich die Leistungen für unsere Familien mit rund 55,6 Milliarden DM verdoppelt.
Trotz der immensen Kosten, die der Aufbau der fünf neuen Länder mit sich bringt, werden die staatlichen Zuwendungen an die Familien nicht angegriffen. Im Gegenteil: Sie werden erhöht. Damit geben wir ein klares Bekenntnis zur Familie als Grundeinheit unseres gesellschaftlichen Gefüges.
Vor diesem Hintergrund ist es einfach unredlich, diesen Haushaltsentwurf als unsozial zu bezeichnen.
Die düstertrivialen Endzeitszenarien, die die SPD über die Zukunft der sogenannten kleinen Leute in diesem Hause zeichnet,
kann ich nur als leicht durchschaubaren Anbiederungsversuch an Wählergruppen interpretieren, dieihr schon vor Jahren davongelaufen sind. — Herr Kollege Wieczorek, ich freue mich auf die Einzelgespräche.Die Opposition entwickelt sich nicht nur zum Motor der Zukunftsangst, sondern sie schürt auch noch den Sozialneid und trägt damit wahrlich nicht zur Vollendung der deutschen Einheit bei.
Ein solches politisches Programm hat aber noch nie zum Erfolg geführt.Lassen Sie mich noch einige Worte zu den Kindergärten in den neuen Ländern sagen. Die Anschubfinanzierung des Bundes für die Kinderbetreuungsstätten endet mit diesem Jahr. Dementsprechend verringert sich der Etat des Bundesministeriums für Frauen und Jugend. Als ehemalige DDR-Bürgerin kann ich wirklich nur darüber staunen, welch nostalgische Krokodilstränen einige Vertreter der Opposition diesen vermeintlichen Errungenschaften des Sozialismus nachweinen.
— Sie waren ja niemals bei uns! — Die damaligen Kinderbetreuungseinrichtungen, durch die auch alle meine Kinder gegangen sind, waren niemals ein menschenfreundliches Instrument des Staates für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch ich war lange alleinerziehende Mutter.
Sie waren nie Ausdruck einer wirklich frauenemanzipatorischen Zielsetzung. Sie waren einfach Kinderaufbewahrungsstätten mit einem rigiden und pädagogisch sinnlosen Betreuungsplan.
— Natürlich ich, weil ich es mitgemacht habe, und zwar mein ganzes Leben lang!
— Bellen Sie doch nicht so viel!In den Ländern Ostdeutschlands sind mittlerweile Richtlinien zur Organisation der Kindergärten und der Erziehung ausgearbeitet worden. Wer sich diese Richtlinien durchliest, sieht schnell, daß der Umstrukturierungs- und Neuorientierungsprozeß auf diesem Gebiet bisher erfolgreich verlaufen ist. Selbst Jugendsenator Thomas Krüger aus Berlin begrüßt die Maßnahmen, um alte Strukturen besser und neu ordnen zu können, siehe „Süddeutsche Zeitung" von gestern.
Mit dem dogmatischen Erziehungssystem im Sinne eines Zentralstaates ist es unwiderruflich vorbei. Die Kultushoheit der östlichen Länder bildet sich mehr und mehr aus. Die Frage der Kindergärten gehört nicht in den Bereich des Bundes. Das können und sol-
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Susanne Jaffkelen die Länder selbst in die Hände nehmen. Sie besitzen die Fähigkeit dazu. Die Zukunft des Erziehungswesens gehört dem föderalistischen Miteinander, nicht dem staatlichen Monopol.Vielleicht entschuldigen Sie sich nachher bei mir — denn mein Vater war als Kriegsdienstverweigerer in Gefangenschaft und mein Großvater ist in Fünf Eichen von den Kommunisten umgebracht worden — und nehmen das Wort „Blockflöte" zurück.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt Frau Abgeordnete Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vergangene Sommer war für Ostleute einer mit Neuigkeiten. Zwar boomten Reise- und Sommerschlußgeschäfte, aber die Kindergärten machten Pause. Für die Schulkinder gab es keine Ferienspiele mehr. Ihre Eltern kriegten neue Mietbescheide, und die Zeiten der 20-Pfennig-Fahrten im öffentlichen Nahverkehr gingen zu Ende. Warteschleifler sind am Schleifenende angekommen. Abwickler haben abgewickelt, was sie nur konnten. Kurzarbeiter wurden auch ihr bißchen Arbeit los. Manch eine geht mit Sorgen in den Herbst; denn arbeitslos zu sein ist vor allem auch ein Frauenlos. — Das ist das Editorial der neuesten Ausgabe von „Ypsilon" , der Zeitschrift aus Frauensicht, im übrigen ein Produkt des auch von Ihnen so viel gerühmten Herbstes '89.Ich halte diesen Blick auf den Alltag in den neuen Bundesländern für sehr gelungen und will ihn im Rahmen der laufenden Haushaltsdebatte ins Blickfeld rücken.Der großen Worte sind bereits reichlich ausgetauscht. Die unzähligen Einzelschicksale verschwinden dahinter, die ca. 50 000 Alleinerziehenden ohne Anspruch auf eine Kinderbetreuung und auf Arbeitslosengeld, da sie dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen, ebenso wie die 200 000 Erwerbsarbeitslosen im Vorrentenalter ohne Chance auf eine Berufstätigkeit, die mit der Gewißheit leben müssen, nur eine kleine Rente zu bekommen.Finanzminister Waigel erklärte am Dienstag — Zitat — : Wir sorgen mit unserer Politik für die gerechte Verteilung der Lasten aus der deutschen Einheit. — Wohlgemerkt: gerechten.
Wenn der sächsische Wirtschaftsminister angesichts der Massenarbeitslosigkeit fordert, doch endlich den notwendigen Strukturwandel zu akzeptieren, und damit gewiß auf die hohe Zahl der berufstätigen Frauen anspielt, wird ein weiteres Mal deutlich, was die CDU/CSU unter „gerecht" versteht. Zu der Verteilung der Vorteile aus der deutschen Einheit schweigen Sie sich allerdings aus.Nun, wer die Lasten vor allem zu tragen hat, die wirtschaftliche Umstrukturierung in erster Linie zu bezahlen hat, das sind die Frauen in Ost und — ich fürchte — perspektivisch auch in West.Die Zahlen sprechen für sich. Von November 1989 bis April 1991 hat sich die Zahl erwerbstätiger Frauen in den neuen Bundesländern um 27% verringert, und der Anteil von Frauen an den Arbeitslosen ist mit 58,5 % überdurchschnittlich hoch. Die Arbeitslosenquote der Frauen liegt mit 14,5 % weit über der der Männer. Dagegen liegt der Anteil der Frauen bei der Vermittlung in ABM bei nur 34 %. Selbst das Frauenministerium sah sich genötigt, eine Quote von 75 bei der Vergabe der noch verbleibenden Plätze zu fordern.Die geschlechtsrollenspezifische und hierarchische Arbeitsteilung, die Verantwortlichkeit für Kinder, den Haushalt und die Familie blieben auch in der DDR unverändert. Aber die eigenständige Existenzsicherung und das Recht auf Arbeit waren garantiert.Die berechtigte Kritik an der Doppel- und Dreifachbelastung von Frauen und an Unzulänglichkeiten in der Kinder-, aber auch der Kleinstkinderbetreuung wird dazu genutzt, Frauen wieder in die Rolle der Hausfrau, Ehefrau, Mutter und Zuverdienerin zu drängen. Nachgeholfen wird, indem die sozialpolitischen Maßnahmen und die soziale Infrastruktur einfach gestrichen werden. Es wird gar nicht daran gedacht, optimale Kinderbetreuungsmöglichkeiten zu schaffen, die Vereinbarkeit von Beruf- und Familie oder egal, welcher Lebensform durch radikale Verkürzung der täglichen Arbeitszeit zu ermöglichen, die Teilzeitarbeit der Vollzeitarbeit gleichzustellen, wie es in der ehemaligen DDR war, wo es keine ungeschützten Arbeitsverhältnisse gab, ein Recht auf Arbeit oder einen Rechtsanspruch auf ein Mindesteinkommen und damit Existenzsicherung zu garantieren.Frauen in den neuen Bundesländern sehen sich mit dem Verlust bisher verbriefter Rechte auf eine relativ eigenständige Lebens- und Berufsplanung konfrontiert. Ihnen werden wichtige, in der DDR geregelte Grundlagen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie entzogen.Der im Vergleich zur BRD weitaus großzügigere Schwangerschafts- und Wochenurlaub wurde bereits gekürzt. Andere Regelungen wie die zur Freistellung zur Pflege erkrankter Kinder, zum Hausarbeitstag, zum besonderen Kündigungsschutz für Alleinerziehende und zu kürzeren Arbeitszeiten für Frauen mit Kindern fallen weg oder werden durch schlechtere bundesdeutsche Regelungen ersetzt. Alles wird auf das weit schlechtere bundesdeutsche Niveau reduziert. Besonders dramatisch wirkt sich dies für alleinerziehende und ältere, für behinderte und ausländische Frauen aus. Für sie ist die Gefahr groß, in Armut und Abhängigkeit zu stürzen.Aber Finanzminister Waigel hat ja verkündet, die soziale Verantwortung, die Sorge um die Familien, um die Arbeitslosen, um die wirtschaftlich Schwachen in unserer Gesellschaft würden im Mittelpunkt der Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik der Bundesregierung stehen. Frauen kommen da übrigens nicht vor.
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Petra BlässKlartext geredet: Die mit 32,3 % mit Abstand stärkste Kürzung eines Einzelplans betrifft ganz gewiß nicht rein zufällig den Geschäftsbereich der Bundesministerin für Frauen und Jugend. Einmal mehr zeigt sich, daß hier nicht viel mehr als ein Alibiressort geschaffen wurde und die Frauen mal wieder hintanstehen, bis zur Unkenntlichkeit in der Familie versinken. Die Lobeshymnen ob der Aufstockung des Einzelplans 18, des Haushalts der Bundesministerin für Familie und Senioren, werden angesichts dieser Tatsache zur Farce, zumal auch hier der Rotstift am Werk war, bezeichnenderweise am Kostenpunkt „Förderung besonderer Hilfsmaßnahmen für Familien und ältere Menschen im Beitrittsgebiet".Die eklatante Reduzierung des Haushalts des Frauen- und Jugendministeriums wird vor allem mit dem ab 1. Juli bestehenden Wegfall der Bundeszuschüsse für den Erhalt von Kindereinrichtungen in den neuen Bundesländern begründet. Gekürzt wird also genau da, wo das Geld so dringend gebraucht wird, damit Frauen eine realistische Chance zur Wahl bzw. zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben.Statt die Beteiligung des Bundes an den Kosten für die Kindertagesstätten in der ehemaligen DDR über den 30. Juni hinaus zu verlängern, zieht sich der Bund aus der Verantwortung und überläßt Länder und vor allem Kommunen ihrem Schicksal,
obwohl deren finanzielle Situation genau bekannt ist. Damit wird billigend in Kauf genommen, daß eine bedarfsgerechte Versorgung vor allem bei kleineren Gemeinden und in ländlichen Gebieten nicht mehr aufrecht erhalten werden kann.
Der Wegfall der Bundeszuschüsse bringt nicht nur die Kommunen in finanzielle Bredouille. Insbesondere einkommmensschwache Eltern und Alleinerziehende sind davon betroffen, weil der von ihnen selbst zu erbringende Kostenanteil für sie zum Problem wird.Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu dem zunächst zweifellos als große Entlastung wirkenden Runderlaß der Bundesanstalt für Arbeit vom 3. Juli 1991 zum Einsatz von ABM-Kräften in Tageseinrichtungen für Kinder machen. Diese Maßnahme stellt in der Tat nicht mehr als eine kurzfristige Entspannung der Lage und damit keine wirkliche Lösung des Problems dar; denn die Betroffenen haben bei weitem keine Garantie für eine spätere Übernahme in ein festes Arbeitsverhältnis. Im übrigen ist der Griff in die Kasse der Arbeitslosenversicherung eigentlich schon ein Skandal für sich, denn die Versicherten müssen mit ihren für Lohnersatz bei Arbeitslosigkeit und für Qualifizierung eingezahlten Beiträgen herhalten, um eine staatliche Regelaufgabe, die Kinderbetreuung, zu finanzieren.Meine Damen und Herren, was könnte das von der Bundesregierung geprägte konservative Frauenbild mehr entlarven als die jüngsten, wenn auch keinesfalls überraschend kommenden Vorschläge der Union zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs in Ost und West? Trotzdem bin ich immer wieder erschüttert, wie selbstverständlich mittels staatlicher Gewalt in das Leben von Frauen eingegriffen und über sie verfügt wird.
Mit ihrem starren Festhalten an einer grundsätzlichen Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs, der alleinigen Entscheidungsbefugnis des Arztes bzw. der Ärztin und der beabsichtigten Indikationsverschärfung erweist sich die CDU/CSU einmal mehr als zutiefst frauenfeindlich.
Frauen wird hier jede Entscheidungsmöglichkeit genommen.Die Ärztinnen und Ärzte sollen verpflichtet werden, wesentliche Gesichtspunkte schriftlich festzuhalten. De jure mag es noch den Anschein haben, daß es sich nur um eine geringfügige Änderung des bestehenden West-Rechts handelt. De facto ist die Indikation damit so weit verschärft, daß sich kaum ein Arzt und kaum eine Ärztin finden wird, einem legalen Schwangerschaftsabbruch zuzustimmen. Denn Memmingen hat eines klargemacht: was von den Gerichten zu erwarten ist. Die Zahl der Abtreibungen wird sich dadurch nicht verändern; die Zahl der illegalen Abtreibungen wird wieder zunehmen. Die Frauen werden auch hier bitter bezahlen müssen.In der Tat war und ist die Haltung zum Schwangerschaftsabbruch der Kristallisationspunkt für das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Denn das Recht, über die Anzahl ihrer Kinder sowie über den Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder selbst zu entscheiden, ist und bleibt der Indikator dafür, wieviel Entscheidungsfreiheit den Frauen für ihre gesamte Lebensgestaltung zugebilligt wird.Den Befürworterinnen und Befürwortern des § 218 ging und geht es doch nicht wirklich um die Verhinderung von Abtreibung. Ihr Ziel war und ist es, den Mythos der duldenden, aufopferungsvollen Mutter aufrechtzuerhalten,
die es erträgt, daß sich der Staat mit dem Abtreibungsverbot den Zugriff auf die Gebärfähigkeit der Frau sichert.
— Ich glaube das, was ich sage. Das ist doch sehr deutlich.Im Rahmen der unmittelbar bevorstehenden parlamentarischen Debatte über die Neuregelung des § 218 wird sich die PDS/Linke Liste mit ihrem Gesetzentwurf zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und zur Sicherung von Mindeststandards für Frauen beim Schwangerschaftsabbruch mit diesen Positionen dafür einsetzen, daß ein altes Symbol pat-
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Petra Blässriarchalischer Herrschaft abgeschafft wird und eine Regelung geschaffen wird, die sich strikt an Würde und Wohl der Frau orientiert.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Ausführung machen: Angesichts der jetzt massiv auf die Frauen in den neuen Bundesländern einwirkenden Tendenzen einer systematischen Herausdrängung aus dem Berufsleben, einer eindeutigen „Zurück-an-Heim-undHerd-Ideologie", der Festschreibung ihrer alleinigen Verantwortung für Kinder, Familie und Haushalt, einer damit verbundenen neuen Abhängigkeit vom Mann und dem Verlust an ökonomischer Selbständigkeit sowie der akuten Gefahr einer Fremdbestimmung über den eigenen Körper bleibt nur zu hoffen, daß sich die Frauen zur Wehr setzen,
dies alles nicht widerstandslos hinnehmen, sich gemeinsam zur Wehr setzen, ihre Rechte einfordern.In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat aus der Frauenzeitschrift „Y" schließen: „Erfraut euch, erfrecht euch zum Widerspruch, als da heißt: Frauen, macht deutlich, daß eine solche frauenfeindliche Politik nicht hingenommen wird, und zwar überall in der Republik."Danke.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt Frau Abgeordnete Dr. Gisela Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schwerpunkt meiner Ausführungen wird die Pflegeversicherung sein. Aber ich möchte zwei Bemerkungen vorweg machen, eine an die Adresse von Herrn Kollegen Dreßler. Es ist ja schön, daß Sie den Strahlenkranz hinter dem Haupt der SPD polieren und alles Schöne daran aufhängen. Unter den Verdiensten führen Sie auch an, Herr Dreßler, Sie und die SPD hätten dafür gesorgt, daß die Rentenversorgung der Ballettänzerinnen und Molekularbiologen in der ehemaligen DDR nicht gekürzt worden sei. Dies ist schlicht falsch.
— Wir haben kein Fallbeil, wir haben eine Kürzung weder vorgehabt noch durchgeführt. In den Verhandlungen ist es gelungen, festzulegen — die FDP hat daran großen Anteil — , daß die Kürzung der Renten auf ganz wenige Personengruppen beschränkt bleibt. Sie waren daran auch beteiligt. Diese Feststellung ist zur Richtigstellung notwendig. Alles andere ist falsch.
Zweite Bemerkung. Heute steht das Frauenthema § 218 zur Debatte. Daher bin ich etwas betroffen, Frau Merkel, daß Sie in Ihrer Rede nicht darauf eingegangen sind. Ich hatte gehofft, Sie würden eine Berner-kung machen, die zeigt, wie schwierig es für Sie derzeit ist, die Interessen der Frauen in den neuen Bundesländern in dieser Frage angemessen zu vertreten.
Die FDP hofft, daß es mit ihrem Entwurf gelingt, die Frau in ihrer schweren Konfliktlage mündig und selbständig entscheiden zu lassen. Mit unserem Entwurf, der die Pflichtberatung vorsieht, sehen wir die Lösung, die die freie Entscheidung der Frau in ihrer Konfliktlage und die Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht seinem Urteil zugrundegelegt hat, in Einklang bringt.
Was sich dagegen jetzt im Entwurf der CDU abzeichnet, ist eine Verschärfung, eine Entmündigung der Frau und eine Überforderung der Ärzte.
Die Ärzte werden sich entschieden dagegen wehren, psychosoziale Notlagen in irgendeiner Weise mit der Frau zu diskutieren und protokollarisch festzuhalten.
Daher biete ich den Frauen der CDU-Fraktion politisches Asyl in unserer Fraktion an, so daß sie unserem Entwurf zustimmen können.
Wir werden noch zur eingehenden Beratung dieser Fragen kommen, aber mir scheint es wichtig, daß in diesem Zusammenhang klarzustellen.Die politischen Auseinandersetzungen sind in der Regel bewußtseinserhellend, und beim großen Thema Pflegeversicherung haben wir schon mehrere Runden hinter uns. Ein Vorteil ist, daß die Öffentlichkeit sich nicht über mangelnde Transparenz in diesem Bereich beklagen kann. Das wird laut und deutlich auf dem Markt ausgetragen. Ein weiterer Vorteil liegt dann, daß bis in den letzten Winkel der Republik die Botschaft gedrungen ist: Wir müssen eine Lösung für das Problem der pflegebedürftigen und in der Regel alten Menschen und der Kosten ihrer Versorgung finden. Insofern ist auch von seiten der FDP dem Bundesarbeitsminister Norbert Blüm — ich bedauere, daß der Bundesarbeitsminister das nicht hört — Dank für die Unermüdlichkeit und Verve abzustatten, mit der er die Trommel rührt und politisches Handeln anmahnt. Jedem muß klar sein, was heute vor allem den älteren
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Dr. Gisela BabelMitbürgern vor Augen steht und was die mittlere und jüngere Generation gern verdrängt: daß wir alle am Ende unseres Lebens unter Umständen hinfällig und völlig auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sein können. Erst wenn dies nicht mehr verdrängt, sondern als Lebensrisiko angenommen wird und jedem die Kosten bewußt sind, wächst die Bereitschaft, Vorsorge zu treffen, eine Versicherung abzuschließen und auch den eigenen Beitrag für sinnvoll zu erachten.Die Wege zu diesem gemeinsamen Ziel gehen derzeit in verschiedene Richtungen. Der Bundesarbeitsminister baut in seinem Modell nur — ich sage das sehr knapp — für hier und jetzt, die FDP auch für morgen und die Zukunft. Der Bundesarbeitsminister befriedigt ausschließlich die Bedürfnisse von heute, nimmt Geld von Arbeitnehmern und Arbeitgebern und gibt es gleich für die heute Pflegebedürftigen aus. Die FDP will ein langfristig tragbares Versicherungssystem, das auch in der nächsten Generation hält und Überlastungen verhindert. Aber auch die FDP will mit ihrem Modell, daß heute Pflegebedürftige Leistungen erhalten. Darüber kann man streiten, und darüber muß man streiten, weil die Folgen der Entscheidungen von sehr vielen und von uns allen zu verantworten sind. Aber es sollte meiner Meinung nach etwas fairer zugehen.Herr Minister Blüm, Sie schüren die Angst alter Menschen vor einer anderen Lösung als der Ihren. Sie sagen, nur Ihre Lösung sei einfach, sicher und solidarisch. Das, was die anderen vorhätten, sei kompliziert, unsicher und eigennützig.
Sie verwenden das Wort „privat" vor dem Wort „Versicherung" als Ausdruck von Egoismus und Extravaganz, etwas, was sich nur reiche Leute leisten könnten. Abgesehen davon, daß diese Sprache der linken Seite dieses Hauses eigen ist, stimmt es auch nicht. Denn sonst wäre z. B. eine Haftpflichtversicherung unsolidarisch und unsicher.
Völlig unverantwortlich ist aber das Spiel mit den Sozialhilfeempfängern. Die Sprache geht wie folgt: Wer sein Leben lang gearbeitet hat, soll nicht wegen Pflegebedürftigkeit im Heim zum Taschengeldempfänger werden. — Was damit versprochen wird, kann niemals erfüllt werden. Durch die Leistungen der Pflegeversicherung — da ist es egal, ob nach Blüm oder SPD oder FDP — können keineswegs alle Rentner die Heimkosten tragen. Es gibt viele Bürger, mehr noch Bürgerinnen, die zu Recht behaupten, daß sie ihr Leben lang hart gearbeitet haben und die auch mit ihrer Rente zu Hause einigermaßen zurecht kommen und die doch Sozialhilfe brauchen, sobald sie in einem Heim sind, weil sie diese Heimkosten nicht bezahlen können, auch nicht mit einer Versicherungsleistung von 2 000 DM.Viele Renten liegen unter 1 000 DM. Die Verpflegungskosten oder, wie wir heute verkürzt sagen, Hotelkosten betragen über 1 000 DM. Wir sagen: Das erfüllte Leben der Bezieher einer kleinen Rente verändert sich also, nicht aber das Leben der Bezieherinnen oder der Bezieher einer durchschnittlichen und höheren Rente. Die Frage ist: Ist das richtig? Ist das moralisch? — Deswegen sage ich, man sollte von solchen Sprüchen Abstand nehmen und aufhören, so zu reden; man sollte ehrlicherweise zugeben, daß eine Pflegeversicherung nur beiträgt und nur hilft, Kosten zu tragen, das Risiko aber nicht voll abdeckt.Nun zu den Zahlen, wie viele dieser im Heim Gepflegten aus der Sozialhilfe herauskommen werden. Dazu gibt es jetzt eine Studie aus Trier, stolz veröffentlicht vom Bundesministerium für Familie und Senioren. Ich kann dazu sagen: Entweder ist das eine Fußangel des dort lebenden Ministerpräsidenten, oder die Wissenschaft selbst befindet sich dort in einem äußerst pflegebedürftigen Zustand.Als Ergebnis wurde nämlich veröffentlicht, daß sich mit 2 000 DM Versicherungsleistung das Verhältnis von Sozialhilfeempfängern zu Selbstzahlern, ein Verhältnis, das wir heute bei 70 : 30 haben — das ist ein sehr bedrückendes Verhältnis — , in ein Verhältnis von 20 : 80 umkehren würde. Danach wären 20 % Sozialhilfeempfänger, 80 % Selbstzahler. Gleich steht auch diese schöne Erkenntnis in allen Reden der Minister und Ministerinnen.Meine Damen und Herren, das Gutachten ist sein Geld nicht wert. Es unterstellt durchschnittliche Heimkosten von 2 800 DM. Die heutigen Kosten liegen höher; 3 750 DM in Nordrhein-Westfalen. Allein 47 % der Sozialhilfeempfänger haben ein Einkommen unter 1 000 DM. Sie sind also schon durch Hotelkosten überfordert. Unklar ist auch, ob Gemeinden Pflegekosten mittragen, die auf Investitionen beruhen. Richtig und redlich ist also nur die Aussage, daß die Leistung einer Pflegeversicherung nur einem Teil der Sozialhilfeempfänger helfen wird. Selbst in den Reihen der CDU sind diese Fakten unbekannt. Das Gutachten gehört zum Altpapier.Zum Schluß. Unseren gesamten sozialen Sicherungssystemen, meine Damen und Herren, so bewährt und großartig sie sind, drohen in der Zukunft die Gefahren der Überlastung. Ich frage Minister Blüm als zuständigen Ressortminister: Wie hoch wird die Rentenversicherung und der Beitrag für die Bundesanstalt für Arbeit Mitte der 90er Jahre sein? Auch der Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung wird bis Mitte der 90er Jahre aller Voraussicht nach wieder steigen. Bei realistischer Betrachtungsweise liegt der Gesamtsozialversicherungsbeitrag dann bei 40 %. Dies ist ein neuer Höchststand in der Geschichte der deutschen Sozialversicherung. Sozial- und beschäftigungspolitisch wäre es in höchstem Maße verantwortungslos, auf diese 40 % noch weitere 2,5 % zu packen.Die FDP will diesen Weg nicht gehen. Sie will eine solidarische Versicherung für alle mit einem solidarischen, tragbaren Beitrag für alle. Sie will die Freiheit der Wahl von Versicherungen. Sie will auch die Freiheit der Wahl zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Vor allem will sie mit Kapitalanhäufung der heutigen Generation die Verantwortung für ihre späteren Lasten geben. Es ist nicht wahr, daß immer die junge Generation Sorge für die alte Generation trägt. Wenn Sie sich erinnern, dann wissen Sie, daß ursprünglich der Plan der Rentenversicherung
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Dr. Gisela Babeldurchaus mit dem Kapitaldeckungsprinzip gestartet worden ist. Die Vorsorge sollte durchaus durch die Beiträge für kommende Zeiten angehäuft sein.
— Gut. Jedenfalls hat das dazu beigetragen, spätere Zeiten abzusichern.Für die heute Pflegebedürftigen tritt die FDP für die Fondslösung ein.
Die Bereitschaft der Arbeitgeber, diesen Fonds zu einem erheblichen Teil zu finanzieren, ist ein positives Signal.
Meine Damen und Herren, der Arbeitsminister wäre gut beraten, wenn die Konsensbemühungen in diesem Bereich nicht einfach vom Tisch gefegt würden. Mit kompromißlosem Beharren auf den Lieblingsvorstellungen wird es bei der Pflegesicherung keinen politischen Durchbruch geben.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, das Wort hat nunmehr Frau Abgeordnete Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Runden Tisch der DDR hatte der Unabhängige Frauenverband, den ich hier vertrete, die Schaffung eines Ministeriums für Gleichstellungsfragen gefordert, das das Problem der noch immer eklatanten Ungleichheit in den Chancen für die Selbstverwirklichung von Männern einerseits und Frauen andererseits offensiv angehen sollte.Der vorliegende Haushaltsplan für das Ministerium für Frauen und Jugend macht insbesondere in seinem frauenbezogenen Aufgabenteil deutlich, wie sehr die Idee eines sowohl in fachlicher als auch in finanzieller Hinsicht mit Kompetenz ausgestatteten Ministeriums für Gleichstellung — sei es auch Ministerium für Frauen genannt — pervertiert werden kann. Ganze zweieinhalb Milliarden DM werden diesem Ministerium als Etat für das Jahr 1992 zugebilligt. Das ist die gleiche Summe, die das Ministerium für Verteidigung in zweieinhalb Wochen verbrauchen darf.Frau Merkel hat hier das wirklich beachtenswerte Kunststück fertiggebracht, dieser überaus fatalen Lage auch noch positive Aspekte abzugewinnen. Aber wahrscheinlich ist das genau die Eigenschaft, die man braucht, um in diesem Kabinett bestehen zu können.
Mit diesem Etat hat das Bundesministerium für Frauen und Jugend einen Anteil an den Gesamtausgaben der Bundesregierung von sage und schreibe 0,6 % und liegt damit nicht nur im Schlußbereich, sondern es ist auch — man höre und staune — das Ministerium mit der prozentual höchsten Einsparungsquote gegenüber 1991. Eine derartige Einsparung von fast einem Drittel der Ausgaben glaubte sich die Bundesregierung bezeichnenderweise nur in diesem Bereich leisten zu können. Geschafft hat sie das vor allem durch den Wegfall der anteiligen Finanzierung der Kindertagesstätten in den ostdeutschen Bundesländern. Der Wegfall genau dieser anteiligen Bundesfinanzierung macht die Kindertagesstätten zu einem Hauptfeld kommunaler Sparpolitik. Aber vermutlich ist der Herr Waigel darauf auch noch stolz.Die Schließung von Einrichtungen und die Entlassung von Personal gibt es in Sachsen ebenso wie in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo. Das jüngste Beispiel liefert Berlin, wo versucht wird, 2 500 Erzieher und Erzieherinnen vor allem durch die Verkürzung der Öffnungszeiten der Kindertagesstätten und durch die Überführung in freie Trägerschaft einzusparen, begleitet von einer Debatte um vermeintliche Überkapazitäten und nicht ausgelastete Einrichtungen.Da, wo die Kindertagesstätten noch nicht geschlossen und die Öffnungszeiten noch nicht auf das Westniveau heruntergedrückt wurden, tun die Beitragssätze für die Betreuung eines Kindes in einer Tagesstätte das ihrige, um die Zahl der Betreuungsplätze auf das gewünschte Maß zurechtzustutzen. Ein Kinderbetreuungsplatz ist gegenwärtig kaum unter 60 DM pro Kind zu haben. Bei diesem Beitrag müssen sich vor allem arbeitslose Eltern die Frage stellen, ob er für sie noch finanzierbar ist.Sieht frau sich also den Einzelplan 17 etwas genauer an, offenbart sich absolut mühelos die Alibifunktion, die dieses Ministerium in bezug auf Frauen in der Bundesregierung zu erfüllen hat. Ganze 20 Millionen DM weist dieser Plan unter dem Titel für Arbeiten und Maßnahmen auf dem Gebiet der rechtlichen und sozialen Stellung der Frau aus. Das ist so ziemlich die einzige Summe, die im Teil „Allgemeine Bewilligungen" frauenbezogen geplant wurde. Mit diesen mickrigen 20 Millionen sollen dann solche „Kleinigkeiten" wie die Wiedereingliederung von Frauen nach der Familienphase, der Bereich Frauen und Erwerbstätigkeit, die Verbesserung der Situation von Mädchen und Frauen in den Bundesländern generell, der Schutz von Frauen und Mädchen gegen Gewalt usw. gefördert werden.Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich fordere Sie unter diesen Bedingungen wirklich ernsthaft auf, das Gerede von der Gleichberechtigung als Zielvorstellung Ihrer Politik zu beenden.
Seien Sie doch endlich einmal ehrlich und erklären Sie vor allem den Frauen in den ostdeutschen Ländern, daß es Teil Ihres Plans „Deutsche Einheit" ist, Frauen aus der Erwerbstätigkeit auszugrenzen und die volle Verfügbarkeit von Männern für den sogenannten Aufschwung Ost dadurch zu sichern, daß Frauen die Verantwortung für Heim, Herd und Kinder allein zugeschoben wird!
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3201
Christina SchenkHerr Franke spricht es offen aus: Ziel arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen ist es, die Quote der erwerbstätigen Frauen in den ostdeutschen Bundesländern von mehr als 80 % auf das altbundesdeutsche Niveau von 55 % zu senken. Dies widerspricht zwar dem im Einigungsvertrag formulierten Anspruch, nämlich Regelungen zu finden, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sichern, aber Regierungspolitik ist offensichtlich nicht nur Politik der Steuerlüge oder der Mietenlüge — ganz zu schweigen von der Lüge, keinem solle es schlechter gehen —,
sondern die Politik dieser Regierung beinhaltet auch die Lüge von der Gleichbehandlung von Frau und Mann.Die Arbeitsmarktstatistik macht deutlich, daß man dem von Franke formulierten Ziel von Monat zu Monat langsam, aber stetig näher kommt. Der Anteil der Frauen an den Erwerbslosen liegt in den ostdeutschen Bundesländern bereits bei fast 60 %, Tendenz steigend. Es gibt Regionen, in denen sich der Frauenanteil an den Erwerbslosen der 70-%-Marke nähert. Ich meine, da ist noch ein bißchen zu tun, um dieser Zielvorstellung von 55 % generell nahezukommen; aber man wird da nichts unversucht lassen.Demgegenüber weist die Statistik einen beständig rückläufigen Anteil der Frauen an den Wiedervermittelten aus. Erhielten Frauen im Durchschnitt der letzten 12 Monate, des letzten Jahres also, rund 40 % der neu vermittelten Arbeitsplätze, so waren es im Juli 1991 nur noch 38 %.Augenfällig ist auch der bei knapp 46 % liegende Anteil von Frauen an den Kurzarbeitern und Kurzarbeiterinnen. Frauen werden eher gefeuert als Männer. Gefragt ist der deutsche Mann, der nicht älter als 40 ist und der eine Frau im Hintergrund hat, die seine Verfügbarkeit sichert.„Sich mit eigener Hände Arbeit ernähren zu können ist eine Grundvoraussetzung menschenwürdiger Existenz." Niemand anders als der Bundesarbeitsminister, der Herr Blüm, hat diesen überaus bemerkenswerten Satz gesagt. Betrachtet man nun die Politik der Bundesregierung vor diesem Hintergrund, bleibt nur noch die Frage, ob im Verständnis dieser Bundesregierung Frauen keine Menschen sind.
— Das stimmt; es ist wirklich die Höhe.
Es ist kein Wunder, daß bei einer repräsentativen Umfrage in der ehemaligen DDR, bei der Frauen danach befragt wurden, wie sie ihre persönliche Situation gegenüber der Zeit von vor anderthalb Jahren einschätzen, 42 % aller Frauen sagten, daß sich ihre Situation verschlechtert hat.
Nur 20 % der Frauen fanden, daß sich ihre Situation verbessert hat. — Es ist wirklich einfach „under level" , darüber jetzt noch zu diskutieren.Maßgebenden Politikern, wie beispielsweise Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, ist in dieser Hinsicht jegliches Problembewußtsein, jegliche Sachkenntnis abzusprechen, wenn er und auch andere im Zusammenhang mit der rapide zunehmenden Zahl weiblicher Erwerbsloser davon sprechen, daß es sich dabei um die normale Rückführung übersteigerter weiblicher Erwerbsbeteiligung in der Ex-DDR handele. Solche Äußerungen verraten die zutiefst patriarchale Denkweise solcher Politiker.Die Frage ist im Grunde genommen eine ganz andere: Wann wird endlich mit der Rückführung der übersteigerten Erwerbstätigkeit westdeutscher Männer begonnen? Denn eine solche liegt doch zweifellos vor, wenn insbesondere westdeutsche Männer sich nur zu einem lächerlich geringen Anteil an Hausarbeit und Kinderbetreuung beteiligen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, es bleibt dabei — ein nächster Aspekt — : In bezug auf den § 218 favorisieren die herrschenden Parteien offenbar und völlig entgegen den offiziellen Verlautbarungen das Prinzip Strafe statt Hilfe. Während Maßnahmen zur Verhinderung ungewollter Schwangerschaften, sprich: die kostenfreie Abgabe von Verhütungsmitteln, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR durch den Bund eingestellt wurden, während das Netz der Kindertagesstätten, die für Frauen und natürlich auch für Männer für ein gedeihliches Zusammenleben mit Kindern unverzichtbar sind, Zug um Zug abgebaut werden, droht den Frauen im Osten die Geltendmachung des § 218. Die Bundesregierung will offenbar den Abbau sozialer Maßnahmen durch die Einführung der Bestrafung von Abtreibungen nachhelfend begleiten. Sie will der zunehmenden und auf Grund der gegenwärtigen Situation in der ehemaligen DDR auch wohlbegründeten Unlust ostdeutscher Frauen, Kinder zu gebären, mit dem Knüppel des Strafgesetzbuches begegnen.Ginge es nach der CDU/CSU, deren Grundvorstellungen zum Umgang mit ungewollten Schwangerschaften ohnehin schon einen Anachronismus auch und gerade im europäischen Maßstab darstellen, soll das Verfahren auf unerträgliche Weise verschärft werden. Die Forderung, daß die Ärztin oder der Arzt schriftlich niederlegen muß, welche Gesichtspunkte für sie bzw. ihn maßgebend waren, das Vorliegen einer psychosozialen Notlage zu akzeptieren, zielt nicht darauf ab, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu senken. Ich setze einmal ganz optimistisch voraus, daß inzwischen auch bei Ihnen hinreichender Sachverstand vorhanden ist, um das endlich zur Kenntnis zu nehmen. Es geht vielmehr darum, die Bedingungen für die Frauen, die abtreiben wollen, weiter, und zwar drastisch, zu verschärfen. Strafe statt Hilfe, wie ich eben schon sagte.Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Frauen in Ost und West, der Haushalt des Bundesministeriums für Frauen und Jugend zeigt also abermals ganz deutlich, was auch an dieser Stelle schon mehrmals gesagt wurde: Frauen haben keine Lobby, weder in der Regierung noch innerhalb der etablierten Par-
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3202 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Christina Schenkteien. Für Frauen ist es daher notwendig, ein politisches Gegengewicht zu bilden. Angesichts der politischen und sozialen Lage in der vereinigten BRD ist es notwendig, bestehende feministische Strukturen zu erhalten und neue Zusammenhänge zu bilden. Das gilt für Frauen in Ost und West; das gilt für Ausländerinnen; das gilt für Inländerinnen; das gilt für Lesben; das gilt für Heteras.Den Feministinnen in der ehemaligen DDR ist etwas gelungen, was den Westfrauen bisher mißlang. Sie haben eine überregionale politische Organisation, den Unabhängigen Frauenverband, UFV, aufgebaut, der ja immerhin durch zwei Abgeordnete in diesem Bundestag vertreten ist. Die kommenden Monate werden zeigen, ob es Frauen im Westen gelingt, ähnliche Strukturen aufzubauen. Ich meine, daß ist ein lohnendes Unterfangen und die einzig angemessene Antwort auf die frauenfeindliche Politik dieser Regierung.
Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr Frau Abgeordnete Maria Michalk.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte zum vorliegenden Haushaltsentwurf hat gezeigt, daß der Finanzbedarf für die Bewältigung der anstehenden Aufgaben sehr, sehr hoch ist. Der Finanzminister hat Haushaltsdisziplin angemahnt; dies ist vernünftig. Die guten finanziellen Voraussetzungen für den Vollzug der deutschen Einheit hätten wir mit Sicherheit nicht gehabt, wenn der Finanzminister der Bundesregierung nicht permanent seit 1983 angemahnt hätte: Jede Mark muß zweimal umgedreht werden. Dies tun wir als Hausfrauen ja schließlich ebenfalls, und dies haben — so habe ich mir erzählen lassen — die Leute in den alten Bundesländern vom Kriegsende bis jetzt in diese Zeit hinein ebenfalls getan. Deshalb konnten sie sich auch so viel schaffen. Das hat letztlich zur Stabilität der Mark beigetragen, die nicht in Frage gestellt werden darf.
Allzu leicht kann es geschehen, daß man den Blick für die Relationen und Dimensionen der hier in der Debatte genannten Zahlen verliert. Deshalb will ich als erstes eine Zahl nennen, die sehr, sehr gering ist, die aber für die Berechtigten mehr als ein Zeichen guten Willens ist. Ich meine die Erhöhung des Erstkindergeldes auf 70 DM. Daneben steht die Anhebung des Kinderfreibetrages auf 4 104 DM. Die Aufnahme dieser beiden Maßnahmen zeigt, daß nicht nur Ausgabendisziplin ein Haushaltskriterium ist, sondern daß auch, was die Koalitionsvereinbarung angeht, die Durchsetzungsdisziplin für die Bundesregierung eine Selbstverständlichkeit ist.
Dabei will ich ausdrücklich verweisen, wenn ich eine Reihe von Maßnahmen nenne, die wir in den Entwurf unseres Gesetzes zum Schutz des ungeborenen Lebens aufgenommen haben, da die Rahmenbedingungen für unsere Familien, die Alleinerziehenden, die Kinder überhaupt verbessert werden müssen, wenn wir ein stärkeres Ja zum Kind erreichen wollen, was, wie ich gehört habe, Sie alle ja auch wollen.Wesentliche Gesichtspunkte neben den Regelungen zum Familienlastenausgleich sind die Verlängerung des Erziehungsurlaubs, die Erhöhung des Erziehungsgeldes auf 750 DM und die Verlängerung der bezahlten Freistellung zur Pflege kranker Kinder. Ich nenne des weiteren z. B. den Regreßausschluß bei Sozialhilfeempfängern, die Einführung des Familiengeldes, wodurch eine Entlastung der Stiftung „Mutter und Kind" und die Zurückführung dieser auf die eigentlichen Stiftungszwecke erreicht werden. Die Verbesserung der Unterhaltsvorschußzahlung ist genauso wichtig wie der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz und die Entlastung der Eltern bei Kinderbetreuungskosten.Nun nenne ich noch eine Maßnahme und einen Diskussionspunkt, den ich in Ihren Entwürfen nicht gefunden habe. Ich denke, daß die Dynamisierung des Kindergeldes auch ein wesentliches Kriterium ist.
Um das Wissen über den Wert des ungeborenen Lebens zu vergrößern, müssen mehr Informationsmaterialien bereitgestellt werden, und zwar vor allem in den neuen Bundesländern.Ein ebenso wichtiges Kriterium für die Konfliktbewältigung ist die verbesserte Bereitstellung von Wohnraum. Begrüßenswert ist heute schon das Programm zur Wohnungssanierung in Selbsthilfe für Familien und Alleinerziehende, die ein Kind erwarten. Im Hinblick auf das derzeit unzureichende Wohnungsangebot, nicht übersehbare bauliche Mängel in den neuen Bundesländern und vergleichsweise modernisierungsbedürftige Ausstattungsstandards kann durch die Gewährung von Zuschüssen bis zu 20 000 DM je Wohnung die Wohnsituation von Familien und Alleinerziehenden jetzt schon nachhaltig verbessert werden. Neben Zuschüssen können darüber hinaus für den Erwerb von Wohneigentum Darlehen bis zur Höhe von 10 000 DM in Anspruch genommen werden.Die Gewährleistung dieser Rahmenbedingungen ist jedoch keine rein äußerliche Vermittlungsfunktion, sondern wird vielmehr die moralische Grundlage des Staates sein, der Verpflichtung im Grundgesetz für ganz Deutschland nachzukommen, das Kind, das in seiner Einmaligkeit wächst, mit der Mutter und dem Vater zu schützen. Das heißt, daß alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um möglichst viele unerwünschte Schwangerschaften zu vermeiden und bestehende zu erhalten.Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Bemerkung. Wir führen gegenwärtig eine Haushaltsdebatte. Ich habe Ihre Ausführungen zu § 218 nicht verstanden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3203
Maria MichalkWenn Sie vom Schutz sprechen und gleichzeitig die Tötung meinen, dann sagen Sie es bitte auch so deutlich.
Im übrigen haben wir im September noch genügend Zeit, denke ich, uns zu diesem Thema auszutauschen.
— Deshalb möchte ich jetzt auch keine Zwischenfrage beantworten.
Mit dem Vollzug des Einigungsvertrages sind in den ostdeutschen Bundesländern bereits eine Reihe von Maßnahmen in Kraft getreten, die die materielle Situation der Familie verbessern. Auf Grund der niedrigen Einkommen dort sind diese Leistungen geboten, um zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse zu gelangen. Kindergeld und Kindergeldzuschlag verbessern die Einkommenssituation der Familien in den neuen Ländern. Das Kindergeld für 3,8 Millionen Kinder wird inzwischen auch von allen Anspruchsberechtigten in Anspruch genommen.Ebenfalls bewährt hat sich das Bundeserziehungsgeldgesetz, das seit dem 1. Januar 1991 auch in den neuen Bundesländern gilt. Die Ausgaben werden inzwischen auf 530 Millionen DM geschätzt zuzüglich 670 Millionen DM für Unterstützungszahlungen an Mütter, deren Kinder vor dem 1. Januar geboren wurden.Bei der Pflege und Betreuung hilfsbedürftiger Angehöriger sind Familien zu unterstützen und zu entlasten. Dieses Anliegen wird gegenwärtig zu einem politischen Schwerpunkt in der Diskussion. Im Rahmen der Auseinandersetzung um eine praktikable Lösung zur Abdeckung des finanziellen Risikos bei Pflegebedürftigkeit — diese Frage wurde zuerst von unserer Fraktion in Angriff genommen; wir lassen uns bewußt Zeit dafür, weil wir meinen, daß man das auch ordentlich machen muß — will ich jetzt schon anmelden, daß wir uns der Frage der Verantwortlichkeit von jung für alt und umgekehrt widmen sollten.In diesem Zusammenhang wird auch notwendig sein, das von der Bundesregierung vorgesehene Berufsbild des Altenpflegers zu schaffen, damit die Betreuung pflegebedürftiger Personen durch qualifziertes Fachpersonal sichergestellt werden kann.Ein erheblicher Nachholbedarf besteht bei den Einrichtungen der Altenpflege in der ehemaligen DDR. Einer Schätzung der freien Wohlfahrtsverbände zufolge ist die enorme Summe von 10 Milliarden DM zu veranschlagen. Das ist kein Pappenstiel. Der durchschnittliche Verschleiß liegt bei über 30 %. Das durchschnittliche Alter der Gebäude beträgt rund 50 Jahre. Man muß sich einmal vergegenwärtigen, welche riesige Aufgabe da auf uns alle zukommt, die wir mit Sicherheit aber meistern werden.Im Bereich Frauen und Jugend ist eine deutliche Anhebung des Etats im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen.
Das bringt letztlich auch die Bedeutung zum Ausdruck,
die die Bundesregierung diesem Bereich zumißt. Um den Frauen die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit zu erleichtern, sieht die Bundesregierung z. B. die Finanzierung von Beratungsstellen für Beruf srückkehrerinnen mit 30 Millionen DM vor. 25 Millionen DM stehen den Arbeitgebern als Einarbeitungszuschüsse für Frauen zur Verfügung. Das kann man nicht trennen, das muß man im Zusammenhang sehen.
In den neuen Bundesländern sind die Frauen überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Hier stimmen wir überein. Deshalb sage ich von dieser Stelle aus, daß, nachdem die Mittel für AB-Maßnahmen aufgestockt worden sind, nunmehr die Frauen anteilig stärker in die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einbezogen werden müssen. Die Frauen sind verunsichert und suchen zunächst einen gesicherten Arbeitsplatz, weil sie Vorurteile haben. Die Vorurteile gegenüber den ABM-Stellen sind unbegründet. Es werden wirklich wichtige Arbeiten in Angriff genommen.
Arbeit ist genug da. Fährt man durch die Städte und Gemeinden, kann man sehr wohl sehen, was dort geschieht.
Lassen wir an dieser Stelle bewußt unsere Frauen mitarbeiten! Das ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam in Angriff nehmen können.
Noch einem Punkt möchte ich mich zuwenden. Drei Bundesländer gibt es nunmehr, die einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz beschlossen haben. Das ist für die Frauen eine beachtliche Entlastung. Sie sind nicht mehr verkrampft, wenn sie einer Beschäftigung nachgehen wollen.
— Doch, das hat schon etwas für sich. Ich kann es Ihnen erläutern. Berufstätigkeit und Kindererziehung waren für Frauen in der DDR keine Alternative, sondern mußten miteinander vereinbart werden. Sie sind auf diese Lebensumstände eingestellt, auch jahrelang geprägt. Sie haben deshalb verständliche Schwierigkeiten, das zeitlich nacheinander zu tun. Deshalb wäre es sehr zu begrüßen, wenn auch die anderen Bundesländer den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchsetzen könnten. Hierbei können uns
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Maria MichalkSie von der SPD in den Ländern, in denen Sie regieren, wirklich sehr helfen.
Letztlich ist das eine Forderung im Rahmen des Katalogs der Maßnahmen, die übrigens nicht nur von unserer Fraktion für unverzichtbar gehalten werden.
Nun lassen Sie mich noch einen Blick in den Bundesjugendplan werfen. Er ist schon beachtlich. Von 1990 auf 1992 gibt es eine Steigerung um rund 70 Millionen DM. Das bedeutet ein Anwachsen der finanziellen Mittel um mehr als 50 %. Noch gibt es vor allem in den neuen Bundesländern nicht flächendeckend ein pluralistisches Angebot an Jugendvereinen. Ich verweise auch auf die leider immer noch nicht ausreichenden Freizeitangebote. Dazu zählen ebenso Möglichkeiten der sportlichen Betätigung, privat, aber auch im Austausch. Die finanziellen Sorgen in so manchem Sportverein wirken lähmend, da man gewohnt war, daß — wie man das mit einem Hätschelkind so tut — manche Subvention verbucht werden konnte. Meine Besuche in Sportvereinen und die Gespräche mit jungen Menschen haben gezeigt, daß durchaus erkannt wurde, daß Eigeninitiative ausschlaggebend ist. Das ist ganz wichtig. Der ganz bewußte Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel — sie werden nicht mehr hinausgeschleudert — prägt das Verständnis für finanzielle Relationen und fördert das bewußte Wirtschaften. Das brauchen wir auch für die Zukunft. Nicht maßlose Forderungen und das Hinnehmen als Selbstverständlichkeit, sondern das Einordnen in gegebene Rahmenbedingungen sind ausschlaggebend für das eigene bewußte Gestalten unserer jungen Menschen.Die Mittel für internationale Jugendarbeit sind innerhalb von zwei Jahren immerhin um 1,779 Millionen DM gesteigert worden. Zu begrüßen sind auch die Programme, die nunmehr für die Jugendlichen in den neuen Bundesländern zum Tragen kommen, der deutsch-sowjetische Jugendaustausch, der deutschpolnische Jugendaustausch und die deutsch-französischen Jugendaustausche ohnehin.Ich möchte auch herausstellen, daß von 203 Millionen DM des Bundesjugendplanes 20 Millionen DM für Projekte gegen Gewalt bei Jugendlichen eingesetzt werden. Das sind 10 %. Sicher hätten wir dieses Geld besser für andere Dinge einsetzen können. Das zeigt jedoch, wie ernst es der Bundesregierung mit konkreter Hilfe ist.Ein weiterer Beweis stellt sich in der Lehrstellensituation dar. Ich erinnere mich gut an die Schlechtwettermalerei: Die Jugendlichen werden auf der Straße liegen. Großartige Bereitstellung finanzieller Mittel durch die Bundesregierung, aber auch viele Initiativen vor Ort, für die ich mich von dieser Stelle aus ausdrücklich bedanken möchte, haben bewirkt, daß wir das Ziel, unseren Schulabgängern zu einer Lehrstelle zu verhelfen, erreichen werden. Es gibt natürlich Disproportionen in den Berufswünschen. Von Sachsen kann ich z. B. sagen, daß dies vor allem im Bau-, Baunebenhandwerk, in Metall- und Elektroberufen der Fall ist. Dort sind noch Lehrstellen vorhanden.Nun möchte ich mich noch einem Punkt zuwenden. Hervorheben möchte ich die Bemühungen der Bundesregierung hinsichtlich der Drogenprävention. Gerade dieses Problem gewinnt leider auch in den neuen Bundesländern an Bedeutung. Die Aufstockung der Mittel für das Jahr 1992 für Maßnahmen der angewandten Psychohygiene, insbesondere gegen Suchtgefahr, auf 30,5 Millionen DM, bietet einen guten Ansatz, Angebote der Drogenhilfe durch zusätzliche Modelle zu erweitern, um mehr Abhängige als bisher zu erreichen, weil in unserer Gesellschaft eben keine Ausgrenzung erfolgen kann.Weil ich gerade von Modellen gesprochen habe, möchte ich noch eine Anmerkung machen zu den Zwischenrufen im Bereich der Gesundheitspolitik, daß da einiges verpaßt wurde. Da möchte ich wirklich nur sagen, man sollte einmal in die Länder fahren und schauen, welche großartigen Projekte die Bundesregierung auch in den neuen Ländern auf diesem Gebiet vollzogen hat. Ich war selbst bei der Einweihung eines Dialysezentrums in Dresden dabei. Für dieses Zentrum hat die alte Regierung, die wir Gott sei Dank nun wirklich zur Geschichte zählen können, viele, viele, unzählige Projekte gemacht und langwierige Anlaufzeiten gebraucht. In kurzer Zeit hat es die Bundesregierung unbürokratisch vollbracht, daß diesen hilfsbedürftigen Menschen sofort geholfen werden kann. Sie haben das auch mit Dankbarkeit angenommen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr Frau Abgeordnete Margot von Renesse.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst mit einem Zitat der Familienministerin Frau Rönsch beginnen, das ich so richtig finde, daß ich es gerne und oft zitiere — sinngemäß natürlich. Von Förderung der Familie, so sagten Sie bei uns im Ausschuß, kann nur der sprechen und kann man nur sprechen, wenn zunächst Gerechtigkeit für Familien hergestellt ist. Wie wahr!Also, sprechen wir zunächst von Gerechtigkeit. Diese Bundesregierung — da beißt ja nun keine Maus einen Faden ab — hat sich im letzten Jahr zweimal vom Bundesverfassungsgericht schriftlich geben lassen müssen, daß sie in den Jahren 1983 bis 1985 den Familien in verfassungswidriger Weise tief in die Taschen gegriffen hat.
— Kennen Sie ein Verfassungsgerichtsurteil?Nun geht es um die Frage: Wie geht man mit dieser Situation um? Daß man verurteilt werden kann, ist
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Margot von Renessenicht das Problem, sondern die Frage: Was macht man daraus?
Nun verhält sich die Koalition, die Bundesregierung, wie ich das als Familienrichterin sagen würde, wie ein säumiger Unterhaltsschuldner, der nur bezahlt, wozu man ihn rechtzeitig verklagt hat, und nur das, wozu er vollstreckbar verurteilt worden ist. Minimallösungen!
Dieses halte ich auch bei unterhaltspflichtigen Eltern für einen — sagen wir einmal — Skandal. Ich möchte mir hier keinen Ordnungsruf zuziehen.
Die Situation ist also die, daß nur die Familien etwas bekommen, die rechtzeitig Mißtrauen in diesen Staat und diese Regierung hatten. Andere bekommen nichts. Auch für die Zeiten nach 1985, wo wir alle wissen, Sie auch, daß die Situation nach wie vor verfassungswidrig geblieben ist, gibt es jedenfalls auf mittlere Sicht kein Licht am Ende des Tunnels. Auch hier haben wir den säumigen Unterhaltsschuldner, der den Familien schuldig bleibt, was ihnen zusteht.
Auch hier haben wir den säumigen Unterhaltsschuldner, der den Familien schuldig bleibt, was ihnen zusteht.Wenn es jetzt um die Frage geht, was ab 1992 geschieht so hörte ich hier mehrfach Redner und Rednerinnen sich als familienpolitischer Tat dessen rühmen, daß man nunmehr den Familienlastenausgleich verbessere. Dazu sind Sie vollstreckbar verurteilt. Das ist kein Geschenk, das ist Ihre verflixte Schuldigkeit.
Ob das reicht, darüber wird man noch reden müssen.Ich höre, daß im Finanzministerium eigentümliche Vorstellungen existieren, wie man den Mindestkinderbedarf berechnet — da gibt es wirklich sehr Seltsames — , und auch das wird das Verfassungsgericht nachprüfen. Die Zeitbombe mit dem Grundfreibetrag tickt, und da werden wir sehen, was Sie daraus machen.Aber das ist ja noch längst nicht genug. Das Verfahren selbst bei Ihrem dualen Kinderlastenausgleich ist in Wirklichkeit ein vierfaches: Steuerfreibetrag, Mindestkindergeld, Höchstkindergeld und Zuschlag. Nicht nur die Familien in der ehemaligen DDR, nein, auch die im Westen — auch das sage ich Ihnen aus Erfahrung, weil ich es in Prozessen erlebt habe — kommen in diesem Dickicht nicht klar. Nun ändern Sie doch endlich, denn das gehört zur Gerechtigkeit, dieses Verfahren und machen Sie daraus ein einfaches! Auch die Familienverbände, die keine linken Kaderschmieden sind, der katholische Familienverband, der evangelische, der Verein Alleinerziehender Mütter und Väter, mahnen vor allem das Kindergeld und seine Erhöhung an.
Denn beim Freibetrag — das wissen Sie — kommt bei den Familien, deren Lasten am höchsten sind, am wenigsten an. Wissen Sie, wie Sie sich dazu verhalten? Sie verhalten sich — auch da erlauben Sie mir ein Beispiel aus der Familie — wie eine Mutter, die ihrem hungrigen Kleinkind den Teller mit Essen auf den Kleiderschrank stellt und nicht auf den Tisch.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Geißler?
Erlauben Sie, Herr Geißler, ich spreche sicherlich bei anderer Gelegenheit gern mit Ihnen, aber jetzt lassen Sie mich fortfahren, denn ich habe verdammt wenig Zeit.
Ich möchte gern weitermachen,
— Nein, der Schrank wird noch höher, er wird durch das Verfahren zum Hochschrank. Wenigstens das, wenn Sie schon bei Ihrem System bleiben wollen, sollten Sie allmählich ändern. Ich meine das in erster Linie nicht als Sozialdemokratin, sondern als Familienrichterin seit 1977, die gesehen hat, daß eine Vielzahl von Familien, denen etwas zusteht, das nicht geltend machen, weil sie durch diese Kompliziertheit gar nicht mehr durchsteigen.
Nachdem wir also wissen, mindestens hinsichtlich der Gerechtigkeit fehlt es an allen Ecken und Kanten— das sind die Mindestvoraussetzungen in Ihrem Sinne, Frau Rönsch — , können wir eigentlich das Buch schon zuschlagen und sagen: Förderung spielt sich nicht ab. Das sind ihre eigenen Worte.
— Ich will mir das aber gern noch einmal angucken, was in Ihrem Etat auch in Zukunft als Förderung der Familie ausgegeben wird.Meine Damen und Herren, ich sehe zunächst einmal ein Flickwerk, das konzeptionslos ist und deswegen einen Patzer nach dem anderen enthält, bis an die Grenze der Skurrilität. Ich weiß nicht, wer in diesem Hause — es sind ja nicht viele da — überhaupt weiß, daß wir seit Anfang 1991 eine merkwürdige Blüte im Kindergeld haben. Grotesk: Die 15 DM Erhöhung für das Einzelkind . Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Es geht nicht etwa um das erste Kind, sondern um das Einzelkind, und nicht etwa jedes Einzelkind, nein, das Einzelkind (Ost). Was ist der Hintergrund? Der Hintergrund ist, daß, ob man es will oder nicht, die Leistungen der DDR, jedenfalls finan-
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Margot von Renesseziell, für die Familien mit Kindern höher waren und daß man sich diese Blöße, wohl wissend, daß das Kindergeld zu gering ist, nicht geben wollte, daß daraus ein Gefühl eines Schadens durch die Einigung wird. Das ist der Hintergrund. Dies ist konzeptionslos und verpatzt und eine Groteske ersten Ranges.
Dazu kommt: Neben Verpatztem gibt es auch Verpaßtes. Am 1. Juli 1991 ist die Freistellungsregelung für Eltern kranker Kinder in der DDR ausgelaufen. Sie wissen ganz genau, Frau Rönsch — das geht aus den Koalitionsvereinbarungen hervor — , daß unsere im Westen nicht langt, sie soll erhöht werden. Jetzt haben wir einen Zickzackkurs: Die Familien im Osten erleben also erst den Rückfall in unser, wie wir alle wissen, zu knappes System, um irgendwann — der Himmel mag wissen, wann — wird das für alle erhöht. Ich finde, so etwas ist überhaupt nicht mehr zu verstehen. Jetzt komme ich zu Überflüssigem in Ihrem Etat— und das macht bei Ihrem an sich schmalen Etat, wenn man einmal vom Kindergeld absieht, viel Geld aus — , und das ist das ungeheuer viele bunte, rosige Papier: Plakataktionen, Werbekampagnen. Aber wirklich, Frau Rönsch: Sind wir denn in einem Lande, in dem Familie mit Werbung, wie ein Ladenhüter, an den Mann gebracht werden muß?
Ich habe eine andere Vorstellung. In meinen Augen— und das sage ich sehr aufrichtig — sind Glanz und Leuchtkraft von Familie so intensiv — Untersuchungen seit 1945, soweit sie gemacht werden, machen das immer wieder deutlich —, daß eher die Sorge besteht, daß Familie mit Glückserwartung überfrachtet wird. Dazu tragen Sie bei.
Im Gegensatz zu diesen Bildern des Rosigen und Schönen betrachtet sich die deutsche Normalfamilie viel zu häufig — und ich weiß aus Eheberatung und Familiengericht, wovon ich rede — sehr leicht als ein Haufen von Versagern, von Gescheiterten — oder bestenfalls Ausnahmen. Ich halte den Familienkitsch für eine gefährliche Verführung.In diesem Zusammenhang — tut mir leid — muß ich auch den Herrn Bundeskanzler zitieren. In der Regierungserklärung vom Januar — mir zieht es immer die Schuhe aus, wenn ich so etwas höre —
wird die Familie als — hören Sie! — „Quelle menschlicher Wärme und Geborgenheit", als „Ort ... für die Vermittlung von Werten und Tugenden" geschildert. Das ist eine gefährliche Viertelwahrheit — es ist nicht ganz falsch —,
weil eben die Sorge besteht, daß Menschen, denen das bei dem schwierigen Geschäft der Alltagsbewältigung nicht jeden Tag gelingt, dann das Gefühl haben, daß sie im Grunde genommen das Vertrauen in ihre eigene Familie verlieren.Es gibt ein schönes Bild, das einen Skandal ausgelöst hat — ich hatte es in meinem Dienstzimmer — : Da sitzt die Mutter Gottes, hat ihr Kind auf dem Schoß— es liegt bäuchlings auf ihrem Schoß — und hat ausgeholt zu einem Schlag; ein sehr liebevolles, ein sehr entlastendes Bild. Das heißt: Die Mutter Gottes verhaut das Jesuskind vor drei Zeugen — sehr entlastend. Ich glaube, wir sollten nüchtern-liebevoll mit Familie umgehen und nicht kitschig. Das ist gefährlich!
Aber Familie hat ja Probleme, Familie hat ungeheure Probleme; denn die destruktiven Bedrohungen sind ungeheuer groß. Aber, meine Damen und Herren— auch meine Damen und Herren aus der CDU , die Sie manchmal das Gefühl haben, Sie müßten manches durch einen besonderen Konservativismus verdrängen — , es ist nicht die Emanzipation der Frau, und es ist nicht ihr Bildungs- und Erwerbsstreben. Und damit Sie mir als Sozialdemokratin nicht glauben müssen — denn was wissen wir denn schon von Familie? —, glauben Sie dem Familienbund der Deutschen Katholiken. Lesen Sie in der August-Nummer den Aufsatz „Keine Abkehr von der Familie".
Vielleicht werden Sie dann klüger.Die Destruktivität, die der Familie droht, haben Wissenschaftler wunderschön gekennzeichnet. Es handelt sich um die Rücksichtslosigkeit von Staat und Wirtschaft gegenüber der Familie. Da ist der Ansatz.Hier vermisse ich, Frau Rönsch, viel von dem, was Sie tun könnten. Sie waschen sich die Hände in verfassungsrechtlicher Unschuld — Sie reklamieren Unzuständigkeit, wenn es um Kindergärten geht — , gemeinsam mit Ihrer Kollegin Merkel. Wenn Sie wollten, würden Sie verfassungsrechtliche Wege finden. Aber— es ist hier mehrfach gesagt worden — es wird ja nicht gewollt.Es wird in den Räumen der Koalition immer noch ein Bild von Normalfamilie gehegt und gepflegt, das ein Prokrustesbett ist. Bitte, glauben Sie nicht, einer von uns wollte das Leitbild der erwerbstätigen Frau an die Stelle eines anderen setzen. Nein, das Prokrustesbett in der ehemaligen DDR ist uns wohl leidvoll bekannt. Wir wollen überhaupt kein Modell. Niemand soll den Freiheitsraum Familie einengen. Alles soll möglich sein — nach eigener Überzeugung und eigener Wahl.
Denn Familie ist so attraktiv, wie sie als Ort gemeinsamer Freiheit erlebt wird. Was aber erlebt wird, ist der Ort der eingeengten Freiheit. Es hat keinen Zweck, das Leitbild der Familie gegen das Leitbild der Familie (West) aus den 50er Jahren zu ersetzen. Leitbilder sind gefährlich.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Werner ?
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Ich habe schon gesagt, ich möchte gern fortfahren; tut mir leid. Sonst bringen Sie mich wirklich völlig aus dem Konzept;
dann kann ich nicht mehr weiter.
Frau Rönsch, ich vermisse schmerzlich Ihre klaren Worte auch zu dem Thema Rentenpolitik. Wir hatten gerade das Rentenanpassungsgesetz im Bundestag passieren lassen. Ich rede nicht von den Ballettratten und was weiß ich, ich rede von den Familienmüttern. Nicht Ihnen verdanken die Familienmütter(Ost), daß die Familienzeiten in der Rentenversicherung erhalten geblieben sind, und zwar Kindererziehungszeiten und Pflege. Sie verdanken es den Sozis, die doch so familienfeindlich sind.
Sie verdanken es genau genommen dem Wähler in Rheinland-Pfalz, der dazu verholfen hat, daß sich die SPD an diesem Punkt durchsetzen konnte im Sinne der Familienmütter, für die Sie leider auch in den letzten Jahren wenig getan haben. Sie haben mit der einen Hand gegeben, mit der anderen genommen.
Ich erinnere nur an den Rausschmiß der nichterwerbstätigen Mütter aus der Invaliditätssicherung, eine schwere Sache. Dazu könnte ich Ihnen auch Fälle aus meinem Berufsalltag erzählen.
Was könnte das für eine phantastische Sache sein, wenn es denn gut gestrickt wäre, nämlich der Erziehungsurlaub — eine unwahrscheinliche Möglichkeit — teuer und gut — , wenn sie richtig gemacht würde. Aber wohl wissend, daß es nur die Frauen sind, die ihn nehmen, haben Sie strukturell nichts verändert und die Einladung an die Männer nicht verstärkt.
Die Einladung, sage ich, nicht der Zwang.
Und daß dies gefährlich ist, entnehmen Sie bitte wieder diesem wirklich guten Aufsatz des FDK. Da steht nämlich — ich zitiere sinngemäß, vorlesen soll man nicht — , auf den Erziehungsurlaub solle man nicht alleine vertrauen. Denn er könne, so weitergemacht wie bisher, das Gegenteil von dem bewirken, was Familien brauchen, nämlich die Ausdehnung ihrer Freiheit, nicht ihre Einengung.
Das Leitbild der Wirtschaft von dem verfügbaren Arbeitnehmer, weil er familienfern ist, wird durch diese Form des Erziehungsurlaubs nur verstärkt. Und das ist tödlich für Mütter und für Frauen, die Mütter werden könnten, und damit für die Familien.
Ich war bei der Rentenpolitik. Ich erwarte das Ausbildungsgesetz. Wir wissen alle, eines Tages haben wir eine Pflegeversicherung. Und schon jetzt wird praktisch die nachwachsende Pfleger- und Pflegerinnengeneration knapp. Schon jetzt wissen wir kaum noch, wie wir das eines Tages strukturieren sollen. Es wird Zeit dafür, das duldet keinen Aufschub. Die gesamte Pflegestruktur, mit den Rahmenbedingungen zumindest, ist auch Ihre Angelegenheit. Wir werden Ihnen da Beine machen.
Ich vermisse auch Ihr Wort zu einer Altenpolitik, die den Namen verdient. Das Alter ist heutzutage eine lange Lebensphase und die soll voll sein von Höhepunkten. In Sonntagsreden sagen Politiker jeder Couleur gerne: Wir brauchen die alten Menschen, wir brauchen ihre Erfahrung, und wir wollen sie. Ja, wo denn? Es ist ja nicht wahr! Und dieses muß umgesetzt werden. Wir brauchen Modelle, Rahmenbedingungen für ein selbstbestimmtes, kompetentes, erwachsenes Alter.
Darauf warten wir. Wir möchten das gerne von Ihnen hören. Sonst werden wir in Vorlage treten.
Das ist auch Famlienpolitik. Denn die ältere Generation gehört dazu — zumindest in Liebe. Und daß diese Liebe immer noch trägt, sehen Sie an den vielen Pflegebedürftigen, die in der Familie und nicht im Heim gepflegt werden.
Zum Schluß: Ich weiß gar nicht, wenn ich Ihren Etat lese, wo Familienpolitik bei Ihnen stattfindet. Wir haben also eine Familienministerin, eine Parlamentarische Staatssekretärin, einen Staatssekretär, aber Familienpolitik macht im Augenblick das Verfassungsgericht — in Sachen Namensrecht, in Sachen Sorgerecht, in Sachen Familienlastenausgleich.
Meine Hoffnung setze ich im Augenblick mehr auf die Gerichte als auf alle Ministerinnen und Minister in dieser Regierung. Ich glaube, da wird auch noch manches kommen. Denn ich glaube nicht mehr, nachdem wir dieses Erlebnis mit dem Familienlastenausgleich haben, daß die Familien Sie in Zukunft mit Gerichten verschonen werden. Und recht haben sie.
Meine Damen und Herren, das Wort hat nun Frau Abgeordnete Irmgard Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau von Renesse, ich bin eben etwas erschreckt und auch zusammengezuckt.
— Herr Dreßler, bei Ihnen auch eben, als Sie die Kollegin so verunglimpft haben. Wir sind hier doch im Deutschen Bundestag und versuchen, miteinander den konzeptionell besten Weg zu gehen, das Beste für die Familie oder für die Jugend zu tun. Ein Kollege aber hat eben, als Frau von Renesse sprach, gerufen:
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3208 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Irmgard KarwatzkiIch möchte nicht so gern bei Ihnen in einer Gerichtsversammlung sein. — So kam ich mir auch vor.
— Das habe ich nicht gesagt; Vorsicht, Herr Dreßler!
Ich möchte heute etwas zum System des dualen Familienlastenausgleichs sagen, zu dem Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, am Dienstag gesprochen haben. Weil das Bundesverfassungsgericht beschlossen hat, daß auch bei gut verdienenden Familien das Existenzminimum des Kindes nicht besteuert werden darf, wollen Sie auch diesen Familien ein Kindergeld von 230 DM zahlen. Gut verdienende und weniger gut verdienende Familien erhalten also gleichermaßen ein Kindergeld von 230 DM.
Wenn Sie an Ihrem System festhalten wollen, meine Damen und Herren von der SPD, müssen Sie jede Mark, die Sie einer bedürftigen Familie zusätzlich geben wollen, auch der nicht bedürftigen Familie, also auch den Spitzenverdienern, zahlen.
Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie das von Ihnen verteidigte Prinzip des einheitlichen Kindergelds meiner Meinung nach unbedingt aufgeben.Ich gebe zu, daß Ihr Konzept im Moment die Bürger blenden kann. Für die Zukunft aber ist es keine Perspektive. Demgegenüber ermöglicht das duale System aus Kinderfreibetrag und Kindergeld eine differenzierte und bedarfsgerechte Förderung der Familie. Darum ist dieses, glaube ich, das Konzept der Zukunft.
Leistungen in der Familie entlasten die Gesellschaft. Deshalb muß die Gesellschaft die Familie entlasten. Dies ist der Grundgedanke des Familienlastenausgleichs, für den sich die Bundesregierung entschieden hat.Im Vordergrund stehen hierbei die Überlegungen, daß die Entscheidung, eine Familie zu gründen, vom Staat auch dadurch gefördert werden muß, daß die damit verbundenen finanziellen Leistungen zumindest teilweise ausgeglichen werden, daß das starke Absinken des Pro-Kopf-Einkommens in der Mehrkinderfamilie bei der Familienförderung eine besondere Berücksichtigung finden muß, daß das Einkommen, das von den Eltern selbst erwirtschaftet wird, soweit es für die Kinder benötigt wird, grundsätzlich nicht besteuert werden sollte und daß sich der Familienlastenausgleich vorrangig auf einen Einkommensausgleich zwischen Kinderlosen und Eltern mit Kindern und weniger auf eine Umverteilung der Einkommen zwischen Familien konzentriert.1983 haben wir den Kinderfreibetrag wieder eingeführt und diesen schrittweise erhöht. Wir werden ihn dynamisch weiterentwickeln. Wir haben neben dem steuerlichen Kinderfreibetrag einen Ausgleich für diejenigen Familien geschaffen, die diesen Kinderfreibetrag nicht oder nicht ganz ausschöpfen können, und zusätzlich einen Kinderzuschlag ermöglicht.Meine Damen und Herren, als ich die Ausführungen hier eben hörte, habe ich mich gefragt, was eigentlich von 1969 bis 1982 für die Familien geleistet wurde. — Nichts.
Alle Rednerinnen der Opposition haben eben bestätigt, daß wir mit der Erhöhung des Kindergeldes und mit der Einführung des Erziehungsgeldes Hervorragendes geleistet haben. Sie haben 1975 — da hatten sie schon sieben Jahre die Verantwortung — das Kindergeld so festgeschrieben. Wir haben es jetzt weiter erhöht. Ich meine, Sie sollten im Interesse der Familien dankbar sein, daß das möglich gemacht wurde.
Frau Becker-Inglau hat eben deutlich gemacht — ich möchte mich dem Dank an die Regierung anschließen — , daß mit der Steigerungsrate beim Haushalt des Ministeriums für Familie und Senioren Entscheidendes auf den Weg gebracht wurde. Es war ein großer familienpolitischer Erfolg in unserer Regierungszeit, das Erziehungsgeld für Mütter und Väter auf den Weg zu bringen. Frau von Renesse, wenn Sie jetzt sagen, wir animierten die Väter nicht genügend, das in Anspruch zu nehmen, dann kann ich diese Meinung nicht teilen; vielmehr möchte ich das unterstreichen, was Sie zur Freiheit der Familie gesagt haben.Ich unterstreiche es allerdings nicht, wenn Sie die Regierungserklärung oder Teile der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers als Familienkitsch bezeichnen. Aus Ihrer Position heraus mag das ja Kitsch gewesen sein. Ich dagegen beurteile jeden Redner danach, ob er hier aus seiner Werte-und-NormenOrientierung heraus das darlegt, für das er auch gern Verantwortung übernehmen möchte.
Ich habe vom Bundeskanzler noch nie gehört, daß er kein Verständnis für die Familien hätte, von denen Sie ausschließlich gesprochen haben und die Sie alle anscheinend nur im Gerichtssaal getroffen haben. Ich kenne sehr viele Familien, denen gerade aus dieser Werte-und-Normen-Orientierung viel zugewachsen ist. Dabei verkennen wir nicht, daß es auch die anderen gibt, die unsere Hilfe in Anspruch nehmen können.Die Schwarzweißmalerei, die Sie gerade in der Familienpolitik auch konzeptionell hier dargestellt haben, macht eigentlich einen großen Bruch deutlich, über den wir vielleicht einmal in den Ausschüssen sprechen müssen, um wieder ein bißchen mehr zu einer Einheitlichkeit in der Beurteilung der Situation von Familien zu kommen.
— Danke schön, daß Sie mir das zugestehen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3209
Irmgard KarwatzkiMeine Damen und Herren, ich möchte jetzt, wenn auch nur sehr kurz, etwas zur Situation der alten Menschen sagen. Ich teile auch hier nicht Ihre Meinung, daß wir nur in Sonntagsreden etwas zu der Situation der alten Menschen sagten. Es ist ebenfalls das Verdienst der Kollegin Lehr und anderer, nicht zuletzt der Kollegin Rönsch, sich dafür eingesetzt zu haben, daß gerade der Haushaltsansatz für die Seniorenarbeit verdoppelt wird. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie das nicht sehen wollen. Sie alle können doch lesen, waren alle in der Schule. Was Wahrheit ist, muß doch Wahrheit bleiben!Ich gebe zu, es könnte immer noch mehr sein; aber es gibt objektive Grenzen. Immerhin ist der Haushalt der Kollegin Rönsch der drittgrößte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, will ich hier nur noch anmerken, daß dieser Haushalt bereits damals, als der Kollege Geißler und ich mit ihm gemeinsam die Freude hatten, die Verantwortung dafür zu tragen, der drittgrößte und nicht irgendein kleiner Haushalt war.
Unter dem Strich ist folgendes zu sagen: Ich unterstütze die Konzeption, die jetzt im Hause von Frau Rönsch gefahren wird, nämlich in ganz entscheidendem Maße Forschungsarbeiten im Bereich der Senioren durchzuführen. Ich unterstütze dies mit allem Nachdruck.Mit allem Nachdruck unterstütze ich auch die Position von Norbert Blüm, was die Durchsetzung der Pflegeversicherung anlangt. Wir haben da nicht bei Ihnen abgeschrieben. Darauf kommt es aber auch nicht an.
Entscheidend ist, daß Sie mit uns in dieser Frage — wie es im Zusammenhang mit den Asylberechtigten eben gesagt wurde — deutlich etwas auf den Weg bringen.
Dann können wir gemeinsam vielleicht auch noch die FDP davon überzeugen, und dann schaffen wir etwas ganz Vernünftiges für die alten Menschen.
Das Wort hat der Abgeordnete Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist kein kinderfreundliches Land, schlimmer noch: Unsere Wirklichkeit ist kinderfeindlich. Dieser Feststellung der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel, kann ich mich nur anschließen.
Jahr für Jahr sterben Hunderte von Kindern auf Deutschlands Straßen, tausende werden verletzt. Die Antwort der Bundesregierung ist der Bau immer neuer und immer schnellerer Straßen, ist die in Westdeutschland fortdauernde und in Ostdeutschland angestrebte Duldung alkoholisierter Kraftfahrer. Der Verkehrsminister erhält Milliarden für das deutsche Hätschelkind Bundesautobahn und Bundesstraße, aber für 30 Ampeln vor Ostberliner Schulen fehlt das Geld.
Im Namen des Kindes, das vor wenigen Monaten in meiner Straße auf dem Schulweg getötet wurde, im Namen der 554 im vergangenen Jahr getöteten Kinder fordere ich die Bundesregierung zu einer Umkehr ihrer kinderfeindlichen Verkehrspolitik auf.
Wir brauchen keine Luxusstraßen und Luxusautobahnen in Deutschland. Wir brauchen sichere Straßen und Wege und vor jeder Schule eine Ampel.
Millionen Kinder in Deutschland leiden an schweren chronischen Krankheiten, die durch Umweltschäden verursacht sind. Etwa jedes dritte Kind in Deutschland hat heute Probleme mit Allergien; rund 10 % leiden unter Bronchitis. Etwa jedes zehnte Kind hatte schon einen Pseudokruppanfall. Die Zahl der Kinder, die an Ekzemen erkranken, hat sich seit 1975 verdoppelt; gegenwärtig sind es 1,2 Millionen Kinder in Deutschland. Immer mehr Kinder werden mit Mißbildungen geboren, immer mehr erkranken an Krebs. Krebs ist in Ostdeutschland die zweithäufigste Todesursache bei Kindern.
Die Verseuchung des Trinkwassers in vielen ostdeutschen Städten ist katastrophal. Säuglinge und Kleinkinder sind durch die hohen Schadstoffbelastungen extrem gefährdet. Aber nicht nur die Bitterfelder Giftluft oder das Dresdener Giftwasser sind hier anzuprangern. Auch in Westdeutschland ist die Belastung vielerorts unerträglich hoch. Die Vergiftung von Kindern durch unsere Umwelt ist eine unerträgliche Menschenrechtsverletzung!
Die Antwort der Bundesregierung ist eine Grenzwertpolitik, die der Industrie nicht wehtut, aber für Kinder ein bleibendes Risiko darstellt, sind vorsichtige und allzuoft halbherzige Maßnahmen, die nicht verhindern werden, daß weiterhin Millionen Kinder erkranken, sind Kompromisse, die den Tod von Kindern in Kauf nehmen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, den Rüstungsetat dieses Haushalts, der überflüssig ist, um mindestens 10 Milliarden DM zu kürzen und das Geld ausschließlich solchen Maßnahmen zufließen zu lassen, die das Überleben von Kindern in Deutschland ermöglichen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Lobby für Kinder ist zu klein. Es gibt zwar den Kinderschutzbund, der sich eifrig bemüht. Aber manchmal hat man den Eindruck, daß Kleingärtnervereine mächtiger sind als Vereinigungen, die sich mit Kinderfragen beschäftigen.
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3210 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Konrad Weiß
Immer häufiger und immer brutaler wird in den Medien, und zwar auch in den öffentlich-rechtlichen, Gewalt zu Sendezeiten dargestellt, zu denen Millionen Kinder vor den Bildschirmen sitzen. Die Herstellung und Verbreitung von Computerspielen und Videocassetten, die Gewalt darstellen, pornographisch sind oder Krieg, Militär und Nationalsozialismus verherrlichen, wird weitgehend toleriert. Die Schutzbestimmungen für Kinder greifen nicht mehr oder werden nicht beachtet.
Kinder haben in ostdeutschen Videotheken fast ungehinderten Zugang zu allem Schmutz.
Oftmals sind den Inhabern nicht einmal die geltenden Jugendschutzbestimmungen bekannt. Die Selbstkontrolle der Medien und der Medienindustrie ist fast unwirksam geworden. Auch hier ist die Bundesregierung in der Pflicht. Der Etat der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften bleibt 1992 konstant bei 2 Millionen DM. Eine Reaktion auf die Anforderungen, die aus den östlichen Ländern, aber auch durch die neuen Medien hinzugekommen sind, ist bei diesem Etat so gut wie unmöglich.Ich fordere die Bundesregierung auf, ernsthafte Konzepte vorzulegen, die aufzeigen, wie auf die Gefährdung der Kinder in Deutschland durch die neuen Medien reagiert werden kann. Ich erwarte auch haushaltspolitische Konsequenzen. Die schlimmen Zustände in Deutschland in diesem Bereich haben ja wohl weder etwas mit Liberalität noch etwas mit christlichem Ethos zu tun.Dringenden Handlungsbedarf des Gesetzgebers sehe ich in einem angrenzenden Bereich, nämlich in der Frage der Gewalt gegen Kinder in der Familie. Hilflos sind Kinder den Schlägen ihrer Eltern ausgesetzt. Eltern, die sich an ihren Kindern vergehen, kommen ungeschoren davon. Selbst der pornographische Mißbrauch von Kindern wird stillschweigend hingenommen. Über die sozialen Defekte, die Eltern dazu bringen, sich an ihren Kindern zu vergehen, über ihre Nöte, Unsicherheiten und Ängste wird geschwiegen. Ich begrüße daher ausdrücklich den einstimmig gefaßten Beschluß der Justizminister der Länder zu einem Verbot der Gewalt gegen Kinder in der Familie. Die Prügelstrafe ist ein Relikt, das so bald wie möglich abgeschafft gehört. Bei dem zu erarbeitenden Gesetz wird der sexuelle Mißbrauch von Kindern auch in der Familie ebenso zu berücksichtigen sein wie die seelische Schädigung und Verletzung von Kindern durch Pornographie und Darstellung von Gewalt. Im Zusammenhang mit der längst überfälligen Abschaffung des antiquierten § 175 wird dann auch über einen wirksamen Rechtsschutz von Jungen und Mädchen vor sexuellem Mißbrauch außerhalb der Familie nachzudenken sein.Die Situation der Kinder in den östlichen Bundesländern, meine Damen und Herren, ist besonders kritisch. Ich weiß durchaus die Bemühungen zu schätzen, die von allen Partein in Bund und Ländern unternommen werden, um das trübe Erbe der sozialistischen Erziehung aufzufangen. Hier ist stärker als in allen anderen Bereichen die Solidarität aller in Deutschland gefragt. Jede Investition in die menschenwürdige und unautoritäre Erziehung der Kinder ist eine Investition für die Zukunft unseres Landes.Der Aufbau einer demokratischen Schule entscheidet über die Zukunft unserer Demokratie. Deshalb müssen alle jene Krippen, Kindergärten und Schulen besonders gefördert werden, die dazu befähigt sind, und das sind in der Regel nicht die ehemaligen Staatskindergärten und Staatsschulen, sondern vor allem jene Kinderläden und Schulen in freier Trägerschaft, die nach der Wende entstanden sind, oft aber unter erheblichen finanziellen Schwierigkeiten leiden.Besonderer Anstrengungen bedarf es gegenwärtig bei der Erziehung der Erzieher. Auch hierfür sind wesentlich mehr Mittel erforderlich, als vorgesehen sind. Viele sind guten Willens, noch einmal neu zu beginnen und neu zu lernen, und das durchaus nicht nur aus billigem Opportunismus oder aus Angst um den Arbeitsplatz. Ich weiß, daß auch viele Lehrer und Erzieher in der DDR unter den Zwängen der sozialistischen Erziehungsdoktrin gelitten haben.Unerträglich aber finde ich es, wenn ehemalige Wehrerzieher, Staatskundelehrer oder Stasi-Offiziere heute an ostdeutschen Schulen Gesellschaftsunterricht erteilen.
Ich habe nichts gegen einen Sportlehrer oder einen Biologielehrer, der in der SED war und heute parteilos ist; aber daß die Grundlagen unserer Demokratie ausgerechnet von den zuverlässigsten Kadern der SED vermittelt werden sollen, das vermag ich nicht zu begreifen.
Die Verantwortung für die Kinder in Deutschland tragen wir alle. Sie läßt sich auch nicht an einen Minister abschieben.
Politik für ein kinderfreundliches Deutschland muß ressortübergreifend sein. Jeder Abgeordnete, jeder Minister und jeder Beamte sollte bei jeder Entscheidung immer auch fragen: Welche Konsequenzen hat das für die Kinder im Lande?
Auch für unsere Debatte über den Schutz des ungeborenen Lebens wäre es heuchlerisch, wenn wir nicht alles daransetzten, in unserem Lande den geborenen Kindern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Kinder, sagt Janúsz Korczak, werden nicht erst zu Menschen, Kinder sind Menschen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3211
Konrad Weiß
Ich fürchte: Wir in Deutschland nehmen das Recht des Kindes auf Achtung, auf Würde, auf Respektierung seiner Persönlichkeit nicht ernst genug. Die Strukturen unserer Gesellschaft sind autoritär. Das Selbstbestimmungsrecht der Erwachsenen wird über das Lebensrecht der Kinder gestellt.Gerade im Umfeld der Debatte über den Schutz des ungeborenen Lebens habe ich von jenen Parteien, die sich mit dem Attribut „christlich" schmücken, ein deutlicheres Signal für eine Umgestaltung unserer Gesellschaft erwartet. Im vorgelegten Haushalt aber erkenne ich keinen Impuls für ein Deutschland, das kinderfreundlicher ist.Vielen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Norbert Eimer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Weiß, wenn Sie den letzten Satz weggelassen hätten, hätten Sie wahrscheinlich sehr viel Beifall bekommen.
In vielem von dem, was Sie aufgezählt haben, teile ich Ihre Meinung. Ich bin besorgt über die Entwicklung des Jugendschutzes in den neuen Bundesländern. Auf diesem Gebiet muß tatsächlich etwas gemacht werden. Das ist natürlich in erster Linie Aufgabe der Jugendämter, aber auch wir in Bonn können etwas tun. Das hat jetzt nur nichts mit dem Haushalt zu tun. Ich ärgere mich z. B. darüber, daß der Jugendschutz bei uns so zersplittert ist. Es gibt zwei Bundesgesetze, in jedem Bundesland zwei Gesetze, die sich mit Jugendschutz beschäftigen, und Staatsverträge. Wir sind hier, glaube ich, wirklich gefordert.Aber ich will auf die Ausführungen zum Haushalt zu sprechen kommen, zunächst einmal zu denen der Vertreter der PDS. Wenn man diesen Reden glaubt, dann wird im Bereich der Familienpolitik alles immer schlechter. Die Umfragen von unabhängigen Instituten zeigen aber das Gegenteil. Es gibt mehr Hoffnung und mehr Besserung, und das kann man auch feststellen, wenn man die Betroffenen selbst fragt.
— Ich habe nicht nur „Hoffnung" gesagt; es wird auch tatsächlich besser.Ein zentraler Vorwurf der Opposition, auch der SPD, betraf den Mangel an Kindergärten. Ich teile die Sorge wegen der vor allem in den neuen Bundesländern fehlenden Kindergärtenplätze. Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Wir sollen hier nicht nur populistisch reden. Wir reden hier über den Bundeshaushalt. Zuständig dafür ist aber nicht der Bundeshaushalt; zuständig sind die Länder.Die Koalition wollte den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz haben. Gescheitert ist dies an den Bundesländern, auch an den SPD-regierten Ländern. Hätten die SPD-regierten Länder voll dahintergestanden, hätten wir uns wahrscheinlich etwas leichter getan.Nun hat die SPD im Bundesrat die Mehrheit.
Wir können nun sehen, ob sie das, was sie immer predigt, auch verwirklichen will. Wir wollen einen zweiten Anlauf nehmen und hoffen, daß wir dabei den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchsetzen können.
Eines möchte ich aber auf alle Fälle deutlich machen: Es geht nicht, daß die Länder sagen: Wir wollen das eigentlich, wir wollen auch die Kompetenz nicht abgeben, aber zahlen wollen wir nicht. Das geht nicht! Ich meine, hier sind die Länder gefordert, dort, wo es notwendig ist und wo sie die Kompetenz haben und nicht abgeben wollen, dafür auch zu zahlen.
Nun ist es natürlich so, daß in vielen Bereichen der Familienpolitik die letzten Zuständigkeiten nicht beim Familienministerium liegen, sondern bei anderen Ministerien. Das trifft natürlich besonders dann zu, wenn es um die Haushaltsberatung geht. So will ich einige Bereiche aufzählen, die nicht bei uns behandelt werden, aber sehr wohl die Familienpolitik betreffen.Ich denke hier an die Mehrwertsteuer. Die Mehrwertsteuer ist viel familienfreundlicher, als es in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Ich will das ganz kurz begründen.
— Es ist, glaube ich, besser, wenn Sie zuhören und erst dann urteilen.Je mehr Kinder eine Familie hat und je geringer das Einkommen ist, desto größer ist der Anteil, den diese Familie für Lebensmittel ausgeben muß. Hierfür gilt der niedrige Mehrwertsteuersatz; damit ist auch die gesamte Mehrwertsteuer niedriger.Nun kann man das noch verbessern. Ich meine, wir müssen es auch verbessern. Ich habe einmal ausgerechnet: Wenn wir statt 7 % und 14 % Steuersätze von 3 % und 15 % haben, sind die Steuereinnahmen gleich; die Familie wird aber sehr stark entlastet.Nun haben wir bei dieser Steuerreform die 7 % für Lebensmittel beibehalten. Dies ist in der Diskussion leider etwas untergegangen, ist aber ein Ansatz dafür, die Mehrwertsteuer etwas familienfreundlicher zu machen.
Mir wäre eine bessere, eine größere Spreizung lieber. Trotzdem ist der Ansatz richtig; wir sollten diesen Weg auf alle Fälle nicht aus den Augen verlieren und weitergehen.
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3212 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Norbert Eimer
Auch der Familienlastenausgleich wird in erster Linie von den Finanzpolitikern bestimmt, mehr als von den Familienpolitikern. Wir wissen ja, leider fällt das Geld, das zur Verfügung steht, immer sehr knapp aus.Nun gibt es in diesem Haushalt eine deutliche Verbesserung des Familienlastenausgleichs; das muß man anerkennen. Es ist aber nur das — da will ich natürlich Frau von Renesse recht geben — , was verfassungsgemäß notwendig ist, was von uns verlangt wird.Es hat gar keinen Zweck, daß wir uns darüber hinaus irgend etwas vormachen. Wir wissen aber auch, daß es Wohltaten auf Pump auch im sozialen Bereich nicht geben kann; denn später zahlen all das unsere Kinder. Deshalb, so meine ich, müssen wir uns nach der Decke strecken. Wir müssen sagen, daß es eine deutliche Verbesserung ist, daß es aber nicht das Ende sein kann, daß wir weitermachen müssen.Nun hat die Koalition auch eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, den Familienausgleich weiterzuentwickeln und zu verbessern, und zwar — ich wiederhole hier, was schon gesagt worden ist — gerade im Zusammenhang mit dem § 218. Nun hat die SPD einen Vorschlag gemacht, wie man das eventuell finanzieren könnte. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, daß das nicht finanzierbar ist und daß ein Teil der Vorschläge der SPD verfassungsrechtlich gar nicht durchführbar ist. Ich bin außerordentlich dankbar, daß Frau von Renesse z. B. den Vorschlag von der Kappung des Ehegatten-Splittings nicht wiederholt hat. Sie versteht davon wahrscheinlich zuviel und weiß, daß es von der Verfassung her nicht geht.
Ich meine also, daß dieser Haushalt den richtigen Ansatz dafür zeigt, daß wir in der Familienpolitik und mit dem Familienlastenausgleich weiterkommen. Ich kann nur alle auffordern, diesen Weg weiterzugehen. Soweit es in der finanziellen Möglichkeit des Bundestages und dieses Haushalts liegt, haben wir etwas getan. Aber es muß mehr gemacht werden, und ich gehe davon aus, daß das, was in dieser Koalition beschlossen worden ist, in den nächsten Haushalten weitergeführt wird und daß damit eine weitere Verbesserung des Familienlastenausgleichs erreicht werden kann.Vielen Dank.
Frau Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich betrachte es als eine Untugend, wenn man hier eine Philippika gegen die Familienpolitik losläßt und danach den Saal verläßt.
Ich hätte mir gewünscht, daß Frau von Renesse jetzt
noch hier säße und die eine oder andere Erwiderung
auf Unrichtigkeiten und Halbwahrheiten entgegennehmen könnte.
— Ich wollte mir keinen Ordnungsruf einhandeln.
Frau Ministerin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage von Frau Matthäus-Maier zuzulassen?
Aber selbstverständlich!
Frau Ministerin, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß Frau Margot von Renesse sich entschuldigt hat, weil die Debatte sich sehr verzögert hatte und sie weg mußte. Meines Wissens hat sie Ihnen das mitgeteilt. Jedenfalls bat sie ausdrücklich um Entschuldigung, weil sie nicht länger bleiben konnte. Sie wissen, daß das bei einer solchen Verzögerung jedem von uns passieren kann.
Frau Matthäus-Maier, ich nehme das zur Kenntnis. Aber Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß ich das hier nicht beanstandet hätte, wenn Frau von Renesse mir das mitgeteilt hätte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wende mich gleichzeitig an Konrad Weiß, denn ich hätte ihm gern für seine nachdenkliche Rede herzlich gedankt, die er über die Schwierigkeiten von Kindern in Familien gehalten hat. — Frau Kollegin Karwatzki!
Herr Präsident?
Entschuldigung! Sie können eine Zwischenfrage stellen.
Ich möchte bitte eine Bemerkung machen. Der Kollege Weiß hat mich extra gebeten, allen Kollegen zu sagen, daß er jetzt in die Kinderkommission müsse und um Entschuldigung bitte, daß er nicht mehr hier sein könne.
Auch das nehme ich zur Kenntnis. Aber ich hätte ihm trotzdem sehr gern persönlich für die nachdenkliche Rede gedankt, die er gehalten hat. Sie betraf zwar nicht unseren Haushalt, Familie und Senioren, sondern den Haushalt, über den wir vorher beraten haben, Frauen und Jugend; ich werde allerdings auch einige Punkte aufgreifen, die Herr Weiß angesprochen hat. Meiner Kollegin Angela Merkel werde ich empfehlen, diese Rede sehr aufmerksam nachzulesen, weil die meisten der Kompetenzen, die darin angesprochen sind, im Ressort von Frau Merkel angesiedelt sind.
Darf ich Sie noch einmal eine Sekunde unterbrechen, Frau Ministerin. Ich wäre
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3213
Vizepräsident Hans Meindankbar, wenn ich von den Geschäftsführern oder von wem auch immer erfahren könnte, ob es tatsächlich zutrifft, daß die Kinderkommission tagt, während diese Debatte im Plenarsaal stattfindet.
Ich hätte Herrn Weiß gern gesagt, daß es in vielen Städten Anlaufstellen des Kinderschutzbundes gibt und daß ich wünsche und hoffe, daß auch in den Städten der fünf neuen Länder so schnell wie möglich solche Anlaufstellen des Kinderschutzbundes geschaffen werden, damit auch dort Kinder, die in schwierigen familiären Situationen sind, entsprechende Möglichkeiten haben.
Jetzt möchte ich zu dem kommen, was Frau von Renesse hier vorgetragen hat. Als erstes hat mich außerordentlich erstaunt, daß lediglich fünf Sätze der Seniorenpolitik gewidmet waren. Ich muß sagen, ich empfinde das als ausgesprochen traurig; denn die Seniorenpolitik nimmt in diesem Ministerium einen großen Anteil ein.
Mittlerweile ist jeder fünfte Bundesbürger über 60 Jahre alt, und ich meine, gerade die älteren Menschen hätten es verdient, in einer Rede zum Haushalt erwähnt zu werden und nicht nur in fünf Sätzen abgehakt zu werden.
Ich hätte mich gefreut, wenn das große Engagement, mit dem die Rede vorgetragen worden ist, Einfluß auf die Sozialdemokraten gehabt hätte, und zwar in der Zeit vor 1982. Wo ist denn die sozialdemokratische Familienpolitik, die von uns jetzt permanent eingefordert wird, bei den Sozialdemokraten geblieben?
Es waren doch die Sozialdemokraten, die seinerzeit die Kinderfreibeträge nicht eingeführt haben.
— Es waren doch die Sozialdemokraten, die das Kindergeld 1981 gekürzt haben, Frau Matthäus-Maier.
Familienpolitik hat doch erst wieder ab 1982 stattgefunden.
— BAföG? — Erinnern Sie sich noch, was Ihr damaliger Bundeskanzler, Helmut Schmidt, 1982 im Herbst gesagt hat? Ich habe es noch in den Akten und kann es Ihnen zeigen; ich habe es noch in meiner Schublade. Er hatte die Vernunft und hat gesagt: Wir müssen z. B. beim Schüler-BAföG sparen. Ich meine, Sie sollten sich daran erinnern.
Ich kann es nur nicht ertragen, wenn sich Sozialdemokraten plötzlich hier vorne hinstellen und Weisheiten verkünden, für die sie finanziell nicht verantwortlich sind und die sie, als sie verantwortlich waren, nicht in die Tat umgesetzt haben.
Erschreckt hat mich auch, Frau Kollegin Becker-Inglau, daß bei Ihnen und bei der Kollegin von Renesse sehr deutlich war, daß Sie ein Frauenbild haben, das sich auf nur eine Frau konzentriert, nämlich auf die eigenverantwortlich lebende, berufstätige Frau im mittleren Alter. Als Hessin läuft es mir da kalt über den Rücken. Wir haben in Hessen eine neue Frauenministerin, die neulich verkündet hat, sie bekämpfe den Lebensentwurf von Frauen, die lediglich an der Seite ihres Mannes seien und Kinder erziehen würden.
Mittlerweile hat diese Frauenministerin das zurückgenommen.
— Das ist Frau Pfarr, die ihr Unwesen in dieser Richtung auch schon woanders getrieben hat.
— Entschuldigung, an dieser Stelle muß ich Ihnen sagen: Wer die Familienfrauen derart diskriminiert — Frauen sind berufstätige Frauen und Frauen, die auch in der Familie leben —,
ist als Frauenministerin nicht tragbar.
Ich meine, Frau Becker-Inglau, daß es auch bei Ihnen sehr deutlich geworden ist, daß Sie sich zu einseitig auf die berufstätige Frau konzentriert haben. Das Familienbild der Sozialdemokraten müßte einmal überdacht werden. Sie können das, wie es eben von Frau von Renesse getan worden ist, nicht mit Familienkitsch bezeichnen, wenn es noch intakte Familien gibt.
Frau Ministerin, gestatten sie eine weitere Zwischenfrage?
Aber sicher doch.
Bitte sehr.
Frau Ministerin Rönsch, haben Sie vielleicht mitbekommen, daß ich in meiner Rede erstens die Forderung erhoben habe, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu fördern, und daß ich zweitens gerne möchte, daß Frauen eine freie Entscheidung treffen können, ob sie sich für die Familie oder für den Beruf oder für Familie und Beruf entscheiden wollen, daß sie aber, wenn sie sich für die Familie entscheiden wollen, in vielen Fällen zwar gut abgesichert sind — das meine ich jedenfalls — , daß
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3214 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Ingrid Becker-Inglausie aber bisher keine Chance haben, Familie und Beruf zu vereinbaren?
Ich glaube, ich habe es mitgekriegt.Wir sind uns voll und ganz einig, Frau Becker-Inglau, wenn wir darum streiten, daß Männer und Frauen Familie und Beruf miteinander vereinbaren können.Wir wären uns auch dann einig, wenn Sie mir hier und heute bestätigten, daß seitens der sozialdemokratischen Frauen — ich habe eben Frau Pfarr genannt — die Familienfrauen nicht zurückstehen müssen, sondern daß alle diese Frauen die Wahl haben, ihre Lebensplanung vorzunehmen, und zwar genau so wie die berufstätigen Frauen. Diese Familienfrauen dürfen wir nicht weiter diskriminieren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich war, als Frau von Renesse hier gesprochen hat, wirklich sehr stark an eine Gerichtsverhandlung erinnert. Ich wollte dort nicht Angeklagte sein müssen; denn es muß doch auch ein Stückchen der Verteidigung möglich sein. Wenn hier ein Familienbild dargestellt wurde, das offensichtlich permanent in Gerichtssälen vorkommt, so meine ich doch, daß das für unser Deutschland nicht repräsentativ ist. Danach sollte man seine Familienpolitik nicht ausrichten.
Aber lassen Sie mich jetzt bitte zu der eigentlichen Arbeit des Ministeriums für Familie und Senioren kommen; denn ich merke, mir läuft mit den Richtigstellungen hinsichtlich dessen, was Frau von Renesse gesagt hat, die Zeit weg.Ich möchte hier deutlich machen, daß unser Haushalt mit 32,4 Milliarden DM der viertgrößte ist, Frau Karwatzki.
— Auch wir hätten uns gefreut, wenn es der drittgrößte wäre. Aber es ist nun einmal der viertgrößte, und wir müssen eingestehen, daß der größte Teil gesetzliche Leistungen sind.Aber es ist für mich eine ganz besondere Freude, daß wir in diesem Haushalt mit 14,7 % die größte Zuwachsrate aller Ressorts haben.
Das macht deutlich, daß diese Bundesregierung für die Familien- und Seniorenpolitik bereit ist, Geld auszugeben.
— Zur Öffentlichkeitsarbeit, Herr Kollege, komme ich noch, weil sie zwingend erforderlich ist. Wir können das natürlich auch schon jetzt abhandeln.Natürlich haben wir auch Öffentlichkeitsarbeit leisten müssen, weil all die Leistungen, die diese Bundesregierung und der Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland gewähren, bei den Männern und Frauen in den fünf neuen Bundesländern leider nicht sehr bekannt waren. Deshalb haben wir ganz ausführlich mit sieben Informationsbussen mit — je Bus — fünf Mitarbeitern in 37 Städten sieben Wochen lang informiert. Wir haben nicht nur über Kindergeld informiert, sondern auch über alle Sozialleistungen, die unser Ministerium und auch die anderen Ministerien erbringen. Wir haben für das Arbeitsministerium mit informiert. Das hat zur Folge gehabt, daß 96 % der Kindergeldanträge bei Arbeitsämtern bzw. bei den Arbeitgebern ausgefüllt wurden.
Ich muß sagen: Ich bin stolz darauf, daß wir das geschafft haben. Wir haben, wie gesagt, nicht nur über Kindergeld informiert, sondern auch über Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub.Ich habe soeben von den Leistungen dieser Bundesregierung für die Familien- und die Seniorenpolitik gesprochen und möchte noch einmal deutlich machen, daß im Familienlastenausgleich weitere 7 Milliarden DM den Familien zugute kommen. Die Erhöhung des Erstkindergeldes von 50 auf 70 DM zum 1. Januar 1992 ist schon angesprochen worden.
Das andere sind die Kinderfreibeträge. Wir werden diese Kinderfreibeträge von jetzt 3 024 DM auf deutlich über 4 000 DM erhöhen. Die Familien sparen dadurch über 4 Milliarden DM. Wir werden im Rahmen der Parlamentsbehandlung diese Zahl deutlich über 4 Milliarden DM sicher noch diskutieren.Ich meine, es ist wesentlich wichtiger als die Frage, wie der Betrag genau festgeschrieben ist — ob es 108 DM mehr oder 108 DM weniger sind —, festzuhalten, daß die Familien mit 7 Milliarden DM entlastet worden sind. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in seinen Entscheidungen für die Berechnung des steuerfreien Existenzminimums auf die Regeln der Sozialhilfe verwiesen. Man kann der Tabelle nicht einen bestimmten Betrag entnehmen, sondern es spielen da die Bewertungen, beispielsweise der Wohnungs- und der Heizungskosten, eine Rolle. Ich denke, daß wir darüber, weil unterschiedliche Standpunkte vorhanden sind, hier im Bundestag noch diskutieren müssen. Es wird uns nicht erspart bleiben, uns mit dieser Frage noch weiter auseinanderzusetzen.Mir läuft die Zeit weg, und ich kann gar nicht alle Leistungen der Bundesregierung deutlich machen.
— Aber Sie scheinen sie doch vergessen zu haben. Deshalb muß ich das noch einmal sagen; denn sonst würde das nicht so dargestellt.Ich spreche Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub an, damit Sie wissen, daß ab dem 1. Januar 1993 die Eltern ein erhöhtes Erziehungsgeld erhalten und daß der Erziehungsurlaub auf drei Jahre verlängert wird. Wenn heute in den alten Bundesländern 96 % der Eltern Erziehungsgeld und 94 % Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen, dann meine ich, daß all die Be-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3215
Bundesministerin Hannelore Rönschfürchtungen der Sozialdemokraten, der Erziehungsurlaub hätte keine Wirkung, widerlegt sind.Ich will noch einmal an alle Bundesländer appellieren, den Rechtsanspruch auf Erziehungsurlaub jetzt auszufüllen und ein Landeserziehungsgeld zu zahlen.Ich will jetzt nicht in denselben Fehler wie Frau von Renesse verfallen, weil mir die Seniorenpolitik ein ganz besonderes Anliegen ist. Ich will noch einmal auf die Seniorenpolitik übergehen, weil ich meine, daß wir einen weiteren Meilenstein in der Politik für die älteren und alten Menschen setzen werden.Wir werden einen Bundesaltenplan erarbeiten — er orientiert sich am Bundesjugendplan — und Maßnahmen mit unterschiedlichen Zielen zusammenfassen, nämlich die gesellschaftliche Beteiligung des älteren Menschen, die Förderung von hilfs- und pflegebedürftigen Älteren, die Angleichung der Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland und den Ausbau der internationalen Seniorenpolitik.Wir haben für diesen Bundesaltenplan in diesem Jahr 5 Millionen DM zur Verfügung. In der mittelfristigen Finanzplanung ist eine Aufstockung auf mindestens 15 Millionen DM vorgesehen. Unsere seniorenpolitischen Maßnahmen zielen auf die gesamte Vielfalt der Bedürfnisse der älteren Menschen. Wir wollen diejenigen, die gerade in den Ruhestand gehen, die noch voll Tatendrang sind, unterstützen und ihnen helfen, soweit sie der Unterstützung bedürfen.Aber besondere Aufmerksamkeit widme ich gerade auch den Menschen, die jetzt schon im pflegenahen oder pflegebedürftigen Alter sind.Ich will an dieser Stelle kurz sagen, daß ich die Bemühungen um eine Vorlage für eine Pflegeversicherung unterstütze und mir sehr gut vorstellen kann, daß die Pflegeversicherung nur unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung sein kann.
Das hat für mich als Familienministerin mehrere Gründe. Es kann nicht sein, daß alle Familienmitglieder mit Beitrag veranschlagt werden. Als Seniorenministerin muß ich dafür sorgen, daß diejenigen, die jetzt schon akut pflegebedürftig sind, ebenfalls mit bedacht sind und daß auch die pflegenahen Jahrgänge in den Genuß einer Pflegeversicherung kommen, ohne zuviel bezahlen zu müssen.Ein weiteres will ich noch erwähnen. Für die Männer und Frauen, die in Altenhilfeeinrichtungen in den fünf neuen Bundesländern untergebracht sind, hat die Bundesregierung im Rahmen des 16-MilliardenProgramms Aufschwung Ost ein Investitionsprogramm von 5 Milliarden DM vorgelegt. In diesem 5Milliarden-Programm, wo 300 DM pro Einwohner an die Kommunen oder an die Landkreise gezahlt worden sind, haben mir die Bürgermeister oder Landräte leider zu wenig Geld an die Alteneinrichtungen gegeben.
— und an die freien Träger; die sind von den Kommunen vergessen worden —,
obwohl wir immer wieder appelliert haben.Weil Sie gerade das Stichwort freie Träger geben, will ich denen von dieser Stelle für ihre Aufbauarbeit gerade in den fünf neuen Bundesländern ausgesprochen danken. Es wurden mittlerweile 700 Sozialstationen von den freien Trägern aufgebaut, und wir werden im nächsten Jahr, schätze ich, 1 000 haben.
— Wir haben dort keine Mittel gekürzt. Wir haben gemeinsam mit den freien Trägern gerade neulich unser Programm vorgestellt und waren mit den freien Trägern — es waren alle da — in einer Pressekonferenz eigentlich einer Meinung, daß wir gute Arbeit geleistet haben. Ich kann Ihnen gerne die Presseausschnitte schicken. Es ist etwa drei Wochen her.Ich meine, daß die Maßnahmen in der Familien-und Seniorenpolitik, die wir Ihnen heute hier darlegen konnten, uns ein gutes Stück weitergebracht haben.Es verdienen, meine ich, beide Personengruppen, daß wir uns gemeinsam um sie kümmern, daß wir gemeinsam an der Fortentwicklung all dessen weiterarbeiten, was hier an Initiativen vorgetragen wurde. Es wird sicher an der einen oder anderen Stelle Diskussionen geben müssen. Aber lassen Sie uns in der Sacharbeit den Streit nicht so weit treiben, daß gute Projekte für Familien und Senioren dann vielleicht darniederliegen würden.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Hans Peter Schmitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushaltsentwurf 1992 ist für uns ein Dokument der Kontinuität unserer Politik.
Die Koalition setzt damit einen Weg fort, den wir seit der Übernahme der Regierungsverantwortung kontinuierlich beschritten haben, einen Weg der erfolgreichen Wirtschafts- und Finanzpolitik, einen Weg der soliden Haushaltspolitik. Dieser Weg war und ist die Voraussetzung dafür, daß wir die Überwindung der Teilung Deutschlands auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zügig in Angriff nehmen konnten. Wir werden dies fortsetzen.Unser vordringliches Ziel in diesen Jahren ist das endgültige Zusammenwachsen Deutschlands und die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in Ost und West. Dies stellt auch den Bundeshaushalt vor besondere Aufgaben. Nur vor dem Hintergrund der Einheit unseres Vaterlandes sind die Belastungen, die mit diesem Haushalt verbunden sind, vertretbar. Nur vor diesem Hintergrund ist auch eine Nettoneuverschuldung in Höhe von 50 Milliarden DM zu verantworten, und nur so ist es zu verantworten, daß wir unserer
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Hans Peter Schmitz
Bevölkerung einen maßvoll und zeitlich befristet erhöhten Steuerbeitrag zumuten.In diesem Zusammenhang darf ich allerdings in Erinnerung rufen, daß die Sozialdemokraten 1969 — man muß schon zurück in die Vergangenheit gehen — einen Haushalt ohne Nettokreditaufnahme und eine gesunde Wirtschaft übernommen haben
und von 1970 bis 1982 sage und schreibe insgesamt siebzehnmal die indirekten Steuern erhöht haben. Das ist interessant für die Debatte, die wir demnächst beim Steueränderungsgesetz führen.
— Lieber Rudi Walther, das ist nun einmal so. Die Wahrheit kommt an den Tag, ob man will oder nicht.
Darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen, Herr Kollege? Weil der Kollege Walther es für richtig hielt, den Präsidenten anzusprechen, darf ich doch sagen: Sie haben Ihre Bemerkungen über den Inhalt dieser Rede bereits gemacht, als Sie kaum zur Tür hereingekommen waren.
Der Kollege Walther hat immer gewisse hellseherische Fähigkeiten. Ich nehme an, daß er es dann, wenn er danebenliegt, auch korrigiert.Insgesamt haben Sie die Umsatzsteuer, in diesem Falle die Mehrwertsteuer, dreimal erhöht. Ferner haben Sie fünfmal die Mineralölsteuer erhöht, ganz zu schweigen von der Branntweinsteuer, der Tabaksteuer usw. Ich will das nicht alles aufzählen. Sie haben siebzehnmal die indirekten Steuern erhöht, und zwar in der Größenordnung von über 25 Milliarden DM. Deswegen, meine Damen und Herren, kann ich Ihnen auch sagen: Damals haben Sie die Inflation angeheizt.
Das Ergebnis war, daß Sie wegen der Einkommensteuerprogression profitiert haben. Die heimlichen Steuererhöhungen hat man das genannt. Es war so. Wir haben das korrigieren müssen. Auf diese Weise stieg in einigen Jahren das Lohnsteueraufkommen um bis zu 30 % gegenüber dem Vorjahr. Frau Matthäus-Maier, Sie waren allerdings in einer anderen Partei mit dabei, um Ihnen das gleich zu sagen. Sie waren mit dabei.Auf diese Weise wurden im Jahre 1980 die Steuerquote auf 25,8 % und die Abgabenquote auf 42,6 % getrieben. Meine Damen und Herren, und das alles geschah ohne die Probleme, die wir nun durch die Übernahme eines maroden sozialistischen Systems haben und die wir jetzt als Last mittragen.Trotzdem ist erst eine Steuerquote von 24,5 % erreicht. Bei der Abgabenquote liegen wir trotz der geschilderten Bedingungen gerade in der Größenordnung von 1980. Ohne die Wiedervereinigung hatten wir im Westen eine vorbildliche Steuerquote von 23,7 % und eine Abgabenquote von 40,6 %.Betrachten wir einmal darüber hinaus die Abgaben-und Steuervorschläge, die die sozialdemokratischen Musterökonomen — so hätte ich fast gesagt — in den letzten vier Jahren vorgelegt haben. Es sind 48 an der Zahl. Es reicht von A bis Z: von Abschöpfung unproduktiven Kapitalvermögens bis zur Zuwachssteuer bei Grund und Boden. Sie können das durchdeklinieren. Es sind 48 an der Zahl.Meine Damen und Herren, die Phantasie reicht gar nicht aus, um sich auszumalen, welche Belastungen das, wenn es Wirklichkeit geworden wäre, bei unseren Bürgern verursacht hätte.Es war die Politik dieser Bundesregierung und es war die Politik dieser Koalition, die die öffentlichen Finanzen und die deutsche Wirtschaft nach 1982 wieder in Ordnung gebracht haben. Dies ist doch völlig klar; das kann niemand bestreiten. Es war unsere Politik, die dafür Sorge getragen hat, daß wir auf die Anforderungen, die jetzt auf uns zukommen, gut vorbereitet waren und daß wir sie erfüllen können. Denn das Bruttosozialprodukt betrug im Jahre 1983 1,675 Billionen DM. Es beträgt 1992 schätzungsweise gut 2,75 Billionen DM in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Unsere Politik hat über die Jahre hinweg reales Wachstum mit einer durchschnittlichen Quote von 3 % ermöglicht.Die Rekordzahl von rund 29 Millionen Beschäftigten in den westlichen Ländern kann nicht oft genug wiederholt werden, weil sie dokumentiert, wie viele neue Arbeitsplätze in dieser Zeit geschaffen worden sind. Meine Damen und Herren, daß Sie das gerne negieren wollen, verstehe ich durchaus. Wenn die Arbeitslosenquote im Westen der Bundesrepublik Deutschland von 6,4 % im letzten Jahr auf voraussichtlich 5,5 % im Jahre 1991 absinken wird, so gibt dies, meine ich, den Menschen in den neuen Bundesländern auch Grund zur Hoffnung. Der Bundeskanzler hat es sehr deutlich gesagt: Sie und andere — ich nenne auch gewisse Gewerkschaftskreise, die offensichtlich daran interessiert gewesen sind — haben im Frühjahr Szenarien entworfen und sowohl einen heißen Sommer als auch einen heißen Herbst prognostiziert. Wenn ich mir die Wirklichkeit anschaue, dann finde ich, daß sich die Menschen, die das gemacht haben, eigentlich korrigieren müßten. Mut und Mutmachen sind gefragt. Ich meine, das ist richtig.Unverzichtbare Basis unserer Politik ist die solide Finanzpolitik. Wir sind auf Kurs geblieben und bleiben auf Kurs. Wir werden dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren, denn eines muß klar sein: Die Geldwertstabilität muß erhalten bleiben. Die Leistung muß sich lohnen. Der Staat muß strikte Ausgabendisziplin wahren. Diesen Weg haben wir beschritten. Von 1983 bis 1989 stiegen die Lebenshaltungskosten um durchschnittlich 1,7 %. Selbst zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da Staat und Wirtschaft enormen Belastungen ausgesetzt sind, liegt die Inflation mit für 1991 geschätzten 3,5 % — sicher ist das auch noch nicht —
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unter jenen 5,8 To aus dem Jahre 1980. Die Inflationsrate von 5,8 % ist durch Ihre Politik — Sie wollten die Belastbarkeit der Wirtschaft ausprobieren — verursacht worden. Daher ließen die Lohnabschlüsse, die damals getätigt worden sind, keinen realen Lohnfortschritt mehr zu.Leistung lohnt sich wieder, weil die Progression der Einkommensteuer durch den großen Wurf der Tarifreform von 1990 den Steuerpflichtigen mehr Verdienst beläßt, als die Sozialdemokraten es jemals fertiggebracht haben. Voraussetzung dafür ist, daß der Bund eine disziplinierte Finanzpolitik mit Augenmaß betreibt, denn der Ausgabenzuwachs von knapp 3 To— in den nächsten Jahren wird er durchschnittlich 2,3 % betragen — liegt mittelfristig weit unter dem prognostizierten Wachstum des Bruttosozialprodukts.Ich appelliere an alle Körperschaften, an Länder und Gemeinden, sich an dieser Ausgabendisziplin des Bundes zu orientieren.Nun zu Ihnen, verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier. Ich will Ihnen einmal folgendes sagen: Sie haben gestern und in den Tagen zuvor, was die Schulden angeht, ein Horrorgemälde entworfen; Sie haben dabei sämtliche Schulden aller Körperschaften addiert.
— Ich habe nichts gegen eine solche Vergleichsrechnung, aber ehrlicherweise muß man dazusagen, daß es auch Schulden der SPD-regierten Länder sind.
— Aber sie haben mit einem Soupçon den Versuch unternommen, dies alles der Bundesregierung und dem Finanzminister zu unterstellen. Ich halte das für nicht ganz ehrlich. Dann muß man sagen: Das sind auch unsere Schulden gewesen. Ich finde, dies ist ein Punkt, über den wir ehrlich miteinander diskutieren sollten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Aber gerne.
Herr Kollege, wenn Sie das so verstanden haben sollten, dann würde mich das wundern. Das war auch nicht die Absicht. Ich habe einfach den Schuldenstand 1982 im Vergleich zu dem von 1991 dargelegt.
Frau Kollegin, eine Zwischenfrage!
Ja. — Aber nachdem der Bundeskanzler nun gesagt hat, alle heutigen Schulden seien auf die Verzinsung der Schulden der SPD-Regierung zurückzuführen, darf ich Sie erstens fragen: Ist es nicht so, daß in dem Schuldenstand von 1982, den ich genannt habe, auch alle Schulden der
Länder enthalten waren, die damals von der CDU regiert wurden, und darf ich Sie zweitens fragen — ich glaube, das interessiert die Menschen heute —: Ist es nicht so, daß, selbst wenn alle Schulden von den Sozis gemacht worden wären, wir — Sie insbesondere, weil Sie die Regierung stellen — endlich sparen müssen?
Verehrte Frau Kollegin, wenn Sie das so vorgetragen hätten, wie Sie es gerade getan haben, dann wäre ich mit einer solchen Darstellung sehr einverstanden gewesen. Aber Sie haben es in einen Kontext gestellt, der den Eindruck vermittelte, als seien wir diejenigen, die die Verantwortung für die gesamten Schulden und die Zinslast zu tragen haben. Dabei haben aber auch sozialdemokratisch regierte Länder und Gemeinden eine ganze Menge aufgenommen. Wir können gerne eine Vergleichsrechnung aufmachen, wer das solide finanziert hat und wer nicht. Über Nordrhein-Westfalen könnte ich Ihnen ein Lied singen.
Ich sage Ihnen ganz klar und eindeutig: Wenn Sie bei der Haltung bleiben, die Sie gerade eingenommen haben: d'accord. Aber bleiben Sie bitte nicht bei der Haltung, die Sie vorhin bei Ihrer polemischen Rede eingenommen haben. In Polemik sind Sie gut. Das verstehe ich durchaus. Aber unter diesen Voraussetzungen sollten Sie Ihre Meinung an dieser Stelle so darstellen, wie Sie es gerade getan haben. Dann ist es korrekt. Vorher war es unkorrekt. Das wollte ich Ihnen nur sagen.
Meine Damen und Herren, wir setzen auch an anderer Stelle Zeichen. Das Thema Familienpolitik ist hier diskutiert worden. Ich habe mich über die Rede von Frau von Renesse sehr gewundert. Auch als Richterin sollte man ein gewisses Maß einhalten.
— In jedem Falle. — Ich habe innerlich ein sehr ungutes Gefühl gehabt. Auch als Familienrichter muß man das Maß bewahren. Wer die Datenlage kennt, der weiß, daß wir in der Familienpolitik — Heiner Geißler hat den Anfang gemacht, und hier wird es fortgesetzt — die Leistungen von 27 Milliarden DM 1982 auf insgesamt 55 Milliarden DM jetzt verdoppelt haben. Das so darzustellen, als wäre das nichts, ist den Bürgern etwas vorgemacht. Deswegen sollten Sie zur Wahrheit zurückkehren. Das ist der entscheidende Punkt, und das ist mein entscheidender Vorwurf. Sie machen in Ihrer Polemik Schritte, die dazu führen, daß dem Bürger Sand in die Augen gestreut wird.Das gilt auch für die ganze soziale Sicherung. Quer über alle Einzelpläne wendet der Bund insgesamt 142 Milliarden DM dafür auf, fast ein Drittel des gesamten Haushalts. Deswegen ist es auch wichtig, einmal darauf hinzuweisen, daß wir in den neuen Bundesländern 900 000 Witwenrenten erhöht haben. Frauen erhalten heute bereits 90 % der Westrenten, Männer immerhin 55 % der Westrenten. Das muß ein-
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mal zur Kenntnis genommen werden. Ich bitte die Kollegen, die aus den neuen Bundesländern kommen, das einmal klar und deutlich zu sehen. Immerhin wurden 150 000 Witwenrenten erstmalig gezahlt. Das sind alles Frauen und Männer, die durch das SED-Regime um die Früchte ihrer Arbeit und zum Teil ihres Lebens betrogen worden sind. Deswegen ist hier ein sozialer Ausgleich notwendig.Eines ist auch sicher: Durch das Rentenreformgesetz, das am 1. Januar 1992 in Kraft tritt, haben wir sichergestellt, daß sich die lohn- und beitragsbezogene Rente dynamisch entwickelt und daß die Rente sicher ist. Norbert Blüm tut gut daran, das oft und deutlich zu wiederholen.Auch die Förderung der deutschen Einheit kann sich sehen lassen. Wenn wir Ihnen geglaubt und Ihren Empfehlungen, das langsamer zu machen, gefolgt wären, stünden wir heute ganz woanders. Insgesamt haben wir für die deutsche Einheit Beträge in einer Größenordnung von 109 Milliarden DM vorgesehen. Das muß man Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen.Wenn wir das alles zusammennehmen, die Vorschläge, die zum Subventionsabbau gemacht worden sind — ich unterstütze diejenigen, die heute morgen gesagt haben, Subventionsabbau ist eine Daueraufgabe; ich weiß, wie schwer das ist — , und das Steueränderungsgesetz, dann pflichte ich denjenigen bei, die gesagt haben: Auch die Sozialdemokraten werden im Bundesrat nicht daran vorbeikommen, eine Entscheidung zu treffen, auch in der Unternehmensbesteuerung. Wenn es darum geht, in Zukunft in Europa Arbeitsplätze zu sichern, hilft keine Polemik. Dazu müssen Sie sich schon erklären, meine Damen und Herren. Die sozialdemokratischen Länder fordern jetzt schon eine stärkere Mehrwertsteuererhöhung, als sie der Finanzminister im Rahmen der EG-Harmonisierung vorgeschlagen hat.
Herr Kollege Vogel, der Tag wird kommen, an dem Sie das tun, was Ihnen der Bundeskanzler gestern vorausgesagt hat: Hier werden Sie wahrscheinlich dagegen stimmen, und im Bundesrat wird die vereinte Mannschaft der SPD-Ministerpräsidenten unisono noch höhere Anhebungen fordern.
Ich prophezeie Ihnen das. Ich stimme da ausdrücklich dem Bundeskanzler zu.
Es ist in der Tat so: Wir legen einen Haushalt vor, der verantwortungsbewußt finanziert ist.
Durch eine maßvolle und zeitlich begrenzte Steuererhöhung und den Abbau von Finanzhilfen, steuerlichen Vergünstigungen und Sonderregelungen erreichen wir eine solide Finanzierung. Diese Vorschläge der Regierung werden sicher im Gesetzgebungsverfahren die eine oder andere Änderung erfahren, wiees zur parlamentarischen Demokratie gehört. Aber wir werden bei unserer Linie bleiben
— nein — und mit der vorsichtigen Nettokreditaufnahme das Vertrauen der Bürger und der Finanzmärkte in uns rechtfertigen. Wir werden peinlich darauf achten — und da habe ich Vertrauen in die Kollegen im Haushaltausschuß — , daß die Ausgaben den gegebenen Rahmen nicht sprengen.Unser Kurs ist klar: Eine solide Finanzpolitik bleibt das Markenzeichen dieser Koalition.
Herzlichen Dank.
Herr Abgeordneter Dr. Peter Struck, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man kann in der Tat nicht sagen, daß die Redner der Koalition in dieser Haushaltsdebatte, die nun zu Ende geht, Glanzlichter gesetzt hätten im Gegensatz zu den Rednern der SPD-Fraktion.
Da schließe ich jetzt ausdrücklich den Kollegen Schmitz ein.
Ich wende mich nun dem Bundeskanzler zu. Leider ist er nicht da. Er hat sicher andere Verpflichtungen.
Herr Kollege Struck, darf ich Sie einen Moment unterbrechen?
Immer, Herr Präsident.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen in der Mitte und rechts im Hause, Eigenlob ist parlamentarisch zulässig.
Ganz genau. Ich denke, Herr Präsident, daß mein Beitrag vielleicht auch dazu geeignet sein kann, die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt in ihren Büros sitzen und lauschen, doch ins Plenum zu locken, weil hier ein bißchen was los ist.
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Dr. Peter StruckDer Bundeskanzler, Herr Präsident, hat gestern eine Wette angeboten — ich zitiere das noch einmal —:Aber ich sage Ihnen voraus, wie Sie abstimmen werden, und ich nehme Wetten darauf an: Sie werden hier im Bundestag— gemeint war das Thema Mehrwertsteuererhöhung —dagegenstimmen — in der bekannten Annahme, daß im Bundesrat dafür gestimmt wird.
Wenn er jetzt hier wäre, würde ich sagen: Topp, die Wette gilt.
Ich erkläre jetzt hier verbindlich für alle, die zuhören
und für das Protokoll des Deutschen Bundestages: Der Bundesrat wird die Mehrwertsteuererhöhung ablehnen.
Wenn er das entgegen meiner Erwartung nicht tun wird, werde ich als Einsatz in die Wette einen Heidschnuckenbraten bringen, den ich mit dem Bundeskanzler gemeinsam verzehren werde.
Herr Kollege Struck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Weng?
Nein, noch nicht. Einen Augenblick!
— Herr Präsident, bringen Sie doch den Kollegen Rose mal zur Ruhe!
Herr Präsident, allerdings habe ich eine große Sorge: Der Herr Bundeskanzler ist schon einmal das Wagnis eingegangen, mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Peter Struck eine Wette abzuschließen. Das war — und einige derer, die hier sitzen, waren Zeugen, so daß ich mich auch auf untadelige Kolleginnen und Kollegen wie Jochen Borchert
oder Klaus Rose oder Wolfgang Weng
oder aber, um aus meiner Fraktion den wichtigsten zu nennen, Rudi Walther berufen kann —
am 11. Oktober 1988. Eingeladen war der Haushaltsausschuß beim Bundeskanzler. Damals habe ich mit dem Bundeskanzler folgende Wette abgeschlossen. Das ist dokumentarisch im „Spiegel" vom 31. Oktober 1988 nachzulesen.
— Keine Angst, Theo!
Kohl hat zu mir gesagt: Der nächste Kanzlerkandidat der SPD — das war 1988 — werde Vogel sein, weil Lafontaine sich nicht traut. Ich habe dagegengehalten und gesagt: Lafontaine wird Kanzlerkandidat. Wie jeder weiß, ist er das geworden.
— Ich weiß ja, daß ihr auf den Begriff Kandidat Wert legt.
Mir geht es um etwas ganz anderes. Mir geht es um das Thema, wie der Kanzler mit einer Wette umgeht.
— Jetzt müßt ihr wirklich ruhig sein. Wir haben um fünf Flaschen Pfälzer Wein gewettet. Was ich hier sage, ist authentisch. Ich bin Jurist und sage immer die Wahrheit.
Ich warte bis heute auf die fünf Flaschen Wein des Kanzlers.
Deshalb sage ich: Wenn er diese Wette, die ich jetzt hier symbolisch mit ihm eingehe, genauso behandelt, wie er die alte Wette behandelt hat, dann ist das eine kontinuierliche Fortsetzung seiner fatalen Politik.
Jetzt noch einmal die Frage: Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Weng zu beantworten?
Von Wolfgang Weng: ja.
Herr Kollege Struck, sind Sie bereit, eine vergleichbare Wette auch bezüglich des Ergebnisses des Vermittlungsverfahrens anzunehmen, bei dem in letzter Konsequenz zumindest ein Laufenlassen durch die SPD erforderlich wird?
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Herr Kollege Weng, diese Frage können Sie nur deshalb stellen, weil Sie nicht Mitglied des Vermittlungsausschusses sind und ich Ihnen die Einzelheiten in einem solchen Verfahren, die möglicherweise da und dort diskutiert werden müssen, wegen der begrenzten Redezeit von 25 Minuten jetzt nicht erläutern kann. Vielleicht machen wir das nachher mal im Privatissimum.
Es gibt ein weiteres Zwischenfragebegehren, und zwar des Kollegen Austermann.
Nur ungern. Aber trotzdem.
Kollege Struck, ich kann mich an diese Unterredung erinnern. Es gab bei diesem Essen lauter Sachen, die ein normaler Mensch nicht ißt.
Aber war es nicht vielmehr so, daß der Bundeskanzler
damals exakt gesagt hat: Wenn der Lafontaine so
schlau ist, wofür ich ihn halte, dann tritt er nicht an?
Nein, so war es nicht. Das Thema war eindeutig.
Er sagte: Lafontaine wird es nicht. Ich habe gesagt: Er wird es. Wir haben gewettet. Er hat fünf Flaschen Pfälzer Wein verloren, und darauf warte ich noch. Das ist der Sachverhalt. Ich bitte den Kollegen Stavenhagen, die Angelegenheit mit dem Kanzler und Frau Weber zu klären, damit das in Ordnung kommt.
Ich möchte, da das eine Schlußrunde im Haushalt ist, nicht so sehr zu den Finanzen sprechen.
— Was ich mache, ist immer mit meinem Fraktionsvorsitzenden abgestimmt.
Ich möchte noch einmal zu Themen kommen, die gestern eine Rolle gespielt haben,
insbesondere zu dem Redebeitrag des Bundeskanzlers. Der Bundeskanzler hat, was für ihn immer gefährlich ist, abweichend von seinem Redetext frei geredet, zum Thema Schalck-Golodkowski. Ich sehe davon ab, die Äußerungen der Kollegin Köppe in irgendeiner Weise zu kommentieren. Ich für meine Person und auch für meine Fraktion sage, daß solche Äußerungen aus unserer Fraktion mit Sicherheit nicht gekommen wären. Aber das ist eine Sache, die jeder allein für sich entscheiden muß.
Allerdings glaube ich, daß der Bundeskanzler in dieser Angelegenheit durch die Art seines Redebeitrags bewiesen hat, daß er im Nerv getroffen ist, daß die Bundesregierung in der Angelegenheit SchalkGolodkowski im Nerv getroffen ist. Er hat eine Rundumschlagrede gehalten.
Er muß wissen, daß er in einen Strudel geraten kann, wenn er weiter so agiert und daß das für die Bundesregierung insgesamt, aber auch für das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland einen schweren Schaden nach sich ziehen kann.
Ich spreche hier in diesem Zusammenhang das Thema an, Herr Kollege Stavenhagen, das auch der Fraktionsvorsitzende der SPD, Jochen Vogel, gestern angesprochen hat: die Frage, ob Sie, Herr Kollege Stavenhagen, in Ihrer Eigenschaft als Staatsminister im Bundeskanzleramt das Parlament belogen haben, ja oder nein.
Es steht objektiv fest, Herr Stavenhagen, daß Sie dem Kollegen Conradi eine falsche Antwort auf eine Frage im Bundestag gegeben haben. Es tut mir leid: Wenn jemand eine falsche Antwort gibt, dann ist er dafür verantwortlich; dann sind es nicht diejenigen, die ihm das aufgeschrieben haben. Dafür haben Sie die Verantwortung als Minister im Kanzleramt.
— Das ist so.
Welche Umstände zu dieser Antwort geführt haben, werden wir noch aufzuklären haben, in der Parlamentarischen Kontrollkommission und im Schalck-Untersuchungsausschuß. Wir werden natürlich unseren Antrag, den wir in der Parlamentarischen Kontrollkommission gestellt haben, nämlich Herrn Wieck, den seinerzeitigen Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, zu diesem Thema zu hören, energisch verfolgen
und auf die Erklärungen von Herrn Wieck, die er gestern über eine Presseagentur der Öffentlichkeit vermittelt hat, eingehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfragen des Abgeordneten Dr. Rose?
Ja.
Herr Kollege Dr. Struck, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Herr Porzner, gegenüber einer Gruppe von Parlamentariern erklärt hat, daß Herr Schalck-Golodkowski für den Bundesnachrichtendienst nie tätig war, daß er auch nie Zuwendungen bekommen hat
und daß die Zurverfügungstellung des Personalausweises zu einem Zeitpunkt passiert ist, in dem es mit dem Bundeskanzleramt — und deshalb auch nicht mit Herrn Kollegen Stavenhagen — eindeutig nicht abgestimmt war?
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Herr Kollege Rose, Sie sagen mir nichts Neues. Nur, es geht nicht um das Thema, das Sie soeben angesprochen haben, sondern es geht um die Frage, wie der Kollege Stavenhagen eine Frage eines Abgeordneten im Parlament beantwortet hat. Er hat sie falsch beantwortet; er hat dort eine falsche Antwort gegeben. Das ist die Frage, der wir nachgehen wollen. Wer dafür die Verantwortung innerhalb des Komplexes trägt, der zu dem Verantwortungsbereich von Herrn Stavenhagen gehört, wird aufzuklären sein.Aber es ist für uns schon ein eigenartiger Vorgang, daß zunächst einmal eine Erklärung von Herrn Stavenhagen abgegeben wird, wie sich das alles abgespielt hat, und dann der damalige Präsident des BND eine gegenteilige Erklärung abgibt.
Das werden wir aufklären; das ist der Punkt. Das ist jedenfalls kein normaler Vorgang.Ich spreche hier auch einen Vorgang an, der uns im Rahmen des Schalck-Untersuchungsausschusses ebenfalls beschäftigen wird. Wir wissen, daß Herr Schalck am 3. Dezember 1989 aus der damaligen DDR geflohen ist. Und wir wissen, daß Herr Schalck am 2. Dezember 1989, einen Tag vor diesem Termin, mit Minister Schäuble ein Gespräch geführt hat. Ich denke mir, daß es schon interessant wäre — auch im Zusammenhang mit den Pässen für das Ehepaar Schalck — , zu erfahren, was denn wohl Gegenstand des Gespräches zwischen Herrn Schäuble und Herrn Schalck-Golodkowski gewesen ist.Ich freue mich sehr, daß Herr Schäuble seine Bereitschaft erklärt hat, vor dem Untersuchungsausschuß dazu auszusagen; wir sind schon sehr gespannt darauf. Aber wir sollten aufpassen — das richte ich jetzt an das Bundeskanzleramt und auch an Minister Schäuble — , daß die Auskünfte, die dann gegeben werden, in der Tat der Wahrheit entsprechen. Nach den Erfahrungen, die wir mit Ihnen gemacht haben, ist Skepsis jedenfalls angebracht.Ich kann verstehen, daß sich insbesondere die Kolleginnen und Kollegen aus der CSU bei dem, was jetzt durch die „Quick"-Veröffentlichungen bekanntgeworden ist, betroffen fühlen, soweit es die Person von Franz Josef Strauß angeht. Ich kann das, wie gesagt, verstehen, weil jeder von Ihnen mit ihm politisch sicher eng verbunden ist.Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, insbesondere von der CSU, es ist doch eigenartig, daß ausgerechnet derjenige, der uns Sozialdemokraten immer sozusagen die Konspiration mit dem Klassenfeind vorgeworfen hat, es war, der über die SchalckConnection engste wirtschaftliche Verknüpfungen mit der DDR gehabt hat. Das ist doch sehr eigenartig!Die Verknüpfung, Herr Kollege Waigel, von Kommerz und Politik in diesem Zusammenhang ist in der Tat ein Vorgang, der uns, wenn wir ihn seinerzeit gekannt hätten — nicht eist, als Franz Josef Strauß gestorben war —, dazu veranlaßt hätte, seine politischen Leistungen anders zu bewerten. Das sage ich Ihnen ganz deutlich. Das, was dort bekanntgeworden ist — es ist ja authentisch, wie ein Sohn von Franz Josef Strauß bestätigt hat — , läßt uns ein bißchen an dem Bild von Franz Josef Strauß zweifeln.
— Er hat es doch erklärt; er ist ja dabeigewesen. Jochen Vogel hat es gestern doch ausdrücklich gesagt. — Herr Kollege Waigel — wir haben uns heute auch im Ältestenrat darüber unterhalten — , ich meine, daß es nicht üblich ist, von der Regierungsbank Zwischenrufe zu machen. Wenn Sie sich denn dazu äußern wollen, gebe ich Ihnen gern die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage.Wenn wir das Thema Schalck — von dem ich, auch im Namen meiner Fraktion, sage daß wir es nicht sozusagen als Überthema für die Haushaltsdebatte oder für die nächsten Jahre innerhalb der Politik ansehen dürfen; wir würden diesem Menschen viel zuviel Ehre antun, wenn wir uns von diesem Thema zu sehr belasten ließen — und die Probleme, die damit verbunden sind, nicht rückhaltlos aufklären, wird das schwersten Schaden, insbesondere bei den Menschen in den neuen Bundesländern, anrichten. Denn gerade die haben einen Anspruch darauf, daß aufgeklärt wird.
Ich denke, daß Sie, Herr Kollege Waigel, als CSU-Vorsitzender hier eine besondere Verantwortung tragen.Ich möchte einen Punkt ansprechen, der gestern in der Debatte überhaupt keine Rolle gespielt hat, von dem ich aber glaube, daß wir ihn hier wenigstens erwähnen müßten.Es hat in den letzten Tagen eine Reihe von Diskussionen über die Frage gegeben, wieweit Bundestagsabgeordnete sich auf Stasi-Vergangenheit überprüfen lassen. Wir haben darüber auch ein Gespräch im Kreis der Parlamentarischen Geschäftsführer geführt.Ich möchte hier zunächst für meine Person erklären, daß ich der Auffassung bin, daß eine Regelung beschlossen werden muß, und zwar möglichst bald, die die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht besser stellt als die Abgeordneten in den neuen Bundesländern, also auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Ich denke, daß wir uns nicht auf den Standpunkt stellen dürfen: Wir sind Bundestagsabgeordnete; vor allem wir aus der alten Bundesrepublik haben damit nichts zu tun; die anderen müssen überprüft werden.Ich glaube, wir müssen hier nach dem Prinzip der Gleichbehandlung verfahren. Ich weiß, daß es da
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Dr. Peter StruckSchwierigkeiten und auch juristische Überlegungen in diesem Zusammenhang gibt.Ich möchte nur für mich erklären, erstens daß ich diesen Grundsatz für richtig halte, und zweitens, daß ich der Meinung bin, daß wir uns freiwillig zu dieser Überprüfung bereiterklären sollten. In unserer Fraktion wird das in der nächsten Zeit beraten werden.Aber ich glaube, es wäre gut, wenn wir ein Freiwilligkeitsprinzip einführen würden. Ich habe auch für diejenigen Kolleginnen und Kollegen Verständnis, die das aus grundsätzlichen Erwägungen nicht wollen, und würde ihnen dabei auch keine schlechten Motive unterstellen.Nur, ich glaube, wir können nach den öffentlichen Diskussionen, die jetzt gewesen sind, dieses Thema nicht mehr so behandeln, wie wir es in der Vergangenheit behandelt haben.Zum Haushalt — als alter Haushälter möchte ich doch noch einige Punkte dazu ansprechen — ist, lieber Herr Kollege Waigel, doch ein persönlicher Hinweis angebracht. Sie haben das Amt von Herrn Minister Stoltenberg übernommen. Als Sie das Amt übernommen haben, haben wir Ihnen alle Glück gewünscht, weil Sie auch für unser Volk und für unseren Staat arbeiten. Ich habe gesagt: Der Theo Waigel, der macht das schon besser als der Gerd Stoltenberg. Das habe ich gedacht.Nun habe ich mich leider nach dem, was wir alles jetzt so erlebt haben, doch geirrt.
Sie haben sich gedacht, daß ich jetzt so etwas sagen werde.Ich komme dann auf eine Meldung der „Wirtschaftswoche" zurück. Da ist in Japan offenbar jemand auf die Idee gekommen, daß man Minister, wenn sie nicht erfolgreich sind, dazu bringen kann, daß sie auf ihr Gehalt verzichten sollen.
In dieser Meldung heißt es weiter: Theo Waigel hat also davon erfahren, und er hat dann — so wird hier in der „Wirtschaftswoche" vom 19. Juli zitiert — gedacht: Wenn er sich seine Leistungen bei der Etataufstellung und beim Subventionsabbau anschaue, sinnierte der gestreßte Haushälter, müßte ich ja 30 % mehr bekommen; außerdem stünde ihm dann wohl auch eine Möllemanni-Zulage zu. Das finde ich in Ordnung. Also, die Zulage Möllemanni ist schon richtig. Aber nicht 30 % mehr, sondern 30 oder 50 % weniger, lieber Kollege Waigel.Denn wenn wir Ihre Bilanz jetzt ansehen, was die Staatsfinanzen und die Verschuldung angeht, dann, glaube ich, unterscheiden Sie sich leider — ich sage: leider, weil ich Ihnen persönlich sehr viel Sympathie entgegenbringe — nicht sehr von Gerhard Stoltenberg, Ihrem Amtsvorgänger.
Ich komme zu dem Thema Unternehmenssteuern und deren Reform. Jeder in der Welt weiß, daß die deutsche Wirtschaft international voll wettbewerbsfähig ist. Das liegt natürlich nicht an der guten Regierung. Das liegt an der guten Qualifikation und Motivation unserer Arbeitnehmer, an den Fähigkeiten unserer Wirtschaftsmanager und nicht zuletzt an unserer öffentlichen Infrastruktur. Andere Länder beneiden uns darum. Das ist kein Verdienst der Regierung, sondern ein Verdienst der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land.
Wir brauchen wegen der Steuerhöhe auch gar keine Angst vor dem europäischen Binnemarkt zu haben. Im Gegenteil, die anderen Ländern befürchten, wie jeder weiß, daß sie von unserer, von der deutschen Wirtschaftskraft überrollt werden. Wenn deshalb in den anderen Ländern die Steuern gesenkt werden, ist das noch lange kein Grund, daß auch wir das tun.Sie wollen, Herr Kollege Waigel, in einen Steuersenkungswettlauf mit Spanien und Portugal eintreten. Ich will nicht bewerten, ob diese Länder eine bessere oder eine richtige Steuerpolitik machen. Aber wenn diese Länder es tatsächlich schaffen sollten, in der Europäischen Gemeinschaft etwas mehr aufzuschließen und an uns heranzukommen, dann sollten wir das doch gut finden und nicht durch Gegenmaßnahmen konterkarieren.
— Herr Kollege Weng, das ist die alte Platte. Ich dachte, Ihnen sei inzwischen etwas Neues eingefallen; wir machen ja nun schon lange Haushaltsdebatten. Aber es ist immer das gleiche.
— Das gilt für meinen Beitrag; da gebe ich Ihnen völlig recht.Herr Kollege Glos hat heute vormittag versucht, noch einmal die Steuersenkungen zu begründen. Der Versuch ist Ihnen mißlungen, Herr Kollege Glos.
Das war nicht anders zu erwarten. Die Begründung, die Sie genannt haben, die Steuern für Großvermögen müßten deshalb gesenkt werden, damit die Wirtschaft mehr Eigenkapital bekommt, ist ein neuer Flop. Von Ihren Steuersenkungen profitieren doch nicht die kleinen Handwerker und die kleinen und mittleren Unternehmen — das weiß doch jeder —; von diesen Steuersenkungen profitieren nur die Großkonzerne. Über die kann man alles mögliche erzählen, aber eines nicht: daß sie nicht genügend Eigenkapital hätten. Das ist doch wohl richtig.
Ein bedrückendes Kennzeichen der Haushaltspolitik dieser Bundesregierung sind die Ausblendung massiver finanzpolitischer Risiken aus dem Haushalt und das Verstecken von finanziellen Risiken in Schattenhaushalten. Die Kollegin Matthäus-Maier hat das in ihrer Rede schon angesprochen.
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Dr. Peter StruckSie, Herr Kollege Waigel, haben eine historische Chance im Zusammenhang mit der deutschen Einigung versäumt. Damals hätten Sie — die gesamte deutsche Öffentlichkeit wäre Ihnen gefolgt; auch wir Sozialdemokraten wären Ihnen gefolgt — eine BlutSchweiß-und-Tränen-Rede halten können, welche Risiken auf den bundesdeutschen Steuerzahler und auf uns alle zukommen.Sie haben das nicht getan. Im Gegenteil, Sie haben sich davor gedrückt, die Wahrheit zu sagen, um Wählerstimmen zu erschleichen. Heute holt Sie dieser fatale Fehler wieder ein, meine Damen und Herren.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, von dem wir meinen, daß Sie, wenn Sie richtig handelten, für unsere Wirtschaft und vor allen Dingen für die Situation der Menschen in den neuen Ländern viel mehr als das tun könnten, was Sie jetzt vorhaben. Wer wie Sie die Ausgaben für den Wohnungs- und Städtebau von rund 8,7 Milliarden DM 1992 auf 8,2 Milliarden DM 1995 zurückführt, entzieht sich seiner politischen Verantwortung für Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und vor allem für die Menschen in den neuen Ländern.
Wer weiß, wie die Situation in den neuen Ländern ist, wer weiß, welche Bodenpreise dort verlangt werden, wer weiß, welche Mieten dort verlangt werden, wer weiß, welche wahnsinnigen Spekulationsgewinne nur deshalb gemacht werden, weil nicht genügend Wohnraum zur Verfügung steht, der versündigt sich, wenn er nicht bereit ist, mehr Mittel für den Wohnungsbau bereitzustellen.
Wir Sozialdemokraten haben die finanzpolitisch bessere Alternative, und wir haben die intelligenteren Problemlösungen im Verhältnis zur Finanzpolitik der Bundesregierung. Es ist gestern schon sehr ausführlich dargestellt worden; aber weil Sie es offenbar immer noch nicht verstehen, versuche ich, es jetzt noch einmal kurz zusammenzufassen.An die Stelle der von der Bundesregierung verlangten Mehrwertsteuererhöhung setzt die SPD den Verzicht auf die von der Bundesregierung geplante Senkung der Vermögensteuer und die geplante Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer. Dadurch stehen dem Staat mehr als 6 Milliarden DM jährlich zur Verfügung.An die Stelle der Lippenbekenntnisse vom Sparen und vom Subventionsabbau und an die Stelle der Luftbuchungen, Herr Kollege Waigel, setzen wir eine Vielzahl substantieller Vorschläge. Wir haben konkrete Vorschläge zur Kürzung von über 4 Milliarden DM im Einzelplan 14 — das ist der Verteidigungsetat — eingebracht. Wir haben konkrete Vorschläge zum Abbau von Subventionen gemacht, angefangen beim unsozialen Dienstmädchenprivileg bis zum Flugbenzin, denn dieser Skandal wurde von der Regierung bis heute nicht beseitigt. Mit der Alternative der SPD stehen gegenüber den Regierungsvorschlägen Finanzmittel in Höhe von rund 1 % Mehrwertsteuererhöhung zusätzlich zur Verfügung.An die Stelle des von der Bundesregierung verfolgten Konzepts der Mehrwertsteuererhöhung, das die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen viel stärker belastet als die Bezieher hoher Einkommen und das mittelstandsfeindlich und ökonomisch verfehlt ist, setzt die SPD ihr Konzept des sozialen Lastenausgleichs. Die mit den starken Schultern — das ist durchgängig seit 1982 die finanzpolitische Argumentation der SPD, und wir haben von ihr nichts abzustreichen — müssen stärker belastet werden als die mit den schwächeren Schultern.
— Herr Kollege Borchert, wir können uns natürlich gegenseitig das eine oder andere Land vorhalten; wir können uns auch — wie das schon wieder versucht worden ist — mit Erblast und mit anderen Fragen beschäftigen. Das bringt aber absolut nichts.
Ich stelle hier zu dem Stichwort Erblast nur fest: Als Erblasser sind nicht nur die Sozialdemokraten aufgetreten, sondern als Erblasser sind wohl auch die Kolleginnen und Kollegen aus dieser Fraktion dabeigewesen.
Angesichts dessen ist es schon ein bißchen ärgerlich, wenn man auch aus der Reihe dort von einer Erblast reden hört.
Wie kann denn jemand über eine Erblast klagen, wenn er diese sozusagen selber geschaffen hat? Das kann ja wohl nicht zusammengehen.
Wir werden an die Stelle der verfehlten Haushaltsund Finanzpolitik der Bundesregierung eine Steuer-und Abgabenpolitik setzen, die den Finanzbedürfnissen von Bund, Ländern und Gemeinden entspricht. Wir stellen uns dieser Verantwortung hier im Deutschen Bundestag, Herr Kollege Waigel, im Bundesrat, im Vermittlungsausschuß. Wir werden dann die sozialdemokratischen Positionen, die in der Debatte heute und gestern mehrfach vorgetragen worden sind, durchsetzen. Ich bin fest davon überzeugt, daß das Ergebnis dieser Steuerdiskussion nach dem Vermittlungsausschuß und das Ergebnis der Haushaltsberatungen deutlich eine sozialdemokratische Handschrift haben werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.
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3224 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Schlußredner der FDP in der Haushaltsdebatte habe ich mir während Teilen der bisherigen Debatte die Frage gestellt, was die Bevölkerung eigentlich davon hält, wenn in diesem Land derzeit zwar Großartiges geleistet wird, aber seitens der Opposition diese Leistung mit fast keinem Wort erwähnt wird.
Dazu möchte ich ganz klar sagen — Herr Struck, das geht auch an Sie — : Die Situation in der Wirtschaft ist auch von der Stimmung abhängig. Das Abschießen immer neuer Giftpfeile durch die SPD schadet der sich ausbreitenden positiven Stimmung, schadet damit der Wirtschaft und schadet damit den Bürgern in den neuen Bundesländern.
Wir müssen doch sehen, daß wir uns in einer Sondersituation befinden. Die deutsche Einheit wurde vor nicht einmal einem Jahr, am 3. Oktober 1990, hergestellt. In einem Kraftakt sondergleichen ist es der Bundesregierung gelungen, erhebliche Maßnahmen und Programme in den neuen Bundesländern zu starten.Dies war nur möglich, weil zuvor die Finanz- und Wirtschaftspolitik seriös war und ein erheblicher Rückgang der Nettoneuverschuldung erreicht wurde. Wären 1990 die deutsche Einheit und damit die Währungs- und Sozialunion nicht gekommen, so wäre die Staatsverschuldung heute kein Thema.Die Bundesrepublik ist um ein Drittel größer geworden, ebenso die Ausgaben im Haushalt; aber, die Einnahmen aus den neuen Bundesländern fehlen noch. Das ist der wesentliche Grund für den vorübergehenden steilen Anstieg der Nettoneuverschuldung.Ich möchte das einmal plastisch darstellen: Wir hatten vorher einen Haushalt von ca. 300 Milliarden DM. Deutschland ist um ein Drittel größer geworden. Der Haushalt sieht jetzt Ausgaben in Höhe von 400 Milliarden DM vor. Das ist genau das Drittel an Mehrausgaben. Allerdings fehlen die Einnahmen aus den neuen Bundesländern noch, weil diese total sozialistisch heruntergewirtschaftet wurden.
Man muß sich einmal vorstellen, was es bedeutet, daß von August 1990 bis August 1991 800 000 neue Arbeitsverhältnisse in den alten Bundesländern und weit über eine halbe Million neue Arbeitsverhältnisse in den neuen Ländern entstanden sind.Insofern muß man doch festhalten, daß bei aller Kritik an der derzeitigen Situation in den neuen Bundesländern auch dort in zunehmendem Maße positive Entwicklungen zu verzeichnen sind.Einige davon möchte ich konkret benennen. Die Treuhandanstalt konnte bis Mitte dieses Jahres 3 000 Unternehmen des produzierenden Gewerbes veräußern. Von den Investoren wurden dabei die Sicherung von mehr als einer halben Million Arbeitsplätzen sowie eine Investitionssumme von 70 Milliarden DM zugesagt. Die Privatisierung von mehr als 16 000 Betrieben des Groß- und Einzelhandels bzw. des Gast- undDienstleistungsgewerbes ist weitgehend abgeschlossen. Die berufliche Weiterbildung wird immer stärker angenommen. Allein im Juli dieses Jahres nahmen knapp 100 000 Personen entsprechende Angebote wahr. Vorher wurde noch davon gesprochen, daß die Ausbildungsplätze nicht gesichert seien. Sie sind inzwischen gesichert. Das muß man hier auch deutlich sagen.
Wie bereits an anderer Stelle in der Debatte ausgeführt, haben wir zur Zeit im Rahmen des Gemeinschaftswerks 280 000 Personen in AB-Maßnahmen beschäftigt. Weitere 120 000 Personen werden bis Ende dieses Jahres in AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern zusätzlich eingestellt werden.Nach einer Analyse des Münchner Ifo-Instituts hat sich das Bild seit dem Frühsommer in vielen Branchen gedreht. Im Außenhandel sind die Ausfuhren im Mai gegenüber dem Vormonat um ein Drittel, also deutlich gestiegen. Die umfangreichen Investitionen der Telekom haben bereits heute zu einer spürbaren Verbesserung der Kommunikationswege geführt. Allein 1991 wurden in den neuen Bundesländern 500 000 neue Telefonanschlüsse geschaffen. Wer sich einmal mit den Leuten unterhält, die dort arbeiten, die dort investieren wollen, der weiß: Die Behinderung in der Telekommunikation war eine der entscheidenden Schwierigkeiten beim Aufbau in den neuen Bundesländern. Die Schaffung von 500 000 Telefonanschlüssen hat zu spürbaren Verbesserungen geführt.
Bis zum Sommer 1991 erhöhte sich das Realeinkommen eines Vier-Personen-Haushalts mit zwei Verdienern gegenüber dem Jahresdurchschnittswert des Vorjahres um 18,5 %. Im Vergleich zu 1989 wird die reale Kaufkraft 1991 in den neuen Bundesländern um ein Drittel gestiegen sein. Bei dem Ein-PersonenRentner-Haushalt werden sich die Realeinkommen im Oktober 1991 gegenüber 1989 um nahezu die Hälfte erhöht haben.Es trifft daher leider für die Äußerungen der SPD, die in den neuen Bundesländern weder personell noch durch Wahlergebnisse den Rang einer Volkspartei erreicht hat, folgendes zu: Die schlechten Nachrichten über den Osten kommen immer aus dem Westen.Frau Matthäus-Maier — dies ist genau die Linie, auf der Sie sich bewegen —, ich empfehle Ihnen, sich doch einmal mit Ihrem Parteifreund, dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe zu unterhalten, der festgestellt hat, daß die Maßnahmen der Regierung in den neuen Bundesländern nach seiner Einschätzung zu Erfolgen führen und daß diese Erfolge von den Bürgern auch so wahrgenommen werden, daß er, Stolpe, von einem Sieg der derzeitigen Koalition bei den nächsten Bundestagswahlen auch in den neuen Bundesländern ausgeht.
Wäre es nach dem damaligen Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine gegangen, so hätte die deutsche Einheit lange vorgeplant werden müssen, wie man sich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3225
Carl-Ludwig Thieledas als Sozialdemokrat, der auch in der Sozialistischen Internationale ist, immer so vorstellt.
Wie wir heute wissen, wäre die deutsche Einheit bei einem solch langen Planungsprozeß wohl nie realisiert worden.
Heute wird man sagen können, daß ohne die Vereinigung Deutschlands, ohne die Befreiung des polnischen, tschechischen und ungarischen Volkes der Putsch in der Sowjetunion hätte gelingen können. Lassen Sie mich hier festhalten, daß der Friede der Welt durch die deutsche Einheit um ein Vielfaches sicherer geworden ist; und dieser Friede ist unbezahlbar. Das ist ein ganz hohes Gut.
Ein weiterer Aspekt, der während dieser Plenarwoche behandelt wurde, war die Entwicklung im Osten Europas. Wir alle können uns nur darüber freuen und glücklich sein, daß der Putschversuch in der Sowjetunion vom Volk und von den demokratisch gewählten Politikern der Sowjetunion vereitelt wurde.
— Ich habe schon einige andere richtige Sätze gesagt, Herr Vogel. Ich kann Ihnen meine Rede nachher einmal geben, dann können Sie das nachlesen.
In diesem Zusammenhang wurde zu Recht geäußert, daß die Sicherheitspolitik nicht nur Verteidigungspolitik sei. Gleichwohl gibt es doch zum Nachdenken Anlaß, daß der Verteidigungsminister während der gesamten Debatte bisher nicht ein einziges Mal das Wort ergriffen hat, zumal im Bereich der zukünftigen Rolle der Bundeswehr noch viele Fragen offen sind. Es wäre gut, wenn der Verteidigungsminister hierzu einmal reden würde.
Sie würden sagen: Das nächste vernünftige Wort, was Sie gesagt haben.
— Herr Vogel, ich bedanke mich dafür.
— Zum Einzelplan 14 werden wir im Detail noch kommen, Frau Matthäus-Maier, und da freue ich mich auch schon auf die Abschlußlesung hier.Wir müssen uns ernsthaft darüber unterhalten, wie die sicherheitspolitische Rolle Deutschlands zukünftig auch im Verteidigungsetat berücksichtigt wird.
Hans-Dietrich Genscher war einer der ersten Politiker in Westeuropa, der öffentlich erklärte, daß er Michail Gorbatschow vertraue.
Ich möchte für mich hinzufügen, daß wir zwischenzeitlich in dem Stadium angelangt sind, in dem wir sagen können: Wir vertrauen der Bevölkerung, wir vertrauen den Menschen in der Sowjetunion.Der Warschauer Pakt ist inzwischen aufgelöst. Wenn die Entwicklung vertragsgemäß weitergeht — davon gehe ich aus, und das scheint ja sogar noch schneller abzulaufen —, wird Ende 1994 die Rote Armee aus Deutschland abgezogen sein. Die Polen haben zwischenzeitlich Verhandlungen mit der Sowjetunion zum Abzug der dort stationierten Roten Armee aufgenommen.Wir alle sind immer davon ausgegangen, daß die Bundeswehr eine reine Verteidigungsarmee ist. „Verteidigung" bedeutet aber, daß zumindest eine mögliche Bedrohung besteht. Ich kann für mich nur feststellen, daß spätestens zu dem Zeitpunkt, zu dem die Rote Armee aus Deutschland und aus Polen abgezogen sein wird, eine völlig neue Situation für Deutschland entstanden sein wird. Eine Bedrohung für die Bundesrepublik Deutschland durch konventionelle Streitmächte werde ich dann nicht mehr in der bisherigen Form feststellen können. Das heißt aber nicht, daß die Welt risikofrei geworden ist; wir erleben es ja gerade in Ost- und Südosteuropa.Wir warten darauf, daß der Verteidigungsminister dem Parlament entsprechende Vorstellungen zur Sicherheitslage Deutschlands und zu den Folgerungen daraus für die Bundeswehr unterbreitet.Sehr geehrte Damen und Herren, wir können heute feststellen, daß sich die Welt nach der deutschen Einheit und auch durch die deutsche Einheit grundlegend geändert hat. Diese Änderung ist durch das entschlossene Handeln der Bundesregierung und gegen Widerstände der Opposition energisch und konsequent betrieben worden.
Zum Glück — das muß ich jetzt wirklich sagen — wird in dieser Situation nur die SPD von dieser ihrer Vergangenheit eingeholt und nicht das gesamte Volk.
— Herr Präsident, wollten Sie Frau Matthäus-Maier eine Zwischenfrage gestatten?
Ich bedanke mich, Herr Kollege Thiele. Ich hätte es selber fast auch gemerkt.
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3226 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Vizepräsident Hans KleinBitte, Frau Kollegin!
Herr Kollege, da nicht nur Sie, sondern auch andere Redner von der Union und der FDP im Verlauf der Debatte immer wieder gesagt haben, die deutsche Einheit sei gegen unseren Widerstand zustande gekommen, frage ich Sie: Haben Sie nicht mitbekommen oder nicht zumindest in der Zeitung gelesen, daß wir nicht nur den Verträgen mit ganz überwältigender Mehrheit zugestimmt haben, sondern auch aktiv an der Gestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion beteiligt waren, moniert haben, daß Sie die Wirtschaftsunion nicht ordentlich flankiert haben, nebenbei die SPD in Ost und West die Währungsunion vor Ihnen vorgeschlagen hat,
als Herr Waigel noch gesagt hat, das sei alles Käse,
wir gemeinsam im letzten Jahr und Anfang dieses Jahres versucht haben, für die Menschen möglichst viel herauszubekommen,
und würden Sie mir daher darin zustimmen, daß es zwar Dissense, Unterschiede in Einzelheiten gab, daß es aber wirklich perfide ist zu behaupten, wir seien dagegen gewesen?
Herr Präsident, zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß zwar immer gesagt wird, bei einer Zwischenfrage laufe die Uhr nicht weiter, daß sie aber gerade gesprungen ist.
Ich bitte, einen Stopp vorzunehmen; denn sonst komme ich nachher nicht mehr zu meinen restlichen Ausführungen.Ich möchte jetzt aber zunächst auf die Frage von Frau Matthäus-Maier eingehen. — Ich war zu dem Zeitpunkt, als die deutsche Einheit vor der Tür stand, von Willy Brandt begeistert,
der sich als einziger klar und deutlich zu der deutschen Einheit bekannt hat und dazu, daß die deutsche Einheit so schnell wie möglich kommen sollte.
Ich fand es ferner ausgezeichnet, daß der Bundeskanzler entgegen der Empfehlung der Deutschen Bundesbank für eine schnelle Realisierung der Währungs- und Sozialunion eingetreten ist und das auch durchgesetzt hat.
— Sie waren es nicht. Sollten Sie es doch gewesen sein, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es mir belegen könnten. Sie waren es meines Wissens nicht.
Ich muß wirklich sagen: Der Bundeskanzler, dem sonst vorgeworfen wurde, er sitze die Probleme nur aus, hat in dieser entscheidenden Phase gehandelt, das Heft an sich gerissen und gemeinsam mit dem Außenminister dafür gesorgt, daß diese Angelegenheit international, auch von unseren westlichen Nachbarn flankiert, positiv aufgenommen wurde.
Ich bedanke mich; ich hoffe, die Frage ist beantwortet.Ich bin der Auffassung, daß wir zukünftig in Sicherheitsfragen stärker mit unseren östlichen Nachbarn zusammenarbeiten müssen. Dies darf allerdings nicht unter Aufgabe unserer Westbindung geschehen, sondern nur in Einbindung mit unseren westlichen Bündnispartnern und Freunden, die nach dem Zweiten Weltkrieg mitgeholfen haben, unsere Freiheit und Sicherheit zu verteidigen. Wenn ich von Freunden und Freundschaft spreche, dann bedeutet dieses nach meinem Verständnis, daß Dinge, die eine ungute Entwicklung nehmen, auch offen angesprochen werden müssen.Ich möchte deshalb an dieser Stelle der befreundeten französischen Regierung mitteilen, daß es innerhalb der deutschen Bevölkerung keinerlei Verständnis dafür gibt, daß neue atomare Kurzstreckenwaffen in Frankreich stationiert werden, die ausschließlich auf das Gebiet der Bundesrepublik gerichtet sind.
Der Hinweis darauf, daß es sich hierbei um mobile Atomwaffen handelt, die auch unsere Sicherheit schützen können, vermag mich in keiner Weise zu überzeugen. Dieses würde nämlich voraussetzen, daß wir einer Stationierung dieser Waffen auf unserem Territorium zustimmen. Das tun wir nicht.Ich erwarte allerdings auch, daß die SPD-Opposition und möglicherweise sogar Willy Brandt als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale seinen Parteifreund und früheren Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Frankreichs, François Mitterrand, eindringlich auffordert, diese Waffen zu beseitigen. Auch Herrn Engholm, der vorgestern im Deutschen Bundestag sein Hobby des name-dropping pflegte
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3227
Carl-Ludwig Thiele— name-dropping: Er erzählt immer mal, mit wem er sich gerade unterhält; das hebt die eigene Wichtigkeit — , indem er mitteilte, daß er mit Jacques Delors zu speisen gedächte, möchte ich empfehlen, einen intensiven politischen Kontakt zu seinen Genossen im französischen Parlament aufzunehmen, damit diese Waffen, die nicht mehr in diese Welt passen, verschwinden.
— Ja, von Ihnen hat es bislang keiner gesagt. Deswegen scheint es so zu sein.
Wenn Alfred Dregger zu Recht bemerkte, daß nicht Deutschland allein die Mitte Europas ist, sondern Frankreich und Deutschland gemeinsam die Mitte Europas bilden — ich möchte hinzufügen, daß ich diese Auffassung für den Westen Europas teile —, dann halte ich es für angebracht, wenn der Bundeskanzler ebenfalls seinem Freund François Mitterrand erklärt, daß für die Stationierung dieser Waffen von uns Deutschen kein Verständnis aufgebracht wird.Wir haben jetzt endlich die Chance, international noch weitergehende Abrüstung einzuleiten, als dieses bisher möglich war. Wir müssen zwar die Entwicklung in Osteuropa sorgfältig beobachten, müssen uns aber auf der anderen Seite für den Tag, an dem ein Großteil der Bedrohung in Europa verschwunden ist, so vorbereiten, daß dann auch weitere Abrüstung erfolgen kann.Hierbei sollten wir Deutsche, die den Frieden, die deutsche Einheit und die Souveränität nur deshalb erreicht haben, weil unsere Nachbarn von unserer Friedfertigkeit überzeugt waren, mit gutem Beispiel vorangehen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Haushaltsdebatten können leicht Ritual, können leicht Routine werden. Im Falle des Haushalts 1992 liegt das wie schon beim Haushalt 1991 vor allem an der stereotypen Beschönigung und am Selbstlob der Bundesregierung durch die Bundesregierung und durch die Koalitionsparteien.Heute, nach drei Tagen Debatte, ist kein Konzept, kein planmäßiger Ansatz für die finanz- und haushaltspolitische Lösung der Aufgabe im Osten wie im Westen sichtbar.
Um ein Wort von heute morgen aufzugreifen: Die Bundesregierung und die Koalitionsparteien praktizieren eine Rührei-Ökonomie: konturenlos, profillos, phantasielos. Es mangelt insbesondere jeder Ansatz für Industriepolitik, jene Strukturpolitik, die wir in wenigen Jahren so notwendig haben werden wie nur irgend etwas.
Statt dessen, wie immer: mehrfache Berufung auf Ludwig Erhard. Ihn mit Marx zu vergleichen ist etwas, was nur knapp oberhalb der Schwachsinnsgrenze angesiedelt ist. Statt eines soziale und ökologische Perspektiven aufweisenden Konzepts der dumpfe Glaube an die Allmacht der Marktkräfte und — da müssen wir besonders hellhörig sein — „Doitschtümelei".Ich bitte unsere ausländischen Freundinnen und Freunde: Laßt uns nicht mit diesen engstirnigen und engherzigen, zunehmend wieder national gestimmten Deutschen allein. Gerade im Zusammenhang mit dem welthistorischen Umbruch, den wir gegenwärtig erleben, gilt: Es darf nie wieder das aggressive, autoritäre, brutale Deutschland der Vergangenheit geben.
Den politischen Kräften, die sich die Lufthoheit über deutschen Stammtischen in einem intellektuellen Tiefflug sondersgleichen sichern wollen,
sei an dieser Stelle in Erinnerung gerufen: Der Nationalsozialismus, das verbrecherischste politische Terrorsystem der Menschheitsgeschichte, war auch ein Produkt des Kapitalismus.
Der Kapitalismus, mit dem wir auf lange Zeit leben müssen, bedarf der ständigen, sorgfältigen, demokratischen, politischen, ökonomischen, sozialen und in der Zukunft besonders intensiv der ökologischen Kontrolle. Dazu bedarf es gerade in der Bundesrepublik Deutschland, gerade im neuen Deutschland, einer starken Linken. Mit dem Zusammenbruch des sogenannten real existierenden Sozialismus, der sich in zentralen Strukturen eben nicht oder kaum vom Kapitalismus unterschied — das ist übrigens eine der Lehren aus der Existenz des KoKo-Imperiums unter Schalck-Golodkowski —,
nehmen die ökonomischen und sozialen, die politischen und die ökologischen Widersprüche des Kapitalismus nicht ab, sondern zu, die Widersprüche zwischen arm und reich, zwischen Nord und Süd, zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen, zwischen Nationalitäten und Religionen. Und nochmals, auch wenn es Ihnen hier auf der Rechten nicht paßt: Eben deshalb braucht das neue, ökonomisch und politisch mächtige Deutschland mit seiner unheilvollen politischen Tradition eine starke Linke.
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3228 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Dr. Ulrich BriefsWir als demokratische Sozialisten wenden uns daher dagegen, daß die finanzpolitische Stabilität im Zusammenhang mit der falschen, weil insbesondere unsozialen Finanzierung des Haushalts 1992 und der weiteren Haushalte bis 1995 restlos geopfert wird. Wir wenden uns gegen die Verschuldungsorgie des Bundesministeriums der Finanzen. Wir wenden uns auch deshalb gegen die falsche Schwerpunktsetzung in diesem Haushalt — wir haben das schon ausgeführt — : Die unsoziale Finanzierung, die falsche Schwerpunktsetzung in der Haushalts- und Finanzpolitik der Bundesregierung gehen nicht zu Lasten der Holz- oder Plüschklassenfahrer, wie heute morgen gesagt worden ist, sondern zu Lasten der wachsenden Zahl sozial Schwacher, der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger, der Sozialrentner mit kleinen Renten, der zunehmenden Zahl der Langzeitarbeitslosen, der Familien mit geringen Einkommen und hoher Kinderzahl, der Alleinerziehenden, und sie richten sich vor allem gegen die überwiegende Mehrheit der Mehrheit der Bevölkerung, gegen die Frauen. Sie gehen also zu Lasten derjenigen, die unter die Räder geraten — das ist das richtige Bild. In diesem Zusammenhang von Plüsch- oder Holzklasse zu reden ist absurd.
Aus diesem Grunde darf es auch keinen blindwütigen Sturmlauf gegen Subventionen geben. Die Subventionierung von Kindergärten, wie sie Petra Bläss vom Unabhängigen Frauenverband mit Bezug auf die Forderung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft fordert, ist aus unserer Sicht insbesondere in dieser kinderfeindlichen Gesellschaft sinnvoll. Die Subventionierung des Jägers 90, der Weltraumfahrt und -forschung, der Atomtechnik ist aus unserer Sicht schädlich. Sie führt insbesondere auch dazu, den Wachstumswettlauf der reichen Industrieländer weiter anzuheizen, mit dem Ergebnis, daß wir schließlich die Erde völlig zerstören, die Erde, die wir bekanntlich von unseren Kindern und Enkeln nur geborgt haben. Auch und gerade das erfordert im übrigen Industriepolitik, erfordert Strukturpolitik.Übrigens: Gerade die weitere ökologische Zerstörung, die Zerstörung der natürlichen Lebens- und Überlebensbedingungen hat etwas mit den ureigensten Funktionsgesetzen des heutigen, des modernen industriellen Kapitalismus zu tun. Je reicher die Wirtschaft wird, z. B. auch durch die von der Bundesregierung geplanten Unternehmensteuersenkungen, um so größer wird zwangsläufig das Rad, das in der nächsten Runde wirtschaftlich gedreht werden muß, in Form von noch mehr Investitionen, von noch mehr Produktion, von weiterer Eroberung von Märkten, von weiterer Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen, von noch mehr Geld- und Warenspekulation, mit zwangsläufig weiter zunehmendem Ressourcenverbrauch, mit weiter zunehmenden Schadstoffemissionen, mit immer mehr Müllanfall, mit der Zerstörung der tropischen Regenwälder usw. usf. Kapitalismus, kapitalistische Dynamik und Expansion vertragen sich nicht mit einem sorgsamen Umgang mit unserer Umwelt. Das ist die Wahrheit, und dieser ökologisch zerstörerischen Entwicklung arbeiten Sie mit Ihrer Finanz-und Haushaltspolitik zu.Dazu kommt jetzt — das ist zu befürchten — der Generalangriff auf die Gewerkschaften und auf von ihnen durchgesetzte Rechte. Der Angriff auf den Jahrhundertvertrag oder die Wiedereinführung von Karenztagen gehören hierzu ebenso wie die Politik der weiteren Deregulierung, die Sie wohl bereits intensiv planen.
Übrigens, Herr Minister Möllemann — er ist jetzt nicht da, aber es wird ihm sicherlich irgendwann auffallen — , Ihre Zahlen sind Ergebnis einer Milchmädchenrechnung. Laut DIW-Wochenbericht 51/52 des Jahres 1990 betrugen die Subventionen pro Arbeitsplatz im Steinkohlenbergbau 1987 35 328 DM. Ihre Zahlen sind also falsch.Umgekehrt: Eine überschlägige Rechnung ergibt, daß, wenn wir von 500 000 Unternehmen, also von einer sehr hohen Zahl von subventionierten Unternehmen, ausgehen, jedes dieser Unternehmen jedes Jahr 160 000 DM an Finanzhilfen und Steuervergünstigungen erhält.Beziehen wir die Subventionen auf alle Unternehmen — auf über zwei Millionen Unternehmen — , ergibt sich rein rechnerisch, daß jeder Unternehmer pro Unternehmen im Jahr immerhin 38 000 DM Subventionen erhält. Unternehmerische Tätigkeit ist also, was dabei immer vergessen wird, prinzipiell eine ganz schön mit staatlichen Mitteln gepolsterte Tätigkeit. Nach solchen Summen kann sich der normale abhängig Beschäftigte, ganz zu schweigen von Sozialhilfeempfängern oder Obdachlosen, nur die Finger lekken.Bleiben Sie bei der Wahrheit, und versuchen Sie nicht, uns auf dem Wege über die Kündigung des Jahrhundertvertrags Apartheid-Kohle aus Südafrika oder über 20 000 Kilometer mit entsprechenden ökologischen Risiken herangeschipperte AustralienKohle oder gar weitere Atomkraftwerke aufzudrükken.Was die angeblichen Horrorszenarien betrifft: Die schreiben Sie doch selbst als Fakten. Einschließlich Kurzarbeit und verdeckter Arbeitslosigkeit haben wir im Osten bereits 40 % Arbeitslosigkeit, und es wird leider noch mehr geben.Im Westen wurden Ende der 70er Jahre in ebensolchen angeblichen Horrorszenarien — auch das haben Sie als Horrorszenarium abzutun versucht — für 1985 1,5 Millionen Arbeitslose vorausgesagt. Tatsächlich waren es mehr als drei Millionen einschließlich der stillen Reserve. Heute sind es im Westen immer noch mehr als zwei Millionen.Die Augen schließen oder die vor sich gehende unsoziale Entwicklung zu beschönigen, wie Sie das in dieser Haushaltsdebatte getan haben, ist falsch, ist verhängnisvoll. Wir fordern von Ihnen statt flauer Worte und Eigenlob tatkräftige Maßnahmen der Industrie- und Strukturpolitik. Legen Sie Ihre ideologischen Scheuklappen ab! Lösen Sie sich von Ihren naiven marktwirtschaftlichen Vorstellungen! Tun Sie endlich etwas für die sozial schwachen Menschen im Osten wie im Westen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3229
Dr. Ulrich BriefsWir werden daher in den kommenden Beratungen in den Fachausschüssen und im Haushaltsausschuß Anträge zu folgenden Schwerpunkten einbringen:
Herr Kollege Briefs, das geht jetzt leider nicht mehr. Sie sind schon weit über die Zeit.
Wir haben in den vorhergehenden Debattenteilen erhebliche Zeitanteile vergeben. Erlauben Sie mir noch drei Sätze.
Erstens fordern wir den Abbau der Arbeitslosigkeit, zweitens die Wiederaufnahme des sozialen Wohnungsbaus, drittens die Streichung von Rüstungsprojekten und die Reduzierung des Rüstungshaushalts um 10 Milliarden DM als Einstieg in den völligen Abbau von Rüstung und Armee, viertens die Umwidmung von Haushaltsmitteln für die militärische und ökologische Konversion, fünftens die Sicherung von Mitteln für ein selbstbestimmtes Leben von sozial Schwachen, von Frauen, von Asylanten und Asylantinnen in Verbindung mit dem Ausbau der Hilfe für die Dritte Welt.
Herr Abgeordneter — —
Sechstens — als letzter Punkt — fordern wir den Abbau aller Haushaltsansätze, die der offenen oder verdeckten Repression dienen.
Das kann Ihnen genug zum Denken geben.
Herr Abgeordneter, bitte kommen Sie zum Schluß!
Das würde Ihnen wirklich weiterhelfen, meine Damen und Herren auf der Rechten.
Ich muß jetzt einmal an die Adresse des Kollegen Briefs und auch an die Adresse seiner Gruppe folgendes sagen: Ich bin, wenn ich merke, jemand setzt zur Landung an, immer gerne bereit, ihm nicht gleich ins Wort zu fallen. Aber wenn Sie dann anfangen, sechs Punkte aufzuzählen, ändert sich das. Die Geschäftsordnung sieht vor, bei der Mahnung des Präsidenten, zum Schluß zu kommen, nur noch einen Satz zu sagen.
Das bedeutet natürlich, daß ich beim nächsten Mal sofort, sobald das rote Licht aufleuchtet, Schluß zu machen trachte. Ich bitte Sie doch herzlich: Halten Sie sich an die Regeln, dann haben wir es alle leichter miteinander.
Als nächster hat der Abgeordnete Dr. Klaus Rose das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des PDS-Vertreters mit Negierung strafend, komme ich zum Haushalt 1992.
Es ist nur drei Monate her, seit der erste gesamtdeutsche Haushalt verabschiedet wurde. Wir erinnern uns: Was hat es damals nicht für Aufregungen gegeben, und was ist nicht alles prophezeit worden wegen der zusätzlichen Ausgaben für den Golfkrieg, für den Abzug der sowjetischen Truppen, für den Aufbau der neuen Bundesländer usw?
Inzwischen sind diese Klippen gemeistert und die Oppositionswarnungen von der Wirklichkeit widerlegt. Es ist auch nicht zu der von den Gewerkschaften noch im Juli prophezeiten Bruchlandung gekommen. Schon nach wenigen Wochen sind die Unterstellungen der IG Metall, der Finanzminister sei ein Schuldenmacher und Jobkiller, eindeutig widerlegt. Der Schuldenanstieg wird deutlich zurückgeführt, und auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt stabilisiert sich, wie wir in diesen Tagen vernehmen konnten.In den neuen Bundesländern ist die Zahl der Arbeitslosen zum erstenmal seit der Währungsunion gesunken. Im vierten aufeinanderfolgenden Monat ist dort die Kurzarbeit vermindert. Auch in den westlichen Bundesländern hat die Arbeitslosenquote abgenommen. Wir werden, meine Damen und Herren, die Bundesanstalt für Arbeit noch in diesem Jahr weiter unterstützen, damit sie vor allem die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern verstärken kann.
Wir haben Ihnen versprochen, daß der Haushaltsentwurf für 1992 die Rückkehr zur haushaltspolitischen Stetigkeit nachdrücklich bekräftigen wird. Die Bundesregierung und ihr Finanzminister haben dieses Versprechen mit dem jetzt eingebrachten Haushaltsentwurf und den begleitenden finanzpolitischen Entscheidungen in überzeugender Weise eingelöst. Der Entwurf belegt nämlich, daß die Finanzpolitik trotz der gewaltigen nationalen und internationalen Herausforderungen weiterhin auf dem eingeschlagenen erfolgversprechenden Kurs bleibt. Wir werden im Haushaltsausschuß darauf achten, daß die strikte Konsolidierungspolitik fortgesetzt wird.Mit dem vorgesehenen Volumen des Haushaltsentwurfs von 422,5 Milliarden DM ist es gelungen, die Steigerungsrate auf 3 % zu begrenzen. Die Koalitionsfraktionen bestärken den Finanzminister, den durchschnittlichen Ausgabenanstieg für die Jahre bis 1995 noch weiter zu drücken, damit er deutlich unter dem Wachstum des Bruttosozialprodukts liegt. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Fortführung des bereits im neunten Jahr ununterbrochenen Wirtschaftswachstums.Vom Gesamtvolumen des Bundeshaushalts sind mit 109 Milliarden DM mehr als ein Viertel einigungsbedingte Ausgaben. Wir werden auch in Zukunft umfassende Unterstützung für die neuen Länder und die
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3230 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Dr. Klaus RoseMenschen dort leisten und damit unser Wort halten, bald einheitliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu verwirklichen.Ich füge gerne hinzu: Es ist ja nicht bloß ein Transfer von West nach Ost. Er kommt vielmehr auch auf Grund der Entwicklung im Osten den westlichen Bundesländern zugute. Er kommt Deutschland insgesamt zugute. Wir sollten diese nationale Aufgabe fortführen.
Die positiven Impulse, die von den vielfältigen Fördermaßnahmen ausgehen, machen sich zunehmend in der wirtschaftlichen Entwicklung der neuen Bundesländer bemerkbar. Die Finanztransfers in die neuen Bundesländer werden, was auch die Bundesbank fordert, zunehmend auf investive Zwecke konzentriert. Im Rahmen des erfolgreichen Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost liegt 1992 das Gewicht bei dauerhaften Investitionen für die Infrastruktur.Meine Damen und Herren, die Begrenzung des Ausgabenanstiegs wird nur durch äußerste Haushaltsdisziplin erreicht werden können. Mit den zusätzlichen Einsparungen im Bundeshaushalt 1992 in Höhe von 12 Milliarden DM gegenüber 1991 haben wir seit 1990 ein Einspar- und Entlastungsvolumen im Haushalt von insgesamt 62 Milliarden DM erreicht.
Wir können unsere Konsolidierungspolitik jedoch nur fortsetzen, wenn wir weiterhin strenge Maßstäbe an neue Ausgabenwünsche legen. Ich begrüße es sehr, daß der Herr Bundeskanzler diese Linie erst kürzlich bekräftigt hat, daß er sogar sagt, das sei inzwischen Chefsache, und daß auch Theo Waigel in dieser Woche eine strikte Sparsamkeit bekundete. Dazu gehört auch, daß wir uns im internationalen Bereich — ich denke hier vor allem an die Sowjetunion — die notwendigen Beschränkungen auferlegen.
Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses hat deutlich davon gesprochen. Ich bin gespannt, wie die Bundestagsfraktion der SPD darauf reagieren wird.Wir haben, gerade was die Sowjetunion anbelangt, große Vorleistungen erbracht, die, wie die jüngste Entwicklung gezeigt hat, ein wichtiger Beitrag für die Stabilität der demokratischen Entwicklung geworden sind. Die deutsche Volkswirtschaft darf aber nicht überfordert werden. Hier ist die Solidarität aller westlichen Industrienationen gefordert. Ich halte es in diesem Zusammenhang auch für völlig verfehlt, über weitere Steuererhöhungen zu diskutieren.Meine Damen und Herren von der Opposition, wir nehmen das Sparen ernst und handeln entsprechend. Sparen bedeutet aber nach unserer Philosophie auch, notwendige Umschichtungen vorzunehmen. Als Beispiel nenne ich hier die Stärkung der für die Infrastruktur so wichtigen Verkehrsinvestitionen in den Bereichen öffentlicher Personennahverkehr, Bundesfernstraßen, Bundesbahn und Reichsbahn. Insgesamt werden in den Jahren 1992 bis 1995 die Verkehrsinvestitionen des Bundes allein in diesen Bereichen gegenüber der bisherigen Planung um über 30 Milliarden DM aufgestockt.Sie reden nur vom Sparen, fordern aber an allen Fronten die Übernahme zusätzlicher Lasten durch den Bund. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist die von Ihnen geforderte Aufstockung des Bildungshaushalts um 1,5 Milliarden DM. Der Haushaltsausschuß hat in diesem Bereich eine besondere Verantwortung und nimmt sie auch wahr. Als Beispiel nenne ich den vorgesehenen Stellenabbau in der Bundesverwaltung, der von uns im Haushaltsausschuß beschlossen wurde.Frau Kollegin Matthäus-Maier — Sie können anschließend noch reden — , die Koalitionsfraktionen im Haushaltsausschuß werden sich sehr genau auch mit dem Verteidigungshaushalt auseinandersetzten. Wir werden dies aber im Gegensatz zu Ihnen nicht ständig neu verfrühstücken. Wir werden das alles ohne Polemik mit großer Sachlichkeit abhandeln und dabei in Rechnung stellen, daß im Einzelplan 14 allein durch die Lohnrunde 1991 ein Betrag von 1,4 Milliarden DM aufgefangen werden mußte und daß für Umweltschutzmaßnahmen und zur Verbesserung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern ein Betrag von bis zu 1 Milliarde DM vorgesehen ist. Das sind einige Gründe dafür, daß der Verteidigungshaushalt jetzt am Anfang nicht ständig zurückgefahren wird.Die Koalition hat auch beim Subventionsabbau Wort gehalten. Das Einsparungsziel von jährlich rund 10 Milliarden DM bei den Finanzhilfen und den steuerlichen Vergünstigungen ist erreicht und im Haushaltsentwurf und im Finanzplan berücksichtigt worden. Die Koalitionsfraktionen haben am 2. September 1991 die Konzeption im wesentlichen gebilligt. Das Gesamtvolumen wird daher in jedem Falle eingehalten.Durch die Begrenzung des Ausgabenanstiegs wird es gelingen, die Nettokreditaufnahme des Bundes um rund 16,5 Milliarden DM auf unter 50 Milliarden DM zurückzuführen. Bis 1995 wird diese Nettokreditaufnahme stufenweise auf rund 25 Milliarden DM zurückgeführt, und sie liegt damit ab 1992 wieder deutlich unter den investiven Ausgaben.Nach den einigungsbedingten Ausnahmejahren 1990 und 1991 setzen wir also unsere finanzpolitische Linie der Rückführung der Neuverschuldung eindeutig fort.Dies ist ein deutliches vertrauensbildendes Zeichen für die Finanzmärkte.
Wir entsprechen damit auch in vollem Umfang dem Wunsch der Deutschen Bundesbank in ihrem Monatsbericht vom August dieses Jahres, daß die staatliche Kreditfinanzierung mittelfristig wieder zurückgeführt werden muß.Meine Damen und Herren von der SPD, Sie müssen den Bundesbankbericht sehr genau lesen und dürfen nicht nur kurze Zitate daraus bringen, die Ihnen angeblich politisch nutzen. Die Bundesbank hat nämlich in ihrer vorsichtigen Art ausdrücklich bekräftigt, Herr
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Dr. Klaus RoseFraktionsvorsitzender Vogel — Sie runzeln in Ihrer bekannten Art die Stirn —,
daß es die vor der Vereinigung bei der Konsolidierung der Finanzlage der öffentlichen Haushalte erzielten Fortschritte bis zu einem gewissen Grade erleichtert haben, vorübergehend mehr Kredite aufzunehmen, und daß der Kreditmarkt die starke Zunahme des Kreditbedarfs der öffentlichen Hand bisher ohne größere Probleme verkraftet hat.
Die Bundesbank hat weiter festgestellt, daß das Wachstum der öffentlichen Verschuldung vor der deutschen Vereinigung erheblich gedämpft werden konnte, obwohl nach der 1982 bis 1985 im Vordergrund stehenden Rückführung der Haushaltsdefizite der Weg mehrstufiger Steuersenkungen beschritten worden war.Ein besseres Zeugnis, Herr Vogel, für die erfolgreiche Finanz- und Haushaltspolitik der Koalition kann nicht ausgestellt werden.
Daran ändern auch die Schreckensgemälde nichts, die die SPD im Hinblick auf die angeblich erdrükkende Staatsverschuldung in die Welt setzt.Die ganze Diskussion um die sogenannten Schattenhaushalte ist unredlich aufgezogen. Es werden hier Zahlen aus dem öffentlichen Bereich und aus dem privaten Sektor in unzulässiger Weise vermengt. So kann z. B. die Treuhandanstalt nicht dem öffentlichen Sektor zugerechnet werden. Sie deckt außerdem einen Teil der Schulden durch Erlöse. Eine Zuordnung der Treuhandanstalt zum öffentlichen Sektor wäre nur dann gerechtfertigt, wenn sie den Forderungen der SPD entsprechend in eine gigantische Beschäftigungsgesellschaft umfunktioniert werden würde. Dies lehnen wir aber entschieden ab.
Auch die Schulden der Wohnungswirtschaft gehen zum großen Teil nicht in den Bundeshaushalt ein. Generell lassen sich die rein privatwirtschaftlichen Tätigkeiten der öffentlichen Hand nicht dem öffentlichen Sektor zuordnen.Der Fonds Deutsche Einheit und der Kreditabwicklungsfonds sind ebenfalls keine Schattenhaushalte; sie sind der Öffentlichkeit ja aus breiter Diskussion bekannt.
Ihre Wirtschaftspläne werden dem jährlichen Haushalt beigefügt, und die Schuldendienstleistungen werden in den Haushalt eingestellt.Die Kampagne der SPD soll denn auch nur den Bürger verunsichern und von der eigentlichen Schuldenmacherpartei SPD ablenken.
Meine Damen und Herren, wir haben die Finanzpolitik im Gegensatz zur Zeit Ihrer Regierung, die ja am Schluß gescheitert war, im Griff. Das Finanzierungsdefizit Deutschlands liegt genau im europäischen Durchschnitt. Auch die Kritik an der Höhe der Staatsquote ist unredlich, wenn man sich vor Augen führt, daß in dieser historischen Ausnahmesituation zwei Volkswirtschaften vereinigt worden sind, von denen eine einen 100prozentigen Staatsanteil hatteWir werden auch die Preisentwicklung im Griff behalten. Beim gegenwärtigen Anstieg des Preisindexes sind neben den notwendigen Steuererhöhungen insbesondere die Lohn- und Einkommensentwicklungen von besonderer Bedeutung. Die künftige Lohnpolitik der Tarifparteien muß sich hier wieder ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung bewußt werden.
Meine Damen und Herren, die Haushaltspolitik der Koalition ist eingebettet in eine finanzpolitische Gesamtkonzeption, deren Inhalte sind: Stabilität, Verläßlichkeit, Stärkung der Marktkräfte und Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze. Genau diese Linie wird auch mit dem Steueränderungsgesetz 1992 fortgesetzt.Die Familien werden durch die Anhebung der Kinderfreibeträge um über 1 000 DM und die Erhöhung des Erstkindergeldes deutlich entlastet. Seit 1982 wurden damit die finanziellen Aufwendungen des Bundes für die Familien mehr als verdoppelt, nämlich von 27,4 Milliarden DM auf 55,6 Milliarden DM.Bedingt durch die Einführung des Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 werden die Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze durch eine Entlastung der Unternehmen im Bereich der ertragsunabhängigen Steuern verbessert. Das Gesetzespaket ist ausgewogen. Familien und Unternehmen werden mit jeweils 7 Milliarden DM entlastet.Bei der Gewerbeertragsteuer und der Vermögensteuer gibt es Mittelstandskomponenten. Länder und Gemeinden erhalten durch ihre Beteiligung an der Umsatzsteuererhöhung, am Subventionsabbau sowie durch die verstärkte Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs und des kommunalen Straßenbaus einen Ausgleich. Für die Gemeinden kommt die Verminderung der Gewerbesteuerumlage hinzu.Wir werden erneut alles tun, meine Damen und Herren, um bei den jetzt anstehenden Beratungen im Haushaltsausschuß die Bundesrepublik Deutschland auf dem international anerkannten hohen Standard zu halten. Dazu bedarf es natürlich auch des Schweißes der Edlen. Die Edlen sind in diesem Fall die Mitglieder des Haushaltsausschusses und später auch wieder das Gesamtparlament.
Packen wir es an!
Nachdem aber in diesen Tagen auch so viel von Unterstellungen gegenüber verstorbenen Politikern
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Dr. Klaus Rosedie Rede war, meine Damen und Herren, möchte ich doch noch folgendes sagen:
Einen Politiker wie Franz Josef Strauß, der in Jahrzehnten wie kaum ein anderer zum Aufbau der demokratischen Bundesregierung Deutschland beigetragen hat und der wie kaum ein anderer die Anerkennung eines großen, für Sie nicht vorstellbaren Teils der Bevölkerung in seinem eigenen Freistaat Bayern bekommen hat, einen Politiker wie Franz Josef Strauß, der weltweit eine anerkannte Persönlichkeit war, jetzt, nachdem er tot ist, auf Grund von Aussagen eines Vertreters eines korrupten, zusammengebrochenen Regimes als Verbrecher oder gar als Zerstörer dieses Landes darzustellen,
halte ich für unerträglich. Es ist ein schäbige Art, wie Sie mit ihm umgehen. Es wäre für mich ebenso schäbig, wenn wir z. B. über verstorbene Politiker aus Ihren Reihen heute etwas Negatives erzählen würden, weil es im Aktenmaterial früher einflußreicher Leute so dargestellt worden wäre.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns in diesem Hause nicht dazu verleiten lassen, Vorverurteilungen vorzunehmen, bevor ein Ergebnis des Untersuchungsausschusses vorliegt. Wir sollten uns in diesem Hause auch nicht dazu verleiten lassen, Nachverurteilungen vorzunehmen, wenn Leute verstorben sind und sich nicht mehr wehren können. Bitte merken Sie sich das als Vertreter eines angesehenen deutschen Parlaments.
Das Wort hat die Frau Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Rose, eines zur Klarstellung: Nicht die SPD erzählt etwas über Franz Josef Strauß, sondern das tut Schalck-Golodkowski in Vermerken, und der Sohn Max Strauß sagt, dies sei authentisch. Das ist der Stand, und jetzt werden wir weitersehen.
— Sie hören es.Herr Rose, Sie reden dauernd vom Sparen. Es gibt da ein einfaches Rezept von Erich Kästner, nämlich: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es".
Nutzen Sie die nächsten Wochen. Wenn ich sehe, daßder Bundesrechnungshof noch heute kritisiert hat,daß der Etat der Bundesregierung für die Öffentlichkeitsarbeit mit fast 500 Millionen DM zu großen Teilen rechtswidrig ist — ich erinnere z. B. an die berühmten Schallplatten des Kanzlers vom letzten Jahr u. ä. — , dann, finde ich, sollten Sie damit einmal anfangen.
Aber ich habe mich zu einem anderen Punkt gemeldet. Als der SPD-Fraktionsvorsitzende Vogel in dieser Debatte darauf hinwies, daß die von Ihnen eingeführte Ergänzungsabgabe von allen Arbeitnehmern in den neuen Ländern mit einem Monatslohn von 842 DM bezahlt werden muß, haben viele CDU-Kollegen und auch viele FDP-Kollegen sehr ungläubig geschaut. Sie wollten diese Zahl einfach nicht glauben.
Ich darf Sie daran erinnern, daß die Steuerpflicht und damit auch die Pflicht zur Entrichtung der Ergänzungsabgabe in den alten Bundesländern bereits bei einem Monatslohn von 792 DM einsetzt.
Das werden viele von Ihnen wiederum nicht glauben. Das nehme ich Ihnen auch ab.Meine Damen und Herren, wer in dieser Situation bei der Steuerpflicht und der Pflicht zur Zahlung der Ergänzungsabgabe ab 792 DM im Monat eine Ergänzungsabgabe ohne Einkommensgrenze einführt, tut unseres Erachtens Unrecht.
Wer angesichts dieses Unrechts außerdem noch die Senkung der Vermögen- und die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer verlangt, der handelt entweder völlig unverantwortlich, oder er weiß nicht, was er tut. Ich habe bei vielen von Ihnen das Gefühl, daß Sie einfach nicht wissen, was Sie hier angesichts einer Steuerpflicht ab 792 DM im Monat tun.
— Herr Kollege, fragen Sie Herrn Waigel, ob die Zahl stimmt. Er wird es bestätigen. Sie stimmt. Lassen Sie uns lieber gemeinsam darüber reden, wie wir das ändern können!
Wir Sozialdemokraten weisen seit Jahren darauf hin, daß der steuerliche Grundfreibetrag zu gering ist, denn es werden bereits Steuern auf Einkommen erhoben, die man als Sozialhilfe steuerfrei erhält. Seit Jahren fordern wir vom Finanzminister eine Anhebung des Grundfreibetrages auf mindestens 8 000 DM für Alleinstehende und 16 000 DM für Verheiratete.Spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Steuerfreiheit des Existenzminimums von Kindern vom Sommer 1990 weiß der Finanzminister, daß der Grundfreibetrag verfassungswidrig ist. Deshalb hat er im Herbst 1990 die Finanzämter ja auch angewiesen, alle Steuerbescheide nur
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Ingrid Matthäus-Maierfür vorläufig rechtskräftig zu erklären. Das ist aber leider auch alles.Wir sind ein Jahr weiter, und der Finanzminister tut nichts, um diesen Zustand in der Sache zu verändern, sondern er versucht, durch immer neue Hakenschläge den Konsequenzen des Grundgesetzes zu entkommen. Wir sehen hier einen Bundesfinanzminister auf der Flucht vor der Verfassung, übrigens — nebenbei gesagt — wie weiland Innenminister Höcherl, der damals meinte, man müsse das Grundgesetz nicht immer unter dem Arm haben.
— Persönlich ist auch Herr Waigel in Ordnung. Darum geht es nicht.Ich habe vor wenigen Stunden die neueste Entscheidung des Bundesfinanzhofs zu diesem Thema auf den Schreibtisch bekommen.
— Ich stelle es Ihnen gerne zu, Herr Kollege. Es ist wirklich ein sehr ernstes Thema. Ich finde, wenn ich das unpolemisch anpacke, dann sollten Sie sich das genau anhören.
In dieser Kostenentscheidung vertritt der Bundesfinanzhof die Auffassung, daß der Grundfreibetrag schlicht und einfach verfassungswidrig zu niedrig ist, ja, mehr noch — das ist das Wichtige und Neue —: Der Bundesfinanzhof vertritt die Auffassung, daß die Steuerbürger das Recht auf einstweiligen Rechtsschutz haben. Das heißt, sie haben — wenigstens bei niedrigen Einkommen — das Recht, die zuviel festgesetzten Steuern gar nicht erst zu zahlen, sie zurückzuhalten. Jedermann weiß: Das ist eine schwerwiegende Entscheidung mit weitreichenden Folgen.Übrigens: Offenbar hat das Bundesfinanzministerium mit allen möglichen Verfahrenstricks versucht, diese Entscheidung zu verhindern. Nachdem die Sache beim Bundesfinanzhof anhängig wurde und bereits eine mündliche Verhandlung anberaumt war, sollte offenbar eine höchstrichterliche Entscheidung vermieden werden. Die Finanzverwaltung hat auf die Bezahlung der Steuern ganz verzichtet. Der Bundesfinanzhof hat sich aber nicht auf den Arm nehmen lassen und, was äußerst ungewöhnlich ist, in einer langen Kostenentscheidung — die sind normalerweise vier Zeilen lang — dargelegt, wie er die Sache selber entschieden hätte, wenn die Verwaltung nicht nachgegeben hätte, nämlich zugunsten unseres betroffenen Steuerbürgers, dessen Grundfreibetrag zu gering ist.Meine Damen und Herren, ich halte die Entscheidung des Finanzhofs für richtig. Dies bedeutet: Sie werden nicht daran vorbeikommen, Herr Bundesfinanzminister, die Vollziehung der Steuerbescheide bei Geringverdienern auszusetzen. Das ist der Inhalt dieser Entscheidung. Daß bedeutet, das Bürgerinnen und Bürger mit geringem Einkommen die Steuern einbehalten dürfen, die ihnen der Staat heute in verfassungswidriger Weise einbehält. Wenn Sie die Finanzämter weiter anweisen, diese Steuern bei denNiedrigverdienern einzutreiben, wird es zu einer Flut von Einsprüchen kommen.Ich spreche dieses Thema am Schluß der Haushaltsdebatte unmittelbar vor Ihrer Schlußrede an, Herr Waigel, weil ich finde, wir alle haben ein Recht darauf, daß sie dem Parlament über diesen Sachverhalt endlich Auskunft erteilen. Wir haben in dieser Debatte dieses Thema mindestens fünfmal angesprochen, in verschiedener Art und Weise, und Sie sagen einfach nichts dazu. Jedermann weiß: Die Anhebung des Grundfreibetrages um nur 100 DM kostet etwa 700 Millionen DM. Deswegen kann es doch nicht sein, daß eine Haushaltsdebatte von zweieinhalb Tagen zu Ende geht, ohne daß der Finanzminister über seine künftige Linie und die Finanzierung Auskunft gibt.Ich fordere Sie auf, in Ihrer folgenden Rede zu meinen Fragen Auskunft zu geben, nämlich:Erstens. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung des Bundesfinanzhofs?Zweitens. Welche Folgerungen ziehen Sie daraus?Drittens. Werden Sie die Aussetzung des Vollzugs für Niedrigverdiener anordnen?Viertens. Wenn nicht: Wie wollen Sie das begründen?Fünftens. Wollen Sie den Grundfreibetrag anheben?Sechstens. Wann?Siebtens. Auf welche Höhe?Achtens. Welche Auswirkungen hat das auf die Haushalte von Bund, Länder und Gemeinden?Neuntens. Wie wollen Sie diese Steuerausfälle finanzieren? Wie wollen Sie dieses enorme Risiko für die Haushalte von Bund, Länder und Gemeinden behandeln?
Ich bin der Ansicht, die bisherige Behandlung dieses Themas im ganzen Sommer und auch in dieser Haushaltsdebatte gehört zu den Kapiteln Schönen und Verdrängen. Das muß jetzt aufhören. Herr Bundesfinanzminister, bitte geben Sie uns hier klare und verbindliche Auskunft!
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Theo Waigel.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Merkwürdig ist, Frau Matthäus-Maier, daß Sie die Erhöhung des Grundfreibetrages als Thema erst seit 1982 erkannt haben. Warum haben Sie sich denn nicht vorher entschieden dafür eingesetzt, daß er erhöht wird? Sie waren doch eine maßgebliche Sprecherin der damaligen Koalition. Sie entdecken das Thema erst jetzt.
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3234 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Bundesminister Dr. Theodor WaigelSie haben zum damaligen Zeitpunkt weder etwas für den Familienlastenausgleich getan noch für den Grundfreibetrag.
Das Thema der Steuerpolitik, auch unserer Steuerpolitik, das Existenzminimum von der Steuer freizustellen, haben Sie erst jetzt entdeckt, in einer ganz schwierigen Zeit, wo das mit vielen anderen Dingen konkurriert und wo wir nicht alles auf einmal verwirklichen können, was wir steuerpolitisch gern tun würden, auch in diesem Bereich.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Frau Präsidentin, ich möchte jetzt meine Rede fortführen. Die Frau Kollegin hat sich heute schon oft gemeldet und kann über mangelnde Behandlung im Protokoll nicht klagen.
Selbstverständlich werden wir die von Ihnen angesprochene Kostenentscheidung des BFH mit den Ländern besprechen. Es ist ganz normal, daß man mit den Ländern bespricht, welche Konsequenzen wir daraus ziehen. Wir waren uns auch bisher schon darüber im klaren, daß sowohl der Kinderfreibetrag als auch der Grundfreibetrag in der zweiten Stufe einer Steuerreform erhöht und verbessert werden müssen. Das gehört zu unserer Konzeption.Wir würden das gerne noch in dieser Legislaturperiode tun. Wenn es aber konkurriert mit unabdingbar notwendigen anderen Entscheidungen, vor allen Dingen für Investitionen und für die Menschen in den neuen Bundesländern, dann, glaube ich, ist es vertretbar, auch ein erstrebenswertes Ziel kurzfristig zurückzustellen. Das ist die Situation, in der wir stehen.
Übrigens, was Hermann Höcherl und seine Bemerkung über das Grundgesetz angeht, sollten Sie sehr vorsichtig sein. Da muß man erstens etwas von Humor und zweitens etwas von Bayern verstehen.
Ich kann mich gut erinnern, wie, als Höcherl noch lebte, Ihr früherer Kollege Bahr das Thema einmal erwähnt hat und eine solche Abreibung von Hermann Höcherl bekam,
daß er sich nie mehr an das Thema gemacht hat.
Kollege Vogel, Sie werden sich wahrscheinlich daran erinnern können. Ich habe meinen Freund Hermann Höcherl selten so wütend und so empört gesehen.
Er hat dann in seiner unnachahmlichen Art zu HerrnBahr gesagt: Wenn Sie einen Funken Anstand haben,dann entschuldigen Sie sich sofort. Was glauben Sie denn eigentlich? Eine Unverschämtheit, mit mir so umzugehen.
Seien Sie froh, daß er das heute von den hohen Gefilden milde lächelnd mitbekommen hat.
— Herr Kollege Vogel, dieser Einwurf in der Form hat nicht hierher gepaßt.
Aber nun komme ich gerne zu Ihnen, bin Ihnen dankbar, daß Sie da sind. Kollege Peter Struck kann nicht mehr da sein. Er hat mir das aber mitgeteilt. Ich habe Verständnis dafür.Es geht jetzt um den Umgang mit der Wahrheit und auch um den Umgang mit Toten. Es ist eigentlich beschämend für einen früheren Justizminister, daß er hier vorgestern mit Verdächtigungen und mit Unterstellungen gearbeitet hat. Ich kann mich erinnern, wie Sie sich empört haben, Herr Kollege Vogel, als damals Ihr Freund Lappas verdächtigt wurde.
— Nicht Freund, gut, Kollege.
— Genosse.
— Sie haben jedenfalls damals auf dem Gewerkschaftstag und auch hier im Bundestag Stellung bezogen und sich gegen Verdächtigungen und gegen diese damals angeordnete Verhaftung gewehrt. Wenn Sie Herrn Lappas gegen Verdächtigungen verteidigt haben, dann ist es um so schäbiger, hier mit Verdächtigungen und mit Unterstellungen — und nichts anderes haben Sie vorgestern bieten können — zu arbeiten. Es ist für einen früheren Justizminister eine Schande, daß er zu diesem Mittel der politischen Auseinandersetzung greift.
Das erinnert mich an die Verleumdungsarie im „Barbier von Sevilla", wo es heißt: „Kaum vernehmbar im Entstehen, kriechend, schleichend, das Gemurmel wird Geheule". So fängt man an: Man spricht von „stärker werdenden Verdachtsmomenten", ohne etwas konkret beweisen oder vorlegen zu können.Herr von Bülow und Teile der SPD — ich unterstelle das nicht der gesamten SPD, weil ich mir das nicht vorstellen kann — wollen nicht Aufklärung und Wahrheit, sondern sie wollen einen Toten diskreditieren, sie wollen mit Verdächtigungen denunzieren, und sie wollen eine durchsichtige Kampagne, um von
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Bundesminister Dr. Theodor Waigeleigenen Fehlleistungen in der Vergangenheit abzulenken.
Wer wie Herr von Bülow Strauß der Spionage bezichtigt, der handelt wie ein politischer Totenfledderer und sollte sich schämen.
Es ist unglaublich: Vor 1982 und auch kurz danach war Strauß für die SPD ein rechter Reaktionär, ein Kalter Krieger, waren er und wir friedensunfähig, dialogunfähig. Heute werden Gespräche und Verhandlungen, die Strauß und andere geführt haben, von denen denunziert, die in den 80er Jahren in Strategiegesprächen und Strategiepapieren die Gemeinsamkeiten zwischen SPD und SED beschrieben und fixiert haben.Nur: Auch damals war die SED schon eine verbrecherische Organisation, und man wußte genau, wie es um sie steht. Über gemeinsame Strategie, über gemeinsame Koexistenz, über gemeinsames humanistisches Erbe haben wir nie gesprochen, aber wir haben in der Tat mit den Mächtigen der SED darüber gesprochen, wie wir den Menschen in Ost und West helfen können. Das war die Grundlage und auch die Zielsetzung unserer Politik.
Diese Gespräche von Schäuble, vorher Jenninger, von Strauß und vielen anderen hatten auch Erfolg; nicht zuletzt der Abbau der Schußanlagen, die Freilassung Tausender, die Ausreise Zehntausender, ja Hunderttausender sprechen dafür.Wir haben uns die Gesprächspartner nicht ausgesucht. Dieser Gesprächspartner wurde von Herrn Wischnewski, wie ich erfahren habe, seinem Nachfolger empfohlen. Was ist daran eigentlich schändlich? Ich kritisiere Herrn Wischnewski nicht, und ich kritisiere die nicht, die die Empfehlung von Wischnewski aufgenommen und diese Gespräche geführt haben.Ich bitte Sie, bevor Sie mit Ihren Unterstellungen weiterfahren, nachzulesen, was Klaus Bölling und Günter Gaus über den Betreffenden gesagt haben. Ich fühle mich etwas an den Lockheed-Skandal von 1975/76 erinnert. Sie waren damals Justizminister, Herr Vogel, und etwas erinnert mich das an das Strickmuster von damals. Da wurden Bestechungsvorwürfe gegen Beamte und Politiker bis zur Wahl 1976 erhoben. Nach der Wahl wurde von der interministeriellen Arbeitsgruppe die völlige Haltlosigkeit aller Vorwürfe bestätigt.
Fast ein Jahr lang, bis zum Wahltag, wurde die Übernahme und damit auch die Auswertung der von der Regierung der Vereinigten Staaten angebotenen Akten verzögert, obwohl die damalige SPD-geführte Bundesregierung schon frühzeitig über die Haltlosigkeit der Vorwürfe und die Unglaubwürdigkeit des damaligen Kronzeugen durchaus im Bilde war. Sie waren damals Justizminister und tragen auch dafür eine gewisse Verantwortung.Ich selber sollte vor einigen Wochen Opfer einer solchen Kampagne werden. Es gab eine ZDF-Sendung mit der unverschämten Behauptung und Unterstellung, ich hätte hier quasi Begünstigung im Amt betrieben. Wir haben die Dinge in kürzester Zeit klarstellen können. Es war völlig falsch und konnte dokumentarisch widerlegt werden. Daraufhin hat sich das ZDF in einer — anfangs etwas gewundenen — Erklärung entschuldigt, die Dinge klargestellt. Zwischenzeitlich hat sich der Intendant bei mir in aller Form entschuldigt.Wenn Sie, Frau Präsidentin, jetzt nicht amtierende Präsidentin wären, würde ich mich gern auch damit auseinandersetzen, was die Landesvorsitzende der SPD zu dem Thema gesagt hat. Es hat immerhin fast acht Tage gedauert, bis die entsprechende Klärung des anfänglich mir gegenüber erhobenen Vorwurfs erfolgte.
Nun zu den Gesprächen mit Schalck: Max Streibl und ich haben hier nichts zu verschweigen und nichts zu verbergen. Ein erstes Gespräch — nachdem ich Parteivorsitzender der CSU geworden war — fand am 13. Februar 1989 in München statt. Es hat bis zum Mauerfall keine Fortsetzung dieses Gesprächs gegeben. Dann fand ein zweites und letztes Gespräch am 15. November 1989 in Bonn statt.Es handelte sich bei diesen Gesprächen um ganz normale, selbstverständliche Gespräche über die politische Situation in der DDR, über die Gegensätze der damaligen Politik, z. B. über die Notwendigkeit der Modernisierung von Kurzstreckenwaffen in unserem Bereich — eine sehr gegensätzliche Position — , aber auch über gemeinsame ökologische Probleme, die wir z. B. in Bayern mit dem angrenzenden Thüringen und Sachsen haben. Weitere Gespräche hat es nicht gegeben. Die Frage, ob es sie geben sollte, haben wir offengelassen. Und wenn Max Streibl, der bayerische Ministerpräsident, für mögliche Kontakte seine beiden Sekretärinnen benannt hat, dann dürfte das so ziemlich das Normalste der Welt sein. Ich habe mir vorbehalten, wen ich dafür benenne. Es ist zu einer solchen Benennung nicht gekommen.Es ist eine freie Erfindung, was mir in dem Zusammenhang in diesen sogenannten Papieren über Franz Josef Strauß in den Mund gelegt wird. Das mit den angeblichen Geschäften ist erfunden; denn ich kenne solche Geschäfte nicht. Wenn man sie nicht kennt, kann man auch nicht darüber reden; das ist auch nicht meine Art.Nun zu der Frage: Was ist authentisch? Wer kann Material für authentisch erklären? Doch nur der, der dabei ist und der das wirklich beurteilen kann. Ich kann erklären, ob sogenannte Aufzeichnungen über Gespräche mit mir authentisch sind oder nicht. Das kann ich, aber das kann sonst niemand.
Sie haben sich ein paarmal auf den Sohn von Franz Josef Strauß, Herrn Max Strauß, berufen. Herr Max Strauß hat dem Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung" mit Schreiben vom 4. September 1991 folgendes geschrieben — ich zitiere aus dem Brief:... der oben genannte Artikel
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel— Bezug nehmend auf die „Süddeutsche Zeitung" vom 4. September 1991 —enthält Unrichtigkeiten und irreführende Darstellungen, die einer Korrektur bedürfen:1. Ich habe die Papiere Schalcks nicht für authentisch erklärt, da ich nicht, wie Sie behaupten, einen Großteil, sondern nur einen kleinen Ausschnitt kenne; ich habe gesagt, daß die Unterlagen, soweit ich sie kenne, offensichtlich von Schalck-Golodkowski stammen, dessen persönlichen Eindruck wiedergeben und generell auch aus dessen Richtung zu interpretieren sind, da er sich wohl bei seinen Vorgesetzten wichtig machen wollte. Inwieweit sie sachlich richtig sind und mit welcher konkreten Absicht sie verfaßt wurden, weiß ich nicht. Ich kann auch nicht beurteilen, ob nachträglich noch Behauptungen hineingefälscht wurden, da die Akten monatelang unkontrolliert in den Händen unbekannter Personen waren und mir nur eine geringe Anzahl von Kopien zugänglich war. Einzelheiten kann nur der Untersuchungsausschuß im Bundestag klären.Frau Präsidentin, wäre es möglich, daß diese rote Lampe abgestellt wird? — Danke.Er sagt dann in einem anderen Punkt:Der Artikel unterschlägt völlig, daß ich mich zur Person Schalck sehr kritisch geäußert habe. Schalck war bis zu seiner letzten Sekunde im Amt der willige und stets bereite treue Diener eines Unrechts- und Unterdrückungsregimes. Die von mir zu Recht angeführten deutsch-deutschen Verdienste Schalcks können nicht darüber hinwegtäuschen, daß er als Rad und nicht als Rädchen im System Mitschuld am Unterdrückungsapparat trägt. Inwieweit er sich strafrechtlich relevante Handlungen konkret zuschulden hat kommen lassen, muß die Berliner Staatsanwaltschaft klären.Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen und Ihre auch heute, vielleicht weil Sie den Brief noch nicht kannten, mehrfach geäußerten Bemerkungen in der Richtung, was „authentisch" anbelangt und was von Herrn Strauß erklärt wurde, zu korrigieren.Ich sage nur noch einmal: Weder Max Streibl noch ich, noch die CSU haben irgendetwas zu verbergen oder zu befürchten. Wir brauchen auch keine Aufforderung zur Aufklärung, weil wir das Notwendige zum richtigen Zeitpunkt gesagt haben.Ich muß auch noch im Interesse der OFD Kiel etwas richtigstellen, was gestern von Frau Köppe gesagt wurde. Eigentlich ist das von Stil und Auftreten her einer Antwort nicht würdig. Dennoch möchte ich es nicht im Raum stehen lassen.Es ist absolut falsch, zu behaupten, die zuständige OFD Kiel sei immer noch nicht von dem Verdacht unterrichtet worden, die U-Boot-Geschäfte mit Südafrika wären möglicherweise über KoKo gelaufen. Die OFD hat sich bereits am 13. August 1991 in einer Presseinformation zur behaupteten Verwicklung in die U-Boot-Affäre des Devisenbeschaffers Schalck-Golodkowski geäußert, und sie hat das Notwendige dazu gesagt.Meine Damen und Herren, ich hielt es für wichtig, diese Dinge in dieser Debatte hier am Schluß noch einmal geklärt zu haben, weil ich es nicht zulasse, daß hier in dieser Form und in diesem Stil mit diesen Verdächtigungen weiter gearbeitet wird. Korrigieren Sie Ihren Stil, Herr Vogel, und sorgen Sie dafür, daß in der SPD wieder ein anständiger Umgang mit der Wahrheit, mit Fakten, mit Lebenden und mit Toten einkehrt!
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu dieser ersten Lesung noch ein paar abschließende Bernerkungen machen. Die SPD hat die Erfolge der Bundesregierung bei der Verwirklichung der Wiedervereinigung in den letzten 18 Monaten nicht verkraftet.
Wir haben eindeutig recht bekommen, was das Tempo der Wiedervereinigung anbelangt. Und wir sind in allen Bereichen der Wiedervereinigungsaufgabe — in der Sozialpolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Währungspolitik und beim Verwaltungsaufbau — gut vorangekommen.
Es ist auch falsch, wenn Sie behaupten, daß die angeblichen Einsparerfolge überwiegend aus Abgaben- und Gebührenerhöhungen stammten. Tatsache ist: Zwei Drittel der Haushaltsentlastung von bisher 60 Milliarden DM sind Ausgabeneinsparungen und Umschichtungen, und ein Drittel sind Einnahmeverbesserungen bei den Sozialversicherungsbeiträgen.Sie behaupten, weltweit gingen die Zinsen zurück, bei uns aber stiegen sie. Tatsache ist: Die Kapitalmarktzinsen im Januar 1991 betrugen 9,1 %, Anfang September 1991 betragen sie 8,5 %.Ich darf Ihnen, Herr Kollege Vogel, damit Sie auch den Zusammenhang zwischen Leitzinsen und Realzinsen mitbekommen, folgenden Brief der KfW vorlesen, der mir gestern zugegangen ist.
— Wenn es Ihnen reicht, können Sie ja gehen. Aber ich sehe, daß meine Freunde gern noch eine Fortsetzung der Debatte wünschen.
Ich zitiere aus dem Schreiben der KfW vom 2. September. Dort heißt es:Auf Grund der Entwicklung am Kapitalmarkt sehen wir uns heute in der Lage, die Konditionen in unserem Eigenmittelprogramm zu verbessern. Wir werden mit Wirkung vom 3. September 1991 den Nominalzinssatz für unser KfW-Mittelstandsprogramm von 8,5 % auf 8,25 % für den Endkreditnehmer senken.Sehen Sie, das ist die Wirklichkeit. In dieser Möglichkeit reflektiert sich das Vertrauen der Märkte in die Stetigkeit und in die Zielsetzung unserer Finanzpolitik, neben dem Glauben an die Geld- und Währungs-
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Bundesminister Dr. Theodor Waigelpolitik der Bundesbank. Das ist das Entscheidende, und das wirkt sich positiv aus.
Übrigens: Der Anteil der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen am Bruttosozialprodukt betrug 1980 1,7 %. Im Jahre 1990 betrug er 1,2 %.Was die Bundesbankgewinne anlangt, so haben wir die Regelung eingeführt, daß dies nur bis zu einem Betrag in Höhe von 7 Milliarden DM in die Nettokreditaufnahme geht, während der darüber hinausgehende Betrag zur Tilgung von Altschulden verwandt wird. Das ist eine sehr stabilitätsgerechte Lösung, die darauf verzichtet, kurzfristige schnelle Erfolge bei der Nettokreditaufnahme zu erzielen.
Was die privaten Ersparnisse anlangt, so wurden sie 1982 zu 51 % durch öffentliche Hände in Anspruch genommen. Tatsache ist: In diesem Jahr wird die Kreditaufnahme durch die öffentlichen Haushalte ca. 150 Milliarden DM — vielleicht etwas weniger — betragen. Die Ersparnisse der privaten Haushalte und der Unternehmen liegen bei gut 300 Milliarden DM. Es erfolgt also trotz der Herausforderungen durch die deutsche Einheit prozentual keine wesentlich höhere Inanspruchnahme der Ersparnisse als 1982.Zu dem Schuldenvorwurf und der Verzinsung der Schulden — darauf ist gestern der Herr Bundeskanzler schon eingegangen — ist folgendes zu sagen. In den letzten acht Jahren der SPD-Regierungszeit hat sich der Schuldenstand verfünffacht. In unserer Zeit hat er sich verdoppelt — aber angesichts einer riesigen Herausforderung, der wohl schwierigsten in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.Sie behaupten, Sie wollten mehr sparen. In Wirklichkeit müssen Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, einmal addieren, was bei Ihnen noch an Haushaltsbelastungen hinzukäme. Sie sind gegen Kürzungen bei der Kohlehilfe. Die Umstellung des Familienlastenausgleichs auf das Kindergeld macht Mehrkosten in Höhe von 3 bis 4 Milliarden DM aus.
Sie üben Kritik am „skandalösen Sparkurs" in der Forschungspolitik. Sie fordern dort aber eine Anhebung auf mindestens 10 Milliarden DM. Sie fordern die Beteiligung der Länder und Gemeinden am Mineralölsteueraufkommen. Natürlich wären auch unsere Länder und Kommunen gern dabei; das räume ich gern ein.Aber all das wirkt sich natürlich zu Lasten der Finanzen des Bundes aus. Wenn Sie das alles addieren, sehen Sie, daß das doch nicht mit einem stringenten und konsequenten Konsolidierungskurs zusammenpaßt.Wir wollen im Nachtrag 1991 die Minderausgaben von 5,6 Milliarden DM einsetzen, die Sonderzuführung an die Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von 5 Milliarden DM sowie 0,6 Milliarden DM Abschlußzahlungen im Rahmen der Strukturhilfe. Darauf ist heute schon eingegangen worden.Wie sehen denn die jüngsten Arbeitsmarktdaten aus? Wir haben im Westen einen Rückgang der Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr um 8 %. Nie zuvor gab es im westlichen Teil der Bundesrepublik Deutschland über 29 Millionen Beschäftigte.Sie haben mir vorgerechnet, wieviel Schulden wir aufnehmen müssen, während ich rede. Ich kann nur sagen: Das, was jedesmal an Kapital abfließen würde, wenn man Sie in der internationalen Welt hörte, könnten wir immer nur mit viel Mühe und Glaubwürdigkeit seitens der Koalition wiedergutmachen.
Ich habe vorgestern den Kollegen Apel zur Steuerpolitik zitiert. Sie, Herr Kollege Vogel, haben dann den Zwischenruf gemacht: „1977! Und was ist aus ihm geworden?" Ich finde, das ist einfach ein merkwürdiger Umgang mit einem Kollegen, der es gewagt hat, sich mit Ihrer Steuerpolitik und mit der Art auseinanderzusetzen,
in der Sie diesen Kollegen, mit dem wir viel gestritten haben, behandelt haben.
Darüber sollten Sie einmal reflektieren, bevor Sie den Zuruf machen: „Und was ist aus ihm geworden?"
Was ist das für eine Tonart „Was ist aus ihm geworden?"? Hans Apel ist jedenfalls ein ehrenwerter Mann, und er nimmt heute drüben in den neuen Bundesländern eine interessante Aufgabe wahr. Ich respektiere seine unabhängige Meinung, die er sich von Ihnen nie hat abkaufen oder abnehmen lassen.
Das steuerpolitische Konzept, das wir vorlegen, enthält allein etwa ein Viertel der Gesamtentlastung für den Mittelstand. Das erfolgt durch eine Staffelung im Eingangsbereich der Gewerbeertragsteuer, durch eine Vervierfachung des Freibetrags, durch die Übernahme der Steuerbilanzwerte bei der Vermögensteuer und der Erbschaftsteuer. Der Kollege Rose hat darauf schon hingewiesen.Wir halten uns auch hier erneut an das, was wir bereits seit 1982 gegenüber Ländern und Kommunen einhalten. Früher war es so, daß Länder und Kommunen überproportional belastet wurden, während wir seit 1982 darauf sehen, daß Länder und Kommunen gerecht behandelt werden, wodurch sich deren Finanzlage besser entwickelt hat als die Finanzlage des Bundes. Wir brauchen uns also weder länder- noch kommunalunfreundliches Verhalten vorhalten zu lassen.
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3238 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Bundesminister Dr. Theodor WaigelMeine Damen und Herren, Ministerpräsident Engholm hat gestern an Immanuel Kant und an das Jubiläum der Universität in dessen Heimatstadt Königsberg erinnert. Nach Immanuel Kant gibt es Situationen, in denen die Notwendigkeit zu entscheiden weiter reicht als die Möglichkeit zu erkennen. — Die Chance, Freiheit und Einheit herbeizuführen, war wie ein kategorischer Imperativ. Wir haben diese Chance genutzt. Unsere Entscheidung war richtig.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hans-Jochen Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Ausführungen des Herrn Bundesfinanzministers machen es notwendig, daß ich gemäß § 30 der Geschäftsordnung sofort und auf der Stelle erwidere.Herr Kollege Waigel, es ist die Frage Ihres Geschmacks und es ist Ihre Sache, ob Sie die Herren Lappas und Strauß in einem Atemzug nennen wollen. Sie haben das getan. Ich habe das nicht zu kommentieren.Ich wehre mich entschieden dagegen, daß Sie meine damalige Haltung hier entstellt wiedergeben.— Ich habe mich gegen den Akt der Verhaftung auf einem Gewerkschaftskongreß zu Beginn dieses Gewerkschaftskongresses gewandt und habe die Frage der Verhältnismäßigkeit aufgeworfen. Dazu stehe ich und ich sehe keinerlei Anlaß, Kritik daran entgegenzunehmen.Jetzt zu dem Komplex, dem Sie Ihre Ausführungen weit überwiegend gewidmet haben. Sie haben behauptet, die SPD erzähle. Nehmen Sie zur Kenntnis, Herr Bundesfinanzminister: Nicht wir haben etwas erzählt, sondern Herr Schalck hat viele Seiten mit Berichten zu Papier gebracht, und veröffentlicht haben nicht wir, sondern hat eine Illustrierte, die nun weiß Gott nicht zu Ihren politischen Gegnern, sondern in der Vergangenheit eher zu Ihren politischen Freunden gezählt hat.
Was Herrn Schalck angeht, so war mir interessant— Herr Waigel, wenn in dem Brief etwas anderes steht, dann sagen Sie es mir fairerweise! —, daß sich Herr Strauß jun. offenbar einschränkend hinsichtlich der Authentizität geäußert hat, obwohl auch das noch der genaueren Prüfung bedarf, weil dieser Satz in der Geschwindigkeit nicht voll aufzunehmen war. Nach dem Brief, den Sie verlesen haben, hat Herr Strauß jedenfalls folgendes nicht dementiert oder eingeschränkt:Er hat nicht seine Aussage dementiert, daß Herr Schalck-Golodkowski, der Urheber all dieser Mitteilungen, Opfer der linken Mafia in der Bundesrepublik sei. Hat er das dementiert? Er hat nicht dementiert, daß er, Strauß jun., den Mut des Herrn Schalck bewundere. Hat er das dementiert?
— Ich bitte Sie um alles in der Welt: Wenn Herr Strauß jun. Herrn Schalck so charakterisiert, dann können Sie von uns doch nicht verlangen, daß wir gegenüber den von Herrn Schalck herrührenden Berichten Augen und Ohren verschließen und sie nicht zur Kenntnis nehmen.
Herr Strauß hat folgende Feststellung nicht dementiert:Gleichzeitig distanzierte sich Max Strauß von der Kampagne führender CSU-Politiker, die den Schalck-Notizen keinen Wahrheitsgehalt zumessen und von Stasi-Lügen sprechen. Diese Taktik sei— Sie haben nicht behauptet, daß das dementiert worden ist —,gelinde gesagt, äußerst kompliziert. Sie— damit meint er die CSU-Führung —können nicht sagen, der lichtvolle Strauß hat den lichtvollen Milliardenkredit unter lichtvollen Umständen mit dem größten Verbrecher, Schieber, Dreckschwein aller Zeiten gemacht. Das geht nicht.Das haben Sie hier nicht dementiert. Das steht nicht in dem Brief.
Wenn all diese Behauptungen von einer seriösen Illustrierten veröffentlicht werden, wenn Herr Strauß jun. über den Urheber dieser Berichte diese Äußerungen abgibt, dann dürfen Sie sich doch nicht wundern, daß diese Mitteilungen die Menschen beschäftigen, sie beunruhigen und daß diese Mitteilungen die Menschen empören.
Es ist die Pflicht der Opposition — es wäre im Grunde die Pflicht des gesamten Parlaments — , Vorgänge, die unser ganzes Volk und die bayerischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in besonderem Maße beschäftigen, aufzuklären und zu ihnen Stellung zu nehmen.
Wir, meine Damen und Herren, haben einen Untersuchungsausschuß beantragt. Sie, Herr Kollege Bohl, haben zunächst erklärt, der Untersuchungsausschuß sei überflüssig,
er werde nichts erbringen. Sie waren an der Aufklärung zunächst überhaupt nicht interessiert.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3239
Dr. Hans-Jochen VogelEs ist unsere Pflicht, zu diesen unser Volk bewegenden Dingen Stellung zu nehmen. Glauben Sie denn, daß es möglich ist, daß sich die Medien intensiv damit beschäftigen und wir hier über diesen Sachverhalt schweigen und zur Tagesordnung übergehen?
Das Ihnen das angenehm wäre, will ich wohl glauben. Aber wir würden unsere Pflicht verletzen.
Sie haben behauptet — auch der Bundeskanzler hat das getan — , meine gestrigen Ausführungen seien ein Rachefeldzug. Dies ist völlig abwegig. Ich habe gegenüber Herrn Strauß keinerlei Rachegefühle.
Ich habe dazu auf Grund meiner politischen Tätigkeit und der Zeiten der Zusammenarbeit mit ihm überhaupt keinen Grund. Aber ich habe das gesagt, was ich als Jurist veranworten kann.
— Ich bitte Sie um alles in der Welt: Lesen Sie meine Ausführungen nach. Ich habe gesagt — jetzt wiederhole ich es —, daß sich auf Grund all dieser Veröffentlichungen der Verdacht verstärkt, daß in dem Dreieck März, Schalck und Strauß kommerzielle und politische Interessen zusammengeflossen sind.
Es hat sich der Verdacht verstärkt, daß internes Regierungswissen in erheblichem Umfang von der Informationsquelle abgeschöpft und zu den Machthabern in der DDR transportiert worden ist.
Herr Dr. Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bohl?
Ich gestatte gern eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Vogel, würden Sie dem Hohen Hause mitteilen, ob Sie den Vorwurf Ihres Kollegen von Bülow, Franz Josef Strauß sei ein Spion gewesen, aufrechterhalten oder zurücknehmen?
Herr Kollege Bohl, ich habe zunächst einmal das zu vertreten, was ich gesagt habe. Ich habe diesen Ausdruck nicht verwendet. Ich würde den juristischen Ausdruck, der hier eine Rolle gespielt hat, an das Ende der Untersuchungen stellen und auf das Ergebnis der Untersuchungen stützen. Dies ist, glaube ich, der korrekte Weg.
Dieser Erklärung, Herr Kollege Bohl, ist, glaube ich, zu entnehmen — —
— Ich ziehe überhaupt niemanden zurück!
— Ich denke gar nicht daran!
Ich habe erklärt, wie ich diesen Begriff verwenden würde und wann ich ihn verwenden würde.
Ich will Ihnen aber gern auch noch einmal erklären, weswegen ich in dieser Art und Weise Stellung genommen habe. — Ich glaube nicht, daß hier eine Beschränkung der Redezeit am Platz ist,
nachdem der Herr Bundesminister das Zweifache der vorgesehenen Redezeit verwendet hat. — Ich habe das getan, weil sich in mir der Eindruck verstärkt, meine Damen und Herren —
Doch, doch, die Präsidentin traut sich!
— daß hier seitens Franz Josef Strauß — —
Herr Dr. Vogel, darf ich Sie kurz unterbrechen?
Bitte!
Der Herr Bundesminister der Finanzen
— darf ich einmal kurz um Ruhe bitten! — hat die Redezeit, die der Koalition noch zur Verfügung gestanden hat, bis zur letzten Minute ausgenutzt. Die Redezeit, die der Oppositionsfraktion SPD zur Verfügung stand, ist jetzt ausgenutzt, und das muß ich sagen. Im Moment läuft die Zeit allerdings zu Ihren Ungunsten.
Herr Bohl, zur Geschäftsordnung!
Frau Präsidentin, ich glaube, es ist eine Selbstverständlichkeit, daß dann, wenn der Führer der Opposition spricht, er so lange reden kann, wie er möchte.
Wenn Einverständnis damit besteht, dann ist das in Ordnung.
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3240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991
Herr Kollege Bohl, was Sie gerade empfohlen haben und freundlicherweise gesagt haben
— im übrigen auch im Einklang mit der Geschäftsordnung; denn der § 30 sieht die sofortige Erwiderung — —
— Dazu gibt es keine zeitliche Beschränkung!
— Meine Damen und Herren, ich würde vorschlagen, daß wir zum eigentlichen Thema zurückkehren. Ist das möglich?
Ich möchte Ihnen gern darlegen, welches die Beweggründe für meine Stellungnahme waren:
Der eine Beweggrund ist der, daß sich in mir der Eindruck verstärkt, daß hier gerade das geschehen sein könnte, was der Betreffende seinen politischen Gegnern bei jeder Gelegenheit mit äußerster Schärfe vorgeworfen hat.
Ich habe eine sehr starke Abneigung dagegen, daß Reden und Handeln nicht übereinstimmen.
Der zweite Beweggrund. Ich war Bundesjustizminister in einer Zeit, in der wegen Kontakten und Weitergabe von Informationen Freiheitsstrafen in empfindlicher Höhe verhängt worden sind. Ich bitte, nachzuvollziehen, daß mich auch in meinem Bewußtsein und in meinem Gewissen bewegt, daß Menschen für einmalige Kontakte, für die Weitergabe von Belanglosigkeiten verurteilt worden sind. Solange dies im Raum steht und sich der Verdacht verstärkt, werde ich mich in der Weise äußern, in der ich das getan habe.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Herr Bundesfinanzminister ist auch noch einmal auf das Dialog- und Streitpapier meiner Partei eingegangen.
— Ich wundere mich, Herr Bundesfinanzminister. Sie waren am 17. Juni 1989 hier bei der Rede, die Erhard
Eppler gehalten hat. Sie haben mit zu denen gehört, die Erhard Eppler zu dieser Rede gratuliert haben — ich sehe noch, wie der Kollege Dregger hierhergegangen ist und gratuliert hat und gesagt haben: Das ist eine Artikulation, die allgemeine Zustimmung finden kann.
Dieser Erhard Eppler und wir haben ein Papier zustande gebracht,
das keine Vereinbarung und keinen Vertrag bedeutet, wie Sie ständig behaupten, sondern ein Papier, auf das sich die Opposition in der damaligen DDR immer wieder und mit steigendem Nachdruck berufen hat.
— Fragen Sie die Repräsentanten der Bürgerbewegung, und dann wird sich herausstellen, was mehr geholfen hat: die Kontakte Schalck, März und Strauß oder dieses Papier, das der Bürgerbewegung Rückhalt und Ermutigung gab!
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 12/1000 sowie Unterrichtungen durch die Bundesregierung auf Drucksache 12/1001 sollen gemäß § 95 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche einen schönen Abend und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. September 1991, 9.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.