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ID1203805300

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    Plenarprotokoll 12/38 Bundestag Deutscher Stenographischer Bericht 38. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 Inhalt: Bestimmung der Abg. Anke Fuchs als ordentliches Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses an Stelle der ausgeschiedenen Abg. Ingrid Matthäus-Maier 3121A Bestimmung der Abg. Gudrun Weyel als stellvertretendes Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses an Stelle der zum ordentlichen Mitglied bestimmten Abg. Anke Fuchs . . 3121A Wahl des Abg. Harald B. Schäfer (Offenburg) als ordentliches Mitglied in den Vermittlungsausschuß an Stelle der ausgeschiedenen Abg. Ingrid Matthäus-Maier . . . 3121 B Wahl des Abg. Gunter Huonker als stellvertretendes Mitglied in den Vermittlungsausschuß an Stelle des zum ordentlichen Mitglied gewählten Abg. Harald B. Schäfer (Offenburg) 3121 B Tagesordnungspunkt 1: Fortsetzung der a) ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1992 (Haushaltsgesetz 1992) (Drucksache 12/1000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 (Drucksache 12/1001) Jürgen W. Möllemann, Bundesminister BMWi 3121C, 3145C Wolfgang Roth SPD 3125 B Michael Glos CDU/CSU 3128C Ingrid Matthäus-Maier SPD . . 3129D, 3212C, 3217B, 3226A Werner Zywietz FDP 3132 D Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 3134 C Bernd Henn PDS/Linke Liste 3136B Klaus Wedemeier, Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen 3138B Michael Glos CDU/CSU 3138C Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . 3141C, 3219 D Bernd Neumann (Bremen) CDU/CSU . . 3142C Manfred Richter (Bremerhaven) FDP . . 3144 C Matthias Wissmann CDU/CSU 3146A Wolfgang Roth SPD 3148C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 3148D Rudolf Dreßler SPD 3152A, 3159A Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 3158D Dieter-Julius Cronenberg (Arnsberg) FDP 3159B Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . 3159D, 3200 B Dr. Alexander Warrikoff CDU/CSU . . . 3161 B Petra Bläss PDS/Linke Liste . . . 3163D, 3196A Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . . 3166C Ottmar Schreiner SPD 3168A, 3172B Volker Kauder CDU/CSU 3172 A Ina Albowitz FDP 3172 D Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin BMG 3176B Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . . 3177 C Klaus Kirschner SPD 3180A Dr. Dieter Thomae FDP 3183 B Arnulf Kriedner CDU/CSU 3184 D Ottmar Schreiner SPD 3185B Dr. Angela Merkel, Bundesministerin BMFJ 3186D Hanna Wolf SPD 3189B Dr. Edith Niehuis SPD 3190A II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 Ingrid Becker-Inglau SPD 3190 C Susanne Jaffke CDU/CSU 3194 B Dr. Gisela Babel FDP 3198B Maria Michalk CDU/CSU 3202 A Margot von Renesse SPD 3204 D Irmgard Karwatzki CDU/CSU 3207 D Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 3209 B Norbert Eimer (Fürth) FDP 3211A Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 3212 B Irmgard Karwatzki CDU/CSU 3212D Ingrid Becker-Inglau SPD 3213D Hans Peter Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 3215D Dr. Peter Struck SPD 3218 C Dietrich Austermann CDU/CSU . . . 3220 A Dr. Klaus Rose CDU/CSU 3220 D Carl-Ludwig Thiele FDP 3224 A Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 3227 B Dr. Klaus Rose CDU/CSU 3229 B Ingrid Matthäus-Maier SPD 3232 B Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 3233 D Dr. Hans-Jochen Vogel SPD (Erklärung nach § 30 GO) 3238 A Friedrich Bohl CDU/CSU 3239 B Friedrich Bohl CDU/CSU (zur Geschäftsordnung) 3239D Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg 3176B Nächste Sitzung 3240 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3241* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3121 38. Sitzung Bonn, den 5. September 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode - 38. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. September 1991 3241* Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 05. 09. 91 Berger, Johann Anton SPD 05. 09. 91 Blunck, Lieselott SPD 05. 09. 91 * Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 05. 09. 91 * Eppelmann, Rainer CDU/CSU 05. 09. 91 Erler, Gernot SPD 05. 09. 91 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 05. 09. 91* Francke (Hamburg), CDU/CSU 05. 09. 91 Klaus Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 05. 09. 91 Jung (Düsseldorf), Volker SPD 05. 09. 91 Koltzsch, Rolf SPD 05. 09. 91 Dr.-Ing. Laermann, FDP 05. 09. 91 Karl-Hans Dr. Lammert, Norbert CDU/CSU 05. 09. 91 Marten, Günter CDU/CSU 05. 09. 91 * Dr. Mertens (Bottrop), SPD 05. 09. 91 Franz-Josef Dr. Müller, Günther CDU/CSU 05. 09. 91 * Niggemeier, Horst SPD 05. 09. 91 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Nitsch, Johannes CDU/CSU 05. 09. 91 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 05. 09. 91* Reddemann, Gerhard CDU/CSU 05. 09. 91 * Rempe, Walter SPD 05. 09. 91 Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 05. 09. 91 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 05. 09. 91 Ingrid Schäfer (Mainz), Helmut FDP 05. 09. 91 Scharrenbroich, Heribert CDU/CSU 05. 09. 91 Dr. Scheer, Hermann SPD 05. 09. 91* Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 05. 09. 91 Dr. Soell, Hartmut SPD 05. 09. 91* Dr. Sperling, Dietrich SPD 05. 09. 91 Terborg, Margitta SPD 05. 09. 91* Verheugen, Günter SPD 05. 09. 91 Vogt (Düren), Wolfgang CDU/CSU 05. 09. 91 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 05. 09. 91 Gert Wieczorek-Zeul, SPD 05.09.91 Heidemarie Zierer, Benno CDU/CSU 05. 09. 91 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
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    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung ist mit Abstand der größte Einzelplan dieses Bundeshaushalts; seine Steigerung ist größer als die der Gesamtausgaben. Er ist damit auch das Dokument, daß dies ein Haushalt der sozialen Verantwortung ist.
    Nationale Einheit ist die eine Seite, soziale Einheit die andere. Ohne soziale Einheit wäre die nationale Einheit eine Halbheit.



    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    Deshalb liegt ein Schwergewicht des Sozialhaushalts auf der Sozialpolitik zugunsten der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. 21,6 Milliarden DM dieses Haushalts sind durch die Einigung bedingt.
    Das größte Finanzvolumen, der größte Geldbrocken dieses Sozialhaushalts ist das Geld für die Rentenversicherung aus unserer gesamtstaatlichen Verantwortung für die ältere Generation: 61 Milliarden DM für die Rentenversicherung, 10 Milliarden DM davon bedingt durch die deutsche Einheit. Es ist ein höherer Bundeszuschuß als je zuvor, ausgelöst auch durch die Neuregelung des Bundeszuschusses, die wir gemeinsam mit dem Rentenreformgesetz 1992 beschlossen haben, und durch höhere Leistungen im Zusammenhang mit dem Rentenüberleitungsgesetz, das die rentenpolitische Einheit schaffen soll.
    Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in diesem Haus ja viel Gelegenheit zur Kontroverse und zum Konflikt. Wir sollten dem Konflikt nicht aus dem Weg gehen; er ist das Salz in der Suppe der Demokratie.
    Dennoch finde ich es gut, wenn wir uns in Sachen Rentenpolitik weiterhin um ein Höchstmaß von politischem Konsens bemühen.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Ich bedanke mich bei allen, sowohl was die Rentenreform anlangt, die sich jetzt im neuen Bundeszuschuß niederschlägt, als auch hinsichtlich der Rentenüberleitungen. Ich glaube, es ist auch ein Teil des Vertrauenskapitals, daß wir die Rente aus dem Streit herausbringen und daß Rentenpolitik über den Zeitraum von Legislaturperioden hinaus betrieben wird.
    Der Bundeszuschuß im Zusammenhang mit den Kindererziehungszeiten macht 4,9 Milliarden DM aus. Ab 1992 werden für Kinder, die nach dem 1. Januar geboren werden, die Kindererziehungszeiten von einem Jahr auf drei Jahre erhöht. Das ist ein weiterer wichtiger Fortschritt auch zur Flankierung des Erziehungsurlaubs, zur Flankierung unserer Familienpolitik.
    Mit dem Rentenreformgesetz, das durch diesen Haushalt finanziell unterstützt wird, wird zum erstenmal das Angebot einer Teilrente gemacht. Ich finde, das ist mehr als nur ein rentenpolitischer Fortschritt. Es sollte ein Beitrag sein zur Humanisierung des Arbeitslebens, ganz besonders zur Humanisierung des Übergangs von der Erwerbsarbeit in den Ruhestand. Die Teilrente kann mit einem Teillohn kombiniert werden. Auf diese Weise kann der Übergang ohne wesentliche Einkommensverluste so gestaltet werden, daß man nicht von heute auf morgen mit der Erwerbsarbeit Schluß macht. Schließlich ist der Mensch ja keine Maschine, die abgestellt wird.
    Unsere Rentenpolitik zeigt sich auch in der Verantwortung für die Rentner in den neuen Bundesländern. In den neuen Bundesländern sind die Renten in den ersten zwölf Monaten um durchschnittlich 66 % gestiegen. Damit sind die Rentner mit die ersten, die an den Früchten der deutschen Einheit partizipieren. Sie haben es auch verdient: Das ist jene Generation, die die größten Leiden dieses Jahrhunderts ertragen mußte, nämlich zwei Weltkriege, die deutsche Teilung, 40 Jahre Sozialismus.
    Ihre Zukunft ist kürzer als die Zukunft der Jungen. Deshalb haben wir für die Wiedergutmachung nicht so viel Zeit. Deshalb müssen wir mit aller Kraft unserer Verantwortung für die ältere Generation gerecht werden, mit aller Kraft unsere Unterstützung aufbringen, damit es den Rentnern ganz besonders in den neuen Bundesländern besser geht, als es ihnen in 40 Jahren Sozialismus gegangen ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Nach dem Renten-Überleitungsgesetz werden 900 000 Witwen in den neuen Bundesländern durch eine ordentliche Witwenversorgung ihr Einkommen verbessern. 150 000 Witwen werden überhaupt zum erstenmal eine Witwenrente erhalten.

    (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: So ist es!)

    Das sind handfeste Verbesserungen für eine Generation, die — ich sage es noch einmal — viel mitgemacht hat.
    200 000 werden früher in Rente gehen können. Das ist in dieser Situation im übrigen auch eine arbeitsmarktpolitische Entlastung.
    Der Zugang zur Invalidenversicherung wird verbessert. Das soll auch dazu beitragen, daß jemand nicht mit ruinierter Gesundheit in Rente geht, sondern man ermöglicht ihm frühzeitig, bevor er verschlissen und kaputt ist, den verdienten Ruhestand.
    Meine Damen und Herren, wir haben das alles geschafft — das wird von manchen übersehen — , obwohl wir die Beiträge zur Rentenversicherung in Schach gehalten haben, und zwar in einer Weise, wie wir es uns selber gemeinsam nicht zugetraut haben. Trotz milliardenschwerer Belastungen durch Rentenanhebungen liegen die Beiträge zur Rentenversicherung unter jenem Satz, den wir bei der Rentenreform geschätzt haben. Damals haben wir 18,7 % für 1991 geschätzt. Wir liegen aber bei 17,7 %. Damals haben wir 19 % für 1995 geschätzt. Nach der jetzigen Lage werden es 18,2 % sein.
    Wir machen eine Politik, die auf die Lohnnebenkosten Rücksicht nimmt.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der FDP)

    — Die Zahlen sprechen dafür. Wir sind besser als unsere eigenen Prognosen. Bei früheren Regierungen gab es Zeiten, in denen dies umgekehrt war. Ich finde die jetzige Situation eigentlich brauchbarer.
    Ich bleibe dabei: Unsere Sozialpolitik lebt von dem Grundgedanken der Solidarität zwischen den Generationen. Das ist im übrigen geradezu auch ein Kulturgesetz. Ich habe vor wenigen Tagen als Empfehlung für die Sozialpolitik gehört: Jede Generation sorgt für sich selber. Das wäre ein Traditionsbruch in unserer Sozialpolitik. Es wäre aber nicht nur ein Traditionsbruch, sondern es wäre auch eine Kulturrevolution. Über Jahrtausende hat sich die Solidarität zwischen den Generationen bewährt.
    Ein Gebot — unter den Zehn Geboten das einzige Gebot, das mit einer irdischen Verheißung versehen



    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    ist — behandelt die Generationensolidarität. Immer war es so: Die Jungen arbeiten für die Alten im sicheren Wissen, daß auch sie einmal alt werden. Sozialpolitik kann von noch so klugen Menschen organisiert werden, sie wird immer bezahlt aus der Arbeit der jetzt aktiven Generation. Wie eine Gesellschaft die Alten behandelt, das ist auch Maßstab ihrer Kultur und ihrer Solidarität. Deshalb bekenne ich mich uneingeschränkt zur Generationensolidarität in unserer Sozialpolitik.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Auch die zweite große Herausforderung unseres Sozialstaats Deutschland findet in diesem Haushalt ihren Niederschlag: Unser Engagement in der Arbeitsmarktpolitik. 14,1 Milliarden DM sind in diesem Haushalt für aktive Arbeitsmarktpolitik, für Arbeitslosenversicherung vorgesehen. Hinzu kommen die Leistungen der Bundesanstalt.
    Es ist ja gut, daß nicht alle Verelendungsprognosen eingetroffen sind.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Das kann man wohl sagen!)

    Ich will nur daran erinnern: 40 % Arbeitslose wurden befürchtet und uns für Mitte des Jahres vorausgesagt; aber es sind 12,1 %. 12,1 % sind immer noch zuviel. Niemand darf denken, ich würde diese Zahl als Erfolgsmeldung ausgeben. Aber die Zeichen der Besserung sind doch zu sehen. Ich finde, wir müssen diese Zeichen der Besserung auch mit öffentlicher Anerkennung versehen. Es geht doch auch darum, Mut zu machen. Mit Pessimismus ist noch nie ein Problem gelöst worden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Kurzarbeit geht zurück. Ich hoffe, daß die Arbeitsmarktpolitik auch weiterhin ihre flankierende Dienstleistung erbringen kann. Aber die Arbeitsmarktpolitik kann private Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht ersetzen.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

    Aber sie ist ein Damm gegen Hoffnungslosigkeit. Ich weiß, daß sie von manchen kritisiert worden ist. Aber, meine Damen und Herren, wer hier kritisieren will, soll aufstehen und einmal beschreiben, was passiert wäre, wenn wir nicht großzügig Kurzarbeit gewährt hätten, wenn wir nicht Vorruhestand und Altersübergangsgeld angeboten hätten — milliardenschwer, aber 500 000 sind damit vor Arbeitslosigkeit bewahrt worden — , wenn wir nicht Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifizierung angeboten hätten.
    Außerhalb jeden Streites: Diese arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen haben einen beschäftigungspolitischen Entlastungseffekt von 1,8 Millionen ausgelöst. 1,8 Millionen! Das sind Einzelschicksale. Stellen Sie sich einmal einen Arbeitsmarkt ohne jene arbeitsmarktpolitischen Instrumente vor!
    Ich gestehe auch: Wir waren arbeitsmarktpolitisch erfolgreicher, als wir und andere — einschließlich der Opposition — uns zugetraut hatten. Wir hatten für Qualifizierung — von Unkenrufen, wir würden es nicht schaffen, begleitet — 550 000 Eintritte geplant und eingesetzt. Im August, also kurz nach Halbzeit, haben wir 536 000. Wir werden im Dezember in die Nähe von 700 000 kommen.
    Wir hatten — begleitet von Unkenrufen, wir würden es nie schaffen — für dieses Jahr 280 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geplant. Im August waren wir bei 262 000, und wir werden bis Dezember an die Grenze von 400 000 kommen.

    (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Gute Leistung!)

    Meine Damen und Herren, ich weiß, daß viele daran mitgewirkt haben. Ich möchte mich ganz besonders auch bei denen bedanken, die vor Ort Initiativen ergriffen haben. Qualifizierung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind wichtige sozialpolitische Maßnahmen gegen Hoffnungslosigkeit und für Modernisierung.
    Freilich, dieser Erfolg hat uns auch in finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Deshalb bedanke ich mich beim Finanzminister, daß wir 5,4 Milliarden DM nachschießen. Ich bitte Haushaltsausschuß und Plenum, diesem Vorschlag zu folgen. Wir setzen damit eine hilfreiche Arbeitsmarktpolitik fort. Von den 3 Milliarden DM Verpflichtungsermächtigungen werden im nächsten Jahr 2 Milliarden DM ausgabenwirksam werden.
    Ich sehe es auch so, daß wir — an Stelle der alten sozialistischen Planwirtschaft — die Wirtschaft der neuen Bundesländer jetzt nicht zu einer ABM-Wirtschaft machen können.

    (Ina Albowitz [FDP]: Hoffentlich!)

    Aber sie hat weiterhin flankierende Funktion. Frau Kollegin Albowitz, wenn wir schon Geld zahlen, finde ich es dreimal sinnvoller, aktiv Arbeit zu bezahlen, als passiv Arbeitslosigkeit zu finanzieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Günter Rixe [SPD])

    Wir müssen die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Qualifizierungsmaßnahmen nach dem Quantitätsschub jetzt auch mit einem qualitativen Schub verbinden. Wir müssen die Umschulung stärker auf ihre Verwertbarkeit im Erwerbsleben konzentrieren und ABM vor Mißbrauch schützen. ABM soll dem Arbeitsmarkt, insbesondere dem Mittelstand, keine Konkurrenz machen. Deshalb werden auch mit den Lohnkostenzuschüssen in der Regel immer noch maßgeschneiderte Lösungen angestrebt; 90 % werden für Sachkosten aufgebracht.
    Meine Damen und Herren, worauf ich ganz besonders stolz bin — aber, ich glaube, wir können es gemeinsam sein — , ist folgendes: Trotz dieser großen Anstrengungen, mit denen wir auch große arbeitsmarktpolitische Erfolge erzielt haben, senken wir den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung so, wie wir es angekündigt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Es bleibt auch bei den arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen im Westen. Ich finde, die Gruppe der Langzeitarbeitslosen braucht besonders Unterstützung, und das nicht nur mit Geld. Die Langzeitarbeitslosen sind jene Gruppe, die durch lange Arbeitslosigkeit möglicherweise auch dem normalen Erwerbsle-



    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    ben entwöhnt ist. Hier bedarf es auch psychologischer Unterstützung, insbesondere für jene, die gesundheitliche Anstrengungen unternehmen müssen.
    Ich appelliere in diesem Zusammenhang auch noch einmal an die öffentlichen Arbeitgeber, nicht — wie fast allerorts — mit schlechtem Beispiel voranzugehen, die Pflichtquote bei der Schwerbehindertenbeschäftigung nicht zu erfüllen. Das finde ich — ohne viele Worte verlieren zu wollen — einen Skandal.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dr. Konstanze Wegner [SPD])

    Man kann nicht Unternehmer auffordern, Pflichtquoten zu erfüllen, wenn der Staat nicht mit gutem Beispiel vorangeht. Ich kann Sie beruhigen — auch im Blick auf mögliche Zwischenfragen — : Die Bundesregierung erfüllt ihre Pflicht.
    Soziale Einheit verlangt freilich die Mobilisierung aller Kräfte. Aber das beschränkt sich nicht einfach auf die Übernahme schon funktionierender Modelle. Unsere Gesellschaft muß weiterentwickelt werden. Unsere Gesellschaft ist nie statisch.
    Ich denke, wir stimmen darin überein, daß unser Sozialstaat Deutschland eine große Lücke hat, eine Frage ungenügend beantwortet hat: die Frage der Pflegebedürftigen. Wir haben beim Thema Alter vornehmlich eine Antwort: Rente. Diese Antwort genügt weder denjenigen, die noch mitwirken wollen, die nicht im Ruhestand verharren wollen, noch genügt sie denjenigen, die hilfsbedürftig sind. Wir brauchen eine neue Kultur des Helfens. Die alte Großfamilie gibt es so nicht mehr. Und auch der Weg zu ihr zurück ist versperrt, ist keine Zukunftshoffnung. Wir brauchen eine neue Kultur der Nachbarschaft, eine Sozialpolitik der kleinen Kreise, nicht nur der großen Apparate.
    Deshalb hoffe ich und setze darauf, daß dieser Deutsche Bundestag nach 20 Jahren Diskussion endlich eine anständige Antwort auf das Thema Pflege gibt

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    — eine Antwort, die sozial verkraftbare Beiträge enthält, eine Antwort, die nicht nur ferne Zukunftshoffnungen weckt, sondern den jetzt Pflegebedürftigen hilft, eine Antwort, die nicht nur Geld verteilt, sondern eine neue Infrastruktur ambulanter Unterstützung anbietet. Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit, daß ausgerechnet jene, die als Samariter tätig sind, die ihre Angehörigen aufopferungsvoll rund um die Uhr pflegen — meistens haben wir das den Frauen überlassen — , selber keine Rentenversicherung haben und im Alter selber der Sozialhilfe zum Opfer fallen. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit, die so nicht bleiben kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

    Deshalb gilt für die stationäre Pflege: Es ist sowohl mit dem Gedanken von Leistung wie mit dem Gedanken von Eigentum unvereinbar, daß der Großteil derjenigen, die im Pflegeheim untergebracht sind, ihren Aufenthalt mit der Sozialhilfe bezahlen müssen. Das ist ein Schlag ins Gesicht einer Gesellschaft, die doch Leistung bewerten will. Im Pflegefall sind alle gleich, sind alle Taschengeldbesitzer. Das kann am Ende dieses Jahrhunderts keine humane Antwort sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

    Wer Eigentum so hoch wie ich schätzt, muß dafür sorgen, daß es im Pflegefalle nicht verstaatlicht, nicht sozialisiert wird. Beides sind auch ordnungspolitisch wichtige Kriterien einer anständigen Lösung. Aber über alle Ordnungspolitik hinaus muß uns rühren, daß Menschen auf Hilfe angewiesen sind und ein Sozialstaat, der viel Geld hat für Risiken, die viel kleiner sind,

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Das kann man wohl sagen!)

    diese Pflegebedürftigen im Stich läßt. Das darf nicht so bleiben.
    Ich sehe auch eine Weiterentwicklung unserer Gesellschaft in der Einkommenspolitik. Die alte Tarifmaschine, die nur den Konsumlohn verteilt, kann nie die Hoffnung auf gerechten Lohn erfüllen. Arbeit und Kapital erwirtschaften das volkswirtschaftliche Ergebnis, aber dieses Ergebnis kann nicht verfuttert, vertrunken und konsumiert werden. Ein Teil davon muß zurückgelegt und investiert werden. Ich frage mit der christlichen Soziallehre, weshalb das, was investiert werden muß, nur einer Seite zugute kommt. Es ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, Entlohnung konsumtiv wie investiv vorzunehmen, und zu den uralten Ideen der Sozialen Marktwirtschaft gehört „Eigentum in Arbeitnehmerhand".

    (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: CDU! Jawohl!)

    Das war die große Hoffnung der Sozialen Marktwirtschaft, das Programm Ludwig Erhards.
    Wir haben unsere Ziele im westlichen Wirtschaftswunder erreicht. Aber hinter dem Ziel „Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand" sind wir zurückgeblieben. Wir dürfen diesen westlichen Fehler jetzt im Osten nicht wiederholen. Wir können aus Fehlern klug werden. In einer Zeit, in der Kapital zu Recht subventioniert wird, um Arbeitsplätze zu schaffen, darf das Gebot der Gerechtigkeit nicht zur Seite gedrängt werden.
    Deshalb auch meine Aufforderung, daß die Tarifpartner nicht nur die alten Konsumlohnmaschine laufen lassen. Hier ist der Verteilungsspielraum vielfach begrenzt. Hier sind Erfolge sehr leicht zu unterlaufen. Inflation und Arbeitslosigkeit können triumphale Tarifergebnisse ins Nichts auflösen.
    Es ist Zeit, über die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft nachzudenken. Der Sozialismus hat diese Fragen nicht beantwortet. Der Kapitalismus beantwortet sie auch nicht. Unsere Antwort heißt Soziale Marktwirtschaft. Zu dieser Sozialen Marktwirtschaft gehört nicht nur Phantasie. Dazu gehört auch der Mut, die Notwendigkeiten durchzusetzen, auch wenn sich Widerstände dagegen auftürmen.
    Ich bedauere, daß in unserer Diskussion eine fast flatterhafte Aufgeregtheit aufgetreten ist. Wenn nicht jeden Tag eine neue Idee genannt wird, bricht Langeweile aus. Ein Handwerker, der so arbeiten würde,



    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    würde keinen Stuhl zustande bringen. Es gilt, auch jene Ideen, die wir noch nicht verwirklicht haben, mit Kraft durchzusetzen. Dazu zählen Pflegeversicherung und Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Hans Klein
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rudolf Dreßler.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Herr Kollege Dreßler, bitte so sachlich wie der Minister!)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Rudolf Dreßler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Bundeshaushalte so etwas wie die Hauptbücher der Politik der jeweiligen Bundesregierungen und der sie stützenden Koalitionsfraktionen sind, dann sind Haushaltsdebatten Gelegenheiten zur grundsätzlichen Diskussion zwischen Regierung und Opposition. Sie sind Gelegenheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich zu machen.
    Es geht um eine sozialpolitische Bestandsaufnahme. Der Haushaltsentwurf für das Jahr 1992, das zweite Haushaltsgesetz des vereinten Deutschland, bietet allerdings kaum die Chance, Gemeinsames herauszustreichen. Zwischen der Politik dieser Bundesregierung und den Vorstellungen der Sozialdemokratie überwiegt das Trennende. Die Verantwortung des Bundestages für unser Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland ist unteilbar. Sie ist unabhängig von der uns im parlamentarischen Konzert jeweils zugewiesenen Rolle als Regierungs- oder Oppositionsfraktion. Unserem Verständnis von parlamentarischer Verantwortung entspricht es daher auch, die Unterschiede zur Politik der Bundesregierung deutlich zu machen. Dies ist unsere politische Pflicht als Oppositionsfraktion.
    Ich will an dieser Stelle einen Einschub machen und sagen: In welcher Welt muß ein Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung leben, der vor wenigen Wochen, zum 1. April dieses Jahres, in einem Handstreich die Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 2,5 % erhöhte — macht 20,6 Milliarden DM an Lohnnebenkosten für neun Monate — und sich jetzt hier hinstellt und erklärt, die Bundesregierung nehme in ihrer Politik Rücksicht auf Lohnnebenkosten?

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Der Mathematiker Adam Riese, würde er heute leben, würde von Norbert Blüm totgeschlagen.

    (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD — Michael Glos [CDU/CSU]: Wo ist denn da der Witz? Witz, komm raus!)

    Seit dem 3. Oktober des vergangenen Jahres hat sich die zentrale Aufgabe deutscher Politik nicht geändert, der staatsrechtlichen Einheit die soziale Vereinigung Deutschlands folgen zu lassen. Soziale Einheit ist ja nicht nur eine West-Ost-Frage, soziale Einheit ist ja auch eine Frage des Aufeinanderzubewegens der unterschiedlichen sozialen Gruppen und Schichten unseres gesamten Gemeinwesens.
    Es gilt aber die Feststellung: Die Politik der Regierung tritt auf der Stelle, führt an manchen Punkten sogar hinter das Erreichte zurück. Aber hier sind wir von sozialer Einheit noch weit entfernt.
    Für uns ist auch eine Frage der sozialen Einheit, wie sich deutsche Politik für die Chancen der jungen und der zukünftigen Generationen einsetzt: ob wir sie sichern oder sie gefährden. Auch hier trifft das Urteil zu: von sozialer Einheit weit entfernt.
    Im Gegenteil, die Politik der Staatsverschuldung und der weiter anhaltenden einseitigen Verteilung des erwirtschafteten Volksvermögens ist eine schwere Bedrohung dieses Zieles; sie ist eine Hypothek für die Chancen der nachfolgenden Generationen.
    Wie eigentlich anders könnte soziale Einheit erreicht werden als durch zielgerichtete Sozialpolitik, durch aktive, gestaltende Gesellschaftspolitik? Das für diesen Bereich verantwortliche Kabinettsquartett, von Herrn Blüm bis Frau Hasselfeldt, von Frau Rönsch bis Frau Merkel, hat sich bisher vor der Beantwortung grundlegender Fragen gedrückt.
    Ich will deshalb heute wiederholen, was ich sie bei der dritten Lesung des Bundeshaushaltes 1991 gefragt habe. Für welche Sozialpolitik stehen Sie eigentlich: Sozialpolitik als aktive gesellschaftspolitische Gestaltung oder Sozialpolitik als Restgröße der anderen Politikfelder? Sozialpolitik als wirksames Mittel zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung, zur Beseitigung der Ein-Drittel/Zwei-Drittel-Gesellschaft oder Sozialpolitik als Instrument zur Befriedung der Menschen mit den bestehenden Zuständen? Sozialpolitik als Fortentwicklung unserer Gesellschaft oder Sozialpolitik als ein Sichabfinden mit bestehenden Strukturen?
    Warum beantworten diese vier Minister diese Fragen nicht? Ihre Politik jedenfalls offenbart, daß sie sich in aller Regel gegen ein fortschrittliches Verständnis von Sozialpolitik entscheiden. Sie wollen nicht begreifen, daß Sozialpolitik vor allem eine Frage der Qualität und weniger der Quantität der politischen Maßnahmen ist. In beinahe jeder Haushaltsrede renommiert der Bundesarbeitsminister mit der Höhe des Sozialetats und bejubelt mit dem üblichen Tremolo in der Stimme die Tatsache, daß dies der größte Einzeletat des Bundeshaushaltes sei. Ich nenne dies eine politische Frivolität.

    (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Was?)

    — Leichtfertigkeit, Herr Kollege.
    Wer als Bundesarbeitsminister die höchste Zahl von Arbeitslosen zu vertreten hat

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das war doch eure Politik!)

    — übrigens nur noch übertroffen von den Arbeitsmarktkatastrophen der Weimarer Republik — , der hat naturgemäß den größten Sozialetat.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Das aber alles ist doch kein Grund, meine Damen und Herren, sich selbst zu beweihräuchern. Die Höhe des Etats ist doch kein Ausdruck guter Sozialpolitik.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)




    Rudolf Dreßler
    Als im Jahre 1974 zum ersten Male die Sozialausgaben den Verteidigungsetat als größten Einzelposten überflügelten, haben sozialdemokratische Bundesminister dieses zusätzliche Geld für eine Verbesserung des Kindergeldes,

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Und dann habt ihr das Kindergeld wieder gekürzt!)

    für die Entwicklung eines arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums, für die Dynamisierung der Kriegsopferversorgung ausgegeben

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Die Kriegsopferversorgung habt ihr zwei Jahre lang überhaupt nicht erhöht!)

    und nicht zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD)

    Hier wird der prinzipielle und qualitative sozialpolitische Unterschied zwischen Ihnen und der Sozialdemokratie deutlich. Wir entwickelten mit dem Arbeitsförderungsgesetz ein arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium.

    (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Sie sind die einzige Partei gewesen, die das Kindergeld gekürzt hat!)

    Finanzierung von Arbeitslosigkeit ist immer teurer als Finanzierung von Arbeit. Aber der Arbeitsminister stellt sich hier hin und feiert die haushaltspolitischen Konsequenzen seiner Politik Jahr für Jahr als Erfolg. Das nenne ich eine schlimme Irreführung.
    Zur Charakterisierung Ihrer fortwährenden sozialpolitischen Selbstbeweihräucherung, Herr Blüm, fällt mir eigentlich nur das bekannte Zitat aus dem „Götz von Berlichingen" ein:

    (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) „Wo viel Licht ist, fällt viel Schatten."


    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    — Die Bemerkungen der Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion beweisen, daß sie den „Götz von Berlichingen" nicht zu Ende gelesen haben.

    (Erneute Heiterkeit bei der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Ihre Sozialpolitik wirft große Schatten auf die gesellschaftspolitische Landschaft. Licht, so sage ich, das sind die ebenso zahlreichen wie wohlfeilen Ankündigungen. Schatten, das sind die tatsächlichen wirtschaftspolitischen Beschlüsse und deren gesellschaftliche Folgen. Wir Sozialdemokraten wissen: Kernelement jeder Sozialpolitik ist praktizierte gesamtgesellschaftliche Solidarität. Der Bundeshaushalt zeigt, diese Regierung redet von Solidarität, aber hinter dem Schwall der Worte praktiziert sie das Gegenteil: Unternehmensteuersenkung für wenige, Mehrwertsteuererhöhung für alle,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Arbeitsplätze!)

    Vermögensteuersenkung für einige, höhere Arbeitslosenversicherungsbeiträge für alle. Das ist Ihr Verständnis von gesellschaftlicher Solidarität. Sie stellen sie auf den Kopf.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Senkung der Beiträge!)

    Sie treiben übrigens damit auch Schindluder mit der deutschen Sprache. Weite Teile dieser Koalition diffamieren Sozialpolitik als staatlich oder behördlich verordnete Bevormundung des einzelnen. Zumindest aber behaupten sie, von sozialpolitischen Maßnahmen gingen Wirkungen aus, die den einzelnen in seiner freien Entscheidung beeinträchtigten. Das Gegenteil ist wahr: Sozialpolitik, richtig angewandt, setzt den einzelnen erst in den Stand, sich frei zu entscheiden, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Eine Ehefrau mit zwei Kindern, deren Mann 10 000 Mark im Monat verdient, kann in der Regel frei entscheiden, ob sie einen Beruf ausüben will. Eine Ehefrau in gleicher Situation bei 2 000 oder 3 000 Mark Einkommen kann dies in der Regel nicht.

    (Zuruf von der FDP: Wollen Sie denn die Gleichmacherei haben?)

    Sie kann es erst, wenn es ihr durch eine vernünftige Sozialpolitik ermöglicht wird.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Sozialpolitik wirkt deshalb nicht entmündigend und beeinträchtigt nicht die individuelle Entscheidung; nein, sie wirkt emanzipatorisch und ermöglicht sie erst.
    Wenn ich in die Einzeletats dieses Haushalts blicke, ob und wo Sozialpolitik in diesem Sinne strategisch Weichen stellt, so lautet das traurige Ergebnis: Fehlanzeige. Dieser Haushalt offenbart gesellschaftspolitische Orientierungslosigkeit, er legt die politische Gestaltungsunfähigkeit dieser Regierung schonungslos offen. Er reagiert, wo er aktiv Akzente setzen müßte. Es ist der Haushalt einer Regierung, die die Entwicklung nicht positiv vorantreibt, sondern die selber von den Ereignissen getrieben wird.

    (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Und jetzt kommen die Alternativen!)

    Wenn es das Ziel ist, die Einheit sozial zu gestalten, dann ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gewiß das traurigste Kapitel im Buche dieser Einheit. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Ich rede hier nicht über die Verantwortung des SED-Regimes für seine Hinterlassenschaft; die ist ohnehin unauslöschlich. Ich rede ausschließlich von jener Verantwortung, die die Bundesregierung trägt; denn die gibt es auch. Zu spät hat sie beschäftigungspolitisch reagiert, und diese Reaktion war halbherzig, war inkonsequent und war eine Springprozession mit Pausen und Wartezeiten.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Kam Ihnen die Einheit nicht schnell genug?)

    Richtig ist, was die „Süddeutsche Zeitung" am 1. Juli zusammenfassend über die Arbeitsmarktpolitik der Regierung schrieb: „Die Angst vor angebli-



    Rudolf Dreßler
    chen sozialistischen Experimenten ist größer als der Mut zu neuen Wegen." Warum stattet die Regierung die sachlich vernünftige Verlängerung der Zahlung von Kurzarbeitergeld in den neuen Ländern nicht so aus, daß damit zugleich Initiative und Bereitschaft zur beruflichen Bildung belohnt werden? Um die Neigung zur beruflichen Bildung zu fördern, greift sie statt dessen zum Instrument der Sperrzeit, wenn ein Angebot nicht angenommen wird. Strafe statt Anreiz
    — das ist nicht nur falsch, es offenbart auch ein reichlich obrigkeitsstaatliches und autoritäres Denken. Warum wird die Einrichtung von Beschäftigungsgesellschaften zuerst als Möglichkeit in den Einigungsvertrag hineingeschrieben, dann billigend zugeschaut, wenn sich 150 solcher Einrichtungen gründen, anschließend aber zugelassen, daß der TreuhandVorstand durch ein Monate dauerndes Gezerre Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften hintertreibt?
    Wo liegt der Sinn solcher Politik? — Ich will es Ihnen sagen: Er gründet sich in Ihrem prinzipiellen Mißtrauen gegenüber einer aktiven Arbeitsmarktpolitik schlechthin, und erst recht, wenn sie Dynamik und Modellcharakter für ganz Deutschland entwickeln könnte. Sie wollen eben — im Gegensatz zur SPD — keine aktiv gestaltende Sozialpolitik.
    Welchen Sinn hat es eigentlich, den Fördersatz bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Osten um 10 zu senken? — Das spart im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit vielleicht 200 oder 300 Millionen DM, signalisiert aber allen Arbeitnehmern in den neuen Ländern, daß nach nur neun Monaten schon wieder auf Bremsen umgeschaltet wird. Ich frage: Warum?
    Gleiches gilt übrigens für die Kürzung der Gelder zur Arbeitsbeschaffung im Westen: 1,6 Milliarden DM will die Bundesregierung bei ABM-West in den kommenden drei Jahren sparen, weil der Bundeshaushalt konsolidiert werden muß.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Wie war das eigentlich bei Ihnen, Herr Dreßler, als Sie Staatssekretär waren?)

    — Ich garantiere Ihnen, Herr Louven, daß diese angeblich gesparten 1,6 Milliarden DM durch Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bis auf wenige Millionen wieder jenen zufließen werden, denen Sie die ABM-Zuweisung zuvor entzogen haben. Die Methode lautet: Löcher stopfen und dafür neue aufreißen, Politik ohne Hand und Fuß.
    Regierung und Koalition müssen endlich die richtigen Konsequenzen ziehen. Deshalb fordern wir Sie auf, das Instrumentarium systematisch zu einer tragfähigen Brücke in die Soziale Marktwirtschaft auszubauen. Es ist unschwer abzusehen, daß die halbherzige, unschlüssige und widersprüchliche Arbeitsmarktpolitik schlimme Folgen haben wird.
    Nun feiern Sie die neuesten Arbeitsmarktzahlen als Trendwende.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Zu Recht!)

    —Wie schön wäre es, Herr Louven, wenn es doch nur wahr wäre!
    Aber zunächst einmal ist diese Koalition, gemessen an Ihren vollmundigen Sprüchen zu Beginn des Einigungsprozesses, mehr als bescheiden geworden. Jetzt werden schon Arbeitslosenzahlen gefeiert, die — man stelle sich das vor — bei „nur" einer Million in Ostdeutschland liegen.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Und was habt ihr vorausgesagt?)

    Jeder weiß, das ist weniger als die halbe Wahrheit. Jeder in diesem Hause freut sich über jeden Betrieb, der nicht schließen muß. Aber glauben nicht auch Sie, Herr Louven, daß bei ca. vier Millionen Arbeitsplätzen, die seit November 1989 weggefallen sind, endlich eine wirklichkeitsnahe Reaktion der Regierung und der Koalitionsfraktionen angebracht wäre?

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Wenn nämlich in Ostdeutschland nur noch 40 % dessen produziert wird, was vor der Maueröffnung erzeugt wurde, frage ich Sie, ob dies wirklich einen Grund zur Selbstzufriedenheit darstellt, weil es nämlich nicht noch schlimmer gekommen ist.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Schauen Sie mal nach Osteuropa!)

    Wer so denkt und argumentiert, geht nicht nur leichtfertig mit dem Schicksal von Menschen um, der hat auch etwas zu verbergen: seine Mitverantwortung am Ausmaß dieser beschäftigungspolitisch schlimmen Situation.
    Ein weiteres Feld, die Familienpolitik, will ich mit einer hoffentlich übereinstimmenden Feststellung einleiten. Ein Land ohne Kinder ist langweilig.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!)

    Eine Gesellschaft ohne Kinder wird träge, unbeweglich, schließt sich ab vor Spontaneität, vor Lebensfreude, verzichtet auf intellektuelle und menschliche Herausforderungen, ist eine Gesellschaft ohne Perspektive.

    (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, dem Bündnis 90/GRÜNE und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Unser aller Ehrlichkeit ist gefragt, wenn wir darauf antworten, ob wir in der praktischen Politik aus dieser gemeinsamen Erkenntnis in ausreichendem Maße die Konsequenzen ziehen und die Verpflichtungen erfüllen, die uns dies auferlegt. Wie fast alle modernen Industriegesellschaften ist auch die der Bundesrepublik eben nicht kinderfreundlich. Sie ist in manchen Bereichen sogar ausgesprochen kinderfeindlich.
    Nun ist zwar richtig, daß die Verantwortung für die Erziehung von Kindern nicht der Politik obliegt; da gehört sie auch nicht hin. Aber die Politik hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß den Eltern eine verantwortungsbewußte, selbstbestimmte Kindererziehung möglich wird. Wir alle haben selbstkritisch einzuräumen, daß es eine Reihe von Versäumnissen aufzuarbeiten gilt, wenn unsere Reden über eine kinderfreundliche Gesellschaft nicht Lippenbekenntnisse bleiben sollen. Es sind nicht die großen Reden, die weiterhelfen, sondern zähe und zielstrebige Kleinarbeit. Dazu sind wir alle gemeinsam aufgefordert.



    Rudolf Dreßler
    Nun wird die Bundesregierung nicht müde, sondern sie ist immer wieder dabei, eine angeblich familien-
    und kinderfreundliche Politik, vor allem im Bereich des Familienlastenausgleichs, zu loben. Legenden, meine Damen und Herren, sollte man gar nicht erst aufkommen lassen.
    Das vorbildliche Kernstück eines vernünftigen Familienlastenausgleichs, das gleiche Kindergeld für alle, zu sozialliberaler Zeit geschaffen, hat diese Koalition wieder abgeschafft. Sie haben es durch eine Mischung von Kindergeld, ebenso unsozialen wie unzulänglichen Kinderfreibeträgen und Kindergeldzuschlägen ersetzt.

    (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Das macht das wieder sozial!)

    Das ist die Wirklichkeit.
    Obwohl das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen im letzten Jahr die Kinderfreibeträge und die einkommensabhängige Minderung des Kindergeldes als verfassungswidrig bezeichnet hat,

    (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Als zu niedrig!)

    erklären Sie sich nach dem letzten Kabinettsbeschluß nur zu einer Anhebung des Erstkindergeldes um 20 DM und einer geringfügigen Erhöhung der Kinderfreibeträge auf 4 104 DM bereit.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Um über 1 000 DM!)

    Die Tageszeitung „Die Welt" berichtet dazu am 3. September, vor zwei Tagen, daß die zuständige Familienministerin, Frau Rönsch, diese Erhöhung als verfassungswidrig bezeichnet und ihre Zustimmung im Kabinett verweigert habe.

    (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Warum?)

    Wir teilen diese Auffassung von Frau Rönsch. Gleichwohl, meine Damen und Herren, kann ich Frau Rönsch die unangenehme Frage nicht ersparen, was sie daraus eigentlich für politische Konsequenzen zieht.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Daß es höher sein muß!)

    Es ist ja wohl kein alltäglicher Vorgang, wenn das Kabinett gegen das Votum der Ressortministerin einen Beschluß faßt, den diese nicht nur für falsch, sondern für verfassungswidrig hält. Anschließend geht alles zur Tagesordnung über und tut so, als sei eigentlich gar nichts. Frau Rönsch, wenn Sie das so akzeptieren, stellen Sie sich dann nicht selbst Fragen nach Ihrer Rolle und nach Ihrem Gewicht im Kabinett?

    (Beifall bei der SPD — Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Sie akzeptieren ja nicht einmal die Freibeträge!)

    Die Koalition wäre gut beraten, die Konzeption der SPD-Bundestagsfraktion zu unterstützen. Wir wollen das Kindergeld für alle auf monatlich 230 DM erhöhen, die unsozialen Kinderfreibeträge und die Kindergeldzuschläge abschaffen

    (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Eben drum!)

    und den Splittingvorteil maßvoll begrenzen.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU)

    — Dann müssen auch Sie einmal etwas in den Vereinigungstopf geben. Dann wird auch Ihnen als Bundestagsabgeordnete einmal etwas abgezogen und nicht nur immer denen, die unterhalb Ihrer Verdienstgrenze liegen.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Nehmen Sie aber nicht Frau Rönsch als Zeugin! Das ist unredlich!)

    Es ist doch fast ein Treppenwitz: Die Sozialdemokratie tritt im Bundestagswahlkampf an, daß auch wir einmal zur Ader gelassen werden, und Sie sorgen dafür, daß wir monatlich mehr bekommen. Das ist doch ein Treppenwitz der Geschichte.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Meine Damen und Herren, für Familien ab vier Kindern haben wir einen zusätzlichen Familienzuschlag von 100 DM pro Monat und Kind vorgesehen. Unser Modell entspricht nach Ansatz und Umfang im Gegensatz zu Ihren Vorstellungen den Anforderungen des Verfassungsgerichts. Es ist darüber hinaus aufkommensneutral ausgestaltet und damit sicher finanzierbar. Wir verbinden auf diese Weise soziale Gerechtigkeit für die Familien mit Kindern mit finanzpolitischer Solidität, einer Eigenschaft, die Ihnen und Ihrer Bundesregierung völlig abhanden gekommen zu sein scheint.
    Steuerpolitik ist immer auch Sozialpolitik, nicht nur beim Familienlastenausgleich. Der unsoziale steuerpolitische Schlingerkurs dieser Koalition ist schon mehrfach in dieser Debatte zur Sprache gekommen. Mehrwertsteuererhöhung einerseits, Vermögensteuersenkung andererseits! Ich wiederhole: Das sind besonders einprägsame Beispiele.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Die europäischen Verhältnisse kümmern Sie gar nicht!)

    In zunehmendem Maße verheddert sich die Koalition dabei in Widersprüche. Einen der vielen eindrucksvollen Beweise lieferte die FDP. 12. August, 11.51 Uhr, Deutsche Presseagentur — Zitat — :
    Der haushaltspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Wolfgang Weng, will die Erhöhung der Mehrwertsteuer allenfalls zulassen, um damit die Neuverschuldung des Staates zu senken.
    12. August, 13.30 Uhr, also 99 Minuten später, meldet die Deutsche Presseagentur — Zitat — :
    Lambsdorff: Höhere Mehrwertsteuer allenfalls zur Finanzierung von Unternehmensteuerentlastungen.
    Ich frage: Was denn nun, Herr Weng, Herr Cronenberg?

    (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das war es schon?)

    Gerade erst haben die Deutschen von Herrn Waigel
    mühsam das Grundwissen erlernt, daß die nach den



    Rudolf Dreßler
    Wahlen beschlossenen Steuererhöhungen nur wegen des Golfkrieges notwendig waren. Jetzt will er uns in einem zweiten Grundkurs gemeinsam mit Herrn Möllemann lehren, daß die Mehrwertsteuererhöhung für die Unterstützung Rußlands benötigt werde. Peng! Da platzt Graf Lambsdorff mit dem Argument der Unternehmensteuersenkung dazwischen. Nach welchem Lehrplan arbeitet Ihre Koalition eigentlich? Man sehnt sich ja förmlich nach den Zeiten zurück, in denen Professor Schreckenberger die Regierungs- und Koalitionspolitik koordinierte, meine Damen und Herren.

    (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Glauben Sie denn wirklich, dieses Durcheinander schaffe das notwendige wirtschafts- und finanzpolitische Vertrauen?
    Herr Geißler kommentierte die geplante Steueroperation dieser Koalition noch am 2. September, also vor drei Tagen, im Deutschlandfunk, morgens früh, kurz nach der Tagesschau — Zitat — :
    Ich glaube, daß es nicht möglich ist, für den 1. Januar 1993 die Mehrwertsteuer zu erhöhen und auf der anderen Seite dann die Vermögensteuer ganz abzuschaffen. Das hat mit den Prinzipien der Steuergerechtigkeit nichts zu tun.
    Wie wahr, wie wahr, Herr Geißler!

    (Beifall bei der SPD)

    Nur, welche Konsequenz zieht der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Geißler daraus für die steuerpolitischen Beschlüsse seiner Fraktion? Über den Rundfunk steuer- und sozialpolitisch Richtiges zu verkündigen und hier im Hause Falsches zu beschließen, das geht nicht einmal mehr dann, wenn man wie diese Koalition nur noch über Rudimente von steuerpolitischer Glaubwürdigkeit verfügt.
    Man sagt, diese Bundesregierung besitze auch eine Gesundheitsministerin.

    (Zuruf von der SPD: Ehrlich? — Heiterkeit bei der SPD)

    Ich denke, sie braucht auch eine; denn die Probleme, die im Gesundheitswesen zu lösen sind und die ihr zum größten Teil der Arbeitsminister hinterlassen hat, sind erheblich.
    Aber, Frau Hasselfeldt, glauben Sie wirklich, mit Tieftauchen vor den Problemen könnten Sie ihnen entgehen oder diese gar lösen? Ihr beharrliches Schweigen zur Gesundheitspolitik ist nicht nur vielsagend im Hinblick auf die Bewertung der politischen Erbschaft Ihres Kollegen Blüm, es offenbart auch Ihre eigene Ratlosigkeit.
    Was ist denn nun mit den Erfolgen des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes? War das so umwerfend, daß deshalb nunmehr aus Ihrem Ministerium die Kunde dringt, man müsse die Reform reformieren, gleichsam als Gesundheitsreform-Reformgesetz?
    In Wirklichkeit wissen Sie alle längst: Dieses Gesetz war eine Pleite. Es ist in seiner Gänze gescheitert, trotz der Milliardenabkassiererei bei den Kranken, trotz der Leistungskürzungen für die Versicherten.

    (Beifall bei der SPD — Julius Louven [CDU/ CSU]: Das glauben Sie selbst nicht!)

    Nichts von dem in dieser Koalition so hoch gelobten Instrumentarium des Gesetzes hat funktioniert, Herr Louven: die Festbeträge: gescheitert, die Arzneimittelrichtlinien: nicht genutzt,

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Die Beiträge: gesunken!)

    die gepriesene Steuerungswirkung der Selbstbeteiligung: eine Chimäre, das Kündigungsrecht bei Krankenhausbetten: undurchführbar — soll ich weitermachen? —, neue Pflegeleistungen: auf dem Verwaltungswege erdrosselt, Fahrtkostenbegrenzung: durch die Praxis ad absurdum geführt — soll ich noch weitermachen? —,

    (Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl! Bitte!) Erreichung des Einsparziels: um Längen verfehlt.

    Meine Damen und Herren, man stelle sich vor: Zwei Jahre seit Inkrafttreten des Gesetzes sind vergangen, und die Krankenversicherung erzielte im ersten Halbjahr 1991 in Westdeutschland ein Rekorddefizit von 3,5 Milliarden DM. Wann dämmert es Ihnen eigentlich, daß die Probleme im Gesundheitswesen struktureller Art sind, denen man mit Kostendämpfungspolitik nicht beikommt? Jeder ahnt heute schon: Beitragssatzerhöhungen sind vorprogrammiert.
    Was, Frau Hasselfeldt, wollen Sie nun tun? Was sind Ihre Vorschläge? Was sind Ihre Rezepte? Wie wollen Sie die Krankenhauskosten stabil halten und zugleich den Pflegenotstand überwinden? Fragen über Fragen, und zu alledem schweigt die Ministerin.
    Angesichts dieser Lage ist das Urteil nicht schwer: Das deutsche Gesundheitswesen geht schweren Zeiten entgegen.
    Sozialpolitik als Ausgrenzung, Sozialpolitik als Spaltung, Sozialpolitik als Entsolidarisierung, das sind Tendenzen, die auch in der Rentenpolitik der Regierungskoalition klar und deutlich zu erkennen sind. Ich sage das bewußt, obwohl wir die Rentenreform gemeinsam beschlossen haben und obwohl die SPD-Fraktion erst vor elf Wochen mit ihren Stimmen das Inkrafttreten des Rentenüberleitungsgesetzes ermöglicht hat. Die Tatsache, daß es immer wieder notwendig ist, Kompromisse zu schließen — allein schon wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat — , kann nicht verdecken, wo die gesellschaftspolitischen Probleme liegen.
    Nehmen wir das Rentenüberleitungsgesetz als Beispiel, und zwar in der ursprünglichen Fassung, in der es nach dem Willen der Regierung und der Koalitionsfraktionen in Kraft getreten wäre, wenn Sozialdemokraten nicht korrigierend eingegriffen hätten. Ist es nicht eine Politik der Spaltung, wenn der Eigentums-und Vertrauensschutz der Rente in Ost und West unterschiedlich praktiziert wird?
    Im Westen wäre aus guten Gründen schon ein Eingriff in die künftigen Rentenerhöhungen verfassungsrechtlich als höchst problematisch erachtet worden.



    Rudolf Dreßler
    Erst recht wäre jede Minderung bereits erworbener und zugesicherter Anwartschaften ein Tabu.
    Im Osten wollte die Koalition ganz anders vorgehen: Für die übergroße Mehrzahl der ab dem 1. Januar 1992 neu zugehenden Rentnerinnen und Rentner wollte die Regierung die dynamischen Rentenanwartschaften, die ihnen die Herren Kohl und de Maizière im Juni 1990 zugesagt hatten, durch Umrechnung auf das bundesdeutsche Rentenrecht reduzieren. Dies sollte für den Rentenzugang ab dem 1. Juli 1995 ohne den mindesten Bestandschutz gelten. Das hätte zum Teil dramatische Verschlechterungen für über 80 % der Betroffenen bedeutet. Erst in zähen Verhandlungen konnte die SPD eine gewisse Milderung der Eingriffe und eine Verbesserung der Bestandsschutzregelung erreichen.
    Ich frage: Ist es nicht eine Politik der Spaltung, wenn die Regierung und die Koalitionsfraktionen versuchen, praktisch die gesamte kulturelle, wissenschaftliche und technische Führungsschicht der ehemaligen DDR pauschal unter Systemverdacht zu stellen und durch Versorgungskürzungen abzustrafen? Vom Professor für Molekularbiologie bis zum Grundschullehrer, von der Ballettänzerin bis zur Kinderärztin sollte das Fallbeil der Versorgungskürzung niedergehen.

    (Dr. Gisela Babel [FDP]: Das ist nicht wahr!)

    Ist es nicht eine Politik der Ausgrenzung, wenn versucht wird, die in der ehemaligen DDR vorhandenen Regelungen zum Schutz vor Altersarmut so schnell wie möglich zu zertrümmern? Genau dies hatten die Bundesregierung und ihre Koalitionsfraktionen vor, und zwar um zu verhindern, daß die berechtigte Forderung Auftrieb erhält, auch im Westen endlich etwas Durchgreifendes gegen die skandalöse Altersarmut zu unternehmen. Nicht weniger als 640 000 Renterinnen und 35 000 Rentner wären nach den ursprünglichen Plänen der Regierung früher oder später zum Sozialamt geschickt worden. Wir waren es, die sichergestellt haben, daß der Sozialzuschlag dynamisiert wird und daß er bis zum Jahresende 1996 erhalten bleibt, d. h. lange genug, um ihn in eine vernünftige Dauerregelung für Ost- und Westdeutschland zu überführen, meine Damen und Herren.
    Ist es nicht eine Politik der Entsolidarisierung, wenn bei der Vereinheitlichung der Rentensysteme beider deutscher Staaten die damit verbundenen Kosten den Beitragszahlern aufgebürdet werden? Wo blieb das Versprechen von Bundesarbeitsminister Blüm, die Kosten der Einheit seien vom Steuerzahler zu finanzieren? Wo blieb der solidarische Beitrag der Selbständigen und Beamten? Und wo blieb, um ein Spezialthema anzusprechen, das besonders die Kolleginnen und Kollegen von der FDP interessieren wird, der Solidarbeitrag jener Berufsgruppen, die sich in berufsständischen Versorgungswerken organisieren und die sich jetzt dank der Politik der FDP in der sorglosen Gewißheit wohlfühlen können, daß die Altlasten der Ärzte- und Zahnärzteversorgung aus der ehemaligen DDR von den beitragszahlenden Arbeitern und Angestellten getragen werden?

    (Zurufe von der SPD: So ist es!)

    Wo blieb das alles?
    Jammervoll ist das Bild, das diese Regierung beim Thema Pflege bietet. Seit nunmehr fast einem Jahr ist der Bundesarbeitsminister damit beschäftigt, in Veranstaltungen seine pflegepolitischen Absichtserklärungen öffentlich aufzuplustern. Das für die Menschen Entscheidende aber fehlt: der verbindliche Beschluß der CDU/CSU-Fraktion und der Bundesregierung, was sie in Sachen Pflege eigentlich inhaltlich wollen, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Das einzige Ergebnis dieser Veranstaltungsreihe ist der öffentliche Eindruck unwürdiger Zänkereien in der Koalition wie in den Reihen der Union. Die Koalition ist bei der Lösung dieser gesellschaftspolitisch exemplarischen Problematik seit dem Dezember 1990 handlungsunfähig.
    Die unerträgliche Situation ist zugleich ein politisches Armutszeugnis für den amtierenden Arbeitsminister. Er hat es nicht einmal fertiggebracht, seine eigene Partei zu einer eindeutigen Haltung bei der Pflege zu bringen.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Und ihr habt gar nichts zuwege gebracht! — Zuruf von der CDU/CSU: Was habt ihr 10 Jahre lang gemacht?)

    Dabei sind die Grundgedanken seiner Vorstellung, die trotz fehlender Konkretisierung so vollmundig als Blüm-Modell gehandelt werden, durchaus richtig und unterstützenswert. Es wäre ja auch ein Wunder, wenn dies nicht so wäre; denn sie sind bei uns abgeschrieben.

    (Gerd Andres [SPD]: Sehr richtig! — Lachen bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Nennen Sie mal die Fundstelle!)

    — Ich beklage mich doch gar nicht darüber. Ich bin ja froh, daß Herr Blüm endlich vernünftig geworden ist. Jetzt wollen wir, daß auch Sie noch vernünftig werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich will Herrn Blüm deshalb ausdrücklich ermuntern: Bleiben Sie konsequent, Herr Blüm. Wenn Sie schon abschreiben, dann aber ganz.

    (Beifall bei der SPD)

    Übernehmen Sie unseren Gesetzentwurf, den wir vor der Sommerpause vorgestellt haben und in diesem Monat im Parlament einbringen werden! Herr Blüm, beherzigen Sie die Lebensweisheit: Das Bessere ist der Feind des Guten.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Da haben Sie aber viele Feinde hier!)

    Es werden ja ganz merkwürdige Diskussionen in der Koalition zu diesem Thema geführt. Es geht etwa um die Frage: Arbeitgeberbeitrag zur Pflegeversicherung — ja oder nein? Für uns Sozialdemokraten ist die Antwort klar: Arbeitgeberbeitrag — ja. Was denn eigentlich sonst?



    Rudolf Dreßler
    Die Arbeitgeberverbände reklamieren doch so gerne ihre Pflicht zur und ihren Anspruch auf Mitgestaltung des Sozialsstaats. Das ist ja auch richtig. Soll es jetzt auf einmal nicht mehr gelten?
    Es gibt ja nunmehr die vielsagende Angebotspalette der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, 55 Milliarden DM zur Pflege beizusteuern.

    (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Freikaufen!)

    Zwar gleicht dies dem originellen Versuch, mit einer kleinen Mettwurst nach einer Seite Speck zu werfen. Aber festgehalten zu werden verdient zunächst einmal das prinzipielle Eingeständnis, sich zur Mitfinanzierung der Pflegeversicherung verpflichtet zu fühlen. Alles andere wäre ja auch ein Schelmenspiel. Die Koalition sollte das in dieser Frage — wo ist Herr Wissmann? — ausdrücklich als Ermutigung begreifen.
    Dann wird die Frage einer Sozialversicherungslösung oder einer Privatversicherungslösung diskutiert, oder es wird eine Mischlösung ins Gespräch gebracht: Wahlfreiheit für die Betroffenen. Besonders letzteres hört sich gut an, zu gut, um den Trick, der dahintersteckt, nicht zu erkennen. Was für eine Wahlfreiheit soll das denn eigentlich sein, bei der Ältere mit geringerem Einkommen zwischen einer Privatversicherung, die sie nicht bezahlen können, und der Sozialversicherung wählen können? Hier feiert doch wieder jene Art gesellschaftspolitischer Differenzierungsideologie fröhliche Urstände, bei der sich die wenigen zu Lasten der vielen verabschieden und finanziell breitmachen können.
    Für die sozialdemokratische Fraktion steht fest: Die Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit erfordert ein solidarisches Finanzierungskonzept — alle für alle — wie bei der Renten- und der Krankenversicherung. Je größer die Solidargemeinschaft, desto gerechter die Finanzierung. Von einem solchen Lösungsweg darf eine verantwortungsvolle Sozialpolitik nicht abgehen, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich wiederhole: Wir werden unseren Gesetzentwurf in diesem Monat einbringen. Die betroffenen Menschen sollen wissen, daß sie sich auf die deutsche Sozialdemokratie verlassen können.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Sie haben ja auch zwölf Jahre gewartet!)

    Ob Sie, Herr Blüm, einen Gesetzentwurf zustande bringen oder nicht, eines ist sicher: Unser Gesetzentwurf wird Ihnen und allen Ihren Mitrednern die Chance bieten, hier in diesem Hause den Wahrheitsbeweis für Ihre Reden und Ihre Versprechungen anzutreten, und zwar mit Ihrer eigenen Stimme.

    (Beifall bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, zusammengefaßt ergibt sich: Die im Bundeshaushalt in Zahlen niedergelegte Essenz deutscher Regierungspolitik bietet ein trauriges Bild ohne inhaltliche Orientierung, die Entscheidung nicht treibend, sondern von den Ereignissen getrieben,

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Das sieht Ihr Kollege Stolpe ganz anders!)

    schwankend und steuerungslos, die Sorgen und Nöte der Menschen außer acht lassend. Sie bietet damit ein exaktes Spiegelbild des inneren Zustandes dieser Koalition. So läßt sich das Ziel, die Einheit sozial zu gestalten, in angemesser Zeit nicht erreichen. So ist die deutsche Einheit nicht zu vollenden.
    Herr Geißler hat heute morgen in einem Radio-Interview von einem Inzuchtverhalten bei der CDU/ CSU gesprochen.

    (Zuruf von der SPD: Sehr richtig! — Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht, was Sie da reden!)

    Das ist kaum steigerungsfähig. — Der Wortlaut liegt vor mir. — Das Urteil über Ihre Politik, Herr Geißler, d. h. über die Politik Ihrer Partei, gebührt letztlich den Wählerinnen und Wählern. In allen Wahlen seit jener Bundestagswahl, der Sie Ihren Auftrag verdanken, urteilen diese Wählerinnen und Wähler gleich. Sie sagen: Wir haben eine schlechte Bundesregierung. — Dem kann sich die SPD-Bundestagsfraktion nur anschließen.
    Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

    (Beifall bei der SPD — Julius Louven [CDU/ CSU]: Davon reden Sie schon zehn Jahre, Herr Dreßler! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)