Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Entsetzen und
Trauer ist überall in der Welt, nicht nur im islamischen
Kulturkreis, die Nachricht von der großen Zahl von Op-
fern zur Kenntnis genommen worden, die die Massenpa-
nik bei der Hadsch, der großen Pilgerfahrt nach Mekka,
verursacht hat: über 700 Tote, mehr als 800 Verletzte .
Unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme gelten allen
Angehörigen und allen Betroffenen . Ich möchte Sie bit-
ten, sich als Zeichen unserer Anteilnahme von den Plät-
zen zu erheben .
– Ich danke Ihnen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur
Änderung weiterer Vorschriften
Drucksache 18/5926
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Katja Dörner, Kordula Schulz-
Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gute Pflege braucht sichere und zukunftsfeste
Rahmenbedingungen
Drucksache 18/6066
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Dazu sehe ich
keinen Widerspruch . Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister für Gesundheit, Hermann Gröhe .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!„Vergiss mich nicht“, „Remember me“, das war das Mot-to des Welt-Alzheimer-Tages am vergangenen Montag .Damit wurde auf eine Krankheit hingewiesen, dereneindrücklichstes Zeichen der Verlust der eigenen Erin-nerungsfähigkeit ist . Gleichzeitig wurde darauf hinge-wiesen, dass es unsere Aufgabe ist, dass es Aufgabe dergesamten Gesellschaft ist, die Menschen, die an demen-ziellen Erkrankungen leiden, nicht zu vergessen .Es gibt in dieser Woche für Menschen mit einer De-menz viele Aktionen der 40 Partner der Allianz für Men-schen mit Demenz . Im ganzen Land wird darauf hin-gewiesen, was wir als Gesamtgesellschaft tun müssen,damit Menschen mit demenziellen Erkrankungen mög-lichst gute Lebensumstände finden, um möglichst langeselbstbestimmt, in guter Begleitung ihr Leben führen zukönnen . Dabei geht es um die Erkrankten und um ihreAngehörigen .Es trifft sich gut, dass wir am Ende dieser Woche, andiesem Freitag, im Deutschen Bundestag den Entwurfeines Gesetzes auf den Weg bringen, das einen ent-scheidenden Fortschritt bringen wird: Wir erreichen dengleichberechtigten Zugang für demenziell Erkrankte zuallen Leistungen der Pflegeversicherung.
Das ist eine wichtige – die Bundeskanzlerin hat in derHaushaltsberatung gesagt: revolutionäre – Entwicklung .Zehn Jahre wurde in diesem Land über einen neuenPflegebedürftigkeitsbegriff diskutiert. Jetzt wird er ein-geführt .
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Das bedeutet, dass wir nicht länger allein auf körperli-che Beeinträchtigungen und einen zeitlich messbarenUnterstützungsbedarf bei Grundfertigkeiten schauen . InZukunft wird anhand von fünf Modulen genauer auf diePotenziale, die Möglichkeiten von Menschen, die pfle-gebedürftig sind, geschaut: Wo sind die konkreten indi-viduellen Unterstützungsbedarfe? Was ist erforderlich,damit sie auch mit Pflegebedürftigkeit möglichst selbst-bestimmt leben können? Dabei geht es nicht allein umMobilität, um kognitive Möglichkeiten, um die Fähigkeitzur Selbstversorgung oder den Umgang mit Krankheitund Therapie . Das ist ein großer Fortschritt .Gute Pflege gibt es nicht von der Stange. Sie wirdhiermit gleichsam ein Stück weit zu einem Maßanzug,bei dem wirklich geschaut wird, was sie bzw . er braucht .Gute Pflege zu erhalten, das ist der Wunsch der Pflegebe-dürftigen, das ist der Wunsch ihrer Angehörigen, sie zuleisten, das ist nicht zuletzt der Wunsch der Pflegekräftein unserem Land, die herausragende Arbeit leisten, mei-ne Damen, meine Herren .
Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wird eingeführt. Aufdem Weg dorthin haben wir zum 1 . Januar dieses Jahreswichtige Leistungen für demenziell Erkrankte nachhal-tig verbessert . Wir haben darüber hinaus im letzten Jahrintensiv die Begutachtung erprobt, die in Zukunft derEinstufung der Pflegebedürftigkeit zugrunde liegen wird.Mir sind drei Dinge wichtig, die ich in diesem Zusam-menhang hervorheben möchte .Erstens. Die Leistungen der Pflegeversicherung set-zen zukünftig früher an. Mit dem Pflegegrad 1 wird amBeginn einer Pflegebedürftigkeit bereits frühzeitig mitMaßnahmen zur Wohnumfeldgestaltung, zur Betreuungund Entlastung begonnen . Auch Beratung gehört dazu .Mittelfristig werden dadurch ungefähr 500 000 Men-schen erstmalig unterstützende Leistungen der solidari-schen Pflegeversicherung erhalten. Die Pflegeversiche-rung greift früher .Der zweite Punkt ist mir genauso wichtig . Er betrifftdie stationäre Altenpflege. Durch das Fortschreiten desPflegebedarfs werden wir in Zukunft aufgrund eineseinheitlichen pflegebedingten Eigenanteils nicht mehransteigende Belastungen haben . Damit tragen wir derErfahrung aus der Praxis Rechnung, dass in so mancherPflegeeinrichtung die Höherstufung trotz nachgewiese-nem höheren Pflegebedarf unterblieb, weil die Pflegebe-dürftigen oder ihre Angehörigen Angst vor einem stei-genden Eigenanteil hatten .Indem wir einen einheitlichen Eigenanteil festsetzen,verhindern wir, dass sachgerechte Einstufungen aufgrundfinanzieller Ängste unterbleiben. Das stärkt die Solidari-tät. Außerdem wird der reale Pflegebedarf in einer Ein-richtung so besser abgebildet . Das ist ein Fortschritt, dermir ganz wichtig ist .
Drittens. Wir machen mit dem Ansatz „Reha vor Pfle-ge“ ernst . Das beginnt, wenn ich das so offen sagen darf,im Kopf . In unserem Kopf gilt „ambulant vor stationär“,weil wir die Vorstellung haben, dass wir möglichst langein den eigenen vier Wänden leben möchten .„Reha vor Pflege“ ist nicht in vergleichbarer Weisebereits in den Köpfen verankert. Viel zu häufig denkenwir: Rehabilitation, das ist doch das Wiederfitmachen fürden Beruf, für den Gang am morgigen Tag in den Betrieb,ins Büro oder wohin auch immer . – Nein, auch nach derVerrentung, auch bei beginnender Pflegebedürftigkeitkann Rehabilitation Selbstständigkeit und Lebensquali-tät sichern .Wenn aus über 1 Million Begutachtungen der Pflege-bedürftigkeit in diesem Land aufgrund der im Jahr 2012eingeführten Verpflichtung, zu prüfen, ob Rehabedarfgegeben ist, gerade einmal 5 000 Rehaempfehlungen re-sultieren, dann zeigt dies, dass wir da noch gewaltig Luftnach oben haben, dass der Grundsatz „Reha vor Pflege“noch nicht in unseren Köpfen verankert ist .Eines der Ergebnisse der Erprobung des neuen Begut-achtungsverfahrens war, dass es geeignet ist, genau die-sen Mehrbedarf an Rehabilitation abzubilden und dannden Menschen auch solche Maßnahmen zugutekommenzu lassen. „Reha vor Pflege“ ist ein weiterer wichtigerSchritt unserer Pflegereform.
Wenn Pflege individueller wird, dann wird Beratungwichtiger. Deswegen ist ein Element unserer Pflege-reform, dass wir die Beratung qualifizieren und einenentsprechenden Auftrag erteilen, festzulegen, welcherQualität die Beratung entsprechen muss . Nach meinerVorstellung sollte diese qualifizierte Beratung wo auchimmer vom Pflegebedürftigen gewünscht, also auch inseinem eigenen Wohnumfeld, angeboten werden . Wirführen auch einen Beratungsanspruch der Angehörigenein; dieser gilt selbstverständlich nur, wenn der Pflege-bedürftige einverstanden ist . Auch damit unterstützenwir die Angehörigen und die Situation in der häuslichenPflege.Doch nicht nur das ist in der Reform, die wir heute aufden Weg bringen, ein wichtiger Punkt für die Angehöri-gen. Wir verbessern auch die Leistungen der Pflegeversi-cherung in der Rentenversicherung . Von derzeit 900 Mil-lionen Euro im Jahr steigern wir die Mittel um ungefähr400 Millionen Euro im Jahr erheblich, um damit dieAnerkennung von Pflege durch Angehörige in der Ren-te zu verbessern . Es kann doch nicht sein, dass jemand,der für die Pflege eines Angehörigen beruflich kürzer trittund dadurch Einkommenseinbußen hinnimmt, im Alterselbst über ein Minus in der Rente und dann vielleichtauch Auswirkungen im Fall eigener Pflegebedürftigkeitgleichsam doppelt büßt . Deswegen ist es richtig, die ren-tenrechtliche Absicherung der Pflegearbeit von Angehö-rigen jetzt zu verbessern .
Ein Weiteres ist mir wichtig . Wir stellen einiges um .2,7 Millionen Menschen erhalten zurzeit Leistungen ausder Pflegeversicherung. Wichtig ist: Wer heute Leistun-gen bekommt, bekommt in keinem Fall zukünftig weni-ger . Es gibt im Rahmen der Überleitung einen umfassen-den Bestandsschutz . Das ist wichtig . Viele werden durchBundesminister Hermann Gröhe
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die automatische Überleitung, durch die demenzielleErkrankungen höher eingestuft werden, besser gestelltwerden . Niemand wird schlechter gestellt werden . Die-sen Bestandsschutz werden wir über die nächsten Jahredurch ungefähr 4,4 Milliarden Euro aus dem Ausgleichs-fonds abfedern und bezahlen können . Das ist nicht – dasist mir angesichts mancher missverständlichen Bericht-erstattung wichtig – der Vorsorgefonds, sondern sozusa-gen die Ausgleichsreserve . Das ist möglich . Das sichertBestandsschutz . Das ist eine gute und wichtige Nachrichtfür die heute Pflegebedürftigen.
Gute Pflege gibt es nur dank engagierter Pflegekräftein diesem Land . Wir gehen mit dieser Reform einen wei-teren Schritt, diesen Pflegekräften bessere Arbeitsbedin-gungen zu bieten. Im Pflegestärkungsgesetz I zu Beginndes Jahres haben wir die Tarifbezahlung der Pflegekräfterechtlich abgesichert
und 20 000 zusätzliche Betreuungskräfte vorgesehen, umEntlastung bei der Arbeit zu schaffen . Ich danke Karl-Josef Laumann, dem Pflegebevollmächtigten, dafür, inwelchem Umfang er die Entbürokratisierung bei der Pfle-gedokumentation vorantreibt .
Über 30 Prozent der Einrichtungen machen da bereitsmit. Der Wunsch der Pflegerinnen und Pfleger, möglichstviel Zeit für die Pflegebedürftigen und nur, wenn es un-bedingt nötig ist, Zeit fürs Papier aufzubringen, wird da-durch unterstützt . Herzlichen Dank, Karl-Josef Laumann .
Gemeinsam mit Manuela Schwesig und in engen Ge-sprächen mit den Ländern treiben wir die Modernisie-rung der Pflegeausbildung voran, die in ein Pflegeberufs-gesetz münden soll . Dies alles und auch die Erinnerungan die Vertragspartner auf Länderebene, ihre Zusagen,den Personalschlüssel zu überarbeiten, wenn dies in denletzten Jahren noch nicht geschehen ist, und dies auchin Zukunft durch ein Bemessungsverfahren, das wir aufBundesebene erproben und erarbeiten wollen, zu unter-stützen, tragen dazu bei, dass Menschen, die in der Pflegearbeiten, die diesen Beruf heute wählen – es gibt einenRekord bei der Zahl der Auszubildenden –, auch merken,dass sie eine gute Berufswahl getroffen haben . Dies treibtuns bei den nächsten Schritten an . Heute machen wir ei-nen großen Schritt nach vorne für die Pflegebedürftigen,für ihre Angehörigen und für die Pflegekräfte in unseremLand .Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun die Kollegin Pia Zimmermann für
die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der neuePflegebedürftigkeitsbegriff soll nun Wirklichkeit wer-den . Ja, durch die Reform des Begutachtungsverfahrenswerden nun endlich auch Menschen mit einbezogen,die bisher keinen oder nur unzureichenden Anspruchauf Pflegeleistungen hatten. Das betrifft in besonderemMaße – Herr Gröhe, Sie haben es genannt – Menschenmit demenziellen Erkrankungen . Dass sich damit derKreis der Anspruchsberechtigten deutlich erweitert, istsehr zu begrüßen .
Was auch wichtig ist: Dieser längst überfällige Schrittist dem jahrelangen gesellschaftlichen Druck auf die ver-schiedenen Regierungen zu verdanken . Sie geben diesemDruck nun nach, aber nur so weit, dass es nicht wehtutund nicht so viel kostet . Meine Damen und Herren, an-statt die Pflegeversicherung endlich auf eine solide finan-zielle Basis zu stellen, setzen Sie von Union und SPD aufIhre altbewährte Strategie der Konzeptlosigkeit und ver-gessen die Pflegerealität, nämlich dass pflegende Ange-hörige am Limit sind, nicht nur körperlich, sondern auchfinanziell; denn Pflege in Deutschland macht arm. Dashat nicht zuletzt die Antwort auf unsere Kleine Anfragean die Bundesregierung bestätigt .Das Personal in der Pflege leistet sehr gute Arbeit, unddas, obwohl die Personalsituation im Grenzbereich ist;denn die Personaldecke in der Pflege ist viel zu dünn.Gut ausgebildete Fachkräfte verlassen ihren Beruf schonnach wenigen Jahren, weil der Dauerstress nicht längerzu ertragen ist, die Löhne nicht ansatzweise eine ange-messene Anerkennung der täglichen Leistung spiegelnund auch, weil sie ein anderes Verständnis von ihrem Be-ruf haben . Die zunehmende Auslagerung von Tätigkei-ten an Betreuungskräfte ist für die Arbeitgeber billiger .Die Pflege wird somit aber aufgespalten. Für viele Pfle-gekräfte führt das zu Frust . Sie haben ein ganzheitlichesVerständnis von Pflege.
Nicht zuletzt die Teilleistungsversicherung in derPflege bleibt ungerecht. Menschen mit Pflegebedarf kön-nen nicht selbstbestimmt entscheiden – Ihr Gesetz än-dert daran gar nichts, Herr Gröhe –, wo und von wemsie gepflegt werden wollen; das können Menschen mitPflegebedarf heute, aber auch nach Ihrem Gesetz nichtentscheiden . Ganz im Gegenteil: Ihr Gesetz zwingt dieMenschen in den unteren Pflegegraden gerade dazu, vonAngehörigen gepflegt zu werden, und das, ohne dass Siedie Rahmenbedingungen dafür verbessern . Ganz im Ge-genteil: In den unteren Pflegegraden werden mal eben –Bundesminister Hermann Gröhe
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hopplahopp – mehrere 100 Euro gestrichen . Sie könnensich darauf verlassen: Das ist mit uns nicht zu machen .
Ihre Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes reicht ein-fach nicht aus. Was die Menschen, die auf Pflege ange-wiesen sind, und diejenigen, die pflegen, brauchen, istein neuer Pflegebegriff, der auch mit Leben erfüllt wirdund nicht als leere Luftblase daherkommt .
Meine Damen und Herren, es geht nicht nur darum,ab wann und in welchem Grad ein Mensch auf Pflegeund Unterstützung angewiesen ist, sondern auch darum,wie diese Pflege und Unterstützung gestaltet und geleis-tet wird . Es reicht nicht, das Begutachtungsverfahren zuverbessern, wenn die Leistungen dahinter nicht qualitativweiterentwickelt und auf die Bedürfnisse der Menschenmit Pflegebedarf und die ihrer Angehörigen ausgerichtetwerden .
Meine Fraktion ist der Auffassung, dass ein neues Ver-ständnis von Pflege auch zu einem veränderten Pflege-prozess führen muss .
Das heißt, Mechthild Rawert, teilhabesichernde Pflegebraucht Zeit und qualifiziertes Personal. Es muss ebensodas Ziel sein, die Menschen dabei zu unterstützen, denAlltag weitestgehend alleine zu meistern . Daher fordernwir gemeinsam mit Gewerkschaften und Sozialverbän-den schon lange eine verbindliche Personalbemessung .
Die Bundesregierung hat diesem Druck jetzt nach-gegeben und will bis 2020 ein Personalbemessungsin-strument entwickeln . Aber das ist nur ein ganz kleinerSchritt – zwar in die richtige Richtung, aber nur ein klei-ner Schritt –; denn das Personal wird jetzt gebraucht .Kurzfristige Maßnahmen fehlen in Ihrem Gesetz völlig .Stattdessen parken Sie Geld, das jetzt so dringend benö-tigt wird, in einem Pflegefonds. Ihr Gesetz führt zu einerweiteren Arbeitsverdichtung für die Pflegekräfte und ge-fährdet die Pflegequalität noch weiter.
Ich wiederhole mich gerne, meine Damen und Herren:Gute Pflege ist ein Menschenrecht.
Der Zugang zu einer qualitativ hochwertigen und umfas-senden pflegerischen Versorgung darf nicht Kostenkal-külen untergeordnet werden . Es liegt in der gesellschaft-lichen Verantwortung, Bedingungen zu schaffen, damitdieses Menschenrecht auch verwirklicht wird .
Die Linke versteht unter gesellschaftlicher Verantwor-tung Solidarität .Ich komme zum Schluss . – Um grundsätzlich ein neu-es Pflegeverständnis und eine bedarfsdeckende pflegeri-sche Versorgung nachhaltig zu sichern, ist ein System-wechsel in der Finanzierung erforderlich . Eine solchesolidarische Pflegeversicherung schafft den notwendigenfinanziellen Spielraum für eine gute Pflege und für guteArbeitsbedingungen .Herzlichen Dank .
Karl Lauterbach von der SPD-Fraktion ist der nächste
Redner .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich möchte mich zunächst einmal bei Minis-ter Gröhe und auch bei den Mitgliedern der Fraktionenganz herzlich dafür bedanken, dass wir gestern bei derLösung der Probleme im Bereich der Gesundheit für dieAsylsuchenden aus meiner Sicht einen sehr tragfähigenund weitreichenden Kompromiss finden konnten, dersich sehen lassen kann . Die Gesundheitsversorgung vonFlüchtlingen wird dadurch deutlich und auch nachhaltigverbessert . Das wäre ohne die Zusammenarbeit, die, wiewir gesehen haben, ohne politisches Geschrei und sehrkonstruktiv erfolgte, nicht möglich gewesen . Daher vie-len Dank an alle, die daran mitgewirkt haben .Die Reform der Pflegeversicherung, die wir jetzt be-schlossen haben, führt zur größten prozentualen Aufsto-ckung der Mittel einer Sozialversicherung, die wir inDeutschland jemals gesehen haben . Sie werden um fast25 Prozent aufgestockt . Diese Mittel sind gut eingesetzt .Ich will die Grundzüge nur noch einmal in Umrissenerklären, sodass die Gesamtstruktur dieser Pflegereformgewürdigt werden kann:Die körperliche Pflegebedürftigkeit wurde bei der Pfle-geversicherung bisher einigermaßen gut berücksichtigt,die demenzielle Pflegebedürftigkeit wurde nur wenig be-rücksichtigt, und die Pflegebedürftigkeit bei psychischenErkrankungen wurde so gut wie gar nicht berücksichtigt .Das war eine systematische Diskriminierung insbesonde-re derjenigen, die an psychischen Erkrankungen oder anDemenz gelitten haben . Diese Diskriminierung beendenwir nun, indem wir die Pflegebedürftigkeit in allen dreiBereichen in vergleichbarer Art und Weise anerkennen,die Mittel aufstocken und allen eine qualitativ gleich gutePflege ermöglichen.
Pia Zimmermann
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Ein zweiter sehr wichtiger Grundzug dieser Reformbesteht darin, dass wir dazu übergehen, nicht mehr zumessen, was bei jemandem pro Tag gemacht werdenmuss – das war im Wesentlichen der Reparaturansatz inder Pflege –, sondern zu schauen, was ein Mensch nochkann, und dass wir das, was er noch kann, stärken . Dasist ein ganzheitlicher Teilhabeansatz, den wir auch in an-deren Bereichen verfolgen .Dazu passt, dass wir versuchen, denjenigen zu rehabi-litieren, bei dem das noch möglich ist . Wir stärken das,was jemand noch kann, und reparieren nicht das, was ernicht mehr kann . Dieser Ansatz, dieses Umdenken, istder wichtigste Grundsatz bei der Neudefinition der Pfle-gestufen und der Pflegebedürftigkeit. Das ist eine ganzandere Herangehensweise als bisher . Dadurch werdendie Pflegebedürftigen die Hilfe bekommen, die sie benö-tigen, ohne dass es zu einer Reparaturpflege kommt, undauch die in der Pflege Tätigen werden dadurch motiviert,weil sie das tun können, was sie am liebsten tun, nämlich,jemandem zu helfen, das, was er noch kann, zu erhaltenoder weiter aufzubauen .Das ist die wichtigste Umstellung, aber keine techni-sche Umstellung, sondern dahinter steht eine ganz anderePflegephilosophie. Es war höchste Zeit, dass wir hier um-stellen; das ist schon angesprochen worden . Ich glaube,dies ist sehr gut gelungen . Darauf können wir stolz sein .
Ein weiterer sehr wichtiger Ansatz dieser Reform derPflegeversicherung, der sich durch alle Bereiche zieht, istdie Vermeidung von stationärer Pflegebedürftigkeit. Ichwill nur zwei Beispiele nennen:Das Wohnumfeld der Menschen, die unter den erstenPflegegrad fallen, wird deutlich verbessert. Das kommtetwa 500 000 Menschen zugute, die bisher nicht alspflegebedürftig galten. Dadurch helfen wir diesen Men-schen, weiterhin zu Hause leben zu können . Durch dieAnpassung des Wohnumfeldes werden viele dieser Men-schen niemals eine stationäre Pflege in Anspruch nehmenmüssen . Das ist ein sehr wichtiger Schritt in RichtungPflegebedürftigkeitsvorbeugung. Damit stärken wir die-jenigen, die zu Hause leben wollen und das noch können .
In die gleiche Richtung – Vorbeugung statt Heilung –geht der Versuch, diejenigen, die diese Leistung erbrin-gen können – die Familienangehörigen –, dafür auch einStück weit besser abzusichern . Die bessere Anerkennungder Rentenansprüche für diejenigen, die zu Hause jeman-den pflegen, ist – in Kombination mit der Stärkung derhäuslichen Pflege, auch mit den erhöhten Mitteln, diewir für die häusliche Pflege zur Verfügung stellen – einganz wichtiger Schritt, damit diese Menschen nicht beider Rente benachteiligt werden . Wir wollen dafür sor-gen, dass es Familien leichter haben, ihre Angehörigenzu Hause zu versorgen, sodass die Pflege zu Hause einenoch stärkere Rolle spielen wird und die höheren Pfle-gegrade in der stationären Versorgung nicht notwendigwerden .Die Reform leistet auch einen wichtigen Beitrag zursozialen Gerechtigkeit . Es war bisher ungerecht, dass diesozial Schwächeren durch den Anstieg der Eigenanteilebei höheren Pflegestufen diese aus finanziellen Grün-den oft gemieden haben . Wir haben eine systematischeUnterversorgung der ärmeren Menschen, weil diese zurSchonung ihrer Angehörigen oder ihrer Ressourcen nichtin die höheren Pflegestufen übergegangen sind, obwohles oft medizinisch notwendig gewesen wäre .Die wichtige Beseitigung dieser Ungerechtigkeit wür-de ich nicht unterschätzen . Es ist richtig, dass wir die Ei-genanteile für alle Pflegestufen einheitlich gestalten. Nurso wird es möglich sein, dass auch die sozial schwäche-ren Menschen die Pflege bekommen, die sie benötigen.
Ich komme zum Schluss . Wir stärken die Lebensqua-lität . Wir dehnen die Betreuungsleistungen aus, sodassauch einmal gespielt werden kann, dass man mit denPflegebedürftigen nach draußen gehen kann, sodass nichtnur das Medizinische im Vordergrund steht, sondernPflegebedürftige auch das erleben, was am Leben nochschön ist . Da sind die Betreuungsleistungen, die mannicht gegen die eigentliche Fachpflege ausspielen darf,eine wichtige Ergänzung . Die gesamte Reform ist paritä-tisch finanziert worden. Das ist für mich auch für zukünf-tige Reformen in der Krankenversicherung vorbildlich .
Die Reform ist ein wichtiger Baustein, eine aus meinerSicht gelungene ganzheitliche Reform, die die Pflege-landschaft in Deutschland nachhaltig beeinflussen wird.
Das Wort erhält nun die Kollegin ElisabethScharfenberg, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Mi-nister Gröhe! Herr Laumann! Sehr geehrte Damen undHerren! Ich könnte Sie hier auch mit „Sehr geehrte Pfle-gebedürftige von morgen und übermorgen“ begrüßen .
Sie bringen heute den Entwurf eines Gesetzes, desPSG II, ein . Offensichtlich sind Ihnen ja blumige Namenwie „Pflegeneuausrichtungsgesetz“ und „Pflegeweiter-entwicklungsgesetz“ ausgegangen . Wir fangen jetzt an,durchzunummerieren . Das PSG I hatten wir ja schon .Wir werden sehen, wo wir am Ende dieser Legislaturlanden . Ich befürchte, das wird jetzt eine unendliche Ge-schichte werden .Nach vielen Jahren soll nun endlich mit dem PSG IIder Pflegebegriff umgesetzt werden. Dieser Pflegebe-griff – ich habe das immer betont – ist das Herzstück al-ler Pflegereformen der letzten Jahre. 500 000 Menschenmehr sollen in die Pflegeversicherung mit einbezogenDr. Karl Lauterbach
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werden, und die Beiträge werden um insgesamt ein Vier-tel ansteigen . Das sind 6 Milliarden Euro zusätzliche Bei-träge der Versicherten jährlich . Dies ist eine der größtenVeränderungen in der Pflegeversicherung seit ihrem Be-stehen .
Demenzkranke sollen erstmals gleichberechtigt in diePflegeversicherung einbezogen werden. Und Leistungenfür Pflegebedürftige werden danach bemessen, wie starkdie Selbstständigkeit eingeschränkt ist . Das heißt, es wirdnicht mehr gefragt: Was kann wer nicht mehr? Vielmehrwird die Frage gestellt: Was kann wer noch? Und da gehtes, ehrlich gesagt, richtig um was .Wir nehmen uns gerade einmal etwas mehr als eineStunde Zeit, um dieses Gesetz einzuführen und zu be-raten . Wir werden auch bei der Anhörung am nächstenMittwoch nicht viel Zeit haben . Und die kritischen Stim-men der Expertinnen und Experten werden Sie – wie beiso vielen anderen Themen – einfach überhören . Nochim November wird dann das PSG II hier verabschiedet .Das ist, ehrlich gesagt, ein Husarenritt nicht in Hochge-schwindigkeit, sondern in Höchstgeschwindigkeit,
und das bei einem Gesetz, das wichtig ist für so vieleMenschen in unserem Land: für die Pflegebedürftigen,für die Angehörigen und insbesondere auch für die Pfle-gekräfte .Das ganze Vorgehen wundert mich nicht einmal . Siebetonen gerne und häufig die Wichtigkeit der Pflege. Umdiese Wichtigkeit zu beweisen, jagen Sie ein Pflegege-setz nach dem anderen durchs Parlament:
das Pflegestärkungsgesetz I, das Gesetz zur besserenVereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, aktuell dasPSG II mit dem neuen Pflegebegriff, demnächst dann dieunsägliche Reform der Pflegeausbildung.
Dazu kommt das Krankenhausstrukturgesetz . Auch hierist ein zentraler Punkt der Pflegepersonalmangel in denKrankenhäusern . Dann kommt noch das Hospiz- undPalliativgesetz. Davon sind Pflegeeinrichtungen undPflegekräfte wesentlich betroffen. Aber es bleibt keineZeit für eine öffentliche Auseinandersetzung .
Ehrlich: Sie selbst kommen bei diesem Tempo nichtmehr mit . Unterm Strich: Sie weigern sich, die wirklichwichtigen Fragen zu beantworten . Ich habe das Gefühl,Sie schaffen lieber erst einmal Tatsachen . Aber Quantitätbedeutet eben nicht automatisch Qualität, und gut ge-meint bedeutet eben noch lange nicht gut gemacht .
Ein neuer Pflegebegriff, eine Pflege, die den Menschenmehr Selbstständigkeit und Teilhabe am Leben ermög-lichen soll, 500 000 Menschen mehr, die Leistungen ausder Pflegeversicherung erhalten sollen: Das kostet Geld.Dazu braucht es natürlich mehr gut qualifiziertes Perso-nal . Woher soll das denn bitte kommen?
– Dazu komme ich gleich . – Sie haben den Beitrag zurPflegeversicherung erhöht. Aber Sie selbst geben ja zu,dass diese Finanzierung eben mal bis 2022 steht . Nur bis2022! Ehrlich: Das ist alles andere als nachhaltig!Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, lieber Herr Minis-ter, eine Reform, die so viele Menschen betrifft, brauchtein wirklich starkes Fundament .
Aber davon fehlt mir hier jede Spur .
Das Einzige, was Ihnen zur Finanzierung einfällt, istder Pflegevorsorgefonds; ein Fonds, der jährlich rund1,2 Milliarden Euro an Beitragsgeldern einfach schluckt;
Beitragsgelder, die wir aktuell woanders viel dringenderbräuchten, Beitragsgelder, die aktuell dringend für diePflege verwendet werden müssten.
– Hören Sie auf die Expertinnen und Experten! Diese ha-ben Ihnen bestätigt, dass das kein Element der Vorsorgeist, sondern nur absolute Showpolitik .
Dieser Fonds wird dazu führen, dass der Beitrag in derZukunft um gerade einmal 0,1 Prozentpunkte sinkenwird . Ehrlich: Das ist keine spürbare Entlastung .
Nach 20 Jahren wird dieser Fonds leer sein . Es wird abernicht plötzlich mehr Beitragszahlerinnen und Beitrags-zahler geben; das ist doch eine absolute Milchmädchen-rechnung . Der Beitrag wird dann einfach wieder sprung-haft steigen müssen .Wir haben einen besseren Vorschlag . Wir predigenschon lange Zeit die grüne Pflegebürgerversicherung.
Sie würde uns finanzielle Spielräume eröffnen, zum Bei-spiel mehr Geld für Pflegekräfte; denn natürlich brau-chen wir mehr Personal . Es muss uns doch allen klarElisabeth Scharfenberg
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sein: Wir brauchen mehr Personal, wenn mehr ältere undpflegebedürftige Menschen in unserer Gesellschaft le-ben . Wir werden auch mehr Personal brauchen, wenn dasPSG II so umgesetzt werden soll, wie es uns der KollegeLauterbach gerade so blumig dargestellt hat .Wo soll denn dieses zusätzliche Personal herkommen?Die Pflegekräfte arbeiten jetzt schon am Limit; das wis-sen wir doch alle . Wenn das PSG II 2017 in Kraft tretenwird, dann werden die Pflegekräfte noch mehr gefordertwerden; denn die Pflege wird sich ändern, ändern müs-sen, wenn wir den Pflegebegriff ernst nehmen. Die Ant-wort auf dieses Problem? Tja, leider Fehlanzeige!Sie wollen bis 2020 ein Personalbemessungsinstru-ment entwickeln . Ehrlich: Das ist viel zu spät .
Wenn dieses Instrument entwickelt ist, dann ist es auchnoch nicht flächendeckend umgesetzt. Ich möchte nocheinmal erinnern: Ihre Finanzierung steht bis 2022 . WennSie 2020 anfangen, zu überlegen, wie Sie ein Personalbe-messungsinstrument umsetzen, dann ist die Kasse schonlange wieder am Limit .Wir brauchen mehr Menschen, die in der Pflege arbei-ten und das auch wollen . Nur so können wir auch Per-sonalbemessungsvorgaben umsetzen und erfüllen . DieseMenschen kommen aber nur, wenn sich die Arbeitsbe-dingungen in der Pflege wesentlich verbessern.
Die generalistische Pflegeausbildung, die Sie planen,wird das Gegenteil erreichen . Drei Ausbildungen sollenzu einem Beruf zusammengelegt werden, und das beider gleichen Ausbildungsdauer: drei Berufsausbildungeneingedampft auf drei Jahre .
Es springt einen doch an: Da wird Fachwissen verlorengehen . Das wertet einen Beruf nicht auf; das wertet einenBeruf ab .
Und: Sie ignorieren die massiven Probleme bei derUmsetzung . Es scheint Sie überhaupt nicht zu interessie-ren . Doch es gibt diese Probleme . Es gibt einen Mangelan generalistisch qualifizierten Lehrkräften.
Die Gesetze, die Sie bisher dazu gemacht haben, belastendie Angehörigen, beispielsweise das Gesetz zur besserenVereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf. Mit demDarlehen bleiben alle Lasten bei den Angehörigen hän-gen .Sie tun nichts, was Strukturfragen angeht, und sie tunnichts für eine nachhaltige Finanzierung . Alles wird indie Zukunft verschoben . Das sind ungedeckte Schecks,und das bei einem PSG II, in das so viele Menschen be-rechtigte Hoffnung setzen .Ich fordere Sie auf: Denken Sie die Probleme in derPflege endlich zusammen! Lösen Sie die wichtigenProbleme! Kümmern Sie sich um eine zukunftsfesteFinanzierung! Sorgen Sie für ein besseres Ansehen desPflegeberufs, und tun Sie endlich etwas für bessere Ar-beitsbedingungen in der Pflege!
Am Mittwoch haben Tausende Pflegekräfte am Bran-denburger Tor genau dafür demonstriert .
Das sollte Sie endlich wachrütteln . Sehen Sie doch ein-mal die Realität!Vielen Dank .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Georg Nüßlein das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! FrauKollegin Scharfenberg, ich war wirklich auf Ihre Redegespannt . Ich war gespannt, weil ich noch im Ohr hatte,was Sie uns die ganze Legislatur über alles erzählt haben:Es komme alles zu spät – das haben Sie heute wieder-Elisabeth Scharfenberg
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holt –, und es gehe alles nicht schnell genug . „Ankündi-gungspolitik“ war eines Ihrer Worte .
Wir würden Menschen ruhigstellen und ständig ankleinsten Schräubchen drehen .Und heute reden Sie von einem Husarenritt . Sie müs-sen sich schon entscheiden, was Sie denn an der Stellewollen .
Ich hätte erwartet, dass Sie sagen:
Wir haben es nicht geglaubt . Wir waren skeptisch . AberSie haben es gut gemacht . Wir haben es Ihnen einfachnicht zugetraut . – Es hätte Ihrer Rolle als Opposition an-gestanden, zu sagen: Wir haben es Ihnen nicht zugetraut;aber Sie haben jetzt diesen zusätzlichen Schritt, diesengroßartigen, großen Schritt gemacht, und wir haben inunserer Kleinkrämerei einfach nicht geglaubt, dass dasso kommen wird .Stattdessen kritisieren Sie an Kleinigkeiten herum .Beim letzten Mal haben Sie uns noch dafür gescholten,dass wir die Dinge wohlüberlegt angehen . Darum ist esdoch gegangen . Es geht doch an der Stelle um ein hoch-sensibles Thema, meine Damen und Herren . Es geht umMenschen in einer schwierigen, wenn nicht sogar in ihrerschwierigsten Lebensphase . Es geht um Angehörige, diemit einer Situation, die für sie neu und auch problema-tisch ist, konfrontiert sind . Und es geht in der Tat – da ha-ben Sie recht – auch um das Personal und um diejenigen,die Großartiges – auch professionell – leisten . Das mussich auch sagen .Wenn Sie eine anständige Rede gehalten hätten, dannhätten Sie gesagt: Jawohl, diese Reform – Stufe I wieStufe II – tut für alle etwas. Sie hat die zu Pflegenden imBlick, um die es geht . Sie hat die Angehörigen im Blick,die viel leisten, und sie tut auch im Personalbereich et-was . – Stattdessen kritisieren Sie daran herum . SchauenSie sich doch Ihren Antrag an! Sie sagen doch, das seialles zu wenig . 25 Prozent mehr an Rentenbeiträgen und6 Milliarden Euro: Was soll man denn sonst noch tun?
Das war aus meiner Sicht der Gipfel .
Wenn Sie dann auch noch kritisieren, dass wir nur eineBeitragsperspektive bis zum Jahr 2022 – das sind siebenJahre, und das in heutiger Zeit – vorsehen, und sagen, dassei noch zu wenig, dann glaubt Ihnen das doch niemand .
Die Beitragsperspektive von sieben Jahren gibt uns Zeit,etwas zu tun; das ist richtig . Man darf nicht vergessen,dass wir an einem Gesetz operieren, das 20 Jahre Bestandhatte . Wenn dies der Maßstab für alles wäre, was wir hiermachen, dann wäre schon etwas gewonnen . Ich möchtean dieser Stelle einen Gruß an Norbert Blüm senden . Ichweiß nicht, ob er zuhört, aber es war eine großartige Leis-tung, damals eine solche Reform auf die Beine zu stellen,
die 20 Jahre Bestand gehabt hat und damals einen Pa-radigmenwechsel darstellte . Wir haben Menschen, diepflegebedürftig wurden – das ist eine ganz schwierige Si-tuation –, vor der Schmach bewahrt, in die Sozialhilfe zufallen . Das ist das Großartige dieses Ansatzes gewesen .Wir entwickeln dieses großartige Gesetz nun in einemriesigen Schritt fort .
Kollege Lauterbach hat fachlich präzise beschrieben,worum es geht, nämlich um die Demenzkranken, abernicht nur um die . Auch die psychisch Kranken werdeneinbezogen . Meine Damen und Herren von der Opposi-tion, Sie sagen: Überfällig . – Ja, das stimmt . Aber war-um kritisieren Sie dann das als Husarenritt? Entweder istdieser Schritt überfällig, oder es handelt sich um einenHusarenritt . Wir machen das auf jeden Fall wohlüberlegtund zielgerichtet . Die Weiterentwicklung erfolgt in zweiStufen. Die Pflegestufe I hat pflegebedürftigen Personen,auch Demenzkranken und Menschen mit eingeschränk-ter Alltagskompetenz sowie deren Angehörigen deutlicheVerbesserungen, mehr Flexibilität und mehr Leistungengebracht . Wenigstens das hätten Sie anerkennen können .Das ist nämlich Fakt; das haben wir schon in der erstenStufe geleistet . Wir geben Geld für mehr Betreuung unddamit für mehr Personal aus . Das müssen Sie anerken-nen .Das, was wir hier tun, kostet Geld und ist mit Beitrags-erhöhungen in erheblichem Ausmaß verbunden . Aber essind die unumstrittensten Beitragserhöhungen im Sozial-versicherungsbereich, die wir jemals hatten .
Der allergrößte Teil der Bevölkerung sagt: Das, was ihrmacht, hat Sinn und ist zielführend und gut . Wir sindbereit, dafür Geld auszugeben . – Das sagen Arbeitgeberund Arbeitnehmer gemeinsam . Ich bin überzeugt, dassÄhnliches auch für die Stufe II gilt .Normalerweise wissen Parlamentarier sofort – egalob ein Gesetzentwurf aus einem CDU/CSU-geführtenoder aus einem SPD-geführten Haus kommt –, was mangrundsätzlich ganz anders machen müsste . Die Ministerkennen das Struck’sche Gesetz – Herr Gröhe kann einLied davon singen –: Kein Gesetz verlässt den BundestagDr. Georg Nüßlein
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so, wie es hineingekommen ist . – Ich habe ein Problemmit diesem Gesetz; denn mir fällt auf Anhieb nichts ein,was man an dem vorliegenden Gesetzentwurf groß än-dern müsste .
Es handelt sich um eine ganz, ganz gute Vorlage . Ichmöchte mich herzlich bedanken beim Minister, beim Pfle-gebeauftragten, Herrn Laumann, und bei Frau Kraushaar .Eine ganz, ganz tolle Vorlage! Vielen herzlichen Dank!
In der Tat verhält es sich so, wie die Vorredner gesagthaben: Das Herzstück ist ein neuer Pflegebedürftigkeits-begriff . Das Hauptanliegen muss natürlich sein, geradedie Demenzkranken von Anfang an richtig und sinnvollzu versorgen . Das erwartet man von uns, und das mussauch in die Zukunft gerichtet so sein; denn das Risiko,an Demenz zu erkranken, steigt mit zunehmender Le-benserwartung, die Gott sei Dank ebenfalls steigt . Dasist sicherlich ein Wohlstandsthema . Mittelfristig werdenjedenfalls zusätzlich 500 000 Menschen Leistungen ausder Pflegeversicherung beziehen. Das kann man unterKostengesichtspunkten sehen . Aber ich sehe das haupt-sächlich unter dem Gesichtspunkt der medizinisch-pfle-gerischen Versorgung . Auch deshalb müsste man diesesGesetz loben . Dass die Opposition das nicht kann,
mag an der Rolle liegen, die ihr der Wähler zugewie-sen hat . Das kann man bedauern . Wenn Sie aber in IhrerKritik ein bisschen differenzierter gewesen wären, FrauScharfenberg, dann wäre das glaubhafter gewesen .
Da wir das mit einer Übergangsphase machen, mussniemand Sorge haben, dass er heruntergestuft wird unddass die Angehörigen stärker belastet werden . Das zeigt,wie wohlüberlegt wir das Ganze gemacht haben . Ichmöchte auch unterstreichen, dass wir durchaus sehen,dass viele pflegende Angehörige an die Grenze ihrer Be-lastbarkeit gehen. Diesen Punkt, die Hilfe für die Pflegezu Hause, haben wir schon Anfang dieses Jahres mit ins-gesamt 1,4 Milliarden Euro verstärkt .Ich möchte das wiederholen, was Herr Lauterbach hiergesagt hat: Wir haben das Ganze so austariert, dass dieChance, gar nicht in eine Pflegeeinrichtung zu müssen,gewachsen ist . Wir haben es so gemacht, dass mehr Men-schen die Option haben, viel länger zu Hause zu bleiben .Es ist doch ein Anliegen derjenigen, die langsam in diePflegebedürftigkeit rutschen, möglichst lang zu Hause zubleiben und eben nicht in eine Einrichtung zu kommen .Aber natürlich gibt es dann irgendwann einmal denPunkt, an dem das unvermeidlich ist . Daher haben wirdie Beratung der Angehörigen gestärkt . Wir werden dasThema Pflege-TÜV aufgreifen. In diesem Zusammen-hang werden wir auch das Thema Bürokratieabbau imBlick haben. Ich darf Ihnen sagen: Den Pflege-TÜV wer-den wir neu aufstellen. Der heutige Pflege-TÜV ist inspätestens zweieinhalb Jahren Geschichte . Das ist keineAnkündigung, sondern etwas, worauf sie sich verlassenkönnen .Meine Damen und Herren, wir werden die Bedingun-gen für das Pflegepersonal weiter verbessern; auch dasist wichtig . Da geht es um die Arbeitsbedingungen aufder einen Seite und um die materiellen Bedingungen aufder anderen Seite . Niemand arbeitet für lau . Letztendlicharbeitet jeder, um seinen Lebensunterhalt zu sichern . Dasmuss man im Blick haben, wenn man über die Frageredet: Wie bekommt man mehr Pflegekräfte? Natürlichwerden wir uns in diesem Zusammenhang in der nächs-ten Zeit auch über die Frage der Pflegeausbildung unter-halten . Dabei muss abgewogen werden, was die genera-listische Pflegeausbildung am Schluss bringt und was sieverändern wird .Vielen herzlichen Dank fürs Zuhören .
Ich erteile dem Kollegen Harald Weinberg das Wort
für die Fraktion Die Linke .
Vielen Dank . – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Nüßlein, welche Rolle wir als Oppositioneinnehmen, das müssen Sie uns schon selber überlassen .
Das ist das erste Wesentliche, was ich Ihnen sagen möch-te .Dann möchte ich allerdings schon noch einmal beto-nen: Ich kann mich noch recht gut an die letzte Wahl-periode erinnern . Da haben wir irgendwie einen extremlangen Herbst gehabt . Der damalige Gesundheitsminis-ter Bahr hat uns immer wieder angekündigt: Es gibt imHerbst einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. DieserHerbst war extrem lang: Er ging bis in den November, bisin den Dezember, bis in den Januar hinein, und es kamund kam und kam nichts . Insofern ist es natürlich schonso, dass man dieser Regierung Anerkennung dafür zollenkann, dass sie etwas vorlegt, und zwar schnell .
Ich denke, man kann auch anerkennen, dass das Pfle-gestärkungsgesetz I und das Pflegestärkungsgesetz IIvom Finanzvolumen her sicher die größte Reform derDr. Georg Nüßlein
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Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen sind. Außerdemgilt es erst einmal, einiges weitere durchaus Positive andiesem Pflegestärkungsgesetz anzuerkennen.
Aber – jetzt kommt natürlich das Aber – dennoch reichtdas Geld aus den Beitragssatzanhebungen um 0,5 Pro-zentpunkte nicht aus, um die grundsätzliche Unterfinan-zierung und die grundsätzlichen Probleme der Pflege zulösen . Dass diese Beitragssatzerhöhung unumstritten sei,darin gebe ich Ihnen durchaus recht . Aber umstritten andieser Beitragssatzerhöhung ist durchaus, dass 0,2 Pro-zentpunkte, das heißt 40 Prozent von 0,5 Prozentpunk-ten, in einen sogenannten Spahn-Fonds fließen sollen.
– „Spahn-Fonds“ . Ja, ich nenne es „Spahn-Fonds“, weilHerr Spahn mit Sicherheit seine Finger darin gehabt hat,als es darum ging, dass es diesen Fonds in der Form gibt .
Das, was in diesen Fonds hineinkommt, steht der Pfle-ge und der Pflegeversorgung natürlich nicht zur Verfü-gung. Was wir in der Pflege brauchen, das sind natürlichvor allen Dingen Personal, Personal, Personal, gute Ar-beit für die Beschäftigten, gute Pflege für die Pflegebe-dürftigen, eine bessere Bezahlung, eine Wertschätzungder Arbeit . Wir müssen weg von der Teilkaskoversiche-rung mit Verarmungsgarantie für die Betroffenen, hinzu einer Pflegeversicherung, die notwendige Leistungenvoll übernimmt .
Das alles geht nur mit einer Reform der Einnahmesei-te . Damit sind wir beim Thema . Nur, ich würde es nicht„grüne Bürgerversicherung“ nennen, sondern „solidari-sche Bürgerinnen- und Bürgerversicherung“ .
Damit sind wir bei der solidarischen Bürgerinnen- undBürgerversicherung in der Pflege. Ich meine, das wäreein gutes Einstiegsprojekt; denn wir haben in der Pflegedie Situation, dass die Leistungen in der privaten Versi-cherung und in der gesetzlichen Versicherung identischsind . Wir können hier tatsächlich sozusagen ein Ein-stiegsprojekt mit einer Systematik machen und könntendabei womöglich auch die Rücklage von 25 MilliardenEuro, die es bei der privaten Pflegeversicherung gibt, indie Versorgung und in die zukünftige Versorgung ein-bringen .
Theoretisch hätten wir sogar eine Mehrheit dafür indiesem Haus. Praktisch befindet sich die SPD hier in ba-bylonischer Gefangenschaft . Dennoch wollen wir dieseAlternative zumindest mit diskutieren und haben daherunseren Antrag zu einer solidarischen Bürgerinnen- undBürgerversicherung in der Pflege eingebracht. Ich freuemich auf die Beratungen . Ich glaube, es gibt schon nocheinigen Änderungsbedarf bei dem hier vorgelegten Ge-setzentwurf .Danke .
Nun erhält die Kollegin Hilde Mattheis das Wort für
die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfreue mich und meine Fraktion freut sich, weil wir nachvielen Jahren Überzeugungsarbeit heute wirklich einHerzstück einer Pflegereform auf den Weg bringen – einHerzstück!
Ich glaube, wir können für uns in Anspruch nehmen, dasswir das, was wir in der Opposition immer vertreten ha-ben, jetzt in der Regierung umsetzen .
Das ist ein wichtiger Schritt; denn uns allen ist klar: Wirbrauchen in der Pflege große Anstrengungen, und diesegroßen Anstrengungen gehen dahin, nicht nur mehr Geldin die Pflege zu geben, sondern auch strukturelle Verbes-serungen zu erreichen .
Diese strukturellen Verbesserungen hängen fest undeng mit dem Pflegebedürftigkeitsbegriff zusammen.Wenn wir es nicht geschafft hätten, weg von der Mangel-erhebung und hin zu einem Teilhabeaspekt zu kommen,hätten wir noch so viele Leistungsverbesserungen aufden Weg bringen können – wir hätten es nicht erreicht,individuell zu helfen .Deshalb ist es so wichtig, dass wir dieses Herzstücknicht nur diskutieren, sondern auch auf den Weg brin-gen . Sie und Sie von der Opposition haben vor weni-gen Jahren – da bitte ich Sie, einfach einmal Ihre Redennachzulesen – mit uns genau diese Forderung erhoben .Ich fand es damals gut und richtig, dass wir eine breiteÜbereinstimmung hatten . Deshalb appelliere ich an Sie:Begleiten Sie uns durchaus kritisch-konstruktiv! Auchwir werden im parlamentarischen Verfahren an der ei-nen oder anderen Stelle sicherlich nicht nur Nachfragenhaben, sondern auch Schwerpunkte anders setzen . Dennunser gemeinsames Streben muss es sein, dass wir in die-ser Großen Koalition das hinkriegen, was wir den Men-schen versprochen haben, nämlich auch in der letztenLebensphase Lebensqualität zu erhalten .
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Das geht damit, dass man auf der einen Seite mehrGeld in dieses Sozialversicherungssystem hineinholt .Mehr Solidarität wäre auch uns als SPD noch lieber . Da-ran werden wir arbeiten; denn die solidarische Absiche-rung dieser wichtigen Sozialversicherungssäule ist unserZiel . Aber wir können nicht alles auf einmal erreichen;das ist richtig .
Frau Mattheis, darf die Kollegin Zimmermann eine
Frage stellen?
Bitte, Frau Zimmermann; gern .
Bitte schön .
Vielen Dank, Frau Mattheis, dass Sie die Zwischenfrage
zulassen . – Zu meiner Frage . Sie sagen, dass es darum
geht, was wir den Menschen versprochen haben, und
dass wir nachlesen sollen, was in unseren Reden stand .
Im Wahlprogramm der SPD zur letzten Bundestagswahl
stand die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung . Da fra-
ge ich mich: Wie gehen Sie denn jetzt damit um, vor allen
Dingen auch vor dem Hintergrund, dass die private Pfle-
geversicherung – mein Kollege, Herr Weinberg, hat es
erwähnt – 2014 eine Rücklage von 25 Milliarden Euro –
jetzt wahrscheinlich noch mehr – hatte? Um das einmal
anhand von Versorgungszeiten deutlich zu machen: Es ist
so, dass die private Pflegeversicherung mit dieser Rück-
lage 32 Jahre lang ihre Pflegeleistungen erbringen kann,
während die sogenannte soziale Pflegeversicherung das
mit ihrer Rücklage nur ein Vierteljahr lang kann . Wie
wollen Sie das denn politisch bewältigen, um da zu ei-
nem Gleichgewicht zu kommen und das, was auch Sie
selbst fordern, nämlich die solidarische Bürgerinnen-
und Bürgerversicherung, umsetzen zu können?
Frau Zimmermann, wir kennen die Zahlen . Ich habegerade gesagt, dass das unser Ziel ist und bleibt: Wir wol-len mehr Solidarität in diesem System . Wir wollen eineBürgerinnen- und Bürgerversicherung, die diesen Namenauch verdient . Ich glaube auch, dass Sozialversicherungs-systeme nie abgeschlossen sind, Frau Scharfenberg . Manmuss immer daran arbeiten, dass das System besser wird .Und wir erreichen jetzt mit diesem wichtigen Schritt,dass es besser wird .Das, was wir in die Koalitionsverhandlungen einge-bracht haben, was wir Wort für Wort mit unserem Ko-alitionspartner fest vereinbart haben, können wir jetztumsetzen – mit der Reform, mit dem Pflegestärkungs-gesetz II .
Worum geht es dabei? Es geht im Kern darum, die Be-ratung auszudehnen . Wir haben mit dem PSG I wichtigeLeistungsverbesserungen verabschiedet, die jetzt passge-nau eingefügt werden müssen . Das bedeutet: Wir müssengenau schauen, ob eine niedrigschwellige Beratung –das wird einer unserer Schwerpunkte sein – mit diesemGrundstein tatsächlich verwirklicht werden kann . Dabeigeht es darum, die Kommunen sehr viel mehr zu stärken,damit diese die Infrastruktur planen können, um niedrig-schwellige Pflegeangebote auszubauen. Das ist für unsein wichtiger Punkt .
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, mehr Gerechtigkeitin dieses System zu bringen . Deshalb müssen wir hin-terfragen, ob mit dem gedeckelten Betrag für Zusatzleis-tungen, mit Eigenanteilen unser Ziel tatsächlich erreichtwird, ob das wirklich mehr Gerechtigkeit im Systemschafft . Diese Fragen werden wir erörtern müssen . Unddabei setze ich schon auf eine breite Unterstützung . Ichglaube, davon brauche ich Sie auch gar nicht zu über-zeugen; denn das haben wir alle hier so diskutiert . DasAnliegen, dass Menschen in ihrer letzten Lebensphasedie größtmögliche Solidarität von uns, von der Solidar-gemeinschaft, erfahren sollen, tragen wir gemeinsam .Dieses Anliegen wollen wir mit dem Pflegestärkungsge-setz I und dem Pflegestärkungsgesetz II verwirklichen.Wir werden hier aber ebenfalls noch zu besprechenhaben, was die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeits-gruppe bedeuten .
Und wir werden noch das Pflegeberufegesetz zu bespre-chen haben . Das sind die wichtigen Bausteine . In die-sem Kontext sollten wir alle miteinander diskutieren, wiewichtig es ist, dass wir die Reform des Pflegebedürftig-keitsbegriffs jetzt gemeinsam auf den Weg bringen . Da-bei setze ich auf Ihre Unterstützung .Ich glaube, auch in der Opposition muss man an man-chen Stellen einmal sagen: Ja, die Zielsetzung stimmt,auch wenn nicht alles in Reinkultur umgesetzt werdenkann. – Aber die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffsbetrifft unsere Ansprüche in Reinkultur, die wir immergemeinsam formuliert haben . Ich meine, man sollte auchin der Opposition manchmal über den eigenen Schattenspringen und dem zustimmen, was da an Grundsteinengelegt wird . Um diese Zustimmung bitte ich Sie; dennwir brauchen an dieser Stelle eine breite gesellschaftlicheDebatte und eine breite gesellschaftliche Unterstützung .Natürlich gibt es bei der Umsetzung einige Hürdenzu überwinden – Stichworte „Übergangsregelungen“und „Begutachtung“ . Wir müssen schauen, ob das neueBegutachtungssystem funktioniert . Aber stellen Sie sicheinmal vor, was passieren würde, wenn wir das in dieserPhase der Pflegereform nicht hinbekommen würden!
Hilde Mattheis
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Wir hätten viel versprochen, aber nichts für die Men-schen gewonnen .In diesem Sinne: Ich würde mich über eine breite Un-terstützung und durchaus auch über eine kritische Beglei-tung während der parlamentarischen Beratungen freuen .Aber wir sollten uns klarmachen, dass wir den Kerndieser Reform nicht aus dem Auge verlieren dürfen, denneuen Pflegebedürftigkeitsbegriff.Vielen Dank .
Nun spricht der Kollege Erwin Rüddel für CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Frau Scharfenberg, ich weiß, es ist Ihre Rol-
le, unsere gute Arbeit zu kritisieren . Und da diese Arbeit
immer besser wird, fällt es Ihnen natürlich auch immer
schwerer, diese Arbeit zu kritisieren .
Aber es war auch einmal Ihre Rolle, Pflegepolitik zu be-
treiben . Als die Grünen hier im Hause regiert haben, hat
es nicht einen einzigen Ansatz gegeben, die entsprechen-
den Strukturen zu verändern .
Da waren die Grünen ein Totalausfall . Ich denke, Sie
sollten sich in Ihrer Kritik etwas mäßigen .
Was die Bürgerversicherung angeht, kann ich nur sa-
gen: Wir haben das beste Gesundheitssystem weltweit .
Überall dort, wo es eine Bürgerversicherung gibt, ist das
Gesundheitssystem schlechter .
Warum sollen wir auf ein schlechtes System hinarbeiten?
Wir wollen unser gutes System noch besser machen .
Das Zweite Pflegestärkungsgesetz, über das wir heute
diskutieren, ist ein weiterer Baustein bei der Runderneu-
erung der Pflegeversicherung. Ich bin froh, dass in dieser
Legislaturperiode so viel Aufmerksamkeit auf die Pflege
gerichtet ist wie noch nie . Wir lösen mit diesem Gesetz
ein zentrales Versprechen aus unserem Koalitionsvertrag
ein: Wir verwirklichen den Pflegebedürftigkeitsbegriff.
Wir stellen Menschen mit kognitiven Einschränkungen
und Menschen mit somatischen Einschränkungen erst-
mals gleich und schließen eine große Gerechtigkeitslü-
cke . Wir mobilisieren insgesamt zusätzlich 5 Milliarden
Euro jährlich für eine bessere Versorgung pflegebedürfti-
ger Mitbürgerinnen und Mitbürger .
Alle Menschen mit demenziellen Erkrankungen wer-
den davon profitieren und wesentlich besser gestellt als
bisher . Eine halbe Million Menschen erhalten zusätzlich
Leistungen aus der Pflegeversicherung. In Zukunft wird
es passgenaue Einstufungen geben. Die Minutenpfle-
ge wird entfallen . Es wird einen Bestandsschutz geben .
Niemand, der heute schon pflegebedürftig ist, muss sich
Sorgen machen, künftig schlechter eingestuft zu werden .
Ausdrücklich begrüße ich in diesem Gesetzentwurf auch
die neu hinzukommenden, verbesserten Leistungen in
der gesetzlichen Rentenversicherung und in der Arbeits-
losenversicherung für pflegende Angehörige. Damit wird
die Pflege eines Angehörigen nun auch in den sozialen
Sicherungssystemen endlich angemessen anerkannt .
Herr Rüddel, darf die Kollegin Scharfenberg Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Sie darf .
Bitte .
Sehr geehrter Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie die
Zwischenfrage erlauben . – Ich habe eine ganz konkrete
Frage. Sie haben gesagt: Zukünftig wird die Minutenpfle-
ge entfallen . – Erklären Sie mir und den vielen Tausend
Pflegekräften hier im Land einmal, was das bedeutet.
Wie schaffen Sie die Minutenpflege ab, und was meinen
Sie genau damit?
Sie wissen, dass heute bei der Begutachtung sehr ge-nau auf die Anzahl der Minuten geachtet wird und diesdarüber entscheidet, in welche Pflegestufe man kommt.Hier kommt es durch die Einführung des Pflegebedürf-tigkeitsbegriffes zu einem Paradigmenwechsel . Es wirdnämlich danach gefragt, wie viel Hilfe man braucht, umein eigenständiges Leben führen zu können . Dabei spie-len dann die Minuten keine Rolle mehr, sondern es wirdinsgesamt betrachtet, wie viel Hilfe jemand braucht . Mansieht nicht mehr auf die Minuten . Das bedeutet die Ab-schaffung der Minutenpflege, so wie sie von uns ange-dacht ist . Ich denke, das ist wertvoll für alle Menschen,Hilde Mattheis
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die vor einem Begutachtungsverfahren stehen und an-schließend betreut werden .
– Dann machen wir direkt mit der nächsten Frage weiter .
Nein . Ich weiß ja, dass die Großzügigkeit von Red-
nern beinahe unerschöpflich ist, beliebig viele Zwischen-
fragen zuzulassen . Ich lasse diese Frage jetzt nicht zu;
denn wir haben uns auf eine Gesamtdebattenzeit geei-
nigt, auf die ich ebenfalls achten muss . – Bitte schön,
Herr Rüddel .
Wir klären das nachher .
Zusammen mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz gibt
es die größte Leistungsverbesserung in der Pflegeversi-
cherung seit 20 Jahren . Schon seit dem 1 . Januar sind
Leistungsverbesserungen im Wert von 2,4 Milliarden
Euro wirksam . Die Mittel kommen dort an, wo sie ge-
braucht werden: bei Pflegebedürftigen, deren Famili-
enangehörigen und den Pflegekräften. Die Leistungen
dienen vor allem der besseren häuslichen Versorgung .
Ausgebaut wurden auch die Kurzzeit- und Verhinde-
rungspflege sowie die Tages- und Nachtpflege, und es
gibt zusätzliche Mittel für die Verbesserung des Wohn-
umfeldes .
Die beiden Pflegestärkungsgesetze bedeuten in der
Summe eine so massive Aufstockung in unserem Sozi-
alleistungssystem, wie es das noch nie gegeben hat . Das
kann man nicht oft genug betonen . Wir haben zu Beginn
der Legislaturperiode mehr Qualität, mehr Geld, mehr
Betreuung und mehr Hände für gute Pflege in unserem
Land versprochen, und wir haben Wort gehalten .
Meine Damen und Herren, das Gesamtbild wird aber
erst dadurch komplett, dass wir die bedeutenden Verbes-
serungen mit einer großen Anzahl weiterer Maßnahmen
flankiert haben. Wir senken den Schlüssel für die Betreu-
ungskräfte. Wir reduzieren überflüssige Bürokratie. Pfle-
ge muss am Bett ankommen. Wir reformieren den Pfle-
ge-TÜV grundlegend . Wir brauchen möglichst bald eine
Bewertungspraxis, die sich an der Ergebnisqualität, das
heißt an der Pflegequalität, in der jeweiligen Einrichtung
orientiert . Wir wollen ferner noch in dieser Wahlperiode
ein neues Pflegeberufegesetz verabschieden; denn wir
brauchen Anreize, um noch mehr Menschen als bisher
für die Pflege zu motivieren.
In diesem Kontext ist sicherlich positiv zu vermerken,
dass die Altenpflege in Deutschland im laufenden Jahr
mit über 29 000 Ausbildungsplätzen so viele angeboten
hat wie nie zuvor . Ich könnte mir sehr gut vorstellen,
dass wir bald auch vermehrt junge Flüchtlinge ausbilden
können, zumal die Altenpflege mit der Ausbildung von
Menschen aus Drittstaaten bereits positive Erfahrungen
gemacht hat . Dabei versteht sich von selbst, dass die Be-
herrschung der deutschen Sprache auch für den Umgang
mit alten und pflegebedürftigen Menschen eine Grund-
voraussetzung ist .
Unabhängig davon müssen sich die Arbeitsbedingun-
gen in der Pflege weiter verbessern; denn leider gilt nach
wie vor, dass gerade viele jüngere Menschen nicht dau-
erhaft im Beruf bleiben . Zuvörderst sind die Arbeitgeber
in der Pflicht, anständige Tariflöhne zu zahlen, um den
Pflegeberuf attraktiv zu machen. Die brauchen dann aber
auch die Rückendeckung bei den Kostenträgern .
Meine Damen und Herren, viele Senioren und pflege-
bedürftige Menschen haben Probleme mit der Einnahme
mehrerer Medikamente . Nicht immer sind die Therapien
optimal aufeinander abgestimmt. Häufig gibt es uner-
wünschte Wechselwirkungen . Mit dem E-Health-Gesetz
werden wir dafür sorgen, dass gerade ältere Patienten,
die mehrere Wirkstoffe einnehmen, einen verbrieften
Anspruch auf einen übersichtlichen Medikationsplan
erhalten . Das heißt, ein Arzt muss die Medikamente auf
Wechselwirkungen prüfen und die Therapien möglichst
optimal aufeinander abstimmen .
Um die medizinische Versorgung für die Heimbewoh-
ner in Deutschland zu verbessern, werden wir außerdem
im Palliativ- und Hospizgesetz die Voraussetzungen für
Verträge zwischen Heimträgern und Ärzten schaffen .
Bislang sind die Heimbewohner gerade von fachärzt-
licher Versorgung häufig ausgeschlossen. Auch ist es
immer schwierig, Ärzte zu motivieren, nachts und am
Wochenende in Einrichtungen zu gehen . Diese Versor-
gungslücke wollen wir schließen, indem wir die Ärzte für
eine Rufbereitschaft besonders vergüten . Das hilft, dass
Pflegebedürftige nicht unnötig in Krankenhäuser ein-
gewiesen werden müssen . Das hilft den Patienten, aber
auch den Pflegemitarbeitern.
Wir haben in dieser Debatte eine Gesamtschau des
Pflegestärkungsgesetzes gesehen. Ich komme zu dem
Schluss, dass wir in dieser Wahlperiode in diesem Be-
reich einen großen Wurf und eine Runderneuerung ge-
schaffen haben . Ich denke, wir können in diesem Haus
darauf stolz sein, dass wir in dieser Legislaturperiode so
viele positive Dinge für die Pflege, für die Pflegebedürf-
tigen, für die Familienangehörigen und für die Mitarbei-
ter in der Pflege auf den Weg gebracht haben.
Vielen Dank .
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion .
Geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Liebe Zuhörende und Zuschauende! Wir habenErwin Rüddel
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einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, und das ist einewirklich gute und frohe Botschaft .
Ich freue mich, wenn ich jetzt den Bürgerinnen und Bür-gern mitteilen kann: Wir machen in der Pflege einen Rie-senschritt nach vorne. Wir vollziehen die größte Pflege-reform seit der Einführung der Pflegeversicherung 1995.
Denn die SPD hat über viele Jahre hart daran gearbei-tet . Ich erinnere an den unermüdlichen Einsatz von UllaSchmidt . Ich erinnere an unsere unermüdliche Arbeit inder Opposition, an unser tolles Wahlprogramm und anden guten Koalitionsvertrag .
Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wurde lange und gründ-lich vorbereitet, und das ist auch gut so .Trotz der vielen, teilweise auch noch sehr komplizier-ten Worte im Pflegestärkungsgesetz – möglicherweisezählt auch das Wort „Pflegebedürftigkeitsbegriff“ dazu –sind sehr viele Menschen gut informiert und sehr inter-essiert . Wir alle wissen: Wenn wir Veranstaltungen zumThema Pflege anbieten, kommen im Durchschnitt über100 Menschen pro Versammlung . Das zeigt: Das ist einThema, das die Gesellschaft bewegt, nicht nur die Äl-teren, sondern die gesamten Familien, Familiensystemeund auch viele jüngere Leute .Wenn ich jetzt der Opposition zuhöre, die ja auch ander Entwicklung und der gesamten Diskussion beteiligtgewesen ist, denke ich mir: Die Opposition hat ein we-nig Angst vor der eigenen Courage . Jetzt, kurz vor derUmsetzung, zu sagen, es gäbe ausschließlich Schwierig-keiten, die ganze Reform wäre – in Anführungszeichen –Mist, trifft den Kern der Verbesserungen für die gesamteBevölkerung nicht .
Wir modernisieren die Pflege. Die Strukturverände-rungen und die Leistungsverbesserungen kommen direktim Alltag der Pflegebedürftigen, direkt im Alltag derstationären Einrichtungen, direkt im Alltag der Famili-ensysteme an,
und das ist auch gut so . Wir schaffen mehr Gerechtigkeit,wir schaffen mehr Lebensqualität, und zwar durch diejetzt besseren Zugänge nicht nur für körperlich Erkrank-te, sondern auch für demenziell Erkrankte und psychischErkrankte . Das ist ein ganz wesentliches Moment, umsagen zu können: Jede Bürgerin und jeder Bürger ist unsin der Pflege gleich viel wert.
Mir ist sehr wichtig – auch das hat der Minister he-rausgestellt –: Wir stärken das Prinzip „Prävention vorRehabilitation vor Pflege“. Wir helfen damit, die Pfle-gebedürftigkeit hinauszuzögern, manches Mal sogar zuvermeiden, und das ist gut so .Vorhin ist kritisiert worden, wir würden zu wenig indie Gesellschaft hineingehen, die öffentliche Debattewäre nicht groß genug . Ich denke, das ist falsch .Noch ein Punkt, der mich ein wenig geärgert hat . Wirführen am 30 . September, nächste Woche Mittwoch, einefast dreistündige Anhörung durch .
Bei dieser Anhörung werden alle gesellschaftlichen Ak-teure miteinbezogen . Uns liegen jetzt schon Stellung-nahmen vor, die teilweise 175 Seiten lang sind . Wer sichalso am Wochenende noch intensiv damit beschäftigenmöchte, ist herzlich eingeladen, dies zu tun . Die Anhö-rung zeigt: Wir greifen aus Sicht der Parlamentarierinnenund Parlamentarier noch bestehende Probleme auf .
Das ist gut so; denn Sie wissen: Die parlamentarischenBeratungen sind bedeutungsvoll, und das Bessere ist im-mer der Feind des Guten .Wir werden in der Anhörung über verschiedene The-men diskutieren: über ausreichendes Personal in denPflegeeinrichtungen, über eine reibungslose Überleitungin die neuen Pflegegrade und über gerechte Bezahlung.Wir werden auch darüber diskutieren, dass wir bei derPflege nicht nur an Ältere, an Senioren und Seniorinnen,denken dürfen . Vielmehr müssen wir gewährleisten, dasses auch für Kinder und Jugendliche gute Pflege in ausrei-chender Form gibt .
Wir werden über die Abgrenzung zwischen stationärerPflege und Unterbringung in Wohngruppen diskutieren;denn hierzu haben sich viele Fragen ergeben . Wir werdenauch über die soziale Absicherung der pflegenden Ange-hörigen diskutieren .Seien Sie gewiss: Wir Sozialdemokratinnen und So-zialdemokraten stehen in der Welt . Viele von Ihnen wis-sen, dass mir das Thema Frauen -und Genderpolitik sehrwichtig ist .
Das werden wir jetzt mit der gebotenen Gründlichkeit
nicht mehr behandeln können .
Aber den Satz darf ich noch zu Ende führen? – Dankeschön .Mechthild Rawert
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Ich empfehle allen, die Stellungnahme des DeutschenFrauenrates zu lesen. Denn eines ist klar: Pflege darfnicht zum alleinigen Frauenthema werden .
Das würde das Thema „Gleichstellung in der Gesell-schaft“ zu Unrecht schmälern . Von daher: Auf eine ge-rechte Gesellschaft, auf eine gleichgestellte Gesellschaft!Danke für die Aufmerksamkeit .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/5926 und 18/6066 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlichder Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 bauf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-serung der Unterbringung, Versorgung undBetreuung ausländischer Kinder und Jugend-licherDrucksache 18/5921Überweisungsvorschlag:Ausschuss für. Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Ausschuss für. Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für. Arbeit und Soziales Ausschuss für. Gesundheit Ausschuss für. Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenBeate Walter-Rosenheimer, Luise Amtsberg,Dr . Franziska Brantner, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas Kindeswohl bei der Versorgung unbeglei-teter minderjähriger Flüchtlinge absichernDrucksache 18/5932Überweisungsvorschlag: Ausschuss für. Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Ausschuss für. Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für. Gesundheit Ausschuss für. Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für. Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auchdiese Aussprache 60 Minuten dauern . – Das ist offenbareinvernehmlich . Dann verfahren wir so .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin Manuela Schwesig .
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren Abgeordnete! Kein anderes Thema wie dieSituation der Flüchtlinge beschäftigt uns in den letztenWochen und Monaten so intensiv . 60 Millionen Men-schen weltweit sind auf der Flucht, die Hälfte davon sindKinder und Jugendliche . Viele von ihnen machen sichsogar alleine auf den Weg, sind vier Monate quer durchdie Welt auf der Flucht, ohne Angehörige, ohne Familie –für uns fast unvorstellbar . Allein 200 000 Kinder und Ju-gendliche in diesem Jahr sind als Flüchtlinge in unserLand gekommen, davon viele unbegleitete minderjährigeFlüchtlinge . In diesem Jahr waren es 22 000 . Wir schät-zen, dass es im nächsten Jahr sogar 30 000 sein werden .Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung gesterngemeinsam mit den Ministerpräsidenten ein klares undstarkes Zeichen gesetzt hat . Wir lassen die Kommunenund Länder bei der Bewältigung dieser großen Heraus-forderung nicht im Stich . Der Bund übernimmt Verant-wortung, insbesondere für Kinder, Jugendliche und ihreFamilien .
Der Bund wird die Länder in diesem Jahr um zusätz-lich 1 Milliarde Euro entlasten, im nächsten Jahr um2,7 Milliarden Euro . Wir werden uns an den laufendenKosten für die Flüchtlinge beteiligen . Aber – das ist ganzwichtig –: Die von uns getroffenen Maßnahmen kommennicht nur Familien, die mit ihren Kindern geflüchtet sind,zugute, sondern auch Familien, die bereits hier leben .Dazu gehört die Entscheidung, die Mittel für den sozia-len Wohnungsbau um 500 Millionen Euro aufzustocken .Das hilft allen Familien, denen, die hier schon leben, unddenen, die zu uns kommen .
Wir haben uns entschieden, dass freiwerdende Mittelaus dem Betreuungsgeld nicht gegen andere Leistungengegengerechnet werden, auch nicht gegen andere Famili-enleistungen . Wir haben uns entschieden, ein klares Zei-chen für die Familien in unserem Land und die, die zuuns kommen, zu setzen: Wir werden diese freiwerdendenMittel – 1 Milliarde Euro pro Jahr – Familien und Kin-dern für eine bessere Kinderbetreuung zugutekommenlassen .
Wir wollen die Hilfen vor Ort, das Ehrenamt, mit10 000 zusätzlichen Stellen im Bundesfreiwilligendienstunterstützen . Auch das ist ein wichtiges Zeichen .Die besonders schutzbedürftige Gruppe der unbeglei-teten minderjährigen Flüchtlinge wird von uns zukünftigmit jährlich 350 Millionen Euro unterstützt .Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, diesesPaket zeigt: Die Bundesregierung steht zu den Familien,Kindern und Jugendlichen in unserem Land, egal ob hierMechthild Rawert
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geboren oder zu uns gekommen . Es gibt nicht Kinder ers-ter und zweiter Klasse . Sie sind uns alle etwas wert .
Deshalb lege ich Ihnen heute einen Gesetzentwurf zurVerbesserung der Unterbringung, Versorgung und Be-treuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vor . Wirhaben in unserem Land etwas ganz Besonderes: Kinderund Jugendliche erhalten durch die Kinder- und Jugend-hilfe einen besonderen Schutz . Wir wollen sie eben nichtbehandeln wie kleine Erwachsene, weil Kinder besonde-re Bedürfnisse haben . Sie haben ein Recht auf Bildung,sie haben ein Recht auf Schutz, sie haben ein Recht aufVersorgung, auf medizinische Betreuung .Mit diesem Gesetz legen wir noch einmal fest, dassalle Kinder, auch alle ausländischen Kinder, Zugangzur Kinder- und Jugendhilfe haben . Ein Beispiel: AuchKinder, die zu uns kommen, können einen Kitaplatz inAnspruch nehmen . Das ist wichtig, um früh die deutscheSprache zu lernen, um unter Kindern zu sein, um Freun-de zu finden. Damit das funktioniert, damit wir genügendKitaplätze für die Flüchtlingskinder haben, aber auchgenügend Kitaplätze für die Kinder, die hier geborenwerden – wir haben mehr Geburten, was toll ist –, stelltder Bund den Ländern zukünftig Geld zur Verfügung, so-dass sie selbst entscheiden können, für welche Art derKinderbetreuung sie das Geld einsetzen wollen, ob fürindividuelle Leistungen oder für institutionelle Leistun-gen . Die 1 Milliarde Euro aus dem Betreuungsgeld istein wichtiges Signal: Wir kürzen nicht zulasten der Fa-milien, sondern wir investieren weiter in die Familien inunserem Land .
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, ichhabe es angesprochen: In der Gruppe der Kinder und Ju-gendlichen gibt es eine kleine, aber sehr schutzbedürftigeGruppe . Das sind Kinder und Jugendliche, die sich al-leine auf den Weg machen, aus Afghanistan, aus Eritrea,aus Syrien . Für mich ist das, offengestanden, unvorstell-bar . Sie machen sich alleine auf diesen gefährlichen undschwierigen Weg und suchen hier Schutz und Zuflucht.Diese Kinder und Jugendlichen können nicht einfach indie großen Erstaufnahmeeinrichtungen gesteckt werden .Das Gesetz sagt jetzt, dass diese Kinder und Jugendli-chen dort in Obhut genommen werden, wo sie ankom-men, dass wir als Staat Verantwortung übernehmen, solange, bis sie wieder bei ihren Eltern sind oder Pflegeel-tern haben, oder in einer Jugendhilfeeinrichtung leben .Wir haben also ein gutes Gesetz für diese unbeglei-teten minderjährigen Flüchtlinge . Aber es trägt in denheutigen Zeiten nicht mehr; denn dieses Gesetz schreibtvor, dass wir sie nur dort in einem Kinderheim oder einerJugendwohngruppe unterbringen dürfen, dass wir sie nurdort mit Sozialarbeitern und Therapeuten begleiten dür-fen, wo sie ankommen . Sie kommen aber nicht gleich-mäßig in Deutschland verteilt an, sondern sie kommen inden Ballungszentren an, in Passau, in Hamburg, in Mün-chen, in Dortmund . Die Kapazitäten dort sind erschöpft .Das ist nicht eine Frage des Geldes . Es geht darum, dassman eben nicht auf einmal für 1 800 unbegleitete min-derjährige Flüchtlinge Plätze in Jugendwohngruppenin Dortmund hat, dass man für diese 1 800 Kinder undJugendlichen nicht genügend Sozialarbeiter und Thera-peuten hat .Ich selbst habe mit einem jungen Afghanen gespro-chen, der vier Monate auf der Flucht war . Er ist in Ham-burg gestrandet und schläft dort mit vielen Jugendlichenin einer Turnhalle . Die Hamburger Sozialarbeiter stren-gen sich sehr an, sagen aber auch: Wir schaffen das garnicht, so schnell so viele individuell zu betreuen . War-um können wir nicht Angebote von Jugendwohngrup-pen in Schleswig-Holstein oder in Rostock in Mecklen-burg-Vorpommern nutzen? – Das bisherige Gesetz istsozusagen nicht auf die heutige Krise ausgelegt . So sagtes auch die Dortmunder Jugenddezernentin . So sagenes die Vertreter der Diakonie in München. Ich finde, wirsollten auf diese Praktiker hören .
Deshalb wird mit diesem Gesetzentwurf vorge-schlagen, dass wir zukünftig Kapazitäten in allen Bun-desländern nutzen, sodass sich alle Bundesländer derbesonderen Verantwortung der Betreuung von unbeglei-teten minderjährigen Flüchtlingen stellen . Es ändert sichnichts daran, dass die Jugendlichen zunächst von demJugendamt in der Kommune aufgenommen werden, inder sie ankommen . Dieses Jugendamt schaut, ob es zumBeispiel in Hamburg noch freie Plätze gibt . Wenn nicht,dann schaut das Jugendamt, ob woanders Plätze frei sind .Dann wird der Jugendliche dorthin begleitet, immer un-ter dem Gesichtspunkt der Kindeswohlsicherung .Eine Besonderheit dieses Gesetzentwurfs ist es, dasswir in einer Zeit, in der alle über Standardabsenkungsprechen und in der viele auch mich fragen, ob wir die-se Standards eigentlich noch halten können, ein Signalsetzen und sagen: Wir heben das Mindestalter für dieHandlungsfähigkeit im Asylverfahren von 16 Jahren auf18 Jahre an, wie es auch die UN-Kinderrechtskonventionvorsieht . Auch das trägt zum Schutz bei . Deshalb kannich keine Kritik an diesem Gesetzentwurf verstehen .
Diese besondere Begleitung, diese besondere Versor-gung kostet Kraft und Energie . Deshalb möchte ich michan dieser Stelle ganz herzlich bei allen, die jetzt in denKommunen, insbesondere in den besonders belastetenKommunen, diese Arbeit verrichten, bedanken . Es isteine wirklich aufopferungsvolle Arbeit für Kinder undJugendliche, die diesen Schutz brauchen, es ist mehr alsDienst nach Vorschrift . Danke für dieses Engagement .
Wir können aber nicht einfach denjenigen Danke sa-gen und darauf verweisen, dass alles so bleibt, wie es ist,sondern wir müssen neue Wege gehen . Wir haben diesenGesetzentwurf gemeinsam mit den Ländern sehr langevorbereitet . Ich bin froh, dass wir nicht erst jetzt, da alleüber Flüchtlinge reden, damit anfangen, sondern bereitsseit einem Jahr in intensiven Gesprächen sind .Bundesministerin Manuela Schwesig
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Natürlich kostet dieser besondere Schutz, kostet diesebesondere Begleitung mehr Geld . Deshalb hat sich derBund gestern entschieden, neben der regulären Unter-stützung für Flüchtlinge ein Zeichen zu setzen und jähr-lich 350 Millionen Euro zusätzlich für diese besondersschutzwürdige Gruppe zur Verfügung zu stellen . Das istein starkes Signal der Bundesregierung, dass uns dieseKinder und Jugendlichen nicht egal sind, sondern dasswir eine besondere Verantwortung übernehmen .
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, wirsollten diesen Gesetzentwurf schnell verabschieden . DieMinisterpräsidenten haben gestern darum gebeten, dassdas Gesetz möglichst zum 1 . November in Kraft tritt miteiner Übergangsregelung bis zum 1 . Januar 2016, die dieaufnehmenden Länder brauchen . Viele sind vorbereitet .Ich möchte mich bedanken für positive Stimmen der jetztaufnehmenden Länder .Der Sozialdezernent von Greifswald in Mecklen-burg-Vorpommern, einer strukturschwachen Region,sagt: Wir sehen das nicht als Belastung an . Wir sehen die-se jungen Menschen als einen Gewinn für unsere Regionan . Wenn wir immer beklagen, dass junge Leute wegge-hen, dann sollten wir froh sein, dass junge Menschen zuuns kommen .Der Ministerpräsident Thüringens hat gesagt, er stehedazu, er werde Jugendliche aufnehmen . Es ist wichtig,dass wir die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingenicht nur als Kostenfaktor debattieren, sondern sagen:Da kommen junge Menschen zu uns . Wenn wir es gutmachen, wenn sie die Chance auf einen Schulabschluss,auf eine Berufsausbildung und auf eine gute Begleitunghaben, dann sind das junge Staatsbürger von morgen, aufdie wir setzen .In diesem Sinne wünsche ich mir ein positives Signal,das von diesem Gesetz ausgeht . Ich hoffe auf schnelleund konstruktive Beratungen .Gleichzeitig bitte ich um Verständnis, dass ich wäh-rend der Debatte schon in den Bundesrat gehe, weil die-ser Gesetzentwurf heute auch den Ländern vorgestelltwird . Schließlich ist das auch ein wichtiges Gesetz fürdie Länder .Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünschegute und konstruktive Beratungen, dass wir so schnellwie möglich denen helfen können, die den Schutz ammeisten brauchen: den Kindern und Jugendlichen, die beiuns Zuflucht suchen.Herzlichen Dank .
Bestellen Sie, Frau Ministerin, dem Bundesrat herzli-
che Grüße des geschwisterlichen Verfassungsorgans .
Wir setzen in der Zwischenzeit unsere Beratungen
fort, zunächst mit dem Kollegen Norbert Müller für die
Fraktion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Gäste! Frau BundesministerinSchwesig, ich glaube, es geht völlig in Ordnung, dassSie in den Bundesrat fahren, um dort den Gesetzentwurfeinzubringen .Meine Fraktion hat am 5 . März dieses Jahres einen gu-ten Antrag vorgelegt, in dem wir ein kindeswohlgerechtesVerfahren für die Verteilung unbegleiteter minderjährigerFlüchtlinge aus überlasteten Einreiseknotenpunkten vor-schlagen . In unserem Antrag fordern wir als Grundlageeiner freiwilligen Verteilung der unbegleiteten Minder-jährigen eine Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe undden Aufbau kompetenter Strukturen für ein umfassendesClearingverfahren . Dies wird von den Fachverbändenauch ausdrücklich unterstützt . Einige Kolleginnen undKollegen waren ja gestern beim parlamentarischen Früh-stück zum Thema Flüchtlingskinder .Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebniseines offenbar nicht ganz einfachen politischen Aus-handlungsprozesses . Getrieben von den betroffenenBundesländern standen Umverteilungsinteressen derLänder einerseits gegen Grundsätze der Jugendhilfe undder UN-Kinderrechtskonvention andererseits . In diesemSpannungsfeld hat die Koalition untereinander und mitden Ministerpräsidenten verhandelt . Am Ende haben dieMinisterpräsidenten der am stärksten betroffenen Länderzusammen mit dem Bundesinnenministerium die Federgeführt, auch weil innerhalb der Bundesregierung – dasbedaure ich sehr – nach wie vor ungeklärt zu sein scheint,ob sie grundsätzlich eine flüchtlingsfreundliche oder eineflüchtlingsablehnende Politik fährt.
Die Handschrift des Bundesministeriums für Familie,Senioren, Frauen und Jugend kann ich in diesem Gesetz-entwurf nicht mehr sehen; er entspricht nicht den Ankün-digungen, die Sie noch vor einem Dreivierteljahr getätigthaben . Monatelang sind Sie nicht zu Potte gekommen .Nun, nachdem ein meines Erachtens schlechter Entwurfvorliegt, machen Sie Druck, dass dieses Gesetz noch frü-her in Kraft treten soll und die Umverteilung noch früherbeginnen soll, nachdem es zwischenzeitlich hieß, dassdie Länder bis zum 1 . April 2016 Luft haben .Ihre Handlungsunfähigkeit hat dazu geführt, dass sichdie betroffenen Kommunen und Länder derzeit selbsthelfen . Helfen ist hier ein Euphemismus . Um es ganzklar zu sagen: Wenn in Brandenburg und in anderen Bun-desländern in den letzten Wochen Hunderte unbegleite-te minderjährige Flüchtlinge aus Bayern angekommensind, die man dort schlichtweg einfach in Züge und Bus-se gesetzt hat, ohne sie in Obhut zu nehmen, ohne sie zuregistrieren, ohne die Kinder- und Jugendhilfe in Krafttreten zu lassen, dann ist das schlichtweg ein rechtswidri-ges Verfahren gewesen .
Die Bayerische Staatsregierung hat die Verteilung derunbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, weil ihr dasGesetz offenbar zu lange gedauert hat, inzwischen in dieBundesministerin Manuela Schwesig
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eigenen Hände genommen . Das ist meines Erachtens il-legal . Das hat mit Jugendhilfe nichts zu tun . Hier kannman nicht mehr von einer Überforderung der Kinder-und Jugendhilfe sprechen, sondern nur noch von einemTotalversagen der politisch Verantwortlichen .
An die Adresse der CSU: Liebe Kolleginnen und Kol-legen, wie hätten Sie eigentlich reagiert, wenn das nichtHunderte ausländische Kinder und Jugendliche gewesenwären, die in München gestrandet sind, sondern wenndas deutsche Kinder gewesen wären? Hätten Sie dieauch planlos in irgendwelche Züge und Busse zu ande-ren Jugendämtern gesetzt, damit sie dort aufgenommenwerden, frei nach dem Motto: Ob Budapest oder Wien,es hält sich gerade eh niemand mehr an die Gesetze unddas Recht, warum sollte es dann Bayern machen? Das istinakzeptabel . Das geht so nicht .
Vielleicht ist Ihnen aber das Kindeswohl – da kommenSie möglicherweise in Widerspruch zu Bundesministe-rin Schwesig – im Falle der unbegleiteten minderjähri-gen Flüchtlinge eben nicht ganz so wichtig, da es sichnicht um deutsche Kinder handelt . Sie können sich jetztaufregen . Die grüne Landtagsfraktion im BayerischenLandtag – ich bin ihr dafür sehr dankbar – hat sich imZuge einer Kleinen Anfrage von der Bayerischen Staats-regierung beantworten lassen, dass es sogar Ziel derBayerischen Staatsregierung ist, die Kinder- und Jugend-hilfestandards für nichtdeutsche Kinder herabzusetzen .Das ist übrigens genau das Gegenteil von dem, was FrauBundesministerin Schwesig gerade vorgestellt hat .In einer so schwierigen Situation legen Sie nun IhrenGesetzentwurf vor. Dabei ist es doch so: Sie erfinden eintotal bürokratisches Umverteilungsverfahren nach demKönigsteiner Schlüssel; das wird nicht funktionieren, dasprognostiziere ich Ihnen . Aber gehen wir einmal davonaus, dass zumindest diese Umverteilung funktionierenwird, dann können Sie das beste Interesse der Kinder –das schreibt die UN-Kinderrechtskonvention vor – damitnicht sichern .Fakt ist doch: Die Kinder- und Jugendhilfe steht schonjetzt in vielen Teilen des Landes vor dem Kollaps, undzwar nicht, weil wir Flüchtlingskinder aufnehmen, weilwir unbegleitete Minderjährige aufnehmen, sondern weiles eine chronische Unterfinanzierung der sozialen Infra-struktur über Jahre gegeben hat .
Wenn jetzt ein paar dazu kommen, tun sich die Problemeauf . Mit der starren Umverteilung der unbegleiteten min-derjährigen Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüsselverteilen Sie die Überforderung bundesweit . Wie sollendenn unvorbereitete, unterfinanzierte und unerfahreneKommunen bzw . Jugendämter dem Kindeswohl von un-begleiteten minderjährigen Flüchtlingen gerecht werden?Ich will Ihnen einmal skizzieren, wie das Verteilungs-verfahren im Gesetz beschrieben ist – das muss mansich, glaube ich, ein Stück weit auf der Zunge zergehenlassen –: Ein 15-jähriger afghanischer Flüchtling wirdin München von der Bundespolizei aufgegriffen, wirdregistriert und dem Münchener Jugendamt vorgestellt .Das Münchener Jugendamt hat dann sieben Tage Zeit,um Meldung an das Land abzusetzen, um das Alter fest-stellen zu lassen und zu schauen, ob es möglicherweiseGeschwisterkinder gibt, mit denen er zusammengeführtwerden soll . Sieben Tage! Das Landesjugendamt in Bay-ern muss dann binnen drei Tagen nach dieser Meldungdem Bundesverwaltungsamt Meldung machen, dass ein15-jähriger afghanischer Flüchtling in München aufge-griffen wurde und, weil Bayern davon schon so vielehat, irgendwohin verteilt werden soll . Das Bundesver-waltungsamt hat dann wiederum zwei Tage Zeit, umeine Entscheidung zu treffen, wo dieser 15-jährige af-ghanische Junge hin soll . Binnen zwei Tagen nach derEntscheidung, die dann getroffen wurde, muss sich dasLandesjugendamt des aufnehmenden Bundeslandes einregionales Jugendamt aussuchen, wo der junge, 15-jähri-ge Afghane hin soll . Dann sind bereits mindestens zweiWochen ins Land gegangen . Wenn gerade Sommerpauseist, es zu Urlaubsvertretungen kommt oder Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter erkrankt oder schlichtweg nichtverfügbar sind, weil überlastet, dann ist der Monat, dendas Gesetz für die Umverteilung vorschreibt – danachdarf sie nicht mehr erfolgen –, bereits abgelaufen . Dasheißt, sie erfolgt in der Praxis überhaupt nicht . Das Ge-setz ist selbst nach Ihren eigenen Ansprüchen überhauptnicht praktikabel .Nun hat der gestrige Flüchtlingsgipfel beschlos-sen, 350 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen; dashaben Sie gerade ausgeführt . Ich habe das über Nachtdurchrechnen lassen: Für einige Bundesländer reicht dasfür etwa 10 Prozent des Mehrbedarfs in der Kinder- undJugendhilfe aus . 10 Prozent des Mehrbedarfs! AndereBundesländer sagen: Wir kommen damit vielleicht zweiMonate hin . – Zwei Monate! Nach Ihrem Konzept müs-sen in Zukunft alle Kommunen und Jugendämter flücht-lingskindgerechte Kapazitäten
im Allgemeinen Sozialen Dienst, Vormünder, Ergän-zungspfleger, Schulen, Schulplätze, Jugendhilfeangebo-te, Gesundheitsdienste, Übersetzer und Sprachlernkursevorhalten. Das soll ohne ausreichende finanzielle Mittelgeschehen, und das Ganze am besten aus dem Stegreif,weil das Gesetz nämlich zum 1 . Januar 2016 in Kraft tritt .Wie soll das leistbar sein?Um es deutlich zu sagen: Nach Aussagen der Arbeits-stelle Kinder- und Jugendhilfestatistik der TechnischenUniversität Dortmund haben von den 402 Landkrei-sen und kreisfreien Städten, die wir heute haben, ganze60 Erfahrung mit unbegleiteten minderjährigen Flücht-lingen . – In Sachsen-Anhalt wurden letztes Jahr ganze22 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut . Ganze22! – Die müssen jetzt relativ schnell, aus dem Stegreif,deutlich mehr aufnehmen . Sie müssen auch die Struktu-ren dafür vorhalten, Kollege Rix, und die entsprechendenNorbert Müller
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Strukturen aufbauen . Sie wissen doch ganz genau: DasFachpersonal dafür gibt es überhaupt nicht . Die Schul-plätze sind nicht zur Verfügung gestellt . Sie können mirnicht erklären, dass das ein sinnvoller, guter Weg ist .Das hat etwas damit zu tun, dass wir die soziale In-frastruktur über Jahre unterfinanziert haben, sie amEnde verknappt wurde und jetzt fehlt . Richtig wäre es,eine Umverteilung auf bestehende Kompetenzzent-ren durchzuführen . Zur Finanzierung muss neben einerAufstockung der 350 Millionen Euro aber auch ein Aus-gleichsmechanismus zwischen Ländern und Kommunenentwickelt werden, weil es natürlich völlig richtig ist,Länder und Kommunen nicht aus der Verantwortung zulassen . Aber hier ist es sinnvoller, die Finanzen zu vertei-len, als die Kinder durch die Gegend zu schicken .Mit Ihrem Gesetz werden die bestehenden Kompe-tenzzentren aber sogar noch geschwächt . Denn wennZentren, die seit Jahren Erfahrung mit unbegleiteten min-derjährigen Flüchtlingen haben und jetzt überlaufen –auch hier muss Abhilfe geschaffen werden –, schlagartigdeutlich weniger haben, entstehen sogar freie Kapazitä-ten, während anderswo aufnehmende Jugendämter garnicht wissen, wie sie fachgerecht und kindeswohlgerechtmit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu-rechtkommen sollen .Wir müssen flächendeckend große Strukturen aufbau-en . Aber was passiert eigentlich, wenn die Fallzahlen inzwei, drei, vier, fünf Jahren möglicherweise zurückge-hen?
Dann haben Sie flächendeckend in der Kinder- und Ju-gendhilfe passgenaue Strukturen für unbegleitete minder-jährige Flüchtlinge aufgebaut, die dann möglicherweiseso niemand mehr braucht . Das halten Ihnen übrigensauch die Fachverbände immer wieder vor .Hinzu kommt, dass sich fluchterfahrene Kinder nichtnach Ihrer Quote richten werden .
Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit?
Ich komme zum Ende, Herr Präsident . – Schon heute
sind die Abgänge in die Illegalität, gezwungene Krimina-
lität und Menschenhandel nicht zu vernachlässigen . Was
glauben Sie eigentlich, was ein Jugendlicher macht, dem
man nach Wochen der Ungewissheit erzählt, dass er nach
Heidenau kommt?
Wir brauchen dringend eine Lösung, welche Ihr Ge-
setzentwurf nicht anbietet . Mit Ihrem Gesetz verlagern
Sie die Probleme auf die Länder und Kommunen und las-
sen sie damit im Wesentlichen allein . Die 350 Millionen
Euro sind ein Tropfen auf den heißen Stein . Am Ende
lassen Sie die Kinder und Jugendlichen, um die es hier
geht, alleine . Ich hoffe, dass wir in den Beratungen hier
noch substanzielle Änderungen vornehmen können .
Vielen Dank .
Marcus Weinberg hat nun für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Müller, es waren viele Punkte, die Sie an-
gesprochen haben – aber leider kein Treffer . Robert
Lewandowski war am Dienstag in acht Minuten erfolg-
reicher .
Ich will gerne zu dem kommen, was die Ministerinzu Anfang angesprochen hat . Wir haben in den letztenWochen und Monaten über dieses große Thema disku-tiert – das ist möglicherweise die größte Herausforderungfür die deutsche Gesellschaft in den letzten 60 Jahren –,und wir haben strittig darüber diskutiert . Wir erkennentatsächlich Chancen und sehen die Begeisterung vielerMenschen in Deutschland, die sagen: Wir müssen fürdiese Menschen, die aus Krisen- und Kriegsgebietenkommen, etwas tun . – Auf der anderen Seite – das gehörtzur Ehrlichkeit – gibt es aber auch Sorgen, Nöte, Ängste,teilweise beginnende Überforderung, gerade im Bereichder Jugendhilfe .Am Ende dieser Woche der strittigen Diskussionengibt es, glaube ich, zwei wesentliche Entscheidungen,durch die wir unsere Handlungsfähigkeit zeigen: Gesternhaben wir die erste kluge und gute Entscheidung getrof-fen, dass der Bund den Kommunen und den Ländern zu-sätzliche finanzielle Mittel bereitstellt. Die zweite klugeEntscheidung zeigt sich in dem heute vorliegenden Ge-setzentwurf, mit dem wir die Rahmenbedingungen wei-ter verbessern werden .Ich glaube, insgesamt können wir sagen: Nach einerintensiven Diskussion stehen wir heute davor, das ThemaIntegration endlich nachhaltig auf den Weg zu bringen .
Unsere Handlungsfähigkeit ist also bewiesen . Der Bundhat verstanden und auch gehandelt .Norbert Müller
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Jetzt geht es darum, dass wir das gerade mit Blick aufdie Familien, die Kinder und die Jugendlichen, die – Siehaben es erwähnt – in einer besonderen Situation sind,gestalten . Unsere Erfahrungen aus der Vergangenheit –es gab viele Epochen der Migrationsbewegung – müssendabei mit einfließen. Wir müssen jetzt weiterhin Hand-lungsfähigkeit zeigen, Chancen erkennen, Herausforde-rungen definieren, gleichermaßen fördern und fordernund dabei auch mit viel Ehrlichkeit und im Sinne einerfördernden und fordernden Integration von Anfang angestalten .Im Zentrum stehen dabei die jungen unbegleitetenminderjährigen Flüchtlinge . Die Kinder werden immerjünger . Es sind nicht mehr nur 16- oder 15-Jährige, son-dern mittlerweile kommen 12-, 10- und sogar 9-Jährigenach Deutschland . Die meisten von ihnen werden auch in10 oder 15 Jahren noch in Deutschland leben . Die Fragemuss für uns doch lauten: Was passiert in den nächsten10 bis 15 Jahren unter dem Gesichtspunkt der Integra-tion? Wie geht es den heutigen Kindern dann, wenn siejunge Erwachsene sind, wenn sie 25 oder 30 Jahre altsind? Sind sie dann gut ausgebildet? Haben sie dann hierin Deutschland eine Sprachkompetenz? Konnten sie sichin den Arbeitsmarkt integrieren? Haben sie ihr Lebens-umfeld so organisiert, dass sie ihr Leben auch gestaltenkönnen? Verstehen sie die Prinzipien in Deutschland, wieFreiheit? Richten sie sich nach der freiheitlich-demokra-tischen Grundordnung, zu der zum Beispiel auch dieGleichberechtigung von Frauen und Männern gehört?Haben sie das übernommen und akzeptiert? Tragen siedas auch in sich? Sind sie bereit, der deutschen Gesell-schaft auch etwas zurückzugeben?Oder aber – das wäre die Alternative – ist es so, dasssie im Bildungsbereich nicht angekommen sind, dasssie arbeitslos sind und unter Armut leiden und dass siesich von dieser Gesellschaft möglicherweise entfernt ha-ben? Hier sehe ich die große Gefahr, dass es dann, wennwir jetzt nicht richtig handeln, eine Gruppe von 25- bis30-Jährigen geben wird, die sich von der Gesellschaft di-stanziert hat, ihr eigenes Leben nicht organisieren kannund sich möglicherweise radikalisiert – auch über beson-dere religiöse Zugänge .Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt nach dieser Be-geisterung und Unterstützung, die richtig und gut waren,entsprechende Strukturen schaffen und eine nachhaltigeIntegration organisieren . Das ist die Voraussetzung .
Die Zahlen wurden angesprochen: Mittlerweile kom-men sechsmal so viele junge unbegleitete minderjähri-ge Flüchtlinge als in der Vergangenheit zu uns . Im Jahre2015 werden es insgesamt wahrscheinlich 30 000 sein .Diese Kinder und Jugendlichen haben Schlimmes erfah-ren und sind traumatisiert . Dadurch, dass sechsmal soviele wie in den vergangenen Jahren bei uns aufgenom-men werden, kommt auf die Jugendämter und all dieje-nigen, die in der Jugendhilfe verantwortlich sind, eineimmense Aufgabe zu .Es wurde hier zu Recht noch einmal denjenigen ge-dankt, die diese Aufgabe in den letzten Monaten schongemeistert haben . Ich weiß das aus Hamburg; aber auchdie Jugendämter in München, Dortmund und Köln, diemit der Jugendhilfe ohnehin schon eine besondere Auf-gabe haben, erleben das ja tagtäglich . Deswegen war esjetzt auch wichtig, dass wir vonseiten des Bundes reagiertund uns überlegt haben, wie wir das finanziell unterlegenund in einen Gesetzentwurf packen können .Ich stimme ausdrücklich zu: Dieses Gesetz muss soschnell wie möglich kommen . Hamburg, Bayern undauch andere haben viel geleistet, aber es muss jetztendlich eine gerechtere Verteilung im Sinne des Kin-deswohls geben . Herr Müller, das ist entscheidend: DasKindeswohl muss immer an erster Stelle stehen . Das istauch unstrittig .
Es war richtig und natürlich auch verständlich, dassdie Ministerpräsidenten am 11 . Dezember 2014 gesagthaben: Wir müssen hier endlich ein Gesetz auf den Wegbringen . – Den entsprechenden Gesetzentwurf beratenwir heute .Ich möchte das noch einmal ausdrücklich betonen: Esgibt nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention, sondernbei uns gilt ohnehin der Grundsatz, dass wir Kinder undJugendliche gleichbehandeln . Es wird nicht gefragt: „Wokommst du eigentlich her?“, sondern: Wo spiele ich mitdir zusammen? – Unter dem Gesichtspunkt des Kindes-wohls bieten wir ihnen entsprechende Möglichkeiten .Ich glaube, unser Gesetzentwurf ist hier richtig ange-legt, weil die Verteilung endlich anders organisiert wird .Wir verteilen nicht nach dem Königsteiner Schlüsselzwischen den Kommunen . Das ist nicht unsere Aufga-be . Wir können aber erwarten, dass die Bundesländer,die möglicherweise noch nicht so viel aufgenommen,teilweise aber die entsprechenden Strukturen haben, jetztauch in die Verantwortung genommen werden .Es wird dann so sein, dass, wenn Hamburg entlastetwird, Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg na-türlich mehr Jugendliche aufnehmen müssen . Die Ver-teilung zwischen den Kommunen wird von den Länderngeregelt . Sie wissen, wo ihre Strukturen sind . Sie wissen,wie die Jugendhilfe in der Kommune aufgestellt ist . DieKommunen, die noch nicht so weit sind, werden sicher-lich nicht belastet werden . Es ist aber, glaube ich, auchgut so, dass wir hier Strukturen aufbauen und unterstüt-zen. Ich finde – das sage ich noch einmal –, dass die fi-nanzielle Leistung des Bundes in diesem Zusammenhangwirklich ein hervorragender Aufschlag ist .
Es gibt im Gesetz weitere Punkte, die wichtig sind .Das gilt gerade für das Thema der Familienzusammen-führung, was auch in der UN-Kinderrechtskonventionbereits formuliert ist . Wichtig ist es aber, noch einmal einSignal zu geben, indem wir sagen: Es ist für das Kind im-mens wichtig, dass es sich dort aufhalten kann, wo sichFamilienangehörige – zum Beispiel Onkel oder Tante –befinden. Es gibt den besonderen, exemplarischen Falleines Neunjährigen in Hamburg: Dessen Vater wurdein Damaskus umgebracht . Seine Mutter war nicht mehrin der Lage, zu flüchten. Sie hat zu dem Onkel gesagt:Marcus Weinberg
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Nimm das Kind mit, bringe es in Sicherheit, bringe esnach Deutschland . – Es muss natürlich gewährleistetsein, dass diese Kinder nicht von ihrer Bezugsperson ge-trennt werden .
Ich glaube, es ist wichtig, dass das noch deutlicher imGesetz herausgearbeitet wird .Was das Thema Mindestalter angeht, geht es darum,im Asyl- bzw . Ausländerrecht die Handlungsfähigkeit zubetrachten . Hier wird das Alter von 16 Jahre auf 18 Jah-re hochgesetzt . Die Maßnahmen der Jugendhilfe galtenschon immer für die unter 18-Jährigen . Daran wird sichnichts verändern . Da wird auch nichts ausgebaut werden .
Jetzt bietet dieses Gesetz den ersten Rahmen . Wirwerden das Asylgesetz bzw . die Pakete des Asylgesetzesin der nächsten bzw . übernächsten Sitzungswoche inten-siv besprechen . Das ist der Rahmen, der gesetzt werdenmuss .Jetzt wird es darauf ankommen, das Thema Nachhal-tigkeit zu begleiten . Im Übrigen wollen und sollten wirdas Thema mit den Ländern und Kommunen gemeinsambegleiten; denn es stehen jetzt ein paar wichtige Dinge an .Es ist gut und richtig, den Bundesfreiwilligendienst um10 000 Plätze zu erweitern . Es muss aber gewährleistetsein, dass sich diejenigen, die das anbieten, in der Arbeitmit Flüchtlingen auskennen, dass sie qualifiziert werden.Wir müssen verhindern, dass Salafisten möglicherwei-se versuchen, sich hier irgendwie einzuschleichen . Dasheißt, jetzt wird es darauf ankommen, die guten Dingezu gestalten . Das betrifft den Bundesfreiwilligendienstin Bezug auf die 10 000 Stellen . Es betrifft auch andereFälle .Wir wollen genau sehen, wie die Kinder jetzt in dieKinder- und Jugendhilfe bzw . in die Kindertagesstättenbzw . Schulen kommen . Denn eines darf nicht passieren:dass die vielen Menschen in diesem Land, die sagen „Ja-wohl, wir wollen hier helfen“, dann erkennen: Oh, eskommen mehr Flüchtlingskinder in die Kitas . – Sie müs-sen auch sehen, dass mehr Erzieherinnen und Erzieher indie Kitas kommen .
Auch müssen sie erkennen, dass jetzt mehr Lehrerinnenund Lehrer eingestellt werden . Auch das ist dann – ichsage das ganz deutlich – eine Verantwortung der Länder .Wir haben ein großes, wichtiges Paket – das ist an dieserStelle wirklich entscheidend – geschnürt . Die Umsetzungaber muss dann auch erfolgen . Das werden wir auch be-gleiten . Denn wir sind nicht diejenigen – schönen Grußan den Bundesrat! –, die das Geld am Ende zur Verfü-gung stellen, sondern wir sind auch diejenigen, die hierunserer Verantwortung gerecht werden wollen .Die Familienzusammenführung habe ich bereits ange-sprochen . Es gibt aber noch weitere Themen, die auchwichtig sind . Wir werden erst jetzt erkennen, dass es ge-wisse Veränderungen gibt . Ich will zwei Themen anspre-chen .
Das muss jetzt aber ganz zügig gehen .
Herr Präsident, da ich ja zügig oder schnell sprechen
kann, werde ich es versuchen . – Ich will das Thema
Frauen ansprechen, wo wir eine besondere Verantwor-
tung haben . Und ich will auch das Thema Einhaltung
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung anspre-
chen . – Das will ich hiermit angesprochen haben .
Ich glaube, es ist ein guter Entwurf . Wir alle sind jetzt
aufgefordert, diesen Entwurf schnell umzusetzen und
dann auch zu schauen, dass wir das Thema Integration
von Anfang an – jetzt auf den Weg bringen; denn wir ha-
ben eine Riesenchance . Nutzen wir diese Chance . Disku-
tieren wir ehrlich darüber, was zu tun ist . Ich freue mich
auf die Beratungen in den nächsten Wochen und Mona-
ten . Wir haben – das wissen wir – noch viel zu tun . Das
wollen wir aber für die Flüchtlinge und die Menschen in
Deutschland angehen .
Herzlichen Dank .
Katja Dörner hat nun das Wort für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Über die Verwendung der Betreuungs-geldmittel haben wir ja noch gestern debattiert, und wirwerden das garantiert noch weiter tun . Wir Grüne habensehr vehement gefordert, dass das Geld für die Kitas zurVerfügung gestellt werden soll . Auch die Ministerin bzw .die SPD haben das sehr vehement gefordert . Ich will fest-halten: Die Vereinbarung von gestern Abend stellt geradenicht sicher, dass es wirklich in den Kitas ankommt .
So viel Ehrlichkeit muss in dieser Debatte sein, liebeKolleginnen, liebe Kollegen .
Zum vorliegenden Gesetzentwurf . Es ist richtig, dasszurzeit eine Handvoll Jugendämter bundesweit für einensehr großen Teil der minderjährigen unbegleiteten Flücht-linge zuständig ist . Es ist auch richtig beschrieben wor-den, dass diese Jugendämter finanziell und personell sehrstark gefordert, zum Teil auch überfordert sind . Deshalbist trotz des sehr großen Engagements dieser Jugendäm-ter und vieler Initiativen und ehrenamtlicher Helferinnenund Helfer eine dem Kindeswohl entsprechende Inob-hutnahme neu ankommender minderjähriger Flüchtlingemancherorts nicht mehr oder kaum noch möglich . DiesenMarcus Weinberg
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Fakt, der hier beschrieben worden ist, müssen wir ernstnehmen . Es macht aus unserer Sicht Sinn, eine andereVerteilung zwischen den Kommunen und auch zwischenden Bundesländern anzustreben . Ich denke, das ist auchim Sinne der betroffenen jungen Flüchtlinge .
Aber wir sprechen über Kinder und Jugendliche, dieallein, ohne ihre Familien, teilweise ohne Freunde undteilweise ohne irgendwelche Bezugspersonen, zu unsflüchten. Viele von ihnen haben eine Fluchtgeschichtehinter sich, die wir uns überhaupt nicht vorstellen kön-nen . Es ist ganz klar, dass wir für diese Kinder und Ju-gendlichen eine ganz besondere Schutzverantwortungtragen . Deshalb müssen das Kindeswohl und die Sicher-stellung einer guten Versorgung dieser jungen Menschenunmissverständlich im Vordergrund der Verteilungsfragestehen . Das ist für uns Grüne ganz klar .
Eine schnöde Verteilung nach dem KönigsbergerSchlüssel ist für uns nicht der richtige Weg . Das, was hierbeschrieben worden ist, nämlich die Verteilung nach demKönigsteiner Schlüssel und die Orientierung am Kindes-wohl, ist sozusagen die Quadratur des Kreises . Wir hättenuns in dieser Frage eine größere Flexibilität gewünscht .
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will auch sa-gen, dass der Gesetzentwurf, so wie er heute vorliegt,deutlich besser als das ist, was wir befürchten mussten,als die ersten Initiativen des Landes Bayern im Bundesrataufgeschlagen sind . Darin war nämlich von einer Kin-deswohlorientierung überhaupt nichts zu merken . Hierhat es deutliche Fortschritte gegeben .
Ich will einen Punkt ganz besonders hervorheben – erist auch schon angesprochen worden –: 16- bis 18-Jähri-ge werden in ihren Asylverfahren zukünftig nicht mehrwie Erwachsene behandelt, sondern, konform mit derUN-Kinderrechtskonvention, als Minderjährige . Dashaben wir Grüne und die Kinderschutzverbände in denletzten Jahren immer wieder vehement gefordert . Es istsehr gut, dass dies in diesem Gesetzentwurf verankert ist .
Ob wir bereit sind, die Rechte von Kindern und Ju-gendlichen, und zwar von allen Kindern und Jugend-lichen, gerade auch der minderjährigen unbegleitetenFlüchtlinge, zu wahren, diese Frage stellt sich insbeson-dere dann, wenn der Wind rau bläst, also heute und jetzt .Deshalb will ich zwei Aspekte aus dem Gesetzentwurfaufgreifen, hinter die wir Grüne noch Fragezeichen ma-chen möchten .Das eine ist die Frage: Was muss am Erstaufnahmeortzur Klärung der Situation der Minderjährigen tatsächlicherfolgen? Dazu will ich sagen: Aus unserer Sicht ist esunbedingt notwendig, dass schon bei der vorläufigen In-obhutnahme ein Abgleich der persönlichen Daten erfolgt,dass eine Alterseinschätzung vorgenommen wird unddass wir die Alterseinschätzung nach seriösen Standardsdurchführen, also gemäß der Handlungsempfehlung derBAG der Landesjugendämter . Auch der medizinischeund therapeutische Bedarf muss unmittelbar bei der vor-läufigen Inobhutnahme festgestellt werden.Ich will den zweiten Aspekt ansprechen, der uns ganzwichtig ist . Auch minderjährige unbegleitete Flüchtlingehaben ein Recht auf Beteiligung . Die Wünsche und Be-dürfnisse der Jugendlichen, auch bei ihren Reisezielen,zu berücksichtigen, ist gerade in der derzeitigen Situationkein „Nice to have“ . Ich habe es schon gesagt: Wir spre-chen über Kinder und Jugendliche, die sich allein durchfremde Länder, durch Kriege, durch Elend gekämpfthaben und die ihre Familien zurückgelassen haben . DieVorstellung, dass man diese Kinder einfach an einen Ortverschieben kann, wo gerade Platz ist und wo es Kapazi-täten gibt, ist illusionär .
Frau Dörner .
Deshalb ist die Beteiligung der Kinder und Jugendli-
chen in dieser Frage absolut zentral und eine Grundvor-
aussetzung dafür – ich komme zum Schluss –, dass die
Integration der Kinder und Jugendlichen da, wo sie dann
untergebracht werden, überhaupt gelingen kann . Deshalb
ist es uns sehr wichtig, dass die Beteiligungsrechte im
Gesetzentwurf stark verankert sind .
Abschließend –
Nein, das geht jetzt nicht . Sie haben die Redezeit deut-
lich überschritten . Jetzt können Sie nicht noch einmal
eine Zugabe geben . Ich bitte um Nachsicht .
Junge Flüchtlinge haben es verdient, dass wir sie be-
sonders in den Blick nehmen . Trotz des sehr verkürzten
Beratungsverfahrens haben wir ein großes Interesse da-
ran, dass wir uns seriös mit Verbesserungsvorschlägen
auseinandersetzen .
Ich komme zum Schluss und freue mich auf die Be-
ratungen .
Nun hat die Kollegin Gülistan Yüksel für dieSPD-Fraktion das Wort .
Katja Dörner
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ha-ben in den letzten Monaten Entwicklungen erlebt, diewir uns alle so nicht haben vorstellen können . Die Bilderder flüchtenden Menschen, die lebensgefährliche Routenüber das Meer und über das Land auf sich nehmen, umeinen Ort zu finden, wo sie in Frieden leben können, ha-ben sich uns allen ins Gedächtnis eingebrannt .Heute diskutieren wir über eine besonders schutz-bedürftige Gruppe: die unbegleiteten minderjährigenFlüchtlinge . Insbesondere für diese müssen wir jetzt Lö-sungen finden. Wir brauchen eine schnelle Entlastung derJugendämter an den Knotenpunkten wie München undHamburg .Ich bin sehr dankbar, dass das Familienministerium,dessen Vertreter sich früh mit den Ländern zusammen-gesetzt haben, um eine Lösung zu finden, diesen Gesetz-entwurf jetzt nach intensiven Beratungen vorgelegt hat .Ich weiß, dass die Belange der Kinder und Jugendlichenin unserem Familienministerium in guten Händen sindund dass das Kindeswohl stets im Mittelpunkt steht . DasPrimat der Kinder- und Jugendhilfe ist gegeben .Besonders freue ich mich über die Anhebung der Al-tersgrenze zur aufenthalts- und asylrechtlichen Hand-lungsfähigkeit von 16 auf 18 Jahre . Auch dringendnotwendig sind belastbare Daten zur Lebenssituationder unbegleiteten Minderjährigen, die nun erhoben wer-den sollen . Zusammen mit den gestern beschlossenen350 Millionen Euro, die schon mehrfach erwähnt wordensind, ist der Gesetzentwurf ein erster wichtiger Schritt,um die Herausforderung im Sinne der Kinder und Ju-gendlichen anzugehen .
Mit dem vorliegenden Entwurf gelingt ein schwierigerSpagat zwischen dem besonderen Schutzbedürfnis derKinder und Jugendlichen und praktikablen Verfahrens-regeln, ein Spagat zwischen den Forderungen der Länderund Kommunen und den Forderungen der Verbände . Ichgebe zu, dass der Zeitplan für das Gesetz sehr eng getak-tet ist . Aber angesichts der angespannten Flüchtlingssi-tuation, in der wir uns jetzt befinden, müssen wir schnellhandeln . Die Kinder und Jugendlichen brauchen jetzt un-sere Hilfe und nicht erst in ein bis zwei Jahren .
Abwarten löst die Probleme nicht, sondern macht sie täg-lich größer .Letztendlich haben wir alle dasselbe Ziel und – dasmöchte ich betonen – auch die Pflicht, etwas zu tun. DieUN-Kinderrechtskonvention gibt vor, dass für alle Kin-der, egal welcher Herkunft, gleiches Recht gilt . LassenSie uns deshalb parteiübergreifend dafür sorgen, denKindern und Jugendlichen, die in großer Not und unterunfassbaren Umständen zu uns fliehen, die hier alleinesind, in einem fremden Land mit einer fremden Kulturund Sprache, und die zum Teil traumatisiert sind, so gutzu helfen, wie wir können .
Es geht darum, dass wir ihnen einen neue Heimat bie-ten, eine neue Perspektive, dass wir ihnen vom ersten Tagnicht nur eine gute Unterbringung, sondern auch Wärmeund Schutz bieten, dass wir ihnen durch Spracherwerbund Bildungszugang die Chance auf Beteiligung undeine bessere Zukunft fernab von Krieg und Gewalt er-möglichen und dass sie Zugang zu den Angeboten derKinder- und Jugendhilfe wie Kita und Sport haben . Füreine gelingende Integration ist das das A und O, liebeKolleginnen und Kollegen .Diese Kinder und Jugendlichen haben ihr ganzes Le-ben noch vor sich, und es liegt in unserer Hand, dass sieeine gute Grundlage mit auf den Weg bekommen . Einesolche Grundlage kann auch woanders als in Hamburgoder München gelegt werden .
Dabei müssen wir darauf achten, dass die bewährtenStandards der Kinder- und Jugendhilfe eingehalten wer-den . Wenn die personellen und räumlichen Kapazitätenerschöpft sind, wenn keine Feldbetten und keine Sani-täranlagen mehr zur Verfügung stehen, wenn Turnhallenüberbelegt sind, dann gibt es schlicht und einfach keinenPlatz . Wie soll das Kindeswohl dort geachtet werden?
Ich finde, das ist keine Situation, die einem Flüchtlingzugemutet werden darf . Wir kommen daher um eine Ver-teilung nicht herum .Liebe Kolleginnen und Kollegen, Integration ist an-strengend und ein langwieriger Prozess . Ich kenne dasaus meiner über 20-jährigen Erfahrung mit Integrations-politik in meinem Wahlkreis sehr gut . Aber sie lohnt sich .Sie lohnt sich für junge Menschen; denn sie bekommeneine Perspektive . Sie lohnt sich für uns; denn was wirheute geben, bekommen wir morgen zurück . Wir als Ge-sellschaft haben es in unserer Hand, diesen Kindern undJugendlichen eine echte Zukunft zu geben .Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnenund Kollegen, ich bin stolz auf unser Land . Ich bin ge-rührt über die große Hilfsbereitschaft, die wir tagtäglichsehen . Ich bin dankbar für jeden Haupt- und Ehrenamtli-chen, der sich engagiert . Jetzt müssen wir dafür sorgen,dass die Willkommenskultur nicht in Unmut umschlägt .
Es ist ganz wichtig, alle mitzunehmen, sowohl diejeni-gen, die zu uns kommen, als auch diejenigen, die bereitshier sind . Nur gemeinsam können wir Verbesserungenerreichen, zusammen mit den Kommunen, den Ländern,den Verbänden, den Helfern und der Bevölkerung . Wirstehen vor einer großen gesamtgesellschaftlichen Her-ausforderung . Die Zukunft der Kinder und Jugendlichen
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ist auch unsere Zukunft, oder, um es abschließend mitden Worten von Johannes Rau zu sagen:Es kommt nicht auf die Herkunft des einzelnen an,sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunftgewinnen .Lassen Sie uns also gemeinsam die Zukunft mitgestalten!Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist Beate Walter-
Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Ich bin seit
langem in Bayern unterwegs und schaue mir die Lage
vor Ort an, in Flüchtlingsunterkünften, in den Land-
ratsämtern und auch in den Jugendämtern . Die Überfor-
derung ist groß . Ich denke an Passau, Rosenheim und
München – Sie alle kennen die Bilder .
In Bayern kommen besonders viele Flüchtlinge an,
darunter viele Minderjährige und auch unbegleitete Min-
derjährige . Bisher waren die Kommunen damit ziemlich
alleingelassen; das muss man so sagen . Das alles war nur
zu stemmen durch einen fast überirdischen Einsatz so-
wohl der Landräte als auch der Kommunalpolitikerinnen
und -politiker als auch der Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter in den Jugendämtern und den Landratsämtern . Vor
allem ist es den vielen Ehrenamtlichen zu verdanken,
dass man das überhaupt stemmen konnte .
Man darf die Kommunen damit nicht länger allein-
lassen . Ich wollte das heute eigentlich fordern . Aber der
gestrige Gipfel hat viele Verbesserungen beschlossen,
auch dank der grün regierten Bundesländer, die viele
gute Dinge hineinverhandelt haben . Verbesserungen sind
also in Sicht . So werden zum Beispiel 350 Millionen
Euro für die Versorgung von unbegleiteten minderjähri-
gen Flüchtlingen bereitgestellt . Wie lange das Geld rei-
chen wird, werden wir sehen . Es ist auf jeden Fall gut,
dass jetzt etwas passiert .
Wir fordern in unserem Antrag – ich muss ein biss-
chen schneller reden, weil mir von meiner Redezeit eine
Minute abgezogen wird, weil Frau Dörner ihre überzo-
gen hat –, dass vor einer eventuellen Verteilung eine in-
tensive Feststellung des Bedarfs durchgeführt wird . Wir
wollen, dass in keinem Fall verteilt wird, wenn es Ver-
dachtsmomente auf Sklavenhandel, Zwangsprostitution
oder Sklaverei gibt . Wir wollen auch nicht, dass verteilt
wird, wenn der Verdacht besteht, dass die betreffenden
Kinder oder Jugendlichen Kindersoldaten waren . Diese
Kinder haben genug durchgemacht . Sie brauchen Ruhe,
sie müssen erst einmal ankommen . Dafür braucht es Zeit,
Empathie, viel Sensibilität und viel Professionalität .
Eine überhastete Verteilung würde jedes Vertrauen die-
ser jungen Menschen in ihre Betreuer und Betreuerinnen,
aber auch in unsere Behörden erschüttern, was eine Zu-
sammenarbeit sehr erschweren würde .
Vergessen wir den zentralen Punkt nicht, den uns die
UN-Kinderrechtskonvention vorgibt . Wir müssen die
Kinder und Jugendlichen – Frau Dörner hat das schon
gesagt – an solchen Entscheidungen beteiligen . Wir müs-
sen sie auch fragen, welches Reiseziel sie haben und wa-
rum . Es macht auch gar keinen Sinn, Kinder, die mona-
telang allein auf Reisen waren, irgendwo hinzubringen .
Sie bleiben dort nicht, sie gehen weg und fallen in die
Illegalität . Sie können dann nicht mehr unter den Schutz
der Jugendhilfe des Staates gestellt werden und sind dann
ganz allein . Deswegen muss man mit ihnen auch verhan-
deln .
Es ist natürlich klar, dass wir nicht jeden Wunsch die-
ser Flüchtlinge erfüllen können; das ist nicht möglich .
Aber wir können ihre Bedürfnisse ernst nehmen und ge-
nau hinschauen, was mit ihnen passiert ist und warum sie
einen Wunsch äußern . Das ist sehr wichtig .
Insofern bitte ich Sie von der Regierungskoalition:
Geben Sie sich einen Ruck, und schauen Sie sich Ihre
Gesetzesvorhaben noch einmal an, damit Sie wirklich
das Kindeswohl und nicht die Finanzen in den Mittel-
punkt stellen .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist für die CDU/
CSU-Fraktion Martin Patzelt .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Besucher auf den Tribünen! Ich muss erst einmalzu Ihnen sagen, Herr Müller: Sie haben die Dinge nachmeinem Ermessen auf den Kopf gestellt .
Es ging ausdrücklich um das Kindeswohl . Im Interesseder jungen Menschen mussten wir dringend eine Umver-teilung in die Länder hinein vornehmen . Denn nicht etwadie bayerische Staatsregierung oder Kommunen in Bay-ern – wir haben es gerade gehört – haben versagt,
Gülistan Yüksel
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sondern der unerwartete Ansturm junger ausländischerMenschen in einer solchen Größenordnung verlangte,dass wir sie in ihrem Interesse an Orten unterbringen, woman ihren Bedürfnissen besser gerecht werden kann .
die mit Realitätsbezug und Augenmaß ihre tatsächlichenMöglichkeiten sehen .Hier warne ich davor, dass wir uns Illusionen hinge-ben . Das, was hier uns als Gesellschaft abverlangt wird,wird angesichts der schon jetzt nicht ausreichenden An-zahl an Erzieherinnen und Sozialpädagogen überhauptnicht in der Form zu stemmen sein, wie es eigentlichgemacht werden müsste . Ich höre schon, wie wieder ge-sagt wird: Hier versagt die öffentliche Jugendhilfe . Hierversagen die Länder . Hier versagt der Bund . – Es geht umRessourcen, die wir niemals einplanen konnten und dieerst einmal nicht da sind . Schon jetzt sucht man in ganzDeutschland dringend nach Erzieherinnen .Wenn der Verband der Psychotherapeuten fordert,dass schwer traumatisierte junge Menschen eine entspre-chende psychotherapeutische Hilfe bekommen sollen,dann frage ich: Wo leben denn diejenigen, die das for-dern? Sie alle wissen doch, dass es Wartelisten gibt unddass man jahrelang auf eine Behandlung warten muss .Schon jetzt können sie deutsche Patienten nicht kurzfris-tig behandeln .
Woher sollen also die notwendigen Kapazitäten kom-men? Wir müssen uns jetzt gemeinsam bemühen, ent-sprechende Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wirdie Bedarfe stillen . Aber im Moment müssen wir uns an-ders behelfen .Deshalb sage ich: Wir brauchen auch eine starke Zivil-gesellschaft . Wir können es nicht der Politik und den Ju-gendämtern überlassen, zu bestimmen, wie es den jungenMenschen geht . Wenn das Willkommen verklungen ist,wenn die Träume der jungen Menschen vom Paradies derDesillusion gewichen sind, wenn die jungen Menschenin der Wirklichkeit in Deutschland angekommen sind,dann brauchen sie vor allen Dingen Hilfe, Begleitung,Nähe von Menschen . Die jungen Menschen haben Hun-ger auf Leben, und sie haben sich uns anvertraut . Ich bintief überzeugt, dass Integration, von der jetzt so viel ge-sprochen wird, die gefordert wird – meist einseitig vondenen, die zu uns kommen –, nicht einseitig funktioniert .Ich glaube, dass auch wir uns bemühen müssen, diesenIntegrationsprozess miteinander zu gehen .
Integration bedarf auch immer der Partizipation . Wennwir die Menschen nicht an unserem Leben teilhaben las-sen, dann ist die ganze Integrationsforderung eine Uto-pie .
Auf noch etwas möchte ich aufmerksam machen . Wirmüssen darauf bedacht sein, dass wir Identitäten schüt-zen . Es kann nicht sein, dass die jungen Menschen, diezu uns kommen, von ihrer Vergangenheit, von ihren Wur-zeln, aus denen sie hervorgekommen sind, abgeschnittenwerden . Kindeswohl verlangt danach, dass sie ihr bis-heriges Leben – das Milieu, aus dem sie kommen, ihrelieben Menschen, auch ihr Vaterland – in ihrem Bewusst-Martin Patzelt
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sein behalten können, schon deshalb, weil wir gar nichtwissen, ob sie nicht eines Tages zurückgehen werden –hoffentlich als ausgebildete Facharbeiter, vielleicht sogarmit einem Studium . Wir kennen ihre Zukunft nicht . Aberunabhängig davon, auch wenn sie hierbleiben: Sie habenWurzeln, und die dürfen wir ihnen nicht nehmen .
Herr Kollege Patzelt, darf ich kurz unterbrechen? –
Der Kollege Mutlu möchte Ihnen gern eine Frage stellen .
Wenn es wesentlich ist, gern .
Bitte schön .
Danke, Frau Präsidentin . Danke, Herr Kollege, dass
Sie die Frage zulassen . Zunächst einmal möchte ich Ih-
nen ganz persönlich für Ihren Einsatz und für den Einsatz
Ihrer Frau danken . Sie haben, wie wir über die Medien
erfahren haben, Flüchtlinge bei sich aufgenommen . Trotz
Anfeindungen, trotz Angriffen haben Sie daran festge-
halten .
Das ist absolut vorbildhaft .
Sie haben ja jetzt über die letzten Monate am eigenen
Leib Erfahrungen gemacht und wissen, wie es ist, einen
Flüchtling aufzunehmen – trotz dieser Anfeindungen in
Ihrer Gemeinde, von manchen, Gott sei Dank nicht von
allen . Sind Sie denn aufgrund der Erfahrungen, die Sie
jetzt gesammelt haben, der Meinung, dass das, was gera-
de als Vorhaben vor uns liegt, hinreichend ist? Was wür-
den Sie auf die Frage sagen, wo ergänzt werden kann, wo
Verbesserungsbedarf besteht?
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Frage . Ich wer-de nämlich in meinen weiteren Ausführungen genau dar-auf Antwort geben . Ich bedanke mich auch für die Wert-schätzung, wobei ich mir immer bewusst bin, dass das,was wir als Familie tun, nicht verallgemeinerbar ist . Dasist bei der Herkunft und dem Lebenskontext eine spe-zifische Möglichkeit. Wir haben an Lebensqualität nurgewonnen, Gott sei Dank; es hätte auch anders kommenkönnen . Aber das will ich nun wirklich nicht als Maßstabfür andere setzen . – Danke schön .
Ich sprach davon, dass wir die Identitäten der jun-gen Menschen schützen müssen . Ich meine auch, dasswir achtgeben müssen, dass keine Parallelwelten entste-hen . Wenn wir das nicht begleiten und wenn wir nichtaufmerksam sind und wenn wir vor allen Dingen keinePartizipation an unserem Leben zulassen, an unseren ge-sellschaftlichen Aktivitäten in Vereinen, Sportvereinen,Chören, Schulklassen, dann werden ganz schnell, wieman das auch jetzt schon in Deutschland in bestimmtenGroßstädten erleben kann, Parallelwelten entstehen, dieuns und den Menschen, die zu uns gekommen sind, aufDauer eher schaden als nützen werden .Wir dürfen keine Angst davor haben, dass auch wir unsin diesem Prozess verändern werden . Wenn wir uns aufdie jungen Menschen, auf die Fremden, einlassen, wennwir mit ihnen leben – jetzt weiß ich auch, wovon ichspreche –, dann wird das auch uns wahrnehmbare Verän-derungen abfordern . Davor brauchen wir keine Angst zuhaben . Jeder, der Kinder hat, weiß, dass er, wenn die Kin-der groß sind, nicht mehr der junge Vater oder die jungeMutter sein wird, der oder die er einmal war . Wir könnenuns bei unseren Kindern eigentlich bedanken, dass sieuns immer in ihre Lebenswelt mit hineinnehmen und unsÄlteren damit auch Lernmöglichkeiten schenken .Ich denke, dass sich in Deutschland so etwas wie eineWillkommenseuphorie – so würde ich fast sagen – ab-spielt, was auch schön und wunderbar zu erleben ist,weil es eine so wertvolle und gute Stimmung sowie eingutes Zeichen für unser Land ist . Aber wenn diese Eu-phorie verflogen ist, müssen wir über Sachmittel hinausvor allen Dingen Beziehungsangebote machen . Die Ju-gendämter haben dafür Sorge zu tragen, dass die sachli-che Ausstattung gut ist, ausreichend ist . Und wenn mandas vergleicht: Kinder aus manchen Milieus in Deutsch-land haben lange nicht den gleichen materiellen Standardfür ihre Lebensführung wie die Kinder, die durch dieJugendhilfe betreut werden . Das müssen die Jugendäm-ter verantworten . Aber keine Politik, kein Amt kann dasgeben, was uns Menschen so nottut, nämlich lebendigeBeziehungen . Das auch als Antwort auf Ihre Frage .
Wir sollten deswegen von hier und überall in unserenWahlkreisen das Signal aussenden: Liebe Freunde, liebeVerwandte, liebe Kolleginnen und Kollegen, kümmerteuch um diese jungen Menschen! Sucht euch einen aus,nehmt ihn mit in eure Familien, nehmt ihn mit in eureBekanntenkreise, nehmt ihn mit auf eure Reisen! Ladetihn ein! Ermuntern wir unsere Kinder, zu sagen: Wir ha-ben jetzt neue Mitbürgerinnen und Mitbürger . – Ich waram Dienstag bei einer Versammlung, auch wieder zudiesem Thema, und da haben mich Kinder aus mehrerenSchulklassen gefragt: Wie können wir helfen? Was kön-nen wir denen geben? – Ich habe geantwortet: Eure Ge-meinschaft, eure Nähe, eure Anteilnahme . Spielt, singt,wandert, redet einfach miteinander! Macht miteinanderAusflüge! Hört einander zu!Wir erleben in Deutschland eine zunehmende Angst –das nehme ich jedenfalls so wahr – vor dem, was ange-sichts der Menge der Flüchtlinge auf uns zukommt . Die-se Angst lähmt uns; diese Angst verführt uns vielleichtdazu, in extreme Positionen zu verfallen, von denen wirgar nicht wissen, wohin sie unser Land bringen könnten .Angst ist ein schlechter Berater; Angst macht blind .
Ich wünsche mir, unserem Land und auch denen, diezu uns gekommen sind, sehr, dass wir miteinander einenWeg gehen, auf dem wir die Angst verlieren . Denn beimGehen kann man die Angst verlieren .Martin Patzelt
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Letzten Endes nehmen wir auch durch die Beispiele,die wir geben, die Ängstlichen in unserem Lande mit, in-dem wir ihnen zeigen: Es geht doch! – Auf einmal habenFlüchtlinge ein Gesicht . Sie haben einen Namen . Dannwerden sie auf einmal sogar angenehme Zeitgenossen .Ich könnte Ihnen dazu ein Beispiel erzählen . Ein Nachbarkam zu uns und sagte: Jetzt möchte ich die beiden mal zumir einladen; ich möchte ihnen beibringen, wie man ei-nen Computer bedient . – Er hat ihnen gestern den Schlüs-sel von seiner Wohnung gegeben und gesagt: Ihr könntimmer in meine Wohnung gehen, wenn ihr am Computerarbeiten wollt .Da entwickeln sich Dinge, die man vorher nie ge-glaubt hätte, weil Menschen ein Beispiel sehen und sichdadurch ermutigt fühlen und keine Angst mehr haben .Wir haben Angst um unsere Identität . Deutschland wirdaus diesem Prozess nicht wieder so hervorgehen, wiees hineingegangen ist . Aber das muss nicht zu unseremSchaden sein .
Herr Kollege Patzelt, ich muss Sie jetzt trotzdem bit-
ten, zum Schluss zu kommen .
Noch zwei kurze Sätze, in denen ich eine Lebenser-
fahrung mitteilen möchte, die viele machen und die man
auch immer wieder auf Kalenderblättern liest: Es gibt
nirgendwo Glück zu kaufen; Glück entsteht aus Begeg-
nung . Versagen wir uns doch nicht dieses Glück, Men-
schen zu begegnen, die uns besonders brauchen .
Vielen Dank . – Der nächste Redner ist der Kollege
Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Werte Zuschauer! Als letzter Redner in
dieser Debatte zu Wort zu kommen, hat den großen Vor-
teil, dass man noch kurz auf einige vorherige Ausführun-
gen eingehen kann .
Herr Müller – Sie schauen zu Recht her –, natürlich
muss ich Ihren Wortbeitrag abermals, wie bereits gestern
Nachmittag, kritisieren . Sie haben ja ausgeführt, was an
diesem Gesetz noch verbesserungsfähig ist . Wir werden
am 12 . Oktober eine Anhörung dazu haben . Aber ich will
Ihnen eines mitteilen – Frau Präsidentin, wenn Sie die
Uhr nicht laufen lassen, dann darf ich hier unbegrenzt
reden . Darauf wollte ich nur hinweisen .
Gut, ab jetzt laufen meine neun Minuten . Bitte nichts ab-
ziehen!
Also, Herr Müller, ich darf darauf hinweisen – ich
habe mich extra noch bei der Frau Ministerin kundig
gemacht –: Gestern bei der Besprechung im Kanzler-
amt war auch der thüringische Ministerpräsident Bodo
Ramelow dabei . Und ich wünsche mir ausdrücklich, dass
ihm Ihr Redebeitrag zugesandt wird, damit er einmal
beurteilen kann, was Ihre Fraktion im Bundestag zu den
Ergebnissen sagt, die er am Vorabend ausgehandelt hat .
Wir sind froh, dass wir endlich einen guten Kompro-
miss –
Herr Müller möchte mir eine Frage stellen . Ich würde
sie zulassen, Frau Präsidentin .
Herr Müller muss sich richtig melden, damit wir das
hier auch sehen können .
Er hat sich bei mir gemeldet .
Sie würden die Frage zulassen . – Herr Müller, bitte
schön .
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr
Lehrieder . Sie sind ja schneller als das Präsidium . Res-
pekt!
Übrigens höre ich Ihnen immer aufmerksam zu .
Ich will gerne Folgendes von Ihnen wissen – vielleicht
haben Sie schon davon gehört –: Ist Ihnen bekannt – wenn
nicht, ist es Ihnen nach meiner Frage bekannt –, dass die
Thüringer Staatsregierung gestern ihr Einverständnis nur
gegeben hat, damit es überhaupt einen Kompromiss in
der Runde der Ministerpräsidentinnen und Ministerprä-
sidenten gibt, und dass sie ihr Einverständnis unter den
Vorbehalt gestellt hat, dass sie nicht jedem dieser Punkte,
wenn er als Gesetzesvorhaben in den Bundesrat kommt,
zustimmen wird? Ist Ihnen das bekannt?
– Das ist eine Protokollerklärung . Die bezieht sich selbst-
verständlich nicht nur auf die Herkunftsstaaten .
Es geht um die sicheren Herkunftsstaaten . Aber dasändert nichts an der Tatsache, dass Thüringen einer bes-seren Verteilung zugestimmt hat, Herr Müller . Das müs-sen Sie akzeptieren .
Martin Patzelt
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Bodo Ramelow hält diesen Kompromiss für gut in denPunkten, über die wir heute debattieren . Wir debattierenjetzt nicht über das Asylpaket, sondern wir debattierendie Situation der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlin-ge . Den Umgang mit diesen haben Sie in Ihrem Wortbei-trag kritisiert .
Dem gefundenen Kompromiss hat Bodo Ramelow ges-tern sogar ausdrücklich und vernünftigerweise zuge-stimmt . Es gibt ja auch noch ein paar Vernünftige bei denLinken . Man sollte das nicht für möglich halten .
Von daher sind wir froh, dass wir Bodo Ramelow inThüringen haben . Die Frage ist beantwortet . Wie schongesagt: Wir hoffen, dass wir das in den weiteren Beratun-gen gut hinbekommen .Aber noch einmal, Herr Müller: Man sollte bitte nichtalles vermischen . Die Frage der sicheren Herkunftsländermag zu einem Vorbehalt bei Bodo Ramelow geführt ha-ben; das ist kein Thema . Aber die Lösung für die Proble-matik, die wir heute debattieren, begrüßt auch Thüringenausdrücklich, im Übrigen auch Herr Kretschmann ausBaden-Württemberg . Frau Dörner, Frau Rosenheimer,das muss einfach auch gesagt werden .In Anbetracht dessen, was gerade passiert, sind wiralle gefordert, die Kräfte zu bündeln . Wir stehen derzeitvor der größten zentralen Herausforderung unserer Zeit .Es wurde von den Vorrednern bereits darauf hingewie-sen: Alle Probleme, die wir in den letzten Jahren gehabthaben, werden vor dem Hintergrund dieser gesamtgesell-schaftlichen Aufgabe, die jetzt vor uns liegt, relativiert .Ich darf an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklichden Dank an alle wiederholen, die sich hier engagieren .Ich beginne mit den Ehrenamtlichen: Es gibt eineVielzahl von Ehrenamtlichen, die in Notunterkünftenund in Flüchtlingsunterkünften Aufnahme überhaupt erstmöglich machen . Ja, es kommen unwahrscheinlich vieleMenschen zu uns . Die Menschen, die zu uns kommen,müssen wir ordnungsgemäß, human und fair behandeln .Darum bemühen wir uns .Ich darf mich bedanken beim THW, beim RotenKreuz, bei den Maltesern, bei den Johannitern, bei derPolizei, bei den Kommunen und bei den Bürgermeistern,die schweren Herzens manche Turnhalle zur Verfügunggestellt haben und jetzt die Gratwanderung schaffenmüssen zwischen Schulsport einerseits und der Schaf-fung von Unterkunftsmöglichkeiten andererseits . Wirhaben sehr viele tüchtige Bürgermeister landauf, landab .Sie dürfen versichert sein: Was Bayern angeht, weiß ich,wovon ich rede .Darüber hinaus sind es natürlich die Länder, die tollmitziehen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben . Mit demgestrigen Kompromiss haben sie 1 Milliarde Euro extrabekommen, damit sie ihren Aufgaben nachkommen kön-nen .Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an derwir als Bund uns beteiligen, an der sich die Länder betei-ligen, an der sich die Kommunen beteiligen, an der sichdie Ehrenamtlichen beteiligen . Nur so kann es gelingen .Dafür ein herzliches Wort des Dankes an alle, die daraneinen Anteil haben: an die Bürgermeister, die Landtags-kollegen, die Ehrenamtlichen des THW und des RotenKreuzes . Herzlichen Dank!
Gleichwohl gebietet es aber auch die Ehrlichkeit, zusagen: Unsere Kapazitäten sind nicht unbegrenzt . Wirmüssen aufpassen und uns fragen: Wie viele Menschenkönnen wir aufnehmen? Wie viele Menschen könnenwir – mit den ganzen Institutionen, die ich angeführthabe – hier bei uns betreuen, wenn wir ihnen gerechtwerden wollen? Deshalb ist auch der gestern Abend ge-fundene Kompromiss – Herr Müller, man muss sichereHerkunftsländer definieren – durchaus richtig, und es istvertretbar, zu sagen: Jawohl, wir werden die Kapazitä-ten, über die unsere Gesellschaft verfügt – und die sindsehr groß –, auf die beschränken müssen, die tatsäch-lich Kriegsflüchtlinge sind, die tatsächlich aus Not zuuns kommen und die tatsächlich um ihr Leben fürchten .Es gibt viele Beispiele . Viele von uns kennen aus ihrenWahlkreisen syrische oder afghanische Flüchtlinge .
Wir sind gefordert, an einer gelingenden Integrati-on mitzuwirken . Herr Kollege Patzelt hat das völlig zuRecht gesagt: Die jungen Menschen kommen zu unsnach wochen-, monate- oder zum Teil jahrelanger Flucht .Sie wähnen sich am Ziel . Daher dürfen wir sie nicht insNichts fallen lassen . Wir müssen sie betreuen . Wir müs-sen sie auffangen . Wenn uns diese Integration nicht ge-lingt, drohen uns in mehreren Jahren große gesellschaft-liche Probleme . Deshalb ist richtig, dass wir uns mit demGesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgungund Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicherauf die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flücht-linge besonders konzentrieren .Alle unter 18-Jährigen, die alleine zu uns kommen,verdienen besonderen Schutz . Das ist aufwendig; daskostet viel Geld . Ja, das ist richtig . Aber wenn uns dasnicht gelingt und wir diese Gruppe Jugendlicher alsverlorene Generation Salafisten oder anderen radikalenKräften zutreiben lassen, dann haben wir etwas falsch ge-macht . Deshalb ist dieses Gesetz, zu dem wir am 12 . Ok-tober eine Anhörung durchführen, das wir am 14 . Okto-ber im Ausschuss abschließend beraten werden und dasam 15 . oder 16 . Oktober in zweiter und dritter Lesungbereits den Bundestag verlassen soll, ebenso der richtigeWeg wie die Kompromisse, die wir gestern Abend ge-funden haben .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unabhängigvon der noch ungeklärten Frage, wie auch die europäi-Paul Lehrieder
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schen Nachbarländer die Verantwortung, die wir als EUgemeinsam tragen, wahrnehmen können, gehen wir dieHerausforderungen in unserem Lande an . Es wurde be-reits ausgeführt, dass wir die bei uns lebenden Menschenanständig und menschenwürdig behandeln müssen . Sohat es unser Fraktionsvorsitzender Volker Kauder gesternin seiner Bundestagsrede ausdrücklich formuliert .Wir müssen insbesondere diejenigen Kinder und Ju-gendlichen schützen, die ohne ihre Eltern zu uns kom-men . Dass sie die Kraft dazu haben – Frau Ministerin hatdarauf hingewiesen –, kann man sich oft nicht vorstellen .Wie kann ein 10-, 12-jähriges Kind Tausende Kilometermit Schlepperbooten über das Mittelmeer den Weg zu unsschaffen? Woher haben sie die Kraft? – Wir müssen alsobesonders diejenigen Kinder und Jugendlichen schützen,die ihre Eltern während der Flucht verloren oder aus denAugen verloren haben, deren Eltern auf der Flucht ver-storben sind, vielleicht getötet worden sind .Gleichzeitig stellt die stetig steigende Anzahl der aus-ländischen Kinder und Jugendlichen, die ohne ihre Fami-lie nach Deutschland fliehen, unsere Kommunen vor Ortvor erhebliche, auch finanzielle, Herausforderungen undBelastungen . Da nach geltendem Recht das Jugendamt,in dessen Zuständigkeitsbereich die Einreise des unbe-gleiteten ausländischen Minderjährigen fällt, zu dessenInobhutnahme verpflichtet ist, stellt das viele Kommu-nen – ich denke insbesondere an Rosenheim, an Passau,aber auch an Hamburg – vor große Probleme . Insbeson-dere die vorgenannten Einreiseknotenpunkte haben ihreKapazitätsgrenzen erreicht .Es stellt sich nun die Frage, ob ein überlastetes Ju-gendamt im Grenzbereich besser für die Betreuung derJugendlichen geeignet ist als ein Jugendamt im Lan-desinneren, wo freie Kapazitäten sind und man sichmit Engagement, mit Verve und mit Leidenschaft bes-ser um die Jugendlichen kümmern kann . So ist die Zahlder unbegleiteten minderjährigen Ausländer, die nachDeutschland gekommen sind, seit 2010 um 133 Prozentgestiegen . In Anbetracht der aktuellen Lage müssen wirdiesbezüglich mit einem weiteren Anstieg der Zahlenrechnen .In Bayern befanden sich mit über 10 000 Minderjäh-rigen derart viele unbegleitete Kinder und Jugendliche inder Obhut der bayerischen Jugendämter, dass teilweiseeine dem Kindeswohl entsprechende Unterbringung,Versorgung und Betreuung der Kinder und Jugendlichennicht mehr ausreichend gewährleistet werden kann . Abergerade dies, meine sehr geehrten Damen und Herren,muss sichergestellt werden . Auch wenn ich aus Bayernkomme, will ich dem Freistaat Bayern ganz bewusst dan-ken, dass man es in diesem Jahr geschafft hat, dass manin Vorleistung getreten ist in der Erwartung, dass es ei-nen vernünftigen finanziellen Kompromiss als Ausgleichdurch den Bund geben wird . Das ist ja auch nicht selbst-verständlich . Bayern hat vieles geleistet . HerzlichenDank an die Jugendämter, die in den letzten Monatenbesonders betroffen waren .
Vielen Dank . – Der Kollege Lehrieder hat schon da-rauf hingewiesen, dass er der letzte Redner zu diesemPaul Lehrieder
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Tagesordnungspunkt war . Damit sind wir am Schluss derAussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/5921 und 18/5932 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . –Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind . Dann sinddie Überweisungen so beschlossen .Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 23 b:– Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Luise Amtsberg, KordulaSchulz-Asche, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPsychotherapeutische und psychosoziale Ver-sorgung von Asylsuchenden und FlüchtlingenverbessernDrucksache 18/6067Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich sehe, Siesind damit einverstanden .Dann eröffne ich die Aussprache . Das Wort hat dieKollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grü-nen .
Liebe Frau Vorsitzende! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Wir diskutieren heute zum zweiten Mal über dieSituation von Flüchtlingen . Zu jungen Menschen auf derFlucht haben wir gerade eben viel gehört . Wir alle wis-sen, dass es darauf ankommt und dass es auch eine unse-rer größten humanitären Pflichten ist, dass wir Flüchtlin-gen zuallererst den Schutz gewähren, den sie brauchen,ihnen Sicherheit geben, ihnen medizinische Versorgungund auch psychotherapeutische Versorgung zukommenlassen .
Es ist sehr deutlich geworden, dass da, gerade was die Si-tuation der unbegleiteten Jugendlichen anbelangt, großerHandlungsbedarf besteht .Insgesamt müssen wir davon ausgehen, dass circa40 Prozent aller Flüchtlinge, die hierhergekommen sind,mit schweren posttraumatischen Belastungsstörungen zukämpfen haben, 20 Prozent mit sehr schweren und ein-schränkenden Belastungsstörungen, dass 40 Prozent derKinder, die hierhergekommen sind, psychisch auffälligund wiederum 20 Prozent schwer traumatisiert sind . Dasalles bedeutet: Es ist eine große Herausforderung, da diewirklich passende Hilfe bereitzustellen, die die betroffe-nen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen brauchen . –Das wollte ich vorausschicken .Wir müssen sagen: Da waren wir auch schon in derVergangenheit nicht besonders gut . Schon vor der großenFlüchtlingswelle gab es deutliche Defizite in der psy-chotherapeutischen und psychosozialen Versorgung vonFlüchtlingen und Flüchtlingskindern hier in Deutsch-land . Das müssen wir erst einmal festhalten und es jetztals ganz klaren Auftrag verstehen, die Situation wirklichzu verbessern .
Wir müssen diese Aufgabe nicht nur aus humanitärenGründen annehmen; wir sind es auch unserer Bevölke-rung insgesamt schuldig . Auf der einen Seite geht es umenorm viel ehrenamtliches Engagement im Rahmen derBegleitung von betroffenen Flüchtlingen bei dem Ver-such, die neue Situation zu bewältigen und den Weg inunsere Gesellschaft hinzubekommen . Auf der anderenSeite dürfen wir nicht zulassen, dass eine Konkurrenzentsteht zwischen denen aus der deutschen Bevölkerung,die nach Versorgung suchen, und denen, die notfallge-trieben unser System brauchen, die Versorgung, Unter-stützung und medizinische Hilfe brauchen . Deshalb müs-sen wir handeln .
Unser Antrag geht zwar auf bestehende Defizite zu-rück, die schon vor der Flüchtlingswelle bekannt waren;aber er hat jetzt natürlich eine besondere Brisanz erhal-ten .Ich muss sagen: Der Asylkompromiss von gesternAbend beinhaltet zwar einen Teilbereich dessen, was hiernötig ist, nämlich die Sonderermächtigung von Psycho-therapeuten für die Versorgung von besonders Schutzbe-dürftigen; aber Sie sollten noch einmal genau hinschau-en . Das, was jetzt vorliegt, springt zu kurz .
Wir werden mehr machen müssen . Es darf nicht sein,dass wir unsere Hilfe nur auf diejenigen beschränken,die länger als 15 Monate in Deutschland sind und einesichere Bleibeperspektive haben . Vielmehr müssen wiralle einbeziehen, die akuten und absehbaren Bedarf ha-ben, damit auf der einen Seite keine Chronifizierung undauf der anderen Seite keine schwerwiegenden, auf einemTrauma basierenden Erkrankungen entstehen . Sonst wer-den die Menschen später in der Notfallambulanz einerPsychiatrie oder eines Uniklinikums landen, weil im Vor-feld nicht genug getan worden ist . Da müssen wir gegen-steuern .
Eine besondere Aufgabe ist die Finanzierung der psy-chosozialen Zentren für Folteropfer und Traumatisierte .Es gibt circa 33 solcher Einrichtungen hier in Deutsch-land. Die meisten arbeiten hauptsächlich spendenfinan-ziert . Nur zu einem kleinen Teil werden sie durch Bund,Länder oder Kommunen finanziert. Diese Zentren sindderzeit die Hauptanlaufstellen für die betroffenen Perso-nengruppen . Deshalb müssen wir bei der FinanzierungVizepräsidentin Ulla Schmidt
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nachsteuern . Es kann nicht sein, dass ein so überauswichtiges Angebot von Spendenaufkommen abhängigist . Hier müssen wir umsteuern .Sie müssen für eine regelhafte Finanzierung dieserZentren sorgen, damit diese ihrer übergreifenden Arbeitnachkommen können . Gerade dort wird besondere Ar-beit geleistet . Dort gibt es Fachleute für den Umgang mitdieser besonderen Art der Traumatisierung . Sie kennendie psychosoziale Situation der Flüchtlinge . Deshalb istes wichtig, diese völlig unterfinanzierten Zentren in denBlick zu nehmen und dafür zu sorgen, dass sie auf Dau-er bestehen und ihrer wichtigen Aufgabe nachkommenkönnen .
Zum Schluss möchte ich folgenden Punkt ansprechen:In Ihrer Vereinbarung von gestern Abend steht, dass dieEingrenzung der Leistungen gemäß §§ 4 und 6 des Asyl-bewerberleistungsgesetzes bestehen bleibt . Ich bitte Sie:Schauen Sie sich einmal an, was das eigentlich heißt . Esliegt eine Studie vor, die deutlich zeigt: Die Regelversor-gung ist preiswerter und besser . Wir müssen die verrück-te Unterscheidung aufgeben nach Flüchtlingen, die inErstaufnahmeeinrichtungen untergebracht sind, Flücht-lingen, die – nach der neuen Richtlinie – nach einem hal-ben Jahr in einen Zwischenbereich fallen, wo sie über dieKommunen versorgt werden müssen, und Flüchtlingen,die nach 15 Monaten in die Regelversorgung aufgenom-men werden . Überdenken Sie Ihre Position! ÜberlegenSie sich: Was bedeutet das an bürokratischem Aufwand,an Intransparenz und Leistungseinbrüchen? Das könnenwir uns gerade in Anbetracht der großen Flüchtlingszah-len nicht mehr erlauben .
In unserem Antrag schlagen wir eine Möglichkeit vor,wie mit diesem Problem umgegangen werden könnte;unabhängig von dem gesamten Asylpaket, das in dennächsten zwei Wochen geschnürt werden soll . Bitte über-denken Sie noch einmal die Situation, die wir zu stem-men haben . Zeigen Sie sich offen, und gehen Sie konst-ruktiv mit unseren Vorschlägen um .Danke schön .
Vielen Dank . – Als Nächste hat Ute Bertram, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Wir alle sind sehr berührt von den Flüchtlingsströmen,die aus Syrien, dem Irak und auch aus Afrika, vor allemaus Eritrea, zu uns kommen . 70 Jahre nach Ende desZweiten Weltkrieges, der Flucht und Vertreibung in bisdahin unvorstellbarer Größe hervorgebracht hat, wird dieErinnerung an diese katastrophalen Zeiten gleichsam ak-tualisiert . Wir stehen als Bundesrepublik Deutschland inder Pflicht, die gegenwärtigen Zustände zu bewältigen.Was da noch auf uns zukommt, können wir bestenfallserahnen .Unser ganzes Staatswesen ist gefordert: Bund, Länderund Kommunen; aber das reicht noch nicht . Wir benöti-gen die Hilfe aus allen Ecken der Gesellschaft: von derprofessionellen Unterstützung bewährter Großorganisa-tionen wie dem Deutschen Roten Kreuz und dem Tech-nischen Hilfswerk bis hin zur nachbarschaftlichen Hilfe .Die Flüchtlinge haben Schlimmes erlebt . Oft sind siegeradezu der Hölle entronnen . Da stellt sich nicht nurdie Frage nach Essen, Trinken und Unterkunft, sondernda stellen sich auch diese Fragen: Wie verwundet sindihre Seelen? Wie verarbeiten diese Menschen das Erleb-te? Und vor allem: Wie groß ist überhaupt der Bedarf aneiner medizinischen und psychotherapeutischen Versor-gung? Und: Was kann tatsächlich geleistet werden?Die Bundespsychotherapeutenkammer hat hierzuvor wenigen Tagen einige Zahlen veröffentlicht, die zu-mindest erahnen lassen, mit welchen Dimensionen desSchreckens wir es zu tun haben . So sind 70 Prozent dernun hier lebenden Erwachsenen und 41 Prozent der Kin-der und Jugendlichen in ihren Heimatländern oder aufder Flucht Zeugen von Gewalt geworden . 55 Prozentder Erwachsenen haben selbst Gewalt erfahren, bei denKindern sind es 15 Prozent . Folter haben 43 Prozentder Erwachsenen erlitten . Von Gefangenschaft waren35 Prozent der Erwachsenen betroffen . 20 Prozent derErwachsenen waren Opfer von Vergewaltigungen, erlit-ten sexuellen Missbrauch . 5 Prozent der Kinder warenebenfalls davon betroffen .In Deutschland werden momentan bis zu 4 000 Flücht-linge in psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Fol-teropfer behandelt . Bundesweit gibt es 23 dieser Zentren,in denen etwa 130 Psychotherapeuten arbeiten . Alleinim Berliner Zentrum wird die Betreuung in 22 Sprachenabgedeckt . Der Arbeit, die hier geleistet wird, zolle ichmeine Hochachtung und meinen Respekt .
Die in diesen psychosozialen Zentren arbeitendenTherapeuten sind geradezu massenweise konfrontiert mitder sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung,deren Symptome sich in Albträumen, Konzentrations-störungen, Schreckhaftigkeit und emotionaler Taubheitäußern . Zu den Symptomen gehören auch sogenannteFlashbacks, in denen sich Angstzustände, bis zur To-desangst, zeigen, wenn schmerzliche Erinnerungenwach werden . Nicht zuletzt sind Depressionen unter denFlüchtlingen weit verbreitet . Unsere besondere Aufmerk-samkeit muss der schnellen und konsequenten Behand-lung und Betreuung von Kindern gelten; denn hier be-steht in erhöhtem Maße die Gefahr einer Chronifizierungvon traumabedingten Störungen .
Maria Klein-Schmeink
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Die Bundespsychotherapeutenkammer schätzt, dassmindestens jeder zweite Flüchtling unter einer psychi-schen Störung leidet . Sollte sich bewahrheiten, dass in2015 fast 800 000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen,hätten wir einen Personenkreis von 400 000 Flüchtlingen,der zumindest aus der Perspektive der Bundespsychothe-rapeutenkammer psychotherapeutisch zu versorgen wäre .Aus dem Bereich der Ärztlichen Psychotherapeuten istdemgegenüber zu hören, dass bei Flüchtlingen Depressi-onen keineswegs häufiger auftreten als in Gesellschaftenin Friedenszeiten . Wie dem auch sei, eine grundsätzlicheTatsache kann weder geleugnet noch kurzfristig behobenwerden: In der jetzigen Situation, die durch eine anhal-tend steigende Flüchtlingszahl gekennzeichnet ist, kannauch die psychiatrische Versorgung zunächst nur eineAkutversorgung sein .
Wir wissen nicht, ob, wie lange und in welchemAusmaß der Zustrom der Flüchtlinge anhalten wird; damüssen wir uns alle ehrlich machen . Ich halte es deshalbfür nicht angebracht, wenn Berufsverbände der Psycho-therapeuten die jetzige Situation zum Anlass nehmen,eine Debatte über die allgemeine psychotherapeutischeVersorgungslage loszutreten . Darüber haben wir schonvor der Sommerpause im Zusammenhang mit demGKV-Versorgungsstrukturgesetz ausgiebig diskutiert .Wir wissen alle, dass es keinen Mangel an ausgebildetenPsychotherapeuten gibt . Es gibt hinsichtlich der Versor-gung aber bekanntlich eine ungleiche Verteilung, die zuüberversorgten und unterversorgten Regionen geführthat . Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle, dessen tiefere Ur-sache in der demografischen Entwicklung liegt. Dieserstrukturellen Problemlage stellen wir uns, aber bitte nichtim Zusammenhang mit der Akutversorgung von Flücht-lingen .Ich hätte es übrigens begrüßt, wenn Berufsverbändeder Psychotherapeuten an ihre Mitglieder appelliert hät-ten, sich für die Versorgung von Flüchtlingen unbürokra-tisch zur Verfügung zu stellen . Die entsprechende Erklä-rung der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung vongestern, dass die Zahnärzteschaft zu einer schnellen undunbürokratischen Versorgung der zahlreichen Flüchtlin-ge bereit ist, hat mir jedenfalls sehr gefallen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Flüchtlinge werden,sobald sie sich 15 Monate in Deutschland aufhalten, imKrankheitsfall über das System der gesetzlichen Kran-kenversicherung versorgt . Nun wird kritisiert, dass indiesem System nicht genügend Ärzte und Psychothera-peuten für die psychiatrische bzw . psychotherapeutischeBehandlung besonders schutzbedürftiger und traumati-sierter Flüchtlinge zur Verfügung stehen .
Eine begonnene Versorgung durch die Therapeuten inden psychosozialen Zentren könne nicht fortgesetzt wer-den, wenn diese Therapeuten keine Kassenzulassung be-säßen. Diese Situation ist häufig gegeben, weil in vielenNGOs ausgebildete Psychotherapeuten beschäftigt sind,die aber keine Kassenzulassung haben .In der Tat ist es ein grundsätzliches Problem, wenn imLaufe einer psychotherapeutischen Versorgung der The-rapeut gewechselt werden muss . Dies gefährdet oft denbis dahin erreichten Behandlungserfolg und ist deshalbnach Möglichkeit zu vermeiden .Deshalb begrüßt meine Fraktion die Absicht der Bun-desregierung, dem Problem durch eine Änderung derZulassungsverordnung für Vertragsärzte der GKV abzu-helfen und eine bruchlose Versorgung zu sichern, wennnach 15 Monaten Leistungen nach dem GKV-Kataloganstehen . Dies soll dadurch geschehen, dass die Zulas-sungsausschüsse verpflichtet werden, Ärzte, Psychothe-rapeuten und Einrichtungen wie die psychosozialen Zen-tren auf Antrag zu ermächtigen, einen eingeschränkten,besonders schutzbedürftigen Personenkreis psychothe-rapeutisch und psychiatrisch zu versorgen . Dieser Per-sonenkreis soll beschränkt sein auf Empfänger laufenderLeistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes,die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere For-men psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlit-ten haben . Auf diese Weise können begonnene Therapiender Akutversorgung von den behandelnden Therapeutenauch dann fortgesetzt werden, wenn sie bislang nicht zu-gelassen worden sind . So wird die Kontinuität der Be-handlung gewährleistet .Damit stellt sich die Bundesregierung auch ihrer Ver-antwortung aus Artikel 19 der EU-Aufnahmerichtlinie,der eine psychologische Behandlung in besonderer Wei-se einfordert . Nebenbei kommt diese Regelung auch derallgemeinen vertragsärztlichen und vertragspsychothe-rapeutischen Versorgung der Versicherten in der GKVzugute; denn die regulär im GKV-System tätigen Leis-tungserbringer werden nicht angezapft .Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Akutver-sorgung von Flüchtlingen ist schon für sich genommeneine außerordentliche Herausforderung für alle Beteilig-ten . Hinzu kommen die sprachlichen Hürden und kultu-rellen Barrieren .Bei der Kommunikation stellt sich zunächst die quan-titative Frage nach Dolmetschern . Vielfach wird es auchnotwendig sein, auf eine Drittsprache – vielleicht Spa-nisch, Englisch oder Französisch – auszuweichen . Dabeibesteht naturgemäß das permanente Risiko von Missver-ständnissen .Vor allem aber besteht in einer psychotherapeutischenBehandlung fremdsprachiger Flüchtlinge das grund-legende Problem, dass es sich bei einem Dolmetscherimmer um eine dritte Person handelt . Ob und inwieweitdiese als Vertrauensperson von Patient und Therapeutanerkannt wird, kann sich immer nur von Fall zu Fallerweisen . Das gilt oft auch dann, wenn Sprachmittler Fa-milienangehörige sind .Auch die bereits erwähnten kulturellen Barrierendürfen nicht unterschätzt werden . Die Offenlegung per-sönlichster Gedanken und Empfindungen als Opfer vonGewalt gegenüber einem Therapeuten, der zugleich einUnbekannter, ein Fremder ist, stellt schon für sich ge-Ute Bertram
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nommen eine Hürde dar, die nicht jeder Mensch über-winden kann oder will . Dies gilt umso mehr für Men-schen aus einem Kulturkreis, in dem die Offenlegungvon persönlichen oder intimen Darstellungen weitgehendtabuisiert ist .
Frau Kollegin, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu
kommen .
Ja . Ich bin gleich beim Schluss .
Nach Ablauf der Redezeit ist keine Zwischenfrage
mehr erlaubt .
Ich will mit diesen Hinweisen auf keinen Fall den
Eindruck erwecken, die anstehenden Aufgaben für eine
psychotherapeutische Betreuung der Flüchtlinge könnten
nicht bewältigt werden . Sie können bewältigt werden,
wenn es uns gelingt, die hierfür vorhandenen Kräfte ko-
ordiniert und möglichst frei von bürokratischen Hemm-
nissen einzusetzen . Dazu müssen die Stellen von Bund,
Ländern und Kommunen sowie die gesellschaftlichen
Ressourcen engagiert zusammenarbeiten und neben den
anerkannten Kompetenzen beim Organisieren auch die
Tugend der Improvisation reichlich bedienen .
Frau Kollegin Bertram, das geht jetzt zulasten der Re-
dezeit Ihrer Kollegin .
Jetzt ist die Zeit zupackenden Helfens . Wir werden
daraus lernen können . Darüber diskutieren wir danach .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächste hat Kathrin Vogler, Frak-
tion Die Linke, das Wort .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Gäste oben auf der Tribüne! Ges-tern hat die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsiden-ten der Länder eine Vereinbarung zur Gesundheitskartefür Flüchtlinge getroffen . Wir als Linke begrüßen sehr,dass sie eingeführt wird . Dazu haben wir ja hier im Hausschon vor drei Monaten einen Antrag eingebracht . Leiderkommt sie zu spät und vor allem nicht überall . Denn esgibt gerade in der Union noch Leute, denen sogar das zuviel ist . Ich zitiere:Hätte jeder Asylbewerber Anspruch auf eine solcheKarte, würde dies eine fatale Sogwirkung vor allemauf dem Westbalkan haben .Das meint Georg Nüßlein, stellvertretender Vorsitzenderder Unionsfraktion, laut Handelsblatt .
Weiter meint er:Die Gesundheitskarte steht im Ausland für die guteGesundheitsversorgung in Deutschland . Es bestehtmithin die Gefahr, dass Menschen sich nur deswe-gen nach Deutschland auf den Weg machen .
Da kann man doch nur sagen: Ja, geht es noch? Das istzynisch, absurd, unsinnig .
Die Bundeskanzlerin hat gestern in ihrer Regierungs-erklärung erstaunlich klar über Fluchtursachen gespro-chen . Man konnte in ihren Worten sogar so etwas wiemenschliches Mitgefühl für die Flüchtlinge aus Eritreaund Syrien hören . Vielleicht ist ja die Kanzlerin in derLage, ihren Fraktionskollegen zu erklären, dass dieseMenschen, die alles aufgeben, die Haus und Hof verlas-sen, die ihre Eltern verlassen, die ihr Leben riskieren, umes zu retten, ganz bestimmt nicht nach Deutschland kom-men, um sich in Günzburg in einer Arztpraxis anzustel-len . Es wäre wirklich zu wünschen, dass der Kanzlerindies gelingt .
Auch Herr Dr . Nüßlein weiß es besser . In demselbenArtikel gibt er zu, dass Asylbewerber und Flüchtlingeauch mit der Karte noch lange nicht vollen Zugang zuunserem Gesundheitssystem haben .Es ist doch so: Bislang muss ein Flüchtling in unseremLand zunächst ins Rathaus laufen und dort einem Sach-bearbeiter oder einer Sachbearbeiterin seine Beschwer-den schildern . Dieser Mensch, meistens ohne medizini-sche Ausbildung, entscheidet dann, ob der Kranke einenBehandlungsschein erhält und zum Arzt gehen darf . DieKosten für die Behandlung übernimmt dann die Kom-mune, allerdings nur für akute, lebensbedrohliche undschmerzhafte Erkrankungen sowie für Impfungen undSchwangerschaftsvorsorge .Stellen wir uns das einmal praktisch vor . Der sieben-jährige Achmed A . aus Syrien bekommt am Freitagmit-tag schlimmes Zahnweh . Leider hat das Sozialamt schongeschlossen . Bis zum Montagmorgen bekommt das Kindalso keinen Behandlungsschein . Ein Wochenende mitUte Bertram
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einem weinenden Kind in einer Flüchtlingsunterkunft –dafür, dass das so bleibt, kämpft die CSU . Na sauber!
Brigitte B . aus Nigeria leidet an Bluthochdruck . Dasist weder schmerzhaft noch akut lebensbedrohlich . DerBeamte hält daher die Ausstellung eines Behandlungs-scheins für unnötig . Das Risiko, dass die Frau einenSchlaganfall bekommt, ist ihm nicht bewusst .Schon aus diesen Beispielen wird deutlich, dass esnotwendig ist, dass jeder kranke Mensch unmittelbarzum Arzt gehen kann . Nur Ärztinnen und Ärzte könnenbeurteilen, ob eine Erkrankung behandlungsbedürftigist . Dafür sind sie ausgebildet . Für die Kommunen istdie Karte angesichts wachsender Flüchtlingszahlen eineErleichterung . Denn bei mehr Flüchtlingen müssten sieauch mehr Scheine ausstellen . Deswegen unterstütztdie Linke alle Bemühungen, die Gesundheitskarte fürFlüchtlinge flächendeckend einzuführen.
Wir sagen aber auch: Die Kosten dafür muss der Bundübernehmen,
und keinesfalls dürfen sie den Versicherten in der gesetz-lichen Krankenversicherung durch die Hintertür aufge-bürdet werden .
Außerdem verlangt die Linke, das Menschenrechtauf Gesundheit auch für Flüchtlinge und Asylbewerberumzusetzen . Denn wenn jemand eine chronische oderpsychische Erkrankung hat, dann muss diese ebenso be-handelt werden wie ein akuter Schmerz, und zwar unab-hängig vom Aufenthaltsstatus .
Alles andere verstößt unserer Auffassung nach gegen dieMenschenrechte, gegen die Prinzipien der Humanitätund gegen die medizinische Ethik .Ich freue mich, dass auch die Grünen genau dies inihrem Antrag fordern, darüber hinaus weitere diskussi-onswürdige Vorschläge machen, etwa zu Dolmetscher-diensten, zur psychotherapeutischen Versorgung, zurStärkung der Strukturen in der psychosozialen Betreuungusw . usf ., und sich auch mit der Frage der traumatisiertenKinder in Flüchtlingsunterkünften auseinandersetzen .Ich finde, in den Beratungen über die Anträge, die imAusschuss anstehen, sollten wir gemeinsam versuchen,die Union wieder auf den Boden der Menschlichkeit undder christlichen Nächstenliebe zurückzuholen . Darauffreue ich mich .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Hilde
Mattheis das Wort .
Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Ja, Zahlen sind hier schon viele genannt worden .800 000 bis 1 Million Menschen suchen bei uns Schutz,Unterkunft und auch gesundheitliche Versorgung . Hinterjeder Zahl steht ein Mensch, mit all seinen Ängsten, mitall seinen Bedürfnissen und vor allen Dingen auch mitder Hoffnung, hier bei uns gut unterzukommen und Hilfezu bekommen .Viele Ehrenamtliche leisten diese Hilfe . Ich bin froh,dass wir durch die Einigung von gestern Abend auch imGesundheitsbereich einige Maßnahmen auf den Wegbringen, die ich „Basisvereinbarungen“ nenne, Basisver-einbarungen, bei denen wir – neben den Problemen derErstunterkunft und der weiteren Unterkünfte, den Ver-sorgungsnöten wie ausreichend Essen, ausreichend Klei-dung und Bewegungsmöglichkeiten – auch den wich-tigen Punkt der gesundheitlichen Versorgung im Blickhaben . Diesen Blick, der sich in vier Punkten zusammen-fassen lässt, möchte ich gerne beleuchten .Als ersten Punkt will ich die Gesundheitskarte anspre-chen. Ich finde, dazu ist schon einiges Richtiges gesagtworden . Die Gesundheitskarte ist ein Instrument, dasZugänge erleichtert, nicht Leistungen ausweitet . LassenSie uns die Gesundheitskarte also nicht als Instrumentmissbrauchen, um irgendwelche Aggressionen zu schü-ren, sondern sie als das gebrauchen, was sie tatsächlichist . Sie ermöglicht ohne Bürokratie niedrigschwelligeZugänge zu einem Leistungssystem, das nach dem Asyl-bewerberleistungsgesetz klare Leistungsansprüche um-reißt .
Das kann man gut oder schlecht finden; aber sie ist einInstrument . Von daher, glaube ich, sollten wir uns hier ei-nig sein: Wir begrüßen das Instrument der Gesundheits-karte und sagen: Ja, in den Fällen, die Sie, Frau Vogler,gerade beschrieben haben, muss es möglich sein, dieseniedrigschwelligen Zugänge zu ermöglichen . – Das istder erste Punkt .
Der zweite Punkt betrifft die Ausweitung der Schutz-impfungen . Wir haben erlebt, dass im letzten Winter dieMasern ausgebrochen sind . Daher brauchen wir geeigne-te Möglichkeiten, um die Impfquote zu erhöhen . In derUmsetzung wird sich zeigen, wo wir weitere Hilfestel-lung leisten müssen .Der dritte wichtige Punkt ist: Lasst uns, bitte schön,all diejenigen, die eine Qualifikation im Gesundheits-bereich haben und bereits in ihrem Herkunftsland aktiveinen entsprechenden Beruf ausgeübt haben, auch hierbei uns einspannen . Wir sollten diese Menschen bitten,Kathrin Vogler
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bei uns Hilfe zu leisten, damit wir keine Dolmetscher-probleme haben und wir eine Unterstützung bekommen,was den direkten kulturellen Zugang anbelangt . Das fän-de ich gut . Vielleicht sollte man das sogar ausweiten . Anden Universitäten gibt es ja viele Arabisch sprechendeStudierende . Vielleicht besteht die Möglichkeit, auch sieeinzubeziehen .Auch auf dieser Seite gibt es ein großesehrenamtliches Engagement .Sie heben In Ihrem Antrag einen vierten Punkt heraus,der uns natürlich alle beschäftigt: Ja, es gibt keine Tei-lung von Körper und Seele . Die Menschen kommen mitkörperlichen, aber auch mit seelischen Problemen zu uns .Hier denken wir natürlich insbesondere an die Kinderund Minderjährigen, die unsere Unterstützung brauchen .Dabei sollten wir uns auf den Sach- und Fachverstandder Psychotherapeuten und Psychiater verlassen, die unsVorschläge gemacht haben, und zwar auch über die Kas-senzulassung hinaus .Wir alle haben sicherlich in gewisser Weise Kontaktzu den entsprechenden Zentren – ich selbst bin Mitgliedim Förderverein des Behandlungszentrums für Folterop-fer Ulm – und wissen, welch wichtige Arbeit sie leisten .Sie sind für die Bewältigung der vor uns stehenden Her-ausforderungen ein wichtiger und zentraler Baustein . Daes aber nur circa 24 dieser Zentren gibt, erreichen sie wo-möglich nicht alle Flüchtlinge . Deswegen ist es wichtig,auch die Angebote der Kammern anzunehmen, die unsvorschlagen: Lasst uns doch ein E-Learning-Programmauflegen, mit dem wir Ehrenamtliche schulen, sodass siepsychische Probleme erkennen, wenn sie vorliegen . –Die 2 Millionen Euro, die dafür aufzuwenden sind, sindangesichts der vorhandenen Problematik sicher als über-schaubar zu bewerten . Die Kammern schlagen auch vor:Lasst uns wesentlich stärker eine Therapieform anwen-den, die die Menschen nicht über Sprache, sondern überAugenbewegungen erreicht . – Das kann man in dieserPhase für die Problembewältigung sicherlich aufgreifen .All das muss nun gebündelt und organisiert werden .Uns als SPD beschäftigt dies sehr stark, weil wir denBereich der Gesundheit als sehr wichtig für die Befind-lichkeit, den Austausch und die Integration der Men-schen in unsere Gesellschaft ansehen . Wir wollen, dassdie Organisation über die Taskforce etwas konzentriertergestaltet wird . Man darf sich zum Beispiel bei der Lö-sung der Problematik, woher man fahrbare Röntgenge-räte für den Einsatz in den Ländern bekommt, nicht aufPrivatinitiativen verlassen; das muss vielmehr zentralgesteuert werden . Deshalb haben wir den Anspruch andie Bundesebene, auch an das Bundesinnenministerium,dass die Taskforce des Bundes diese Dinge ein Stückweit stärker und zentraler organisiert . Daneben müssendie Taskforces der Länder für die Weitergabe an die ent-sprechenden Stellen sorgen; denn das Ehrenamt mussunterstützt werden . Wir müssen auf politischer Ebenefür die entsprechende Organisation und die notwendigenRahmenbedingungen sorgen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Emmi Zeulner .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Menschen in unserem Land fordern zuRecht Antworten vonseiten der Politik auf die aktuellenEntwicklungen . Für mich ist dabei das Wichtigste, dassdie Politik die Realitäten anerkennt . Selbstverständlichhat jede Opposition das Recht, in ihren Anträgen Maxi-malforderungen zu formulieren; aber die Parteien, die inpolitischer Verantwortung stehen, müssen sich an denRealitäten messen lassen . Für mich ist Fakt, dass es fürDeutschland in Bezug auf den Zustrom von Flüchtlingeneine Belastungsobergrenze gibt, und ich bitte, das auchanzuerkennen . Fakt ist auch, dass die Landratsämter unddie Polizei in unserem Land nicht erst gestern an ihre Be-lastungsgrenze gestoßen sind .
Fakt ist weiterhin, dass die Ehrenamtlichen alles ge-ben; aber auch sie sind keine unerschöpfliche Ressour-ce . Wenn Flüchtlinge verteilt werden, geschieht es nichtselten – wie bei uns in Bayern, in München –, dass dereigentlich für 15 Uhr angekündigte Bus mit hundertFlüchtlingen erst zu später Stunde in der Nacht eintrifftoder dass der Bus plötzlich da ist und das Rote Kreuzsehr schnell reagieren muss . Die Ehrenamtlichen, dieversuchen, diese Aufgabe zu bewältigen, haben aber auchnoch einen Beruf, dem sie nachgehen müssen . Ein Kran-kenpfleger, der ehrenamtlich beim Roten Kreuz arbeitet,hat bis spät in die Nacht hinein Flüchtlinge zu untersu-chen . Trotzdem muss er um 5 Uhr in der Früh aufstehenund im Krankenhaus arbeiten . Deswegen stellt sich fürmich die Frage: Wie lange können wir diese Solidaritätstrapazieren?
Wir haben aktuell die Situation – es ist mir wichtig, daszu schildern –, dass ein Flüchtling mit Krätze schnell zubehandeln ist . Er wird in der Praxis geduscht, eingecremtund für einen Tag isoliert . Wenn jetzt aber der Winterkommt, werden die Erstuntersuchungen andere Krank-heitsbilder ergeben .
Das ist für unser System wirklich eine sehr große Her-ausforderung .Ich bin überzeugt, dass wir das schaffen können . Eswird aber nicht so reibungslos vonstattengehen, wie sichdas manche vielleicht vorstellen . Bereits jetzt ist es so,dass wir in vielen Bereichen Abstriche machen, auch wasdie innere Sicherheit angeht . Da machen wir Kompro-misse .
Hilde Mattheis
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Es ist mir aber wichtig, zu sagen, dass wir – entgegenden Unterstellungen, die hier laut geworden sind – jedenFlüchtling, der bei uns ankommt, im Notfall natürlich gutversorgen .Liebe Kollegen vom BÜNDNIS 90/Die Grünen, IhrAntrag zur Verbesserung der psychotherapeutischenund psychosozialen Versorgung von Asylsuchendenund Flüchtlingen in allen Ehren: Die Forderung, dass„Schutzsuchende innerhalb von höchstens 15 Tagennach Antragstellung in einer ihnen verständlichen Spra-che umfassende Information und Beratung über ihreAnsprüche nach der Aufnahmerichtlinie erhalten undhierbei insbesondere über ihr Recht auf angemessenemedizinische, psychotherapeutische und psychosozialeVersorgung informiert werden“, hört sich sehr gut an, istaber natürlich in der jetzigen Situation in gewisser Weiseetwas realitätsfern .
Frau Kollegin Zeulner, die Kollegin Klein-Schmeink
würde Ihnen gerne eine Frage stellen . Lassen Sie das zu?
Selbstverständlich .
Bitte schön .
Frau Zeulner, ist Ihnen bekannt, dass der Passus wort-
gleich in der EU-Richtlinie enthalten ist, die wir bereits
seit August 2015 zu erfüllen haben – wir begehen im
Moment sogar Vertragsverletzungen –, und dass genau
diese Regelung hier in Kürze sowieso beschlossen wer-
den muss? Natürlich müssen wir Sorge tragen, dass die
Flüchtlinge nicht nur Schutz und Unterstützung bzw . ge-
sundheitliche Versorgung erhalten, sondern auch wissen,
dass sie überhaupt Anspruch auf diese Hilfen haben . Ge-
nau das würde damit geregelt . Das steht eins zu eins so
in der EU-Richtlinie . Insofern entspricht diese Passage
schlichtweg der Umsetzung schon vorhandenen Rechts
in deutsches Recht .
Ja, es geht eben darum, dass wir das in die Praxis um-setzen . In der Richtlinie steht es sehr gut, auch in IhremAntrag steht es sehr gut . Wenn wir das beschließen, wirdes auch im Beschluss entsprechend gut stehen . Wir brau-chen aber eine Umsetzung in der Praxis . Deshalb habeich zu Beginn meiner Rede dafür plädiert, dass wir dieRealitäten einfach ein bisschen mehr anerkennen . ImMoment stehen wir einfach vor anderen großen Heraus-forderungen, sodass dies in gewisser Weise schon einStück weit in den Hintergrund rückt . Das sind die Reali-täten, die ich bitte anzuerkennen .
Sie haben für alle Flüchtlinge – egal ob es sich umeinen Wirtschaftsflüchtling oder um einen tatsächlichVerfolgten handelt – ab dem ersten Tag ihrer Ankunft ei-nen uneingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystemgefordert . Das kann ich einfach nicht unterstützen . Auchwenn die Kollegin von der Linken etwas anderes behaup-tet: Selbstverständlich brächte das weitere Pull-Effektemit sich, und genau diese Pull-Effekte gilt es zu vermei-den . Auch wenn in Gesundheitsdebatten immer wiedersuggeriert wird, die Gesundheitsversorgung in Deutsch-land sei nicht so gut und so attraktiv, ist festzustellen,dass die Leute aufgrund unserer im internationalen Ver-gleich guten Gesundheitsversorgung zu uns kommen .
Ich mache niemandem einen Vorwurf; aber es ist auchhier Teil der Realität, dass es einen weiteren Pull-Effektgäbe, wenn wir sagen würden: Jeder, der zu uns kommt,hat ab dem ersten Tag die gleichen Ansprüche wie eingesetzlich Krankenversicherter .
– Doch, das stimmt . Wir würden innerhalb der Europä-ischen Union ein weiteres Gefälle bei der Versorgungschaffen . Wenn wir in Zukunft eine faire Verteilung vonFlüchtlingen innerhalb der Europäischen Union anstre-ben, dann müssen wir auch unsere Standards angleichen .
Nur dann können wir sicher sein, dass die Verteilungfunktioniert und die Flüchtlinge bzw . anerkannten Asyl-bewerber in dem ihnen zugewiesenen Land bleiben .Sie haben weiter die Ausgabe einer Gesundheitskartegefordert . Diese Entscheidung wird den Ländern über-lassen .
– Ja, weil wir darin einen falschen Anreiz sehen . Daswürde in gewisser Weise auch einen Verlust an Sicherheitin unserem Land bedeuten .
– Nein . Aber wenn sich ein Flüchtling beim Landratsamtmelden muss, besteht die Möglichkeit, noch einmal zukontrollieren: Wer ist da, und wo genau befindet er sichgerade?
Emmi Zeulner
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Wir in Bayern, um das noch einmal deutlich zu sagen,werden die Gesundheitskarte nicht einführen . Aber wirleben in einem föderalen System, und das hat uns so starkgemacht .
Deswegen gilt in einem Stadtstaat wie Bremen anderesals in einem Flächenstaat wie Bayern .Ich möchte aber auf Folgendes hinweisen: Das baye-rische System hat sich bewährt . In jeder Erstaufnahme-einrichtung sowie in den Notunterkünften gibt es Ärzte-zentren und Konsiliardienste, die für die psychiatrischeBetreuung zuständig sind .
Wenn eine weitere fachliche Expertise gefordert ist, er-folgt natürlich eine Überweisung zum Facharzt .Auch ich erkenne die Realitäten an und sehe, dasswir aufgrund der steigenden Zahl an Flüchtlingen ei-nen weiteren Bedarf haben, was die psychotherapeuti-sche und psychiatrische Behandlung angeht . Deswegenunterstütze ich den Vorschlag der Bundesregierung, dieZulassungsverordnung für Vertragsärzte zu ändern undeine sichere, zeitnahe und kontinuierliche psychothera-peutische und psychiatrische Behandlung von Flüchtlin-gen zu gewährleisten . Auch die Zusicherung, das Ange-bot an Personal im medizinischen System zu erweitern,muss mit Leben erfüllt werden . Das wird schwer genugwerden . Ich halte den vorliegenden Vorschlag für eineseriöse und machbare Antwort auf die aktuellen Heraus-forderungen . Er zeichnet sich durch eine gewisse Nach-haltigkeit, Professionalität und – diesen Begriff darf manan dieser Stelle eigentlich nicht in den Mund nehmen; ichmache es trotzdem – Bezahlbarkeit aus .
Über alles Weitere werden wir im Ausschuss diskutie-ren . Wie schon die Kollegin von der SPD gesagt hat: Wirbrauchen pragmatische Lösungen . Davor verschließenwir uns nicht .Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist der Kollege Dirk Heidenblut, SPD-Frak-
tion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich musszugeben: Nach dem letzten Vortrag fällt es mir rechtschwer, meine geplante Rede zu halten . Ich will zumin-dest auf einige Aspekte kurz eingehen .Erstens . Die Tatsache, dass viele Menschen zu unskommen, muss natürlich dazu führen, dass wir einzelneBereiche entlasten . So werden wir etwa 3 000 Polizei-beamte zusätzlich einstellen und Ähnliches mehr . Aberdas darf nicht dazu führen, dass wir Menschen, die Not,Verfolgung und Elend erlebt haben und bei uns Hilfe undZuflucht suchen, durch Zugangsbeschränkungen vor derTür stehen lassen und im Zweifel in Ungarn verhungernlassen .
Das kann nicht das Ergebnis sein . Das ist auch nicht un-sere Politik .Zweitens . Für mich heißt eine Anpassung der Stan-dards zunächst einmal, die Standards nach oben und nichtnach unten anzugleichen . Das heißt, wir sollten alles ver-suchen, die anderen europäischen Länder mitzunehmen .
– Frau Zeulner, ob das die Realität ist oder nicht: Wirmüssen versuchen, Realitäten zu schaffen, und wir habendie Möglichkeit, auf die Realitäten in Europa Einfluss zunehmen .
Oder möchten Sie unterstellen, dass unsere Kanzlerinkeinen Einfluss in Europa hat? Wir sollten also alles tun,um die Standards anzuheben und nicht nach unten zudrücken .Drittens . Lassen Sie mich als energischen Verfechterder elektronischen Gesundheitskarte auch für Flüchtlingeund als jemand, der sich sehr freut, dass das FlächenlandNordrhein-Westfalen diese Einführung sehr konsequentumgesetzt hat, sagen: Sie machen in Bayern einen Fehler,wenn Sie das nicht tun .
Aber das ist Ihnen als Land überlassen .
– Ja, das überlassen wir Ihnen ja auch .
Bayern überlassen wir Ihnen .
– Ja, Entschuldigung: nicht ganz, nur was die Gesund-heitskarte angeht, sonst nicht .Jetzt komme ich aber auf den Antrag zurück. Ich findegut, dass dieser Antrag vorliegt; denn Sie rücken damitEmmi Zeulner
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einen Aspekt in den Fokus, der bei aller berechtigtenKonzentration auf die Frage der Unterbringung, Verpfle-gung und Versorgung nicht verloren gehen darf .
Als Gesundheitspolitiker kann ich nur sagen: Auch dieErstuntersuchung und die Frage der Versorgung vonTraumata oder Traumafolgeschäden gehören zum unmit-telbaren Bedarf . Wenn wir uns in diesem Bereich nichtauf den Weg machen, wird es schwierig .Aufgrund der nahezu unvermeidlichen schrecklichenErfahrungen vieler Flüchtlinge, die zu uns kommen –zum Großteil haben sie Folter, Krieg, Vertreibung undähnliches Leid selbst erlebt, oder sie haben es bei Freun-den, Verwandten oder Begleitern auf der Flucht miter-lebt –, haben viele von ihnen – die Zahlen sind schongenannt worden – mit erheblichen psychischen Proble-men und Traumata zu kämpfen . Wir müssen versuchen,diesen Flüchtlingen die nötige Hilfe zu geben, aber denEindruck vermeiden, bei allen Flüchtlingen sei automa-tisch von einem Trauma auszugehen . Das ist natürlichnicht der Fall; denn es gibt sicherlich viele, die das Er-lebte anders überstehen .Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den psycho-sozialen Zentren danken, die eine Herkulesaufgabe zuleisten haben . Diese Zentren, die – Frau Klein-Schmeinkhat es bereits angesprochen – schon vorher nicht optimalaufgestellt waren, haben jetzt noch ein richtiges Pfunddazubekommen . Ich möchte ihnen ausdrücklich dafürdanken, wie engagiert sie versuchen, zu helfen .
Sie sind in der aktuellen Situation in der Zahl – das machtIhr Antrag deutlich – etwas zu wenige; sie liegen zu weitauseinander, sind unzureichend finanziert und ausgestat-tet . Es gibt zwar weitere Traumazentren und Spezial-einrichtungen – das weiß ich aus meiner Heimatstadt –;aber wir müssen erst einmal die Wege ebnen, damit siemit diesen speziellen Formen der Traumata, die uns inDeutschland glücklicherweise nicht so vertraut sind, um-gehen können .Ich möchte eines deutlich sagen: Die Frage, ob dasTeil der Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerber-leistungsgesetz ist oder nicht, darf hier eigentlich keineRolle spielen; denn wir müssen an dieser Stelle die nöti-ge Hilfe erbringen . Für mich liegt unzweifelhaft ein so-fortiger Behandlungsbedarf vor .
Das wäre nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ebensoder Fall . Die erforderliche Therapie ist aus meiner Sichtsozusagen die OP am akut entzündeten Blinddarm . Auchwenn man das eigentlich nicht vergleichen kann – dassage ich mit Blick auf einen anwesenden Arzt –, gibt esinsofern Ähnlichkeiten, als dass auch eine nicht geleiste-te erforderliche Therapie bedeutet, dass keine Hilfe ge-leistet wird, und wenn wir das laufen lassen, werden dieFolgeschäden exorbitant sein .
Das ist im Übrigen auch für die Helferinnen und Hel-fer sowie für die Lehrer und Erzieher in den Einrich-tungen wichtig. Denn wir haben es hier sehr häufig mitPatientinnen und Patienten zu tun, die von sich aus garkeine Krankheitseinsicht haben, wie man so schön sagt,und womöglich gar nicht zum Arzt gehen würden . Aberden Helferinnen und Helfern fallen die Symptome auf .Den Lehrern und Erziehern fällt auf, wenn etwas nichtstimmt . Sie müssen Unterstützung und Hilfe bekommen,damit sie damit nicht allein gelassen werden und die Pro-bleme am Ende in den Schulen oder Kindergärten lan-den, ohne dass es Möglichkeiten gibt, darauf einzugehen .Jetzt habe ich mich durch die einführenden Worteselbst herausgebracht, Frau Präsidentin . Ich werde versu-chen, zum Schluss zu kommen .Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung . Eines solltenwir immer im Blick behalten: Die Menschen, um die eshier geht, werden wohl bei uns bleiben . Wir werden sieintegrieren müssen, und das wollen wir auch . Deshalb istes grob fahrlässig, im Vorfeld die erkennbar hohen Ri-siken durch Traumatisierung außer Acht zu lassen, stattso schnell wie möglich im Interesse aller Beteiligten undauch unserer Gesellschaft darauf einzugehen .Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam-keit und freue mich auf die weitere Diskussion .
Vielen Dank .Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer inter-fraktionellen Vereinbarung soll die Vorlage auf Druck-sache 18/6067 an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse überwiesen werden . – Ich sehe, Sie sinddamit einverstanden . Dann ist die Überweisung so be-schlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassungdes Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzesan die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richtsDrucksache 18/5923Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GODirk Heidenblut
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich sehe, dassSie damit einverstanden sind .Dann eröffne ich die Aussprache . Das Wort hat derParlamentarische Staatssekretär Dr . Michael Meister .D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben hier ein wirtschaftspolitisch, steuerpolitischund verfassungsrechtlich bedeutsames Thema auf derTagesordnung .
Aus unserer Sicht ist es von zentraler Bedeutung, dasswir die besondere Kultur der Familienunternehmen inDeutschland erhalten . In den Familienunternehmen hatder Inhaber eine personelle Verantwortung gegenüberseinen Arbeitnehmern und dem Geschehen im Unterneh-men . Mit dieser Kultur unterscheiden wir uns wesent-lich von kapitalmarktfinanzierten Ländern wie etwa denVereinigten Staaten oder Großbritannien . Wir wollen inDeutschland bei der nun anstehenden Reform diese Kul-tur erhalten .
Wir sprechen hier über 60 Prozent der Arbeitsplätze undüber mehr als 90 Prozent der Unternehmen in Deutsch-land . Deshalb ist es wirtschaftspolitisch von zentralerBedeutung, wie wir uns an dieser Stelle positionieren .Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass für einFamilienunternehmen die Generationenübergabe eineSchlüsselsituation ist, in der es darum geht, die Weiter-führung des Unternehmens in die Zukunft zu gewähr-leisten . Wir sollten dabei keine Hindernisse in den Wegstellen, sondern darauf achten, dass bestehende Unter-nehmen und Arbeitsplätze sicher in die nächste Generati-on geführt werden können .
Wir werden dabei zwischen der steuerpolitischen Be-trachtung – es handelt sich um einen Vermögenszuflussaufseiten des Erben oder des Beschenkten – und der Ver-antwortung für das Unternehmen und seine Mitarbeiterabwägen . Wir streben eine ausgewogene Lösung an . Ichwill ausdrücklich sagen, dass wir eine verfassungskon-forme Lösung wollen, die diesem Ziel entspricht . UnsereAbsicht ist nicht das Erzielen von Steuermehreinnahmen .Das ist kein Ziel dieses Gesetzes .
Seit 1995 gab es bislang drei Urteile in Karlsruhe zurErbschaft- und Schenkungsteuer . Der Tenor der Urtei-le lautete jedes Mal: „Ja im Grundsatz, aber . . .“ . Beimvierten Anlauf sollten wir uns daher auf eine nachhaltigrechtssichere Lösung konzentrieren und darauf achten,dass das Ganze verfassungskonform ist . Das liegt hoch-gradig auch im Interesse der betreffenden Arbeitnehmerund Unternehmen .
– Diese Aufgabe wird auch durch Zurufe nicht wenigerkomplex .
Selbst das Bundesverfassungsgericht hat zur Erläu-terung der Frage, ob eine Abweichung vom in Artikel 3des Grundgesetzes verankerten Gleichheitsgrundsatz ausGründen des Erhalts von Arbeitsplätzen, Unternehmenund Familienunternehmenskultur erlaubt werden kann,nahezu 300 Randnummern in seinem Urteil gebraucht .Das zeigt die Komplexität der Aufgabe .Wir haben uns vorgenommen, an der bisherigenGrundkonzeption festzuhalten; denn die Grundkonzepti-on der Verschonung ist im Urteil ausdrücklich als zuläs-sig und mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt worden .
Wir werden uns also auf diejenigen Punkte konzentrie-ren, bei denen das Bundesverfassungsgericht Korrektu-ren angemahnt hat . Ich will diese vier Punkte benennen:Der erste Punkt ist die Tatsache, dass mit zunehmenderGröße des Unternehmens und damit mit zunehmenderGröße des Erbes die Abweichung von dem in Artikel 3Absatz 1 des Grundgesetzes verankerten Gleichheits-grundsatz zunimmt . Deshalb muss es ab einer gewissenUnternehmensgröße eine besondere Rechtfertigung ge-ben, um eine Verschonung gewähren zu können, Stich-wort „Bedürfnisprüfung“ .Der zweite Punkt ist die Tatsache, dass eine großeZahl der Unternehmen – weit über 90 Prozent – weni-ger als 20 Mitarbeiter hat . Das Verfassungsgericht hatuns aufgetragen: Wenn der Erhalt der Arbeitsplätze imMittelpunkt steht, dann muss dies auch entsprechend ve-rifiziert werden.Der dritte Punkt ist die Tatsache, dass bisher zugelas-sen ist, dass 50 Prozent des Verwaltungsvermögens derVerschonung unterliegen . Diesen Umfang hat das Verfas-sungsgericht nicht akzeptiert .Der vierte Punkt ist die Tatsache, dass es in unseremLand viele hochintelligente Steuerberater gibt, die immerwieder dazu neigen, bestimmte Gestaltungen auszupro-bieren . Das Verfassungsgericht hat uns beauftragt, solcheGestaltungen, wenn sie erkennbar werden, zu unterbin-den . Dieser Auftrag ist nicht an die Steuerberater gerich-tet, sondern an den Gesetzgeber, der hier vor mir sitzt .Diesen Auftrag sollten wir ernst nehmen .
Mit dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung am8 . Juli 2015 im Kabinett beschlossen hat und der heutein den Deutschen Bundestag eingebracht wird, wird ver-sucht, die wirtschaftspolitische, steuerpolitische und ver-Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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fassungsrechtliche Dimension aufzugreifen . Wie habenwir die vier angemahnten Korrekturen umgesetzt?Wir haben zunächst einmal festgelegt: Als groß gilt,wer dem höchsten Erbschaftsteuersatz unterliegt . So-bald der Wert des begünstigten Vermögens die Grenzevon 26 Millionen übersteigt, haben wir es mit größerenErbschaften zu tun . Wir betrachten dabei nicht die Grö-ße des Unternehmens, sondern den einzelnen Erben oderBeschenkten gemäß dem Unternehmensanteil, der ihmzufließt. Das ist also die vorgeschlagene Grenzgröße.Oberhalb dieser Grenze lassen wir den Erben oder Be-schenkten die Wahl . Sie haben zwei Optionen: Die eineist, eine Bedürfnisprüfung vornehmen zu lassen, die an-dere ist, ein sogenanntes Abschmelzmodell, bei dem derGrad der Verschonung mit zunehmendem Vermögen re-duziert ist, zu wählen . Ich glaube, das ist ein vernünftigesund faires Angebot .Bei dem Verschonungsabschlag, also bei der zwei-ten Option, verringert sich die Verschonung um jeweils1 Prozentpunkt für jede vollen 1,5 Millionen Euro, dieder Wert des begünstigten Vermögens die Grenze von26 Millionen Euro übersteigt . Das geht bis zu einer Grö-ßenordnung von 116 Millionen Euro . Danach gilt einefeste Verschonung . Wir, die Bundesregierung, glauben,dass wir damit den verfassungsrechtlich gezogenen Rah-men ausgeschöpft haben und keinerlei Spielraum be-steht, noch weiter zu gehen .Bei der Bedürfnisprüfung wird die Erbschaftsteuer-schuld festgestellt und erlassen, soweit der Erbe sie nichtaus nichtunternehmerischem Vermögen bzw . der Hälf-te seines nichtunternehmerischen Vermögens bedienenkann .Zum Thema Lohnsumme schlagen wir vor, dass wirbei der bisherigen Konzeption bleiben . Wir haben dieLänder, die Bundestagsfraktionen und auch die Öffent-lichkeit gefragt, ob es einen anderen geeigneten Para-meter gibt, um Kleinstunternehmen, die wir von derLohnsummenprüfung verschonen wollen, abzugrenzen .In der Diskussion der letzten Monate ist deutlich gewor-den, dass der Parameter „Anzahl der Mitarbeiter“ derrichtige ist . Wir haben versucht, die Zählweise etwaspraxisnäher auszugestalten . Wir schlagen jetzt als Grenzedie Anzahl 3 vor, damit wir das Verhältnis von Regel undAusnahme in die richtige Balance bringen . Der Vorwurfdes Bundesverfassungsgerichts lautete ja, dass wir denAusnahmefall zur Regel erklären . Ich glaube, wir müssenden Regelfall zur Regel erklären . Das versuchen wir mitdiesem Ansatz .Weil das Ausscheiden eines Mitarbeiters aus einemkleinen Unternehmen natürlich eine besondere Auswir-kung auf die Prozentzahlen hat, haben wir uns daraufverständigt, die Anforderungen an die Lohnsumme beiUnternehmen mit einer Mitarbeiteranzahl zwischen 4und 15 zu reduzieren . So wird die Wirkung des Ausschei-dens eines Mitarbeiters vernünftig abgebildet .
Ich weiß, dass es an dieser Stelle viele Diskussionen gibt,aber, ich glaube, es ist ein richtiger Ansatz .
Zu den Punkten 3 und 4 des Bundesverfassungsge-richtsurteils: Gestaltungsanfälligkeit, 50 Prozent Verwal-tungsvermögen . Wir schlagen an dieser Stelle vor, einenneuen Ansatz zu wählen, von der seitherigen Definition„Verwaltungsvermögen“ abzugehen und zu einer Defi-nition „Hauptzweck“ zu kommen. Das heißt, wir defi-nieren positiv, was wir verschonen wollen, und treffennicht eine Negativdefinition, in der wir erklären, was wirnicht verschonen wollen. Die Negativdefinition war so,dass wir eine Aufzählung hatten und Ausnahmen von derAufzählung und Rückausnahmen von der Aufzählunggemacht hatten . Ich glaube, es ist vernünftig, hier einenpositiven und geraden Ansatz zu wählen . Das erspartuns möglicherweise, Frau Präsidentin, dass wir in derZukunft noch öfter und länger über die Erbschaftsteuersprechen müssen . Ich hoffe, dass die Kollegen hier imHaus und auch die Kollegen im Bundesrat damit einegute Grundlage für die anstehenden Gesetzesberatungenhaben, und hoffe im Interesse der Unternehmen und derArbeitnehmer in Deutschland, dass wir in dieser Diskus-sion zu einem guten Ergebnis kommen .Vielen Dank .
Vielen Dank, Herr Staatssekretär . – Nächster Redner
ist der Kollege Richard Pitterle, Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Zuhörer auf der Tribüne! Seit vie-len Wochen und Monaten wird die Erbschaftsteuer aufBetriebsvermögen von den Lobbyverbänden als todbrin-gende Gefahr für den Mittelstand gegeißelt . Und ich sageIhnen vorweg: Ich kann dieses Märchen wirklich nichtmehr hören .
Erst einmal zur Erinnerung: Das Bundesverfassungs-gericht hatte Ende letzten Jahres verlangt, die weitrei-chenden Verschonungsregeln für Erbinnen und Erbenvon Unternehmen bei der Erbschaftsteuer einzuschrän-ken . Als dann das erste Eckpunktepapier des Finanzmi-nisteriums zur Erbschaftsteuerreform herauskam, brachein unfassbarer Propagandasturm der Lobbyisten los, derden Teufel in Form des Endes des Mittelstandes an dieWand gemalt hat .Unter diesem Druck ist der Gesetzentwurf entstanden,der heute vor uns liegt . Er besteht letztlich wieder ausgroßzügigen Steuergeschenken an die Unternehmensdy-nastien . Die Linke wird dem nicht zustimmen .Die Geschenke sehen so aus: Wird Betriebsvermö-gen vererbt, winken den Erbinnen und Erben, abhängigvom Vermögenswert und unter der Voraussetzung, dassParl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
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sie das Unternehmen eine bestimmte Zeit weiterführen,satte Verschonungsbeträge . Erbt man zum Beispiel einUnternehmen im Wert von 20 Millionen Euro und führtman den Betrieb über sieben Jahre unter Einhaltung einerbestimmten Lohnsumme für die Beschäftigten weiter, soerhält man einen Abschlag von 100 Prozent .
Man muss also überhaupt keine Erbschaftsteuer zahlen .Erbt man mehr als 26 Millionen Euro, so ist künf-tig eine Verschonungsbedarfsprüfung vorgesehen . Dasheißt, man muss, um in den Genuss einer Verschonung zukommen, darlegen, dass man sozusagen bedürftig ist unddie Steuerschuld nicht begleichen kann . Diese Prüfunghat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil an-gemahnt . Es ist eigentlich schon kaum vorstellbar, dassjemand, der Unternehmensvermögen im Wert von zumBeispiel 70 Millionen Euro erbt, bedürftig sein soll undsich die Zahlung der Erbschaftsteuer nicht leisten kann .Aber jetzt kommt der Hammer: Um den Wohlha-bendsten unserer Gesellschaft noch weiter entgegenzu-kommen, wurde für Erbfälle über dieser besagten Grenzevon 26 Millionen Euro noch das sogenannte Abschmelz-modell eingeführt . Anstatt sich einer Bedarfsprüfung zuunterziehen, können sie alternativ dieses Modell wählenund bekommen bei Fortführung des Unternehmens im-mer noch einen satten Verschonungsabschlag, ganz egal,wie viel sie erben und ob sie überhaupt bedürftig sind .Wer Hartz IV bekommt, wird auf das Gründlichstedurchleuchtet, bevor gezahlt wird, aber bei den Reichenmacht man natürlich wieder eine Ausnahme, und das isteine Frechheit, meine Damen und Herren .
Es ist angesichts der genannten Zahlen auch abso-lut lächerlich, vom Ende des deutschen Mittelstands zusprechen . Das immer wiederkehrende Argument, dassdie Unternehmen und somit die Arbeitsplätze durch dieErbschaftsteuer in ihrer Existenz gefährdet seien, ist anden Haaren herbeigezogen . Folgende Fakten müssen vonallen Beteiligten endlich einmal zur Kenntnis genommenwerden:Erstens . Bis heute ist kein einziger Fall bekannt, indem ein Unternehmen an der Last der Erbschaftsteuerzugrunde gegangen wäre; wohlgemerkt: weder vor nochnach Einführung der Verschonungsregeln im Jahr 2009 .Sollte ein Unternehmen tatsächlich einmal aufgrund an-stehender Erbschaftsteuerzahlungen in Schieflage gera-ten, was – ich muss es einfach wiederholen – noch niepassiert ist, so ließe sich dies ganz einfach über eineStundung, im Extremfall sogar über einen Steuererlassregeln .Zweitens . Die Lobbyisten nutzen hier gern das roman-tische Bild des Familienunternehmens . Es geht aber beider vom Bundesverfassungsgericht angemahnten Ver-schärfung der Verschonungsregeln gar nicht um den klei-nen Bäckereibetrieb oder das in dritter Generation ge-führte Familienhotel, sondern vor allem um schwerreicheUnternehmensdynastien wie die Familie Quandt und Co .Von der von den Lobbyisten verteufelten Bedarfsprü-fung etwa sind nach dem jetzigen Entwurf gerade einmalweniger als 2 Prozent aller Unternehmen in Deutschlandüberhaupt betroffen .Dritter und wichtigster Punkt: Auch hierzulandenimmt die Vermögenskonzentration immer weiter zu .Immer mehr Vermögen befindet sich in immer wenigerHänden . Mittlerweile besitzt 1 Prozent der Bevölkerungin Deutschland ein Drittel des gesamten Vermögens,während die unteren 50 Prozent, also die ärmere Hälfteder Bevölkerung, gerade einmal 1 Prozent des Gesamt-vermögens besitzt . Hier wäre die Erbschaftsteuer einadäquates Mittel, um dieser unheilvollen Entwicklungund der fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft ent-gegenzuwirken . Die derzeitigen Einkünfte aus der Erb-schaftsteuer betragen aber weniger als 1 Prozent desgesamten Steueraufkommens . Da ist noch reichlich Luftnach oben – auch und gerade bei den Erbinnen und Erbengroßer Unternehmensvermögen .Ausgerechnet in der bayerischen Verfassung steht üb-rigens ein Satz, den ich Ihnen an dieser Stelle nicht vor-enthalten will:Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, dieAnsammlung von Riesenvermögen in den Händeneinzelner zu verhindern .Und auch im Grundgesetz steht:Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleichdem Wohle der Allgemeinheit dienen .Ich meine, diese beiden Verfassungsnormen sollten dieRichtschnur für diese Erbschaftsteuerreform sein .
Und wo wir gerade beim Verfassungsrecht sind: MeineDamen und Herren von der Großen Koalition, ich streitezwar gerne mit Ihnen über Ihre unbegründeten Ängstebezüglich des deutschen Mittelstands . Dennoch will ichIhnen den Hinweis geben, dass Ihre ganze Dampfplaude-rei, mit der Sie Ihr Steuergeschenk durchs Plenum wuch-ten wollen,
am Ende umsonst gewesen sein wird . Wenn Sie nämlichdieses Gesetz so verabschieden, wird der nächste Gangnach Karlsruhe nicht lange auf sich warten lassen . DasBundesverfassungsgericht wird das Gesetz allein schonwegen Ihres Abschmelzmodells kassieren, und das zuRecht .An Herrn Schäuble gerichtet, der heute nicht da ist,aber die Diskussion sicherlich vor dem Fernseher ver-folgt: Wenn es um die Sparauflagen für Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer in Griechenland geht, dann zeigenSie unbarmherzige Härte . Nach unten lässt sich immerleicht treten, aber bei der Lobby der Superreichen kni-cken Sie trotz der eindeutigen Hinweise des Bundesver-fassungsgerichts sofort ein. Das finde ich, mit Verlaub,beschämend .
Richard Pitterle
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Ganz besonders bitter ist für mich übrigens der Bei-trag eines Teils der SPD bei diesem Trauerspiel . Ausge-rechnet der SPD-Finanzminister meines Bundeslandeshat Schäuble noch rechts überholt und eine noch umfas-sendere Verschonung der Erbinnen und Erben von Be-triebsvermögen gefordert . Da kann man sich wirklich nurnoch an den Kopf fassen!Ich hoffe, dass wenigstens die Grünen nicht einkni-cken, deren Stimmen für die Verabschiedung des Geset-zes im Bundesrat erforderlich sind .Meine Damen und Herren, wie Sie es auch drehenund wenden – am Ende gibt es für dieses riesige Steu-ergeschenk, das Sie den Unternehmenserbinnen und Un-ternehmenserben machen wollen, keine tragfähige Be-gründung . Das Mantra vom Untergang des Mittelstandsund von massenhafter Arbeitsplatzvernichtung ist derallerletzte Quatsch . Die Verschonungsregelungen gehö-ren ersatzlos gestrichen . Alle, auch die Unternehmenser-binnen und Unternehmenserben, müssen ihren Beitragfür die Gemeinschaft leisten und die ihren Verhältnissenangemessenen Steuern zahlen . Dafür wird zumindest dieLinke kämpfen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Lothar Binding .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauer hier im Haus und auch an den Fernse-hern! Als Dr . Meister vorhin das Modell sehr schön undgeschickt, wie ich fand, erklärt hat, da hat er gesagt, dassbei dem Betrag von 26 Millionen Euro eine Grenze ist .Bei einem geerbten Vermögen bis zu einem Betrag von26 Millionen Euro wird man zu 100 Prozent verschontbzw . kann eine 100-prozentige Verschonung erreichen .Jetzt müssen Sie aufpassen: Jeder hier im Saal odervon den Zuschauern, der mehr als 26 Millionen Euroerbt, wird von dem Betrag, der die Summe von 26 Milli-onen Euro übersteigt, ein klein wenig versteuern müssen .Erst ab einer Summe von weit mehr als 100 MillionenEuro wird die Steuer, die wir uns überlegt haben, dannüberhaupt zur Geltung kommen .
Ich rate Ihnen also jetzt schon einmal zu ein bisschenPanik; denn die Belastung von Vermögen oberhalb von26 Millionen Euro wird Sie alle ereilen .
– Christian von Stetten muss jetzt seine Rede umschrei-ben . – Interessant ist: In der Gemeindeordnung von Ba-den-Württemberg steht, dass man, wenn der Anscheinder Befangenheit besteht, nicht an der Abstimmung teil-nehmen darf . Wer sich jetzt einmal die Berichterstatterder Union anschaut, kann sich seinen Teil denken .
Das Gute an dem Gesetz ist, dass wir die Erbschaft-steuer erhalten; das steht im Koalitionsvertrag . Das istsehr gut . Das Schlechte ist, dass wir die optimale Lö-sung noch nicht gefunden haben . Wir wissen: Der heutevorliegende Gesetzentwurf ist nur ein Entwurf, und wirstecken sehr tief im Suchprozess nach einem Kompro-miss . Vor wenigen Stunden hat ja auch der Bundesratfestgestellt, dass ihm einiges hinsichtlich der Verscho-nung zu weit geht . Es wird also sicher noch ein langerWeg werden . Ich bin gleichwohl optimistisch, dass wireinen Kompromiss finden. Wir kommen von sehr weitauseinanderliegenden Positionen . Das zeigt schon, wiesehr wir uns anstrengen müssen, einen Kompromiss zufinden. Das ist der Charakter einer Großen Koalition, unddas ist auch gut so .Außerdem ist es nicht allein unser Problem . Das Bun-desverfassungsgericht hat ja schon drei Mal Korrekturenverlangt: 1995, 2006 und 2015 . Jedes Mal hielt es die ent-sprechende Regelung für verfassungswidrig . Jetzt gibt esalso eine neue Aufgabe für uns . Daran sieht man schon:Ganz so einfach ist es nicht . Jetzt könnte man natürlichvermuten, dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hat:Ihr belastet den Bürger zu stark . – Denn normalerweisewill das Parlament vom Einzelnen immer zu viel Steuern .Das ist doch die große Idee .
Weit gefehlt! Wir wurden gerügt, weil wir vom Einzel-nen für die Gemeinschaft zu wenig Steuern verlangt ha-ben . Es ist doch eine interessante Beobachtung, dass dasBundesverfassungsgericht sagt, dass wir übervorsichtigwaren . Wir waren sozusagen verfassungswidrig übervor-sichtig . Die Übervorsichtigkeit begann aber erst ab ei-nem bestimmten Vermögen, über das nur die verfügen,die richtig reich sind .Ich finde, das Bundesverfassungsgericht hat eine guteEntscheidung getroffen . Diese zeigt uns auch einen Weg .Wir hatten 2008 die Besteuerung der Vermögensartenam Verkehrswert orientiert, weil die vorherige Rege-lung ungerecht war . Das war sehr gut und hätte auch zuMehreinnahmen führen können . Leider haben wir dieseMehreinnahmen, die wir gut hätten gebrauchen können,sofort dadurch kompensiert, dass wir wieder Begünsti-gungen eingeführt haben . Dadurch wurde dieser schöneEffekt, wenn man so will, wieder ruiniert . Das Dummewar: Das war zu viel des Guten, und zu viel des Guten istdas Schlechte .Die Unternehmer waren jedenfalls hochzufrieden .Das ist auch in Ordnung . Da schließe ich mich auch deman, was Dr . Meister gesagt hat: Natürlich wollen wir diemittelständischen Strukturen in Deutschland erhalten .Natürlich wollen wir Familienunternehmen erhalten . WirRichard Pitterle
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wären doch verrückt, wenn wir die Basis unseres Landeszerstören wollten . Wer will denn das? Diese wollen wirnatürlich erhalten .
Wir wollen aber auch, dass sie sich fair an der Stär-kung der Gemeinschaft beteiligen . Um noch einmalauf die Verantwortung zurückzukommen: Man muss jaschon sagen, dass zwischen den beiden Urteilen die Er-ben von Unternehmen durch eine vorweggenommeneErbfolge mit allen denkbaren Nachhol- und Vorziehef-fekten versucht haben, sich dieser marginalen und lä-cherlichen Steuer zu entziehen und dadurch Steuern inMilliardenhöhe zu sparen . Da meine ich: Wenn wir unsanstrengen, um mittelständische Strukturen und Famili-enunternehmen zu stärken, dann müssen diese sich auchanstrengen, die Gemeinschaft zu stärken . Das ist etwasSymmetrisches .
Was uns an dem Urteil sehr gefreut hat, war, dass derErhalt von Arbeitsplätzen im Interesse des Gemeinwohlsliegt . Das heißt, wir können den Erhalt von Arbeitsplät-zen als Rechtfertigung benutzen, um Unternehmer bzw .Erben von der Steuer zu befreien oder sie zumindest indieser Hinsicht zu privilegieren, wenn sie Arbeitsplätzeschaffen . Ich will trotzdem noch einmal eines erwähnen:Jemand, der einen Arbeitsplatz schafft, schafft diesen janicht, um keine Steuern zahlen zu müssen, sondern erschafft ihn, weil er damit eine Ertragserwartung verbin-det . Denn denjenigen, der einen Arbeitsplatz schafft, umVerluste zu generieren, den möchte ich einmal kennenler-nen . Der Arbeitsplatz ist nicht altruistisch, also selbstlos,geschaffen, sondern zum Zwecke der Gewinnerzielung .Hinsichtlich der Erbschaften haben mich manche Ver-bände sehr irritiert . Das, was vererbt wird, wurde natür-lich zuvor vom Manager und dem Eigner erarbeitet . Eswird aber gelegentlich vergessen, dass bei den richtig di-cken Erbschaften von über 100 Millionen Euro auch dereine oder andere Arbeitnehmer daran beteiligt gewesenist, dieses Vermögen zu schaffen . Auch das muss man inden Blick nehmen, wenn man über Erbschaften redet .
Nachdem wir also bewiesen haben, dass wir verfas-sungswidrig sensibel sind, erschreckt mich – das mussich sagen – die simulierte Panik vieler Unternehmer .Wenn ich sehe, wie dick der Stapel der Gutachten ist, wiedick der Stapel von Briefen ist, die ich von Leuten be-komme, denen es richtig gut geht – deswegen schreibensie gar nicht selber; meistens schreibt uns eine Rechtsan-waltskanzlei –, wie viele Gespräche, Anrufe, Podiums-diskussionen und Besuche wir durchführen mussten, wieextrem hoch der Druck der Verbände, Vorstände, Einzel-personen, Rechtsanwaltsbüros, Berater war, dann glaubeich, dass wir uns davon frei machen müssen . Wir brau-chen eine eigene Meinung hinsichtlich der Besteuerung,
damit sie gleichmäßig, gerecht und in angemessenerHöhe, die wir definieren, erhoben wird, die wir auch ver-antworten können .Wir dürfen nicht vergessen, dass einer nicht anruft –das hat mich total enttäuscht –: Das Gemeinwesen hatüberhaupt nicht angerufen .
Das Gemeinwesen hat nicht gesagt: Ihr müsst mehr Steu-ern einnehmen . Wir sorgen für Verkehrsinfrastruktur, wirsorgen für innere Sicherheit . Wir schaffen eigentlich dieBasis für die Unternehmen, die die Gewinne erzielen, dieanschließend nicht versteuert werden sollen . – Da dasGemeinwesen immer vergisst, anzurufen, müssen insbe-sondere wir uns darum gut kümmern . Ich glaube, wennwir an das Gemeinwesen denken, sind wir mit der Erb-schaftsteuer auf einem guten Weg .Jetzt will ich noch eine Lanze für die Unternehmerbrechen . Mir ist nämlich aufgefallen, dass es eine großeDiskrepanz gibt zwischen dem Bemühen der Verbände,mit uns etwas zu erreichen, und den Einzelunternehmern .Die Einzelunternehmer sagen mir in Gesprächen ganzoft: Ich hätte gerne eine unbürokratische, einfache Steu-er mit einem Satz, den wir aushalten . Lasst das andereweg . – Das wäre eine synthetische Erbschaftsbesteue-rung .
Dann würden die ganzen Sonderregelungen wegfallenkönnen . Was wir leider aus Zeitgründen versäumt haben,ist, die anderen Modelle, die es gibt – vom Sachverstän-digenrat, vom Wissenschaftlichen Beirat beim BMF,vom Bundesverband der Steuerberater und auch vomWirtschaftsministerium des Saarlands – näher zu unter-suchen .
Wir sollten uns etwas stärker darum kümmern; denndann hätten wir eine gute Perspektive für eine Erbschaft-steuer . Wir werden an diesem Entwurf arbeiten . Ich binimmer noch optimistisch, dass wir es schaffen, einen gu-ten Kompromiss zu finden. Daran wollen wir arbeiten.
Vielen Dank . – Als Nächste hat Lisa Paus das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen .
Das ist schwer zu toppen . Allerdings wäre es schön,wenn dem auch Taten folgen würden .
Lothar Binding
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In derbayerischen Verfassung steht ein sehr schöner und klarerSatz:Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, dieAnsammlung von Riesenvermögen in den Händeneinzelner zu verhindern .
Meine lieben Kollegen aus Bayern, Ihnen ist dochauch sonst alles Bayerische so heilig . Daher frage ich Sieheute: Warum halten Sie sich eigentlich mit Ihrer Politiknicht an Ihre eigene Verfassung?
Eines steht außer Frage: Weder die derzeitige verfas-sungswidrige Regelung der Erbschaftsteuer noch der hierheute vorliegende Gesetzentwurf werden diesem Zweckgerecht, meine Damen und Herren . Sie wollen weiter-hin sehr großzügige Befreiungen – das haben wir schongehört – bei einem Erwerb von Vermögen in Höhe vonbis zu 52 Millionen Euro für Unternehmenserben ohnePrüfung gewähren, und das, wo man in Deutschlandim Durchschnitt 120 000 Euro erbt . In Berlin liegt derDurchschnitt übrigens bei 65 000 Euro . Also: ein Erwerbvon 52 Millionen Euro ohne Prüfung für die Unterneh-menserben, auch wenn nicht ein einziger Arbeitsplatzgefährdet ist .Worum geht es jetzt? Es geht um die Korrektur . Am17 . Dezember hat das Bundesverfassungsgericht die der-zeitige Erbschaftsteuerregelung für verfassungswidrigerklärt . So mancher Nicht-Steuerexperte hat tatsächlicherst infolge dieses Urteils mitbekommen, was die Gro-ße Koalition damals, 2008, beschlossen hat, was 2009in Kraft getreten ist . Die bisherige Regelung ist schlicht-weg unglaublich . Ich zitiere jetzt den VerfassungsrichterReinhardt Gaier, der es in der mündlichen Anhörung desBundesverfassungsgerichts so formuliert hat: Das gelten-de Erbschaftsteuergesetz ist eine Subventionierung desGroßkapitals .
Man kann es auch wissenschaftlich formulieren: Die4,5 Milliarden Euro Erbschaftsteuer, die jährlich seit2009 erhoben wurden, wurden fast ausschließlich vonder Mittelschicht gezahlt . Im Durchschnitt mussten die-se Erben nämlich 14 Prozent Erbschaftsteuer pro Erb-fall zahlen, während selbst Superreiche, etwa Erben vonDAX-Konzernen, wegen der Steuerfreistellung von Be-triebsvermögen bestenfalls – wenn es hoch kam – 2 Pro-zent Erbschaftsteuer zahlen mussten . 19 Milliarden Eurosind dem Fiskus dadurch bis 2013 verloren gegangen .Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht zu Rechtgeurteilt:Die Privilegierung betrieblichen Vermögens ist …unverhältnismäßig, soweit sie über den Bereichkleiner und mittlerer Unternehmen hinausgreift,ohne eine Bedürfnisprüfung vorzusehen .Zehn Monate später liegt jetzt ein Gesetzentwurf einerGroßen Koalition vor . Man muss leider konstatieren: Erunterscheidet sich materiell kaum vom derzeitigen Ge-setz . Das ist insbesondere für die SPD peinlich . Denn Sievon der SPD hatten sich ja auch mal für eine höhere Be-steuerung von großen Vermögen eingesetzt – Sie habenes heute auch noch mal so formuliert –,
aber die Wahrheit ist, dass Wirtschaftsminister Gabriel,Ihr Parteivorsitzender, genau das verhindert: die Besteu-erung von großen Vermögen .
Wir Grüne legen bei der Umsetzung des Urteils dreiKriterien an:Erstens . Die Erbschaftsteuer muss wieder zu einer Ge-rechtigkeitssteuer werden .Zweitens . Sie muss natürlich wirtschaftspolitisch ver-nünftig sein . Wir wollen die Wirtschaft in diesem Landstärken und weiterentwickeln .
Drittens . Das Mindeste ist: Sie muss verfassungsfestsein .
Gehen wir die Punkte durch: Ist der vorliegende Ent-wurf gerecht? Ich habe es schon deutlich gemacht: Er istes nicht . Ich mache es noch mal anhand anderer Zahlendeutlich: Laut Bundesfinanzministerium – es sind nichtunsere Zahlen, sondern die Zahlen des BMF – wärenschon nach dem Referentenentwurf, der eine Freigrenzevon 20 Millionen Euro pro Unternehmenserben vorsah,mehr als 99 Prozent aller Unternehmenserben ohne ir-gendwelche Prüfungen steuerfrei geblieben . Das heißtumgekehrt und in absoluten Zahlen: Ganze 80 Perso-nen, vielleicht auch mal 100 Personen pro Jahr in ganzDeutschland wären nach dem Schäuble-Entwurf über-haupt nur gefährdet gewesen, jetzt oder in Zukunft Steu-ern zahlen zu müssen, und auch das nur maximal bis zurHälfte ihres Privatvermögens, um Liquidität und Investi-tionsfähigkeit der Unternehmen nicht zu beeinträchtigen .Jetzt, mit der hier auch schon angesprochenen weiterenErhöhung der Freigrenze auf 26 bzw . 52 Millionen Eurofür Familienunternehmen, verbunden mit der Option, dasPrivatvermögen doch nicht offenlegen zu müssen, redenwir vielleicht noch von ganzen 50 Fällen im Jahr . Unddie Betroffenen schreiben Briefe, Briefe, Briefe .Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf siehtkeine Begrenzung des Steuerprivilegs auf kleine undmittlere Unternehmen zum Zwecke des Erhalts von Ar-beitsplätzen vor . Damit bleibt es dabei: Mit diesem Ge-Lisa Paus
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setzentwurf wird die Mittelschicht die Erbschaftsteuerzahlen und die Leistungsfähigen in diesem Land ebennicht . Deswegen ist sie nicht gerecht .
leistungsfähig!)Ist die Erbschaftsteuer wirtschaftspolitisch vernünf-tig? Das ist ja Ihr Hauptargument . Dazu kann man zumeinen sagen: Der Wissenschaftliche Beirat beim BMF hatschon vor mehreren Jahren festgestellt, dass die derzei-tige Regelung nicht wirtschaftspolitisch vernünftig ist .Das könnte man vom vorliegenden Gesetzentwurf auchsagen .Aber eine Regelung im Gesetzentwurf finden wir tat-sächlich wirtschaftspolitisch vernünftig: die Begrenzungder Steuerschuld auf die Zahlungsfähigkeit bezogen aufdas Privatvermögen. Wir finden in der Tat: Das ist eineklare Ansage, wenn es darum geht, die Liquidität des Un-ternehmens nicht zu gefährden . Allerdings muss man imweiteren Prozess noch sehen, wie man es gut abgrenzenkann, damit es nicht zu Steuergestaltungen kommt .Allerdings gibt es in diesem Gesetzentwurf noch wei-tere Punkte, zum Beispiel neue Halteregeln – nicht nurbezogen auf die Lohnsumme –, die es ermöglichen, ent-sprechende Privilegien in Anspruch zu nehmen . Da darfman jetzt 10 Jahre im Voraus und 30 Jahre nach Eintre-ten des Erbfalles, also 40 Jahre lang, sozusagen nichtsändern, um massive Privilegien in Anspruch nehmen zukönnen . Das ist schlichtweg wirtschaftspolitischer Irr-sinn, weil es total ineffizient ist.
Der Hauptpunkt: Ich habe an vielen Gesprächsrundenteilgenommen . Die meisten Experten sagen schon jetzt,dass der vorliegende Gesetzentwurf verfassungswidrigist . Somit besteht nach wie vor eine massive Investiti-onsunsicherheit bei der deutschen Wirtschaft, und das istschlichtweg Gift für die Wirtschaft .Seit einem Jahr wartet die Wirtschaft auf eine vernünf-tige Regelung, und sie ist immer noch nicht in Sicht . Dervorliegende Gesetzentwurf ist sehr wahrscheinlich ver-fassungswidrig . Er wird sicherlich wieder vor dem Bun-desverfassungsgericht landen . So ein Damoklesschwertbraucht Deutschland nicht . Investitionsunsicherheit zuschüren, ist das wirtschaftspolitisch Schlechteste, wasman in Deutschland machen kann .
Ist der Gesetzentwurf verfassungsgemäß? Wie ge-sagt: Es gibt zahlreiche Experten, die das deutlich hin-terfragen . Der erste wichtige Punkt – ich habe es schongesagt –: 99 Prozent der Unternehmenserben und mehrwerden von der Regel ausgenommen . Das Regel-Aus-nahme-Verhältnis, das im Gesetz eigentlich beachtetwerden soll, wird eklatant verletzt .Zweiter Punkt . Die Regelungen des Gesetzentwurfessind extrem gestaltungsanfällig . Das Bundesverfassungs-gericht hat in seinem Urteil festgehalten, dass allein dieseGestaltungsanfälligkeit ein Grund für Verfassungswid-rigkeit ist .Drittens . Im Unterschied zum Referentenentwurf gibtes im vorliegenden Gesetzentwurf keine Folgerichtigkeitder Verschonungswege mehr . Auch deswegen wird er ausmeiner Sicht verfassungswidrig sein .Es gibt übrigens inzwischen neue Zahlen zur Vermö-genskonzentration in Deutschland . Das Deutsche Institutfür Altersvorsorge prognostiziert, dass in den nächstenzehn Jahren die reichsten 2 Prozent der Deutschen einDrittel des Gesamtvolumens der Erbschaften auf sichvereinen werden .Ich komme zum Schluss . In der bayerischen Verfas-sung steht:Die Erbschaftsteuer dient auch dem Zwecke, dieAnsammlung von Riesenvermögen in den Händeneinzelner zu verhindern .Ich appelliere an Sie: Überarbeiten Sie also den vorlie-genden Gesetzentwurf grundlegend . Auch Erbschaftenund Schenkungen von großen Betriebsvermögen müs-sen angemessen besteuert werden . Dann werden wir unsauch wieder konstruktiv an der Debatte beteiligen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Antje Tillmann,
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Man sollte mei-nen, dass wir heute das Erbschaftsteuergesetz schon inzweiter und dritter Lesung beraten . Wir diskutieren überdieses Thema seit dem 26 . Februar dieses Jahres: zuerstüber die Eckpunkte, dann über den Referentenentwurf,jetzt über den Gesetzentwurf . In zahlreichen verschiede-nen Veranstaltungen sind wir immer wieder aufeinander-getroffen und haben über dieses Thema diskutiert .Sie haben der Rede meines Kollegen Binding entneh-men können, dass es zwischen den Koalitionsfraktionendurchaus noch Einigungsbedarf gibt . Aber solange das ineiner konstruktiven Stimmung ausgetragen wird, ist mirdas recht . Wir haben noch einiges zu bereden . Das solltenwir auch tun . Sie können sich sicher sein, dass wir überdieses Thema verantwortungsbewusst diskutieren und ei-nen Kompromiss finden werden.
Die erforderliche Neuregelung haben nicht wir unsausgedacht . Vielmehr hat das Bundesverfassungsge-richt – das ist mehrfach gesagt worden – uns ins Buch ge-schrieben, dass Betriebsvermögen nur aus zwei Gründenanders besteuert werden darf als Privatvermögen: zumLisa Paus
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einen, um mittelständische Strukturen in Deutschlandaufrechtzuerhalten, und zum anderen, um Arbeitsplätzezu sichern .Herr Kollege Pitterle, Sie erwecken den Eindruck, alswollten wir den Tennis spielenden Nichtstuer begünsti-gen; das tun wir eben nicht . Vielmehr geht es um denArbeitnehmer und um die Arbeitnehmerin . Um deren Ar-beitsplatz zu erhalten, schaffen wir bestimmte Begünsti-gungen bei der Besteuerung von erworbenen Betriebs-vermögen .Ich finde das Verhalten der Linken ausgesprochenwenig konkludent; denn wenn in einer Stadt das größtemittelständische Unternehmen pleitezugehen droht, dannsind Sie die Ersten, die mit den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern demonstrieren, Sie sind die Ersten, dieSteuermittel für Auffanggesellschaften fordern, Sie sinddie Ersten, die sagen, der Staat muss dieses Unternehmenretten . Wir gehen den anderen Weg . Wir bringen das Un-ternehmen erst gar nicht in Schwierigkeiten . Damit sinddie Arbeitsplätze gesichert . Ich glaube, unser Weg ist fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der viel siche-rere und der nervenschonendere .
Auch Sie, lieber Kollege Binding, haben vermutlichüberhaupt keine Probleme, Arbeitsplätze durch Subven-tionen zu sichern bzw . entstehen zu lassen . In den Kom-munen werden Grundstücke vergünstigt zur Verfügunggestellt . Es gibt eine GFAW-Förderung . Wir subventio-nieren die Schaffung von Arbeitsplätzen . – Das alles sindSteuergelder . Aber an der Stelle, an der wir mit einemTeil von Steuergeldern Arbeitsplätze, die schon da sind,bestehen lassen wollen, haben Sie Probleme? Ich kannnicht nachvollziehen, inwiefern das eine besser sein sollals das andere . Wir glauben, es ist sehr viel leichter, einenbestehenden Arbeitsplatz zu erhalten, als einen neuen zuschaffen .
Deswegen beschreiten wir mit dem, was wir tun, denrichtigen Weg . Wir begünstigen wirklich nur das Be-triebsvermögen .Dass der Eindruck erweckt wird, dass der Unterneh-menserbe demnächst keine Steuern zahlt, ist doch völligirre .
Es wird keinem einzigen Unternehmenserben gelingen,nur Betriebsvermögen zu erben . Er wird natürlich auchPrivatvermögen erben, und das wird er ganz normal ver-steuern . Nach der Neuregelung wird er auch nichtbegüns-tigtes Betriebsvermögen, sogenanntes Verwaltungsver-mögen, erben . Auch das wird er ganz normal versteuern,sogar noch stärker als vorher, weil das Verfassungsge-richt die Grenze für unschädliches Verwaltungsvermö-gen von 50 Prozent auf 10 Prozent reduziert hat .
Selbstverständlich wird er das Verwaltungsvermögenversteuern .Aus diesem Grund sind wir dankbar, dass es von derVorlage des Eckpunktepapiers bis zum jetzt vorliegendenGesetzentwurf einige Veränderungen gegeben hat:Hinsichtlich der Lohnsummenprüfung steht im Ge-setzentwurf jetzt eine Zahl von drei Mitarbeitern . Daswar ursprünglich anders vorgesehen . Man wollte denWert des Betriebsvermögens zugrunde legen . Wir sindfroh, dass wir jetzt wieder die Anzahl der Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter zugrunde legen, weil das für dieUnternehmen weniger bürokratisch ist, als das Betriebs-vermögen zu berechnen . Ich bin auch froh, dass es eineGleitklausel gibt: zwischen 4 und 15 Mitarbeitern .Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob das, was hierzur Freigrenze gesagt wird, draußen ankommt, und um-gekehrt . Zur Erhöhung der Freigrenzen auf 26 MillionenEuro bzw . auf 52 Millionen Euro sagen interessanterwei-se alle Verbände: Das ist ein reiner Placeboeffekt . Nichtein einziges Unternehmen wird unter diese Grenzen fal-len . – Sie haben Bilder an die Wand gemalt, nach denendie meisten Unternehmen demnächst 52 Millionen Euroerbschaftsteuerfrei übergeben können . Irgendwo dazwi-schen liegt die Wahrheit . Die werden wir in den Anhö-rungen finden. Wir werden uns auch mit diesem Punktsehr intensiv befassen .Lothar Binding, in einem bin ich mit Ihnen einer Mei-nung: Über den Ton der Verbände, die uns im Momentaus meiner Sicht in ausgesprochen unangemessener Wei-se beschimpfen, obwohl wir uns wirklich Mühe geben –ich sage das für die CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich –,eine Lösung zu finden, die die besonderen Beschränkun-gen bei Familienunternehmen widergespiegelt, bin ichsehr verärgert .
Ich denke, die Angesprochenen wissen das . Die sollensich das ruhig einmal zu Herzen nehmen .Abschließend möchte ich einen Appell an die Mit-glieder des Bundesrates richten: Wir erleben heute denBeginn einer Debatte über eine Ländersteuer . Die Erb-schaftsteuer ist ausschließlich Länderaufkommen . Siewird von den Ländern verwaltet . Ich sehe hier keinenLändervertreter, der mitberät . Das mag daran liegen,dass heute der Bundesrat tagt . Die Meinungen im Bun-desrat über diese Steuer gehen aber noch weiter ausein-ander als die Meinungen von Lothar Binding und mir,als die Meinungen von SPD und CDU/CSU . Das musssich ändern . Es ist Aufgabe der Länder, ihre Steuer zu re-formieren . Ich erwarte, dass in den nächsten Wochen einabgestimmter Vorschlag der Ministerpräsidentinnen undder Ministerpräsidenten vorgelegt wird, damit wir diesesGesetz gemeinsam reformieren und verfassungskonformAntje Tillmann
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gestalten können, damit wir die Arbeitsplätze sichernkönnen . Das ist ausdrücklich unser Ziel .
Dabei haben wir natürlich auch die Bürokratie imAuge . Frau Paus, diesbezüglich teile ich Ihre Auffas-sung: Eine Aufbewahrungs- und Nachweispflicht von30 Jahren scheint mir für die Betriebe gar nicht so pro-blematisch zu sein . Die werden die Belege schon aufbe-wahren können . Aber die armen Finanzbeamten, die beijeder Erbschaftsteuererklärung demnächst in den Kellerwandern, um 30 Jahre alte Akten herauszusuchen, bedau-ere ich sehr . Auch darauf werden wir einen Schwerpunktlegen .Wir wollen ein Gesetz, das möglichst wenig Bürokra-tie verursacht, das zu einer gerechten Besteuerung führt,das Arbeitsplätze sichert, das Unternehmensübertragun-gen möglich macht und das natürlich auch sicherstellt,dass ein gewisser Beitrag zum Allgemeinwohl geleistetwird . Ich bin sicher, das werden wir schaffen . Die De-batte hat heute erst begonnen . Wir haben noch Zeit, umendgültige Lösungen zu finden.Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Cansel
Kiziltepe von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Als Erstes möchte ich ausdrück-lich meine Kolleginnen und Kollegen vom Bundesrat inSchutz nehmen: Der Bundesrat tagt zeitgleich . Der Bun-desrat – das möchte ich Ihnen und Euch als Botschaft mit-teilen – hat heute beschlossen – Ziffer 18 zum Erbschaft-und Schenkungsteuergesetz –, dass die Abschmelzzonein der im Entwurf vorliegenden Form abgelehnt wird unddie Sockelverschonung abgeschafft werden soll .Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierungist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vomDezember vergangenen Jahres notwendig geworden . Esist nicht das erste Urteil des Verfassungsgerichts zu die-sem Thema . Das haben wir schon mehrfach gehört . Ge-rade deshalb sollte es unser vorrangiges Ziel sein, dassdie zu findende Lösung auch eine verfassungsfeste Lö-sung ist, liebe Kolleginnen und Kollegen .Das Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzhat in seiner heutigen Ausgestaltung Gültigkeit seit An-fang 2009 . Es gab also mehrere Reformen . Es gewährthohe persönliche Freibeträge . Für Ehepartner und Le-benspartner sind bis zu 500 000 Euro, für Kinder sindbis zu 400 000 Euro steuerfrei . Diese persönlichen Frei-beträge sind also so ausgestaltet, dass sich niemand Sor-gen machen muss, dass die Übertragung des vielzitiertenHäuschens der Oma besteuert wird .Das Bundesverfassungsgericht hat sich allein mit derPraxis der Verschonungsregelung von Betriebsvermögenauseinandergesetzt . Die gute Nachricht ist, dass wir alsGesetzgeber den Arbeitsplatzerhalt als Ziel verfolgenkönnen . In Zukunft müssen wir aber unterscheiden zwi-schen denen, die dafür eine Verschonung von der Erb-schaftsteuer brauchen, und denen, die diese Verschonungdafür nicht brauchen .Der Bundesfinanzminister hat im März solide Eck-punkte für die Diskussion vorgelegt, die zu großen Teilenin den Gesetzentwurf eingeflossen sind, zu Teilen aberauch nicht . Für die allermeisten Betriebe in Deutschlandkonnten wir eine Lösung finden, die unkompliziert ist.Diese orientiert sich an der Betriebsgröße gemäß Be-schäftigtenzahl und der Einhaltung gewisser Lohnsum-menregeln .In Zukunft wird aber auch bei großen und größtenErbschaften und Schenkungen geschaut werden müssen,ob die Erwerber eine Verschonung wirklich nötig habenoder nicht .Jetzt komme ich zur Bedürfnisprüfung . Die Verfas-sungsrichter haben klargemacht: Je größer das Unterneh-men ist, umso größer ist auch die Notwendigkeit, eineVerschonung zu rechtfertigen . Sie haben auch klar he-rausgestellt, dass mit der steuerlichen Privilegierung un-ternehmerischen Vermögens nicht das Ziel verfolgt wer-den darf, einzelne Erben und Beschenkte zu verschonen .Es geht immer um den Erhalt von Arbeitsplätzen – daskann man nicht oft genug betonen –, aber nicht um dieVerschonung von hohen Erbschaften .Insofern ist aus unserer Sicht die Einbeziehung desPrivatvermögens nicht nur folgerichtig, sondern aucheine Frage der Gerechtigkeit . Wir brauchen diese Ver-teilungsgerechtigkeit in Deutschland, liebe Kolleginnenund Kollegen .
Über die Grenze, ab der eine Bedürfnisprüfung not-wendig werden soll, ist in den vergangenen Monaten vielgesprochen worden . Die Eckpunkte vom März sahen eineGrenze von 20 Millionen Euro je Erbfall vor . Im Gesetz-entwurf stehen nun 26 Millionen Euro bzw . 52 MillionenEuro, aber auch das reicht einigen nicht .Wir alle, die sich intensiv mit dieser Neuregelungder Erbschaftsteuer beschäftigen, sind seit Wochen undMonaten mit dem massiven Druck der Lobbyarbeit kon-frontiert . Vor allem angesichts dieses Drucks möchte ichdie Kolleginnen und Kollegen von CSU und CDU bitten:Laufen Sie mit Ihren Forderungen bitte nicht denjenigenhinterher, deren einziges Ziel es ist, keinen Cent Steuernauf ihre Erbschaften zu zahlen!
Denn die Steuerausfälle durch die Überprivilegierungdes Betriebsvermögens sind enorm . Das StatistischeBundesamt hat berechnet, dass zwischen 2009 und 2013sage und schreibe 105 Milliarden Euro steuerfrei übertra-gen wurden. Hiervon profitieren vor allen Dingen großeVermögen .Antje Tillmann
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Im Rahmen des vorgeschlagenen Wahlrechts zwi-schen Bedürfnisprüfung und Abschmelztarif könnenauch in Zukunft Erben von Milliardenvermögen selbstdann steuerbefreit werden, wenn sie umfangreiches Pri-vatvermögen besitzen, weil sie eben die Wahlmöglich-keit haben .
Erst ab 116 Millionen Euro bzw . ab 142 MillionenEuro gilt – Stichwort „Sockelverschonung“ – eine Min-destbesteuerung . Dabei hatte das Bundesverfassungs-gericht eine Bedürfnisprüfung für große und sehr großeVermögen als zwingend angemahnt . Das fehlt hier noch .Im Ergebnis führt das dazu, dass nur 0,2 Prozent derErbvorgänge über dem Schwellenwert für diese Min-destbesteuerung liegen . Somit werden weiterhin über98,5 Prozent der Erben die Möglichkeit der Vollverscho-nung in Anspruch nehmen . Das halten wir für nicht ver-fassungsfest .Diese Zahlen zeigen aber auch, dass nicht davon ge-sprochen werden kann, dass der gesamte Mittelstandbetroffen ist . Betroffen sind vielmehr nur einige weni-ge . Wie heute in der FAZ zu lesen war, hat mein KollegeChristian von Stetten wieder einmal propagiert, dass wirgroße deutsche Familienunternehmen nicht verstündenund mit unserer Position dafür sorgen würden, dass dieseDeutschland verlassen würden .
auch bekannt! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)– Genau . – Befangenheit, Herr von Stetten? Nein, glaubeich nicht .Diese Punkte werden wir uns im Gesetzgebungsver-fahren ganz genau anschauen müssen . Alle Zweifel ander Verfassungsfestigkeit müssen ausgeräumt werden .Ich möchte an dieser Stelle auch auf die Beratungender Länder hinweisen . Ich hatte anfangs erwähnt, dass esheute einen Beschluss dazu gab . Dem vorausgegangenwar ein Beschluss der Landesfinanzminister, die auchBedenken bei dem Abschmelzmodell haben . Die Mehr-heit der Landesfinanzminister ist der Meinung, dass dieSchwelle für die Bedürfnisprüfung wieder gesenkt wer-den muss .
Sie sehen, die Liste an Fragen und Aufgaben ist lang .Länder und Kommunen sind auf die Einnahmen ange-wiesen . Sie brauchen die Gelder für lange aufgeschobeneZukunftsinvestitionen .Ich möchte die Aufmerksamkeit auch noch auf einenweiteren Punkt lenken; dieser kam in den letzten Mona-ten zu kurz . Drei Richter des Bundesverfassungsgerichtshaben ein Minderheitenvotum abgegeben, das wir ernstnehmen müssen . Dieses besagt, dass die Erbschaftsteuernicht nur an der Sicherung von Arbeitsplätzen orientiertwerden kann, sondern es auch Instrumente bedarf, umder zunehmenden Ungleichverteilung von Vermögen unddamit Macht und Lebenschancen entgegenzuwirken .Artikel 20 unseres Grundgesetzes definiert Deutsch-land als Sozialstaat . Das vergessen viele immer wieder .Die Erbschaftsteuer ist daher aus Sicht der drei Richterein zentrales Instrument, um der Vermögenskonzentrati-on zu begegnen . Dieses Minderheitenvotum sollten sichvor allem diejenigen zu Gemüte führen, die in den letz-ten Monaten mit dem Gedanken gespielt haben, die Erb-schaftsteuer gleich ganz abzuschaffen . Das wird es mitmir, das wird es mit uns, mit der SPD, nicht geben, liebeKolleginnen und Kollegen .
Wenn wir über die Erbschaftsteuer reden, dann redenwir über diejenigen, die das Glück hatten, in die richtigeFamilie geboren worden zu sein .
Die Zeit schrieb im Juni an die Adresse der zukünftigenErben: „Hört auf zu jammern!“ . Das Ziel der SPD ist esnicht, größtmögliche Erbschaften abzusichern, sondernim Rahmen der Verfassungsmäßigkeit Arbeitsplätze zuerhalten und einen kleinen Beitrag zur Finanzierung desSozialstaates zu leisten .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Christian Frei-
herr von Stetten von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der Tat: Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns imDeutschen Bundestag mit der Reform der Erbschaft- undSchenkungsteuer beschäftigen . Das Bundesverfassungs-gericht hat es so gewollt . Deswegen ist es wichtig undrichtig, dass wir uns in den nächsten Wochen intensiv mitdiesem Thema beschäftigen und – das ist mir besonderswichtig – den Betroffenen in der Anhörung ausreichendGelegenheit geben, ihre Sorgen und Befürchtungen imintensiven Dialog mit uns deutlich zu machen .Herr Dr . Meister für die Bundesregierung und AntjeTillmann, unsere finanzpolitische Sprecherin, haben fürunsere Fraktion deutlich gemacht, dass wir uns für einemittelstandsfreundliche Reform einsetzen und für eineReform, die von den großen Familienunternehmen inDeutschland praktikabel umgesetzt werden kann . DerGesetzentwurf der Bundesregierung hat Lösungswegevorgegeben, die wir für unsere Kleinbetriebe und denCansel Kiziltepe
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Mittelstand brauchen . Herzlichen Dank auch für diesesklare Bekenntnis zum Mittelstand . Für uns kommt esjetzt darauf an, dass wir im vor uns liegenden Gesetz-gebungsverfahren noch einige Feinjustierungen vorneh-men . Denn am Ende brauchen wir eine Gesetzgebung,die die besonderen Situationen und die besonderen Be-dürfnisse der großen deutschen Familienunternehmenebenfalls berücksichtigt .
– Eben . Da sind wir stolz drauf . – Ob CDU-Minister oderSPD-Minister, CSU-Minister oder grüne Ministerpräsi-denten – davon haben wir leider auch einen –, weltweitnehmen sie die Unternehmer mit, um zu zeigen, was diebesondere Unternehmenskultur in Deutschland bedeutet .Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir diese Unterneh-men, die maßgeblich zum wirtschaftlichen Wohlstand inunserem Land beitragen und sichere Arbeitsplätze amWirtschaftsstandort Deutschland sichern, im Gesetzge-bungsverfahren berücksichtigen .
Um es klar zu sagen: Am Ende des Gesetzgebungs-prozesses muss die Gefahr – die in einigen Einzelfällenbesteht –, dass Unternehmen und Unternehmer unserLand wegen zu hoher Erbschaftsteuer verlassen, beseitigtsein . Wenn Unternehmen das Land verlassen, weil sie dieLöhne nicht mehr zahlen können, weil sich Produktions-techniken verändert haben, weil vielleicht Kunden insAusland gegangen sind und die Unternehmen deswegenmitwandern, dann ist das ein Punkt . Aber wenn Unter-nehmen aufgrund zu hoher Erbschaftsteuer den Standortverlassen, dann ist das ein Punkt, den wir nicht zulassendürfen .Es sieht ja ganz gut aus, dass es uns gemeinsam ge-lingt, dafür zu sorgen, dass dies nicht passiert . Wenn ihrFachpolitiker – die unseres roten Koalitionspartners unddie der grünen Opposition – im Finanzausschuss das um-setzet, was eure Spitzenleute bei Unternehmensbesuchenpropagieren und in Sonntagsreden vor Unternehmerin-nen und Unternehmern vortragen, dann können wir,glaube ich, innerhalb kürzester Zeit einen vernünftigenGesetzentwurf, der Hunderttausende von Arbeitsplätzensichert, auf den Weg bringen und verabschieden .
Aber eines, lieber Lothar Binding und liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Opposition, ist klar: Das, wasihr in eurem Wahlprogramm zur letzten Bundestagswahlzur Erbschaftsteuer stehen hattet, können und werden wirhier nicht umsetzen . Das, was auf Parteitagen von euchbeschlossen wurde, ist weder praxistauglich, noch ist esfür den Wirtschaftsstandort Deutschland Erfolg verspre-chend .
Ich bekomme, wie auch ihr, viele Briefe von betroffe-nen Unternehmern . Sie sind keine Lobbyisten . Sie sindvielleicht Patrioten – aber auch das gefällt euch ja nicht –,
deutsche Patrioten, die ihre Unternehmen am StandortDeutschland aufgebaut haben, in diesem Land bleibenwollen, da sie hier ihre Mitarbeiter haben und hier Ar-beitsplätze geschaffen haben, und die jetzt auf die kata-strophalen Folgen hinweisen, die eventuell eintreten,wenn wir im Gesetzgebungsverfahren einen Fehler ma-chen . Deswegen ist das kein verbotener Lobbyismus .
Vielmehr erwarte ich von allen Betroffenen, egal in wel-chem Gesetzgebungsverfahren, dass sie auf ihre Abge-ordneten – ob von Rot, Grün oder Schwarz – zugehenund ihnen mitteilen, welche Punkte besonders wichtigsind .Was noch viel besser ist: Sehr viel mehr Briefe als vonbetroffenen Unternehmern bekomme ich von Mitarbei-tern von Familienunternehmen, die mir klarmachen: EinFamilienunternehmen ist etwas ganz Besonderes .
Ich bekomme auch Briefe von Betriebsräten und gewerk-schaftlich engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die mirmit dramatischen Worten verdeutlichen, welche Vortei-le es hat, statt bei einem anonymen Börsenkonzern beieinem familiengeführten Unternehmen zu arbeiten, beieinem Unternehmer, den man kennt,
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Ein ganz besonderer Punkt in dem Urteil des Bun-desverfassungsgerichts war, dass es die Verschonunggewisser Vermögensarten grundsätzlich zugelassenhat . Dazu zählen auch – das möchte ich betonen – dasselbstbewohnte Haus und das Betriebsvermögen . AlsHauptzweck – um in der Sprache des Gesetzestextes zubleiben – sind die Sicherung und Erhaltung von Arbeits-plätzen der typisch deutschen Unternehmenslandschaftzu nennen .Die tragende Säule der deutschen Wirtschaft sind mit-telständische, familiengeprägte Unternehmen, die sichgerade in den Zeiten der Wirtschaftskrise, also noch vorkurzem, als Stabilitätsanker und Arbeitsplatzgarant er-wiesen haben .
Diese einzigartige Unternehmensstruktur müssen wirerhalten . Wir dürfen nicht zulassen, dass die Unterneh-mensnachfolger durch ein falsch ausgestaltetes Gesetzgezwungen werden, Unternehmen zu verkaufen oderInvestitionen hintanzustellen, weil sie zu hohe Steuerbe-lastungen haben .Unsere mittelständischen Unternehmen – das hatChristian von Stetten schon ganz richtig gesagt – ste-hen im internationalen Wettbewerb mit Unternehmen,die sich über den Kapitalmarkt finanzieren und damiteine ganz andere Kapitalstruktur haben als unsere Un-ternehmen . Wir müssen damit rechnen, dass es bei ei-ner falschen Gesetzgebung auf Dauer zu einer massivenVeränderung der Kapitalstruktur deutscher Unternehmenkommen wird .
In den letzten Jahren ist es den meisten mittelständi-schen Unternehmen gut gegangen . Die Wirtschaftslagehat dazu geführt, dass Eigenkapital wieder aufgebautwerden konnte . Auf diese Art und Weise wurde auchdas Rating der Unternehmen verbessert . Ich erinne-re mich daran, dass die Unternehmen vor einiger Zeitnoch Schwierigkeiten hatten, Kredite aufzunehmen, weildas Rating aufgrund des so geringen Eigenkapitals soschlecht war .
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch einetransparente und verantwortungsvolle Kreditvergabewird die im Verbraucherinteresse liegende Kultur vonfestverzinslichen Krediten in Deutschland weiter ge-stärkt . Wir wollen, dass Kredite für Verbraucherinnenund Verbraucher bezahlbar bleiben, damit sie sich ihrenTraum von einer eigenen Immobilie erfüllen können .
Wir erleichtern die unabhängige Beratung, damit ichweiß, dass derjenige oder diejenige, die mich berät, aufmeiner Seite ist und ich wirklich die besten Konditio-nen vermittelt bekomme . Aus Erfahrung wissen wir: Einnach einer bezahlten, unabhängigen Beratung vermittel-ter Kredit ist oft günstiger als ein Kredit, der auf Provisi-onsbasis durch eine Bank vermittelt wurde .Ein transparenter Wettbewerb wird außerdem – davonbin ich fest überzeugt – zur Senkung der Höhe der Dispo-zinsen führen . In einer solchen Landschaft können Wertevon 10 Prozent und mehr nicht gehalten werden .Für diese Vorhaben bitte ich Sie um Ihre Unterstüt-zung bei den bevorstehenden Beratungen .Vielen Dank .
Ebenfalls vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat
Caren Lay von der Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Für viele Menschen ist der Bau oder Kauf einesEigenheims ein ganz großer Traum . Darauf wird jahre-lang hingearbeitet, dafür wird jahrelang gespart . Die al-lermeisten können das aber alleine nicht stemmen . Siesind also auf einen Kredit angewiesen .Ausgerechnet da, wo es um diese Kredite geht, gibtes viele versteckte Kosten, weil die Banken denken, dasssie bei dieser Gelegenheit ordentlich mitverdienen kön-nen . Weil es eben für die meisten Menschen der größteKauf ist, den sie im Leben tätigen, ist das Ausmaß derversteckten Kosten und der Verbraucherabzocke hier be-sonders hoch . Deswegen, denke ich, ist es völlig unstrit-tig, dass Häuslebauer gesetzlich besser geschützt werdenmüssen .
Ich finde es allerdings umso bedauerlicher – da habeich an zwei Punkten eine andere Einschätzung –, dassdie Bundesregierung an einigen Stellen im vorliegendenGesetzentwurf nicht die Möglichkeiten nutzt, die die EUhier bietet . Es ist im Verbraucherschutz ein ganz typi-scher Vorgang: Zuerst zwingt die EU Sie zum Handeln .Dann werden die Spielräume, die uns Brüssel lässt, vonder Bundesregierung nicht genutzt .Kommen wir beispielsweise zu dem Merkblatt, aufdem alle wichtigen Informationen stehen sollen . Dassieht auf den ersten Blick nicht schlecht aus . Auf denzweiten Blick finde ich das etwas mutlos. Wir kennen dieDebatte von den sogenannten Beipackzetteln bei Finanz-produkten . Aus dieser Erfahrung wissen wir, dass dieseMerkblätter nur dann etwas nutzen, wenn es Mindestan-forderungen gibt und wenn diese Merkblätter standardi-siert sind . Wir sagen: Die Regeln an dieser Stelle müssendeutlich konkretisiert werden, damit sie überhaupt etwasnützen .
Dass Provisionen, die sich ergeben, offengelegt wer-den und dass die Honorarberatung eingeführt wird, istzweifellos ein wichtiger Schritt . Wir wissen, dass vieleKreditvermittler auf Provisionsbasis arbeiten . Das lädtnatürlich dazu ein, dass die Interessen der Bank Vorranggegenüber den Interessen der Häuslebauer bekommen .Denn je teurer der verkaufte Kreditvertrag ist, desto hö-her ist am Ende die Provision .Wir halten die Provisionsberatung für den falschenWeg . Es geht um eine Stärkung der Honorarberatung,und vor allen Dingen geht es auch um eine Stärkung derVerbraucherzentralen . Denn die unabhängige BeratungParl. Staatssekretär Ulrich Kelber
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durch die Verbraucherzentralen halten wir für den rich-tigen Weg .
Ein Fall, der aus meiner Sicht hätte geregelt werdensollen: Wenn ein Kreditnehmer, also ein Häuslebauer,seinen Kredit früher zurückzahlen will, weil er beispiels-weise eine Gehaltserhöhung bekommen hat, zocken dieBanken ordentlich ab . Eine Studie hat ergeben, dass füreine vorzeitige Kreditrückzahlung 15 bis 20 Prozent fäl-lig werden . Wir sagen: Das muss unterbunden werden .Wir brauchen endlich klare Obergrenzen . Ich habe we-nig Verständnis dafür, dass diese Möglichkeit, die die EUeingeräumt hat, von Deutschland nicht genutzt wird . Hiermuss der Gesetzentwurf nachgebessert werden .
Wenn man schon über Immobiliendarlehen redet,dann sollte man in diesem Zusammenhang auch über an-dere Verbraucherdarlehen reden, wie es die Verbraucher-zentralen und die Verbraucherverbände auch fordern .Nehmen wir beispielsweise die Restschuldversicherun-gen. Auch sie sind ein lukratives und häufig verstecktesZusatzgeschäft für die Banken, das für die Verbrauche-rinnen und Verbraucher zwar einen höheren Preis bedeu-tet – was sie bei Vertragsabschluss häufig gar nicht er-kennen können –, ihnen im Endeffekt aber wenig bringt .Der Vorschlag lautet, dass das automatisch in den Ef-fektivzins mit eingerechnet wird, der dadurch höher aus-fallen würde . Dann könnten die Verbraucher von vorn-herein sehen, dass es sie teuer zu stehen kommt . Ich binmir sicher, dass diese häufig unsinnigen Versicherungendann den Verbrauchern nicht mehr so leicht unterzuju-beln wären .Zu guter Letzt zum Dispozins . Wir fordern als Linkeseit sieben Jahren, dass die Dispozinsen gesetzlich gede-ckelt werden müssen . Im Bundestagswahlkampf hat dieSPD sich dieser Forderung angeschlossen, und in jederWahlkampfrede wurde die Abzocke durch die Bankengegeißelt, und zwar zu Recht. Deswegen finde ich esenttäuschend, dass dieser Gesetzentwurf nichts weitervorsieht als die Herstellung von Transparenz . Das magja schön und gut sein, aber wenn alle Banken in einerArt Kartellabsprache nur Dispozinsen zwischen 8 und12 Prozent anbieten, dann gibt es gar keine Wahlfreiheitfür die Verbraucherinnen und Verbraucher .Deswegen sagen wir: Die Dispozinsen müssen gesetz-lich gedeckelt werden, und zwar auf 5 Prozent über demLeitzinssatz . Das ist der einzige richtige Weg, um dieseAbzocke der Banken endlich zu beenden .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Stefan
Heck von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Auf diese Steine können Sie bauen“: So lautet ein Wer-beslogan, der uns allen bekannt ist . Dieser Satz stehtnicht nur für einen großen Anbieter auf dem Baufinan-zierungsmarkt; er steht auch für unser deutsches Baufi-nanzierungssystem in seiner Gesamtheit .Im europäischen Vergleich gehören wir noch immerzu den Ländern mit den niedrigsten Zinsen im gesamtenImmobilienfinanzierungsbereich. Eine Studie zu Beginndieses Jahres hat gezeigt, dass Darlehen mit zehnjährigerZinsbindung in unserem Nachbarland Frankreich immer-hin 0,8 Prozentpunkte teurer sind als in Deutschland, inGroßbritannien und Italien jeweils ganze 2 Prozentpunk-te und in Spanien sogar 2,73 Prozentpunkte . Das heißt imKlartext: Bei einem Hausbau mit den üblichen Kredit-konditionen sind die Kosten für einen zehnjährigen Kre-dit in Deutschland oftmals um einen hohen fünfstelligenBetrag niedriger als in unseren Nachbarländern .Hinzu kommt die nach wie vor große Solidität un-seres Bankensektors . Die globale Finanzkrise ist am Subprime-Markt und eben nicht im deutschen Festzins-system ausgebrochen .Unser Bankensystem ist zwar nicht ganz ohne Bles-suren aus der Krise gekommen, aber wir haben sie dochwesentlich besser meistern können als viele unserer eu-ropäischen Partner . Darauf können wir stolz sein, und daswollen wir auch in Zukunft bewahren .Im Zuge der Umsetzung der europäischen Wohnim-mobilienkreditrichtlinie wollen wir unser funktionieren-des Baufinanzierungssystem ergänzen und weiter befes-tigen . Den ersten Baustein hatte ich bereits erwähnt: Esist das deutsche Festzinssystem . Es ermöglicht seit vielenJahren den Verbrauchern sichere und planbare Darlehens-möglichkeiten, damit der Traum vom Eigenheim auch inErfüllung gehen kann . Weil auch Banken langfristig pla-nen müssen, profitieren die Verbraucher wiederum vonim internationalen Vergleich niedrigen Zinshöhen .Dies führt mich bereits zum zweiten wichtigen Bau-stein, den wir bewahren werden . Es sind das Prinzipder Vertragsfreiheit und der damit verbundene Grund-satz „pacta sunt servanda“ . Die langfristige Bindung anwechselseitige Vorteile ist für beide Seiten gut, einerseitsfür die Verbraucher, andererseits für die Banken . Deswe-gen sind wir der festen Überzeugung, dass das vertragli-che Gleichgewicht zwischen beiden Seiten nicht durchgesetzgeberische Maßnahmen gestört werden darf . Einvorzeitiger Ausstieg aus einem Kreditvertrag mit zu-meist langfristiger Bindung muss daher im Rahmen dervertraglichen Vereinbarungen auch in Zukunft eine ent-sprechende Vorfälligkeitsentschädigung zur Folge habenkönnen . Sonst bestünde für die Banken hinsichtlich ihrerRefinanzierung keine Planungssicherheit mehr. Beispieledafür erleben wir unter anderem in den USA . Dort wirdCaren Lay
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keine Vorfälligkeitsentschädigung gefordert, mit der Fol-ge, dass alle Verbraucher höhere Zinsen für ihre Kreditezahlen müssen . Das wollen wir als CDU/CSU-Fraktionin Deutschland so nicht hinnehmen .
Richtig hingegen ist – ich glaube, diese Überzeugung tei-len wir alle –, dass der Vermittler dem Verbraucher genauund verständlich erklären muss, zu welchen Modalitäteneine vorzeitige Rückzahlung möglich ist, wie die Vorfäl-ligkeitsentschädigung berechnet wird und wie hoch sieam Ende werden kann .Damit komme ich zum dritten Baustein, auf den wirweiterhin bauen werden und der untrennbar mit der Ver-tragsfreiheit verbunden ist: Verbraucherschutz durchTransparenz . Um den Verbrauchern mehr Klarheit überden Inhalt des Festzinsdarlehensvertrags zu verschaffen,sieht der Gesetzentwurf eine detaillierte Beratung vor, inder der Vermittler eine individuelle Empfehlung zu ei-nem Produkt abgibt . Eine zwingende Kreditwürdigkeits-prüfung soll gewährleisten, dass dem Verbraucher keineunzumutbare Kreditlast auferlegt wird . Der Darlehens-vermittler muss zukünftig Sachkunde und Zuverlässig-keit nachweisen .Die Koalition wird die Gelegenheit nutzen – Sie habendas bereits angesprochen –, um Transparenz in einem an-deren Finanzierungsbereich zu schaffen . Ich spreche vonden wichtigen Neuregelungen bei den Dispokreditzin-sen . Kunden, die über längere Zeiträume den Dispositi-onskredit in erheblicher Höhe in Anspruch nehmen, wer-den künftig über günstigere Finanzierungsmöglichkeitenberaten . So wollen wir sicherstellen, dass die Kundenumfassende Informationen über mögliche Alternativenerhalten. Die Kreditinstitute werden verpflichtet, dieHöhe ihrer Dispozinsen transparent auf ihrer Webseitezu veröffentlichen . Dadurch wollen wir die Position derVerbraucher bei Dispokrediten weiter stärken .Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass in einemanderen Bereich ein überfrachteter Verbraucherschutzin keinem Verhältnis mehr zur Rechtssicherheit steht .Es ist zwar richtig, dass fehlende oder falsche bzw . un-vollständige Belehrungen über Widerrufsrechte zu einerVerlängerung der sonst üblichen 14-Tages-Frist führen,innerhalb derer Verbraucher bei vielen Geschäften ihreKaufentscheidung widerrufen können . Unverhältnismä-ßig war jedoch, dass die Widerrufsfrist in diesen Fällenerst dann begann, wenn später eine zutreffende Beleh-rung ergangen ist . Die Notwendigkeit einer Einschrän-kung haben wir alle erkannt: das Ministerium, das einenentsprechenden Vorschlag gemacht hat, aber auch wir imParlament. Die Banken müssen sich durch die Refinan-zierung dauerhaft festlegen, um ihren Kunden niedrigeZinsen weiterhin anbieten zu können . Die Unsicherheit,ob ein Darlehensnehmer vielleicht nach 10 oder 15 Jah-ren doch widerruft, bringt das Festzinssystem insgesamtin Gefahr . Damit solche Widerrufe nicht zulasten alleranderen Darlehensnehmer gehen, müssen klare Fristenfür den Widerruf gelten .Ich möchte abschließend noch einmal betonen: Ver-tragsfreiheit, Planbarkeit und Verlässlichkeit durch dasFestzinssystem sowie Transparenz für den Verbraucher,auf diese Steine sollten wir auch in Zukunft bauen .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Gerhard
Schick von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Heck, ich möchte als Erstes sagen: Ich finde, Pro-ductplacement muss bei einer Bundestagsrede nicht sein .Ich würde zumindest davon absehen, hier Werbeslogansvon Unternehmen zu verwenden . Ich hoffe, dass das nichtin Absprache mit dem Unternehmen stattgefunden hat .
Bei der Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtli-nie geht es im Kern darum, wie wir die Stärke von Bankund Kunden in einem Vertragsverhältnis rechtlich regeln .Das heißt, die Frage ist, ob sich der Gesetzgeber in denverschiedenen Bereichen eher auf die Seite der Bankenoder auf die Seite der Kunden stellt . Leider sind Sie dazu bankenfreundlich . Ich will an vier Punkten deutlichmachen, warum diese Kritik gerechtfertigt ist:Der erste Punkt betrifft die Dispozinsen . Einmal ganzehrlich: Wenn wir stolz darauf sind, dass wir im Gesetzregeln, dass die Banken ihre Konditionen veröffentlichenmüssen – das kann ja wohl nicht sein! Das ist doch wohleine Selbstverständlichkeit . Das ist doch das absoluteMinimum . Wenn man darauf stolz ist, dann heißt das,dass man die eigentlichen Fragen nicht angeht . BeimThema Dispozins heißt das auch: Es braucht eine Be-grenzung, die natürlich gewisse Spielräume lässt, sich anden Marktzinsen orientiert . Aber es kann doch nicht sein,dass wir das, was es teilweise an Auswüchsen gibt, ein-fach nur mit dem Regeln von Selbstverständlichkeiten,mit der Offenlegung der Konditionen, angehen . Das isteindeutig zu wenig .
Der zweite Punkt betrifft das Widerrufsrecht . Das Wi-derrufsrecht war für die Banken und Sparkassen in derVergangenheit tatsächlich ein großes Problem, auch weilim Gesetz ein Fehler war . Das muss man konstatieren .Wenn wir uns das Ganze allerdings einmal mit Blick aufdie Zukunft anschauen, gilt trotzdem: Beide, der Ver-braucher und die Bank, haben es mit komplexen recht-lichen Fragen zu tun . Es ist ja wohl eher der Bank, demProfi, als dem Kunden zuzumuten, diese Regelungenzu verstehen und richtig anzuwenden . Deswegen ist esrichtig, dass der Kunde hier ein Widerrufsrecht hat . Ichglaube, dass Sie hier zu bankenfreundlich sind . Für denDr. Stefan Heck
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Kunden muss es auch in Zukunft die Möglichkeit geben,zu widerrufen .
Der dritte Punkt betrifft das Thema Vorfälligkeitsent-schädigung . Dabei sind folgende Fragen wichtig: Dieeine ist: Wie hoch dürfen Vorfälligkeitsentschädigungensein? Braucht es eine Begrenzung oder nicht? Die ande-re Frage lautet: Wie ist die Berechnungsmethode? Wirddas überprüft? Läuft das sauber? Außerdem stellt sich diegrundlegende Frage: Wollen wir Vorfälligkeitsentschädi-gungen überhaupt?Es ist klar, dass es dann, wenn wir – das gilt auch fürmeine Fraktion – an einem über mehrere Jahre festenZins, also an der Zinsbindung, festhalten wollen, richtigist, dass es Vorfälligkeitsentschädigungen gibt; sonst ha-ben die Banken keine Planungssicherheit – so weit d’ac-cord . Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob man eineBegrenzung festlegen muss . Ich meine, eine Begrenzungist notwendig, um sicherzustellen, dass es keine Exzes-se gibt . Außerdem muss die Berechnungsmethode – dasist das absolute Minimum – einheitlich und transparentsein . Es kann nicht sein, dass sich die Verbraucher daraufnicht verlassen können; denn sie können im Einzelnennicht so gut rechnen wie eine Bank . Es ist eine absoluteSelbstverständlichkeit, dass wir im Gesetz eine einheit-liche und transparente Berechnungsmethode festlegen .Auch da springen Sie mit Ihrer gesetzlichen Regelungdeutlich zu kurz .
Ich will noch einen vierten Punkt nennen – es gibt wei-tere Punkte; die werden wir in den weiteren Beratungenansprechen –: die Kopplungsgeschäfte . Die EU-Richtli-nie legt fest, dass man Kopplungsgeschäfte nur durchfüh-ren kann, wenn sie behördlich genehmigt sind . Es bleibtden Mitgliedstaaten überlassen, das entsprechend umzu-setzen . Sie haben aber hier genau diese Begründung, dasses einen Nutzen für den Verbraucher haben muss, wegge-lassen . Damit öffnen Sie Tür und Tor dafür, dass es wei-terhin eine Reihe von unsinnigen Kopplungsgeschäftengibt, dass etwa ein Immobilienkredit mit einem Bauspar-vertrag oder mit einer Versicherung gekoppelt wird, beidenen die Kosten für den Kunden teilweise deutlich stei-gen, was für ihn weder transparent noch nachvollziehbarist, oder die Risiken deutlich zunehmen, weil nicht klarist, ob ein Kunde am Ende das Geld hat, um seinen Kre-dit wirklich zurückzahlen zu können .Solche problematischen Geschäfte, die es reihenwei-se in Deutschland gibt, auch bei vielen, wie wir meinen,eigentlich seriösen Häusern, müssen wir zurückdrängen .Wir müssen schauen, dass es hierfür nicht wieder eine of-fene Tür gibt . Sie haben aber genau hier die Bindung andie Voraussetzung, dass ein solches Geschäft dem Kun-den nutzen muss, weggelassen . Auch dieser Fehler zeigt,dass Sie zu bankenfreundlich sind .Deswegen sehen wir in dem vorgelegten Gesetzent-wurf einen großen Korrekturbedarf und hoffen, dass esin den Ausschussberatungen gelingt, diesen auch durch-zusetzen .Danke .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Mechthild
Heil von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Frau Lay, Sie haben recht: Der Traumvom Eigenheim ist bei vielen Deutschen wirklich starkverankert . Etwa drei Viertel aller Deutschen halten dasEigenheim für die beste Geldanlage . Daran hat auchdie Finanzkrise nichts geändert . So verwundert es heutenicht, dass die aktuell noch sehr niedrigen Zinsen auchzum Kauf von Wohnimmobilien genutzt werden . Ich hal-te das für eine gute Idee, natürlich nicht nur deshalb, weilich Architektin bin . Ich freue mich auch als Verbraucher-schutzbeauftragte darüber, dass wir heute in erster Bera-tung über die Wohnimmobilienkreditrichtlinie sprechen;denn wir werden viele Dinge beschließen, die die Positi-on der Verbraucher weiter stärken werden .Was planen wir da genau? Wer sich zukünftig zu einerImmobilie beraten lässt, der muss über die Höhe des Be-ratungsentgelts und die Berechnungsmethode informiertwerden, und er muss informiert werden, ob der Beraterseiner Empfehlung nur eigene Produkte oder auch frem-de Produkte zugrunde legt .Zu Beginn der Beratung steht natürlich immer die Da-tenerfassung . Darüber hinaus müssen auch die Wünscheund Bedürfnisse eines Kunden aufgenommen werden .Damit gilt dann auch hier das, was wir bereits in anderenFinanzdienstleistungsbereichen erfolgreich eingeführthaben .Wir legen einen anderen Schwerpunkt auf die Qualifi-kation der Berater . Was für die Finanzanlagen- und Ver-sicherungsvermittler heute schon eine Selbstverständ-lichkeit ist, gilt nun bald auch für die Immobilienberater .Dazu gehören die Einführung eines Sachkundenachwei-ses, der Nachweis einer Berufshaftpflichtversicherungund eine Registrierung bei der jeweiligen Aufsichtsbe-hörde .Nicht selten werden zusätzlich zum Immobilienkreditnoch weitere Produkte verkauft . Es werden Verträge ab-geschlossen, die den Kunden – vermeintlich – absichernsollen . In vielen Fällen sind sie aber gar nicht notwendigund nutzen in erster Linie dem Darlehensgeber . DieseGeschäfte werden wir stark eindämmen, indem wir einKopplungsverbot aussprechen werden . Der Kunde sollnicht mehr gezwungen werden können, einen Vertrag zueinem weiteren Produkt gemeinsam mit dem Immobili-enkredit abschließen zu müssen . Freiwillig kann er dasnatürlich nach wie vor tun, aber ein Kopplungsgeschäftwerden wir ausschließen .Dr. Gerhard Schick
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Um auch in diesem Bereich die Zahl der Wahlmög-lichkeiten zu erhöhen, schaffen wir die Voraussetzungenfür eine Honorarberatung analog zur Anlageberatung .In dem vorliegenden Entwurf sprechen wir noch einweiteres Thema an – auch die Kollegen haben es schonangesprochen –: den Dispozins . Seit Jahren fordern wirdie Banken auf, die Dispozinssätze im Internet zu veröf-fentlichen . Auch das, sollte man meinen, sollte eigent-lich eine Selbstverständlichkeit sein; Herr Schick, dagebe ich Ihnen vollkommen recht . Manche Banken sindin den letzten Jahren allerdings sehr hartnäckig gewesenund sind unserer Aufforderung nicht gefolgt . Damit mussjetzt Schluss sein . Deswegen schreiben wir in dem Ge-setz jetzt eine Offenlegung vor . Jeder Kunde kann danndie Dispozinsen online vergleichen und für sich das besteAngebot heraussuchen .
Ein weiterer Punkt, den wir angehen, sind die Bera-tungspflichten bei der Überziehung. Aus einer Umfrageaus dem Jahr 2013 geht hervor, dass etwa 10 Prozentaller Bürger jeden Monat den Dispo nutzen; 8 Prozentnutzen ihn permanent, das ganze Jahr und über Jahrehinweg . Das legt den Schluss nahe, dass vielen dieserDispokunden nicht bekannt sein kann, dass es wirklichkostengünstigere Alternativen zum Dispo gibt . Das wol-len wir und das müssen wir ändern .Wenn ein Kunde – um das jetzt genau festzulegen –sein Konto zukünftig über sechs Monate zu mehr als75 Prozent des vereinbarten Höchstbetrages überziehtoder die geduldete Überziehung über drei Monate unun-terbrochen zu mehr als 50 Prozent nutzt, wird ihm einBeratungstermin offeriert . Wichtig dabei: Es bleibt nachwie vor seine freie Entscheidung, ob er die Beratung an-nimmt oder ob er sie ablehnt .Die Beratung – das fordern wir allerdings ein – mussauf alle Alternativen zum Dispokredit hinweisen, mögli-che Konsequenzen aufzeigen oder auch geeignete Bera-tungsstellen nennen, etwa eine Schuldnerberatung .
Mir als CDU/CSU-Verbraucherschutzpolitikerin sindnatürlich die Verbraucherinformationen ganz besonderswichtig . Überall und immer spreche ich davon: Nur wennman gute Informationen hat, kann man auch eigenverant-wortlich handeln und eigenverantwortliche Entscheidun-gen treffen . Der Entwurf geht an dieser Stelle schon indie richtige Richtung, aber sicherlich gibt es an der einenoder anderen Stelle auch noch etwas nachzujustieren .Ich freue mich auf die weiteren Beratungen mit Ihnenund bin mir sicher, dass wir am Ende eine Umsetzungder Wohnimmobilienkreditrichtlinie haben werden, dieein Stück weit mehr die Handschrift der CDU trägt unduns als CDU/CSU in der Verbraucherpolitik ein weiteresStück nach vorne bringt .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Dennis
Rohde von der SPD-Fraktion .
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Welt ist komplizierter und globaler ge-worden . Wenn wir heute Kreditprodukte kaufen wollen,dann haben wir eine Fülle von Angeboten vor uns . Wennmeine Großeltern Bankgeschäfte getätigt haben, dannsind sie meistens im Dorf geblieben . Sie sind zu ihrem„Bankbeamten“ gegangen . Das war zwar in der Regelkein Beamter, aber allen Leuten kam es so vor, als seier ein Beamter . Hatten sie Geld über, haben sie es aufsSparbuch gelegt; benötigten sie Geld, haben sie bei ihmeinen Kredit aufgenommen . Und wenn sie eine Beratungbei einem Hauskauf brauchten, dann hat das alles bei die-ser einen Person stattgefunden, die in der Regel in derNachbarschaft gewohnt hat . Und wenn die Mist gebauthat, hat man bei ihr an der Haustür geklingelt und sichdort beschwert .Die Welt ist, wie ich gesagt habe, etwas komplizier-ter geworden . Wir kaufen Produkte im Internet undschließen dort Kredite ab . Wenn wir ein Haus kaufenwollen, dann haben wir nicht nur das Angebot von unse-rem „Bankbeamten“ vor Ort, sondern wir können untervielen verschiedenen Angeboten auswählen . Wir habenverschiedenste Produkte zur Auswahl, Produkte wie ein-fache Immobilienkredite, die wir sofort verstehen, aberauch Produkte mit ganz komplizierten Namen, bei denenwir erst einmal gar nicht wissen, was sich dahinter ver-steckt . So bietet zum Beispiel meine Bank einen SelectEmerging Markets Investment Grade Bond Fund an . Esist wohl allen klar, was damit gemeint ist . Wenn jeman-dem es nicht klar ist – ich habe die Beschreibung dabei .Die Welt ist also komplizierter geworden . Entspre-chend muss auch die Antwort der Verbraucherschutzpo-litik sein . Wir müssen die Verbraucherinnen und Verbrau-cher ein bisschen an die Hand nehmen .Gleichzeitig harmonisieren wir den europäischenMarkt . Wir treffen nicht nur Entscheidungen für unserLand, sondern versuchen, einen möglichst einheitlicheneuropäischen Markt aufzubauen . Dafür wurde heute einGesetzentwurf zur Umsetzung der Wohnimmobilien-kreditrichtlinie eingebracht, die ganz viele Bereiche derWohnimmobilienkredite regelt . Sie enthält – ich zitiereaus der Begründung des Gesetzentwurfs –im Wesentlichen Bestimmungen zu Werbung,
vertraglichen Informationen, Kreditwürdigkeits-prüfung, Widerrufsrecht oder Bedenkzeit, vorzeiti-ger Rückzahlung und Vorfälligkeitsentschädigung,Fremdwährungsdarlehen, Beratungsleistungen beider Kreditvergabe und -vermittlung sowie zu Kopp-lungsgeschäften .Ich weiß, die Frau Präsidentin schaut hinter mir aufdie Uhr; ich kann nicht zu allen Punkten etwas sagen . IchMechthild Heil
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möchte daher zwei Punkte herausgreifen und sie etwasnäher ausführen .Zum einen regeln wir mit der Wohnimmobilienkre-ditrichtlinie auch die Honorarberatung für diesen Be-reich. Ich finde, es ist ganz wichtig, dass wir ein zusätzli-ches Angebot für die Verbraucherinnen und Verbraucherschaffen . Aber ich möchte betonen, dass es ein zusätzli-ches Angebot ist . Denn ich glaube, dass bei vielen Ver-braucherinnen und Verbrauchern an dieser Stelle ersteinmal ein Umdenken stattfinden muss. Wenn wir heuteeine Versicherung oder einen Kredit brauchen, dann ge-hen wir davon aus, dass die Beratungsdienstleistung füruns kostenfrei ist, dass wir nicht dafür bezahlen müssen;denn der Berater bekommt ja am Ende die Provision vonder Versicherung bzw . von der Bank . Deshalb glaube ich,dass erst einmal ein Umdenken stattfinden muss, dassjetzt für diese Leistung bezahlt werden soll .Aber natürlich ergibt sich daraus auch ein Mehrwert;denn ich kann zumindest mit dem sicheren Gefühl nachHause gehen, auch wirklich das für meine individuelleSituation beste Produkt bekommen zu haben . Ich mussnicht immer die Frage im Hinterkopf haben, ob es wirk-lich das beste Produkt für mich ist oder ob es für diesesProdukt vielleicht nur die höchste Provision gab. Ich fin-de es gut, dass wir mit der Umsetzung dieser Richtliniedie Honorarberatung für diesen Bereich auf den Wegbringen .
Der zweite Punkt ist schon mehrfach angesprochenworden: Wir legen neue Regelungen für die Dispozin-sen fest . Ich möchte Frau Heil ausdrücklich recht geben:Was da auf dem Zinsmarkt stattfindet, ist zum Teil eineschreiende Ungerechtigkeit . Wir haben momentan einenBasiszinssatz von 0,83 Prozent . Der Euribor liegt weitunter 0,5 Prozent . Der Zinssatz für einen Dispokreditliegt im Durchschnitt – so die Stiftung Warentest – im-mer noch im zweistelligen Bereich . Es gibt immer nochBanken, die für Dispozinsen 15 Prozentpunkte mehr ver-langen und ihre Dispozinsen verschleiern – das hat FrauHeil gerade gesagt – und nicht veröffentlichen, sodassman sich als Verbraucher nicht informieren kann . Es istrichtig und wichtig, dass wir endlich sagen: Mit diesemGeschäftsgebaren muss Schluss sein . Jeder, der Dispo-zinsen anbietet, muss auch transparent machen, wie hochdiese sind .
Ich muss für unsere Fraktion noch einmal betonen,dass es uns natürlich am liebsten wäre, wenn wir sa-gen würden: Wir warten jetzt einmal nicht ab, was die-se Transparenzregelung bringt . Wir warten jetzt einmalnicht ab, ob sie greift . – Wir sind da guter Dinge . Diebeste Lösung ist, dass wir eine gesetzliche Deckelungauf den Weg bringen, wie sie übrigens vor wenigen Stun-den wenige Meter von hier entfernt der Bundesrat be-schlossen hat . Der Bundesrat fordert in der Umsetzungder Wohnimmobilienkreditrichtlinie eine Deckelung auf8 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz. Ich finde, dasswir uns zumindest damit noch einmal intensiver beschäf-tigen müssen .
Natürlich helfen Dispozinsen nicht denjenigen, dieüberschuldet sind . Wir wissen, dass fast 10 Prozent derBundesbürgerinnen und Bundesbürger in einer Situationsind, die man schon fast als Überschuldung oder als klareÜberschuldung, bei der der einzige Ausweg die Privat-insolvenz ist, bezeichnen muss . Für diese Bürgerinnenund Bürger brauchen wir andere Lösungen . Ich bin da-für, dass wir uns in den nächsten Wochen und Monatenauch einmal selbst die Frage stellen: Welche Regelungkönnen wir denn auf den Weg bringen, um Menschen da-vor zu schützen, überhaupt in die Verschuldungsfalle zukommen? Denn Vorbeugung ist, glaube ich, besser, alsLeute nachher in die Privatinsolvenz zu schicken . Auchdas sollte für uns eine Herausforderung in den nächstenWochen und Monaten sein .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Volker
Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das Wort „Kredit“ kommt aus dem Lateinischenund bedeutet „das in Treu und Glauben Anvertraute“ . Wirhaben die Aufgabe, in einem umfangreichen Gesetzge-bungsprozess Vertrauen gerecht zu werden und Vertrau-en zu schaffen, einerseits das Vertrauen des Verbrauchersin einen praktikablen und ordnungsgemäßen rechtlichenRahmen der Kreditabwicklung und andererseits das not-wendige Vertrauen einer Volkswirtschaft in einen funk-tionierenden Kreditmarkt . Aus Sicht des Verbraucherssteht diese Anforderung im Spannungsfeld zwischendem notwendigen Schutz einerseits und der notwendigenEigenverantwortung andererseits . Ich meine, dieser Ge-setzentwurf wird diesem Spannungsfeld gerecht .
Ich möchte auf drei Punkte eingehen, die aus meinerSicht eine nähere Betrachtung erfahren sollten .Erstens . Wir führen auch zivilrechtlich eine soge-nannte Kreditwürdigkeitsprüfung im Bereich der Ver-braucherdarlehen ein . Bislang war es so, dass lediglichdie darlehensausreichende Bank aufsichtsrechtlich nachdem Kreditwesengesetz eine Kreditwürdigkeitsprüfungvornehmen musste . Jetzt wird diese auch im BGB ver-ankert . Die Sanktionen sind durchaus gravierend: Wennein Kredit ausgereicht wird, ohne eine ordnungsgemäßeKreditwürdigkeitsprüfung vorgenommen zu haben, er-mäßigt sich gesetzlich der Zinssatz auf den öffentlicherPfandbriefe, das heißt im Augenblick auf praktisch null .Allerdings tritt diese Ermäßigung nur bei grober Fahrläs-sigkeit oder Vorsatz in Bezug auf die Mitwirkungspflichtdes Darlehensnehmers ein . Kommt der DarlehensnehmerDennis Rohde
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seiner Mitwirkungspflicht fahrlässig oder leicht fahrläs-sig nicht nach, dann kann er diese Ermäßigung nicht inAnspruch nehmen . Ich möchte betonen, dass wir im Er-gebnis den schlampigen Kreditnehmer nicht auch nochbelohnen sollten . Deswegen sollten wir bei dieser Fragenoch einmal genauer hinsehen .Ich möchte in diesem Zusammenhang auch betonen, dasswir uns überlegen sollten, ob sich die Kreditwürdigkeits-prüfung nicht auch auf sogenannte Null-Prozent-Finan-zierungen erstrecken sollte . Null-Prozent-Finanzierun-gen unterliegen nicht dem Darlehensbegriff, weil sieeben nicht entgeltlich sind . Aber die Folgen sind ähnlich,vielleicht sogar gravierender, weil demjenigen, der eineNull-Prozent-Finanzierung in Anspruch nimmt, bei-spielsweise die Möglichkeit der Einrede der Mängelrügefehlt . Das heißt, wenn er das gekaufte Gut zurückgibt,dann muss im Zweifel der Kredit dennoch bedient wer-den . Das ist eine Unbilligkeit, die wir aufheben sollten .
Bei der Frage der Dispozinsen möchte ich ein wenigmeine Enttäuschung darüber zum Ausdruck bringen, dasstrotz der Appelle aus diesem Hohen Haus und der Debat-te, die wir seit eineinhalb Jahren führen, die Banken keinZinsniveau erreicht haben, das allgemein akzeptabel unddankbar ist . Die Dispozinsen sind nach wie vor zu hoch .
Die Frage ist, wie wir darauf reagieren . GesetzlicheDeckelungen mögen eine Antwort sein . Die andere istaber, auf Transparenz und Beratung zu setzen, und zwarBeratung in einem Umfang, der es für die Banken garnicht mehr attraktiv macht, hohe Dispozinsen zu verlan-gen . Wenn Sie in diesen Gesetzentwurf schauen, dannstellen Sie fest, dass die Banken beraten und dokumen-tieren müssen . Sie müssen mehrmals beraten . Am Endedes Tages müssen sie sogar auf Schuldnerberatungen undandere Einrichtungen hinweisen . Da wäre es doch für dieBanken zukünftig einfacher, die Dispozinsen zu senken,um diesen Dokumentationspflichten zu entgehen.Der letzte Punkt bezieht sich auf die Vorfälligkeitsent-schädigung und ihre Deckelung . Es ist zunächst einmalKonsens, dass Vorfälligkeitsentschädigungen ein wichti-ges Instrument sind, weil sie die Disposition der Bankund das Vertrauen auf die Laufzeit des Darlehens einStück weit kompensieren und weil damit die Banken ihreeigenen Refinanzierungsmöglichkeiten besser absichernkönnen . Die Frage ist also, ob eine Vorfälligkeitsentschä-digung gerade im Bereich der Immobilienkredite gede-ckelt werden sollte oder nicht . Ich bitte darum, dass wirdiese Frage sehr sorgsam prüfen . Es nützt nämlich nichts,wenn wir die Vorfälligkeitsentschädigungen bei Immobi-liendarlehen deckeln, dadurch aber das Zinsniveau allge-mein steigt, wir das Festzinsniveau in Deutschland unter-minieren und damit am Ende die Kredite für Häuslebauerteurer sind . Wir hätten dem ganzen System damit einenBärendienst erwiesen . Das wollen wir nicht . Wir stehenan der Seite unserer Häuslebauer .
Meine Damen und Herren, es ist ein umfangreichesGesetzespaket mit einer enormen praktischen Auswir-kung . Deswegen kann ich für unsere Fraktion zusichern,dass wir dieses Gesetzesvorhaben sehr sorgsam und in-tensiv begleiten und offen sind für praxistaugliche, ver-braucherfreundliche und das System unserer Volkswirt-schaft schützende Vorschriften und Vorschläge .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 18/5922 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Müller , Sigrid Hupach, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kinderrechte umfassend stärken
Drucksache 18/6042
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend zu dem
Antrag der Abgeordneten Doris Wagner, Beate
Walter-Rosenheimer, Dr . Franziska Brantner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Von Anfang an beteiligen – Partizipations-
rechte für Kinder und Jugendliche im demo-
grafischen Wandel stärken
Drucksachen 18/3151, 18/5276
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze
einzunehmen .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner hat
Norbert Müller von der Fraktion Die Linke das Wort .
Gleichzeitig bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, sich
an die Redezeit zu halten; denn wir sind schon in Verzug .
Ich will es versuchen, Frau Präsidentin .Dr. Volker Ullrich
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher, die Sieam Freitagnachmittag auf der Tribüne sitzen! Es ist einegute Gelegenheit, dass wir auf der Grundlage einer Pe-tition, die über 100 000 Menschen unterzeichnet haben,jetzt darüber reden können, in Deutschland einen Kin-derbeauftragten einzuführen . Die Debatte ist deutlich äl-ter . Es gibt sie seit den 80er-Jahren . Aber immerhin hatder Druck der Petition insgesamt wieder Bewegung indas ganze Thema „Kinderrechte“ und „Kinderrechte insGrundgesetz“ gebracht .Der Antrag, den wir vorgelegt haben, vereint erstmalsdie Frage der Einberufung eines Kinderbeauftragten aufder einen Seite mit der Umsetzung der UN-Kinderrechts-konvention, die am 20 . November ins 27 . Jahr ihres Be-stehens geht, und der Aufnahme von Kinderrechten insGrundgesetz auf der anderen Seite . Warum wollen wirKinderrechte stärken? Wir glauben, dass Kinderrechteins Grundgesetz gehören, damit die UN-Kinderrechts-konvention in all ihren Punkten wirkungsmächtig umge-setzt werden kann .Gerade die Vereinten Nationen weisen immer wiederauf Defizite in Deutschland hin. Ich will nur einige exem-plarisch nennen: hohe Kinderarmut bei gleichzeitigemmassivem Reichtum im Land, frühe Selektion im Bil-dungssystem und verwehrte Bildungschancen, die häufigmit der Armut der Familien zu tun haben und sich dannvererben, massive Qualitätsunterschiede bei Betreuungund Bildung im Land, aber auch Rekrutierung und Wer-bung der Bundeswehr in Schulen und Kitas, Rekrutie-rung von 17-Jährigen zum Dienst an der Waffe – auf frei-williger Basis, aber immerhin –, mangelnder Schutz fürbesonders schutzbedürftige Gruppen wie junge Flücht-linge oder junge Menschen mit Behinderung; über jungeFlüchtlinge haben wir heute früh bereits gesprochen .Ich glaube übrigens, Herr Lehrieder: Hätten wir be-reits einen Bundeskinderbeauftragten, dann würde erIhnen – ähnlich wie ein Menschenrechtsbeauftragter –angesichts des heute früh andiskutierten Gesetzes zurUmverteilung von unbegleiteten minderjährigen Flücht-lingen die Leviten lesen .
Was ist jetzt der Stand im Verfahren, und was sind dieInteressen der Koalition? Ich hatte gesagt: Die Debatteum die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetzist 25 Jahre alt . Es gab bereits in den 80er-Jahren eineBewegung für die Einsetzung eines Kinderbeauftragten .Im Ergebnis wurde immerhin die Kinderkommission desDeutschen Bundestages eingerichtet . Nun müssen wir ei-nen Schritt weiter gehen .Die Petition hat 114 000 Unterschriften erzielt . Abersie betrifft eben nur eine Seite der Medaille . Um einenUN-kinderrechtskonformen Zustand in Deutschland her-zustellen – darauf weist die Konvention selbst bereitshin –, muss die Konvention in nationales Recht, auch innationales Verfassungsrecht, überführt werden . Ein Kin-derbeauftragter kann dabei als Ergänzung zur Stärkungder Rechtssubjektstellung von Kindern im Grundgesetzangesehen werden . Es gehört eben zusammen; man darfes nicht voneinander isolieren .Was sind die drei Kernziele unseres Antrages?Erstens . Wir wollen die Kinderrechte ins Grundgesetzbringen, das heißt, wir wollen den Vorrang des Kindes-wohls und den Anspruch der Kinder auf Schutz, Förde-rung und Beteiligung verfassungsrechtlich verankern .Das ist dringender denn je .Zweitens . Wir wollen im Grundgesetz einen unab-hängigen Kinderbeauftragten verankern . Das ist eineForderung, die auch von den Verbänden erhoben wird .Es gibt immer den Hinweis auf den Wehrbeauftragten .So ähnlich kann man sich das vielleicht vorstellen . Ichglaube, wenn man auf der einen Seite die Rechtssubjekt-stellung der Kinder stärkt, indem man die Kinderrechteim Grundgesetz verankert, muss dies zwingend nach sichziehen, den Kinderbeauftragten ebenfalls im Grundge-setz zu verankern .Drittens . Wir brauchen ein Gesetz über die Befugnisseeines Kinderrechtsbeauftragten .
Wie können diese Befugnisse aussehen, liebe Kol-leginnen und Kollegen? Ein Kinderbeauftragter könn-te unseres Erachtens zur Kinderrechtskonformität vonGesetzesvorhaben des Bundes – möglicherweise auchder Länder, wenn man das ganze System so ausgestal-tet – Stellung nehmen . Er könnte Behördenhandeln, dasgegen die UN-Kinderrechtskonvention verstößt, kritisie-ren . Wir bauen allmählich über das Deutsche Institut fürMenschenrechte entsprechende Strukturen auf, aber wirsind da erst ganz am Anfang .Kinderrechte müssen ins öffentliche Bewusstsein ge-bracht werden . Auch dafür kann ein KinderbeauftragterBotschafter an prominenter Stelle sein . Er kann aber auchAnsprechpartner für die zum Teil schon vorhandenenKinderbeauftragten auf Landes- und kommunaler Ebenesein .Wir wollen dem Kinderbeauftragten darüber hinausRechte geben . Auch deswegen muss er in der Verfassungverankert werden . Wir wollen, dass er Akteneinsicht undein Anhörungsrecht, aber auch ein Recht auf Amtshilfeerhält, um beschwerdeführende Kinder vertreten zu kön-nen .Wir wollen, dass Landesverfassungen und Landesge-setze an den Vorrang des Kindeswohls angepasst werdenbzw . – um es mit den Worten der UN-Kinderrechtskon-vention zu sagen – im besten Interesse des Kindes for-muliert werden .Wir wollen, dass die Beteiligungsmöglichkeiten suk-zessive ausgebaut werden . Dafür bedarf es aber auch ent-sprechender finanzieller Möglichkeiten auf kommunalerund Landesebene sowie auf Bundesebene .Die Monitoringstelle, die jetzt beim Deutschen Ins-titut für Menschenrechte eingerichtet werden soll, mussdeutlich stärker aufgestellt werden, damit sie wirklich be-fähigt wird, dafür zu sorgen, dass die UN-Kinderrechts-konvention vollständig umgesetzt wird und es keine grö-Norbert Müller
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ßeren Verletzungen mehr geben kann; sie muss ertüchtigtwerden . Dass es sie gibt, kann eben nur ein Anfang sein .
Wir haben erste Befürchtungen, was die Koalition darausmachen wird . Wir wissen, dass Sie da unterschiedlichsteVorstellungen haben . Ich weiß, dass die Sozialdemokra-ten ebenso – da sind wir uns sehr einig – die Kinderrechteins Grundgesetz aufnehmen und einen Kinderbeauftrag-ten einsetzen wollen . Wir hören aus der Union – wir hat-ten ja schon eine erste Anhörung dazu –, dass auch Siesich vorstellen könnten, einen Kinderbeauftragten einzu-setzen . Aber was ich da an konkreten Vorstellungen höre,das macht mir eher Angst und Bange .Ich sage Ihnen deutlich: Wenn die Debatte über einenKinderbeauftragten am Ende dazu genutzt wird, um diespezifische Stellung der Kinderkommission des Deut-schen Bundestages zu schleifen – das nennen Sie dannAufwertung, ich nenne das Abwertung –, daraus einenordentlichen Ausschuss zu machen, oder wenn sich dieFraktionen der Großen Koalition mit Fraktionszwangdurchsetzen, um den Anfang von öffentlicher Ombud-schaft für Kinder – denn das ist die KiKo ein Stückweit – wegzuschleifen, um dann einen zahnlosen Kin-derbeauftragten, der in Personalunion auch Vorsitzenderder Kinderkommission sein soll, zu installieren, dann istdas genau der falsche Weg . Das führt zum Abbau vonKinderrechten . Das geht nicht in die richtige Richtung .
Wir wollen, dass das Amt des Bundeskinderbeauf-tragten keine Alibiveranstaltung wird . Wir wollen die114 000 Petentinnen und Petenten ernst nehmen . Sieernst zu nehmen, heißt in erster Linie – ich komme zumSchluss –, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen,aber auch, einen Kinderbeauftragten zu installieren, derhandlungsfähig ist . Er muss Verfassungsrang bekommen,und er muss eine gesetzliche Grundlage bekommen, da-mit er ordentlich arbeiten kann .Ich wünsche mir eine konstruktive Debatte über un-seren Antrag im Ausschuss . Herr Lehrieder, ich wünschemir auch, dass wir die Durchführung einer Anhörung imAusschuss nicht weiter aufschieben, sondern zu einerzeitnahen Terminierung kommen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Eckhard Pols
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! LiebeJugendliche auf der Tribüne, ich freue mich, dass dieserDebatte auch junge Leute beiwohnen!Herr Müller hat es schon gesagt: Wir befassen unsheute mit zwei Anträgen der Oppositionsfraktionen, diesich in unterschiedlicher Breite und unterschiedlicherTiefe der Frage der Kinderrechte widmen . Sie beziehensich auf Rechte – das haben wir schon gehört –, die inder UN-Kinderrechtskonvention verbrieft sind und damitunmittelbare Geltung in unserem Land haben . Es sind diewichtigen Rechte auf Schutz vor Gewalt und Krieg, auffreie Meinungsäußerung, auf ein gesundes Aufwachsen,aber auch auf Freizeit, Ruhe und Spiel, um nur einige zunennen .Ich denke, Kollege Müller, dass wir in einigen Punk-ten nicht ganz so weit mit den anderen Fraktionen aus-einanderliegen, was die Wertschätzung und den Wunschnach Stärkung der Kinderrechte in Deutschland angeht .
Insbesondere in Zeiten von Flüchtlingsströmen und in-ternationalen Krisen ist das Kindeswohl etwas, das un-serer besonderen Aufmerksamkeit bedarf . Vielmehr: Essind die Kinder, die unseres Schutzes bedürfen . Ich den-ke hier besonders an die unzähligen unbegleiteten min-derjährigen Flüchtlinge, denen wir schnellstens Obdach,Sicherheit und ein möglichst kindgerechtes Umfeld bie-ten müssen .
Nicht umsonst ringen wir intensiv um den Gesetzent-wurf zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgungund Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher,über den wir heute Vormittag in diesem Hause debattierthaben .Bei aller Einigkeit bei der Einstellung zu Kinderrech-ten gibt es jedoch im Detail einiges, was uns, die Opposi-tionsfraktionen und die Koalitionsfraktionen, trennt . Dasist vor allem die Frage der praktischen Umsetzung . Wel-che Wege wollen wir einschlagen, um eine Stärkung derKinder und ihrer unveräußerlichen Rechte zu erreichen?Im Grunde lässt sich dabei die wiederkehrende Debatteauf zwei zentrale Punkte zuspitzen: Werden Kinderrech-te stärker wahrgenommen, wenn sie im Grundgesetz ste-hen? Werden sie besser geachtet, wenn es einen Bundes-kinderbeauftragten bzw . eine -beauftragte in Deutschlandgibt?Gerade in der letzten Zeit – Herr Müller hat es ange-sprochen – hat der letzte Punkt durch eine Petition desBerufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte ein biss-chen Aufwind bekommen . An dieser Stelle möchte ichden Petenten danken, dass sie uns wichtigen und richti-gen Input gegeben haben und den Finger auf einen Punktlegen, über den seit vielen Jahren innerhalb und außer-halb der Politik debattiert wird .
Der Antrag der Linken und in Teilen auch der Antragder Grünen greift die Forderung der Petenten auf . Siefügen dem potenziellen Amt aber auch weitere Anforde-rungen, Aufgaben und Strukturen hinzu . Ich sage auch –es ist ein offenes Geheimnis –, dass ich einer StärkungNorbert Müller
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der Kinderrechte, in welcher Form auch immer, offengegenüberstehe .Dennoch halte ich den Zeitpunkt der Anträge für un-glücklich . Denn wie auch Sie, liebe Kollegen der Op-positionsfraktionen, wissen, findet innerhalb der Regie-rungskoalition eine intensive Diskussion – ich schauehier besonders meine Kollegin Rüthrich an – über die Pe-tition und die politischen Handlungsmöglichkeiten statt .
Diese Diskussion ist noch nicht abgeschlossen,
und ich möchte dem Ergebnis an dieser Stelle auch nichtvorgreifen . Für mich ist bei allen Optionen, die wir ha-ben, die derzeit im Raum stehen, entscheidend, dass wiram Ende eine substanzielle Verbesserung für Kinder undderen Interessen erreichen . Das ist genau das, was ich,glaube ich, vor einem Jahr in der Debatte zum 25 . Jubi-läum der Kinderrechtskonvention hier deutlich gemachthabe .Es muss die Frage geklärt werden, ob die Einrichtungeiner neuen Bundesstelle für die Anliegen von Kindernhilfreich ist oder ob dadurch hinderliche Doppelstruktu-ren zu bestehenden Institutionen und Organen geschafftwürden . Auch muss geklärt werden, ob Verbesserungenbestehender Organisationen nicht sinnvoller sind, umeine Aufwertung der Kinderrechte zu erreichen .Parallel zur Diskussion der angesprochenen Fragennehmen wir voraussichtlich schon im Herbst eine wich-tige Stärkung von Kinderrechten vor, indem wir dieMonitoringstelle für die Umsetzung der Kinderrechts-konvention einsetzen . Sie wird beim Deutschen Institutfür Menschenrechte angesiedelt und mit Bundesmittelngefördert . Daran wird deutlich: In Sachen Kinderrechteist einiges in Bewegung . Es ist also anders, als die Oppo-sition uns das immer wieder glauben machen will .An dieser Stelle möchte ich einen Hinweis zum An-trag der Grünen geben – das habe ich in der Ausschuss-debatte schon angesprochen; als aktiver Kommunalpo-litiker möchte ich das aber wiederholen –: Viele IhrerVorschläge zur Beteiligung mögen im ersten Momentsinnvoll und schön klingen, aber leider nur im ersten Mo-ment; denn – das wissen Sie alle – wir haben in der Bun-desrepublik Deutschland aus gutem Grund eine föderaleGrundordnung . Aus einem ebenso guten Grund werdenviele Entscheidungen möglichst nah am Menschen ge-troffen . Das ist übrigens ein Gütezeichen dieser födera-len Ordnung: geteilte Zuständigkeiten und gemeinsameAufgaben . Diese Erkenntnis sprechen Sie, werte Kolle-gen der Grünen, in Ihrem Antrag indirekt selbst an . Siestellen zu Recht fest, dass eine Beteiligung von Kindernan den Orten am meisten Sinn macht, an denen die Kin-der direkt betroffen sind, nämlich in ihrem Lebensum-feld . Umso verwunderlicher ist es für mich, dass Siedabei nicht feststellen, dass ein Großteil der in Ihrem An-trag formulierten Forderungen nicht in die Zuständigkeitdes Bundes fällt, sondern dafür aus guten Gründen dieLandesebene oder die Kommunen zuständig sind .Partizipation von Kindern fängt überall dort an, wo dieLebenswelten von Kindern berührt sind . Das beginnt inder Familie, geht über den Kindergarten und die Schulenbis zum Sportverein, also im direkten örtlichen Umfeld .Es gibt wunderbare Beispiele, wie Kinder und Jugendli-che vor Ort eingebunden werden können . Ich denke andie engagierten Schülersprecher, an Vorstandsmitgliederin Vereinen, aber auch die zahlreichen Kinder- und Ju-gendparlamente, an die Kreisjugendringe, die Jugendge-meinderäte oder die Kinder- und Jugendbeauftragten . Sieleisten eine hervorragende Arbeit im Lebensumfeld derKinder, und damit unmittelbar erlebbar für die Kinder .Die engagierten Jugendlichen, aber auch die Man-datsträger vor Ort können sich der Unterstützung desBundes sicher sein, sei es über Fördermittel aus demFonds „Demokratie leben!“, die gezielt für die Bildungvon Jugendforen und Jugendfonds zur Verfügung stehen,über spezielle Förderinstrumente des Innovationsfondsdes Kinder- und Jugendplans des Bundes oder durchpraktische Tipps in der Broschüre „Qualitätsstandardsfür Beteiligung von Kindern und Jugendlichen“ des Bun-desministeriums .Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Vie-le Kommunen gehen bereits neue und auch innovativeWege in Sachen Kinder- und Familienfreundlichkeit,schlicht und ergreifend, weil sie es müssen . Offenheit fürdie Belange der Kinder und die besonderen Bedürfnissevon Familien ist ein Standortvorteil, den ein Lokalpoliti-ker natürlich gerne für sich nutzt .
Dieses Engagement und den Ideenreichtum kleinzu-reden, liebe Kolleginnen und Kollegen, empfinde ich einbisschen als Missachtung des Engagements der Men-schen vor Ort . Anträge, die von einer solchen Einstellunggetragen werden, Herr Müller, kann und will ich nichtunterstützen .Lassen Sie uns den Menschen und den Strukturen vorOrt vertrauen . Bringen wir ihnen Vertrauen entgegen;denn die Menschen vor Ort wissen, wo Hilfe dringendnötig ist . Unsere Aufgabe besteht zum großen Teil darin,die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen .Ich glaube, wir sind da auf dem richtigen Weg .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht BeateWalter-Rosenheimer von der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Ich bin froh,dass wir heute diese Debatte zum Thema KinderrechteEckhard Pols
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führen . Ich begrüße ausdrücklich den Antrag der Linken,über den wir heute sprechen und zu dem wir unseren An-trag „Von Anfang beteiligen“ dazugestellt haben .Kinder- und Jugendpartizipation im Zeitalter desdemografischen Wandels ist in aller Munde. Diskutiertwird über Kinderrechte . Experten referieren, wie gut undwichtig eine möglichst frühe altersgerechte Beteiligungvon Kindern ist und wie wichtig diese für unsere Gesell-schaft ist . Ich glaube, da sind wir uns alle einig .Warum sprechen wir aber immer noch und immer wie-der darüber, Kinderrechte umfassend zu stärken? Weil,sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Begriffe inder Theorie zwar gut klingen, in der Praxis aber immernoch relativ stiefmütterlich behandelt werden .
Da heißt es: endlich handeln!
Die UN-Kinderrechtskonvention ist bei uns nichtvollständig umgesetzt, auch nicht im Hinblick auf diePartizipationsrechte . Die Vereinten Nationen ermahnenDeutschland immer wieder, den Kinderrechten mehrpolitisches Gewicht zu verleihen . Deutschland ist, wasKinderrechte angeht, ein Flickenteppich . Das sage nichtich, das sagen nicht die Grünen, sondern das sagen dieVereinten Nationen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Siefordern in Ihrem Antrag einen Gesetzentwurf, „der dieKernaufgaben, die Befugnisse, die Stellung sowie dieAusstattung des/der Bundeskinderbeauftragten regelt“ .Das finde ich gut. Das wollen auch wir als Grünefraktion.Eines muss klar sein: Wenn wir einen Kinderbeauftrag-ten auf Bundesebene etablieren, dann braucht dieser einegewichtige Stimme – und kein Stimmchen .
Die Position muss stark sein und darf kein Spielball poli-tischer Interessen werden .Kinder- und Jugendpolitik ist aber viel mehr . Siebedeutet Beteiligung . Das hat Herr Pols, mein Kollegeaus der Kinderkommission, gerade schon gesagt . Selbstentscheiden, selbst mitmachen, natürlich vor Ort in derFamilie, aber auch überall, Demokratie lernen . In IhremAntrag, liebe Linke – das ist für mich ein Wermutstrop-fen –, kommt dieser Partizipationsstrang ein bisschen zukurz . Deshalb haben wir uns in unserem Antrag auf dasWahlalter 16 fokussiert . Auch dieses Thema wird seitlangem diskutiert .
Einzelne Kommunen und Länder sind mit gutem Bei-spiel vorangegangen . Nur im Bund warten wir bis heutedarauf . Das muss sich ändern .
Warum? Ich finde, da lohnt sich ein genauerer Blick.Ihre Ministerin, Frau Schwesig, war auch Ministerin imMecklenburg-Vorpommern und hat sich dort vehementfür die Einführung des Wahlrechts ab 16 eingesetzt . Undwas ist passiert? Dürfen Jugendliche unter 18 jetzt denLandtag in Schwerin mitwählen? Nein, sie dürfen esnicht . Nun ist Frau Schwesig Bundesfamilienministerin .
– Ja . Da war sie aber nicht . – Plötzlich scheint diesesThema von ihrer jugendpolitischen Agenda komplett ver-schwunden zu sein . Die Opposition in Mecklenburg-Vor-pommern hat der Ministerin, die heute leider nicht da ist,
damals vorgeworfen, dass sie, was dieses Thema angeht,zwar – ich zitiere jetzt nur – kluge Reden hält, aber wennes darauf ankommt, schweigt und nicht handelt . Ich hof-fe, dass wir es auf Bundesebene nicht mit dem gleichenPhänomen zu tun haben .Die Frau Ministerin hat in ihrer eigenen Fraktion beidiesem Thema doch einen großen Rückhalt . Erst kürz-lich, im Juli, hat der werte Herr Kollege Rix die generel-le Absenkung des Wahlalters auf 16 gefordert . Die FrauMinisterin hat viele gute Dinge durchgesetzt – das willich nicht bestreiten, und ich bin auch sehr froh darüber –,aber jugendpolitisch sieht das anders aus . Jugendpoli-tisch ist ihre Bilanz ein weißer Fleck auf der Landkarte .
Die Hälfte dieser Wahlperiode ist um . Langsam wirdes Zeit . Oder ist Ihnen beim Thema Jugendpolitik buch-stäblich auf halber Strecke die Luft ausgegangen? Ichnenne ein Beispiel . Nach der Wahl haben Sie einen Ju-gend-Check angekündigt . Das klingt erst einmal total gutund hört sich richtig gut an . Im Juli 2015 wollte ich vonIhrem Ministerium wissen, was daraus wird und wannder Jugend-Check eingeführt wird . In der Antwort leseich, dass Sie sich im September auf Arbeitsebene mit denKollegen des österreichischen Familienministeriums zu-sammensetzen . Das ist Mitte der Legislaturperiode daserste Gespräch auf Arbeitsebene . Na ja, da brauche ichnicht mehr viel zu sagen .
Sehr geehrte Große Koalition, geben Sie sich einenRuck! Es spricht vieles für das Wahlalter 16 und nichtsVernünftiges dagegen .
Beate Walter-Rosenheimer
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Wie sagte Frau Ministerin Schwesig selbst zum Welt-kindertag am vergangenen Sonntag so schön: „Wir müs-sen Jugendliche ernst nehmen, ihnen konkrete Angebotemachen, die Zukunft unserer Gesellschaft aktiv mitzu-gestalten“?
– Genau . – Machen Sie sich ans Werk . Die Devise heißt:Wagen statt Zaudern, Handeln statt Ankündigen, Umset-zen statt Versprechen . Stehen Sie zu Ihren Worten, undhandeln Sie auch für Jugendliche .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Svenja
Stadler von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Kürz-lich habe ich auf einem Elternabend einen interessan-ten Satz gehört: Dass Kinder Pflichten haben, wird gernerwähnt, dass sie aber auch Rechte haben, wird ebensogern vergessen . – Natürlich haben Kinder Rechte, undzwar ganz spezielle Rechte .
Dazu gehört insbesondere die Feststellung, dass Kinderund Jugendliche Träger eigener Rechte sind und nichtbloß als Teil einer Familie oder als Kind von Eltern be-trachtet werden dürfen .Deshalb freue ich mich, dass wir zwei Anträge vorlie-gen haben, die uns einen Anlass geben, hier heute überdas wichtige Thema Kinderrechte zu diskutieren . – HerrWeinberg, ich freue mich, wenn Sie mitdiskutieren . Dan-ke .
– Vorher sollten Sie mir vielleicht zuhören .Zum einen diskutieren wir über den Antrag der Lin-ken, der die UN-Kinderrechtskonvention in den Mittel-punkt stellt . In diesem Monat jährt sich zum 25 . Mal dasInkrafttreten der Konvention . Das bedeutet, dass heutedie erste Generation Kinder bereits erwachsen ist, dievon diesen Rechten profitiert hat. Ich finde, das ist einGrund zum Feiern, zum Feiern der Konvention selbst alsGrundlage für eine Politik, die Kindern ein gutes Auf-wachsen ermöglicht, und zum Feiern der Fortschritte, diewir bei ihrer Umsetzung gemacht haben . Denn der Kin-derrechtsausschuss der Vereinten Nationen, der die Staa-tenberichte zur Umsetzung der Konvention auswertetund beurteilt, stellte zuletzt fest, dass Deutschland großeFortschritte gemacht hat .
Darüber hinaus gab es auch Verbesserungsvorschlä-ge . Zum Beispiel wurde vorgeschlagen, eine unabhän-gige Monitoringstelle einzurichten . Diese wird übrigensinzwischen vom Familienministerium installiert . Sie istvollständig unabhängig und – das wurde richtig fest-gestellt – beim Deutschen Institut für Menschenrechteangesiedelt . Die Geschäftsführerin und auch die Mitar-beiter sind eingestellt, und die Strukturen werden geradeaufgebaut .
Sehen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-ken, wir arbeiten kontinuierlich daran, die Umsetzungder Konvention zu verbessern .Das Jubiläum ist aber auch ein Anlass, wie ich finde,sich zu fragen, was wir noch tun können, um die Rech-te von Kindern und Jugendlichen zu verbessern und zustärken . Für mich liegt es ganz klar auf der Hand: DieKinderrechte gehören ins Grundgesetz .
Auch mit unserer Familienministerin Manuela Schwesigsind wir uns darin einig .Neben dem Antrag der Linken sprechen wir heuteauch über einen Antrag der Grünen .
Ihnen geht es insbesondere um die Beteiligungsrechteund die Partizipation von Kindern und Jugendlichen .Dieser Teilbereich der Kinderrechte ist mir als engage-mentpolitische Sprecherin meiner Fraktion besonderswichtig .
Denn Beteiligung und das Sicheinbringen in eine demo-kratische Gesellschaft müssen von Anfang an erfahrenund erlernt werden .Ich möchte hier noch einmal auf die aktuelle Situa-tion der Flüchtlinge zu sprechen kommen . Bei uns inDeutschland leben bereits jetzt viele Kinder und Jugend-liche, die aufgrund von Kriegen, Terror und Verfolgungaus ihren Heimatländern flüchten mussten. Machen wiruns nichts vor: Weitere werden kommen . Viele von ihnenleben ohne Eltern oder Familie bei uns . Ihnen müssen imSinne der Chancengleichheit, wie sie in der UN-Kinder-rechtskonvention festgeschrieben ist, dieselben RechteBeate Walter-Rosenheimer
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zukommen wie allen anderen Mädchen und Jungen inDeutschland auch .
Deshalb ist es unendlich wichtig, dass gerade diese Kin-der und Jugendlichen von Anfang an das Gefühl haben,dass sie sich und ihre Interessen einbringen können, dasssie bei uns Gehör finden, dass wir sie ernst nehmen.Wer Demokratie lernen soll, der muss von Anfang andie Erfahrung machen, dass Demokratie etwas mit ihmselbst zu tun hat . Wir müssen dafür Sorge tragen, dassdie Beteiligungsrechte wirklich allen Kindern zustehen,unabhängig von ihrer Herkunft und unabhängig von ihrerReligion .Bereits heute Vormittag haben wir über die unbeglei-teten minderjährigen Flüchtlinge und ihre Situation ge-sprochen . Der dazu vorgelegte Gesetzentwurf ist in mei-nen Augen eine gute Grundlage . Wir müssen aber auchweiterhin sehr genau darauf achtgeben, dass die Rechtevon Kindern gewahrt und geachtet bleiben . Auch ange-sichts einer Krisensituation können und dürfen wir hierkeine Abstriche machen .
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass inunserem Land jedes Kind gut und frei von Gewalt auf-wächst, von Anfang an gute Bildung genießt und sich ak-tiv in unsere Gesellschaft einbringen kann, unabhängigvon seiner Herkunft und unabhängig von seiner Religion .Packen wir es an!Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dr . Silke
Launert von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Jahrenwird kontrovers darüber diskutiert, ob wir Kinderrech-te in das Grundgesetz aufnehmen sollen . Das 25-jähri-ge Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention bietet nuneinmal mehr Gelegenheit, darüber zu diskutieren, und istAnlass für die Anträge der Opposition .
Was da beantragt wird, hört sich zunächst einmal gutan: „Kinderrechte ins Grundgesetz!“ – Was, die stehen danoch nicht drin? Das kann doch nicht sein .
Aber beim Durchlesen des Antrages stellt man sich,wenn man sich genau mit dem Verfassungsrecht beschäf-tigt hat, die Frage: Ist es denn wirklich so? Sind Kinderbei uns in Deutschland verfassungsrechtlich noch nichtausreichend abgesichert?
[DIE LINKE]: Ja, so ist es!)
[DIE LINKE]: Eigenständige
das wird hier nicht oft genug betont, aber es ist so . Siesind Träger des Grundrechts auf Menschenwürde, Arti-kel 1 Grundgesetz . Sie sind Träger des Grundrechts aufLeben und Gesundheit, Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz;das ist relevant, wenn Kinder zu Hause verletzt werden .Sie sind Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts;das wird immer wieder angeführt . Sie sind nach dergeänderten Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts inzwischen sogar Träger des Rechts auf Pflege undErziehung durch die Eltern aus Artikel 6 Absatz 2 Grund-gesetz . Die Rechtsprechung hat also schon sehr viel ent-wickelt; es gibt da sehr viel . Kinder sind Menschen, undsie haben dieselben Grundrechte wie Menschen .
– Ja, weil Sie so tun, als seien Kinder bei uns in der Ver-fassung nicht ausreichend geschützt . So ist es eben nicht .
Ich frage mich: Wenn wir jetzt anfangen, Kindern be-sonderen Schutz zuzugestehen, kommen dann nicht auchdie Senioren, kommen dann nicht zu Recht auch die Be-hinderten und sagen: „Auch wir möchten einen besonde-ren Schutz bekommen“?
Kommt dann nicht – zu Recht – die nächste Gruppie-rung?
Genau darum geht es . Das ist mit dem System der Grund-rechte, so wie es derzeit angelegt ist, nicht vereinbar .
Wissen Sie, ich habe ein Jahr Verfassungsrecht ge-macht, mich ein Jahr mit Artikel 6 Grundgesetz beschäf-tigt .
Svenja Stadler
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– Nein, aber die, die das fordern, haben sich meistenseben nicht so tief eingearbeitet . Deshalb würde ich Ihnengern kurz sagen, was da drinsteht .Es gibt in der Verfassung eine zentrale Norm, in derdas Verhältnis Kinder/Eltern/Staat geregelt ist . Dafürgibt es auch einen Grund; den erzähle ich Ihnen nachher .Wenn ich Sie jetzt fragen würde, würden Sie ihn nämlichwahrscheinlich nicht kennen .
Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz besagt:Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürlicheRecht der Eltern– das natürliche Recht! –und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.Das heißt, die Eltern sind in der Pflicht. Das ist also nichtnur das einseitige Recht der Eltern, sondern es ist eindienendes Recht im Interesse des Kindes . Entscheidendist das Kindeswohl . Wenn Sie sagen: „Wir brauchen dasKindeswohl“, antworte ich Ihnen: Da steckt es drin . DasBundesverfassungsgericht sagt das schon die ganze Zeit .In Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz geht es wie folgtweiter – Satz zwei –:Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemein-schaft .Genau das ist der Unterschied, den wir hier haben: Eserfolgt eine Kontrolle durch den Staat . Die Eltern habendas natürliche Recht und die Pflicht, die Interessen derKinder wahrzunehmen . Der Staat darf dagegen nur wa-chen und nicht von vornherein bestimmen, was das Kin-desinteresse ist .
Der Staat darf eingreifen – es gibt aber Gegenrech-te, zum Beispiel das allgemeine Persönlichkeitsrechtdes Kindes –, und er darf sogar – Artikel 6 Absatz 3 desGrundgesetzes – das Kind von den Eltern trennen, wenndie Erziehungsberechtigten versagen oder wenn das Kindzu verwahrlosen droht . Glauben Sie mir: In der Praxispassiert es nicht selten, dass die Eltern versagen und manihnen die Kinder wegnehmen muss . Weil es Kinderrechtegibt, dürfen Kinder auch jetzt schon den Eltern wegge-nommen werden .Wir haben ein ausdifferenziertes System, und dasfunktioniert . Sie wollen mir doch nicht im Ernst sagen,dass alle Kinder bei uns schrecklich leiden .
Der Rechtsprechung gelingt es hier, für einen angemes-senen Ausgleich zu sorgen .Ich möchte jetzt noch einmal ganz kurz sagen, warumsich diejenigen, die die Verfassung geschrieben haben,für diesen Ausgleich entschieden haben: Sie haben sichfür diese Gestaltung entschieden, weil man während derNS-Diktatur entsprechende Erfahrungen gemacht hat .Damals war es üblich, die Kinder den Eltern wegzuneh-men und sie, wann man wollte, von morgens bis abendsfremdzubetreuen und zu indoktrinieren . Glauben Sie esmir: Genau das ist der Grund, warum diejenigen, die dieVerfassung geschrieben haben, den Artikel 6 Absatz 2 soverankert haben, wie er ist .
– Ich weiß, dass Sie es nicht wissen, sonst würden Siesich nicht so aufregen . – Die Eltern sollen ein bisschenFreiheit haben, und der Staat soll nicht diktieren, was dasWohl des Kindes ist .
Das ist mein Problem:
Was wollen Sie mit Ihrem Antrag? Wollen Sie, dass wireinfach nur eine schöne Symbolpolitik machen, die mangut verkaufen kann, nach dem Motto: Kinderrechte jetztauch ins Grundgesetz?
– Nein, Sie haben es nicht verstanden .
Wollen Sie nur eine Symbolpolitik? Die haben wir jetztschon. Wollen Sie, dass der Staat mehr in die Pflicht ge-nommen wird? Oder wollen Sie – das ist der Grund, wa-rum ich bezüglich dieses Antrags Angst habe –, dass wirnoch mehr Gegenrecht – Kinder gegen Eltern – haben?Wer bestimmt das Recht der Kinder? Der Staat? Wol-len Sie, abgesehen von all den Einschränkungen des El-ternrechts, die wir jetzt schon haben, dass jemand vomSchreibtisch aus alles besser weiß und bestimmt? Ich willdas nicht .
Ich kann es nicht mehr hören, dass man von morgensbis abends immer nur sagt, Fremdbetreuung sei das ein-zig Wahre .
Glauben Sie es mir: Wir brauchen auch ein bisschen Frei-heit für die Eltern . Geben Sie sie ihnen, und lassen Siees sein .
Dr. Silke Launert
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Ich habe einfach Angst, dass hier eine weitere Stär-kung wieder dazu genutzt wird, um gegen die Eltern zuschießen . In diesem Zusammenhang sage ich: DenkenSie noch einmal darüber nach . Ich weiß, es ist 70 Jahreher . Viele wissen es nicht mehr . Wehret den Anfängen!Es gibt einen Grund, warum der Artikel 6 Absatz 2 desGrundgesetzes so aussieht, wie er aussieht .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Susann
Rüthrich von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Dem überwiegenden Teil der Kinder inDeutschland geht es gut . Sie wachsen geborgen auf undbringen sich ein . Ein Beispiel aus der vergangenen Wo-che: Ich habe die Kinder zweier Grundschulklassen ausmeiner Region dazu eingeladen, mir ihre Stadt aus ihrerSicht zu zeigen . Was wir da hörten, war: Es geht uns gut,wir fühlen uns wohl in unserer Stadt, wir fühlen uns wohlmit unseren Eltern, wir fühlen uns wohl in unserer Schu-le . – Das soll auch so sein, und das freut mich .
Die Kinder sagten aber auch: Wir hätten noch ein paarVorschläge . Es geht nämlich noch besser . – Hier schlu-gen sie einen Fußgängerüberweg und da einen Spielplatzvor . Außerdem hätten sie gern mehr Zeit, und zwar nurfür sich .
Das ist vielleicht ein kleiner Baustein dafür, was wirmanchmal ein bisschen abstrakt „Beteiligung“ nennen .Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-tion, wollen das Recht auf Beteiligung von Kindern stär-ken . Wir wollen das auch .
Ich will, dass das überall passiert: von der Einrichtungüber die einzelnen Ebenen bis hin zur internationalen Po-litik .Ein gutes Beispiel dafür ist „Plant for the Planet“ .Das ist eine Initiative von Kindern und Jugendlichen, diekommunal gestartet ist und mittlerweile weltweit Kinderund Jugendliche organisiert, um sich für Klimaschutz ein-zusetzen, und sie tun auch selbst etwas, indem sie Bäumepflanzen. Außerdem streiten die sehr engagiert und, wieich finde, mit sehr guten Argumenten – wir haben uns inder Kinderkommission davon überzeugt – dafür, selberwählen zu können bzw . Kinder an allen sie betreffendenEntscheidungen und Fragen selber zu beteiligen . Das istkein Fall für: Wenn es nichts kostet und wenn es gera-de passt, dann machen wir das gerne . – Nein, es ist ihrRecht .
Nicht alle Kinder kommen zu diesem Recht – wederzu dem auf Beteiligung noch zum Beispiel zu dem aufbeste gesundheitliche Versorgung . Das ist so, wenn ichetwa an Flüchtlingskinder denke, die leider weitestge-hend immer noch nicht mit einer Karte einfach zum Arztgehen können . Auch kommen nicht alle Kinder zu demRecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit . Dabeidenke ich etwa an den Umgang mit intergeschlechtlichgeborenen Kindern oder an Kinder mit Behinderung .Mich macht es richtig traurig, dass auch Deutschland dieKinderrechtscharta noch nicht vollständig umsetzt . Damüssen wir aber hin .
Nur wie? Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, schlagenverschiedene Hebel vor . Die Aufnahme der Kinderrechteins Grundgesetz ist einer . Dafür haben Sie, wie Sie wis-sen, unsere vollständige Zustimmung . Ich würde liebendgerne endlich in die Debatte einsteigen, welche Formu-lierung und welche Aspekte wohin geschrieben werden,anstatt dauernd beim Ob aufgehalten zu werden .
Sie wollen einen nationalen Aktionsplan für Kinder-und Jugendbeteiligung . Wir wollen das auch . Da sindwir dabei . Sie wollen das Wahlalter auf 16 Jahre senken .Gern, das wäre ein Schritt in die richtige Richtung . Siekönnen gerne in den Bundesländern, wo Sie mitregieren,damit anfangen:
zum Beispiel in Baden-Württemberg und in Hessen . Dahaben wir noch ein bisschen vor uns .Da, wo die Jugendlichen von „Plant for the Planet“hinkommen wollen, wären wir damit immer noch nicht .Die schlagen zum Beispiel – ich finde das durchaus über-zeugend – ein Wahlregister vor, in das sich Menschenunter 18 Jahre eintragen lassen können . Sie müssen dazunur ihren persönlichen freien Willen bekunden . Dannsollte ihnen dieses hohe Gut auch nicht vorenthaltenwerden .Die unabhängige Monitoringstelle muss dankens-werterweise nicht mehr gefordert werden . Es gibt sieseit Juli . Wir werden sie nach Kräften unterstützen undwünschen der Leiterin, Frau Kittel, die wir alle aus guterDr. Silke Launert
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Zusammenarbeit mit der National Coalition kennen, undihren Kolleginnen und Kollegen bestes Gelingen .
Sie fordern des Weiteren einen Kinderbeauftragten .Wir alle kennen die Petition dazu . Ich habe mich darü-ber sehr gefreut . Der Bundestag befasst sich noch damit .Hier und jetzt einen Beschluss dazu zu fassen, würdedem Verfahren vorgreifen . Ich nehme trotzdem zu einpaar Punkten daraus Stellung .Viele der Problembeschreibungen der Petenten teilenwir . Sie gehen in Ihren Anträgen ja auch darauf ein . Die-se Probleme abzustellen, muss unser gemeinsames Zielsein . Wir wollen aber natürlich nicht, dass der Kinder-beauftragte im Rahmen einer Symbolpolitik – so nachdem Motto: klingt gut, dann haben wir ja immerhin etwasgemacht – in die Landschaft gestellt wird . Nein, wir müs-sen uns natürlich um die in der Petition beschriebenenAufgaben kümmern . Die nennen Sie ja auch in IhremAntrag .Schauen wir uns die also im Einzelnen an: Die Mo-nitoringstelle gibt es schon . Weiter fordern Sie, Gesetzeauf ihre Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche hinzu prüfen . Das ist der Jugend-Check . Der wird gerade imMinisterium erarbeitet . Er steht im Koalitionsvertrag . Ichwünsche mir, dass er nicht nur im Familienministerium,sondern in allen Häusern angewendet wird .
Wir haben ein Beschwerdesystem . Das nennt sichPetitionsausschuss . Wenn wir den mit einem Beschwer-desystem nur zu Kinderthemen ausstatten würden, umdie Zugänge kindgerecht zu machen, hätten wir eine Be-schwerdestelle .Es gibt die Kinderkommission . Sie bringt die Belangevon Kindern ins Parlament – und damit in die Gesetz-gebung – ein . Das Einstimmigkeitsprinzip, Herr Müller,macht uns in der Kinderkommission stark . Da wollen wirnicht ran .
Doch, wir könnten mehr, wenn wir ein eigenes An-tragsrecht, eigene Mitbefassungen und die Ressourcendazu hätten und wenn wir als KiKo-Mitglieder im Zwei-fel die Kinderpetitionen bearbeiten würden .Sie sprechen die Öffentlichkeitsarbeit an . Das machtdas Ministerium . Und Sie wollen Beteiligung . Richtig!Aber das zum Beispiel ist ja gerade die Stärke von Kin-der- und Jugendverbänden . Dort engagieren sich die Kin-der und Jugendlichen .
Und es ist unsere Aufgabe, die dann auch entsprechendzu hören und auszustatten .Meine Schlussfolgerung ist demzufolge: Ja, wir stär-ken die Kinderrechte . Wir haben Instrumente neu ge-schaffen, und wollen die ausbauen, die es schon gibt . Anden ganz dicken Brettern bohren wir gemeinsam weiter,bis wir es geschafft haben . Die Kinderrechte werden ir-gendwann im Grundgesetz stehen; da bin ich mir ganzsicher .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-
mit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6042 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Von Anfang an beteiligen – Par-
tizipationsrechte für Kinder und Jugendliche im demo-
grafischen Wandel stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5276,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3151 abzulehnen . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Die Koalition . Wer stimmt da-
gegen? – Die Opposition . Gibt es Enthaltungen? – Das ist
nicht der Fall . Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppositi-
on angenommen worden .
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu unzutref-
fenden Angaben beim Spritverbrauch und
Schadstoffausstoß von Pkw
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bit-
ten, zügig Ihre Plätze einzunehmen und keine Gespräche
mehr zu führen . Das gilt auch für die Kolleginnen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erstem Redner in der
Aktuellen Stunde gebe ich Oliver Krischer von der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Ermittlungen der US-amerikanischen Umweltbehör-de EPA haben in dieser Woche den wohl größten indust-rie- und umweltpolitischen Skandal der letzten Jahre of-fenbar gemacht – nicht ausgelöst –, der den VW-Konzernins Wanken bringt und den Ruf der VorzeigeindustrieDeutschlands, der Automobilbranche, schwer beschä-digt .Es ist deutlich geworden, dass zumindest derVW-Konzern, aber offensichtlich auch – das können wirnicht ausschließen – die gesamte Branche mehr Ressour-Susann Rüthrich
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cen dareingesetzt hat, mit Tricksen und Täuschungen bishin zu illegalen Betrügereien die Abgastests so zu mani-pulieren, dass die Fahrzeuge die Abgaswerte im Laboreinhalten, aber nicht auf der Straße .Diese Aufweichung von Umwelt- und Klimaschutz-standards, dieses Hintergehen von Vorgaben zeigt, dasses langfristig einer Industrie schadet, wenn sie versucht,zu tricksen und zu täuschen, statt zu versuchen, diehöchsten Standards tatsächlich einzuhalten .
Es macht deutlich: Nur wer die höchsten Standards aufder Welt hat und sie auch einhält, der hat eine Chance aufden Weltmärkten der Zukunft .
Dabei ist das Problem keineswegs neu . Millionendeutscher Autofahrer, die sich einen VW Passat kaufen,kennen das: In den Papieren steht, dass das Auto 4 Literauf 100 Kilometern verbraucht, aber an der Tankstellegibt es das böse Erwachen . Der Wagen verbraucht 5,5oder 6 Liter . Ich sage: Schon allein diese Tatsache istein Betrug . Das ist Verbrauchertäuschung . Damit mussSchluss sein .
Darüber hinaus belegen diverse Studien, dass geradeDieselfahrzeuge der neuen Generation die Grenze fürStickoxidwerte, die in unseren Städten vielfach über-schritten wird, wobei dieser Stoff als Ursache für eineVielzahl von Erkrankungen gilt, trotz ihrer Zulassungenaufgrund der Abgaswerte und der erfolgreichen Tests imLabor um ein Vielfaches überschreiten .Ich kann, ehrlich gesagt, nur kopfschüttelnd fragen:Wie skrupellos oder inkompetent müssen Manager ei-gentlich sein, die in Kenntnis dieser Studie versuchen,genau diese Fahrzeuge unter der Überschrift „Clean Die-sel“ in den USA auf den Markt zu bringen? Das ist einSkandal . Das ist ein Negativbeispiel für deutsches Ma-nagement und deutsche Industrie .
Ich fürchte, das ist auch das Ende des Traums vomDiesel als sauberer Antriebstechnologie . Wir werden da-rüber reden müssen, was das in Zukunft zum Beispielauch für das Subventionieren des Diesels an der Zapf-säule heißt .Aber noch schlimmer als das, was im Managementpassiert ist, ist, dass die Automobilindustrie die Tests sel-ber durchgeführt hat und dass es keine Kontrolle gab . Mitfreundlicher Unterstützung der Bundesregierung hat manakzeptiert, dass die Automobilindustrie sich selber kon-trollieren kann und dass sie manipulieren, tricksen undtäuschen kann . Das zuständige Kraftfahrt-Bundesamt,das Herrn Dobrindt untersteht, hat nicht einmal einenEtat dafür, solche Überprüfungen vorzunehmen .Es ist doch unglaublich, dass der Rückzug des Staates,die Kumpanei zwischen Bundesregierung und Automo-bilindustrie, genau dazu führt, dass diese Industrie jetztschwer beschädigt wird . Damit muss Schluss sein . Wirbrauchen eine starke Kontrolle des Staates bei Abgas-werten . Nur so werden wir auch in Deutschland nicht nurdie Umwelt und das Klima schützen, sondern auch derAutoindustrie auf Dauer eine Perspektive geben, meineDamen und Herren .
Ich staune über den zuständigen VerkehrsministerHerrn Dobrindt . Er sagt allen Ernstes, er habe von diesenManipulationen und Überschreitungen der Grenzwertefür CO2 und Stickoxide zum ersten Mal am Sonntag ausder Zeitung erfahren . Meine Damen und Herren, wennman vorher schon Zeitung gelesen und sich ein paar Stu-dien angesehen hätte, dann hätte man das als normalerZeitungsleser mitbekommen können, erst recht als Ver-kehrsminister .Ich will jetzt gar nicht darüber reden, dass der Mi-nister seinen Antworten auf unsere Anfrage selber nichtglaubt . Ich staune, dass die Bundesregierung am 18 . Au-gust 2015 geschrieben hat, dass ihr seit Herbst 2014 be-lastbare Indizien vorliegen, dass bei Stickoxiden Über-schreitungen gerade bei Euro-6-Fahrzeugen vorliegen .Man staunt, dass das der EU-Kommission geschriebenworden ist, der zuständige Verkehrsminister aber davonoffensichtlich nichts gewusst haben will .Was wir brauchen, ist ein Mentalitätswechsel . Wirbrauchen die ehrliche Einhaltung von Umwelt- und Kli-mastandards, gerade auch zum Schutz für eine Zukunfts-perspektive der deutschen Automobilindustrie .
Wenn VW jetzt reinen Tisch machen will, dann mussdieser Mentalitätswechsel her . Der erste Schritt ist, dassumfassende Transparenz hergestellt wird und dass dieFahrzeuge all derjenigen, die geglaubt haben, einen sau-beren Wagen zu kaufen, zurückgerufen und nachgerüstetwerden .
Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .
Diesen Mentalitätswechsel brauchen wir . Dazu brau-
chen wir auch einen Verkehrsminister, der das voran-
treibt und diese Maßnahmen angeht . Herr Dobrindt, ich
habe aber Zweifel, dass Sie dazu in der Lage sind .
Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wirhaben uns selber die Regel gegeben, dass die Redezeitim Rahmen einer Aktuellen Stunde fünf Minuten beträgt,nicht sechs Minuten, und ich bitte, das auch zu beachten .Oliver Krischer
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Als nächster Redner hat der BundesverkehrsministerAlexander Dobrindt für die Bundesregierung das Wort .
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrter Herr Krischer, Sie setzen das fort, was Sie schondie ganze Woche über in den Medien öffentlich verkün-det haben . Ich sage Ihnen noch einmal sehr deutlich: Ichmissbillige dieses Verhalten von Ihnen .
Sie haben in einem Interview gesagt:Es ist … ganz offensichtlich so, dass man hinge-nommen hat, dass diese Manipulationen stattfinden.Sie haben dabei die Bundesregierung verdächtigt . Ichkann Ihnen dazu sagen: Ihre Verdächtigungen sindfalsch . Ihr Verhalten ist unanständig, und Ihr Auftritt hierwar ein Minusrekord auf der Skala, lieber Herr Krischer .
Die von Volkswagen eingestandenen Manipulationenbei Emissionen an Dieselfahrzeugen sind unzulässig undillegal . Daran gibt es keinen Zweifel . Das bedeutet nichtnur einen großen Schaden für die Marke VW, sondernerschüttert auch das Vertrauen der Verbraucher zutiefst .VW steht hier in der Verantwortung, den Schaden zu be-heben und das Vertrauen wiederherzustellen .
Deswegen sind in der Tat lückenlose Aufklärung der Ma-nipulationen, vollständige Transparenz, Kooperation undöffentliche Unterrichtung gefordert . Das ist von uns auchso gegenüber Volkswagen eingefordert worden .Ich habe zu diesem Zweck bereits am Montag nachBekanntwerden der Manipulationen das Kraftfahrt-Bun-desamt angewiesen, strenge spezifische Nachprüfungenbei Volkswagen durch unabhängige Gutachter vorneh-men zu lassen . Die Nachprüfungen erstrecken sich üb-rigens auch auf Fahrzeuge anderer Hersteller sowohl ausdem Inland als auch aus dem Ausland . Und wir werdendiese Nachprüfungen sowohl auf dem Prüfstand, der so-genannten Rolle, als auch unter realen Verkehrsbedin-gungen vornehmen .Am Dienstag habe ich eine Untersuchungskommissi-on aus Fachleuten des Bundesverkehrsministeriums unddes Kraftfahrt-Bundesamtes eingesetzt, die bereits amMittwoch vor Ort in Wolfsburg zu ersten Gesprächenwaren und Einsicht in Unterlagen genommen haben . So-wohl bei diesem Termin als auch bei den weiteren Ge-sprächen mit Volkswagen hat VW zugesagt, die Arbeitder Kommission vollumfänglich zu unterstützen und beider Aufklärung mitzuarbeiten .Klar ist inzwischen, dass auch Fahrzeuge in Deutsch-land von diesen Manipulationen betroffen sind . Es sindnach unserer aktuellen Kenntnis Fahrzeuge der 2-Liter-und der 1,6-Liter-Dieselklasse . Dabei handelt es sich umcirca 2,8 Millionen Fahrzeuge auf dem deutschen Markt .Es ist jetzt in der Diskussion, dass 1,2-Liter-Fahrzeugeebenfalls betroffen sind . Zumindest aktuell gehen wirdavon aus, dass sich auch hier mögliche Manipulatio-nen zeigen können . Weiteres wird gerade in den aktuel-len Gesprächen mit Volkswagen ermittelt . Wir konntenebenfalls feststellen – so unser aktueller Kenntnisstand –,dass auch leichte Nutzfahrzeuge von Volkswagen betrof-fen sind, in denen ebenfalls die in Rede stehenden Moto-ren zum Einsatz kamen .Das Kraftfahrt-Bundesamt fordert Volkswagen auf,verbindlich zu erklären, ob sich das Unternehmen in derLage sieht, die eingestandenen technischen Manipulatio-nen zu beheben,
sodass die Fahrzeuge in einen den technischen Regelnentsprechenden Zustand gebracht werden können . Wirerwarten einen verbindlichen Zeitplan, aus dem hervor-geht, bis wann eine technische Lösung vorliegt und biswann sie umgesetzt werden kann . Klar ist dabei auch,dass die Verbraucherinteressen vollumfänglich berück-sichtigt werden müssen .
Das heißt, dass alle Maßnahmen, die der Schadensbe-hebung dienen, wie auch mögliche Folgeauswirkungennicht zulasten des Kunden gehen dürfen .Meine Damen und Herren, wir achten darauf, dass so-wohl die Aufklärung als auch die Transparenz als auchdie Schadensbehebung als auch die vollumfängliche Be-rücksichtigung der Kundeninteressen so stattfinden. Ichhabe gegenüber Volkswagen keinen Zweifel daran gelas-sen, dass wir dies ständig aufmerksam begleiten werdenund nicht nachlassen, bis der ganze Fall aufgeklärt ist .
Sehr geehrter Herr Krischer, was wir dabei nicht ma-chen sollten, ist die unzulässige Vermischung von einerverbotenen technischen Manipulation an Fahrzeugen mitden Verhandlungen, die wir seit 2011 auf europäischerEbene führen, um die Prüfmechanismen zu optimieren .Sie wissen eigentlich sehr genau, dass sich die Verhand-lungen zwischen der Kommission und den Nationalstaa-ten in Brüssel seit 2011 darum drehen, dass wir nebenVizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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dem Test auf der Rolle auch einen Test im Realverkehrauf der Straße schaffen, den sogenannten RDE-Test .
Aktuell finden Diskussionen darüber statt, wie dieserTest ausgestaltet werden soll . Die Verkehrsminister derLänder sind sich seit langem darüber einig, dass dieseRDE-Tests eingeführt werden . Deswegen wird in dennächsten Wochen und Monaten weiter darüber debattiert,bis wann dies geschehen kann .
Wir werden auf dem nächsten Verkehrsministerrat inBrüssel ebenfalls darüber reden .Die Vermischung der beiden Diskussionen ist – ichsage es noch einmal – eindeutig unzulässig . Auf der ei-nen Seite geht es um eine verbotene Manipulation .
Auf der anderen Seite versuchen wir, die Prüfmechanis-men zu verbessern .Diskussionsgegenstand hinsichtlich der Prüfungenwar, dass die Tests auf der Rolle andere Verbräuche unddamit andere Schadstoffausstoßwerte hervorbringen, alsbei Fahrten auf der Straße entstehen . Das liegt aber da-ran, dass bei den Tests auf der Rolle klar definiert ist, wiedie Emissionen des Fahrzeugs zu messen sind . Das kannsich natürlich vom individuellen Fahrverhalten auf derStraße unterscheiden .
Gerade deswegen wird die Idee verfolgt, Tests auf dieStraße zu verlegen, um so näher an das reale Fahrverhal-ten der Autofahrer heranzukommen . Wir führen darübereine Diskussion, und wir setzen das entsprechend um .Das ist allgemein bekannt .
Und wir werden da zu einem Ergebnis kommen .Dass Sie versuchen, das eine mit dem anderen zu ver-mischen und daraus einen Vorwurf zu machen, das halteich in der Tat für unredlich . Wir arbeiten daran, dass dieBedingungen der Tests verbessert werden, und wir lassenkeinen Zweifel daran, dass Manipulationen – diese sindja unzulässig – nicht stattfinden dürfen. Zumindest dür-fen sie nicht ungestraft stattfinden.Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Sabine
Leidig von der Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Besucherinnen und Besucher! Ich will zunächstdarüber sprechen, warum dieser Abgasskandal eigentlichso gewaltig ist . Dann stelle ich einige Sofortmaßnahmenvor, die wir als Linksfraktion fordern .Zunächst also: Was ist Sache? In den USA wurdenachgewiesen, dass VW mit einem technischen Ein-griff seine Dieselmotoren manipuliert hat, und zwar bei11 Millionen Autos; das hat VW zugegeben . Die meistenAutos sind in Europa, viele auch in Deutschland, unter-wegs . VW hat dafür gesorgt, dass bei den standardisier-ten Messverfahren niedrige Abgaswerte vorgetäuschtwerden . Im wirklichen Fahrbetrieb aber kommt dasZigfache aus dem Auspuff . Andere Autokonzerne habendas Gleiche gemacht . BMW ist in den Schlagzeilen . DieFirma Bosch hat bekannt gegeben, dass sie das Förder-und Dosiermodul zur Abgasnachbehandlung an fast alleAutohersteller geliefert hat .Auch die Werte von Benzinmotoren werden mit ver-schiedenen Eingriffen so manipuliert, dass sie auf demPrüfstand deutlich weniger verbrauchen oder ausstoßenals auf der Straße . Das weiß man seit Jahren; die Deut-sche Umwelthilfe hat es akribisch nachgewiesen . Ich warauf einem Seminar zu diesem Thema . Einige Fraktionenvon hier haben dort komplett gefehlt – schade . Heuteveröffentlichte der VCD, dass diese Abweichungen 2001noch bei 8 Prozent lagen . Mittlerweile liegen sie bei40 Prozent . Das heißt, das Ganze hat System . Die Auto-fahrerinnen und Autofahrer, die auf sparsamen Verbrauchachten, werden belogen und betrogen .Seit Jahren wird darüber gesprochen . Die Umweltver-bände haben es öffentlich kritisiert .
Seit Jahren werden unabhängige Prüfungen gefordert .Passiert ist nichts . Der Verkehrsminister hat nicht re-agiert . Das zuständige Kraftfahrt-Bundesamt hat keineeinzige eigene Kontrollmessung durchgeführt . Dabeigeht es ja nicht irgendwie um gewisse Abweichungen .Die Verantwortlichen in der Automobilindustrie habenveranlasst, dass Schadstoffe weit über das verträglicheMaß hinaus in die Landschaft und in die Städte gebla-sen werden, und zwar, weil sie noch mehr Profit machenBundesminister Alexander Dobrindt
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wollen . Was in den Chefetagen der Automobilindustrieorganisiert wurde, ist gewerbsmäßiger Betrug .
Sie tragen bewusst und systematisch zur Schädigung vonGesundheit, Umwelt und Klima bei, und das ist der ei-gentliche Skandal, den wir nicht länger hinnehmen dür-fen .
Es reicht nicht, wenn ein paar Herren aus den Vor-ständen zurücktreten . Die Verantwortlichen müssenstrafrechtlich verfolgt werden . Die Bundesregierungmuss alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, umdie milliardenschweren Eigentümer der Autokonzernefür den finanziellen Schaden haftbar zu machen, der denVerbraucherinnen und Verbrauchern, dem Fiskus und derAllgemeinheit entstanden ist .Damit bin ich bei unseren Forderungen für ein Sofort-programm:Erstens . Es muss eine neue und unabhängige Untersu-chungskommission eingesetzt werden . Die Expertinnenund Experten, die da zum Einsatz gebracht werden, müs-sen von den Umwelt- und Verbraucherorganisationenoder vom VCD und anderen benannt werden, von denOrganisationen, die tatsächlich seit Jahren gegen diesenAbgasbetrug vorgehen . Herr Dobrindt hat die eigenenFachleute eingesetzt, aus seinem Ministerium und ausdem Kraftfahrt-Bundesamt .
Aber genau die Leute haben diese Machenschaften seitJahren einfach nicht gekontert .
Sie haben sie durchgehen lassen, als Helfershelfer quasi,und jetzt sollen sie der Sache auf den Grund gehen . Dasist der ungeeignete Mechanismus .
Zweitens . Die Kommission, deren Einsetzung wirfordern, muss bei allen in Deutschland produzierendenAutoherstellern, beim Automobilverband VDA und beiAutozulieferern wie Bosch zu den Manipulationen anFahrzeugmotoren ermitteln, und sie muss dabei umfas-send mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten .
Es geht nicht nur darum, herauszufinden, mit welchemtechnischen Modul es VW gemacht hat .Drittens . Die Kommission muss eine unabhängigeÜberprüfung der tatsächlichen Abgas- und Verbrauchs-werte veranlassen . Das muss für alle Pkw repräsentativdurchgeführt werden . Da darf man auch nicht auf dasneue europäische Prüfverfahren warten, das ja die Bun-desregierung bisher immer verzögert hat .
Es ist überhaupt nicht sinnvoll, darauf zu warten . Mankann sofort etwas tun . Und dann muss die Kommissionaus diesen Überprüfungen errechnen, wie hoch die ge-sellschaftlichen Schäden sind, die die Automobilkonzer-ne verursacht haben .
Schließlich muss diese Kommission dem Bundestagberichten, und nicht dem Minister; denn der Bundestagist dafür verantwortlich, Schaden von der Bevölkerungund auch von der Umwelt abzuwenden .Zum Schluss noch eine Anmerkung . Dieser Skandalist kein einzigartiges Ereignis . Die Bundesregierung hatimmer wieder ihre schützende Hand über die Automobil-industrie gehalten . Auch in dieser Legislatur gehen dieSpitzenvertreter der Automobilindustrie im Kanzleramtund im Verkehrsministerium ein und aus . Das nützt aberden Menschen in diesem Land nichts .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Es ist höchste Zeit, dass die Verkehrspolitik auf andere
Füße gestellt und sozialökologisch umgebaut wird,
und das geht nicht mit diesem Verkehrsminister .
Ich bitte wirklich noch einmal, auf die fünf Minuten
zu achten .
Als nächste Rednerin spricht Kirsten Lühmann von
der SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Als Erstes ist festzustellen: Die deutsche Fahrzeugindus-Sabine Leidig
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trie ist ein weltweiter Innovationsmotor für neue Sicher-heits- und Umwelttechnik .
Das haben wir in den letzten Jahrzehnten deutlich gese-hen . Ich könnte Ihnen Beispiele nennen; das geht vomFahrerairbag über ABS bis hin zu digitalen Außenspie-geln und teilautonomem Fahren .
Über 750 000 Menschen in unserem Land bauen zu-verlässige und sichere Fahrzeuge . Das war letzte Wocheso, das ist diese Woche so, und das wird nächste Wocheauch so sein, liebe Kollegen und Kolleginnen .
Nur eines ist in dieser Woche anders . Es ist etwas be-kannt geworden, was uns die Wirtschaft immer als beideutschen Firmen undenkbar dargestellt hat, nämlichdass aus Gründen der Gewinnmaximierung bei gesetzli-chen Standards betrogen wurde .Für mein gänzliches Unverständnis sorgt die Tatsa-che, dass einige Fachleute jetzt sogar sagen, dass der zurDiskussion stehende Motor durchaus die strengen ame-rikanischen Normen problemlos hätte einhalten können,wenn nur zum Beispiel ein entsprechender Filter einge-baut worden wäre . Das ist allerdings nicht passiert, weileinige VW-Verantwortliche das Geld dafür eben sparenwollten . Das ist skandalös, liebe Kollegen und Kollegin-nen .
Das Thema hat zwei Dimensionen . Die erste ist dieAufklärung . Dabei hat VW uneingeschränkte Koopera-tion zugesagt; VW hat auch erste personelle Konsequen-zen gezogen . Der neue Vorstandsvorsitzende muss jetztallerdings den Worten Taten folgen lassen . Das kann ersehr gut, weil der Minister – er hat es eben angespro-chen – eine Kommission eingesetzt hat, die die Frageuntersuchen soll, ob die Motoren die europäischen Nor-men auch ohne Manipulationen erfüllen können . Da dieAntwort auf diese Frage und die möglicherweise darausresultierenden rechtlichen Folgen bis hin zu Rückrufakti-onen die Menschen in Deutschland besonders bewegen,sind wir der Meinung, dass es einen zeitnahen Zwischen-bericht im Verkehrsausschuss geben sollte – möglichstnoch im nächsten Monat .
Die zweite Dimension betrifft die Frage, wie sol-che Manipulationen in Zukunft möglichst verhindertwerden können . Zurzeit schreibt die EU umfangreichePrüfungen vor, und zwar sowohl für Neufahrzeuge beider Typzulassung als auch später mit Gebrauchtwagen .Und, Herr Krischer, Sie wissen genau: Die Prüfungenmit Gebrauchtfahrzeugen werden nicht von den Fahr-zeugherstellern durchgeführt, sondern von unabhängi-gen Prüforganisationen . Allerdings – da gebe ich Ihnenrecht – finden all diese Prüfungen im Labor unter dengleichen Bedingungen statt, um eine Vergleichbarkeit derErgebnisse sicherzustellen . Das Problem dabei ist:
Auf dem Prüfstand kommen idealisierte Werte zustande,die wenig mit dem tatsächlichen Verbrauch der Fahrzeu-ge zu tun haben und daher als Kundeninformationen we-nig hilfreich sind .
Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist: Vor-hersehbare Prüfzyklen sind relativ einfach manipulier-bar . Es ist bekannt, dass Programme, die Prüfzyklenerkennen, nicht nur zur Beeinflussung von CO2- undStickoxidemissionen, sondern zum Beispiel auch zurBeeinflussung von Lärmemissionen existieren. EU-weitsind bei Motoren sogenannte Abschaltautomatiken ver-boten – grundsätzlich . Grundsätzlich heißt aber auch,dass sie ausnahmsweise eingebaut werden können . Dasnun ist das Problem bei der Prüfung: Die Prüfenden müs-sen feststellen, ob es sich um eine legale Abschaltauto-matik handelt oder ob neben der legalen Software nocheine illegale Software aufgespielt ist . Dazu muss tief indie Programmierung geschaut werden .Allen EU-Mitgliedstaaten ist diese Problematik be-kannt . Daher haben sie auch gehandelt . Sie haben ebennicht nichts getan . Vielmehr haben alle Verkehrsministerverabredet, Lösungen zu entwickeln .
Und wir alle gemeinsam haben im Verkehrsausschussdie Fortschritte dabei verfolgt . Niemand wusste mehr alsder andere . Wir alle wussten – es ist eben angesprochenworden; ADAC und Deutsche Umwelthilfe haben seitJahren darauf hingewiesen –: Die Werte aus dem Laborkönnen nicht realistisch sein, seien sie nun manipuliertoder nicht . Daher sind neue Verfahren im Echtbetrieb er-forderlich .Der Minister will so etwas jetzt prüfen, auch wenn dasnoch keine Rechtsfolgen haben kann . Denn Rechtsfolgenkann es nur haben, wenn wir die von der EU inzwischenentwickelten Verfahren endlich verbindlich einführen,nämlich vergleichbare Standards im Echtbetrieb, die we-nig manipulationsanfällig sind . Die Kommission hat unssolche Verfahren vorgeschlagen .Kirsten Lühmann
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Ja, es gibt da auch noch einige Bedenken . Deshalbhabe ich erfreut zur Kenntnis genommen, dass der Ver-band der Automobilindustrie jetzt sagt, er möchte inten-siv und konstruktiv an der Lösung dieses Themas mit-arbeiten . Angesichts der aktuellen Ereignisse gehe ichalso davon aus, dass der Verband aktiv die möglichenBedenken von Kritikern ausräumen wird, damit wir dasneue Verfahren möglichst schnell – möglichst noch imnächsten Jahr – einführen können . Das führt dann endlichzu der erforderlichen Klarheit sowohl für die Verbrau-chenden als auch für die Behörden . Das wäre wenigstensein positives Ergebnis dieses Skandals .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Thomas
Viesehon von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Das VW-Werk im nordhessischen Baunatal istmit rund 16 000 Beschäftigten der größte Arbeitgebermeines Wahlkreises mit einer herausragenden Bedeutungfür die gesamte Region .Mit großem Fleiß und großer Zuverlässigkeit werdendort von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jährlichunter anderem mehr als 4 Millionen Schalt- und Auto-matikgetriebe produziert . Das entspricht der Hälfte derweltweit vom Konzern benötigten Getriebe . Die von demjetzigen Skandal ausgehende Betroffenheit ist daher inmeiner Heimat besonders groß .Ich selbst bin fassungslos, wie Einzelne im VW-Kon-zern mit ihrer Verantwortung für das Unternehmen undfür Hunderttausende Beschäftigte umgegangen sind . Ichwill aber, ohne das Handeln von VW in irgendeiner Wei-se zu relativieren, auch auf die Verantwortung der Ge-setzgeber bei der Festlegung von Grenzwerten eingehen .In Sachen Dieseltechnologie hat sich in den letztenJahrzehnten viel getan, auch unter Mitwirkung der Poli-tik . Durch strengere Abgasnormen auf EU-Ebene habenwir die Einführung von Rußpartikelfiltern bei Dieselfahr-zeugen erreichen können, eine Regelung, die die Indus-trie mit vorhandener Technik umsetzen konnte und dieheute zum Standard gehört . Dazu kommt die seit Februar2012 bestehende Möglichkeit einer vom Bund geförder-ten Nachrüstung dieser Filter . Wir haben den Dieselmo-tor im Pkw-Bereich mit erfüllbarem Aufwand sauberergemacht – zusammen mit der Automobilindustrie –, undwir bleiben am Ball .Mit Einführung der Euro-6-Norm haben wir den zu-lässigen Ausstoß von Stickoxid
für neu zugelassene Dieselfahrzeuge auf einen Maximal-wert von 80 Milligramm pro Kilometer begrenzt .
– Herr Kreischer .
– Entschuldigung . Herr Krischer, ein bisschen mehr Zu-rückhaltung bitte .
Für Ottomotoren gilt ein Grenzwert von 60 Milligramm .Der Fortschritt in der Dieseltechnologie ist gewaltig,wenn man bedenkt, dass wir von einem Grenzwert von500 Milligramm in 2001 kommen .Die Gründe dafür, dass der Grenzwert für Dieselfahr-zeuge in den USA gerade einmal halb so hoch ist, könnenverschieden sein . Es sind sicherlich Umweltaspekte, aberich bin sicher, dass die USA damit auch wirtschaftlicheEigeninteressen verfolgen .
Die Dieseltechnologie kommt aus Europa und ist für dieVerbraucher attraktiv, weil der Treibstoff energieeffizi-enter, günstiger und der Verbrauch überdies geringer ist .
Im Jahr 2012 waren lediglich 3 Prozent der zugelassenenFahrzeuge in den USA Dieselfahrzeuge .
Die neuen, höchst innovativen Dieseltechnologien, dieauch VW nutzt, ließen eine Steigerung um mehr als dasDoppelte auf 7 Prozent zu . Für 2023 wurden 28 Prozentprognostiziert .Worauf will ich hinaus? Mit der Herabsetzung vonGrenzwerten kann man eine Technologie natürlich auchganz vom Markt verdrängen . Scheinbar wollen Sie das .Ich will es nicht; denn ich bin für einen schonenden undeffizienten Umgang mit unseren Ressourcen. Bei allemFortschritt und der Förderung umweltschonender Tech-nologien, die ich ausdrücklich gutheiße, kommt derzeiteine völlige Verdrängung des Diesels ja wohl nicht inBetracht . Um zu verstehen, warum das so ist, muss mansich einmal mit der Gewinnung von Dieselkraftstoff be-fassen . Diesel ist ein Produkt, das unweigerlich bei derAufbereitung von Rohöl gewonnen wird, genauso wieBenzin, Kerosin und Flüssiggas . Deshalb sollten wir die-ses Produkt auch weiterhin einer Nutzung zuführen . DieVerdrängung oder die Abschaffung des Diesels wäre derfalsche Schritt und würde nicht einmal zur weiteren Ver-besserung des Klimas führen . Ganz im Gegenteil: Bei derVerbrennung von Benzin entstehen mehr Treibhausgaseals bei der Verbrennung von Diesel .Kirsten Lühmann
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Auch ich bin dafür, dass die Weiterentwicklung vor-angetrieben wird . Dazu hat auch die Politik einen Beitraggeleistet und wird ihn weiter leisten, aber mit Bedachtund zumutbaren Vorgaben, die die Hersteller auch um-setzen können .Ich will das Vorgehen von VW – das wird Sie dannberuhigen – in keiner Weise entschuldigen oder baga-tellisieren . Ich möchte aber, dass der Vorfall zum Anlassgenommen wird, die Grenzwertpolitik der vergangenenJahre – im Übrigen gilt das auch für andere Emissionen –ab und zu einmal zu hinterfragen .
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
– Wir sind auf einem guten Weg, Herr Krischer . Ihr Wegist natürlich, die Autos einfach stehen zu lassen . Wenndas Ihr Weg ist, dann sage ich Ihnen: Meiner ist es nicht .
Natürlich geht vollumfassende Aufklärung vor .Alexander Dobrindt hat zu Recht eine Überprüfung an-geordnet, ob vergleichbare Manipulationen am Abgas-system auch in Deutschland stattgefunden haben . Dievon ihm einberufene Untersuchungskommission wirddies in Zusammenarbeit mit dem Kraftfahrt-Bundesamtund auf technischer Seite mit den unabhängigen Sachver-ständigen von TÜV und DEKRA klären . Lassen Sie unsdas Ergebnis dieser Untersuchung abwarten und dannurteilen .Lassen wir aber nicht zu, dass dieser Fall dazu führt,dass eine ganze Branche, die in den letzten Jahren geradeim Hinblick auf die Verminderung von Schadstoffemis-sionen vieles geleistet hat – auch Frau Lühmann hat daseben betont –, in Verruf gerät . Das schadet nicht nur zuUnrecht den anderen Unternehmen, sondern am Endeauch den fleißigen, ehrgeizigen und zu Recht stolzenMitarbeitern der deutschen Automobilindustrie .Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Herbert
Behrens von der Fraktion Die Linke das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn das, was uns Herr Viesehon hier vorge-stellt hat, auch der Punkt sein sollte, mit dem die Unter-suchungskommission in Wolfsburg unterwegs ist, dannwird mir angst und bange .
So würde aber genau das Gegenteil von dem erreicht,was Sie gesagt haben . Sie haben gesagt: Lasst uns bloßbei den Grenzwerten aufpassen, damit wir nicht eine gan-ze Industrie in eine Ecke drängen, in die sie nicht gehört .
Wenn wir nicht aufpassen, dass die Industrie mit diesemVorgehen um Marktanteile ringt, dann schafft die Indus-trie uns und die Arbeitsplätze ab .
So herum müssen Sie das denken . Von daher sind wirsowohl als Gesetzgeber als auch als Parlamentarier ge-halten, in das, was wir hier sehen, politisch einzugreifen .Wir wissen: Autoabgase töten . Darum wird der Ge-setzgeber aktiv . Er ist dafür verantwortlich, dass dieBevölkerung in diesem Land gesund leben kann, auchbei zunehmenden Verkehrsbelastungen . Darum gibt esGrenzwerte. Darum gibt es auch die Pflicht, diese Grenz-werte einzuhalten .
Und es gibt die Notwendigkeit, diese Grenzwerte zu kon-trollieren . Umzukehren und zu sagen: „Jetzt passen wirdie geltenden Grenzwerte den tatsächlichen Verbräuchenund dem tatsächlichen Schadstoffausstoß an“, würde be-deuten, sämtliche Umweltpolitik, sämtliche Verkehrspo-litik der letzten Jahre mit einer Tat aus der Welt zu räu-men . Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen .
Autokäufer sind sich beim Kauf eines Autos durchausbewusst: Wenn sie möglichst umweltschonend fahrenwollen, dann müssen sie sich ein Auto aussuchen, dassowohl beim Schadstoffausstoß als auch beim Verbrauchdie Werte einhält, die angegeben sind . Wenn diese Wertegar nicht stimmen, dann ist es ein vorsätzlicher Betrugan den Interessen der Kundinnen und Kunden, mit dementsprechenden wirtschaftlichen Schaden .In den USA wird angesichts der entsprechendenKlagemöglichkeiten, die man dort hat, damit gerechnet,dass für den VW-Konzern ein Schaden in Höhe von biszu 18 Milliarden Euro entstehen kann . Wenn das malkein Schaden für die deutsche Volkswirtschaft ist! Daransind wir durch unsere falsche Kontrollpolitik, wie sie vonmeiner Kollegin Leidig schon dargestellt worden ist, auchein Stück weit mitverantwortlich . Wenn wir nicht dafürsorgen, dass durch Kontrollen die Angaben eingehaltenwerden, sind wir ebenfalls mitverantwortlich, wenn dieVerbraucherinnen und Verbraucher so getäuscht und be-trogen werden .Wir haben deshalb einen Fünf-Punkte-Plan aufgelegt,um sehr schnell und gründlich mit den Punkten aufzu-Thomas Viesehon
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räumen, die offenkundig – so der Sachstand heute – dazugeführt haben, dass diese Betrügereien am Kunden statt-finden konnten. Die Automobilindustrie täuscht bei denVerbrauchswerten, beim Schadstoffausstoß . Sie geht mitsolchen Maßnahmen vor, um im mörderischen Wettbe-werb der Automobilindustrie zu bestehen . Wir haben alsGesetzgeber die Pflicht, diesem mörderischen Konkur-renzkampf zulasten der Kundinnen und Kunden und derBevölkerung Einhalt zu gebieten . Darum ist es wichtig,sofort und schnell zu handeln .Die Bosse haben den Schaden erst einmal von sichweggeschoben und haben gesagt: Wir werden das mitentsprechenden personellen Maßnahmen lösen . – Darumwurden schon einmal die Manager ausgetauscht . Win-terkorn und Neußer gehen bei VW, Hatz geht bei Por-sche, Hackenberg geht bei Audi . Damit werden offenbarVerantwortliche aus dem Verkehr gezogen . Aber sie sindtrotzdem verantwortlich . Darum ist es so wichtig, dassdie Verantwortung bei denen bleibt, die jetzt aus ihrenVerantwortungsbereichen abgelöst worden sind undkünftig nicht mehr verantwortlich sein sollen . Darumsind sie sowohl beim finanziellen Ausgleich als auch beistrafrechtlichen Konsequenzen, wenn es sie geben sollte,heranzuziehen . Der Porsche-Piëch-Clan, so kann man esja sagen, verfügt über ein privates Vermögen von 35 Mil-liarden Euro . Winterkorn gehörte zu den bestbezahltenManagern Europas . Sie haben über Jahre gescheffelt,immer mit dem Hinweis: Wir sind die Erfolgreichen aufdem Automobilmarkt . Darum stehen uns solche Gehäl-ter, darum stehen uns solche Boni zu . Das, was sie in denletzten Jahren da abgeräumt haben, muss zum Ausgleichdes Schadens wieder herangezogen werden .
Die Belegschaft steht vor einer Riesenaufgabe . Siehat, wenn es der Verkehrsminister am Sonntag aus derZeitung erfahren hat, vielleicht auch erst am Sonntag ausder Zeitung erfahren, welche Instrumente sie in den Jah-ren in den Autos verbaut hat . Das wollten sie nicht .Von daher ist es notwendig, dass wir innerhalb desVW-Konzerns zu einer Zusammenarbeit zwischen denMitbestimmungsgremien und der Belegschaft kom-men; denn sie hat offenbar überhaupt nicht funktioniert .Wenn Herr Osterloh, der Betriebsratsvorsitzende, davonspricht, in Wolfsburg habe ein Kasernengehorsam ge-herrscht, dann ist da doch das Problem zu sehen .Insofern ist es notwendig, dass wir jetzt im Rahmender Untersuchungen – wir wollen sie auf der Grundlageunseres Fünf-Punkte-Programms durchführen – alle Hin-weisgeber, sogenannte Whistleblower, davor schützen,dass sie Nachteile erleiden, wenn sie endlich auspackenund über die Struktur des vorsätzlichen Betrugs berich-ten, den es bei VW gegeben hat und den wir bekämpfenwollen .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Arno Klare
von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich bin der Auffassung, dass wir jetzt zwei gro-ße Aufgaben haben . Die erste Aufgabe besteht darin, dasVertrauen wiederherzustellen . Das Vertrauen drückt sichdarin aus, dass die gemessenen Verbrauchswerte auch dietatsächlichen sind .
Das Zweite ist – etwas in die Zukunft gesprochen –: Wirmüssen jetzt politisch die richtigen Weichen stellen, in-dem wir diese Krise als Chance zur Dekarbonisierungder Mobilität nutzen .
Lassen Sie mich etwas zum ersten Punkt sagen . Kannman es hinbekommen, dass die gemessenen Werte dietatsächlichen sind? Ja, das geht; Frau Lühmann hat gera-de schon darauf hingewiesen . Die Systemanforderungensind eigentlich auf ein paar Punkte zu reduzieren, die dalauten: Das System muss transparent sein, das Systemmuss messgenau sein, es muss zuverlässig, zukunftssi-cher, kosteneffizient und standardisierbar sein, und esmuss natürlich auch – leider muss man das sagen – mög-lichst manipulationsresistent sein .
Die Frage ist jetzt: Gibt es so etwas schon? ImLkw-Bereich gibt es das bereits . Manchmal muss mannachschauen, was für Dinge man im eigenen Hause – umes mit Kafka zu sagen – vorrätig hat . Das System heißtVECTO . Das ist ein Akronym und heißt im Langtext: Ve-hicle Energy Consumption Calculation Tool . Das kannman als Nichtverkehrspolitiker sofort wieder vergessen;nur VECTO sollte man sich merken .Was ist das? Das ist eine Kalkulationssoftware, dieeinzelne Elemente, die verbrauchsrelevant sind, undzwar die tatsächlichen Verbrauchswerte, misst und dannim Kalkulationstool zusammenführt . Bei Prototypen vonLkws, bei denen das Tool im Gebrauch ist, funktioniertdas so gut, dass die Abweichungen unter 3 Prozent lie-gen . Das ist also durchaus treffgenau .Am Ende könnte so etwas wie ein Verbrauchertoolstehen: Man sucht sich dann ein Auto nicht mehr anhandder Marke aus, sondern legt im Rahmen der Konfigura-tion bestimmte Bedingungen fest . So erhält man Fahr-zeuge mit optimierter THG-Bilanz, und erst dann werdenihnen die Marken zugeordnet . Das wäre ein Fortschritt .
Herbert Behrens
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– Es ist nicht nur eine Idee . VECTO gibt es bereits . Esgeht also über die Blaupause hinaus .Der zweite Punkt, zu dem ich kommen will: Die Zu-kunft sind Wasserstoff- und Brennstoffzellenantriebe unddie Elektromobilität .
Herr Rimkus wird nicht müde, immer wieder daraufhinzuweisen, dass das die Zukunft sei, und er hat völligrecht . Wir müssen nicht Emissionen heraus- und herun-terrechnen, sondern technologische Innovationen in dieWelt setzen und natürlich auch – darauf hat der Bundes-wirtschaftsminister gestern hingewiesen – durch Kaufan-reize den Markt in diesem Bereich stimulieren .
Er hat gesagt, wir brauchen jetzt Incentives .
Man muss auch mal einen Blick in den Haushalt werfen:Genau für diesen Bereich, für die NOW, stehen 20 Milli-onen Euro mehr bereit .
In der mittelfristigen Finanzplanung summiert sich dasauf 220 Millionen Euro genau für diesen Bereich . Dasheißt, die Behauptung, die Große Koalition würde dortnicht investieren, stimmt einfach nicht .
Das gibt es nämlich schon .Wir müssen aus der Krise eine Chance machen . Ich binrelativ sicher, dass uns das gelingt, dass wir das können .Frau Lühmann hat zu Recht zu Beginn ihrer Rede daraufhingewiesen: Wir haben die besten Automobilingenieureder Welt, und wir bauen auch mit die besten Autos derWelt . Diese Autos müssen in Zukunft emissionsfrei undCO2-neutral durch die Gegend fahren . Dann wird darausder Business Case für das ganze Land .Danke schön . – Vier Minuten!
Super! Vorbildlich! – Als nächster Redner sprichtStephan Kühn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass VW dieAbgaswerte illegal manipuliert hat, ist wirklich schockie-rend . Die wirtschaftlichen Folgen sind derzeit noch nichtabsehbar . Aber klar ist: Die gesamte Automobilbranchehat nicht nur einen Kratzer abbekommen, da ist richtigder Lack ab .
Der noch größere Skandal ist aber, dass seit Jahrendurch zahlreiche Untersuchungen belegt ist, dass Die-selautos die Abgaswerte um ein Vielfaches überschreitenund die Bundesregierung null dagegen unternommen hat .Volkswagen ist insofern nur ein neues Kapitel in einerlangen Kette von Mogeleien .
Man habe seit dem Herbst 2014 belastbare Indizi-en, dass selbst moderne Euro-6-Diesel im Realbetriebvielfach erhöhte Stickoxidemissionen aufweisen . Dasschrieb die Bundesregierung im August in ihrer Antwortauf einen Mahnbrief aus Brüssel; denn Brüssel hat gegenDeutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnet,weil die gesundheitsgefährdende Stickoxidbelastung inunseren deutschen Städten zu hoch ist . Sehr geehrterKollege Viesehon, das ist das Problem, über das wir hierreden . Zwei Drittel der NOx-Belastungen gehen auf denVerkehr und hier vor allen Dingen auf Dieselmotoren zu-rück . Das gehört zur Wahrheit dazu . Diese Emissionenmüssen gesenkt werden .
Der ICCT hat im Oktober 2014 herausgefunden, dassdie Stickoxidwerte auf der Straße die erlaubten Werte imDurchschnitt um das Siebenfache überschreiten . DieseAbweichungen lassen sich im Übrigen nicht mit Unter-schieden zwischen Laborbedingungen und realem Fahr-verhalten erklären; denn der überwiegende Teil der beob-achteten Überschreitungen konnte weder extremen nochuntypischen Fahrsituationen zugeordnet werden . Das istalso ganz klar ein systematisches Problem .Was haben Sie, Herr Dobrindt, mit den Ergebnissen,die seit 2014 vorliegen, gemacht? Nichts! Sie habennichts gegen diese Verbrauchertäuschung unternommen .Spätestens nach der Veröffentlichung des ICCT-Berichts2014 hätten Sie eine Untersuchungskommission einrich-ten müssen .
Spätestens 2014 hätten Sie das Kraftfahrt-Bundesamtmit Nachtests beauftragen müssen und nicht erst dieseWoche .Auch das Umweltbundesamt hat Untersuchungendurchgeführt und Nachprüfungen eingefordert . Insofernist es albern, sich hier hinzustellen und zu sagen, dasswir auf das RDE-Messverfahren warten sollen; denn daswird bekanntlich nicht vor 2017 in die Praxis umgesetzt .Trotz der Untersuchung einer nachgeordneten Behör-de des Bundes hat der Bundesverkehrsminister sich nichtein einziges Mal die Mühe gemacht, die Angaben derHersteller zu kontrollieren . Erst jetzt wollen Sie prüfen,ob das, was typgenehmigt wurde, auch tatsächlich ver-baut wurde . Das ist viel zu spät .
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Die grüne Bundestagsfraktion hat in dieser Wocheden Antrag „Zum Schutz der Verbraucher – Unzutref-fende Angaben beim Spritverbrauch und Schadstoffaus-stoß von PKW beenden“ eingebracht . Darin fordern wirregelmäßige, unabhängige Nachtests für Abgase undCO2-Emissionen. Die zahlreichen legalen Schlupflöcherbei den Labortests müssen beseitigt werden . Die Abgas-tests spiegeln in keiner Weise die Wirklichkeit wider .Schnelles Beschleunigen oder Fahren über 120 km/hkommen darin überhaupt nicht vor . Das geht an den rea-len Fahrsituationen aber völlig vorbei . Deshalb brauchenwir andere Labortests, damit Abgastests wirklich aussa-gekräftig sind .
Es ist im Übrigen traurig, dass es einen Skandal sol-chen Ausmaßes braucht, damit das Kraftfahrt-Bundesamtdas tut, was es schon längst hätte tun müssen . Zusätzlichzur Überprüfung der Fahrzeuge im Labor müssen auchStraßentests vorgenommen werden, also Messungenwährend Realfahrten, nicht nur auf dem Rollenprüfstand .Die zuständigen Behörden müssen diese Ergebnisse dannauch endlich allen Verbraucherinnen und Verbrauchernöffentlich zugänglich machen . Auch das ist bisher nichterfolgt .
Der Verband der Automobilindustrie – der in denletzten Tagen auffällig abgetaucht ist – wollte uns im-mer weismachen, dass der sogenannte Clean Diesel fürdas Erreichen der Klimaziele absolut unverzichtbar sei .Genau das Gleiche hat das Bundesverkehrsministeriumauch immer behauptet .
Nein, meine Damen und Herren, der Diesel ist ein Teildes Problems . Es wird erkennbar, dass die Bundesregie-rung kein Konzept hat, wie sie die Stickoxidbelastungenin unseren Städten deutlich reduzieren und die Luft-qualität deutlich verbessern will . Das fehlt . Das ist dasProblem, über das wir zu sprechen haben, Herr KollegeViesehon .Auch die Reduktion der CO2-Emissionen im Verkehr fin-det nur auf dem Papier statt . Wir reden nicht nur überAbgase . Auch hier hat der ICCT Differenzen zwischenHerstellerangaben und tatsächlichem Kraftstoffver-brauch festgestellt, die im Übrigen immer größer wer-den. Auch hier gibt es zahlreiche Schlupflöcher in Test-verfahren im Labor . Wenn jetzt die Abgaswerte vomKraftfahrt-Bundesamt kontrolliert werden, müssen auchdie Verbrauchsangaben in die Untersuchung einbezogenund kontrolliert werden . Herr Minister, das erwarten wirjetzt von Ihnen .
Wer die CO2-Emissionen wirklich reduzieren und dieLuft in den Städten verbessern will, der muss endlich dieChance ergreifen und die Elektromobilität zum Fliegenbringen . Das sehe ich ganz genauso wie der KollegeKlare . Insofern sage ich auch: –
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
– Wenn wir das erreichen wollen, brauchen wir ein ent-
sprechendes Marktanreizprogramm zum Kauf von Elek-
troautos . Dieses Marktanreizprogramm muss jetzt kom-
men .
Herzlichen Dank .
Als nächster Redner hat Florian Oßner von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich denke, wir stimmen alle darin überein, dasses sich bei den Manipulationen in einem Automobilkon-zern um ein völlig inakzeptables Fehlverhalten handelt .Allerdings stehen wir erst am Anfang der Ermittlungen .Viele Details und Fragen sind derzeit noch ungeklärt .Deswegen warne ich ausdrücklich davor – dies ist ins-besondere an Sie gerichtet, liebe Kollegen der Grünen –,sich im Eifer des Gefechts wie ein Elefant im Porzellan-laden aufzuführen und die positive Reputation unsererAutomobilindustrie zu zerdeppern .
Hören Sie bitte auf, immer alles zu skandalisieren undschlechtzureden .
Allerdings ist es schon interessant, sich in diesem Zu-sammenhang die Chronologie der Ereignisse anzuschau-en . Der International Council on Clean Transportationmit Sitz in Berlin liefert Informationen in die USA . DieFraktion der Grünen stellte hierzu im Sommer eine Klei-ne Anfrage . Die Diskussion kommt ausgerechnet zu demZeitpunkt auf, wo mit der IAA in Frankfurt die weltweitgrößte Leistungsschau der Automobilbranche stattfindet.
Stephan Kühn
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Wir sollten im Rahmen dieser Debatte nicht verges-sen, dass in der deutschen Automobilindustrie erstklas-sige Arbeit geleistet wird . Die deutschen Autobauer sindweltweit spitze, insbesondere was die Umweltverträg-lichkeit angeht . Die hart arbeitenden Mitarbeiter in derAutomobilbranche dürfen deshalb nicht aufgrund Ver-fehlungen Vereinzelter unter Generalverdacht gestelltwerden .
Zudem warne ich davor, die jetzige Debatte dazu zumissbrauchen, die Selbstzünder komplett zu verteufeln,auch wenn ich selbst, wie auch einige Vorredner, einFreund der wasserstoffbetriebenen und vollelektrischenFahrzeuge bin . Bei Verbrennungsmotoren hat sich inden letzten zehn Jahren nämlich Gewaltiges getan, so-wohl im Verbrauch als auch hinsichtlich der spezifischenCO2-Emissionswerte der Pkws, die in Deutschland von175 auf 125 Gramm CO2 pro Kilometer gesunken sind,also um fast ein Drittel .
– Herr Krischer, Schreien allein hilft da auch nicht . –Das ist eine beeindruckende Zahl, vor allem, wenn manzugleich den stetigen Anstieg der Verkaufszahlen dersparsameren Dieselfahrzeuge berücksichtigt . Das ist einegroßartige Leistung der Automobilindustrie . Das war üb-rigens nur mit der Dieseltechnologie möglich .Für das Einsetzen einer Untersuchungskommissionmit dem Auftrag, festzustellen, ob die betroffenen Fahr-zeuge unter Einhaltung der bestehenden deutschen undeuropäischen Vorschriften gebaut wurden, möchte ichausdrücklich ein großes Lob an unseren Bundesverkehrs-minister aussprechen: Lieber Alexander Dobrindt, herzli-chen Dank für dieses sehr beherzte Handeln .
Die Kommission hat am 22 . September 2015 ihre Arbeitaufgenommen und wird unter anderem Gespräche mitder amerikanischen Umweltbehörde EPA sowie mit denAutomobilherstellern führen .Mit Ihren falschen Anschuldigungen, liebe Grüne, dieBundesregierung hätte seit dem Frühsommer alle Vor-gänge gekannt, sowie mit Ihren fortgesetzten Angriffenauf Bundesminister Dobrindt tragen Sie keineswegs zurAufklärung des Sachverhalts bei,
sondern verzögern diese vorsätzlich, und zwar aus einfa-cher, populistischer Profilierungssucht.
Ihr Verhalten ist nicht nur kontraproduktiv, sondern auchein Stück weit scheinheilig .
Ich will ergänzen, warum dies so ist . Die Antwort derBundesregierung, die Sie als direkten Beweis heranzie-hen, war Ihnen doch schon seit Monaten bekannt . Siehätten also schon vor Monaten Alarm schlagen müssen,wenn doch alles so klar gewesen wäre .
Da Sie das nicht getan haben, sondern der Bundesregie-rung nun Untätigkeit vorwerfen, kann man Ihr Verhaltennur als heuchlerisch bezeichnen .
Man muss schon auf dem Boden der Tatsachen blei-ben . Fakt ist, dass Artikel 3 Absatz 10 der Verordnung
Nummer 715/2007 den Begriff einer Abschaltein-
richtung legal definiert. Fakt ist aber auch, dass dieseDefinition im Zusammenhang mit Artikel 5 Absatz 2 zusehen ist . In diesem wird klar und unmissverständlich ge-regelt, wann die Verwendung einer Abschalteinrichtungzulässig ist und wann nicht . Dies ist beispielsweise dannder Fall, wenn es darum geht, den Motor vor Beschädi-gungen oder bei einem Unfall zu schützen .
Ein Blick in Ihre eigene Anfrage, liebe Grüne, erleich-tert definitiv die Wahrheitsfindung. Darin steht, dass dieBundesregierung die Auffassung der Europäischen Kom-mission teilt, dass sich das Konzept zur Verhinderungvon Abschalteinrichtungen in der Praxis bislang nichtumfänglich bewährt hat
und daher die Arbeiten
– hören Sie doch einmal zu, damit Sie etwas dazuler-nen – zur Fortentwicklung des EU-Regelwerks weiterunterstützt werden, und zwar nicht erst seitdem die Vor-gänge in den USA bekannt geworden sind .
Florian Oßner
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Anstatt politische Scheingefechte zu führen, solltenwir lieber gemeinsam an der Aufklärung dieser aktuellenMissstände arbeiten
und weiteren Schaden vom Industriestandort Deutsch-land abwenden .
Auch Sie muss ich ermahnen, zum Schluss zu kommen .
Herzliches Vergelts Gott fürs Zuhören .
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulli Nissen von
der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeitervon VW! Wir alle sind am Wochenende von den unterBetrugsabsicht manipulierten Abgaswerten von VW kalterwischt worden . Erst dachte ich, das kann doch nur einegefälschte Nachricht sein, aber leider erwies sie sich alswahr .Alle sind geschockt von diesem Vorgehen, auch dieBelegschaft von VW . Der Betriebsratsvorsitzende Oster-loh hat es in einem Schreiben formuliert – ich zitiere –:Dies rüttelt am Selbstverständnis unseres Unterneh-mens und diskreditiert die gute Arbeit . . .Dem kann ich nur zustimmen .Weltweit sind knapp 600 000 Beschäftigte betroffen,in Deutschland etwa 270 000, davon etwa 16 000 inNordhessen; das ist schon erwähnt worden .Wie geht es jetzt der Belegschaft? Viele machen sichSorgen um ihren Arbeitsplatz und haben zudem Verlus-te durch den Kursverfall bei Mitarbeiteraktien erlitten .Auch in deren Interesse ist die lückenlose Aufklärunghinsichtlich des Ausmaßes der Manipulationen wichtig .Aufklärung allein genügt aber nicht . Wir müssen auchhandeln und verändern .Mich als Umweltpolitikerin hat es besonders empört,dass erneut sträflich mit der Gesundheit der Bevölke-rung umgegangen wurde . Grenzwerte wurden bewusstumgangen . Damit wurden mehr Schadstoffe als erlaubtausgestoßen . Der Gedanke der Nachhaltigkeit, der Un-ternehmensverantwortung für die Umwelt, für die Luftund auch für die Menschen hörte an der eigenen Fabrik-tür auf . Das ist schäbig .
Das ist auch kein Problem eines einzigen Unterneh-mens oder einer einzelnen Branche; das will ich hierdeutlich machen . Hohe Absatzzahlen und deutliche Ge-winnsteigerungen sind bei vielen Unternehmen wichtigerals Umwelt und Gesundheit. Die Gemeinwohlverpflich-tung des Grundgesetzes scheinen viele nicht zu kennen .Was nutzen Werte – ich meine sowohl Messwerte alsauch moralische, ethische Werte –, wenn sie nur auf demPapier existieren und nicht ins reale Handeln umgesetztwerden?Das Umweltbundesamt hat deutlich gemacht, dassStickstoffdioxid Luftschadstoff Nummer eins ist . Die er-laubten Werte überschreiten wir immer noch um 60 Pro-zent im Jahresmittel . Dies hat Deutschland zu Rechtreichlich Ärger mit der Europäischen Kommission ein-getragen .Ein Beispiel für Überschreitungen ist Darmstadt . Dorthatten wir – Stand gestern Abend – schon 57 Fälle . Er-laubt sind für das gesamte Jahr aber nur 18 .
– Kollege Krischer, es wäre schön, wenn Sie zuhörenwürden . – Auch in meinem Wahlkreis Frankfurt kommtes an der Friedberger Landstraße immer wieder zu Über-schreitungen . An einer solchen Straße zu leben, erhöhtdas Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder anLungenkrebs zu erkranken . Stickstoffdioxid ist zudeman der Entstehung von Ozon beteiligt . Bei Sonneneinwir-kung kann es zu Sommersmog führen, der zu Lungenrei-zungen führt und gefährlich für Asthmatiker und andereEmpfindliche ist. Auch das müssen wir bedenken, liebeKolleginnen und Kollegen .
Nach einer aktuellen Studie eines Max-Planck-Insti-tuts sterben jährlich weltweit 3,3 Millionen Menschenan den Folgen von Luftverschmutzung; Ursache sindnatürlich nicht nur Verkehrsemissionen, aber auch . InDeutschland sind das 35 000 Tote pro Jahr, hiervon allein7 000 durch die Luftbelastung im Verkehr . Das sind dop-pelt so viele Tote wie durch Verkehrsunfälle . Ich selberfahre schon seit 2009 einen Elektroroller und seit 2012ein Elektroauto .
Ich versuche – es hat mich letzte Woche hart getroffen,weil ich in strömenden Regen gekommen bin; aber ichhabe es gemacht –,
Florian Oßner
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möglichst alle Fahrten im Stadtgebiet mit diesen Fahr-zeugen zu erledigen . Das ist gut für die Luft und senktzusätzlich die Lärmbelastung .Wir müssen endlich die Gesundheit der Menschen inden Vordergrund rücken . Noch einmal: In Deutschlandsterben doppelt so viele Menschen an den Folgen derVerkehrsemissionen wie an Verkehrsunfällen . Deshalbbrauchen wir Grenzwerte . Sie wirken aber natürlich nur,wenn sie eingehalten werden .
Deshalb brauchen wir bessere Tests und bessere Kontrol-len in Deutschland und natürlich auch in Europa .Wir haben schon einiges auf den Weg gebracht . MeineKollegin Kirsten Lühmann hat es bereits angesprochen .Weitere Schritte und schärfere Maßnahmen müssen na-türlich folgen . Sie müssen klar und deutlich sein sowieunabhängig kontrolliert werden . Ich denke, das wollenwir alle .Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schock solltefür uns Anreiz und Antrieb sein, endlich mit dem nöti-gen Druck in der EU, aber auch in Richtung der Auto-mobilhersteller zu sagen: Wir müssen die Grenzwerte imrealen Betrieb einhalten . So können wir Vertrauen wie-dergewinnen . Das ist ein Wettbewerbsvorteil und keinezusätzliche Bürde . Nutzen wir die Chance, um saubereAutos herzustellen, damit wir saubere Luft, saubere Städ-te und gesunde Menschen haben .Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und herzli-che Grüße an die Kolleginnen und Kollegen von VW .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Matthias
Heider von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Als ich am vergangenen Wochenendedie ersten Meldungen aus den USA über die Verstöße vonVW gesehen habe, war ich genauso entsetzt wie Sie . Wiralle kennen die Produkte von VW als zuverlässig undqualitativ hochwertig . Umso mehr sind die offenbar ge-zielten Manipulationen an den Testergebnissen von VWin den USA zu kritisieren . Sie sind inakzeptabel .Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-nen, was Sie hier heute in der Öffentlichkeit abziehen, istmindestens genauso inakzeptabel .
Ich habe ja ein gewisses Verständnis dafür, dass die Op-position immer ein gesatteltes Pferd im Stall stehen habenmuss . Aber wenn Sie es schon heute herausholen, dannsollten Sie zumindest nicht die anderen Pferde scheu ma-chen . Beschädigen Sie nicht eine Branche, beschädigenSie nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland .
Fügen Sie den Unternehmen und Arbeitnehmern und vorallen Dingen ihren Familien heute keinen Schaden zu .Das ist meine dringende Bitte .
Meine Damen und Herren, das Gebot der Stunde ist,umfassend und unverzüglich weiter aufzuklären . Das istVW den Verbrauchern, den Aktionären, aber auch der ge-samten Branche schuldig . Es muss für die Verbraucherklar werden, welche Autos in Deutschland betroffen sind .Es geht nicht an, dass wir Wasserstandsmeldungen überden Ticker bekommen, wie viele Fahrzeuge betroffensind . Das muss jetzt auf den Tisch . Ich bin dem Verkehrs-minister sehr dankbar, dass er über das Umweltbundes-amt und das Kraftfahrt-Bundesamt dazu beiträgt, dassdie entsprechenden Werte auf den Tisch kommen .
Das sind erste Schritte, um das Vertrauen der Verbrau-cher, der deutschen Autofahrer, wieder zu sichern . Diebereits getroffenen personellen Konsequenzen in denGremien von VW sprechen für sich . Das zeigt, dass VWhandelt . Das macht Hoffnung auf eine weitere umfas-sende und schnelle Aufklärung . Das ist gut so . Auch dieanderen international tätigen Autobauer müssen schnellaufkommende Verdachtsmomente aus dem Weg räumenund klarstellen, dass das bei VW ein Einzelfall ist .
Mich hat noch etwas anderes völlig entsetzt . Das sinddie Auswirkungen auf die Branche und auf den Auto-mobilbau in Deutschland, die wir zu befürchten haben .Wir wissen, dass jeder siebte Arbeitsplatz in Deutschlandmittelbar vom Automobilbau abhängt; direkt sind es so-gar 750 000 Arbeitsplätze . Deshalb kann ich kaum ver-stehen, meine Damen und Herren von den Grünen, dassSie hier heute versuchen, eine ganze Branche für einenVorfall in Mithaft zu nehmen .
Wir müssen aufklären, ja – aber bitte ohne politischesKalkül . Daran sollten Sie denken, wenn Sie so vortragen,wie Sie es heute getan haben . Die Automobilindustrie istUlli Nissen
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eine Schlüsselindustrie mit einigen Hunderttausend Ar-beitsplätzen, die davon betroffen sind .
Jetzt kommt es auf Verantwortungsbewusstsein an, auchim politischen Raum .
Im Übrigen: Zu unterstellen, dass es keine Informa-tionen über und keine Anhaltspunkte für unterschiedli-che Testverfahren, für Echtbetrieb und Testverfahren imLabor, gegeben habe, ist völlig abwegig . Das ist längstbekannt .
Der guten Ordnung halber wäre hier vielleicht auchder Hinweis angebracht gewesen, dass schon zwischendem Typzulassungsverfahren und den normalen Abgas-untersuchungen bei einer Hauptuntersuchung ein großerUnterschied besteht .
Bei der Hauptuntersuchung wird beispielsweise sicher-gestellt, dass sich die Abgaswerte der zugelassenen Fahr-zeuge über den Nutzungszeitraum innerhalb der festge-legten Überwachungsgrenzen bewegen . Diese sind mitden Grenzwerten, die von der jeweiligen Abgasnormeinmalig bei einem Zulassungsverfahren gefordert wer-den, keineswegs identisch . Herr Krischer, das hätten Siemit einigen Klicks im Internet herausbekommen können .Das ist doch kein Geheimnis .
Dass das Messverfahren der NEFZ von 1996 inzwi-schen sicherlich veraltet ist, ist klar . Dass ein neues Mess-verfahren, das WLTP, gerade in Arbeit ist – wir werden esin wenigen Jahren bekommen –, ist richtig .
Hier spielen nicht nur die Werte zum CO2-Ausstoß, son-dern auch die Stickoxidemissionen eine Rolle .Lassen Sie mich zum Schluss, wenn Sie schon Wertevergleichen, ein Beispiel anführen: Ein Kleinwagen hatandere Werte als ein Familien-Van;
das muss auch messbar sein . Ein Familien-Van ist einGegenstand, der schwer ist . Der braucht eben mehr Ener-gie, um in Bewegung gebracht zu werden, und er hatauch einen höheren Schadstoffausstoß . Das ist Physik,Herr Krischer,
und wenn man Messzyklen zusammenrechnet, dann istdas Mathematik . Die entsprechenden Ergebnisse müssendann evaluiert werden . Das ist vernünftig . Vernunft ist,glaube ich, das Gebot der Stunde .Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Andreas Jung,
ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist offenkundig: Durch die Manipulation von VW istviel Vertrauen zerstört worden . Deshalb muss es jetzt beiallem und uns allen darum gehen, Vertrauen wiederher-zustellen . Darauf müssen jetzt alle Anstrengungen ge-richtet sein .Der erste wichtige Punkt ist dabei Aufklärung undTransparenz . Deshalb halte ich und halten wir es fürrichtig, dass der Bundesverkehrsminister sofort nach Be-kanntwerden der Manipulation eine Untersuchungskom-mission eingesetzt hat, in der die Experten aus dem Mi-nisterium und die Experten des Kraftfahrt-Bundesamtesden Vorwürfen nachgehen und untersuchen, was bei VWpassiert ist und wie die Situation bei anderen Automobil-konzernen ist . Das ist der richtige Weg . Es muss alles aufden Tisch . Für dieses Vorgehen hat der Minister unserevolle Unterstützung .
Zweitens . Selbstverständlich stellt sich auch die Fragenach der Belastbarkeit der Messwerte; auch sie ist wich-tig . Aber dabei geht es um etwas anderes . Deshalb, glaubeich, tut man dem Anliegen, Vertrauen zu schaffen, keinenGefallen, wenn man diese beiden Sachverhalte wissent-lich miteinander vermischt, obwohl sie nicht zusammen-gehören, und dann irgendwelche Vorwürfe daraus strickt .Auch dieses Thema ist wichtig und schon länger bekannt .Dabei geht es aber, wie gesagt, um etwas anderes als beiden aktuellen Fragen . Hier wird schon länger an einerAntwort gearbeitet; auch das ist gesagt worden .
Die Bundesregierung befindet sich in Abstimmungmit den europäischen Partnern . Es ist entschieden wor-Dr. Matthias Heider
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den, dass man ein neues Messverfahren einführt, bei demunter realistischen Bedingungen auf der Straße gemessenwird und nicht im Labor . Der Minister hat gesagt, bei dernächsten Tagung der EU-Verkehrsminister wird diesesThema auf der Tagesordnung stehen. Ich finde, wir soll-ten ihn gemeinsam dabei unterstützen, dieses Thema vo-ranzubringen, damit das neue Messverfahren so schnellwie möglich eingeführt werden kann .
Drittens geht es natürlich darum – ich denke, auch hiergibt es große Übereinstimmung –, Vertrauen dadurch zugewinnen bzw . jetzt zurückzugewinnen, dass Deutsch-land die Technologieführerschaft hat,
weil unsere Autos die effizientesten, die besten und dieökologischsten sind und sie auch unserem Anspruch,Vorreiter beim Klimaschutz zu sein, gerecht werden .
Das ist eine ökologische, aber auch eine wirtschaftlicheFrage .
Das werden die Autos der Zukunft sein .Wenn wir weiterhin das Autoland Nummer eins blei-ben wollen, dann müssen wir hier an der Spitze sein . Dasmuss unser Anspruch sein .
Das richtet sich natürlich als Erstes an die Automobilun-ternehmen, die diese Entwicklungen vorantreiben müs-sen, aber auch an die Politik . Wir setzen die Rahmen-bedingungen . Die Bundesregierung hat einen Prozesseingeleitet, um die Brennstoffzelle und die Elektromobi-lität voranzubringen und genau das zu erreichen . Sie hatMilliardenprogramme aufgelegt und ihre Forschungsan-strengungen in den Bereichen Batterietechnik, Antriebs-technik, Leichtbautechnik und in Bezug auf die Verbin-dung zum Energiesystem erhöht .
– Herr Krischer, mit der Forderung nach Kaufanreizengreifen Sie eine Forderung der Automobilindustrie auf .
– Diese Forderung wird auch in der Automobilindustrieso vertreten . – Ich bin da etwas zurückhaltend . Ich glau-be, ein Auto wird dann gekauft, wenn die Technik über-zeugt, wenn es effizient ist, wenn der Käufer das Autofahren will, weil es einfach gut ist .Natürlich geht es auch darum, Rahmenbedingungenzu setzen . Diese haben wir mit dem Elektromobilitätsge-setz auf den Weg gebracht .
[CDU/CSU]: Herr Krischer
Denken Sie zum Beispiel an die Nutzervorteile undandere Dinge . Es geht hier auch um steuerliche Anrei-ze . Kaufprämien, wie Sie sie fordern – normalerweisenennen Sie das „Subventionen“ –, sind zum Beispiel inFrankreich eingeführt worden . Damit hatte man aber nursehr begrenzt Erfolg . Ich glaube deshalb, dass man nocheinmal darüber nachdenken muss, wie man bei diesemThema anders vorankommt, gemeinsam mit der Natio-nalen Plattform Elektromobilität, die hierzu bereits Vor-schläge erarbeitet hat .Das Ziel ist klar: Wir brauchen die besten Autos mitalternativen Antrieben, und wir brauchen Fortschritte beiden konventionellen Fahrzeugen . Das ist die Linie derBundesregierung und auch die Linie unserer Fraktion .Auf diesem Weg sollten wir gemeinsam mit der Auto-industrie vorankommen . Unser Anspruch muss sein: Diebesten Autos kommen aus Deutschland .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in der Aktuellen
Stunde hat Carsten Müller von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damenund Herren! In meiner Heimatregion Braunschweig/Wolfsburg spreche ich im Moment mit vielen besorg-ten Menschen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternvon Volkswagen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternvon Zulieferern, auch mit Leuten, die mit dem Volkswa-gen-Konzern und der Branche gar nichts zu tun haben,aber trotzdem besorgt sind . Wir haben es in den Kom-munen in meiner Heimatregion mit der Situation zu tun,dass die Haushaltsberatungen verschoben werden, weildie Kalkulationsbasis für die Gewerbesteuereinnahmenüberhaupt nicht mehr vorhanden ist . Sie mögen darausableiten, wie tief die Verunsicherung ist .Es gibt an dieser Stelle keine zwei Meinungen . Dieillegalen Manipulationen, die es bei Volkswagen ganz of-fensichtlich gegeben hat, sind überhaupt nicht tolerierbar .Hier ist Vertrauen verspielt worden, und dieses Vertrauenmuss durch rückhaltlose Aufklärung zurückgewonnenwerden . Daran arbeitet die Bundesregierung hart – dasist heute mehrfach richtigerweise gesagt worden –; siehat in dieser Woche umgehend die richtigen Maßnahmenergriffen .Andreas Jung
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Wie gesagt: Die Situation ist schlimm . Ich will denKolleginnen und Kollegen der Linksfraktion und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen aber auch einmal ganzdeutlich sagen: Wie Sie sich heute hier aufgeführt haben,ist fast genauso schlimm . Für die Menschen in meinerHeimatregion, die Sie heute beobachtet und gesehen ha-ben, mit welcher klammheimlichen Schadenfreude Siediese Diskussion geführt bzw . begleitet haben, war dasüber alle Maßen erschreckend .
Frau Leidig, zu Ihnen komme ich am Schluss . Das, wasSie hier heute geäußert haben, fand ich ganz besondersbemerkenswert .
Der SPD will ich einen guten Rat geben – Kollegin-nen und Kollegen aus Nordrhein-Westfalen sind ja da –:Sagen Sie Ihrem SPD-Justizminister in Nordrhein-West-falen einmal, dass es in dieser Situation nicht hilfreichist, wenn er um einer billigen Schlagzeile willen sofor-tige Schadensersatzzahlungen an VW-Fahrerinnen und-fahrer fordert . Damit spielt er meines Erachtens mit denÄngsten .
Die Linken haben gefordert, dass die milliardenschwe-ren Eigner von Autokonzernen erst einmal enteignet wer-den müssen . Frau Kollegin Leidig, das ist kenntnislos .
– Ich habe ganz genau zugehört .
Sie wollen vor allen Dingen das Land Niedersachsendrankriegen, das an Volkswagen beteiligt ist, und die vie-len Belegschaftsaktionärinnen und -aktionäre . Das halteich für schäbig .Zu den Grünen . Herr Kollege Krischer, ich halte das,was Sie hier gesagt haben, ehrlich gesagt, für über alleMaßen wohlfeil . Es kommt selten vor – es gibt nur ei-nen Fall –, dass die öffentliche Hand an einem Automo-bilkonzern beteiligt ist . Die Beteiligung an Volkswagenwird durch eine Landesregierung ausgeübt, an der dieGrünen beteiligt sind, und Sie stellen sich jetzt hier-hin und unterstellen dem mit der Aufklärung befasstenAlexander Dobrindt, der das hervorragend macht,
dass er bestimmte Dinge gewusst hätte . Ich frage Sie:Was haben Sie und Ihre Parteifreunde in Niedersach-sen in ihrer Eigentümerstellung eigentlich gemacht, umdieses Thema frühzeitig anzugehen? Ich sage es Ihnen:Nichts! Deswegen ist das auch wohlfeil, was Sie hier ab-liefern . Sie spielen mit den Ängsten der Menschen .
Was ist zu tun? Erstens . Das verlorengegangene Ver-trauen muss zurückgewonnen werden; darüber denkenwir heute alle nach, hoffentlich auch Sie von den Linkenund den Grünen . Das geht aber nicht einfach so . Rück-haltlose Aufklärung ist erforderlich . Da ist die Bundes-regierung gefordert, ebenso andere Stakeholder . Da istauch die Industrie gefordert, zwar nicht nur Volkswagen,aber vor allen Dingen Volkswagen .Zweitens . Das Thema RDE, Real Driving Emissions,ist heute mehrfach angesprochen worden . Eigentlich solldas 2017 kommen . Dann sollen die Prüfzyklen so durch-geführt werden, dass sie der wirklichen Benutzung derFahrzeuge auf der Straße entsprechen . Das ist wichtig;denn mit reiner Theorie kann man nichts ausrichten . Zu-dem führt das zu Verbraucherverunsicherung . Ich könn-te mir schon vorstellen – und würde mir das auch wün-schen –, dass man hier schneller vorankommt und dieRDE-Zyklen nicht erst 2017 auf dem Weg über Europaeinführt . Hier müssen wir dranbleiben .
Drittens . Wenn man sich mit diesem Thema auseinan-dersetzt, sieht man, dass es noch andere Möglichkeitengibt . Wenn wir uns anschauen, welche ISO-Normen bei-spielsweise für sicherheitsrelevante Systeme in Fahrzeu-gen gelten – ich hebe hier auf die ISO-Norm 26262 ab –,kann ich mir durchaus vorstellen, eine analoge Regelungin Bezug auf eine unabhängige Testierung der umwelt-relevanten Komponenten bei Straßenfahrzeugen zu er-reichen . Das sollten wir uns überlegen . Damit könnenwir, glaube ich, ganz wesentlich Verbrauchervertrauenzurückgewinnen .Meine Damen und Herren, das waren drei Punkte . Ichhabe mir während der Debatte noch einen vierten Punktnotiert . Wir alle sollten – ich wende mich abermals andie Grünen und die Linken – nicht mit den Ängsten derMenschen spielen .
– Frau Leidig, ich hatte versprochen, dass ich noch zuIhnen komme .
Herr Kollege, ich würde Sie bitten, zum Schluss zu
kommen .
Das mache ich . Ich komme Ihrer Bitte gerne nach . –Als der Kollege Kühn sagte, bei der Automobilindustriesei der Lack ab, haben Sie dazwischengerufen: „SchönCarsten Müller
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wär’s!“ – Das ist zynisch . Die Menschen in diesem Lan-de sollen das wissen . Schlimm! Schämen Sie sich!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Aktu-
elle Stunde beendet .
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Dieses Thema wird uns aber sicherlich noch etwas länger
beschäftigen .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages, auf Mittwoch, den 30 . September 2015, 13 Uhr,
ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen eine
gute Heimfahrt .