Protokoll:
18125

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 125

  • date_rangeDatum: 25. September 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 16:08 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/125 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 125. Sitzung Berlin, Freitag, den 25. September 2015 Inhalt: Gedenken an die Opfer der Massenpanik bei der Hadsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12121 A Tagesordnungspunkt 21: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Stärkung der pflege- rischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflege- stärkungsgesetz – PSG II) Drucksache 18/5926 . . . . . . . . . . . . . . . . . 12121 B b) Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Gute Pflege braucht sichere und zukunftsfeste Rahmenbedingungen Drucksache 18/6066 . . . . . . . . . . . . . . . . . 12121 B Hermann Gröhe, Bundesminister BMG . . . . . 12121 C Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12123 C Dr . Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 12124 C Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12125 D Dr . Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12127 D Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12129 C Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12130 C Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . 12131 A Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12132 A Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12132 D Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12133 D Tagesordnungspunkt 22: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Unter- bringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher Drucksache 18/5921 . . . . . . . . . . . . . . . . . 12135 B b) Antrag der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Luise Amtsberg, Dr . Franziska Brantner, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Kindeswohl bei der Ver- sorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge absichern Drucksache 18/5932 . . . . . . . . . . . . . . . . . 12135 B Manuela Schwesig, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12135 C Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . . 12137 C Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . . 12139 C Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12141 C Gülistan Yüksel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12143 A Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12144 A Martin Patzelt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12144 D Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 125 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 25 . September 2015II Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12146 A Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12147 B Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . 12147 C Tagesordnungspunkt 23: b) Antrag der Abgeordneten Maria Klein- Schmeink, Luise Amtsberg, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Psychotherapeutische und psy- chosoziale Versorgung von Asylsuchen- den und Flüchtlingen verbessern Drucksache 18/6067 . . . . . . . . . . . . . . . . . 12150 A Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12150 B Ute Bertram (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 12151 B Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12153 B Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12154 C Emmi Zeulner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12155 C Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12156 B Dirk Heidenblut (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12157 B Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schen- kungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Drucksache 18/5923 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12158 D Dr . Michael Meister, Parl . Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12159 A Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12160 D Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 12162 B Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 12163 D Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12165 D Cansel Kiziltepe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12167 B Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . 12168 D Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . . . 12170 B Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Wohnimmobilienkre- ditrichtlinie Drucksache 18/5922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12171 B Ulrich Kelber, Parl . Staatssekretär BMJV . . . 12171 C Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 12172 C Dr . Stefan Heck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12173 C Dr . Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12174 C Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12175 C Dennis Rohde (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12176 C Dr . Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12177 C Tagesordnungspunkt 26: a) Antrag der Abgeordneten Norbert Müller (Potsdam), Sigrid Hupach, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kinderrechte umfassend stärken Drucksache 18/6042 . . . . . . . . . . . . . . . . . 12178 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Doris Wagner, Beate Walter-Rosenheimer, Dr . Franziska Brantner, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Von Anfang an beteiligen – Partizipationsrechte für Kinder und Jugendliche im demografischen Wandel stärken Drucksachen 18/3151, 18/5276 . . . . . . . . . 12178 D Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . . 12178 D Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12180 B Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12181 D Svenja Stadler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12183 A Dr . Silke Launert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12184 B Susann Rüthrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12186 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frakti- on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu unzutreffenden Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 125 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 25 . September 2015 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 125 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 25 . September 2015 III Angaben beim Spritverbrauch und Schad- stoffausstoß von Pkw Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12187 D Alexander Dobrindt, Bundesminister BMVI . 12189 A Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12190 C Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12191 D Thomas Viesehon (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12193 A Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12194 B Arno Klare (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12195 C Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12196 B Florian Oßner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12197 C Ulli Nissen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12199 A Dr . Matthias Heider (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12200 B Andreas Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12201 C Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . 12202 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12204 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 12205 C Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12205 D (A) (C) (B) (D) 12121Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 125 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 25 . September 2015 125. Sitzung Berlin, Freitag, den 25. September 2015 Beginn: 9 .01 Uhr
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    Carsten Müller (Braunschweig) (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 125 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 25 . September 2015 12205 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Becker, Dirk SPD 25 .09 .2015 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 25 .09 .2015 Feiler, Uwe CDU/CSU 25 .09 .2015 Glöckner, Angelika SPD 25 .09 .2015 Hartmann (Wackern- heim), Michael SPD 25 .09 .2015 Hendricks, Dr . Barbara SPD 25 .09 .2015 Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25 .09 .2015 Hübinger, Anette CDU/CSU 25 .09 .2015 Irlstorfer, Erich CDU/CSU 25 .09 .2015 Karawanskij, Susanna DIE LINKE 25 .09 .2015 Kolbe, Daniela SPD 25 .09 .2015 Kretschmer, Michael CDU/CSU 25 .09 .2015 Kühn (Tübingen), Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25 .09 .2015 Lach, Günter CDU/CSU 25 .09 .2015 Lenkert, Ralph DIE LINKE 25 .09 .2015 Merkel, Dr . Angela CDU/CSU 25 .09 .2015 Möhring, Cornelia DIE LINKE 25 .09 .2015 Müller (Chemnitz), Detlef SPD 25 .09 .2015 Müntefering, Michelle SPD 25 .09 .2015 Murmann, Dr . Philipp CDU/CSU 25 .09 .2015 Nick, Dr . Andreas CDU/CSU 25 .09 .2015 Nietan, Dietmar SPD 25 .09 .2015 Ostermann, Dr . Tim CDU/CSU 25 .09 .2015 Pfeiffer, Sibylle CDU/CSU 25 .09 .2015 Pflugradt, Jeannine SPD 25 .09 .2015 Röspel, René SPD 25 .09 .2015 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Scheuer, Andreas CDU/CSU 25 .09 .2015 Schlecht, Michael DIE LINKE 25 .09 .2015 Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD 25 .09 .2015 Steinbach, Erika CDU/CSU 25 .09 .2015 Steineke, Sebastian CDU/CSU 25 .09 .2015 Steinke, Kersten DIE LINKE 25 .09 .2015 Thews, Michael SPD 25 .09 .2015 Träger, Carsten SPD 25 .09 .2015 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25 .09 .2015 Ulrich, Alexander DIE LINKE 25 .09 .2015 Vogel (Kleinsaara), Volkmar CDU/CSU 25 .09 .2015 Weisgerber, Dr . Anja CDU/CSU 25 .09 .2015 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 25 .09 .2015 Wicklein, Andrea SPD 25 .09 .2015 Wiese, Dirk SPD 25 .09 .2015 Zertik, Heinrich CDU/CSU 25 .09 .2015 Zimmermann (Zwickau), Sabine DIE LINKE 25 .09 .2015 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie (9 . Aus- schuss) hat mitgeteilt, dass er gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung 2014 nach § 7 des Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen Normen- kontrollrates Bessere Rechtsetzung 2014: Amtlich – einfach – spürbar Drucksachen 18/4720, 18/4865 Nr. 3 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 125 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 25 . September 201512206 (A) (C) (B) (D) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Arbeit der Nationalen Kontaktstelle der OECD für multina- tionale Unternehmen seit der Überarbeitung der Leitsätze im Jahr 2011 bis zum 31. Dezember 2014 Drucksachen 18/4766, 18/4865 Nr. 5 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat . Haushaltsausschuss Drucksache 18/5165 Nr . A .7 Ratsdokument 8801/15 Drucksache 18/5165 Nr . A .8 Ratsdokument 8818/15 Drucksache 18/5286 Nr . A .5 Ratsdokument 8908/15 Drucksache 18/5286 Nr . A .6 Ratsdokument 8976/15 Drucksache 18/5459 Nr . A .9 Ratsdokument 6695/15 Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 18/5459 Nr . A .11 Ratsdokument 9391/15 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/5459 Nr . A .12 Ratsdokument 9341/15 Verteidigungsausschuss Drucksache 18/5459 Nr . A .13 EP P8_TA-PROV(2015)0214 Drucksache 18/5459 Nr . A .14 EP P8_TA-PROV(2015)0215 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 125 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 25 . September 2015 Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 125. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 21 Stärkung der pflegerischen Versorgung TOP 22 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge TOP 23 Psychotherapeutische Versorgung von Flüchtlingen TOP 24 Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz TOP 25 Umsetzung derWohnimmobilienkreditrichtlinie TOP 26 Kinder- und Jugendrechte ZP 5 Aktuelle Stunde zu unzutreffenden Angaben beim Spritverbrauch von Pkw Anlagen Anlage 1 Anlage 2
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812500000

Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Entsetzen und
Trauer ist überall in der Welt, nicht nur im islamischen
Kulturkreis, die Nachricht von der großen Zahl von Op-
fern zur Kenntnis genommen worden, die die Massenpa-
nik bei der Hadsch, der großen Pilgerfahrt nach Mekka,
verursacht hat: über 700 Tote, mehr als 800 Verletzte .
Unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme gelten allen
Angehörigen und allen Betroffenen . Ich möchte Sie bit-
ten, sich als Zeichen unserer Anteilnahme von den Plät-
zen zu erheben .


(Die Anwesenden erheben sich)


– Ich danke Ihnen .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur
Änderung weiterer Vorschriften


(Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II)


Drucksache 18/5926
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Katja Dörner, Kordula Schulz-
Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gute Pflege braucht sichere und zukunftsfeste
Rahmenbedingungen

Drucksache 18/6066
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Dazu sehe ich
keinen Widerspruch . Also können wir so verfahren .

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister für Gesundheit, Hermann Gröhe .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Hermann Gröhe (CDU):
Rede ID: ID1812500100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

„Vergiss mich nicht“, „Remember me“, das war das Mot-
to des Welt-Alzheimer-Tages am vergangenen Montag .
Damit wurde auf eine Krankheit hingewiesen, deren
eindrücklichstes Zeichen der Verlust der eigenen Erin-
nerungsfähigkeit ist . Gleichzeitig wurde darauf hinge-
wiesen, dass es unsere Aufgabe ist, dass es Aufgabe der
gesamten Gesellschaft ist, die Menschen, die an demen-
ziellen Erkrankungen leiden, nicht zu vergessen .

Es gibt in dieser Woche für Menschen mit einer De-
menz viele Aktionen der 40 Partner der Allianz für Men-
schen mit Demenz . Im ganzen Land wird darauf hin-
gewiesen, was wir als Gesamtgesellschaft tun müssen,
damit Menschen mit demenziellen Erkrankungen mög-
lichst gute Lebensumstände finden, um möglichst lange
selbstbestimmt, in guter Begleitung ihr Leben führen zu
können . Dabei geht es um die Erkrankten und um ihre
Angehörigen .

Es trifft sich gut, dass wir am Ende dieser Woche, an
diesem Freitag, im Deutschen Bundestag den Entwurf
eines Gesetzes auf den Weg bringen, das einen ent-
scheidenden Fortschritt bringen wird: Wir erreichen den
gleichberechtigten Zugang für demenziell Erkrankte zu
allen Leistungen der Pflegeversicherung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das ist eine wichtige – die Bundeskanzlerin hat in der
Haushaltsberatung gesagt: revolutionäre – Entwicklung .

Zehn Jahre wurde in diesem Land über einen neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriff diskutiert. Jetzt wird er ein-
geführt .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Das bedeutet, dass wir nicht länger allein auf körperli-
che Beeinträchtigungen und einen zeitlich messbaren
Unterstützungsbedarf bei Grundfertigkeiten schauen . In
Zukunft wird anhand von fünf Modulen genauer auf die
Potenziale, die Möglichkeiten von Menschen, die pfle-
gebedürftig sind, geschaut: Wo sind die konkreten indi-
viduellen Unterstützungsbedarfe? Was ist erforderlich,
damit sie auch mit Pflegebedürftigkeit möglichst selbst-
bestimmt leben können? Dabei geht es nicht allein um
Mobilität, um kognitive Möglichkeiten, um die Fähigkeit
zur Selbstversorgung oder den Umgang mit Krankheit
und Therapie . Das ist ein großer Fortschritt .

Gute Pflege gibt es nicht von der Stange. Sie wird
hiermit gleichsam ein Stück weit zu einem Maßanzug,
bei dem wirklich geschaut wird, was sie bzw . er braucht .
Gute Pflege zu erhalten, das ist der Wunsch der Pflegebe-
dürftigen, das ist der Wunsch ihrer Angehörigen, sie zu
leisten, das ist nicht zuletzt der Wunsch der Pflegekräfte
in unserem Land, die herausragende Arbeit leisten, mei-
ne Damen, meine Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wird eingeführt. Auf
dem Weg dorthin haben wir zum 1 . Januar dieses Jahres
wichtige Leistungen für demenziell Erkrankte nachhal-
tig verbessert . Wir haben darüber hinaus im letzten Jahr
intensiv die Begutachtung erprobt, die in Zukunft der
Einstufung der Pflegebedürftigkeit zugrunde liegen wird.
Mir sind drei Dinge wichtig, die ich in diesem Zusam-
menhang hervorheben möchte .

Erstens. Die Leistungen der Pflegeversicherung set-
zen zukünftig früher an. Mit dem Pflegegrad 1 wird am
Beginn einer Pflegebedürftigkeit bereits frühzeitig mit
Maßnahmen zur Wohnumfeldgestaltung, zur Betreuung
und Entlastung begonnen . Auch Beratung gehört dazu .
Mittelfristig werden dadurch ungefähr 500 000 Men-
schen erstmalig unterstützende Leistungen der solidari-
schen Pflegeversicherung erhalten. Die Pflegeversiche-
rung greift früher .

Der zweite Punkt ist mir genauso wichtig . Er betrifft
die stationäre Altenpflege. Durch das Fortschreiten des
Pflegebedarfs werden wir in Zukunft aufgrund eines
einheitlichen pflegebedingten Eigenanteils nicht mehr
ansteigende Belastungen haben . Damit tragen wir der
Erfahrung aus der Praxis Rechnung, dass in so mancher
Pflegeeinrichtung die Höherstufung trotz nachgewiese-
nem höheren Pflegebedarf unterblieb, weil die Pflegebe-
dürftigen oder ihre Angehörigen Angst vor einem stei-
genden Eigenanteil hatten .

Indem wir einen einheitlichen Eigenanteil festsetzen,
verhindern wir, dass sachgerechte Einstufungen aufgrund
finanzieller Ängste unterbleiben. Das stärkt die Solidari-
tät. Außerdem wird der reale Pflegebedarf in einer Ein-
richtung so besser abgebildet . Das ist ein Fortschritt, der
mir ganz wichtig ist .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Drittens. Wir machen mit dem Ansatz „Reha vor Pfle-
ge“ ernst . Das beginnt, wenn ich das so offen sagen darf,
im Kopf . In unserem Kopf gilt „ambulant vor stationär“,

weil wir die Vorstellung haben, dass wir möglichst lange
in den eigenen vier Wänden leben möchten .

„Reha vor Pflege“ ist nicht in vergleichbarer Weise
bereits in den Köpfen verankert. Viel zu häufig denken
wir: Rehabilitation, das ist doch das Wiederfitmachen für
den Beruf, für den Gang am morgigen Tag in den Betrieb,
ins Büro oder wohin auch immer . – Nein, auch nach der
Verrentung, auch bei beginnender Pflegebedürftigkeit
kann Rehabilitation Selbstständigkeit und Lebensquali-
tät sichern .

Wenn aus über 1 Million Begutachtungen der Pflege-
bedürftigkeit in diesem Land aufgrund der im Jahr 2012
eingeführten Verpflichtung, zu prüfen, ob Rehabedarf
gegeben ist, gerade einmal 5 000 Rehaempfehlungen re-
sultieren, dann zeigt dies, dass wir da noch gewaltig Luft
nach oben haben, dass der Grundsatz „Reha vor Pflege“
noch nicht in unseren Köpfen verankert ist .

Eines der Ergebnisse der Erprobung des neuen Begut-
achtungsverfahrens war, dass es geeignet ist, genau die-
sen Mehrbedarf an Rehabilitation abzubilden und dann
den Menschen auch solche Maßnahmen zugutekommen
zu lassen. „Reha vor Pflege“ ist ein weiterer wichtiger
Schritt unserer Pflegereform.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wenn Pflege individueller wird, dann wird Beratung
wichtiger. Deswegen ist ein Element unserer Pflege-
reform, dass wir die Beratung qualifizieren und einen
entsprechenden Auftrag erteilen, festzulegen, welcher
Qualität die Beratung entsprechen muss . Nach meiner
Vorstellung sollte diese qualifizierte Beratung wo auch
immer vom Pflegebedürftigen gewünscht, also auch in
seinem eigenen Wohnumfeld, angeboten werden . Wir
führen auch einen Beratungsanspruch der Angehörigen
ein; dieser gilt selbstverständlich nur, wenn der Pflege-
bedürftige einverstanden ist . Auch damit unterstützen
wir die Angehörigen und die Situation in der häuslichen
Pflege.

Doch nicht nur das ist in der Reform, die wir heute auf
den Weg bringen, ein wichtiger Punkt für die Angehöri-
gen. Wir verbessern auch die Leistungen der Pflegeversi-
cherung in der Rentenversicherung . Von derzeit 900 Mil-
lionen Euro im Jahr steigern wir die Mittel um ungefähr
400 Millionen Euro im Jahr erheblich, um damit die
Anerkennung von Pflege durch Angehörige in der Ren-
te zu verbessern . Es kann doch nicht sein, dass jemand,
der für die Pflege eines Angehörigen beruflich kürzer tritt
und dadurch Einkommenseinbußen hinnimmt, im Alter
selbst über ein Minus in der Rente und dann vielleicht
auch Auswirkungen im Fall eigener Pflegebedürftigkeit
gleichsam doppelt büßt . Deswegen ist es richtig, die ren-
tenrechtliche Absicherung der Pflegearbeit von Angehö-
rigen jetzt zu verbessern .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein Weiteres ist mir wichtig . Wir stellen einiges um .
2,7 Millionen Menschen erhalten zurzeit Leistungen aus
der Pflegeversicherung. Wichtig ist: Wer heute Leistun-
gen bekommt, bekommt in keinem Fall zukünftig weni-
ger . Es gibt im Rahmen der Überleitung einen umfassen-
den Bestandsschutz . Das ist wichtig . Viele werden durch

Bundesminister Hermann Gröhe






(A) (C)



(B) (D)


die automatische Überleitung, durch die demenzielle
Erkrankungen höher eingestuft werden, besser gestellt
werden . Niemand wird schlechter gestellt werden . Die-
sen Bestandsschutz werden wir über die nächsten Jahre
durch ungefähr 4,4 Milliarden Euro aus dem Ausgleichs-
fonds abfedern und bezahlen können . Das ist nicht – das
ist mir angesichts mancher missverständlichen Bericht-
erstattung wichtig – der Vorsorgefonds, sondern sozusa-
gen die Ausgleichsreserve . Das ist möglich . Das sichert
Bestandsschutz . Das ist eine gute und wichtige Nachricht
für die heute Pflegebedürftigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gute Pflege gibt es nur dank engagierter Pflegekräfte
in diesem Land . Wir gehen mit dieser Reform einen wei-
teren Schritt, diesen Pflegekräften bessere Arbeitsbedin-
gungen zu bieten. Im Pflegestärkungsgesetz I zu Beginn
des Jahres haben wir die Tarifbezahlung der Pflegekräfte
rechtlich abgesichert


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


und 20 000 zusätzliche Betreuungskräfte vorgesehen, um
Entlastung bei der Arbeit zu schaffen . Ich danke Karl-
Josef Laumann, dem Pflegebevollmächtigten, dafür, in
welchem Umfang er die Entbürokratisierung bei der Pfle-
gedokumentation vorantreibt .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Über 30 Prozent der Einrichtungen machen da bereits
mit. Der Wunsch der Pflegerinnen und Pfleger, möglichst
viel Zeit für die Pflegebedürftigen und nur, wenn es un-
bedingt nötig ist, Zeit fürs Papier aufzubringen, wird da-
durch unterstützt . Herzlichen Dank, Karl-Josef Laumann .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gemeinsam mit Manuela Schwesig und in engen Ge-
sprächen mit den Ländern treiben wir die Modernisie-
rung der Pflegeausbildung voran, die in ein Pflegeberufs-
gesetz münden soll . Dies alles und auch die Erinnerung
an die Vertragspartner auf Länderebene, ihre Zusagen,
den Personalschlüssel zu überarbeiten, wenn dies in den
letzten Jahren noch nicht geschehen ist, und dies auch
in Zukunft durch ein Bemessungsverfahren, das wir auf
Bundesebene erproben und erarbeiten wollen, zu unter-
stützen, tragen dazu bei, dass Menschen, die in der Pflege
arbeiten, die diesen Beruf heute wählen – es gibt einen
Rekord bei der Zahl der Auszubildenden –, auch merken,
dass sie eine gute Berufswahl getroffen haben . Dies treibt
uns bei den nächsten Schritten an . Heute machen wir ei-
nen großen Schritt nach vorne für die Pflegebedürftigen,
für ihre Angehörigen und für die Pflegekräfte in unserem
Land .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812500200

Das Wort erhält nun die Kollegin Pia Zimmermann für

die Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812500300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der neue

Pflegebedürftigkeitsbegriff soll nun Wirklichkeit wer-
den . Ja, durch die Reform des Begutachtungsverfahrens
werden nun endlich auch Menschen mit einbezogen,
die bisher keinen oder nur unzureichenden Anspruch
auf Pflegeleistungen hatten. Das betrifft in besonderem
Maße – Herr Gröhe, Sie haben es genannt – Menschen
mit demenziellen Erkrankungen . Dass sich damit der
Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich erweitert, ist
sehr zu begrüßen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was auch wichtig ist: Dieser längst überfällige Schritt
ist dem jahrelangen gesellschaftlichen Druck auf die ver-
schiedenen Regierungen zu verdanken . Sie geben diesem
Druck nun nach, aber nur so weit, dass es nicht wehtut
und nicht so viel kostet . Meine Damen und Herren, an-
statt die Pflegeversicherung endlich auf eine solide finan-
zielle Basis zu stellen, setzen Sie von Union und SPD auf
Ihre altbewährte Strategie der Konzeptlosigkeit und ver-
gessen die Pflegerealität, nämlich dass pflegende Ange-
hörige am Limit sind, nicht nur körperlich, sondern auch
finanziell; denn Pflege in Deutschland macht arm. Das
hat nicht zuletzt die Antwort auf unsere Kleine Anfrage
an die Bundesregierung bestätigt .

Das Personal in der Pflege leistet sehr gute Arbeit, und
das, obwohl die Personalsituation im Grenzbereich ist;
denn die Personaldecke in der Pflege ist viel zu dünn.
Gut ausgebildete Fachkräfte verlassen ihren Beruf schon
nach wenigen Jahren, weil der Dauerstress nicht länger
zu ertragen ist, die Löhne nicht ansatzweise eine ange-
messene Anerkennung der täglichen Leistung spiegeln
und auch, weil sie ein anderes Verständnis von ihrem Be-
ruf haben . Die zunehmende Auslagerung von Tätigkei-
ten an Betreuungskräfte ist für die Arbeitgeber billiger .
Die Pflege wird somit aber aufgespalten. Für viele Pfle-
gekräfte führt das zu Frust . Sie haben ein ganzheitliches
Verständnis von Pflege.


(Mechthild Rawert [SPD]: Wir auch!)


Nicht zuletzt die Teilleistungsversicherung in der
Pflege bleibt ungerecht. Menschen mit Pflegebedarf kön-
nen nicht selbstbestimmt entscheiden – Ihr Gesetz än-
dert daran gar nichts, Herr Gröhe –, wo und von wem
sie gepflegt werden wollen; das können Menschen mit
Pflegebedarf heute, aber auch nach Ihrem Gesetz nicht
entscheiden . Ganz im Gegenteil: Ihr Gesetz zwingt die
Menschen in den unteren Pflegegraden gerade dazu, von
Angehörigen gepflegt zu werden, und das, ohne dass Sie
die Rahmenbedingungen dafür verbessern . Ganz im Ge-
genteil: In den unteren Pflegegraden werden mal eben –

Bundesminister Hermann Gröhe






(A) (C)



(B) (D)


hopplahopp – mehrere 100 Euro gestrichen . Sie können
sich darauf verlassen: Das ist mit uns nicht zu machen .


(Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Wir werden Thüringen sehr genau beobachten!)


Ihre Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes reicht ein-
fach nicht aus. Was die Menschen, die auf Pflege ange-
wiesen sind, und diejenigen, die pflegen, brauchen, ist
ein neuer Pflegebegriff, der auch mit Leben erfüllt wird
und nicht als leere Luftblase daherkommt .


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, es geht nicht nur darum,
ab wann und in welchem Grad ein Mensch auf Pflege
und Unterstützung angewiesen ist, sondern auch darum,
wie diese Pflege und Unterstützung gestaltet und geleis-
tet wird . Es reicht nicht, das Begutachtungsverfahren zu
verbessern, wenn die Leistungen dahinter nicht qualitativ
weiterentwickelt und auf die Bedürfnisse der Menschen
mit Pflegebedarf und die ihrer Angehörigen ausgerichtet
werden .


(Dr . Roy Kühne [CDU/CSU]: Das machen wir doch mit dem Gesetz! Das können Sie doch auch mal sagen!)


Meine Fraktion ist der Auffassung, dass ein neues Ver-
ständnis von Pflege auch zu einem veränderten Pflege-
prozess führen muss .


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Mechthild Rawert [SPD]: Genau! Deswegen haben wir so viel gearbeitet in der Vergangenheit!)


Das heißt, Mechthild Rawert, teilhabesichernde Pflege
braucht Zeit und qualifiziertes Personal. Es muss ebenso
das Ziel sein, die Menschen dabei zu unterstützen, den
Alltag weitestgehend alleine zu meistern . Daher fordern
wir gemeinsam mit Gewerkschaften und Sozialverbän-
den schon lange eine verbindliche Personalbemessung .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung hat diesem Druck jetzt nach-
gegeben und will bis 2020 ein Personalbemessungsin-
strument entwickeln . Aber das ist nur ein ganz kleiner
Schritt – zwar in die richtige Richtung, aber nur ein klei-
ner Schritt –; denn das Personal wird jetzt gebraucht .
Kurzfristige Maßnahmen fehlen in Ihrem Gesetz völlig .
Stattdessen parken Sie Geld, das jetzt so dringend benö-
tigt wird, in einem Pflegefonds. Ihr Gesetz führt zu einer
weiteren Arbeitsverdichtung für die Pflegekräfte und ge-
fährdet die Pflegequalität noch weiter.


(Heike Baehrens [SPD]: Ganz falsch!)


Ich wiederhole mich gerne, meine Damen und Herren:
Gute Pflege ist ein Menschenrecht.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Zugang zu einer qualitativ hochwertigen und umfas-
senden pflegerischen Versorgung darf nicht Kostenkal-

külen untergeordnet werden . Es liegt in der gesellschaft-
lichen Verantwortung, Bedingungen zu schaffen, damit
dieses Menschenrecht auch verwirklicht wird .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke versteht unter gesellschaftlicher Verantwor-
tung Solidarität .

Ich komme zum Schluss . – Um grundsätzlich ein neu-
es Pflegeverständnis und eine bedarfsdeckende pflegeri-
sche Versorgung nachhaltig zu sichern, ist ein System-
wechsel in der Finanzierung erforderlich . Eine solche
solidarische Pflegeversicherung schafft den notwendigen
finanziellen Spielraum für eine gute Pflege und für gute
Arbeitsbedingungen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812500400

Karl Lauterbach von der SPD-Fraktion ist der nächste

Redner .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1812500500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich möchte mich zunächst einmal bei Minis-
ter Gröhe und auch bei den Mitgliedern der Fraktionen
ganz herzlich dafür bedanken, dass wir gestern bei der
Lösung der Probleme im Bereich der Gesundheit für die
Asylsuchenden aus meiner Sicht einen sehr tragfähigen
und weitreichenden Kompromiss finden konnten, der
sich sehen lassen kann . Die Gesundheitsversorgung von
Flüchtlingen wird dadurch deutlich und auch nachhaltig
verbessert . Das wäre ohne die Zusammenarbeit, die, wie
wir gesehen haben, ohne politisches Geschrei und sehr
konstruktiv erfolgte, nicht möglich gewesen . Daher vie-
len Dank an alle, die daran mitgewirkt haben .

Die Reform der Pflegeversicherung, die wir jetzt be-
schlossen haben, führt zur größten prozentualen Aufsto-
ckung der Mittel einer Sozialversicherung, die wir in
Deutschland jemals gesehen haben . Sie werden um fast
25 Prozent aufgestockt . Diese Mittel sind gut eingesetzt .

Ich will die Grundzüge nur noch einmal in Umrissen
erklären, sodass die Gesamtstruktur dieser Pflegereform
gewürdigt werden kann:

Die körperliche Pflegebedürftigkeit wurde bei der Pfle-
geversicherung bisher einigermaßen gut berücksichtigt,
die demenzielle Pflegebedürftigkeit wurde nur wenig be-
rücksichtigt, und die Pflegebedürftigkeit bei psychischen
Erkrankungen wurde so gut wie gar nicht berücksichtigt .
Das war eine systematische Diskriminierung insbesonde-
re derjenigen, die an psychischen Erkrankungen oder an
Demenz gelitten haben . Diese Diskriminierung beenden
wir nun, indem wir die Pflegebedürftigkeit in allen drei
Bereichen in vergleichbarer Art und Weise anerkennen,
die Mittel aufstocken und allen eine qualitativ gleich gute
Pflege ermöglichen.


(Beifall bei der SPD)


Pia Zimmermann






(A) (C)



(B) (D)


Ein zweiter sehr wichtiger Grundzug dieser Reform
besteht darin, dass wir dazu übergehen, nicht mehr zu
messen, was bei jemandem pro Tag gemacht werden
muss – das war im Wesentlichen der Reparaturansatz in
der Pflege –, sondern zu schauen, was ein Mensch noch
kann, und dass wir das, was er noch kann, stärken . Das
ist ein ganzheitlicher Teilhabeansatz, den wir auch in an-
deren Bereichen verfolgen .

Dazu passt, dass wir versuchen, denjenigen zu rehabi-
litieren, bei dem das noch möglich ist . Wir stärken das,
was jemand noch kann, und reparieren nicht das, was er
nicht mehr kann . Dieser Ansatz, dieses Umdenken, ist
der wichtigste Grundsatz bei der Neudefinition der Pfle-
gestufen und der Pflegebedürftigkeit. Das ist eine ganz
andere Herangehensweise als bisher . Dadurch werden
die Pflegebedürftigen die Hilfe bekommen, die sie benö-
tigen, ohne dass es zu einer Reparaturpflege kommt, und
auch die in der Pflege Tätigen werden dadurch motiviert,
weil sie das tun können, was sie am liebsten tun, nämlich,
jemandem zu helfen, das, was er noch kann, zu erhalten
oder weiter aufzubauen .

Das ist die wichtigste Umstellung, aber keine techni-
sche Umstellung, sondern dahinter steht eine ganz andere
Pflegephilosophie. Es war höchste Zeit, dass wir hier um-
stellen; das ist schon angesprochen worden . Ich glaube,
dies ist sehr gut gelungen . Darauf können wir stolz sein .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein weiterer sehr wichtiger Ansatz dieser Reform der
Pflegeversicherung, der sich durch alle Bereiche zieht, ist
die Vermeidung von stationärer Pflegebedürftigkeit. Ich
will nur zwei Beispiele nennen:

Das Wohnumfeld der Menschen, die unter den ersten
Pflegegrad fallen, wird deutlich verbessert. Das kommt
etwa 500 000 Menschen zugute, die bisher nicht als
pflegebedürftig galten. Dadurch helfen wir diesen Men-
schen, weiterhin zu Hause leben zu können . Durch die
Anpassung des Wohnumfeldes werden viele dieser Men-
schen niemals eine stationäre Pflege in Anspruch nehmen
müssen . Das ist ein sehr wichtiger Schritt in Richtung
Pflegebedürftigkeitsvorbeugung. Damit stärken wir die-
jenigen, die zu Hause leben wollen und das noch können .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


In die gleiche Richtung – Vorbeugung statt Heilung –
geht der Versuch, diejenigen, die diese Leistung erbrin-
gen können – die Familienangehörigen –, dafür auch ein
Stück weit besser abzusichern . Die bessere Anerkennung
der Rentenansprüche für diejenigen, die zu Hause jeman-
den pflegen, ist – in Kombination mit der Stärkung der
häuslichen Pflege, auch mit den erhöhten Mitteln, die
wir für die häusliche Pflege zur Verfügung stellen – ein
ganz wichtiger Schritt, damit diese Menschen nicht bei
der Rente benachteiligt werden . Wir wollen dafür sor-
gen, dass es Familien leichter haben, ihre Angehörigen
zu Hause zu versorgen, sodass die Pflege zu Hause eine
noch stärkere Rolle spielen wird und die höheren Pfle-
gegrade in der stationären Versorgung nicht notwendig
werden .

Die Reform leistet auch einen wichtigen Beitrag zur
sozialen Gerechtigkeit . Es war bisher ungerecht, dass die
sozial Schwächeren durch den Anstieg der Eigenanteile
bei höheren Pflegestufen diese aus finanziellen Grün-
den oft gemieden haben . Wir haben eine systematische
Unterversorgung der ärmeren Menschen, weil diese zur
Schonung ihrer Angehörigen oder ihrer Ressourcen nicht
in die höheren Pflegestufen übergegangen sind, obwohl
es oft medizinisch notwendig gewesen wäre .

Die wichtige Beseitigung dieser Ungerechtigkeit wür-
de ich nicht unterschätzen . Es ist richtig, dass wir die Ei-
genanteile für alle Pflegestufen einheitlich gestalten. Nur
so wird es möglich sein, dass auch die sozial schwäche-
ren Menschen die Pflege bekommen, die sie benötigen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich komme zum Schluss . Wir stärken die Lebensqua-
lität . Wir dehnen die Betreuungsleistungen aus, sodass
auch einmal gespielt werden kann, dass man mit den
Pflegebedürftigen nach draußen gehen kann, sodass nicht
nur das Medizinische im Vordergrund steht, sondern
Pflegebedürftige auch das erleben, was am Leben noch
schön ist . Da sind die Betreuungsleistungen, die man
nicht gegen die eigentliche Fachpflege ausspielen darf,
eine wichtige Ergänzung . Die gesamte Reform ist paritä-
tisch finanziert worden. Das ist für mich auch für zukünf-
tige Reformen in der Krankenversicherung vorbildlich .


(Beifall bei der SPD)


Die Reform ist ein wichtiger Baustein, eine aus meiner
Sicht gelungene ganzheitliche Reform, die die Pflege-
landschaft in Deutschland nachhaltig beeinflussen wird.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812500600

Das Wort erhält nun die Kollegin Elisabeth

Scharfenberg, Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Mi-
nister Gröhe! Herr Laumann! Sehr geehrte Damen und
Herren! Ich könnte Sie hier auch mit „Sehr geehrte Pfle-
gebedürftige von morgen und übermorgen“ begrüßen .


(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht so pessimistisch!)


Sie bringen heute den Entwurf eines Gesetzes, des
PSG II, ein . Offensichtlich sind Ihnen ja blumige Namen
wie „Pflegeneuausrichtungsgesetz“ und „Pflegeweiter-
entwicklungsgesetz“ ausgegangen . Wir fangen jetzt an,
durchzunummerieren . Das PSG I hatten wir ja schon .
Wir werden sehen, wo wir am Ende dieser Legislatur
landen . Ich befürchte, das wird jetzt eine unendliche Ge-
schichte werden .

Nach vielen Jahren soll nun endlich mit dem PSG II
der Pflegebegriff umgesetzt werden. Dieser Pflegebe-
griff – ich habe das immer betont – ist das Herzstück al-
ler Pflegereformen der letzten Jahre. 500 000 Menschen
mehr sollen in die Pflegeversicherung mit einbezogen

Dr. Karl Lauterbach






(A) (C)



(B) (D)


werden, und die Beiträge werden um insgesamt ein Vier-
tel ansteigen . Das sind 6 Milliarden Euro zusätzliche Bei-
träge der Versicherten jährlich . Dies ist eine der größten
Veränderungen in der Pflegeversicherung seit ihrem Be-
stehen .


(Mechthild Rawert [SPD]: Und das ist gut so!)


Demenzkranke sollen erstmals gleichberechtigt in die
Pflegeversicherung einbezogen werden. Und Leistungen
für Pflegebedürftige werden danach bemessen, wie stark
die Selbstständigkeit eingeschränkt ist . Das heißt, es wird
nicht mehr gefragt: Was kann wer nicht mehr? Vielmehr
wird die Frage gestellt: Was kann wer noch? Und da geht
es, ehrlich gesagt, richtig um was .

Wir nehmen uns gerade einmal etwas mehr als eine
Stunde Zeit, um dieses Gesetz einzuführen und zu be-
raten . Wir werden auch bei der Anhörung am nächsten
Mittwoch nicht viel Zeit haben . Und die kritischen Stim-
men der Expertinnen und Experten werden Sie – wie bei
so vielen anderen Themen – einfach überhören . Noch
im November wird dann das PSG II hier verabschiedet .
Das ist, ehrlich gesagt, ein Husarenritt nicht in Hochge-
schwindigkeit, sondern in Höchstgeschwindigkeit,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und das bei einem Gesetz, das wichtig ist für so viele
Menschen in unserem Land: für die Pflegebedürftigen,
für die Angehörigen und insbesondere auch für die Pfle-
gekräfte .

Das ganze Vorgehen wundert mich nicht einmal . Sie
betonen gerne und häufig die Wichtigkeit der Pflege. Um
diese Wichtigkeit zu beweisen, jagen Sie ein Pflegege-
setz nach dem anderen durchs Parlament:


(Mechthild Rawert [SPD]: Auch das ist gut so!)


das Pflegestärkungsgesetz I, das Gesetz zur besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, aktuell das
PSG II mit dem neuen Pflegebegriff, demnächst dann die
unsägliche Reform der Pflegeausbildung.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Kollegin, was sollen wir denn? Sollen wir handeln, oder sollen wir gar nichts machen?)


Dazu kommt das Krankenhausstrukturgesetz . Auch hier
ist ein zentraler Punkt der Pflegepersonalmangel in den
Krankenhäusern . Dann kommt noch das Hospiz- und
Palliativgesetz. Davon sind Pflegeeinrichtungen und
Pflegekräfte wesentlich betroffen. Aber es bleibt keine
Zeit für eine öffentliche Auseinandersetzung .


(Mechthild Rawert [SPD]: So ein Quatsch!)


Ehrlich: Sie selbst kommen bei diesem Tempo nicht
mehr mit . Unterm Strich: Sie weigern sich, die wirklich
wichtigen Fragen zu beantworten . Ich habe das Gefühl,
Sie schaffen lieber erst einmal Tatsachen . Aber Quantität
bedeutet eben nicht automatisch Qualität, und gut ge-
meint bedeutet eben noch lange nicht gut gemacht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein neuer Pflegebegriff, eine Pflege, die den Menschen
mehr Selbstständigkeit und Teilhabe am Leben ermög-
lichen soll, 500 000 Menschen mehr, die Leistungen aus
der Pflegeversicherung erhalten sollen: Das kostet Geld.
Dazu braucht es natürlich mehr gut qualifiziertes Perso-
nal . Woher soll das denn bitte kommen?


(Mechthild Rawert [SPD]: Durch eine generalistische Ausbildung! – Gegenruf des Abg . Tino Sorge [CDU/CSU]: Naja, warten wir mal ab!)


– Dazu komme ich gleich . – Sie haben den Beitrag zur
Pflegeversicherung erhöht. Aber Sie selbst geben ja zu,
dass diese Finanzierung eben mal bis 2022 steht . Nur bis
2022! Ehrlich: Das ist alles andere als nachhaltig!

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, lieber Herr Minis-
ter, eine Reform, die so viele Menschen betrifft, braucht
ein wirklich starkes Fundament .


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das hat sie!)


Aber davon fehlt mir hier jede Spur .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Einzige, was Ihnen zur Finanzierung einfällt, ist
der Pflegevorsorgefonds; ein Fonds, der jährlich rund
1,2 Milliarden Euro an Beitragsgeldern einfach schluckt;


(Maria Michalk [CDU/CSU]: „Anlegen“ heißt das, nicht schlucken!)


Beitragsgelder, die wir aktuell woanders viel dringender
bräuchten, Beitragsgelder, die aktuell dringend für die
Pflege verwendet werden müssten.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Das ist ein Element der Vorsorge, Frau Kollegin! Das wissen Sie doch auch!)


– Hören Sie auf die Expertinnen und Experten! Diese ha-
ben Ihnen bestätigt, dass das kein Element der Vorsorge
ist, sondern nur absolute Showpolitik .


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Man kann sich immer die Experten raussuchen, die man will! Es gibt auch andere Experten, die genau das Gegenteil sagen!)


Dieser Fonds wird dazu führen, dass der Beitrag in der
Zukunft um gerade einmal 0,1 Prozentpunkte sinken
wird . Ehrlich: Das ist keine spürbare Entlastung .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nach 20 Jahren wird dieser Fonds leer sein . Es wird aber
nicht plötzlich mehr Beitragszahlerinnen und Beitrags-
zahler geben; das ist doch eine absolute Milchmädchen-
rechnung . Der Beitrag wird dann einfach wieder sprung-
haft steigen müssen .

Wir haben einen besseren Vorschlag . Wir predigen
schon lange Zeit die grüne Pflegebürgerversicherung.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Oh nein!)


Sie würde uns finanzielle Spielräume eröffnen, zum Bei-
spiel mehr Geld für Pflegekräfte; denn natürlich brau-
chen wir mehr Personal . Es muss uns doch allen klar

Elisabeth Scharfenberg






(A) (C)



(B) (D)


sein: Wir brauchen mehr Personal, wenn mehr ältere und
pflegebedürftige Menschen in unserer Gesellschaft le-
ben . Wir werden auch mehr Personal brauchen, wenn das
PSG II so umgesetzt werden soll, wie es uns der Kollege
Lauterbach gerade so blumig dargestellt hat .

Wo soll denn dieses zusätzliche Personal herkommen?
Die Pflegekräfte arbeiten jetzt schon am Limit; das wis-
sen wir doch alle . Wenn das PSG II 2017 in Kraft treten
wird, dann werden die Pflegekräfte noch mehr gefordert
werden; denn die Pflege wird sich ändern, ändern müs-
sen, wenn wir den Pflegebegriff ernst nehmen. Die Ant-
wort auf dieses Problem? Tja, leider Fehlanzeige!

Sie wollen bis 2020 ein Personalbemessungsinstru-
ment entwickeln . Ehrlich: Das ist viel zu spät .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Pia Zimmermann [DIE LINKE])


Wenn dieses Instrument entwickelt ist, dann ist es auch
noch nicht flächendeckend umgesetzt. Ich möchte noch
einmal erinnern: Ihre Finanzierung steht bis 2022 . Wenn
Sie 2020 anfangen, zu überlegen, wie Sie ein Personalbe-
messungsinstrument umsetzen, dann ist die Kasse schon
lange wieder am Limit .

Wir brauchen mehr Menschen, die in der Pflege arbei-
ten und das auch wollen . Nur so können wir auch Per-
sonalbemessungsvorgaben umsetzen und erfüllen . Diese
Menschen kommen aber nur, wenn sich die Arbeitsbe-
dingungen in der Pflege wesentlich verbessern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die generalistische Pflegeausbildung, die Sie planen,
wird das Gegenteil erreichen . Drei Ausbildungen sollen
zu einem Beruf zusammengelegt werden, und das bei
der gleichen Ausbildungsdauer: drei Berufsausbildungen
eingedampft auf drei Jahre .


(Mechthild Rawert [SPD]: Modernisiert! In anderer Form!)


Es springt einen doch an: Da wird Fachwissen verloren
gehen . Das wertet einen Beruf nicht auf; das wertet einen
Beruf ab .


(Heike Baehrens [SPD]: Unsinn! Das ist doch einfach Unsinn!)


Und: Sie ignorieren die massiven Probleme bei der
Umsetzung . Es scheint Sie überhaupt nicht zu interessie-
ren . Doch es gibt diese Probleme . Es gibt einen Mangel
an generalistisch qualifizierten Lehrkräften.


(Mechthild Rawert [SPD]: Wir wollen doch in Richtung Qualität! Es wird zu wenig Praxisstellen, es wird zu wenig Praxisanleitungen geben . Die Kosten werden steigen . Die Finanzierung ist ungeklärt . Diese Probleme existieren . Sie blenden sie aus . Wir bekommen keine Antworten, und das ist, ehrlich gesagt, ein ganz unlauteres Vorgehen . Diese Probleme werden aber dazu führen, dass die Zahl der Ausbildungsplätze in der Pflege nicht steigen, sondern zurückgehen wird . Das wird verheerende Auswirkungen auf die gesamte Pflegelandschaft haben. Der neue Pflegebegriff wird nicht umzusetzen sein. Sie versprechen auch mehr Unterstützung für pflegende Angehörige: ein bisschen mehr Absicherung in der Arbeitslosenversicherung, ein bisschen mehr Rente – für manche . Viele wird das gar nicht erreichen . Das wird bei weitem nicht reichen . Wir brauchen endlich Angebote für pflegende Angehörige, die wirklich entlasten . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Grüne Wählerinnen und Wähler gibt es in der Pflege auf jeden Fall nicht!)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Gesetze, die Sie bisher dazu gemacht haben, belasten
die Angehörigen, beispielsweise das Gesetz zur besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf. Mit dem
Darlehen bleiben alle Lasten bei den Angehörigen hän-
gen .

Sie tun nichts, was Strukturfragen angeht, und sie tun
nichts für eine nachhaltige Finanzierung . Alles wird in
die Zukunft verschoben . Das sind ungedeckte Schecks,
und das bei einem PSG II, in das so viele Menschen be-
rechtigte Hoffnung setzen .

Ich fordere Sie auf: Denken Sie die Probleme in der
Pflege endlich zusammen! Lösen Sie die wichtigen
Probleme! Kümmern Sie sich um eine zukunftsfeste
Finanzierung! Sorgen Sie für ein besseres Ansehen des
Pflegeberufs, und tun Sie endlich etwas für bessere Ar-
beitsbedingungen in der Pflege!


(Hilde Mattheis [SPD]: Mit so einer Kritik bestimmt nicht!)


Am Mittwoch haben Tausende Pflegekräfte am Bran-
denburger Tor genau dafür demonstriert .


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das stimmt ja so nicht!)


Das sollte Sie endlich wachrütteln . Sehen Sie doch ein-
mal die Realität!

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812500700

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege

Georg Nüßlein das Wort .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1812500800

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Frau

Kollegin Scharfenberg, ich war wirklich auf Ihre Rede
gespannt . Ich war gespannt, weil ich noch im Ohr hatte,
was Sie uns die ganze Legislatur über alles erzählt haben:
Es komme alles zu spät – das haben Sie heute wieder-

Elisabeth Scharfenberg






(A) (C)



(B) (D)


holt –, und es gehe alles nicht schnell genug . „Ankündi-
gungspolitik“ war eines Ihrer Worte .


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es scheint angekommen zu sein!)


Wir würden Menschen ruhigstellen und ständig an
kleinsten Schräubchen drehen .

Und heute reden Sie von einem Husarenritt . Sie müs-
sen sich schon entscheiden, was Sie denn an der Stelle
wollen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich will eine verantwortungsvolle Politik!)


Ich hätte erwartet, dass Sie sagen:


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Danke, Koalition!)


Wir haben es nicht geglaubt . Wir waren skeptisch . Aber
Sie haben es gut gemacht . Wir haben es Ihnen einfach
nicht zugetraut . – Es hätte Ihrer Rolle als Opposition an-
gestanden, zu sagen: Wir haben es Ihnen nicht zugetraut;
aber Sie haben jetzt diesen zusätzlichen Schritt, diesen
großartigen, großen Schritt gemacht, und wir haben in
unserer Kleinkrämerei einfach nicht geglaubt, dass das
so kommen wird .

Stattdessen kritisieren Sie an Kleinigkeiten herum .
Beim letzten Mal haben Sie uns noch dafür gescholten,
dass wir die Dinge wohlüberlegt angehen . Darum ist es
doch gegangen . Es geht doch an der Stelle um ein hoch-
sensibles Thema, meine Damen und Herren . Es geht um
Menschen in einer schwierigen, wenn nicht sogar in ihrer
schwierigsten Lebensphase . Es geht um Angehörige, die
mit einer Situation, die für sie neu und auch problema-
tisch ist, konfrontiert sind . Und es geht in der Tat – da ha-
ben Sie recht – auch um das Personal und um diejenigen,
die Großartiges – auch professionell – leisten . Das muss
ich auch sagen .

Wenn Sie eine anständige Rede gehalten hätten, dann
hätten Sie gesagt: Jawohl, diese Reform – Stufe I wie
Stufe II – tut für alle etwas. Sie hat die zu Pflegenden im
Blick, um die es geht . Sie hat die Angehörigen im Blick,
die viel leisten, und sie tut auch im Personalbereich et-
was . – Stattdessen kritisieren Sie daran herum . Schauen
Sie sich doch Ihren Antrag an! Sie sagen doch, das sei
alles zu wenig . 25 Prozent mehr an Rentenbeiträgen und
6 Milliarden Euro: Was soll man denn sonst noch tun?


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie mal die demonstrierenden Pflegekräfte, was Sie sonst noch tun können!)


Das war aus meiner Sicht der Gipfel .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie mal in den Pflegeheimen!)


Wenn Sie dann auch noch kritisieren, dass wir nur eine
Beitragsperspektive bis zum Jahr 2022 – das sind sieben

Jahre, und das in heutiger Zeit – vorsehen, und sagen, das
sei noch zu wenig, dann glaubt Ihnen das doch niemand .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Beitragsperspektive von sieben Jahren gibt uns Zeit,
etwas zu tun; das ist richtig . Man darf nicht vergessen,
dass wir an einem Gesetz operieren, das 20 Jahre Bestand
hatte . Wenn dies der Maßstab für alles wäre, was wir hier
machen, dann wäre schon etwas gewonnen . Ich möchte
an dieser Stelle einen Gruß an Norbert Blüm senden . Ich
weiß nicht, ob er zuhört, aber es war eine großartige Leis-
tung, damals eine solche Reform auf die Beine zu stellen,


(Beifall bei der CDU/CSU)


die 20 Jahre Bestand gehabt hat und damals einen Pa-
radigmenwechsel darstellte . Wir haben Menschen, die
pflegebedürftig wurden – das ist eine ganz schwierige Si-
tuation –, vor der Schmach bewahrt, in die Sozialhilfe zu
fallen . Das ist das Großartige dieses Ansatzes gewesen .
Wir entwickeln dieses großartige Gesetz nun in einem
riesigen Schritt fort .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen Sie doch im Ernst nicht den Pflegekräften erzählen!)


Kollege Lauterbach hat fachlich präzise beschrieben,
worum es geht, nämlich um die Demenzkranken, aber
nicht nur um die . Auch die psychisch Kranken werden
einbezogen . Meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, Sie sagen: Überfällig . – Ja, das stimmt . Aber war-
um kritisieren Sie dann das als Husarenritt? Entweder ist
dieser Schritt überfällig, oder es handelt sich um einen
Husarenritt . Wir machen das auf jeden Fall wohlüberlegt
und zielgerichtet . Die Weiterentwicklung erfolgt in zwei
Stufen. Die Pflegestufe I hat pflegebedürftigen Personen,
auch Demenzkranken und Menschen mit eingeschränk-
ter Alltagskompetenz sowie deren Angehörigen deutliche
Verbesserungen, mehr Flexibilität und mehr Leistungen
gebracht . Wenigstens das hätten Sie anerkennen können .
Das ist nämlich Fakt; das haben wir schon in der ersten
Stufe geleistet . Wir geben Geld für mehr Betreuung und
damit für mehr Personal aus . Das müssen Sie anerken-
nen .

Das, was wir hier tun, kostet Geld und ist mit Beitrags-
erhöhungen in erheblichem Ausmaß verbunden . Aber es
sind die unumstrittensten Beitragserhöhungen im Sozial-
versicherungsbereich, die wir jemals hatten .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der allergrößte Teil der Bevölkerung sagt: Das, was ihr
macht, hat Sinn und ist zielführend und gut . Wir sind
bereit, dafür Geld auszugeben . – Das sagen Arbeitgeber
und Arbeitnehmer gemeinsam . Ich bin überzeugt, dass
Ähnliches auch für die Stufe II gilt .

Normalerweise wissen Parlamentarier sofort – egal
ob ein Gesetzentwurf aus einem CDU/CSU-geführten
oder aus einem SPD-geführten Haus kommt –, was man
grundsätzlich ganz anders machen müsste . Die Minister
kennen das Struck’sche Gesetz – Herr Gröhe kann ein
Lied davon singen –: Kein Gesetz verlässt den Bundestag

Dr. Georg Nüßlein






(A) (C)



(B) (D)


so, wie es hineingekommen ist . – Ich habe ein Problem
mit diesem Gesetz; denn mir fällt auf Anhieb nichts ein,
was man an dem vorliegenden Gesetzentwurf groß än-
dern müsste .


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warten Sie mal die Erhöhung ab!)


Es handelt sich um eine ganz, ganz gute Vorlage . Ich
möchte mich herzlich bedanken beim Minister, beim Pfle-
gebeauftragten, Herrn Laumann, und bei Frau Kraushaar .
Eine ganz, ganz tolle Vorlage! Vielen herzlichen Dank!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In der Tat verhält es sich so, wie die Vorredner gesagt
haben: Das Herzstück ist ein neuer Pflegebedürftigkeits-
begriff . Das Hauptanliegen muss natürlich sein, gerade
die Demenzkranken von Anfang an richtig und sinnvoll
zu versorgen . Das erwartet man von uns, und das muss
auch in die Zukunft gerichtet so sein; denn das Risiko,
an Demenz zu erkranken, steigt mit zunehmender Le-
benserwartung, die Gott sei Dank ebenfalls steigt . Das
ist sicherlich ein Wohlstandsthema . Mittelfristig werden
jedenfalls zusätzlich 500 000 Menschen Leistungen aus
der Pflegeversicherung beziehen. Das kann man unter
Kostengesichtspunkten sehen . Aber ich sehe das haupt-
sächlich unter dem Gesichtspunkt der medizinisch-pfle-
gerischen Versorgung . Auch deshalb müsste man dieses
Gesetz loben . Dass die Opposition das nicht kann,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das schadet aber nichts!)


mag an der Rolle liegen, die ihr der Wähler zugewie-
sen hat . Das kann man bedauern . Wenn Sie aber in Ihrer
Kritik ein bisschen differenzierter gewesen wären, Frau
Scharfenberg, dann wäre das glaubhafter gewesen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Hilde Mattheis [SPD]: Das kann man wohl sagen!)


Da wir das mit einer Übergangsphase machen, muss
niemand Sorge haben, dass er heruntergestuft wird und
dass die Angehörigen stärker belastet werden . Das zeigt,
wie wohlüberlegt wir das Ganze gemacht haben . Ich
möchte auch unterstreichen, dass wir durchaus sehen,
dass viele pflegende Angehörige an die Grenze ihrer Be-
lastbarkeit gehen. Diesen Punkt, die Hilfe für die Pflege
zu Hause, haben wir schon Anfang dieses Jahres mit ins-
gesamt 1,4 Milliarden Euro verstärkt .

Ich möchte das wiederholen, was Herr Lauterbach hier
gesagt hat: Wir haben das Ganze so austariert, dass die
Chance, gar nicht in eine Pflegeeinrichtung zu müssen,
gewachsen ist . Wir haben es so gemacht, dass mehr Men-
schen die Option haben, viel länger zu Hause zu bleiben .
Es ist doch ein Anliegen derjenigen, die langsam in die
Pflegebedürftigkeit rutschen, möglichst lang zu Hause zu
bleiben und eben nicht in eine Einrichtung zu kommen .

Aber natürlich gibt es dann irgendwann einmal den
Punkt, an dem das unvermeidlich ist . Daher haben wir
die Beratung der Angehörigen gestärkt . Wir werden das
Thema Pflege-TÜV aufgreifen. In diesem Zusammen-
hang werden wir auch das Thema Bürokratieabbau im

Blick haben. Ich darf Ihnen sagen: Den Pflege-TÜV wer-
den wir neu aufstellen. Der heutige Pflege-TÜV ist in
spätestens zweieinhalb Jahren Geschichte . Das ist keine
Ankündigung, sondern etwas, worauf sie sich verlassen
können .

Meine Damen und Herren, wir werden die Bedingun-
gen für das Pflegepersonal weiter verbessern; auch das
ist wichtig . Da geht es um die Arbeitsbedingungen auf
der einen Seite und um die materiellen Bedingungen auf
der anderen Seite . Niemand arbeitet für lau . Letztendlich
arbeitet jeder, um seinen Lebensunterhalt zu sichern . Das
muss man im Blick haben, wenn man über die Frage
redet: Wie bekommt man mehr Pflegekräfte? Natürlich
werden wir uns in diesem Zusammenhang in der nächs-
ten Zeit auch über die Frage der Pflegeausbildung unter-
halten . Dabei muss abgewogen werden, was die genera-
listische Pflegeausbildung am Schluss bringt und was sie
verändern wird .

Vielen herzlichen Dank fürs Zuhören .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812500900

Ich erteile dem Kollegen Harald Weinberg das Wort

für die Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812501000

Vielen Dank . – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Nüßlein, welche Rolle wir als Opposition
einnehmen, das müssen Sie uns schon selber überlassen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr . Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das hat der Wähler so entschieden! Gott sei Dank!)


Das ist das erste Wesentliche, was ich Ihnen sagen möch-
te .

Dann möchte ich allerdings schon noch einmal beto-
nen: Ich kann mich noch recht gut an die letzte Wahl-
periode erinnern . Da haben wir irgendwie einen extrem
langen Herbst gehabt . Der damalige Gesundheitsminis-
ter Bahr hat uns immer wieder angekündigt: Es gibt im
Herbst einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Dieser
Herbst war extrem lang: Er ging bis in den November, bis
in den Dezember, bis in den Januar hinein, und es kam
und kam und kam nichts . Insofern ist es natürlich schon
so, dass man dieser Regierung Anerkennung dafür zollen
kann, dass sie etwas vorlegt, und zwar schnell .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hilde Mattheis [SPD]: Vielen Dank! – Mechthild Rawert [SPD]: Bravo! – Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg . Dr . Georg Nüßlein [CDU/CSU])


Ich denke, man kann auch anerkennen, dass das Pfle-
gestärkungsgesetz I und das Pflegestärkungsgesetz II
vom Finanzvolumen her sicher die größte Reform der

Dr. Georg Nüßlein






(A) (C)



(B) (D)


Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen sind. Außerdem
gilt es erst einmal, einiges weitere durchaus Positive an
diesem Pflegestärkungsgesetz anzuerkennen.


(Dr . Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Dann machen Sie es doch! Die Anerkennung wollen wir hören, jetzt! – Mechthild Rawert [SPD]: Aber? Aber?)


Aber – jetzt kommt natürlich das Aber – dennoch reicht
das Geld aus den Beitragssatzanhebungen um 0,5 Pro-
zentpunkte nicht aus, um die grundsätzliche Unterfinan-
zierung und die grundsätzlichen Probleme der Pflege zu
lösen . Dass diese Beitragssatzerhöhung unumstritten sei,
darin gebe ich Ihnen durchaus recht . Aber umstritten an
dieser Beitragssatzerhöhung ist durchaus, dass 0,2 Pro-
zentpunkte, das heißt 40 Prozent von 0,5 Prozentpunk-
ten, in einen sogenannten Spahn-Fonds fließen sollen.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Spar-Fonds!)


– „Spahn-Fonds“ . Ja, ich nenne es „Spahn-Fonds“, weil
Herr Spahn mit Sicherheit seine Finger darin gehabt hat,
als es darum ging, dass es diesen Fonds in der Form gibt .


(Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Das ist jetzt eine nachträgliche Veredelung!)


Das, was in diesen Fonds hineinkommt, steht der Pfle-
ge und der Pflegeversorgung natürlich nicht zur Verfü-
gung. Was wir in der Pflege brauchen, das sind natürlich
vor allen Dingen Personal, Personal, Personal, gute Ar-
beit für die Beschäftigten, gute Pflege für die Pflegebe-
dürftigen, eine bessere Bezahlung, eine Wertschätzung
der Arbeit . Wir müssen weg von der Teilkaskoversiche-
rung mit Verarmungsgarantie für die Betroffenen, hin
zu einer Pflegeversicherung, die notwendige Leistungen
voll übernimmt .


(Beifall bei der LINKEN)


Das alles geht nur mit einer Reform der Einnahmesei-
te . Damit sind wir beim Thema . Nur, ich würde es nicht
„grüne Bürgerversicherung“ nennen, sondern „solidari-
sche Bürgerinnen- und Bürgerversicherung“ .


(Beifall bei der LINKEN – Dr . Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Da seid ihr euch einig!)


Damit sind wir bei der solidarischen Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung in der Pflege. Ich meine, das wäre
ein gutes Einstiegsprojekt; denn wir haben in der Pflege
die Situation, dass die Leistungen in der privaten Versi-
cherung und in der gesetzlichen Versicherung identisch
sind . Wir können hier tatsächlich sozusagen ein Ein-
stiegsprojekt mit einer Systematik machen und könnten
dabei womöglich auch die Rücklage von 25 Milliarden
Euro, die es bei der privaten Pflegeversicherung gibt, in
die Versorgung und in die zukünftige Versorgung ein-
bringen .


(Beifall bei der LINKEN)


Theoretisch hätten wir sogar eine Mehrheit dafür in
diesem Haus. Praktisch befindet sich die SPD hier in ba-
bylonischer Gefangenschaft . Dennoch wollen wir diese
Alternative zumindest mit diskutieren und haben daher
unseren Antrag zu einer solidarischen Bürgerinnen- und

Bürgerversicherung in der Pflege eingebracht. Ich freue
mich auf die Beratungen . Ich glaube, es gibt schon noch
einigen Änderungsbedarf bei dem hier vorgelegten Ge-
setzentwurf .

Danke .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812501100

Nun erhält die Kollegin Hilde Mattheis das Wort für

die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1812501200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

freue mich und meine Fraktion freut sich, weil wir nach
vielen Jahren Überzeugungsarbeit heute wirklich ein
Herzstück einer Pflegereform auf den Weg bringen – ein
Herzstück!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, wir können für uns in Anspruch nehmen, dass
wir das, was wir in der Opposition immer vertreten ha-
ben, jetzt in der Regierung umsetzen .


(Beifall bei der SPD – Axel Schäfer chum)


Das ist ein wichtiger Schritt; denn uns allen ist klar: Wir
brauchen in der Pflege große Anstrengungen, und diese
großen Anstrengungen gehen dahin, nicht nur mehr Geld
in die Pflege zu geben, sondern auch strukturelle Verbes-
serungen zu erreichen .


(Beifall bei der SPD)


Diese strukturellen Verbesserungen hängen fest und
eng mit dem Pflegebedürftigkeitsbegriff zusammen.
Wenn wir es nicht geschafft hätten, weg von der Mangel-
erhebung und hin zu einem Teilhabeaspekt zu kommen,
hätten wir noch so viele Leistungsverbesserungen auf
den Weg bringen können – wir hätten es nicht erreicht,
individuell zu helfen .

Deshalb ist es so wichtig, dass wir dieses Herzstück
nicht nur diskutieren, sondern auch auf den Weg brin-
gen . Sie und Sie von der Opposition haben vor weni-
gen Jahren – da bitte ich Sie, einfach einmal Ihre Reden
nachzulesen – mit uns genau diese Forderung erhoben .
Ich fand es damals gut und richtig, dass wir eine breite
Übereinstimmung hatten . Deshalb appelliere ich an Sie:
Begleiten Sie uns durchaus kritisch-konstruktiv! Auch
wir werden im parlamentarischen Verfahren an der ei-
nen oder anderen Stelle sicherlich nicht nur Nachfragen
haben, sondern auch Schwerpunkte anders setzen . Denn
unser gemeinsames Streben muss es sein, dass wir in die-
ser Großen Koalition das hinkriegen, was wir den Men-
schen versprochen haben, nämlich auch in der letzten
Lebensphase Lebensqualität zu erhalten .


(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Maria Michalk [CDU/CSU] – Abg . Pia Zimmermann Harald Weinberg [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)





(A) (C)


(B) (D)


Das geht damit, dass man auf der einen Seite mehr
Geld in dieses Sozialversicherungssystem hineinholt .
Mehr Solidarität wäre auch uns als SPD noch lieber . Da-
ran werden wir arbeiten; denn die solidarische Absiche-
rung dieser wichtigen Sozialversicherungssäule ist unser
Ziel . Aber wir können nicht alles auf einmal erreichen;
das ist richtig .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812501300

Frau Mattheis, darf die Kollegin Zimmermann eine

Frage stellen?


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1812501400

Bitte, Frau Zimmermann; gern .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812501500

Bitte schön .


Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812501600

Vielen Dank, Frau Mattheis, dass Sie die Zwischenfrage
zulassen . – Zu meiner Frage . Sie sagen, dass es darum
geht, was wir den Menschen versprochen haben, und
dass wir nachlesen sollen, was in unseren Reden stand .
Im Wahlprogramm der SPD zur letzten Bundestagswahl
stand die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung . Da fra-
ge ich mich: Wie gehen Sie denn jetzt damit um, vor allen
Dingen auch vor dem Hintergrund, dass die private Pfle-
geversicherung – mein Kollege, Herr Weinberg, hat es
erwähnt – 2014 eine Rücklage von 25 Milliarden Euro –
jetzt wahrscheinlich noch mehr – hatte? Um das einmal
anhand von Versorgungszeiten deutlich zu machen: Es ist
so, dass die private Pflegeversicherung mit dieser Rück-
lage 32 Jahre lang ihre Pflegeleistungen erbringen kann,
während die sogenannte soziale Pflegeversicherung das
mit ihrer Rücklage nur ein Vierteljahr lang kann . Wie
wollen Sie das denn politisch bewältigen, um da zu ei-
nem Gleichgewicht zu kommen und das, was auch Sie
selbst fordern, nämlich die solidarische Bürgerinnen-
und Bürgerversicherung, umsetzen zu können?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1812501700

Frau Zimmermann, wir kennen die Zahlen . Ich habe

gerade gesagt, dass das unser Ziel ist und bleibt: Wir wol-
len mehr Solidarität in diesem System . Wir wollen eine
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, die diesen Namen
auch verdient . Ich glaube auch, dass Sozialversicherungs-
systeme nie abgeschlossen sind, Frau Scharfenberg . Man
muss immer daran arbeiten, dass das System besser wird .
Und wir erreichen jetzt mit diesem wichtigen Schritt,
dass es besser wird .

Das, was wir in die Koalitionsverhandlungen einge-
bracht haben, was wir Wort für Wort mit unserem Ko-
alitionspartner fest vereinbart haben, können wir jetzt
umsetzen – mit der Reform, mit dem Pflegestärkungs-
gesetz II .


(Beifall bei der SPD)


Worum geht es dabei? Es geht im Kern darum, die Be-
ratung auszudehnen . Wir haben mit dem PSG I wichtige
Leistungsverbesserungen verabschiedet, die jetzt passge-
nau eingefügt werden müssen . Das bedeutet: Wir müssen
genau schauen, ob eine niedrigschwellige Beratung –
das wird einer unserer Schwerpunkte sein – mit diesem
Grundstein tatsächlich verwirklicht werden kann . Dabei
geht es darum, die Kommunen sehr viel mehr zu stärken,
damit diese die Infrastruktur planen können, um niedrig-
schwellige Pflegeangebote auszubauen. Das ist für uns
ein wichtiger Punkt .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Pflege-AG ist doch gescheitert! Das ist doch alles nur Gerede!)


Ein weiterer wichtiger Punkt ist, mehr Gerechtigkeit
in dieses System zu bringen . Deshalb müssen wir hin-
terfragen, ob mit dem gedeckelten Betrag für Zusatzleis-
tungen, mit Eigenanteilen unser Ziel tatsächlich erreicht
wird, ob das wirklich mehr Gerechtigkeit im System
schafft . Diese Fragen werden wir erörtern müssen . Und
dabei setze ich schon auf eine breite Unterstützung . Ich
glaube, davon brauche ich Sie auch gar nicht zu über-
zeugen; denn das haben wir alle hier so diskutiert . Das
Anliegen, dass Menschen in ihrer letzten Lebensphase
die größtmögliche Solidarität von uns, von der Solidar-
gemeinschaft, erfahren sollen, tragen wir gemeinsam .
Dieses Anliegen wollen wir mit dem Pflegestärkungsge-
setz I und dem Pflegestärkungsgesetz II verwirklichen.

Wir werden hier aber ebenfalls noch zu besprechen
haben, was die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeits-
gruppe bedeuten .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Und wir werden noch das Pflegeberufegesetz zu bespre-
chen haben . Das sind die wichtigen Bausteine . In die-
sem Kontext sollten wir alle miteinander diskutieren, wie
wichtig es ist, dass wir die Reform des Pflegebedürftig-
keitsbegriffs jetzt gemeinsam auf den Weg bringen . Da-
bei setze ich auf Ihre Unterstützung .

Ich glaube, auch in der Opposition muss man an man-
chen Stellen einmal sagen: Ja, die Zielsetzung stimmt,
auch wenn nicht alles in Reinkultur umgesetzt werden
kann. – Aber die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs
betrifft unsere Ansprüche in Reinkultur, die wir immer
gemeinsam formuliert haben . Ich meine, man sollte auch
in der Opposition manchmal über den eigenen Schatten
springen und dem zustimmen, was da an Grundsteinen
gelegt wird . Um diese Zustimmung bitte ich Sie; denn
wir brauchen an dieser Stelle eine breite gesellschaftliche
Debatte und eine breite gesellschaftliche Unterstützung .

Natürlich gibt es bei der Umsetzung einige Hürden
zu überwinden – Stichworte „Übergangsregelungen“
und „Begutachtung“ . Wir müssen schauen, ob das neue
Begutachtungssystem funktioniert . Aber stellen Sie sich
einmal vor, was passieren würde, wenn wir das in dieser
Phase der Pflegereform nicht hinbekommen würden!


(Mechthild Rawert [SPD]: Das wäre eine Katastrophe!)


Hilde Mattheis






(A) (C)



(B) (D)


Wir hätten viel versprochen, aber nichts für die Men-
schen gewonnen .

In diesem Sinne: Ich würde mich über eine breite Un-
terstützung und durchaus auch über eine kritische Beglei-
tung während der parlamentarischen Beratungen freuen .
Aber wir sollten uns klarmachen, dass wir den Kern
dieser Reform nicht aus dem Auge verlieren dürfen, den
neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff.

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812501800

Nun spricht der Kollege Erwin Rüddel für CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1812501900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Frau Scharfenberg, ich weiß, es ist Ihre Rol-
le, unsere gute Arbeit zu kritisieren . Und da diese Arbeit
immer besser wird, fällt es Ihnen natürlich auch immer
schwerer, diese Arbeit zu kritisieren .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber es war auch einmal Ihre Rolle, Pflegepolitik zu be-
treiben . Als die Grünen hier im Hause regiert haben, hat
es nicht einen einzigen Ansatz gegeben, die entsprechen-
den Strukturen zu verändern .


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für ein kalter Kaffee, Herr Rüddel!)


Da waren die Grünen ein Totalausfall . Ich denke, Sie
sollten sich in Ihrer Kritik etwas mäßigen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erzählen Sie in hundert Jahren immer noch!)


Was die Bürgerversicherung angeht, kann ich nur sa-
gen: Wir haben das beste Gesundheitssystem weltweit .
Überall dort, wo es eine Bürgerversicherung gibt, ist das
Gesundheitssystem schlechter .


(Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Das ist nicht wahr!)


Warum sollen wir auf ein schlechtes System hinarbeiten?
Wir wollen unser gutes System noch besser machen .


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Waren Sie am Mittwoch am Brandenburger Tor?)


Das Zweite Pflegestärkungsgesetz, über das wir heute
diskutieren, ist ein weiterer Baustein bei der Runderneu-
erung der Pflegeversicherung. Ich bin froh, dass in dieser
Legislaturperiode so viel Aufmerksamkeit auf die Pflege
gerichtet ist wie noch nie . Wir lösen mit diesem Gesetz
ein zentrales Versprechen aus unserem Koalitionsvertrag
ein: Wir verwirklichen den Pflegebedürftigkeitsbegriff.
Wir stellen Menschen mit kognitiven Einschränkungen
und Menschen mit somatischen Einschränkungen erst-

mals gleich und schließen eine große Gerechtigkeitslü-
cke . Wir mobilisieren insgesamt zusätzlich 5 Milliarden
Euro jährlich für eine bessere Versorgung pflegebedürfti-
ger Mitbürgerinnen und Mitbürger .

Alle Menschen mit demenziellen Erkrankungen wer-
den davon profitieren und wesentlich besser gestellt als
bisher . Eine halbe Million Menschen erhalten zusätzlich
Leistungen aus der Pflegeversicherung. In Zukunft wird
es passgenaue Einstufungen geben. Die Minutenpfle-
ge wird entfallen . Es wird einen Bestandsschutz geben .
Niemand, der heute schon pflegebedürftig ist, muss sich
Sorgen machen, künftig schlechter eingestuft zu werden .


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht! Unglaublich!)


Ausdrücklich begrüße ich in diesem Gesetzentwurf auch
die neu hinzukommenden, verbesserten Leistungen in
der gesetzlichen Rentenversicherung und in der Arbeits-
losenversicherung für pflegende Angehörige. Damit wird
die Pflege eines Angehörigen nun auch in den sozialen
Sicherungssystemen endlich angemessen anerkannt .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812502000

Herr Rüddel, darf die Kollegin Scharfenberg Ihnen

eine Zwischenfrage stellen?


Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1812502100

Sie darf .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812502200

Bitte .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie die
Zwischenfrage erlauben . – Ich habe eine ganz konkrete
Frage. Sie haben gesagt: Zukünftig wird die Minutenpfle-
ge entfallen . – Erklären Sie mir und den vielen Tausend
Pflegekräften hier im Land einmal, was das bedeutet.
Wie schaffen Sie die Minutenpflege ab, und was meinen
Sie genau damit?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1812502300

Sie wissen, dass heute bei der Begutachtung sehr ge-

nau auf die Anzahl der Minuten geachtet wird und dies
darüber entscheidet, in welche Pflegestufe man kommt.
Hier kommt es durch die Einführung des Pflegebedürf-
tigkeitsbegriffes zu einem Paradigmenwechsel . Es wird
nämlich danach gefragt, wie viel Hilfe man braucht, um
ein eigenständiges Leben führen zu können . Dabei spie-
len dann die Minuten keine Rolle mehr, sondern es wird
insgesamt betrachtet, wie viel Hilfe jemand braucht . Man
sieht nicht mehr auf die Minuten . Das bedeutet die Ab-
schaffung der Minutenpflege, so wie sie von uns ange-
dacht ist . Ich denke, das ist wertvoll für alle Menschen,

Hilde Mattheis






(A) (C)



(B) (D)


die vor einem Begutachtungsverfahren stehen und an-
schließend betreut werden .


(Beifall bei der CDU/CSU – Abg . Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Dann machen wir direkt mit der nächsten Frage weiter .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812502400

Nein . Ich weiß ja, dass die Großzügigkeit von Red-

nern beinahe unerschöpflich ist, beliebig viele Zwischen-
fragen zuzulassen . Ich lasse diese Frage jetzt nicht zu;
denn wir haben uns auf eine Gesamtdebattenzeit geei-
nigt, auf die ich ebenfalls achten muss . – Bitte schön,
Herr Rüddel .


Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1812502500

Wir klären das nachher .


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Ist ja auch keine Vorlesung heute Morgen!)


Zusammen mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz gibt
es die größte Leistungsverbesserung in der Pflegeversi-
cherung seit 20 Jahren . Schon seit dem 1 . Januar sind
Leistungsverbesserungen im Wert von 2,4 Milliarden
Euro wirksam . Die Mittel kommen dort an, wo sie ge-
braucht werden: bei Pflegebedürftigen, deren Famili-
enangehörigen und den Pflegekräften. Die Leistungen
dienen vor allem der besseren häuslichen Versorgung .
Ausgebaut wurden auch die Kurzzeit- und Verhinde-
rungspflege sowie die Tages- und Nachtpflege, und es
gibt zusätzliche Mittel für die Verbesserung des Wohn-
umfeldes .

Die beiden Pflegestärkungsgesetze bedeuten in der
Summe eine so massive Aufstockung in unserem Sozi-
alleistungssystem, wie es das noch nie gegeben hat . Das
kann man nicht oft genug betonen . Wir haben zu Beginn
der Legislaturperiode mehr Qualität, mehr Geld, mehr
Betreuung und mehr Hände für gute Pflege in unserem
Land versprochen, und wir haben Wort gehalten .

Meine Damen und Herren, das Gesamtbild wird aber
erst dadurch komplett, dass wir die bedeutenden Verbes-
serungen mit einer großen Anzahl weiterer Maßnahmen
flankiert haben. Wir senken den Schlüssel für die Betreu-
ungskräfte. Wir reduzieren überflüssige Bürokratie. Pfle-
ge muss am Bett ankommen. Wir reformieren den Pfle-
ge-TÜV grundlegend . Wir brauchen möglichst bald eine
Bewertungspraxis, die sich an der Ergebnisqualität, das
heißt an der Pflegequalität, in der jeweiligen Einrichtung
orientiert . Wir wollen ferner noch in dieser Wahlperiode
ein neues Pflegeberufegesetz verabschieden; denn wir
brauchen Anreize, um noch mehr Menschen als bisher
für die Pflege zu motivieren.

In diesem Kontext ist sicherlich positiv zu vermerken,
dass die Altenpflege in Deutschland im laufenden Jahr
mit über 29 000 Ausbildungsplätzen so viele angeboten
hat wie nie zuvor . Ich könnte mir sehr gut vorstellen,
dass wir bald auch vermehrt junge Flüchtlinge ausbilden
können, zumal die Altenpflege mit der Ausbildung von
Menschen aus Drittstaaten bereits positive Erfahrungen

gemacht hat . Dabei versteht sich von selbst, dass die Be-
herrschung der deutschen Sprache auch für den Umgang
mit alten und pflegebedürftigen Menschen eine Grund-
voraussetzung ist .

Unabhängig davon müssen sich die Arbeitsbedingun-
gen in der Pflege weiter verbessern; denn leider gilt nach
wie vor, dass gerade viele jüngere Menschen nicht dau-
erhaft im Beruf bleiben . Zuvörderst sind die Arbeitgeber
in der Pflicht, anständige Tariflöhne zu zahlen, um den
Pflegeberuf attraktiv zu machen. Die brauchen dann aber
auch die Rückendeckung bei den Kostenträgern .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, viele Senioren und pflege-
bedürftige Menschen haben Probleme mit der Einnahme
mehrerer Medikamente . Nicht immer sind die Therapien
optimal aufeinander abgestimmt. Häufig gibt es uner-
wünschte Wechselwirkungen . Mit dem E-Health-Gesetz
werden wir dafür sorgen, dass gerade ältere Patienten,
die mehrere Wirkstoffe einnehmen, einen verbrieften
Anspruch auf einen übersichtlichen Medikationsplan
erhalten . Das heißt, ein Arzt muss die Medikamente auf
Wechselwirkungen prüfen und die Therapien möglichst
optimal aufeinander abstimmen .

Um die medizinische Versorgung für die Heimbewoh-
ner in Deutschland zu verbessern, werden wir außerdem
im Palliativ- und Hospizgesetz die Voraussetzungen für
Verträge zwischen Heimträgern und Ärzten schaffen .
Bislang sind die Heimbewohner gerade von fachärzt-
licher Versorgung häufig ausgeschlossen. Auch ist es
immer schwierig, Ärzte zu motivieren, nachts und am
Wochenende in Einrichtungen zu gehen . Diese Versor-
gungslücke wollen wir schließen, indem wir die Ärzte für
eine Rufbereitschaft besonders vergüten . Das hilft, dass
Pflegebedürftige nicht unnötig in Krankenhäuser ein-
gewiesen werden müssen . Das hilft den Patienten, aber
auch den Pflegemitarbeitern.

Wir haben in dieser Debatte eine Gesamtschau des
Pflegestärkungsgesetzes gesehen. Ich komme zu dem
Schluss, dass wir in dieser Wahlperiode in diesem Be-
reich einen großen Wurf und eine Runderneuerung ge-
schaffen haben . Ich denke, wir können in diesem Haus
darauf stolz sein, dass wir in dieser Legislaturperiode so
viele positive Dinge für die Pflege, für die Pflegebedürf-
tigen, für die Familienangehörigen und für die Mitarbei-
ter in der Pflege auf den Weg gebracht haben.

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812502600

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist

die Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Markus Koob [CDU/CSU])



Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1812502700

Geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Liebe Zuhörende und Zuschauende! Wir haben

Erwin Rüddel






(A) (C)



(B) (D)


einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, und das ist eine
wirklich gute und frohe Botschaft .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Markus Koob [CDU/CSU]: Da haben Sie recht, Frau Kollegin!)


Ich freue mich, wenn ich jetzt den Bürgerinnen und Bür-
gern mitteilen kann: Wir machen in der Pflege einen Rie-
senschritt nach vorne. Wir vollziehen die größte Pflege-
reform seit der Einführung der Pflegeversicherung 1995.


(Beifall bei der CDU/CSU – Markus Koob [CDU/CSU]: Da haben Sie wieder recht!)


Denn die SPD hat über viele Jahre hart daran gearbei-
tet . Ich erinnere an den unermüdlichen Einsatz von Ulla
Schmidt . Ich erinnere an unsere unermüdliche Arbeit in
der Opposition, an unser tolles Wahlprogramm und an
den guten Koalitionsvertrag .


(Beifall bei der SPD)


Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wurde lange und gründ-
lich vorbereitet, und das ist auch gut so .

Trotz der vielen, teilweise auch noch sehr komplizier-
ten Worte im Pflegestärkungsgesetz – möglicherweise
zählt auch das Wort „Pflegebedürftigkeitsbegriff“ dazu –
sind sehr viele Menschen gut informiert und sehr inter-
essiert . Wir alle wissen: Wenn wir Veranstaltungen zum
Thema Pflege anbieten, kommen im Durchschnitt über
100 Menschen pro Versammlung . Das zeigt: Das ist ein
Thema, das die Gesellschaft bewegt, nicht nur die Äl-
teren, sondern die gesamten Familien, Familiensysteme
und auch viele jüngere Leute .

Wenn ich jetzt der Opposition zuhöre, die ja auch an
der Entwicklung und der gesamten Diskussion beteiligt
gewesen ist, denke ich mir: Die Opposition hat ein we-
nig Angst vor der eigenen Courage . Jetzt, kurz vor der
Umsetzung, zu sagen, es gäbe ausschließlich Schwierig-
keiten, die ganze Reform wäre – in Anführungszeichen –
Mist, trifft den Kern der Verbesserungen für die gesamte
Bevölkerung nicht .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir modernisieren die Pflege. Die Strukturverände-
rungen und die Leistungsverbesserungen kommen direkt
im Alltag der Pflegebedürftigen, direkt im Alltag der
stationären Einrichtungen, direkt im Alltag der Famili-
ensysteme an,


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie denn?)


und das ist auch gut so . Wir schaffen mehr Gerechtigkeit,
wir schaffen mehr Lebensqualität, und zwar durch die
jetzt besseren Zugänge nicht nur für körperlich Erkrank-
te, sondern auch für demenziell Erkrankte und psychisch
Erkrankte . Das ist ein ganz wesentliches Moment, um
sagen zu können: Jede Bürgerin und jeder Bürger ist uns
in der Pflege gleich viel wert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mir ist sehr wichtig – auch das hat der Minister he-
rausgestellt –: Wir stärken das Prinzip „Prävention vor

Rehabilitation vor Pflege“. Wir helfen damit, die Pfle-
gebedürftigkeit hinauszuzögern, manches Mal sogar zu
vermeiden, und das ist gut so .

Vorhin ist kritisiert worden, wir würden zu wenig in
die Gesellschaft hineingehen, die öffentliche Debatte
wäre nicht groß genug . Ich denke, das ist falsch .

Noch ein Punkt, der mich ein wenig geärgert hat . Wir
führen am 30 . September, nächste Woche Mittwoch, eine
fast dreistündige Anhörung durch .


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist: Was wird mit den Erkenntnissen getan?)


Bei dieser Anhörung werden alle gesellschaftlichen Ak-
teure miteinbezogen . Uns liegen jetzt schon Stellung-
nahmen vor, die teilweise 175 Seiten lang sind . Wer sich
also am Wochenende noch intensiv damit beschäftigen
möchte, ist herzlich eingeladen, dies zu tun . Die Anhö-
rung zeigt: Wir greifen aus Sicht der Parlamentarierinnen
und Parlamentarier noch bestehende Probleme auf .


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird sich zeigen!)


Das ist gut so; denn Sie wissen: Die parlamentarischen
Beratungen sind bedeutungsvoll, und das Bessere ist im-
mer der Feind des Guten .

Wir werden in der Anhörung über verschiedene The-
men diskutieren: über ausreichendes Personal in den
Pflegeeinrichtungen, über eine reibungslose Überleitung
in die neuen Pflegegrade und über gerechte Bezahlung.
Wir werden auch darüber diskutieren, dass wir bei der
Pflege nicht nur an Ältere, an Senioren und Seniorinnen,
denken dürfen . Vielmehr müssen wir gewährleisten, dass
es auch für Kinder und Jugendliche gute Pflege in ausrei-
chender Form gibt .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir werden über die Abgrenzung zwischen stationärer
Pflege und Unterbringung in Wohngruppen diskutieren;
denn hierzu haben sich viele Fragen ergeben . Wir werden
auch über die soziale Absicherung der pflegenden Ange-
hörigen diskutieren .

Seien Sie gewiss: Wir Sozialdemokratinnen und So-
zialdemokraten stehen in der Welt . Viele von Ihnen wis-
sen, dass mir das Thema Frauen -und Genderpolitik sehr
wichtig ist .


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Das ist mir neu! – Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Das hören wir zum ersten Mal!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812502800

Das werden wir jetzt mit der gebotenen Gründlichkeit

nicht mehr behandeln können .


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1812502900

Aber den Satz darf ich noch zu Ende führen? – Danke

schön .

Mechthild Rawert






(A) (C)



(B) (D)


Ich empfehle allen, die Stellungnahme des Deutschen
Frauenrates zu lesen. Denn eines ist klar: Pflege darf
nicht zum alleinigen Frauenthema werden .


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das ist es schon! Meine Güte!)


Das würde das Thema „Gleichstellung in der Gesell-
schaft“ zu Unrecht schmälern . Von daher: Auf eine ge-
rechte Gesellschaft, auf eine gleichgestellte Gesellschaft!

Danke für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812503000

Ich schließe die Aussprache .

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/5926 und 18/6066 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b
auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
serung der Unterbringung, Versorgung und
Betreuung ausländischer Kinder und Jugend-
licher

Drucksache 18/5921
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für. Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für. Arbeit und Soziales
Ausschuss für. Gesundheit
Ausschuss für. Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Beate Walter-Rosenheimer, Luise Amtsberg,
Dr . Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das Kindeswohl bei der Versorgung unbeglei-
teter minderjähriger Flüchtlinge absichern

Drucksache 18/5932
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für. Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für. Gesundheit
Ausschuss für. Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für. Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
diese Aussprache 60 Minuten dauern . – Das ist offenbar
einvernehmlich . Dann verfahren wir so .

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Manuela Schwesig .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Kein anderes Thema wie die
Situation der Flüchtlinge beschäftigt uns in den letzten
Wochen und Monaten so intensiv . 60 Millionen Men-
schen weltweit sind auf der Flucht, die Hälfte davon sind
Kinder und Jugendliche . Viele von ihnen machen sich
sogar alleine auf den Weg, sind vier Monate quer durch
die Welt auf der Flucht, ohne Angehörige, ohne Familie –
für uns fast unvorstellbar . Allein 200 000 Kinder und Ju-
gendliche in diesem Jahr sind als Flüchtlinge in unser
Land gekommen, davon viele unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge . In diesem Jahr waren es 22 000 . Wir schät-
zen, dass es im nächsten Jahr sogar 30 000 sein werden .

Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung gestern
gemeinsam mit den Ministerpräsidenten ein klares und
starkes Zeichen gesetzt hat . Wir lassen die Kommunen
und Länder bei der Bewältigung dieser großen Heraus-
forderung nicht im Stich . Der Bund übernimmt Verant-
wortung, insbesondere für Kinder, Jugendliche und ihre
Familien .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Bund wird die Länder in diesem Jahr um zusätz-
lich 1 Milliarde Euro entlasten, im nächsten Jahr um
2,7 Milliarden Euro . Wir werden uns an den laufenden
Kosten für die Flüchtlinge beteiligen . Aber – das ist ganz
wichtig –: Die von uns getroffenen Maßnahmen kommen
nicht nur Familien, die mit ihren Kindern geflüchtet sind,
zugute, sondern auch Familien, die bereits hier leben .
Dazu gehört die Entscheidung, die Mittel für den sozia-
len Wohnungsbau um 500 Millionen Euro aufzustocken .
Das hilft allen Familien, denen, die hier schon leben, und
denen, die zu uns kommen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben uns entschieden, dass freiwerdende Mittel
aus dem Betreuungsgeld nicht gegen andere Leistungen
gegengerechnet werden, auch nicht gegen andere Famili-
enleistungen . Wir haben uns entschieden, ein klares Zei-
chen für die Familien in unserem Land und die, die zu
uns kommen, zu setzen: Wir werden diese freiwerdenden
Mittel – 1 Milliarde Euro pro Jahr – Familien und Kin-
dern für eine bessere Kinderbetreuung zugutekommen
lassen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen die Hilfen vor Ort, das Ehrenamt, mit
10 000 zusätzlichen Stellen im Bundesfreiwilligendienst
unterstützen . Auch das ist ein wichtiges Zeichen .

Die besonders schutzbedürftige Gruppe der unbeglei-
teten minderjährigen Flüchtlinge wird von uns zukünftig
mit jährlich 350 Millionen Euro unterstützt .

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, dieses
Paket zeigt: Die Bundesregierung steht zu den Familien,
Kindern und Jugendlichen in unserem Land, egal ob hier

Mechthild Rawert






(A) (C)



(B) (D)


geboren oder zu uns gekommen . Es gibt nicht Kinder ers-
ter und zweiter Klasse . Sie sind uns alle etwas wert .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg . Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb lege ich Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur
Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Be-
treuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vor . Wir
haben in unserem Land etwas ganz Besonderes: Kinder
und Jugendliche erhalten durch die Kinder- und Jugend-
hilfe einen besonderen Schutz . Wir wollen sie eben nicht
behandeln wie kleine Erwachsene, weil Kinder besonde-
re Bedürfnisse haben . Sie haben ein Recht auf Bildung,
sie haben ein Recht auf Schutz, sie haben ein Recht auf
Versorgung, auf medizinische Betreuung .

Mit diesem Gesetz legen wir noch einmal fest, dass
alle Kinder, auch alle ausländischen Kinder, Zugang
zur Kinder- und Jugendhilfe haben . Ein Beispiel: Auch
Kinder, die zu uns kommen, können einen Kitaplatz in
Anspruch nehmen . Das ist wichtig, um früh die deutsche
Sprache zu lernen, um unter Kindern zu sein, um Freun-
de zu finden. Damit das funktioniert, damit wir genügend
Kitaplätze für die Flüchtlingskinder haben, aber auch
genügend Kitaplätze für die Kinder, die hier geboren
werden – wir haben mehr Geburten, was toll ist –, stellt
der Bund den Ländern zukünftig Geld zur Verfügung, so-
dass sie selbst entscheiden können, für welche Art der
Kinderbetreuung sie das Geld einsetzen wollen, ob für
individuelle Leistungen oder für institutionelle Leistun-
gen . Die 1 Milliarde Euro aus dem Betreuungsgeld ist
ein wichtiges Signal: Wir kürzen nicht zulasten der Fa-
milien, sondern wir investieren weiter in die Familien in
unserem Land .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, ich
habe es angesprochen: In der Gruppe der Kinder und Ju-
gendlichen gibt es eine kleine, aber sehr schutzbedürftige
Gruppe . Das sind Kinder und Jugendliche, die sich al-
leine auf den Weg machen, aus Afghanistan, aus Eritrea,
aus Syrien . Für mich ist das, offengestanden, unvorstell-
bar . Sie machen sich alleine auf diesen gefährlichen und
schwierigen Weg und suchen hier Schutz und Zuflucht.
Diese Kinder und Jugendlichen können nicht einfach in
die großen Erstaufnahmeeinrichtungen gesteckt werden .
Das Gesetz sagt jetzt, dass diese Kinder und Jugendli-
chen dort in Obhut genommen werden, wo sie ankom-
men, dass wir als Staat Verantwortung übernehmen, so
lange, bis sie wieder bei ihren Eltern sind oder Pflegeel-
tern haben, oder in einer Jugendhilfeeinrichtung leben .

Wir haben also ein gutes Gesetz für diese unbeglei-
teten minderjährigen Flüchtlinge . Aber es trägt in den
heutigen Zeiten nicht mehr; denn dieses Gesetz schreibt
vor, dass wir sie nur dort in einem Kinderheim oder einer
Jugendwohngruppe unterbringen dürfen, dass wir sie nur
dort mit Sozialarbeitern und Therapeuten begleiten dür-
fen, wo sie ankommen . Sie kommen aber nicht gleich-
mäßig in Deutschland verteilt an, sondern sie kommen in
den Ballungszentren an, in Passau, in Hamburg, in Mün-
chen, in Dortmund . Die Kapazitäten dort sind erschöpft .

Das ist nicht eine Frage des Geldes . Es geht darum, dass
man eben nicht auf einmal für 1 800 unbegleitete min-
derjährige Flüchtlinge Plätze in Jugendwohngruppen
in Dortmund hat, dass man für diese 1 800 Kinder und
Jugendlichen nicht genügend Sozialarbeiter und Thera-
peuten hat .

Ich selbst habe mit einem jungen Afghanen gespro-
chen, der vier Monate auf der Flucht war . Er ist in Ham-
burg gestrandet und schläft dort mit vielen Jugendlichen
in einer Turnhalle . Die Hamburger Sozialarbeiter stren-
gen sich sehr an, sagen aber auch: Wir schaffen das gar
nicht, so schnell so viele individuell zu betreuen . War-
um können wir nicht Angebote von Jugendwohngrup-
pen in Schleswig-Holstein oder in Rostock in Mecklen-
burg-Vorpommern nutzen? – Das bisherige Gesetz ist
sozusagen nicht auf die heutige Krise ausgelegt . So sagt
es auch die Dortmunder Jugenddezernentin . So sagen
es die Vertreter der Diakonie in München. Ich finde, wir
sollten auf diese Praktiker hören .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Deshalb wird mit diesem Gesetzentwurf vorge-
schlagen, dass wir zukünftig Kapazitäten in allen Bun-
desländern nutzen, sodass sich alle Bundesländer der
besonderen Verantwortung der Betreuung von unbeglei-
teten minderjährigen Flüchtlingen stellen . Es ändert sich
nichts daran, dass die Jugendlichen zunächst von dem
Jugendamt in der Kommune aufgenommen werden, in
der sie ankommen . Dieses Jugendamt schaut, ob es zum
Beispiel in Hamburg noch freie Plätze gibt . Wenn nicht,
dann schaut das Jugendamt, ob woanders Plätze frei sind .
Dann wird der Jugendliche dorthin begleitet, immer un-
ter dem Gesichtspunkt der Kindeswohlsicherung .

Eine Besonderheit dieses Gesetzentwurfs ist es, dass
wir in einer Zeit, in der alle über Standardabsenkung
sprechen und in der viele auch mich fragen, ob wir die-
se Standards eigentlich noch halten können, ein Signal
setzen und sagen: Wir heben das Mindestalter für die
Handlungsfähigkeit im Asylverfahren von 16 Jahren auf
18 Jahre an, wie es auch die UN-Kinderrechtskonvention
vorsieht . Auch das trägt zum Schutz bei . Deshalb kann
ich keine Kritik an diesem Gesetzentwurf verstehen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Diese besondere Begleitung, diese besondere Versor-
gung kostet Kraft und Energie . Deshalb möchte ich mich
an dieser Stelle ganz herzlich bei allen, die jetzt in den
Kommunen, insbesondere in den besonders belasteten
Kommunen, diese Arbeit verrichten, bedanken . Es ist
eine wirklich aufopferungsvolle Arbeit für Kinder und
Jugendliche, die diesen Schutz brauchen, es ist mehr als
Dienst nach Vorschrift . Danke für dieses Engagement .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir können aber nicht einfach denjenigen Danke sa-
gen und darauf verweisen, dass alles so bleibt, wie es ist,
sondern wir müssen neue Wege gehen . Wir haben diesen
Gesetzentwurf gemeinsam mit den Ländern sehr lange
vorbereitet . Ich bin froh, dass wir nicht erst jetzt, da alle
über Flüchtlinge reden, damit anfangen, sondern bereits
seit einem Jahr in intensiven Gesprächen sind .

Bundesministerin Manuela Schwesig






(A) (C)



(B) (D)


Natürlich kostet dieser besondere Schutz, kostet diese
besondere Begleitung mehr Geld . Deshalb hat sich der
Bund gestern entschieden, neben der regulären Unter-
stützung für Flüchtlinge ein Zeichen zu setzen und jähr-
lich 350 Millionen Euro zusätzlich für diese besonders
schutzwürdige Gruppe zur Verfügung zu stellen . Das ist
ein starkes Signal der Bundesregierung, dass uns diese
Kinder und Jugendlichen nicht egal sind, sondern dass
wir eine besondere Verantwortung übernehmen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, wir
sollten diesen Gesetzentwurf schnell verabschieden . Die
Ministerpräsidenten haben gestern darum gebeten, dass
das Gesetz möglichst zum 1 . November in Kraft tritt mit
einer Übergangsregelung bis zum 1 . Januar 2016, die die
aufnehmenden Länder brauchen . Viele sind vorbereitet .
Ich möchte mich bedanken für positive Stimmen der jetzt
aufnehmenden Länder .

Der Sozialdezernent von Greifswald in Mecklen-
burg-Vorpommern, einer strukturschwachen Region,
sagt: Wir sehen das nicht als Belastung an . Wir sehen die-
se jungen Menschen als einen Gewinn für unsere Region
an . Wenn wir immer beklagen, dass junge Leute wegge-
hen, dann sollten wir froh sein, dass junge Menschen zu
uns kommen .

Der Ministerpräsident Thüringens hat gesagt, er stehe
dazu, er werde Jugendliche aufnehmen . Es ist wichtig,
dass wir die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge
nicht nur als Kostenfaktor debattieren, sondern sagen:
Da kommen junge Menschen zu uns . Wenn wir es gut
machen, wenn sie die Chance auf einen Schulabschluss,
auf eine Berufsausbildung und auf eine gute Begleitung
haben, dann sind das junge Staatsbürger von morgen, auf
die wir setzen .

In diesem Sinne wünsche ich mir ein positives Signal,
das von diesem Gesetz ausgeht . Ich hoffe auf schnelle
und konstruktive Beratungen .

Gleichzeitig bitte ich um Verständnis, dass ich wäh-
rend der Debatte schon in den Bundesrat gehe, weil die-
ser Gesetzentwurf heute auch den Ländern vorgestellt
wird . Schließlich ist das auch ein wichtiges Gesetz für
die Länder .

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche
gute und konstruktive Beratungen, dass wir so schnell
wie möglich denen helfen können, die den Schutz am
meisten brauchen: den Kindern und Jugendlichen, die bei
uns Zuflucht suchen.

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812503100

Bestellen Sie, Frau Ministerin, dem Bundesrat herzli-

che Grüße des geschwisterlichen Verfassungsorgans .

Wir setzen in der Zwischenzeit unsere Beratungen
fort, zunächst mit dem Kollegen Norbert Müller für die
Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Norbert Müller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812503200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Gäste! Frau Bundesministerin
Schwesig, ich glaube, es geht völlig in Ordnung, dass
Sie in den Bundesrat fahren, um dort den Gesetzentwurf
einzubringen .

Meine Fraktion hat am 5 . März dieses Jahres einen gu-
ten Antrag vorgelegt, in dem wir ein kindeswohlgerechtes
Verfahren für die Verteilung unbegleiteter minderjähriger
Flüchtlinge aus überlasteten Einreiseknotenpunkten vor-
schlagen . In unserem Antrag fordern wir als Grundlage
einer freiwilligen Verteilung der unbegleiteten Minder-
jährigen eine Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe und
den Aufbau kompetenter Strukturen für ein umfassendes
Clearingverfahren . Dies wird von den Fachverbänden
auch ausdrücklich unterstützt . Einige Kolleginnen und
Kollegen waren ja gestern beim parlamentarischen Früh-
stück zum Thema Flüchtlingskinder .

Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis
eines offenbar nicht ganz einfachen politischen Aus-
handlungsprozesses . Getrieben von den betroffenen
Bundesländern standen Umverteilungsinteressen der
Länder einerseits gegen Grundsätze der Jugendhilfe und
der UN-Kinderrechtskonvention andererseits . In diesem
Spannungsfeld hat die Koalition untereinander und mit
den Ministerpräsidenten verhandelt . Am Ende haben die
Ministerpräsidenten der am stärksten betroffenen Länder
zusammen mit dem Bundesinnenministerium die Feder
geführt, auch weil innerhalb der Bundesregierung – das
bedaure ich sehr – nach wie vor ungeklärt zu sein scheint,
ob sie grundsätzlich eine flüchtlingsfreundliche oder eine
flüchtlingsablehnende Politik fährt.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das ist nicht ungeklärt!)


Die Handschrift des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend kann ich in diesem Gesetz-
entwurf nicht mehr sehen; er entspricht nicht den Ankün-
digungen, die Sie noch vor einem Dreivierteljahr getätigt
haben . Monatelang sind Sie nicht zu Potte gekommen .
Nun, nachdem ein meines Erachtens schlechter Entwurf
vorliegt, machen Sie Druck, dass dieses Gesetz noch frü-
her in Kraft treten soll und die Umverteilung noch früher
beginnen soll, nachdem es zwischenzeitlich hieß, dass
die Länder bis zum 1 . April 2016 Luft haben .

Ihre Handlungsunfähigkeit hat dazu geführt, dass sich
die betroffenen Kommunen und Länder derzeit selbst
helfen . Helfen ist hier ein Euphemismus . Um es ganz
klar zu sagen: Wenn in Brandenburg und in anderen Bun-
desländern in den letzten Wochen Hunderte unbegleite-
te minderjährige Flüchtlinge aus Bayern angekommen
sind, die man dort schlichtweg einfach in Züge und Bus-
se gesetzt hat, ohne sie in Obhut zu nehmen, ohne sie zu
registrieren, ohne die Kinder- und Jugendhilfe in Kraft
treten zu lassen, dann ist das schlichtweg ein rechtswidri-
ges Verfahren gewesen .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bayerische Staatsregierung hat die Verteilung der
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, weil ihr das
Gesetz offenbar zu lange gedauert hat, inzwischen in die

Bundesministerin Manuela Schwesig






(A) (C)



(B) (D)


eigenen Hände genommen . Das ist meines Erachtens il-
legal . Das hat mit Jugendhilfe nichts zu tun . Hier kann
man nicht mehr von einer Überforderung der Kinder-
und Jugendhilfe sprechen, sondern nur noch von einem
Totalversagen der politisch Verantwortlichen .


(Beifall der Abg . Kathrin Vogler [DIE LINKE])


An die Adresse der CSU: Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, wie hätten Sie eigentlich reagiert, wenn das nicht
Hunderte ausländische Kinder und Jugendliche gewesen
wären, die in München gestrandet sind, sondern wenn
das deutsche Kinder gewesen wären? Hätten Sie die
auch planlos in irgendwelche Züge und Busse zu ande-
ren Jugendämtern gesetzt, damit sie dort aufgenommen
werden, frei nach dem Motto: Ob Budapest oder Wien,
es hält sich gerade eh niemand mehr an die Gesetze und
das Recht, warum sollte es dann Bayern machen? Das ist
inakzeptabel . Das geht so nicht .


(Beifall bei der LINKEN – Sönke Rix [SPD]: Das ist ausgemachter Blödsinn, was Sie gerade gesagt haben!)


Vielleicht ist Ihnen aber das Kindeswohl – da kommen
Sie möglicherweise in Widerspruch zu Bundesministe-
rin Schwesig – im Falle der unbegleiteten minderjähri-
gen Flüchtlinge eben nicht ganz so wichtig, da es sich
nicht um deutsche Kinder handelt . Sie können sich jetzt
aufregen . Die grüne Landtagsfraktion im Bayerischen
Landtag – ich bin ihr dafür sehr dankbar – hat sich im
Zuge einer Kleinen Anfrage von der Bayerischen Staats-
regierung beantworten lassen, dass es sogar Ziel der
Bayerischen Staatsregierung ist, die Kinder- und Jugend-
hilfestandards für nichtdeutsche Kinder herabzusetzen .
Das ist übrigens genau das Gegenteil von dem, was Frau
Bundesministerin Schwesig gerade vorgestellt hat .

In einer so schwierigen Situation legen Sie nun Ihren
Gesetzentwurf vor. Dabei ist es doch so: Sie erfinden ein
total bürokratisches Umverteilungsverfahren nach dem
Königsteiner Schlüssel; das wird nicht funktionieren, das
prognostiziere ich Ihnen . Aber gehen wir einmal davon
aus, dass zumindest diese Umverteilung funktionieren
wird, dann können Sie das beste Interesse der Kinder –
das schreibt die UN-Kinderrechtskonvention vor – damit
nicht sichern .

Fakt ist doch: Die Kinder- und Jugendhilfe steht schon
jetzt in vielen Teilen des Landes vor dem Kollaps, und
zwar nicht, weil wir Flüchtlingskinder aufnehmen, weil
wir unbegleitete Minderjährige aufnehmen, sondern weil
es eine chronische Unterfinanzierung der sozialen Infra-
struktur über Jahre gegeben hat .


(Sönke Rix [SPD]: Außer in Brandenburg! Da regieren die Linken mit!)


Wenn jetzt ein paar dazu kommen, tun sich die Probleme
auf . Mit der starren Umverteilung der unbegleiteten min-
derjährigen Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel
verteilen Sie die Überforderung bundesweit . Wie sollen
denn unvorbereitete, unterfinanzierte und unerfahrene
Kommunen bzw . Jugendämter dem Kindeswohl von un-
begleiteten minderjährigen Flüchtlingen gerecht werden?

Ich will Ihnen einmal skizzieren, wie das Verteilungs-
verfahren im Gesetz beschrieben ist – das muss man
sich, glaube ich, ein Stück weit auf der Zunge zergehen
lassen –: Ein 15-jähriger afghanischer Flüchtling wird
in München von der Bundespolizei aufgegriffen, wird
registriert und dem Münchener Jugendamt vorgestellt .
Das Münchener Jugendamt hat dann sieben Tage Zeit,
um Meldung an das Land abzusetzen, um das Alter fest-
stellen zu lassen und zu schauen, ob es möglicherweise
Geschwisterkinder gibt, mit denen er zusammengeführt
werden soll . Sieben Tage! Das Landesjugendamt in Bay-
ern muss dann binnen drei Tagen nach dieser Meldung
dem Bundesverwaltungsamt Meldung machen, dass ein
15-jähriger afghanischer Flüchtling in München aufge-
griffen wurde und, weil Bayern davon schon so viele
hat, irgendwohin verteilt werden soll . Das Bundesver-
waltungsamt hat dann wiederum zwei Tage Zeit, um
eine Entscheidung zu treffen, wo dieser 15-jährige af-
ghanische Junge hin soll . Binnen zwei Tagen nach der
Entscheidung, die dann getroffen wurde, muss sich das
Landesjugendamt des aufnehmenden Bundeslandes ein
regionales Jugendamt aussuchen, wo der junge, 15-jähri-
ge Afghane hin soll . Dann sind bereits mindestens zwei
Wochen ins Land gegangen . Wenn gerade Sommerpause
ist, es zu Urlaubsvertretungen kommt oder Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter erkrankt oder schlichtweg nicht
verfügbar sind, weil überlastet, dann ist der Monat, den
das Gesetz für die Umverteilung vorschreibt – danach
darf sie nicht mehr erfolgen –, bereits abgelaufen . Das
heißt, sie erfolgt in der Praxis überhaupt nicht . Das Ge-
setz ist selbst nach Ihren eigenen Ansprüchen überhaupt
nicht praktikabel .

Nun hat der gestrige Flüchtlingsgipfel beschlos-
sen, 350 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen; das
haben Sie gerade ausgeführt . Ich habe das über Nacht
durchrechnen lassen: Für einige Bundesländer reicht das
für etwa 10 Prozent des Mehrbedarfs in der Kinder- und
Jugendhilfe aus . 10 Prozent des Mehrbedarfs! Andere
Bundesländer sagen: Wir kommen damit vielleicht zwei
Monate hin . – Zwei Monate! Nach Ihrem Konzept müs-
sen in Zukunft alle Kommunen und Jugendämter flücht-
lingskindgerechte Kapazitäten


(Sönke Rix [SPD]: Das ist heute auch schon so!)


im Allgemeinen Sozialen Dienst, Vormünder, Ergän-
zungspfleger, Schulen, Schulplätze, Jugendhilfeangebo-
te, Gesundheitsdienste, Übersetzer und Sprachlernkurse
vorhalten. Das soll ohne ausreichende finanzielle Mittel
geschehen, und das Ganze am besten aus dem Stegreif,
weil das Gesetz nämlich zum 1 . Januar 2016 in Kraft tritt .
Wie soll das leistbar sein?

Um es deutlich zu sagen: Nach Aussagen der Arbeits-
stelle Kinder- und Jugendhilfestatistik der Technischen
Universität Dortmund haben von den 402 Landkrei-
sen und kreisfreien Städten, die wir heute haben, ganze
60 Erfahrung mit unbegleiteten minderjährigen Flücht-
lingen . – In Sachsen-Anhalt wurden letztes Jahr ganze
22 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut . Ganze
22! – Die müssen jetzt relativ schnell, aus dem Stegreif,
deutlich mehr aufnehmen . Sie müssen auch die Struktu-
ren dafür vorhalten, Kollege Rix, und die entsprechenden

Norbert Müller (Potsdam)







(A) (C)



(B) (D)


Strukturen aufbauen . Sie wissen doch ganz genau: Das
Fachpersonal dafür gibt es überhaupt nicht . Die Schul-
plätze sind nicht zur Verfügung gestellt . Sie können mir
nicht erklären, dass das ein sinnvoller, guter Weg ist .

Das hat etwas damit zu tun, dass wir die soziale In-
frastruktur über Jahre unterfinanziert haben, sie am
Ende verknappt wurde und jetzt fehlt . Richtig wäre es,
eine Umverteilung auf bestehende Kompetenzzent-
ren durchzuführen . Zur Finanzierung muss neben einer
Aufstockung der 350 Millionen Euro aber auch ein Aus-
gleichsmechanismus zwischen Ländern und Kommunen
entwickelt werden, weil es natürlich völlig richtig ist,
Länder und Kommunen nicht aus der Verantwortung zu
lassen . Aber hier ist es sinnvoller, die Finanzen zu vertei-
len, als die Kinder durch die Gegend zu schicken .

Mit Ihrem Gesetz werden die bestehenden Kompe-
tenzzentren aber sogar noch geschwächt . Denn wenn
Zentren, die seit Jahren Erfahrung mit unbegleiteten min-
derjährigen Flüchtlingen haben und jetzt überlaufen –
auch hier muss Abhilfe geschaffen werden –, schlagartig
deutlich weniger haben, entstehen sogar freie Kapazitä-
ten, während anderswo aufnehmende Jugendämter gar
nicht wissen, wie sie fachgerecht und kindeswohlgerecht
mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu-
rechtkommen sollen .

Wir müssen flächendeckend große Strukturen aufbau-
en . Aber was passiert eigentlich, wenn die Fallzahlen in
zwei, drei, vier, fünf Jahren möglicherweise zurückge-
hen?


(Petra Crone [SPD]: Sollen wir es etwa lassen, oder wie? Meine Güte!)


Dann haben Sie flächendeckend in der Kinder- und Ju-
gendhilfe passgenaue Strukturen für unbegleitete minder-
jährige Flüchtlinge aufgebaut, die dann möglicherweise
so niemand mehr braucht . Das halten Ihnen übrigens
auch die Fachverbände immer wieder vor .

Hinzu kommt, dass sich fluchterfahrene Kinder nicht
nach Ihrer Quote richten werden .


(Marcus Weinberg Was ist denn jetzt Ihre Alternative? – Martin Patzelt [CDU/CSU]: Sie drehen die Dinge alle um!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812503300

Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit?


Norbert Müller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812503400

Ich komme zum Ende, Herr Präsident . – Schon heute

sind die Abgänge in die Illegalität, gezwungene Krimina-
lität und Menschenhandel nicht zu vernachlässigen . Was
glauben Sie eigentlich, was ein Jugendlicher macht, dem
man nach Wochen der Ungewissheit erzählt, dass er nach
Heidenau kommt?


(Susann Rüthrich [SPD]: Die Sächsische Schweiz hatte schon unbegleitete Jugendliche!)


Wir brauchen dringend eine Lösung, welche Ihr Ge-
setzentwurf nicht anbietet . Mit Ihrem Gesetz verlagern
Sie die Probleme auf die Länder und Kommunen und las-
sen sie damit im Wesentlichen allein . Die 350 Millionen
Euro sind ein Tropfen auf den heißen Stein . Am Ende
lassen Sie die Kinder und Jugendlichen, um die es hier
geht, alleine . Ich hoffe, dass wir in den Beratungen hier
noch substanzielle Änderungen vornehmen können .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN – Petra Crone [SPD]: Das war aber ein Armutszeugnis! Ganz schlimm! – Zuruf von der CDU/CSU: Und da klatschen die auch noch!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812503500

Marcus Weinberg hat nun für die CDU/CSU-Fraktion

das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1812503600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Müller, es waren viele Punkte, die Sie an-
gesprochen haben – aber leider kein Treffer . Robert
Lewandowski war am Dienstag in acht Minuten erfolg-
reicher .


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Paul Da hat er recht!)

Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1812503700

Ich will gerne zu dem kommen, was die Ministerin
zu Anfang angesprochen hat . Wir haben in den letzten
Wochen und Monaten über dieses große Thema disku-
tiert – das ist möglicherweise die größte Herausforderung
für die deutsche Gesellschaft in den letzten 60 Jahren –,
und wir haben strittig darüber diskutiert . Wir erkennen
tatsächlich Chancen und sehen die Begeisterung vieler
Menschen in Deutschland, die sagen: Wir müssen für
diese Menschen, die aus Krisen- und Kriegsgebieten
kommen, etwas tun . – Auf der anderen Seite – das gehört
zur Ehrlichkeit – gibt es aber auch Sorgen, Nöte, Ängste,
teilweise beginnende Überforderung, gerade im Bereich
der Jugendhilfe .

Am Ende dieser Woche der strittigen Diskussionen
gibt es, glaube ich, zwei wesentliche Entscheidungen,
durch die wir unsere Handlungsfähigkeit zeigen: Gestern
haben wir die erste kluge und gute Entscheidung getrof-
fen, dass der Bund den Kommunen und den Ländern zu-
sätzliche finanzielle Mittel bereitstellt. Die zweite kluge
Entscheidung zeigt sich in dem heute vorliegenden Ge-
setzentwurf, mit dem wir die Rahmenbedingungen wei-
ter verbessern werden .

Ich glaube, insgesamt können wir sagen: Nach einer
intensiven Diskussion stehen wir heute davor, das Thema
Integration endlich nachhaltig auf den Weg zu bringen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unsere Handlungsfähigkeit ist also bewiesen . Der Bund
hat verstanden und auch gehandelt .

Norbert Müller (Potsdam)







(A) (C)



(B) (D)


Jetzt geht es darum, dass wir das gerade mit Blick auf
die Familien, die Kinder und die Jugendlichen, die – Sie
haben es erwähnt – in einer besonderen Situation sind,
gestalten . Unsere Erfahrungen aus der Vergangenheit –
es gab viele Epochen der Migrationsbewegung – müssen
dabei mit einfließen. Wir müssen jetzt weiterhin Hand-
lungsfähigkeit zeigen, Chancen erkennen, Herausforde-
rungen definieren, gleichermaßen fördern und fordern
und dabei auch mit viel Ehrlichkeit und im Sinne einer
fördernden und fordernden Integration von Anfang an
gestalten .

Im Zentrum stehen dabei die jungen unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlinge . Die Kinder werden immer
jünger . Es sind nicht mehr nur 16- oder 15-Jährige, son-
dern mittlerweile kommen 12-, 10- und sogar 9-Jährige
nach Deutschland . Die meisten von ihnen werden auch in
10 oder 15 Jahren noch in Deutschland leben . Die Frage
muss für uns doch lauten: Was passiert in den nächsten
10 bis 15 Jahren unter dem Gesichtspunkt der Integra-
tion? Wie geht es den heutigen Kindern dann, wenn sie
junge Erwachsene sind, wenn sie 25 oder 30 Jahre alt
sind? Sind sie dann gut ausgebildet? Haben sie dann hier
in Deutschland eine Sprachkompetenz? Konnten sie sich
in den Arbeitsmarkt integrieren? Haben sie ihr Lebens-
umfeld so organisiert, dass sie ihr Leben auch gestalten
können? Verstehen sie die Prinzipien in Deutschland, wie
Freiheit? Richten sie sich nach der freiheitlich-demokra-
tischen Grundordnung, zu der zum Beispiel auch die
Gleichberechtigung von Frauen und Männern gehört?
Haben sie das übernommen und akzeptiert? Tragen sie
das auch in sich? Sind sie bereit, der deutschen Gesell-
schaft auch etwas zurückzugeben?

Oder aber – das wäre die Alternative – ist es so, dass
sie im Bildungsbereich nicht angekommen sind, dass
sie arbeitslos sind und unter Armut leiden und dass sie
sich von dieser Gesellschaft möglicherweise entfernt ha-
ben? Hier sehe ich die große Gefahr, dass es dann, wenn
wir jetzt nicht richtig handeln, eine Gruppe von 25- bis
30-Jährigen geben wird, die sich von der Gesellschaft di-
stanziert hat, ihr eigenes Leben nicht organisieren kann
und sich möglicherweise radikalisiert – auch über beson-
dere religiöse Zugänge .

Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt nach dieser Be-
geisterung und Unterstützung, die richtig und gut waren,
entsprechende Strukturen schaffen und eine nachhaltige
Integration organisieren . Das ist die Voraussetzung .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Zahlen wurden angesprochen: Mittlerweile kom-
men sechsmal so viele junge unbegleitete minderjähri-
ge Flüchtlinge als in der Vergangenheit zu uns . Im Jahre
2015 werden es insgesamt wahrscheinlich 30 000 sein .
Diese Kinder und Jugendlichen haben Schlimmes erfah-
ren und sind traumatisiert . Dadurch, dass sechsmal so
viele wie in den vergangenen Jahren bei uns aufgenom-
men werden, kommt auf die Jugendämter und all dieje-
nigen, die in der Jugendhilfe verantwortlich sind, eine
immense Aufgabe zu .

Es wurde hier zu Recht noch einmal denjenigen ge-
dankt, die diese Aufgabe in den letzten Monaten schon

gemeistert haben . Ich weiß das aus Hamburg; aber auch
die Jugendämter in München, Dortmund und Köln, die
mit der Jugendhilfe ohnehin schon eine besondere Auf-
gabe haben, erleben das ja tagtäglich . Deswegen war es
jetzt auch wichtig, dass wir vonseiten des Bundes reagiert
und uns überlegt haben, wie wir das finanziell unterlegen
und in einen Gesetzentwurf packen können .

Ich stimme ausdrücklich zu: Dieses Gesetz muss so
schnell wie möglich kommen . Hamburg, Bayern und
auch andere haben viel geleistet, aber es muss jetzt
endlich eine gerechtere Verteilung im Sinne des Kin-
deswohls geben . Herr Müller, das ist entscheidend: Das
Kindeswohl muss immer an erster Stelle stehen . Das ist
auch unstrittig .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es war richtig und natürlich auch verständlich, dass
die Ministerpräsidenten am 11 . Dezember 2014 gesagt
haben: Wir müssen hier endlich ein Gesetz auf den Weg
bringen . – Den entsprechenden Gesetzentwurf beraten
wir heute .

Ich möchte das noch einmal ausdrücklich betonen: Es
gibt nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention, sondern
bei uns gilt ohnehin der Grundsatz, dass wir Kinder und
Jugendliche gleichbehandeln . Es wird nicht gefragt: „Wo
kommst du eigentlich her?“, sondern: Wo spiele ich mit
dir zusammen? – Unter dem Gesichtspunkt des Kindes-
wohls bieten wir ihnen entsprechende Möglichkeiten .

Ich glaube, unser Gesetzentwurf ist hier richtig ange-
legt, weil die Verteilung endlich anders organisiert wird .
Wir verteilen nicht nach dem Königsteiner Schlüssel
zwischen den Kommunen . Das ist nicht unsere Aufga-
be . Wir können aber erwarten, dass die Bundesländer,
die möglicherweise noch nicht so viel aufgenommen,
teilweise aber die entsprechenden Strukturen haben, jetzt
auch in die Verantwortung genommen werden .

Es wird dann so sein, dass, wenn Hamburg entlastet
wird, Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg na-
türlich mehr Jugendliche aufnehmen müssen . Die Ver-
teilung zwischen den Kommunen wird von den Ländern
geregelt . Sie wissen, wo ihre Strukturen sind . Sie wissen,
wie die Jugendhilfe in der Kommune aufgestellt ist . Die
Kommunen, die noch nicht so weit sind, werden sicher-
lich nicht belastet werden . Es ist aber, glaube ich, auch
gut so, dass wir hier Strukturen aufbauen und unterstüt-
zen. Ich finde – das sage ich noch einmal –, dass die fi-
nanzielle Leistung des Bundes in diesem Zusammenhang
wirklich ein hervorragender Aufschlag ist .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es gibt im Gesetz weitere Punkte, die wichtig sind .
Das gilt gerade für das Thema der Familienzusammen-
führung, was auch in der UN-Kinderrechtskonvention
bereits formuliert ist . Wichtig ist es aber, noch einmal ein
Signal zu geben, indem wir sagen: Es ist für das Kind im-
mens wichtig, dass es sich dort aufhalten kann, wo sich
Familienangehörige – zum Beispiel Onkel oder Tante –
befinden. Es gibt den besonderen, exemplarischen Fall
eines Neunjährigen in Hamburg: Dessen Vater wurde
in Damaskus umgebracht . Seine Mutter war nicht mehr
in der Lage, zu flüchten. Sie hat zu dem Onkel gesagt:

Marcus Weinberg (Hamburg)







(A) (C)



(B) (D)


Nimm das Kind mit, bringe es in Sicherheit, bringe es
nach Deutschland . – Es muss natürlich gewährleistet
sein, dass diese Kinder nicht von ihrer Bezugsperson ge-
trennt werden .


(Beifall der Abg . Petra Crone [SPD])


Ich glaube, es ist wichtig, dass das noch deutlicher im
Gesetz herausgearbeitet wird .

Was das Thema Mindestalter angeht, geht es darum,
im Asyl- bzw . Ausländerrecht die Handlungsfähigkeit zu
betrachten . Hier wird das Alter von 16 Jahre auf 18 Jah-
re hochgesetzt . Die Maßnahmen der Jugendhilfe galten
schon immer für die unter 18-Jährigen . Daran wird sich
nichts verändern . Da wird auch nichts ausgebaut werden .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt bietet dieses Gesetz den ersten Rahmen . Wir
werden das Asylgesetz bzw . die Pakete des Asylgesetzes
in der nächsten bzw . übernächsten Sitzungswoche inten-
siv besprechen . Das ist der Rahmen, der gesetzt werden
muss .

Jetzt wird es darauf ankommen, das Thema Nachhal-
tigkeit zu begleiten . Im Übrigen wollen und sollten wir
das Thema mit den Ländern und Kommunen gemeinsam
begleiten; denn es stehen jetzt ein paar wichtige Dinge an .
Es ist gut und richtig, den Bundesfreiwilligendienst um
10 000 Plätze zu erweitern . Es muss aber gewährleistet
sein, dass sich diejenigen, die das anbieten, in der Arbeit
mit Flüchtlingen auskennen, dass sie qualifiziert werden.
Wir müssen verhindern, dass Salafisten möglicherwei-
se versuchen, sich hier irgendwie einzuschleichen . Das
heißt, jetzt wird es darauf ankommen, die guten Dinge
zu gestalten . Das betrifft den Bundesfreiwilligendienst
in Bezug auf die 10 000 Stellen . Es betrifft auch andere
Fälle .

Wir wollen genau sehen, wie die Kinder jetzt in die
Kinder- und Jugendhilfe bzw . in die Kindertagesstätten
bzw . Schulen kommen . Denn eines darf nicht passieren:
dass die vielen Menschen in diesem Land, die sagen „Ja-
wohl, wir wollen hier helfen“, dann erkennen: Oh, es
kommen mehr Flüchtlingskinder in die Kitas . – Sie müs-
sen auch sehen, dass mehr Erzieherinnen und Erzieher in
die Kitas kommen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Auch müssen sie erkennen, dass jetzt mehr Lehrerinnen
und Lehrer eingestellt werden . Auch das ist dann – ich
sage das ganz deutlich – eine Verantwortung der Länder .
Wir haben ein großes, wichtiges Paket – das ist an dieser
Stelle wirklich entscheidend – geschnürt . Die Umsetzung
aber muss dann auch erfolgen . Das werden wir auch be-
gleiten . Denn wir sind nicht diejenigen – schönen Gruß
an den Bundesrat! –, die das Geld am Ende zur Verfü-
gung stellen, sondern wir sind auch diejenigen, die hier
unserer Verantwortung gerecht werden wollen .

Die Familienzusammenführung habe ich bereits ange-
sprochen . Es gibt aber noch weitere Themen, die auch
wichtig sind . Wir werden erst jetzt erkennen, dass es ge-
wisse Veränderungen gibt . Ich will zwei Themen anspre-
chen .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812503800

Das muss jetzt aber ganz zügig gehen .


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1812503900

Herr Präsident, da ich ja zügig oder schnell sprechen

kann, werde ich es versuchen . – Ich will das Thema
Frauen ansprechen, wo wir eine besondere Verantwor-
tung haben . Und ich will auch das Thema Einhaltung
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung anspre-
chen . – Das will ich hiermit angesprochen haben .

Ich glaube, es ist ein guter Entwurf . Wir alle sind jetzt
aufgefordert, diesen Entwurf schnell umzusetzen und
dann auch zu schauen, dass wir das Thema Integration
von Anfang an – jetzt auf den Weg bringen; denn wir ha-
ben eine Riesenchance . Nutzen wir diese Chance . Disku-
tieren wir ehrlich darüber, was zu tun ist . Ich freue mich
auf die Beratungen in den nächsten Wochen und Mona-
ten . Wir haben – das wissen wir – noch viel zu tun . Das
wollen wir aber für die Flüchtlinge und die Menschen in
Deutschland angehen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812504000

Katja Dörner hat nun das Wort für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen .


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812504100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Über die Verwendung der Betreuungs-
geldmittel haben wir ja noch gestern debattiert, und wir
werden das garantiert noch weiter tun . Wir Grüne haben
sehr vehement gefordert, dass das Geld für die Kitas zur
Verfügung gestellt werden soll . Auch die Ministerin bzw .
die SPD haben das sehr vehement gefordert . Ich will fest-
halten: Die Vereinbarung von gestern Abend stellt gerade
nicht sicher, dass es wirklich in den Kitas ankommt .


(Sönke Rix [SPD]: Es ist ja nicht so, dass die Grünen nicht an Landesregierungen beteiligt sind! Sich jetzt aus der Verantwortung zu stehlen, ist ein bisschen billig!)


So viel Ehrlichkeit muss in dieser Debatte sein, liebe
Kolleginnen, liebe Kollegen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Sönke Rix [SPD]: Auch Herr Kretschmann und die grüne Landesregierung haben zugestimmt!)


Zum vorliegenden Gesetzentwurf . Es ist richtig, dass
zurzeit eine Handvoll Jugendämter bundesweit für einen
sehr großen Teil der minderjährigen unbegleiteten Flücht-
linge zuständig ist . Es ist auch richtig beschrieben wor-
den, dass diese Jugendämter finanziell und personell sehr
stark gefordert, zum Teil auch überfordert sind . Deshalb
ist trotz des sehr großen Engagements dieser Jugendäm-
ter und vieler Initiativen und ehrenamtlicher Helferinnen
und Helfer eine dem Kindeswohl entsprechende Inob-
hutnahme neu ankommender minderjähriger Flüchtlinge
mancherorts nicht mehr oder kaum noch möglich . Diesen

Marcus Weinberg (Hamburg)







(A) (C)



(B) (D)


Fakt, der hier beschrieben worden ist, müssen wir ernst
nehmen . Es macht aus unserer Sicht Sinn, eine andere
Verteilung zwischen den Kommunen und auch zwischen
den Bundesländern anzustreben . Ich denke, das ist auch
im Sinne der betroffenen jungen Flüchtlinge .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Aber wir sprechen über Kinder und Jugendliche, die
allein, ohne ihre Familien, teilweise ohne Freunde und
teilweise ohne irgendwelche Bezugspersonen, zu uns
flüchten. Viele von ihnen haben eine Fluchtgeschichte
hinter sich, die wir uns überhaupt nicht vorstellen kön-
nen . Es ist ganz klar, dass wir für diese Kinder und Ju-
gendlichen eine ganz besondere Schutzverantwortung
tragen . Deshalb müssen das Kindeswohl und die Sicher-
stellung einer guten Versorgung dieser jungen Menschen
unmissverständlich im Vordergrund der Verteilungsfrage
stehen . Das ist für uns Grüne ganz klar .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine schnöde Verteilung nach dem Königsberger
Schlüssel ist für uns nicht der richtige Weg . Das, was hier
beschrieben worden ist, nämlich die Verteilung nach dem
Königsteiner Schlüssel und die Orientierung am Kindes-
wohl, ist sozusagen die Quadratur des Kreises . Wir hätten
uns in dieser Frage eine größere Flexibilität gewünscht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Sönke Rix [SPD]: Wie sieht die aus?)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will auch sa-
gen, dass der Gesetzentwurf, so wie er heute vorliegt,
deutlich besser als das ist, was wir befürchten mussten,
als die ersten Initiativen des Landes Bayern im Bundesrat
aufgeschlagen sind . Darin war nämlich von einer Kin-
deswohlorientierung überhaupt nichts zu merken . Hier
hat es deutliche Fortschritte gegeben .


(Beifall der Abg . Petra Crone [SPD])


Ich will einen Punkt ganz besonders hervorheben – er
ist auch schon angesprochen worden –: 16- bis 18-Jähri-
ge werden in ihren Asylverfahren zukünftig nicht mehr
wie Erwachsene behandelt, sondern, konform mit der
UN-Kinderrechtskonvention, als Minderjährige . Das
haben wir Grüne und die Kinderschutzverbände in den
letzten Jahren immer wieder vehement gefordert . Es ist
sehr gut, dass dies in diesem Gesetzentwurf verankert ist .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ob wir bereit sind, die Rechte von Kindern und Ju-
gendlichen, und zwar von allen Kindern und Jugend-
lichen, gerade auch der minderjährigen unbegleiteten
Flüchtlinge, zu wahren, diese Frage stellt sich insbeson-
dere dann, wenn der Wind rau bläst, also heute und jetzt .
Deshalb will ich zwei Aspekte aus dem Gesetzentwurf
aufgreifen, hinter die wir Grüne noch Fragezeichen ma-
chen möchten .

Das eine ist die Frage: Was muss am Erstaufnahmeort
zur Klärung der Situation der Minderjährigen tatsächlich

erfolgen? Dazu will ich sagen: Aus unserer Sicht ist es
unbedingt notwendig, dass schon bei der vorläufigen In-
obhutnahme ein Abgleich der persönlichen Daten erfolgt,
dass eine Alterseinschätzung vorgenommen wird und
dass wir die Alterseinschätzung nach seriösen Standards
durchführen, also gemäß der Handlungsempfehlung der
BAG der Landesjugendämter . Auch der medizinische
und therapeutische Bedarf muss unmittelbar bei der vor-
läufigen Inobhutnahme festgestellt werden.

Ich will den zweiten Aspekt ansprechen, der uns ganz
wichtig ist . Auch minderjährige unbegleitete Flüchtlinge
haben ein Recht auf Beteiligung . Die Wünsche und Be-
dürfnisse der Jugendlichen, auch bei ihren Reisezielen,
zu berücksichtigen, ist gerade in der derzeitigen Situation
kein „Nice to have“ . Ich habe es schon gesagt: Wir spre-
chen über Kinder und Jugendliche, die sich allein durch
fremde Länder, durch Kriege, durch Elend gekämpft
haben und die ihre Familien zurückgelassen haben . Die
Vorstellung, dass man diese Kinder einfach an einen Ort
verschieben kann, wo gerade Platz ist und wo es Kapazi-
täten gibt, ist illusionär .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812504200

Frau Dörner .


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812504300

Deshalb ist die Beteiligung der Kinder und Jugendli-

chen in dieser Frage absolut zentral und eine Grundvor-
aussetzung dafür – ich komme zum Schluss –, dass die
Integration der Kinder und Jugendlichen da, wo sie dann
untergebracht werden, überhaupt gelingen kann . Deshalb
ist es uns sehr wichtig, dass die Beteiligungsrechte im
Gesetzentwurf stark verankert sind .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Abschließend –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812504400

Nein, das geht jetzt nicht . Sie haben die Redezeit deut-

lich überschritten . Jetzt können Sie nicht noch einmal
eine Zugabe geben . Ich bitte um Nachsicht .


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812504500

Junge Flüchtlinge haben es verdient, dass wir sie be-

sonders in den Blick nehmen . Trotz des sehr verkürzten
Beratungsverfahrens haben wir ein großes Interesse da-
ran, dass wir uns seriös mit Verbesserungsvorschlägen
auseinandersetzen .

Ich komme zum Schluss und freue mich auf die Be-
ratungen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812504600

Nun hat die Kollegin Gülistan Yüksel für die

SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Katja Dörner






(A) (C)



(B) (D)



Gülistan Yüksel (SPD):
Rede ID: ID1812504700

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ha-
ben in den letzten Monaten Entwicklungen erlebt, die
wir uns alle so nicht haben vorstellen können . Die Bilder
der flüchtenden Menschen, die lebensgefährliche Routen
über das Meer und über das Land auf sich nehmen, um
einen Ort zu finden, wo sie in Frieden leben können, ha-
ben sich uns allen ins Gedächtnis eingebrannt .

Heute diskutieren wir über eine besonders schutz-
bedürftige Gruppe: die unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlinge . Insbesondere für diese müssen wir jetzt Lö-
sungen finden. Wir brauchen eine schnelle Entlastung der
Jugendämter an den Knotenpunkten wie München und
Hamburg .

Ich bin sehr dankbar, dass das Familienministerium,
dessen Vertreter sich früh mit den Ländern zusammen-
gesetzt haben, um eine Lösung zu finden, diesen Gesetz-
entwurf jetzt nach intensiven Beratungen vorgelegt hat .
Ich weiß, dass die Belange der Kinder und Jugendlichen
in unserem Familienministerium in guten Händen sind
und dass das Kindeswohl stets im Mittelpunkt steht . Das
Primat der Kinder- und Jugendhilfe ist gegeben .

Besonders freue ich mich über die Anhebung der Al-
tersgrenze zur aufenthalts- und asylrechtlichen Hand-
lungsfähigkeit von 16 auf 18 Jahre . Auch dringend
notwendig sind belastbare Daten zur Lebenssituation
der unbegleiteten Minderjährigen, die nun erhoben wer-
den sollen . Zusammen mit den gestern beschlossenen
350 Millionen Euro, die schon mehrfach erwähnt worden
sind, ist der Gesetzentwurf ein erster wichtiger Schritt,
um die Herausforderung im Sinne der Kinder und Ju-
gendlichen anzugehen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem vorliegenden Entwurf gelingt ein schwieriger
Spagat zwischen dem besonderen Schutzbedürfnis der
Kinder und Jugendlichen und praktikablen Verfahrens-
regeln, ein Spagat zwischen den Forderungen der Länder
und Kommunen und den Forderungen der Verbände . Ich
gebe zu, dass der Zeitplan für das Gesetz sehr eng getak-
tet ist . Aber angesichts der angespannten Flüchtlingssi-
tuation, in der wir uns jetzt befinden, müssen wir schnell
handeln . Die Kinder und Jugendlichen brauchen jetzt un-
sere Hilfe und nicht erst in ein bis zwei Jahren .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Abwarten löst die Probleme nicht, sondern macht sie täg-
lich größer .

Letztendlich haben wir alle dasselbe Ziel und – das
möchte ich betonen – auch die Pflicht, etwas zu tun. Die
UN-Kinderrechtskonvention gibt vor, dass für alle Kin-
der, egal welcher Herkunft, gleiches Recht gilt . Lassen
Sie uns deshalb parteiübergreifend dafür sorgen, den
Kindern und Jugendlichen, die in großer Not und unter
unfassbaren Umständen zu uns fliehen, die hier alleine
sind, in einem fremden Land mit einer fremden Kultur

und Sprache, und die zum Teil traumatisiert sind, so gut
zu helfen, wie wir können .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht darum, dass wir ihnen einen neue Heimat bie-
ten, eine neue Perspektive, dass wir ihnen vom ersten Tag
nicht nur eine gute Unterbringung, sondern auch Wärme
und Schutz bieten, dass wir ihnen durch Spracherwerb
und Bildungszugang die Chance auf Beteiligung und
eine bessere Zukunft fernab von Krieg und Gewalt er-
möglichen und dass sie Zugang zu den Angeboten der
Kinder- und Jugendhilfe wie Kita und Sport haben . Für
eine gelingende Integration ist das das A und O, liebe
Kolleginnen und Kollegen .

Diese Kinder und Jugendlichen haben ihr ganzes Le-
ben noch vor sich, und es liegt in unserer Hand, dass sie
eine gute Grundlage mit auf den Weg bekommen . Eine
solche Grundlage kann auch woanders als in Hamburg
oder München gelegt werden .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dabei müssen wir darauf achten, dass die bewährten
Standards der Kinder- und Jugendhilfe eingehalten wer-
den . Wenn die personellen und räumlichen Kapazitäten
erschöpft sind, wenn keine Feldbetten und keine Sani-
täranlagen mehr zur Verfügung stehen, wenn Turnhallen
überbelegt sind, dann gibt es schlicht und einfach keinen
Platz . Wie soll das Kindeswohl dort geachtet werden?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich finde, das ist keine Situation, die einem Flüchtling
zugemutet werden darf . Wir kommen daher um eine Ver-
teilung nicht herum .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Integration ist an-
strengend und ein langwieriger Prozess . Ich kenne das
aus meiner über 20-jährigen Erfahrung mit Integrations-
politik in meinem Wahlkreis sehr gut . Aber sie lohnt sich .
Sie lohnt sich für junge Menschen; denn sie bekommen
eine Perspektive . Sie lohnt sich für uns; denn was wir
heute geben, bekommen wir morgen zurück . Wir als Ge-
sellschaft haben es in unserer Hand, diesen Kindern und
Jugendlichen eine echte Zukunft zu geben .

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bin stolz auf unser Land . Ich bin ge-
rührt über die große Hilfsbereitschaft, die wir tagtäglich
sehen . Ich bin dankbar für jeden Haupt- und Ehrenamtli-
chen, der sich engagiert . Jetzt müssen wir dafür sorgen,
dass die Willkommenskultur nicht in Unmut umschlägt .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist ganz wichtig, alle mitzunehmen, sowohl diejeni-
gen, die zu uns kommen, als auch diejenigen, die bereits
hier sind . Nur gemeinsam können wir Verbesserungen
erreichen, zusammen mit den Kommunen, den Ländern,
den Verbänden, den Helfern und der Bevölkerung . Wir
stehen vor einer großen gesamtgesellschaftlichen Her-
ausforderung . Die Zukunft der Kinder und Jugendlichen






(A) (C)



(B) (D)


ist auch unsere Zukunft, oder, um es abschließend mit
den Worten von Johannes Rau zu sagen:

Es kommt nicht auf die Herkunft des einzelnen an,
sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft
gewinnen .

Lassen Sie uns also gemeinsam die Zukunft mitgestalten!

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812504800

Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist Beate Walter-

Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Ich bin seit
langem in Bayern unterwegs und schaue mir die Lage
vor Ort an, in Flüchtlingsunterkünften, in den Land-
ratsämtern und auch in den Jugendämtern . Die Überfor-
derung ist groß . Ich denke an Passau, Rosenheim und
München – Sie alle kennen die Bilder .

In Bayern kommen besonders viele Flüchtlinge an,
darunter viele Minderjährige und auch unbegleitete Min-
derjährige . Bisher waren die Kommunen damit ziemlich
alleingelassen; das muss man so sagen . Das alles war nur
zu stemmen durch einen fast überirdischen Einsatz so-
wohl der Landräte als auch der Kommunalpolitikerinnen
und -politiker als auch der Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter in den Jugendämtern und den Landratsämtern . Vor
allem ist es den vielen Ehrenamtlichen zu verdanken,
dass man das überhaupt stemmen konnte .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Man darf die Kommunen damit nicht länger allein-
lassen . Ich wollte das heute eigentlich fordern . Aber der
gestrige Gipfel hat viele Verbesserungen beschlossen,
auch dank der grün regierten Bundesländer, die viele
gute Dinge hineinverhandelt haben . Verbesserungen sind
also in Sicht . So werden zum Beispiel 350 Millionen
Euro für die Versorgung von unbegleiteten minderjähri-
gen Flüchtlingen bereitgestellt . Wie lange das Geld rei-
chen wird, werden wir sehen . Es ist auf jeden Fall gut,
dass jetzt etwas passiert .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir fordern in unserem Antrag – ich muss ein biss-
chen schneller reden, weil mir von meiner Redezeit eine
Minute abgezogen wird, weil Frau Dörner ihre überzo-
gen hat –, dass vor einer eventuellen Verteilung eine in-
tensive Feststellung des Bedarfs durchgeführt wird . Wir
wollen, dass in keinem Fall verteilt wird, wenn es Ver-
dachtsmomente auf Sklavenhandel, Zwangsprostitution
oder Sklaverei gibt . Wir wollen auch nicht, dass verteilt
wird, wenn der Verdacht besteht, dass die betreffenden
Kinder oder Jugendlichen Kindersoldaten waren . Diese

Kinder haben genug durchgemacht . Sie brauchen Ruhe,
sie müssen erst einmal ankommen . Dafür braucht es Zeit,
Empathie, viel Sensibilität und viel Professionalität .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Norbert Müller [DIE LINKE])


Eine überhastete Verteilung würde jedes Vertrauen die-
ser jungen Menschen in ihre Betreuer und Betreuerinnen,
aber auch in unsere Behörden erschüttern, was eine Zu-
sammenarbeit sehr erschweren würde .

Vergessen wir den zentralen Punkt nicht, den uns die
UN-Kinderrechtskonvention vorgibt . Wir müssen die
Kinder und Jugendlichen – Frau Dörner hat das schon
gesagt – an solchen Entscheidungen beteiligen . Wir müs-
sen sie auch fragen, welches Reiseziel sie haben und wa-
rum . Es macht auch gar keinen Sinn, Kinder, die mona-
telang allein auf Reisen waren, irgendwo hinzubringen .
Sie bleiben dort nicht, sie gehen weg und fallen in die
Illegalität . Sie können dann nicht mehr unter den Schutz
der Jugendhilfe des Staates gestellt werden und sind dann
ganz allein . Deswegen muss man mit ihnen auch verhan-
deln .

Es ist natürlich klar, dass wir nicht jeden Wunsch die-
ser Flüchtlinge erfüllen können; das ist nicht möglich .
Aber wir können ihre Bedürfnisse ernst nehmen und ge-
nau hinschauen, was mit ihnen passiert ist und warum sie
einen Wunsch äußern . Das ist sehr wichtig .

Insofern bitte ich Sie von der Regierungskoalition:
Geben Sie sich einen Ruck, und schauen Sie sich Ihre
Gesetzesvorhaben noch einmal an, damit Sie wirklich
das Kindeswohl und nicht die Finanzen in den Mittel-
punkt stellen .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Martin Patzelt [CDU/CSU])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812504900

Vielen Dank . – Nächster Redner ist für die CDU/

CSU-Fraktion Martin Patzelt .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Martin Patzelt (CDU):
Rede ID: ID1812505000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Besucher auf den Tribünen! Ich muss erst einmal
zu Ihnen sagen, Herr Müller: Sie haben die Dinge nach
meinem Ermessen auf den Kopf gestellt .


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


Es ging ausdrücklich um das Kindeswohl . Im Interesse
der jungen Menschen mussten wir dringend eine Umver-
teilung in die Länder hinein vornehmen . Denn nicht etwa
die bayerische Staatsregierung oder Kommunen in Bay-
ern – wir haben es gerade gehört – haben versagt,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ganz im Gegenteil! – Zuruf des Abg . Norbert Müller (Potsdam)


Gülistan Yüksel






(A) (C)



(B) (D)


sondern der unerwartete Ansturm junger ausländischer
Menschen in einer solchen Größenordnung verlangte,
dass wir sie in ihrem Interesse an Orten unterbringen, wo
man ihren Bedürfnissen besser gerecht werden kann .


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg . Norbert Müller Insofern bietet der vorliegende Gesetzentwurf wirklich eine gute Lösung . Im Übrigen ist die Unterbringung dieser jungen Menschen die Hauptregelung in diesem Gesetzentwurf . Das Kinderund Jugendhilfegesetz die jungen unbegleiteten Flüchtlinge schon immer . Es gibt also nichts Neues . Es wird an bestimmten Stellen – da, wo vielleicht Unklarheiten bestanden – justiert . Gerade wir, die Mitglieder des Familienausschusses, haben noch einmal festgestellt, dass das KJHG galt und weiter gilt und dass es auch schon früher spezifische Regelungen für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gab, nach denen verfahren wurde . Ich danke an dieser Stelle besonders den freien Trägern der Jugendhilfe, die im Prozess der Gesetzgebung ihre Erfahrungen und Impulse eingebracht haben . Sie haben sich in den vergangenen Jahren ja schon intensiv um junge Menschen gekümmert . Dadurch konnten sie wesentliche Erfahrungen als Input für unsere Gesetzgebung beisteuern . Wir verweisen durch die vorgesehene Regelung die ganze Last auf die Länder . Die Länder werden in noch höherem Maße für die Einhaltung der Qualitätsstandards zuständig sein . Insbesondere die Kommunen werden die Last zu tragen haben . Die Kommunen als Träger der Jugendhilfe haben hierbei die Hauptverantwortung und die Hauptlast . Insofern stellen die in Rede stehenden Unterstützungen des Bundes – sie sind erheblich; das zeigt sich, wenn man bedenkt, dass die Unterstützung für die einzelnen Flüchtlinge zusammen mit der Sonderunterstützung für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge bei insgesamt 350 Millionen Euro liegt – eine erhebliche Entlastung für die Kommunen dar . Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der vorletzten Ausgabe der Zeit trug ein Artikel die Überschrift: „Starke Truppe“ . In diesem Artikel wurde mit der Notwendigkeit der Aufstockung der Polizei und der Sicherheitsorgane für einen starken Staat argumentiert . Es heißt dort, dass wir in Zeiten kommen werden, in denen wir angesichts der dramatischen Zuwächse von Flüchtlingen in unserem Lande eine sehr starke Polizei und einen sehr starken Staat brauchen . Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Damit allein wäre es nicht getan . Wir brauchen jetzt vor allen Dingen ganz starke Jugendämter, starke Kommunen, die fachlich, personell und finanziell das stemmen können, was wir ihnen aufgetragen haben, (Norbert Müller Fällt aber auch nicht vom Himmel!)


(Sönke Rix [SPD]: Genau!)


(Beifall bei der CDU/CSU)


die mit Realitätsbezug und Augenmaß ihre tatsächlichen
Möglichkeiten sehen .

Hier warne ich davor, dass wir uns Illusionen hinge-
ben . Das, was hier uns als Gesellschaft abverlangt wird,
wird angesichts der schon jetzt nicht ausreichenden An-
zahl an Erzieherinnen und Sozialpädagogen überhaupt
nicht in der Form zu stemmen sein, wie es eigentlich
gemacht werden müsste . Ich höre schon, wie wieder ge-
sagt wird: Hier versagt die öffentliche Jugendhilfe . Hier
versagen die Länder . Hier versagt der Bund . – Es geht um
Ressourcen, die wir niemals einplanen konnten und die
erst einmal nicht da sind . Schon jetzt sucht man in ganz
Deutschland dringend nach Erzieherinnen .

Wenn der Verband der Psychotherapeuten fordert,
dass schwer traumatisierte junge Menschen eine entspre-
chende psychotherapeutische Hilfe bekommen sollen,
dann frage ich: Wo leben denn diejenigen, die das for-
dern? Sie alle wissen doch, dass es Wartelisten gibt und
dass man jahrelang auf eine Behandlung warten muss .
Schon jetzt können sie deutsche Patienten nicht kurzfris-
tig behandeln .


(Karin Binder [DIE LINKE]: Ja, woran liegt das denn?)


Woher sollen also die notwendigen Kapazitäten kom-
men? Wir müssen uns jetzt gemeinsam bemühen, ent-
sprechende Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir
die Bedarfe stillen . Aber im Moment müssen wir uns an-
ders behelfen .

Deshalb sage ich: Wir brauchen auch eine starke Zivil-
gesellschaft . Wir können es nicht der Politik und den Ju-
gendämtern überlassen, zu bestimmen, wie es den jungen
Menschen geht . Wenn das Willkommen verklungen ist,
wenn die Träume der jungen Menschen vom Paradies der
Desillusion gewichen sind, wenn die jungen Menschen
in der Wirklichkeit in Deutschland angekommen sind,
dann brauchen sie vor allen Dingen Hilfe, Begleitung,
Nähe von Menschen . Die jungen Menschen haben Hun-
ger auf Leben, und sie haben sich uns anvertraut . Ich bin
tief überzeugt, dass Integration, von der jetzt so viel ge-
sprochen wird, die gefordert wird – meist einseitig von
denen, die zu uns kommen –, nicht einseitig funktioniert .
Ich glaube, dass auch wir uns bemühen müssen, diesen
Integrationsprozess miteinander zu gehen .


(Beifall der Abg . Susann Rüthrich [SPD])


Integration bedarf auch immer der Partizipation . Wenn
wir die Menschen nicht an unserem Leben teilhaben las-
sen, dann ist die ganze Integrationsforderung eine Uto-
pie .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auf noch etwas möchte ich aufmerksam machen . Wir
müssen darauf bedacht sein, dass wir Identitäten schüt-
zen . Es kann nicht sein, dass die jungen Menschen, die
zu uns kommen, von ihrer Vergangenheit, von ihren Wur-
zeln, aus denen sie hervorgekommen sind, abgeschnitten
werden . Kindeswohl verlangt danach, dass sie ihr bis-
heriges Leben – das Milieu, aus dem sie kommen, ihre
lieben Menschen, auch ihr Vaterland – in ihrem Bewusst-

Martin Patzelt






(A) (C)



(B) (D)


sein behalten können, schon deshalb, weil wir gar nicht
wissen, ob sie nicht eines Tages zurückgehen werden –
hoffentlich als ausgebildete Facharbeiter, vielleicht sogar
mit einem Studium . Wir kennen ihre Zukunft nicht . Aber
unabhängig davon, auch wenn sie hierbleiben: Sie haben
Wurzeln, und die dürfen wir ihnen nicht nehmen .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812505100

Herr Kollege Patzelt, darf ich kurz unterbrechen? –

Der Kollege Mutlu möchte Ihnen gern eine Frage stellen .


Martin Patzelt (CDU):
Rede ID: ID1812505200

Wenn es wesentlich ist, gern .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812505300

Bitte schön .


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812505400

Danke, Frau Präsidentin . Danke, Herr Kollege, dass

Sie die Frage zulassen . Zunächst einmal möchte ich Ih-
nen ganz persönlich für Ihren Einsatz und für den Einsatz
Ihrer Frau danken . Sie haben, wie wir über die Medien
erfahren haben, Flüchtlinge bei sich aufgenommen . Trotz
Anfeindungen, trotz Angriffen haben Sie daran festge-
halten .


(Beifall im ganzen Hause)


Das ist absolut vorbildhaft .

Sie haben ja jetzt über die letzten Monate am eigenen
Leib Erfahrungen gemacht und wissen, wie es ist, einen
Flüchtling aufzunehmen – trotz dieser Anfeindungen in
Ihrer Gemeinde, von manchen, Gott sei Dank nicht von
allen . Sind Sie denn aufgrund der Erfahrungen, die Sie
jetzt gesammelt haben, der Meinung, dass das, was gera-
de als Vorhaben vor uns liegt, hinreichend ist? Was wür-
den Sie auf die Frage sagen, wo ergänzt werden kann, wo
Verbesserungsbedarf besteht?


Martin Patzelt (CDU):
Rede ID: ID1812505500

Ich bedanke mich ausdrücklich für die Frage . Ich wer-

de nämlich in meinen weiteren Ausführungen genau dar-
auf Antwort geben . Ich bedanke mich auch für die Wert-
schätzung, wobei ich mir immer bewusst bin, dass das,
was wir als Familie tun, nicht verallgemeinerbar ist . Das
ist bei der Herkunft und dem Lebenskontext eine spe-
zifische Möglichkeit. Wir haben an Lebensqualität nur
gewonnen, Gott sei Dank; es hätte auch anders kommen
können . Aber das will ich nun wirklich nicht als Maßstab
für andere setzen . – Danke schön .


(Beifall im ganzen Hause)


Ich sprach davon, dass wir die Identitäten der jun-
gen Menschen schützen müssen . Ich meine auch, dass
wir achtgeben müssen, dass keine Parallelwelten entste-
hen . Wenn wir das nicht begleiten und wenn wir nicht
aufmerksam sind und wenn wir vor allen Dingen keine
Partizipation an unserem Leben zulassen, an unseren ge-
sellschaftlichen Aktivitäten in Vereinen, Sportvereinen,
Chören, Schulklassen, dann werden ganz schnell, wie
man das auch jetzt schon in Deutschland in bestimmten

Großstädten erleben kann, Parallelwelten entstehen, die
uns und den Menschen, die zu uns gekommen sind, auf
Dauer eher schaden als nützen werden .

Wir dürfen keine Angst davor haben, dass auch wir uns
in diesem Prozess verändern werden . Wenn wir uns auf
die jungen Menschen, auf die Fremden, einlassen, wenn
wir mit ihnen leben – jetzt weiß ich auch, wovon ich
spreche –, dann wird das auch uns wahrnehmbare Verän-
derungen abfordern . Davor brauchen wir keine Angst zu
haben . Jeder, der Kinder hat, weiß, dass er, wenn die Kin-
der groß sind, nicht mehr der junge Vater oder die junge
Mutter sein wird, der oder die er einmal war . Wir können
uns bei unseren Kindern eigentlich bedanken, dass sie
uns immer in ihre Lebenswelt mit hineinnehmen und uns
Älteren damit auch Lernmöglichkeiten schenken .

Ich denke, dass sich in Deutschland so etwas wie eine
Willkommenseuphorie – so würde ich fast sagen – ab-
spielt, was auch schön und wunderbar zu erleben ist,
weil es eine so wertvolle und gute Stimmung sowie ein
gutes Zeichen für unser Land ist . Aber wenn diese Eu-
phorie verflogen ist, müssen wir über Sachmittel hinaus
vor allen Dingen Beziehungsangebote machen . Die Ju-
gendämter haben dafür Sorge zu tragen, dass die sachli-
che Ausstattung gut ist, ausreichend ist . Und wenn man
das vergleicht: Kinder aus manchen Milieus in Deutsch-
land haben lange nicht den gleichen materiellen Standard
für ihre Lebensführung wie die Kinder, die durch die
Jugendhilfe betreut werden . Das müssen die Jugendäm-
ter verantworten . Aber keine Politik, kein Amt kann das
geben, was uns Menschen so nottut, nämlich lebendige
Beziehungen . Das auch als Antwort auf Ihre Frage .


(Beifall im ganzen Hause)


Wir sollten deswegen von hier und überall in unseren
Wahlkreisen das Signal aussenden: Liebe Freunde, liebe
Verwandte, liebe Kolleginnen und Kollegen, kümmert
euch um diese jungen Menschen! Sucht euch einen aus,
nehmt ihn mit in eure Familien, nehmt ihn mit in eure
Bekanntenkreise, nehmt ihn mit auf eure Reisen! Ladet
ihn ein! Ermuntern wir unsere Kinder, zu sagen: Wir ha-
ben jetzt neue Mitbürgerinnen und Mitbürger . – Ich war
am Dienstag bei einer Versammlung, auch wieder zu
diesem Thema, und da haben mich Kinder aus mehreren
Schulklassen gefragt: Wie können wir helfen? Was kön-
nen wir denen geben? – Ich habe geantwortet: Eure Ge-
meinschaft, eure Nähe, eure Anteilnahme . Spielt, singt,
wandert, redet einfach miteinander! Macht miteinander
Ausflüge! Hört einander zu!

Wir erleben in Deutschland eine zunehmende Angst –
das nehme ich jedenfalls so wahr – vor dem, was ange-
sichts der Menge der Flüchtlinge auf uns zukommt . Die-
se Angst lähmt uns; diese Angst verführt uns vielleicht
dazu, in extreme Positionen zu verfallen, von denen wir
gar nicht wissen, wohin sie unser Land bringen könnten .
Angst ist ein schlechter Berater; Angst macht blind .


(Beifall im ganzen Hause)


Ich wünsche mir, unserem Land und auch denen, die
zu uns gekommen sind, sehr, dass wir miteinander einen
Weg gehen, auf dem wir die Angst verlieren . Denn beim
Gehen kann man die Angst verlieren .

Martin Patzelt






(A) (C)



(B) (D)


Letzten Endes nehmen wir auch durch die Beispiele,
die wir geben, die Ängstlichen in unserem Lande mit, in-
dem wir ihnen zeigen: Es geht doch! – Auf einmal haben
Flüchtlinge ein Gesicht . Sie haben einen Namen . Dann
werden sie auf einmal sogar angenehme Zeitgenossen .
Ich könnte Ihnen dazu ein Beispiel erzählen . Ein Nachbar
kam zu uns und sagte: Jetzt möchte ich die beiden mal zu
mir einladen; ich möchte ihnen beibringen, wie man ei-
nen Computer bedient . – Er hat ihnen gestern den Schlüs-
sel von seiner Wohnung gegeben und gesagt: Ihr könnt
immer in meine Wohnung gehen, wenn ihr am Computer
arbeiten wollt .

Da entwickeln sich Dinge, die man vorher nie ge-
glaubt hätte, weil Menschen ein Beispiel sehen und sich
dadurch ermutigt fühlen und keine Angst mehr haben .
Wir haben Angst um unsere Identität . Deutschland wird
aus diesem Prozess nicht wieder so hervorgehen, wie
es hineingegangen ist . Aber das muss nicht zu unserem
Schaden sein .


(Beifall im ganzen Hause)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812505600

Herr Kollege Patzelt, ich muss Sie jetzt trotzdem bit-

ten, zum Schluss zu kommen .


Martin Patzelt (CDU):
Rede ID: ID1812505700

Noch zwei kurze Sätze, in denen ich eine Lebenser-

fahrung mitteilen möchte, die viele machen und die man
auch immer wieder auf Kalenderblättern liest: Es gibt
nirgendwo Glück zu kaufen; Glück entsteht aus Begeg-
nung . Versagen wir uns doch nicht dieses Glück, Men-
schen zu begegnen, die uns besonders brauchen .


(Beifall im ganzen Hause)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812505800

Vielen Dank . – Der nächste Redner ist der Kollege

Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1812505900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Werte Zuschauer! Als letzter Redner in
dieser Debatte zu Wort zu kommen, hat den großen Vor-
teil, dass man noch kurz auf einige vorherige Ausführun-
gen eingehen kann .

Herr Müller – Sie schauen zu Recht her –, natürlich
muss ich Ihren Wortbeitrag abermals, wie bereits gestern
Nachmittag, kritisieren . Sie haben ja ausgeführt, was an
diesem Gesetz noch verbesserungsfähig ist . Wir werden
am 12 . Oktober eine Anhörung dazu haben . Aber ich will
Ihnen eines mitteilen – Frau Präsidentin, wenn Sie die
Uhr nicht laufen lassen, dann darf ich hier unbegrenzt
reden . Darauf wollte ich nur hinweisen .


(Heiterkeit im ganzen Hause – Petra Crone [SPD]: Bitte nicht!)


Gut, ab jetzt laufen meine neun Minuten . Bitte nichts ab-
ziehen!

Also, Herr Müller, ich darf darauf hinweisen – ich
habe mich extra noch bei der Frau Ministerin kundig
gemacht –: Gestern bei der Besprechung im Kanzler-
amt war auch der thüringische Ministerpräsident Bodo
Ramelow dabei . Und ich wünsche mir ausdrücklich, dass
ihm Ihr Redebeitrag zugesandt wird, damit er einmal
beurteilen kann, was Ihre Fraktion im Bundestag zu den
Ergebnissen sagt, die er am Vorabend ausgehandelt hat .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir sind froh, dass wir endlich einen guten Kompro-
miss –

Herr Müller möchte mir eine Frage stellen . Ich würde
sie zulassen, Frau Präsidentin .


(Heiterkeit im ganzen Hause)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812506000

Herr Müller muss sich richtig melden, damit wir das

hier auch sehen können .


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1812506100

Er hat sich bei mir gemeldet .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812506200

Sie würden die Frage zulassen . – Herr Müller, bitte

schön .


Norbert Müller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812506300

Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr

Lehrieder . Sie sind ja schneller als das Präsidium . Res-
pekt!


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Gutes Auge!)


Übrigens höre ich Ihnen immer aufmerksam zu .

Ich will gerne Folgendes von Ihnen wissen – vielleicht
haben Sie schon davon gehört –: Ist Ihnen bekannt – wenn
nicht, ist es Ihnen nach meiner Frage bekannt –, dass die
Thüringer Staatsregierung gestern ihr Einverständnis nur
gegeben hat, damit es überhaupt einen Kompromiss in
der Runde der Ministerpräsidentinnen und Ministerprä-
sidenten gibt, und dass sie ihr Einverständnis unter den
Vorbehalt gestellt hat, dass sie nicht jedem dieser Punkte,
wenn er als Gesetzesvorhaben in den Bundesrat kommt,
zustimmen wird? Ist Ihnen das bekannt?


(Nadine Schön Was ist denn das für eine Vereinbarung? – Sönke Rix [SPD]: Das bezieht sich auf die Herkunftsstaaten!)


– Das ist eine Protokollerklärung . Die bezieht sich selbst-
verständlich nicht nur auf die Herkunftsstaaten .


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1812506400

Es geht um die sicheren Herkunftsstaaten . Aber das

ändert nichts an der Tatsache, dass Thüringen einer bes-
seren Verteilung zugestimmt hat, Herr Müller . Das müs-
sen Sie akzeptieren .


(Sönke Rix [SPD]: Genau!)


Martin Patzelt






(A) (C)



(B) (D)


Bodo Ramelow hält diesen Kompromiss für gut in den
Punkten, über die wir heute debattieren . Wir debattieren
jetzt nicht über das Asylpaket, sondern wir debattieren
die Situation der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlin-
ge . Den Umgang mit diesen haben Sie in Ihrem Wortbei-
trag kritisiert .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Dem gefundenen Kompromiss hat Bodo Ramelow ges-
tern sogar ausdrücklich und vernünftigerweise zuge-
stimmt . Es gibt ja auch noch ein paar Vernünftige bei den
Linken . Man sollte das nicht für möglich halten .


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Von daher sind wir froh, dass wir Bodo Ramelow in
Thüringen haben . Die Frage ist beantwortet . Wie schon
gesagt: Wir hoffen, dass wir das in den weiteren Beratun-
gen gut hinbekommen .

Aber noch einmal, Herr Müller: Man sollte bitte nicht
alles vermischen . Die Frage der sicheren Herkunftsländer
mag zu einem Vorbehalt bei Bodo Ramelow geführt ha-
ben; das ist kein Thema . Aber die Lösung für die Proble-
matik, die wir heute debattieren, begrüßt auch Thüringen
ausdrücklich, im Übrigen auch Herr Kretschmann aus
Baden-Württemberg . Frau Dörner, Frau Rosenheimer,
das muss einfach auch gesagt werden .

In Anbetracht dessen, was gerade passiert, sind wir
alle gefordert, die Kräfte zu bündeln . Wir stehen derzeit
vor der größten zentralen Herausforderung unserer Zeit .
Es wurde von den Vorrednern bereits darauf hingewie-
sen: Alle Probleme, die wir in den letzten Jahren gehabt
haben, werden vor dem Hintergrund dieser gesamtgesell-
schaftlichen Aufgabe, die jetzt vor uns liegt, relativiert .
Ich darf an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklich
den Dank an alle wiederholen, die sich hier engagieren .

Ich beginne mit den Ehrenamtlichen: Es gibt eine
Vielzahl von Ehrenamtlichen, die in Notunterkünften
und in Flüchtlingsunterkünften Aufnahme überhaupt erst
möglich machen . Ja, es kommen unwahrscheinlich viele
Menschen zu uns . Die Menschen, die zu uns kommen,
müssen wir ordnungsgemäß, human und fair behandeln .
Darum bemühen wir uns .

Ich darf mich bedanken beim THW, beim Roten
Kreuz, bei den Maltesern, bei den Johannitern, bei der
Polizei, bei den Kommunen und bei den Bürgermeistern,
die schweren Herzens manche Turnhalle zur Verfügung
gestellt haben und jetzt die Gratwanderung schaffen
müssen zwischen Schulsport einerseits und der Schaf-
fung von Unterkunftsmöglichkeiten andererseits . Wir
haben sehr viele tüchtige Bürgermeister landauf, landab .
Sie dürfen versichert sein: Was Bayern angeht, weiß ich,
wovon ich rede .

Darüber hinaus sind es natürlich die Länder, die toll
mitziehen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben . Mit dem
gestrigen Kompromiss haben sie 1 Milliarde Euro extra
bekommen, damit sie ihren Aufgaben nachkommen kön-
nen .

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der
wir als Bund uns beteiligen, an der sich die Länder betei-
ligen, an der sich die Kommunen beteiligen, an der sich
die Ehrenamtlichen beteiligen . Nur so kann es gelingen .
Dafür ein herzliches Wort des Dankes an alle, die daran
einen Anteil haben: an die Bürgermeister, die Landtags-
kollegen, die Ehrenamtlichen des THW und des Roten
Kreuzes . Herzlichen Dank!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Gleichwohl gebietet es aber auch die Ehrlichkeit, zu
sagen: Unsere Kapazitäten sind nicht unbegrenzt . Wir
müssen aufpassen und uns fragen: Wie viele Menschen
können wir aufnehmen? Wie viele Menschen können
wir – mit den ganzen Institutionen, die ich angeführt
habe – hier bei uns betreuen, wenn wir ihnen gerecht
werden wollen? Deshalb ist auch der gestern Abend ge-
fundene Kompromiss – Herr Müller, man muss sichere
Herkunftsländer definieren – durchaus richtig, und es ist
vertretbar, zu sagen: Jawohl, wir werden die Kapazitä-
ten, über die unsere Gesellschaft verfügt – und die sind
sehr groß –, auf die beschränken müssen, die tatsäch-
lich Kriegsflüchtlinge sind, die tatsächlich aus Not zu
uns kommen und die tatsächlich um ihr Leben fürchten .
Es gibt viele Beispiele . Viele von uns kennen aus ihren
Wahlkreisen syrische oder afghanische Flüchtlinge .


(Zurufe des Abg . Norbert Müller [DIE LINKE])


Wir sind gefordert, an einer gelingenden Integrati-
on mitzuwirken . Herr Kollege Patzelt hat das völlig zu
Recht gesagt: Die jungen Menschen kommen zu uns
nach wochen-, monate- oder zum Teil jahrelanger Flucht .
Sie wähnen sich am Ziel . Daher dürfen wir sie nicht ins
Nichts fallen lassen . Wir müssen sie betreuen . Wir müs-
sen sie auffangen . Wenn uns diese Integration nicht ge-
lingt, drohen uns in mehreren Jahren große gesellschaft-
liche Probleme . Deshalb ist richtig, dass wir uns mit dem
Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung
und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher
auf die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flücht-
linge besonders konzentrieren .

Alle unter 18-Jährigen, die alleine zu uns kommen,
verdienen besonderen Schutz . Das ist aufwendig; das
kostet viel Geld . Ja, das ist richtig . Aber wenn uns das
nicht gelingt und wir diese Gruppe Jugendlicher als
verlorene Generation Salafisten oder anderen radikalen
Kräften zutreiben lassen, dann haben wir etwas falsch ge-
macht . Deshalb ist dieses Gesetz, zu dem wir am 12 . Ok-
tober eine Anhörung durchführen, das wir am 14 . Okto-
ber im Ausschuss abschließend beraten werden und das
am 15 . oder 16 . Oktober in zweiter und dritter Lesung
bereits den Bundestag verlassen soll, ebenso der richtige
Weg wie die Kompromisse, die wir gestern Abend ge-
funden haben .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, unabhängig
von der noch ungeklärten Frage, wie auch die europäi-

Paul Lehrieder






(A) (C)



(B) (D)


schen Nachbarländer die Verantwortung, die wir als EU
gemeinsam tragen, wahrnehmen können, gehen wir die
Herausforderungen in unserem Lande an . Es wurde be-
reits ausgeführt, dass wir die bei uns lebenden Menschen
anständig und menschenwürdig behandeln müssen . So
hat es unser Fraktionsvorsitzender Volker Kauder gestern
in seiner Bundestagsrede ausdrücklich formuliert .

Wir müssen insbesondere diejenigen Kinder und Ju-
gendlichen schützen, die ohne ihre Eltern zu uns kom-
men . Dass sie die Kraft dazu haben – Frau Ministerin hat
darauf hingewiesen –, kann man sich oft nicht vorstellen .
Wie kann ein 10-, 12-jähriges Kind Tausende Kilometer
mit Schlepperbooten über das Mittelmeer den Weg zu uns
schaffen? Woher haben sie die Kraft? – Wir müssen also
besonders diejenigen Kinder und Jugendlichen schützen,
die ihre Eltern während der Flucht verloren oder aus den
Augen verloren haben, deren Eltern auf der Flucht ver-
storben sind, vielleicht getötet worden sind .

Gleichzeitig stellt die stetig steigende Anzahl der aus-
ländischen Kinder und Jugendlichen, die ohne ihre Fami-
lie nach Deutschland fliehen, unsere Kommunen vor Ort
vor erhebliche, auch finanzielle, Herausforderungen und
Belastungen . Da nach geltendem Recht das Jugendamt,
in dessen Zuständigkeitsbereich die Einreise des unbe-
gleiteten ausländischen Minderjährigen fällt, zu dessen
Inobhutnahme verpflichtet ist, stellt das viele Kommu-
nen – ich denke insbesondere an Rosenheim, an Passau,
aber auch an Hamburg – vor große Probleme . Insbeson-
dere die vorgenannten Einreiseknotenpunkte haben ihre
Kapazitätsgrenzen erreicht .

Es stellt sich nun die Frage, ob ein überlastetes Ju-
gendamt im Grenzbereich besser für die Betreuung der
Jugendlichen geeignet ist als ein Jugendamt im Lan-
desinneren, wo freie Kapazitäten sind und man sich
mit Engagement, mit Verve und mit Leidenschaft bes-
ser um die Jugendlichen kümmern kann . So ist die Zahl
der unbegleiteten minderjährigen Ausländer, die nach
Deutschland gekommen sind, seit 2010 um 133 Prozent
gestiegen . In Anbetracht der aktuellen Lage müssen wir
diesbezüglich mit einem weiteren Anstieg der Zahlen
rechnen .

In Bayern befanden sich mit über 10 000 Minderjäh-
rigen derart viele unbegleitete Kinder und Jugendliche in
der Obhut der bayerischen Jugendämter, dass teilweise
eine dem Kindeswohl entsprechende Unterbringung,
Versorgung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen
nicht mehr ausreichend gewährleistet werden kann . Aber
gerade dies, meine sehr geehrten Damen und Herren,
muss sichergestellt werden . Auch wenn ich aus Bayern
komme, will ich dem Freistaat Bayern ganz bewusst dan-
ken, dass man es in diesem Jahr geschafft hat, dass man
in Vorleistung getreten ist in der Erwartung, dass es ei-
nen vernünftigen finanziellen Kompromiss als Ausgleich
durch den Bund geben wird . Das ist ja auch nicht selbst-
verständlich . Bayern hat vieles geleistet . Herzlichen
Dank an die Jugendämter, die in den letzten Monaten
besonders betroffen waren .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg . Norbert Müller Meine Damen und Herren, nicht nur nach den Vereinbarungen der UN-Kinderrechtskonvention, sondern auch nach unserem christlichen und humanitären Menschenbild müssen wir eine den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen angepasste Betreuung sicherstellen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir erreichen, dass Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern vor Krieg und Vertreibung aus ihren Heimatländern fliehen, bei uns die bedarfsgerechte Versorgung und Betreuung erhalten, die sie benötigen . Durch die Einführung einer gesetzlichen bundesweiten Aufnahmepflicht der Länder soll eine am besonderen Schutzbedürfnis und Kindeswohl der einreisenden Kinder und Jugendlichen ausgerichtete Versorgung sichergestellt werden . Die angesprochene Aufnahmequote – darauf wurde bereits hingewiesen – orientiert sich am sogenannten Königsteiner Schlüssel – also nicht Königsberger Schlüssel, wie hier schon gesagt wurde – und wird durch einige Kindeswohlgesichtspunkte ergänzt, wie zum Beispiel möglichst auf einen Abschluss des Verteilungsverfahrens innerhalb von 14 Werktagen hinzuwirken, die Überführung zum Jugendamt durch eine geeignete Begleitperson durchzuführen oder einen Ausschluss des Verteilungsverfahrens vorzusehen, sofern der Gesundheitszustand des Minderjährigen dies nicht zulässt oder das Kindeswohl hierdurch gefährdet wäre . Zudem werden etwaige soziale Bindungen bei einer eventuellen Verteilung berücksichtigt, das heißt beispielsweise familiäre Beziehungen . Wir wollen ganz bewusst den Jugendlichen dahin schicken, wo der Onkel, die Tante oder ein Familienangehöriger bereits Unterkunft gefunden hat . Meine Damen und Herren, es wird eine Querschnittsaufgabe . In meinem vorbereiteten Redebeitrag hätte ich dazu noch einiges auszuführen . Meine Zeit neigt sich abermals sehr schnell dem Ende zu . Ich bekomme auch keine Zwischenfragen mehr von Ihnen, Herr Müller, und leider auch nicht von Frau Dörner . Deshalb darf ich darauf hinweisen: Wir müssen aufpassen, dass wir die Kinder und Jugendlichen, die bei uns sind, angefangen von der Kita über die schulische Ausbildung, die Berufsausbildung bis in das Berufsleben, begleiten, dass wir ihrem Leben einen Sinn geben, wenn sie schon bei uns sind . Vor kurzem habe ich bei einer Glasspezialfirma in meinem Wahlkreis erlebt, mit welchem Stolz zwei afghanische Praktikanten Elektroteile zusammengeschraubt haben . Das hat mich beeindruckt . Wir haben hier Potenziale. Wir sind aber verpflichtet, es richtig zu machen . Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten . Liebe Opposition, Sie brechen sich nichts ab, wenn Sie das Gesetz auch einmal loben würden . Herzlichen Dank . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812506500

Vielen Dank . – Der Kollege Lehrieder hat schon da-

rauf hingewiesen, dass er der letzte Redner zu diesem

Paul Lehrieder






(A) (C)



(B) (D)


Tagesordnungspunkt war . Damit sind wir am Schluss der
Aussprache .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/5921 und 18/5932 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . –
Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind . Dann sind
die Überweisungen so beschlossen .

Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 23 b:

– Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Luise Amtsberg, Kordula
Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Psychotherapeutische und psychosoziale Ver-
sorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen
verbessern

Drucksache 18/6067
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich sehe, Sie
sind damit einverstanden .

Dann eröffne ich die Aussprache . Das Wort hat die
Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grü-
nen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Frau Vorsitzende! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Wir diskutieren heute zum zweiten Mal über die
Situation von Flüchtlingen . Zu jungen Menschen auf der
Flucht haben wir gerade eben viel gehört . Wir alle wis-
sen, dass es darauf ankommt und dass es auch eine unse-
rer größten humanitären Pflichten ist, dass wir Flüchtlin-
gen zuallererst den Schutz gewähren, den sie brauchen,
ihnen Sicherheit geben, ihnen medizinische Versorgung
und auch psychotherapeutische Versorgung zukommen
lassen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist sehr deutlich geworden, dass da, gerade was die Si-
tuation der unbegleiteten Jugendlichen anbelangt, großer
Handlungsbedarf besteht .

Insgesamt müssen wir davon ausgehen, dass circa
40 Prozent aller Flüchtlinge, die hierhergekommen sind,
mit schweren posttraumatischen Belastungsstörungen zu
kämpfen haben, 20 Prozent mit sehr schweren und ein-
schränkenden Belastungsstörungen, dass 40 Prozent der
Kinder, die hierhergekommen sind, psychisch auffällig
und wiederum 20 Prozent schwer traumatisiert sind . Das
alles bedeutet: Es ist eine große Herausforderung, da die
wirklich passende Hilfe bereitzustellen, die die betroffe-
nen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen brauchen . –
Das wollte ich vorausschicken .

Wir müssen sagen: Da waren wir auch schon in der
Vergangenheit nicht besonders gut . Schon vor der großen

Flüchtlingswelle gab es deutliche Defizite in der psy-
chotherapeutischen und psychosozialen Versorgung von
Flüchtlingen und Flüchtlingskindern hier in Deutsch-
land . Das müssen wir erst einmal festhalten und es jetzt
als ganz klaren Auftrag verstehen, die Situation wirklich
zu verbessern .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen diese Aufgabe nicht nur aus humanitären
Gründen annehmen; wir sind es auch unserer Bevölke-
rung insgesamt schuldig . Auf der einen Seite geht es um
enorm viel ehrenamtliches Engagement im Rahmen der
Begleitung von betroffenen Flüchtlingen bei dem Ver-
such, die neue Situation zu bewältigen und den Weg in
unsere Gesellschaft hinzubekommen . Auf der anderen
Seite dürfen wir nicht zulassen, dass eine Konkurrenz
entsteht zwischen denen aus der deutschen Bevölkerung,
die nach Versorgung suchen, und denen, die notfallge-
trieben unser System brauchen, die Versorgung, Unter-
stützung und medizinische Hilfe brauchen . Deshalb müs-
sen wir handeln .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Unser Antrag geht zwar auf bestehende Defizite zu-
rück, die schon vor der Flüchtlingswelle bekannt waren;
aber er hat jetzt natürlich eine besondere Brisanz erhal-
ten .

Ich muss sagen: Der Asylkompromiss von gestern
Abend beinhaltet zwar einen Teilbereich dessen, was hier
nötig ist, nämlich die Sonderermächtigung von Psycho-
therapeuten für die Versorgung von besonders Schutzbe-
dürftigen; aber Sie sollten noch einmal genau hinschau-
en . Das, was jetzt vorliegt, springt zu kurz .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir werden mehr machen müssen . Es darf nicht sein,
dass wir unsere Hilfe nur auf diejenigen beschränken,
die länger als 15 Monate in Deutschland sind und eine
sichere Bleibeperspektive haben . Vielmehr müssen wir
alle einbeziehen, die akuten und absehbaren Bedarf ha-
ben, damit auf der einen Seite keine Chronifizierung und
auf der anderen Seite keine schwerwiegenden, auf einem
Trauma basierenden Erkrankungen entstehen . Sonst wer-
den die Menschen später in der Notfallambulanz einer
Psychiatrie oder eines Uniklinikums landen, weil im Vor-
feld nicht genug getan worden ist . Da müssen wir gegen-
steuern .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Eine besondere Aufgabe ist die Finanzierung der psy-
chosozialen Zentren für Folteropfer und Traumatisierte .
Es gibt circa 33 solcher Einrichtungen hier in Deutsch-
land. Die meisten arbeiten hauptsächlich spendenfinan-
ziert . Nur zu einem kleinen Teil werden sie durch Bund,
Länder oder Kommunen finanziert. Diese Zentren sind
derzeit die Hauptanlaufstellen für die betroffenen Perso-
nengruppen . Deshalb müssen wir bei der Finanzierung

Vizepräsidentin Ulla Schmidt






(A) (C)



(B) (D)


nachsteuern . Es kann nicht sein, dass ein so überaus
wichtiges Angebot von Spendenaufkommen abhängig
ist . Hier müssen wir umsteuern .

Sie müssen für eine regelhafte Finanzierung dieser
Zentren sorgen, damit diese ihrer übergreifenden Arbeit
nachkommen können . Gerade dort wird besondere Ar-
beit geleistet . Dort gibt es Fachleute für den Umgang mit
dieser besonderen Art der Traumatisierung . Sie kennen
die psychosoziale Situation der Flüchtlinge . Deshalb ist
es wichtig, diese völlig unterfinanzierten Zentren in den
Blick zu nehmen und dafür zu sorgen, dass sie auf Dau-
er bestehen und ihrer wichtigen Aufgabe nachkommen
können .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zum Schluss möchte ich folgenden Punkt ansprechen:
In Ihrer Vereinbarung von gestern Abend steht, dass die
Eingrenzung der Leistungen gemäß §§ 4 und 6 des Asyl-
bewerberleistungsgesetzes bestehen bleibt . Ich bitte Sie:
Schauen Sie sich einmal an, was das eigentlich heißt . Es
liegt eine Studie vor, die deutlich zeigt: Die Regelversor-
gung ist preiswerter und besser . Wir müssen die verrück-
te Unterscheidung aufgeben nach Flüchtlingen, die in
Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht sind, Flücht-
lingen, die – nach der neuen Richtlinie – nach einem hal-
ben Jahr in einen Zwischenbereich fallen, wo sie über die
Kommunen versorgt werden müssen, und Flüchtlingen,
die nach 15 Monaten in die Regelversorgung aufgenom-
men werden . Überdenken Sie Ihre Position! Überlegen
Sie sich: Was bedeutet das an bürokratischem Aufwand,
an Intransparenz und Leistungseinbrüchen? Das können
wir uns gerade in Anbetracht der großen Flüchtlingszah-
len nicht mehr erlauben .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In unserem Antrag schlagen wir eine Möglichkeit vor,
wie mit diesem Problem umgegangen werden könnte;
unabhängig von dem gesamten Asylpaket, das in den
nächsten zwei Wochen geschnürt werden soll . Bitte über-
denken Sie noch einmal die Situation, die wir zu stem-
men haben . Zeigen Sie sich offen, und gehen Sie konst-
ruktiv mit unseren Vorschlägen um .

Danke schön .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812506600

Vielen Dank . – Als Nächste hat Ute Bertram, CDU/

CSU-Fraktion, das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ute Bertram (CDU):
Rede ID: ID1812506700

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Wir alle sind sehr berührt von den Flüchtlingsströmen,
die aus Syrien, dem Irak und auch aus Afrika, vor allem
aus Eritrea, zu uns kommen . 70 Jahre nach Ende des
Zweiten Weltkrieges, der Flucht und Vertreibung in bis
dahin unvorstellbarer Größe hervorgebracht hat, wird die
Erinnerung an diese katastrophalen Zeiten gleichsam ak-

tualisiert . Wir stehen als Bundesrepublik Deutschland in
der Pflicht, die gegenwärtigen Zustände zu bewältigen.
Was da noch auf uns zukommt, können wir bestenfalls
erahnen .

Unser ganzes Staatswesen ist gefordert: Bund, Länder
und Kommunen; aber das reicht noch nicht . Wir benöti-
gen die Hilfe aus allen Ecken der Gesellschaft: von der
professionellen Unterstützung bewährter Großorganisa-
tionen wie dem Deutschen Roten Kreuz und dem Tech-
nischen Hilfswerk bis hin zur nachbarschaftlichen Hilfe .

Die Flüchtlinge haben Schlimmes erlebt . Oft sind sie
geradezu der Hölle entronnen . Da stellt sich nicht nur
die Frage nach Essen, Trinken und Unterkunft, sondern
da stellen sich auch diese Fragen: Wie verwundet sind
ihre Seelen? Wie verarbeiten diese Menschen das Erleb-
te? Und vor allem: Wie groß ist überhaupt der Bedarf an
einer medizinischen und psychotherapeutischen Versor-
gung? Und: Was kann tatsächlich geleistet werden?

Die Bundespsychotherapeutenkammer hat hierzu
vor wenigen Tagen einige Zahlen veröffentlicht, die zu-
mindest erahnen lassen, mit welchen Dimensionen des
Schreckens wir es zu tun haben . So sind 70 Prozent der
nun hier lebenden Erwachsenen und 41 Prozent der Kin-
der und Jugendlichen in ihren Heimatländern oder auf
der Flucht Zeugen von Gewalt geworden . 55 Prozent
der Erwachsenen haben selbst Gewalt erfahren, bei den
Kindern sind es 15 Prozent . Folter haben 43 Prozent
der Erwachsenen erlitten . Von Gefangenschaft waren
35 Prozent der Erwachsenen betroffen . 20 Prozent der
Erwachsenen waren Opfer von Vergewaltigungen, erlit-
ten sexuellen Missbrauch . 5 Prozent der Kinder waren
ebenfalls davon betroffen .

In Deutschland werden momentan bis zu 4 000 Flücht-
linge in psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Fol-
teropfer behandelt . Bundesweit gibt es 23 dieser Zentren,
in denen etwa 130 Psychotherapeuten arbeiten . Allein
im Berliner Zentrum wird die Betreuung in 22 Sprachen
abgedeckt . Der Arbeit, die hier geleistet wird, zolle ich
meine Hochachtung und meinen Respekt .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die in diesen psychosozialen Zentren arbeitenden
Therapeuten sind geradezu massenweise konfrontiert mit
der sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung,
deren Symptome sich in Albträumen, Konzentrations-
störungen, Schreckhaftigkeit und emotionaler Taubheit
äußern . Zu den Symptomen gehören auch sogenannte
Flashbacks, in denen sich Angstzustände, bis zur To-
desangst, zeigen, wenn schmerzliche Erinnerungen
wach werden . Nicht zuletzt sind Depressionen unter den
Flüchtlingen weit verbreitet . Unsere besondere Aufmerk-
samkeit muss der schnellen und konsequenten Behand-
lung und Betreuung von Kindern gelten; denn hier be-
steht in erhöhtem Maße die Gefahr einer Chronifizierung
von traumabedingten Störungen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Maria Klein-Schmeink






(A) (C)



(B) (D)


Die Bundespsychotherapeutenkammer schätzt, dass
mindestens jeder zweite Flüchtling unter einer psychi-
schen Störung leidet . Sollte sich bewahrheiten, dass in
2015 fast 800 000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen,
hätten wir einen Personenkreis von 400 000 Flüchtlingen,
der zumindest aus der Perspektive der Bundespsychothe-
rapeutenkammer psychotherapeutisch zu versorgen wäre .
Aus dem Bereich der Ärztlichen Psychotherapeuten ist
demgegenüber zu hören, dass bei Flüchtlingen Depressi-
onen keineswegs häufiger auftreten als in Gesellschaften
in Friedenszeiten . Wie dem auch sei, eine grundsätzliche
Tatsache kann weder geleugnet noch kurzfristig behoben
werden: In der jetzigen Situation, die durch eine anhal-
tend steigende Flüchtlingszahl gekennzeichnet ist, kann
auch die psychiatrische Versorgung zunächst nur eine
Akutversorgung sein .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum?)


Wir wissen nicht, ob, wie lange und in welchem
Ausmaß der Zustrom der Flüchtlinge anhalten wird; da
müssen wir uns alle ehrlich machen . Ich halte es deshalb
für nicht angebracht, wenn Berufsverbände der Psycho-
therapeuten die jetzige Situation zum Anlass nehmen,
eine Debatte über die allgemeine psychotherapeutische
Versorgungslage loszutreten . Darüber haben wir schon
vor der Sommerpause im Zusammenhang mit dem
GKV-Versorgungsstrukturgesetz ausgiebig diskutiert .
Wir wissen alle, dass es keinen Mangel an ausgebildeten
Psychotherapeuten gibt . Es gibt hinsichtlich der Versor-
gung aber bekanntlich eine ungleiche Verteilung, die zu
überversorgten und unterversorgten Regionen geführt
hat . Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle, dessen tiefere Ur-
sache in der demografischen Entwicklung liegt. Dieser
strukturellen Problemlage stellen wir uns, aber bitte nicht
im Zusammenhang mit der Akutversorgung von Flücht-
lingen .

Ich hätte es übrigens begrüßt, wenn Berufsverbände
der Psychotherapeuten an ihre Mitglieder appelliert hät-
ten, sich für die Versorgung von Flüchtlingen unbürokra-
tisch zur Verfügung zu stellen . Die entsprechende Erklä-
rung der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung von
gestern, dass die Zahnärzteschaft zu einer schnellen und
unbürokratischen Versorgung der zahlreichen Flüchtlin-
ge bereit ist, hat mir jedenfalls sehr gefallen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Flüchtlinge werden,
sobald sie sich 15 Monate in Deutschland aufhalten, im
Krankheitsfall über das System der gesetzlichen Kran-
kenversicherung versorgt . Nun wird kritisiert, dass in
diesem System nicht genügend Ärzte und Psychothera-
peuten für die psychiatrische bzw . psychotherapeutische
Behandlung besonders schutzbedürftiger und traumati-
sierter Flüchtlinge zur Verfügung stehen .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt ja auch!)


Eine begonnene Versorgung durch die Therapeuten in
den psychosozialen Zentren könne nicht fortgesetzt wer-
den, wenn diese Therapeuten keine Kassenzulassung be-
säßen. Diese Situation ist häufig gegeben, weil in vielen

NGOs ausgebildete Psychotherapeuten beschäftigt sind,
die aber keine Kassenzulassung haben .

In der Tat ist es ein grundsätzliches Problem, wenn im
Laufe einer psychotherapeutischen Versorgung der The-
rapeut gewechselt werden muss . Dies gefährdet oft den
bis dahin erreichten Behandlungserfolg und ist deshalb
nach Möglichkeit zu vermeiden .

Deshalb begrüßt meine Fraktion die Absicht der Bun-
desregierung, dem Problem durch eine Änderung der
Zulassungsverordnung für Vertragsärzte der GKV abzu-
helfen und eine bruchlose Versorgung zu sichern, wenn
nach 15 Monaten Leistungen nach dem GKV-Katalog
anstehen . Dies soll dadurch geschehen, dass die Zulas-
sungsausschüsse verpflichtet werden, Ärzte, Psychothe-
rapeuten und Einrichtungen wie die psychosozialen Zen-
tren auf Antrag zu ermächtigen, einen eingeschränkten,
besonders schutzbedürftigen Personenkreis psychothe-
rapeutisch und psychiatrisch zu versorgen . Dieser Per-
sonenkreis soll beschränkt sein auf Empfänger laufender
Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes,
die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere For-
men psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlit-
ten haben . Auf diese Weise können begonnene Therapien
der Akutversorgung von den behandelnden Therapeuten
auch dann fortgesetzt werden, wenn sie bislang nicht zu-
gelassen worden sind . So wird die Kontinuität der Be-
handlung gewährleistet .

Damit stellt sich die Bundesregierung auch ihrer Ver-
antwortung aus Artikel 19 der EU-Aufnahmerichtlinie,
der eine psychologische Behandlung in besonderer Wei-
se einfordert . Nebenbei kommt diese Regelung auch der
allgemeinen vertragsärztlichen und vertragspsychothe-
rapeutischen Versorgung der Versicherten in der GKV
zugute; denn die regulär im GKV-System tätigen Leis-
tungserbringer werden nicht angezapft .

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Akutver-
sorgung von Flüchtlingen ist schon für sich genommen
eine außerordentliche Herausforderung für alle Beteilig-
ten . Hinzu kommen die sprachlichen Hürden und kultu-
rellen Barrieren .

Bei der Kommunikation stellt sich zunächst die quan-
titative Frage nach Dolmetschern . Vielfach wird es auch
notwendig sein, auf eine Drittsprache – vielleicht Spa-
nisch, Englisch oder Französisch – auszuweichen . Dabei
besteht naturgemäß das permanente Risiko von Missver-
ständnissen .

Vor allem aber besteht in einer psychotherapeutischen
Behandlung fremdsprachiger Flüchtlinge das grund-
legende Problem, dass es sich bei einem Dolmetscher
immer um eine dritte Person handelt . Ob und inwieweit
diese als Vertrauensperson von Patient und Therapeut
anerkannt wird, kann sich immer nur von Fall zu Fall
erweisen . Das gilt oft auch dann, wenn Sprachmittler Fa-
milienangehörige sind .

Auch die bereits erwähnten kulturellen Barrieren
dürfen nicht unterschätzt werden . Die Offenlegung per-
sönlichster Gedanken und Empfindungen als Opfer von
Gewalt gegenüber einem Therapeuten, der zugleich ein
Unbekannter, ein Fremder ist, stellt schon für sich ge-

Ute Bertram






(A) (C)



(B) (D)


nommen eine Hürde dar, die nicht jeder Mensch über-
winden kann oder will . Dies gilt umso mehr für Men-
schen aus einem Kulturkreis, in dem die Offenlegung
von persönlichen oder intimen Darstellungen weitgehend
tabuisiert ist .


(Abg . Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812506800

Frau Kollegin, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu

kommen .


Ute Bertram (CDU):
Rede ID: ID1812506900

Ja . Ich bin gleich beim Schluss .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812507000

Nach Ablauf der Redezeit ist keine Zwischenfrage

mehr erlaubt .


Ute Bertram (CDU):
Rede ID: ID1812507100

Ich will mit diesen Hinweisen auf keinen Fall den

Eindruck erwecken, die anstehenden Aufgaben für eine
psychotherapeutische Betreuung der Flüchtlinge könnten
nicht bewältigt werden . Sie können bewältigt werden,
wenn es uns gelingt, die hierfür vorhandenen Kräfte ko-
ordiniert und möglichst frei von bürokratischen Hemm-
nissen einzusetzen . Dazu müssen die Stellen von Bund,
Ländern und Kommunen sowie die gesellschaftlichen
Ressourcen engagiert zusammenarbeiten und neben den
anerkannten Kompetenzen beim Organisieren auch die
Tugend der Improvisation reichlich bedienen .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812507200

Frau Kollegin Bertram, das geht jetzt zulasten der Re-

dezeit Ihrer Kollegin .


(Emmi Zeulner [CDU/CSU]: Das ist okay!)



Ute Bertram (CDU):
Rede ID: ID1812507300

Jetzt ist die Zeit zupackenden Helfens . Wir werden

daraus lernen können . Darüber diskutieren wir danach .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812507400

Vielen Dank . – Als Nächste hat Kathrin Vogler, Frak-

tion Die Linke, das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812507500

Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Gäste oben auf der Tribüne! Ges-
tern hat die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsiden-
ten der Länder eine Vereinbarung zur Gesundheitskarte
für Flüchtlinge getroffen . Wir als Linke begrüßen sehr,
dass sie eingeführt wird . Dazu haben wir ja hier im Haus

schon vor drei Monaten einen Antrag eingebracht . Leider
kommt sie zu spät und vor allem nicht überall . Denn es
gibt gerade in der Union noch Leute, denen sogar das zu
viel ist . Ich zitiere:

Hätte jeder Asylbewerber Anspruch auf eine solche
Karte, würde dies eine fatale Sogwirkung vor allem
auf dem Westbalkan haben .

Das meint Georg Nüßlein, stellvertretender Vorsitzender
der Unionsfraktion, laut Handelsblatt .


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Recht hat er!)


Weiter meint er:

Die Gesundheitskarte steht im Ausland für die gute
Gesundheitsversorgung in Deutschland . Es besteht
mithin die Gefahr, dass Menschen sich nur deswe-
gen nach Deutschland auf den Weg machen .


(Karin Binder [DIE LINKE]: So ein Unsinn!)


Da kann man doch nur sagen: Ja, geht es noch? Das ist
zynisch, absurd, unsinnig .


(Beifall bei der LINKEN – Emmi Zeulner [CDU/CSU]: So ein Schmarrn!)


Die Bundeskanzlerin hat gestern in ihrer Regierungs-
erklärung erstaunlich klar über Fluchtursachen gespro-
chen . Man konnte in ihren Worten sogar so etwas wie
menschliches Mitgefühl für die Flüchtlinge aus Eritrea
und Syrien hören . Vielleicht ist ja die Kanzlerin in der
Lage, ihren Fraktionskollegen zu erklären, dass diese
Menschen, die alles aufgeben, die Haus und Hof verlas-
sen, die ihre Eltern verlassen, die ihr Leben riskieren, um
es zu retten, ganz bestimmt nicht nach Deutschland kom-
men, um sich in Günzburg in einer Arztpraxis anzustel-
len . Es wäre wirklich zu wünschen, dass der Kanzlerin
dies gelingt .


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Dr . Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch Herr Dr . Nüßlein weiß es besser . In demselben
Artikel gibt er zu, dass Asylbewerber und Flüchtlinge
auch mit der Karte noch lange nicht vollen Zugang zu
unserem Gesundheitssystem haben .

Es ist doch so: Bislang muss ein Flüchtling in unserem
Land zunächst ins Rathaus laufen und dort einem Sach-
bearbeiter oder einer Sachbearbeiterin seine Beschwer-
den schildern . Dieser Mensch, meistens ohne medizini-
sche Ausbildung, entscheidet dann, ob der Kranke einen
Behandlungsschein erhält und zum Arzt gehen darf . Die
Kosten für die Behandlung übernimmt dann die Kom-
mune, allerdings nur für akute, lebensbedrohliche und
schmerzhafte Erkrankungen sowie für Impfungen und
Schwangerschaftsvorsorge .

Stellen wir uns das einmal praktisch vor . Der sieben-
jährige Achmed A . aus Syrien bekommt am Freitagmit-
tag schlimmes Zahnweh . Leider hat das Sozialamt schon
geschlossen . Bis zum Montagmorgen bekommt das Kind
also keinen Behandlungsschein . Ein Wochenende mit

Ute Bertram






(A) (C)



(B) (D)


einem weinenden Kind in einer Flüchtlingsunterkunft –
dafür, dass das so bleibt, kämpft die CSU . Na sauber!


(Emmi Zeulner [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)


Brigitte B . aus Nigeria leidet an Bluthochdruck . Das
ist weder schmerzhaft noch akut lebensbedrohlich . Der
Beamte hält daher die Ausstellung eines Behandlungs-
scheins für unnötig . Das Risiko, dass die Frau einen
Schlaganfall bekommt, ist ihm nicht bewusst .

Schon aus diesen Beispielen wird deutlich, dass es
notwendig ist, dass jeder kranke Mensch unmittelbar
zum Arzt gehen kann . Nur Ärztinnen und Ärzte können
beurteilen, ob eine Erkrankung behandlungsbedürftig
ist . Dafür sind sie ausgebildet . Für die Kommunen ist
die Karte angesichts wachsender Flüchtlingszahlen eine
Erleichterung . Denn bei mehr Flüchtlingen müssten sie
auch mehr Scheine ausstellen . Deswegen unterstützt
die Linke alle Bemühungen, die Gesundheitskarte für
Flüchtlinge flächendeckend einzuführen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir sagen aber auch: Die Kosten dafür muss der Bund
übernehmen,


(Zurufe von der CDU/CSU: Ach!)


und keinesfalls dürfen sie den Versicherten in der gesetz-
lichen Krankenversicherung durch die Hintertür aufge-
bürdet werden .


(Beifall bei der LINKEN – Ute Bertram [CDU/CSU]: Aber das ist doch nicht das Problem der psychotherapeutischen Versorgung!)


Außerdem verlangt die Linke, das Menschenrecht
auf Gesundheit auch für Flüchtlinge und Asylbewerber
umzusetzen . Denn wenn jemand eine chronische oder
psychische Erkrankung hat, dann muss diese ebenso be-
handelt werden wie ein akuter Schmerz, und zwar unab-
hängig vom Aufenthaltsstatus .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Alles andere verstößt unserer Auffassung nach gegen die
Menschenrechte, gegen die Prinzipien der Humanität
und gegen die medizinische Ethik .

Ich freue mich, dass auch die Grünen genau dies in
ihrem Antrag fordern, darüber hinaus weitere diskussi-
onswürdige Vorschläge machen, etwa zu Dolmetscher-
diensten, zur psychotherapeutischen Versorgung, zur
Stärkung der Strukturen in der psychosozialen Betreuung
usw . usf ., und sich auch mit der Frage der traumatisierten
Kinder in Flüchtlingsunterkünften auseinandersetzen .

Ich finde, in den Beratungen über die Anträge, die im
Ausschuss anstehen, sollten wir gemeinsam versuchen,
die Union wieder auf den Boden der Menschlichkeit und
der christlichen Nächstenliebe zurückzuholen . Darauf
freue ich mich .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812507600

Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Hilde

Mattheis das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1812507700

Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Ja, Zahlen sind hier schon viele genannt worden .
800 000 bis 1 Million Menschen suchen bei uns Schutz,
Unterkunft und auch gesundheitliche Versorgung . Hinter
jeder Zahl steht ein Mensch, mit all seinen Ängsten, mit
all seinen Bedürfnissen und vor allen Dingen auch mit
der Hoffnung, hier bei uns gut unterzukommen und Hilfe
zu bekommen .

Viele Ehrenamtliche leisten diese Hilfe . Ich bin froh,
dass wir durch die Einigung von gestern Abend auch im
Gesundheitsbereich einige Maßnahmen auf den Weg
bringen, die ich „Basisvereinbarungen“ nenne, Basisver-
einbarungen, bei denen wir – neben den Problemen der
Erstunterkunft und der weiteren Unterkünfte, den Ver-
sorgungsnöten wie ausreichend Essen, ausreichend Klei-
dung und Bewegungsmöglichkeiten – auch den wich-
tigen Punkt der gesundheitlichen Versorgung im Blick
haben . Diesen Blick, der sich in vier Punkten zusammen-
fassen lässt, möchte ich gerne beleuchten .

Als ersten Punkt will ich die Gesundheitskarte anspre-
chen. Ich finde, dazu ist schon einiges Richtiges gesagt
worden . Die Gesundheitskarte ist ein Instrument, das
Zugänge erleichtert, nicht Leistungen ausweitet . Lassen
Sie uns die Gesundheitskarte also nicht als Instrument
missbrauchen, um irgendwelche Aggressionen zu schü-
ren, sondern sie als das gebrauchen, was sie tatsächlich
ist . Sie ermöglicht ohne Bürokratie niedrigschwellige
Zugänge zu einem Leistungssystem, das nach dem Asyl-
bewerberleistungsgesetz klare Leistungsansprüche um-
reißt .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das kann man gut oder schlecht finden; aber sie ist ein
Instrument . Von daher, glaube ich, sollten wir uns hier ei-
nig sein: Wir begrüßen das Instrument der Gesundheits-
karte und sagen: Ja, in den Fällen, die Sie, Frau Vogler,
gerade beschrieben haben, muss es möglich sein, diese
niedrigschwelligen Zugänge zu ermöglichen . – Das ist
der erste Punkt .


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt betrifft die Ausweitung der Schutz-
impfungen . Wir haben erlebt, dass im letzten Winter die
Masern ausgebrochen sind . Daher brauchen wir geeigne-
te Möglichkeiten, um die Impfquote zu erhöhen . In der
Umsetzung wird sich zeigen, wo wir weitere Hilfestel-
lung leisten müssen .

Der dritte wichtige Punkt ist: Lasst uns, bitte schön,
all diejenigen, die eine Qualifikation im Gesundheits-
bereich haben und bereits in ihrem Herkunftsland aktiv
einen entsprechenden Beruf ausgeübt haben, auch hier
bei uns einspannen . Wir sollten diese Menschen bitten,

Kathrin Vogler






(A) (C)



(B) (D)


bei uns Hilfe zu leisten, damit wir keine Dolmetscher-
probleme haben und wir eine Unterstützung bekommen,
was den direkten kulturellen Zugang anbelangt . Das fän-
de ich gut . Vielleicht sollte man das sogar ausweiten . An
den Universitäten gibt es ja viele Arabisch sprechende
Studierende . Vielleicht besteht die Möglichkeit, auch sie
einzubeziehen .Auch auf dieser Seite gibt es ein großes
ehrenamtliches Engagement .

Sie heben In Ihrem Antrag einen vierten Punkt heraus,
der uns natürlich alle beschäftigt: Ja, es gibt keine Tei-
lung von Körper und Seele . Die Menschen kommen mit
körperlichen, aber auch mit seelischen Problemen zu uns .
Hier denken wir natürlich insbesondere an die Kinder
und Minderjährigen, die unsere Unterstützung brauchen .
Dabei sollten wir uns auf den Sach- und Fachverstand
der Psychotherapeuten und Psychiater verlassen, die uns
Vorschläge gemacht haben, und zwar auch über die Kas-
senzulassung hinaus .

Wir alle haben sicherlich in gewisser Weise Kontakt
zu den entsprechenden Zentren – ich selbst bin Mitglied
im Förderverein des Behandlungszentrums für Folterop-
fer Ulm – und wissen, welch wichtige Arbeit sie leisten .
Sie sind für die Bewältigung der vor uns stehenden Her-
ausforderungen ein wichtiger und zentraler Baustein . Da
es aber nur circa 24 dieser Zentren gibt, erreichen sie wo-
möglich nicht alle Flüchtlinge . Deswegen ist es wichtig,
auch die Angebote der Kammern anzunehmen, die uns
vorschlagen: Lasst uns doch ein E-Learning-Programm
auflegen, mit dem wir Ehrenamtliche schulen, sodass sie
psychische Probleme erkennen, wenn sie vorliegen . –
Die 2 Millionen Euro, die dafür aufzuwenden sind, sind
angesichts der vorhandenen Problematik sicher als über-
schaubar zu bewerten . Die Kammern schlagen auch vor:
Lasst uns wesentlich stärker eine Therapieform anwen-
den, die die Menschen nicht über Sprache, sondern über
Augenbewegungen erreicht . – Das kann man in dieser
Phase für die Problembewältigung sicherlich aufgreifen .

All das muss nun gebündelt und organisiert werden .
Uns als SPD beschäftigt dies sehr stark, weil wir den
Bereich der Gesundheit als sehr wichtig für die Befind-
lichkeit, den Austausch und die Integration der Men-
schen in unsere Gesellschaft ansehen . Wir wollen, dass
die Organisation über die Taskforce etwas konzentrierter
gestaltet wird . Man darf sich zum Beispiel bei der Lö-
sung der Problematik, woher man fahrbare Röntgenge-
räte für den Einsatz in den Ländern bekommt, nicht auf
Privatinitiativen verlassen; das muss vielmehr zentral
gesteuert werden . Deshalb haben wir den Anspruch an
die Bundesebene, auch an das Bundesinnenministerium,
dass die Taskforce des Bundes diese Dinge ein Stück
weit stärker und zentraler organisiert . Daneben müssen
die Taskforces der Länder für die Weitergabe an die ent-
sprechenden Stellen sorgen; denn das Ehrenamt muss
unterstützt werden . Wir müssen auf politischer Ebene
für die entsprechende Organisation und die notwendigen
Rahmenbedingungen sorgen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812507800

Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt Emmi Zeulner .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Emmi Zeulner (CSU):
Rede ID: ID1812507900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Menschen in unserem Land fordern zu
Recht Antworten vonseiten der Politik auf die aktuellen
Entwicklungen . Für mich ist dabei das Wichtigste, dass
die Politik die Realitäten anerkennt . Selbstverständlich
hat jede Opposition das Recht, in ihren Anträgen Maxi-
malforderungen zu formulieren; aber die Parteien, die in
politischer Verantwortung stehen, müssen sich an den
Realitäten messen lassen . Für mich ist Fakt, dass es für
Deutschland in Bezug auf den Zustrom von Flüchtlingen
eine Belastungsobergrenze gibt, und ich bitte, das auch
anzuerkennen . Fakt ist auch, dass die Landratsämter und
die Polizei in unserem Land nicht erst gestern an ihre Be-
lastungsgrenze gestoßen sind .


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du meine Güte!)


Fakt ist weiterhin, dass die Ehrenamtlichen alles ge-
ben; aber auch sie sind keine unerschöpfliche Ressour-
ce . Wenn Flüchtlinge verteilt werden, geschieht es nicht
selten – wie bei uns in Bayern, in München –, dass der
eigentlich für 15 Uhr angekündigte Bus mit hundert
Flüchtlingen erst zu später Stunde in der Nacht eintrifft
oder dass der Bus plötzlich da ist und das Rote Kreuz
sehr schnell reagieren muss . Die Ehrenamtlichen, die
versuchen, diese Aufgabe zu bewältigen, haben aber auch
noch einen Beruf, dem sie nachgehen müssen . Ein Kran-
kenpfleger, der ehrenamtlich beim Roten Kreuz arbeitet,
hat bis spät in die Nacht hinein Flüchtlinge zu untersu-
chen . Trotzdem muss er um 5 Uhr in der Früh aufstehen
und im Krankenhaus arbeiten . Deswegen stellt sich für
mich die Frage: Wie lange können wir diese Solidarität
strapazieren?


(Mechthild Rawert [SPD]: Durch eine bessere Organisation!)


Wir haben aktuell die Situation – es ist mir wichtig, das
zu schildern –, dass ein Flüchtling mit Krätze schnell zu
behandeln ist . Er wird in der Praxis geduscht, eingecremt
und für einen Tag isoliert . Wenn jetzt aber der Winter
kommt, werden die Erstuntersuchungen andere Krank-
heitsbilder ergeben .


(Hilde Mattheis [SPD]: Ja, Taskforce!)


Das ist für unser System wirklich eine sehr große Her-
ausforderung .

Ich bin überzeugt, dass wir das schaffen können . Es
wird aber nicht so reibungslos vonstattengehen, wie sich
das manche vielleicht vorstellen . Bereits jetzt ist es so,
dass wir in vielen Bereichen Abstriche machen, auch was
die innere Sicherheit angeht . Da machen wir Kompro-
misse .


(Hilde Mattheis [SPD]: Welche?)


Hilde Mattheis






(A) (C)



(B) (D)


Es ist mir aber wichtig, zu sagen, dass wir – entgegen
den Unterstellungen, die hier laut geworden sind – jeden
Flüchtling, der bei uns ankommt, im Notfall natürlich gut
versorgen .

Liebe Kollegen vom BÜNDNIS 90/Die Grünen, Ihr
Antrag zur Verbesserung der psychotherapeutischen
und psychosozialen Versorgung von Asylsuchenden
und Flüchtlingen in allen Ehren: Die Forderung, dass
„Schutzsuchende innerhalb von höchstens 15 Tagen
nach Antragstellung in einer ihnen verständlichen Spra-
che umfassende Information und Beratung über ihre
Ansprüche nach der Aufnahmerichtlinie erhalten und
hierbei insbesondere über ihr Recht auf angemessene
medizinische, psychotherapeutische und psychosoziale
Versorgung informiert werden“, hört sich sehr gut an, ist
aber natürlich in der jetzigen Situation in gewisser Weise
etwas realitätsfern .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812508000

Frau Kollegin Zeulner, die Kollegin Klein-Schmeink

würde Ihnen gerne eine Frage stellen . Lassen Sie das zu?


Emmi Zeulner (CSU):
Rede ID: ID1812508100

Selbstverständlich .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812508200

Bitte schön .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Zeulner, ist Ihnen bekannt, dass der Passus wort-
gleich in der EU-Richtlinie enthalten ist, die wir bereits
seit August 2015 zu erfüllen haben – wir begehen im
Moment sogar Vertragsverletzungen –, und dass genau
diese Regelung hier in Kürze sowieso beschlossen wer-
den muss? Natürlich müssen wir Sorge tragen, dass die
Flüchtlinge nicht nur Schutz und Unterstützung bzw . ge-
sundheitliche Versorgung erhalten, sondern auch wissen,
dass sie überhaupt Anspruch auf diese Hilfen haben . Ge-
nau das würde damit geregelt . Das steht eins zu eins so
in der EU-Richtlinie . Insofern entspricht diese Passage
schlichtweg der Umsetzung schon vorhandenen Rechts
in deutsches Recht .


Emmi Zeulner (CSU):
Rede ID: ID1812508300

Ja, es geht eben darum, dass wir das in die Praxis um-

setzen . In der Richtlinie steht es sehr gut, auch in Ihrem
Antrag steht es sehr gut . Wenn wir das beschließen, wird
es auch im Beschluss entsprechend gut stehen . Wir brau-
chen aber eine Umsetzung in der Praxis . Deshalb habe
ich zu Beginn meiner Rede dafür plädiert, dass wir die
Realitäten einfach ein bisschen mehr anerkennen . Im
Moment stehen wir einfach vor anderen großen Heraus-
forderungen, sodass dies in gewisser Weise schon ein

Stück weit in den Hintergrund rückt . Das sind die Reali-
täten, die ich bitte anzuerkennen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Wollen wir jetzt die EU-Richtlinie nicht umsetzen?)


Sie haben für alle Flüchtlinge – egal ob es sich um
einen Wirtschaftsflüchtling oder um einen tatsächlich
Verfolgten handelt – ab dem ersten Tag ihrer Ankunft ei-
nen uneingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem
gefordert . Das kann ich einfach nicht unterstützen . Auch
wenn die Kollegin von der Linken etwas anderes behaup-
tet: Selbstverständlich brächte das weitere Pull-Effekte
mit sich, und genau diese Pull-Effekte gilt es zu vermei-
den . Auch wenn in Gesundheitsdebatten immer wieder
suggeriert wird, die Gesundheitsversorgung in Deutsch-
land sei nicht so gut und so attraktiv, ist festzustellen,
dass die Leute aufgrund unserer im internationalen Ver-
gleich guten Gesundheitsversorgung zu uns kommen .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schauen Sie sich einfach mal die Studien an!)


Ich mache niemandem einen Vorwurf; aber es ist auch
hier Teil der Realität, dass es einen weiteren Pull-Effekt
gäbe, wenn wir sagen würden: Jeder, der zu uns kommt,
hat ab dem ersten Tag die gleichen Ansprüche wie ein
gesetzlich Krankenversicherter .


(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist einfach falsch!)


– Doch, das stimmt . Wir würden innerhalb der Europä-
ischen Union ein weiteres Gefälle bei der Versorgung
schaffen . Wenn wir in Zukunft eine faire Verteilung von
Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union anstre-
ben, dann müssen wir auch unsere Standards angleichen .


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist doch ideologisch verfasstes Zeug, was Sie da erzählen!)


Nur dann können wir sicher sein, dass die Verteilung
funktioniert und die Flüchtlinge bzw . anerkannten Asyl-
bewerber in dem ihnen zugewiesenen Land bleiben .

Sie haben weiter die Ausgabe einer Gesundheitskarte
gefordert . Diese Entscheidung wird den Ländern über-
lassen .


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Schert Bayern wieder aus?)


– Ja, weil wir darin einen falschen Anreiz sehen . Das
würde in gewisser Weise auch einen Verlust an Sicherheit
in unserem Land bedeuten .


(Mechthild Rawert [SPD]: Wegen TBC, oder was?)


– Nein . Aber wenn sich ein Flüchtling beim Landratsamt
melden muss, besteht die Möglichkeit, noch einmal zu
kontrollieren: Wer ist da, und wo genau befindet er sich
gerade?


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele Personen haben Sie denn in Ihrem Landratsamt?)


Emmi Zeulner






(A) (C)



(B) (D)


Wir in Bayern, um das noch einmal deutlich zu sagen,
werden die Gesundheitskarte nicht einführen . Aber wir
leben in einem föderalen System, und das hat uns so stark
gemacht .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen gilt in einem Stadtstaat wie Bremen anderes
als in einem Flächenstaat wie Bayern .

Ich möchte aber auf Folgendes hinweisen: Das baye-
rische System hat sich bewährt . In jeder Erstaufnahme-
einrichtung sowie in den Notunterkünften gibt es Ärzte-
zentren und Konsiliardienste, die für die psychiatrische
Betreuung zuständig sind .


(Hilde Mattheis [SPD]: Ich sage nur: Masern in München!)


Wenn eine weitere fachliche Expertise gefordert ist, er-
folgt natürlich eine Überweisung zum Facharzt .

Auch ich erkenne die Realitäten an und sehe, dass
wir aufgrund der steigenden Zahl an Flüchtlingen ei-
nen weiteren Bedarf haben, was die psychotherapeuti-
sche und psychiatrische Behandlung angeht . Deswegen
unterstütze ich den Vorschlag der Bundesregierung, die
Zulassungsverordnung für Vertragsärzte zu ändern und
eine sichere, zeitnahe und kontinuierliche psychothera-
peutische und psychiatrische Behandlung von Flüchtlin-
gen zu gewährleisten . Auch die Zusicherung, das Ange-
bot an Personal im medizinischen System zu erweitern,
muss mit Leben erfüllt werden . Das wird schwer genug
werden . Ich halte den vorliegenden Vorschlag für eine
seriöse und machbare Antwort auf die aktuellen Heraus-
forderungen . Er zeichnet sich durch eine gewisse Nach-
haltigkeit, Professionalität und – diesen Begriff darf man
an dieser Stelle eigentlich nicht in den Mund nehmen; ich
mache es trotzdem – Bezahlbarkeit aus .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, dass die teuerste Behandlung die im stationären Bereich ist, wenn Sie die Leute alle ins Krankenhaus bringen müssen?)


Über alles Weitere werden wir im Ausschuss diskutie-
ren . Wie schon die Kollegin von der SPD gesagt hat: Wir
brauchen pragmatische Lösungen . Davor verschließen
wir uns nicht .

Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812508400

Vielen Dank . – Letzter Redner zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist der Kollege Dirk Heidenblut, SPD-Frak-
tion .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dirk Heidenblut (SPD):
Rede ID: ID1812508500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich muss
zugeben: Nach dem letzten Vortrag fällt es mir recht

schwer, meine geplante Rede zu halten . Ich will zumin-
dest auf einige Aspekte kurz eingehen .

Erstens . Die Tatsache, dass viele Menschen zu uns
kommen, muss natürlich dazu führen, dass wir einzelne
Bereiche entlasten . So werden wir etwa 3 000 Polizei-
beamte zusätzlich einstellen und Ähnliches mehr . Aber
das darf nicht dazu führen, dass wir Menschen, die Not,
Verfolgung und Elend erlebt haben und bei uns Hilfe und
Zuflucht suchen, durch Zugangsbeschränkungen vor der
Tür stehen lassen und im Zweifel in Ungarn verhungern
lassen .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das kann nicht das Ergebnis sein . Das ist auch nicht un-
sere Politik .

Zweitens . Für mich heißt eine Anpassung der Stan-
dards zunächst einmal, die Standards nach oben und nicht
nach unten anzugleichen . Das heißt, wir sollten alles ver-
suchen, die anderen europäischen Länder mitzunehmen .


(Emmi Zeulner [CDU/CSU]: Ist das die Realität?)


– Frau Zeulner, ob das die Realität ist oder nicht: Wir
müssen versuchen, Realitäten zu schaffen, und wir haben
die Möglichkeit, auf die Realitäten in Europa Einfluss zu
nehmen .


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg . Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Oder möchten Sie unterstellen, dass unsere Kanzlerin
keinen Einfluss in Europa hat? Wir sollten also alles tun,
um die Standards anzuheben und nicht nach unten zu
drücken .

Drittens . Lassen Sie mich als energischen Verfechter
der elektronischen Gesundheitskarte auch für Flüchtlinge
und als jemand, der sich sehr freut, dass das Flächenland
Nordrhein-Westfalen diese Einführung sehr konsequent
umgesetzt hat, sagen: Sie machen in Bayern einen Fehler,
wenn Sie das nicht tun .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


Aber das ist Ihnen als Land überlassen .


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das überlassen Sie mal uns!)


– Ja, das überlassen wir Ihnen ja auch .


(Mechthild Rawert [SPD]: Mit schwerem Herzen!)


Bayern überlassen wir Ihnen .


(Zuruf von der SPD: Das musst du richtigstellen!)


– Ja, Entschuldigung: nicht ganz, nur was die Gesund-
heitskarte angeht, sonst nicht .

Jetzt komme ich aber auf den Antrag zurück. Ich finde
gut, dass dieser Antrag vorliegt; denn Sie rücken damit

Emmi Zeulner






(A) (C)



(B) (D)


einen Aspekt in den Fokus, der bei aller berechtigten
Konzentration auf die Frage der Unterbringung, Verpfle-
gung und Versorgung nicht verloren gehen darf .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht hat der Mann!)


Als Gesundheitspolitiker kann ich nur sagen: Auch die
Erstuntersuchung und die Frage der Versorgung von
Traumata oder Traumafolgeschäden gehören zum unmit-
telbaren Bedarf . Wenn wir uns in diesem Bereich nicht
auf den Weg machen, wird es schwierig .

Aufgrund der nahezu unvermeidlichen schrecklichen
Erfahrungen vieler Flüchtlinge, die zu uns kommen –
zum Großteil haben sie Folter, Krieg, Vertreibung und
ähnliches Leid selbst erlebt, oder sie haben es bei Freun-
den, Verwandten oder Begleitern auf der Flucht miter-
lebt –, haben viele von ihnen – die Zahlen sind schon
genannt worden – mit erheblichen psychischen Proble-
men und Traumata zu kämpfen . Wir müssen versuchen,
diesen Flüchtlingen die nötige Hilfe zu geben, aber den
Eindruck vermeiden, bei allen Flüchtlingen sei automa-
tisch von einem Trauma auszugehen . Das ist natürlich
nicht der Fall; denn es gibt sicherlich viele, die das Er-
lebte anders überstehen .

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den psycho-
sozialen Zentren danken, die eine Herkulesaufgabe zu
leisten haben . Diese Zentren, die – Frau Klein-Schmeink
hat es bereits angesprochen – schon vorher nicht optimal
aufgestellt waren, haben jetzt noch ein richtiges Pfund
dazubekommen . Ich möchte ihnen ausdrücklich dafür
danken, wie engagiert sie versuchen, zu helfen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sind in der aktuellen Situation in der Zahl – das macht
Ihr Antrag deutlich – etwas zu wenige; sie liegen zu weit
auseinander, sind unzureichend finanziert und ausgestat-
tet . Es gibt zwar weitere Traumazentren und Spezial-
einrichtungen – das weiß ich aus meiner Heimatstadt –;
aber wir müssen erst einmal die Wege ebnen, damit sie
mit diesen speziellen Formen der Traumata, die uns in
Deutschland glücklicherweise nicht so vertraut sind, um-
gehen können .

Ich möchte eines deutlich sagen: Die Frage, ob das
Teil der Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerber-
leistungsgesetz ist oder nicht, darf hier eigentlich keine
Rolle spielen; denn wir müssen an dieser Stelle die nöti-
ge Hilfe erbringen . Für mich liegt unzweifelhaft ein so-
fortiger Behandlungsbedarf vor .


(Beifall der Abg . Sabine Dittmar [SPD])


Das wäre nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ebenso
der Fall . Die erforderliche Therapie ist aus meiner Sicht
sozusagen die OP am akut entzündeten Blinddarm . Auch
wenn man das eigentlich nicht vergleichen kann – das
sage ich mit Blick auf einen anwesenden Arzt –, gibt es
insofern Ähnlichkeiten, als dass auch eine nicht geleiste-
te erforderliche Therapie bedeutet, dass keine Hilfe ge-

leistet wird, und wenn wir das laufen lassen, werden die
Folgeschäden exorbitant sein .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg . Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Das ist im Übrigen auch für die Helferinnen und Hel-
fer sowie für die Lehrer und Erzieher in den Einrich-
tungen wichtig. Denn wir haben es hier sehr häufig mit
Patientinnen und Patienten zu tun, die von sich aus gar
keine Krankheitseinsicht haben, wie man so schön sagt,
und womöglich gar nicht zum Arzt gehen würden . Aber
den Helferinnen und Helfern fallen die Symptome auf .
Den Lehrern und Erziehern fällt auf, wenn etwas nicht
stimmt . Sie müssen Unterstützung und Hilfe bekommen,
damit sie damit nicht allein gelassen werden und die Pro-
bleme am Ende in den Schulen oder Kindergärten lan-
den, ohne dass es Möglichkeiten gibt, darauf einzugehen .

Jetzt habe ich mich durch die einführenden Worte
selbst herausgebracht, Frau Präsidentin . Ich werde versu-
chen, zum Schluss zu kommen .

Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung . Eines sollten
wir immer im Blick behalten: Die Menschen, um die es
hier geht, werden wohl bei uns bleiben . Wir werden sie
integrieren müssen, und das wollen wir auch . Deshalb ist
es grob fahrlässig, im Vorfeld die erkennbar hohen Ri-
siken durch Traumatisierung außer Acht zu lassen, statt
so schnell wie möglich im Interesse aller Beteiligten und
auch unserer Gesellschaft darauf einzugehen .

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam-
keit und freue mich auf die weitere Diskussion .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812508600

Vielen Dank .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer inter-
fraktionellen Vereinbarung soll die Vorlage auf Druck-
sache 18/6067 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden . – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden . Dann ist die Überweisung so be-
schlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung
des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes
an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts

Drucksache 18/5923
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Dirk Heidenblut






(A) (C)



(B) (D)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich sehe, dass
Sie damit einverstanden sind .

Dann eröffne ich die Aussprache . Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär Dr . Michael Meister .

D
Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1812508700


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben hier ein wirtschaftspolitisch, steuerpolitisch
und verfassungsrechtlich bedeutsames Thema auf der
Tagesordnung .


(Dr . Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch gesellschaftspolitisch!)


Aus unserer Sicht ist es von zentraler Bedeutung, dass
wir die besondere Kultur der Familienunternehmen in
Deutschland erhalten . In den Familienunternehmen hat
der Inhaber eine personelle Verantwortung gegenüber
seinen Arbeitnehmern und dem Geschehen im Unterneh-
men . Mit dieser Kultur unterscheiden wir uns wesent-
lich von kapitalmarktfinanzierten Ländern wie etwa den
Vereinigten Staaten oder Großbritannien . Wir wollen in
Deutschland bei der nun anstehenden Reform diese Kul-
tur erhalten .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Ingrid Arndt-Brauer [SPD])


Wir sprechen hier über 60 Prozent der Arbeitsplätze und
über mehr als 90 Prozent der Unternehmen in Deutsch-
land . Deshalb ist es wirtschaftspolitisch von zentraler
Bedeutung, wie wir uns an dieser Stelle positionieren .

Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass für ein
Familienunternehmen die Generationenübergabe eine
Schlüsselsituation ist, in der es darum geht, die Weiter-
führung des Unternehmens in die Zukunft zu gewähr-
leisten . Wir sollten dabei keine Hindernisse in den Weg
stellen, sondern darauf achten, dass bestehende Unter-
nehmen und Arbeitsplätze sicher in die nächste Generati-
on geführt werden können .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir werden dabei zwischen der steuerpolitischen Be-
trachtung – es handelt sich um einen Vermögenszufluss
aufseiten des Erben oder des Beschenkten – und der Ver-
antwortung für das Unternehmen und seine Mitarbeiter
abwägen . Wir streben eine ausgewogene Lösung an . Ich
will ausdrücklich sagen, dass wir eine verfassungskon-
forme Lösung wollen, die diesem Ziel entspricht . Unsere
Absicht ist nicht das Erzielen von Steuermehreinnahmen .
Das ist kein Ziel dieses Gesetzes .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Seit 1995 gab es bislang drei Urteile in Karlsruhe zur
Erbschaft- und Schenkungsteuer . Der Tenor der Urtei-
le lautete jedes Mal: „Ja im Grundsatz, aber . . .“ . Beim
vierten Anlauf sollten wir uns daher auf eine nachhaltig
rechtssichere Lösung konzentrieren und darauf achten,
dass das Ganze verfassungskonform ist . Das liegt hoch-

gradig auch im Interesse der betreffenden Arbeitnehmer
und Unternehmen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann müsst ihr aber deutlich nachbessern!)


– Diese Aufgabe wird auch durch Zurufe nicht weniger
komplex .


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Selbst das Bundesverfassungsgericht hat zur Erläu-
terung der Frage, ob eine Abweichung vom in Artikel 3
des Grundgesetzes verankerten Gleichheitsgrundsatz aus
Gründen des Erhalts von Arbeitsplätzen, Unternehmen
und Familienunternehmenskultur erlaubt werden kann,
nahezu 300 Randnummern in seinem Urteil gebraucht .
Das zeigt die Komplexität der Aufgabe .

Wir haben uns vorgenommen, an der bisherigen
Grundkonzeption festzuhalten; denn die Grundkonzepti-
on der Verschonung ist im Urteil ausdrücklich als zuläs-
sig und mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt worden .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir werden uns also auf diejenigen Punkte konzentrie-
ren, bei denen das Bundesverfassungsgericht Korrektu-
ren angemahnt hat . Ich will diese vier Punkte benennen:

Der erste Punkt ist die Tatsache, dass mit zunehmender
Größe des Unternehmens und damit mit zunehmender
Größe des Erbes die Abweichung von dem in Artikel 3
Absatz 1 des Grundgesetzes verankerten Gleichheits-
grundsatz zunimmt . Deshalb muss es ab einer gewissen
Unternehmensgröße eine besondere Rechtfertigung ge-
ben, um eine Verschonung gewähren zu können, Stich-
wort „Bedürfnisprüfung“ .

Der zweite Punkt ist die Tatsache, dass eine große
Zahl der Unternehmen – weit über 90 Prozent – weni-
ger als 20 Mitarbeiter hat . Das Verfassungsgericht hat
uns aufgetragen: Wenn der Erhalt der Arbeitsplätze im
Mittelpunkt steht, dann muss dies auch entsprechend ve-
rifiziert werden.

Der dritte Punkt ist die Tatsache, dass bisher zugelas-
sen ist, dass 50 Prozent des Verwaltungsvermögens der
Verschonung unterliegen . Diesen Umfang hat das Verfas-
sungsgericht nicht akzeptiert .

Der vierte Punkt ist die Tatsache, dass es in unserem
Land viele hochintelligente Steuerberater gibt, die immer
wieder dazu neigen, bestimmte Gestaltungen auszupro-
bieren . Das Verfassungsgericht hat uns beauftragt, solche
Gestaltungen, wenn sie erkennbar werden, zu unterbin-
den . Dieser Auftrag ist nicht an die Steuerberater gerich-
tet, sondern an den Gesetzgeber, der hier vor mir sitzt .
Diesen Auftrag sollten wir ernst nehmen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Mit dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung am
8 . Juli 2015 im Kabinett beschlossen hat und der heute
in den Deutschen Bundestag eingebracht wird, wird ver-
sucht, die wirtschaftspolitische, steuerpolitische und ver-

Vizepräsidentin Ulla Schmidt






(A) (C)



(B) (D)


fassungsrechtliche Dimension aufzugreifen . Wie haben
wir die vier angemahnten Korrekturen umgesetzt?

Wir haben zunächst einmal festgelegt: Als groß gilt,
wer dem höchsten Erbschaftsteuersatz unterliegt . So-
bald der Wert des begünstigten Vermögens die Grenze
von 26 Millionen übersteigt, haben wir es mit größeren
Erbschaften zu tun . Wir betrachten dabei nicht die Grö-
ße des Unternehmens, sondern den einzelnen Erben oder
Beschenkten gemäß dem Unternehmensanteil, der ihm
zufließt. Das ist also die vorgeschlagene Grenzgröße.
Oberhalb dieser Grenze lassen wir den Erben oder Be-
schenkten die Wahl . Sie haben zwei Optionen: Die eine
ist, eine Bedürfnisprüfung vornehmen zu lassen, die an-
dere ist, ein sogenanntes Abschmelzmodell, bei dem der
Grad der Verschonung mit zunehmendem Vermögen re-
duziert ist, zu wählen . Ich glaube, das ist ein vernünftiges
und faires Angebot .

Bei dem Verschonungsabschlag, also bei der zwei-
ten Option, verringert sich die Verschonung um jeweils
1 Prozentpunkt für jede vollen 1,5 Millionen Euro, die
der Wert des begünstigten Vermögens die Grenze von
26 Millionen Euro übersteigt . Das geht bis zu einer Grö-
ßenordnung von 116 Millionen Euro . Danach gilt eine
feste Verschonung . Wir, die Bundesregierung, glauben,
dass wir damit den verfassungsrechtlich gezogenen Rah-
men ausgeschöpft haben und keinerlei Spielraum be-
steht, noch weiter zu gehen .

Bei der Bedürfnisprüfung wird die Erbschaftsteuer-
schuld festgestellt und erlassen, soweit der Erbe sie nicht
aus nichtunternehmerischem Vermögen bzw . der Hälf-
te seines nichtunternehmerischen Vermögens bedienen
kann .

Zum Thema Lohnsumme schlagen wir vor, dass wir
bei der bisherigen Konzeption bleiben . Wir haben die
Länder, die Bundestagsfraktionen und auch die Öffent-
lichkeit gefragt, ob es einen anderen geeigneten Para-
meter gibt, um Kleinstunternehmen, die wir von der
Lohnsummenprüfung verschonen wollen, abzugrenzen .
In der Diskussion der letzten Monate ist deutlich gewor-
den, dass der Parameter „Anzahl der Mitarbeiter“ der
richtige ist . Wir haben versucht, die Zählweise etwas
praxisnäher auszugestalten . Wir schlagen jetzt als Grenze
die Anzahl 3 vor, damit wir das Verhältnis von Regel und
Ausnahme in die richtige Balance bringen . Der Vorwurf
des Bundesverfassungsgerichts lautete ja, dass wir den
Ausnahmefall zur Regel erklären . Ich glaube, wir müssen
den Regelfall zur Regel erklären . Das versuchen wir mit
diesem Ansatz .

Weil das Ausscheiden eines Mitarbeiters aus einem
kleinen Unternehmen natürlich eine besondere Auswir-
kung auf die Prozentzahlen hat, haben wir uns darauf
verständigt, die Anforderungen an die Lohnsumme bei
Unternehmen mit einer Mitarbeiteranzahl zwischen 4
und 15 zu reduzieren . So wird die Wirkung des Ausschei-
dens eines Mitarbeiters vernünftig abgebildet .


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sehr guter Vorschlag!)


Ich weiß, dass es an dieser Stelle viele Diskussionen gibt,
aber, ich glaube, es ist ein richtiger Ansatz .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zu den Punkten 3 und 4 des Bundesverfassungsge-
richtsurteils: Gestaltungsanfälligkeit, 50 Prozent Verwal-
tungsvermögen . Wir schlagen an dieser Stelle vor, einen
neuen Ansatz zu wählen, von der seitherigen Definition
„Verwaltungsvermögen“ abzugehen und zu einer Defi-
nition „Hauptzweck“ zu kommen. Das heißt, wir defi-
nieren positiv, was wir verschonen wollen, und treffen
nicht eine Negativdefinition, in der wir erklären, was wir
nicht verschonen wollen. Die Negativdefinition war so,
dass wir eine Aufzählung hatten und Ausnahmen von der
Aufzählung und Rückausnahmen von der Aufzählung
gemacht hatten . Ich glaube, es ist vernünftig, hier einen
positiven und geraden Ansatz zu wählen . Das erspart
uns möglicherweise, Frau Präsidentin, dass wir in der
Zukunft noch öfter und länger über die Erbschaftsteuer
sprechen müssen . Ich hoffe, dass die Kollegen hier im
Haus und auch die Kollegen im Bundesrat damit eine
gute Grundlage für die anstehenden Gesetzesberatungen
haben, und hoffe im Interesse der Unternehmen und der
Arbeitnehmer in Deutschland, dass wir in dieser Diskus-
sion zu einem guten Ergebnis kommen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812508800

Vielen Dank, Herr Staatssekretär . – Nächster Redner

ist der Kollege Richard Pitterle, Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812508900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Zuhörer auf der Tribüne! Seit vie-
len Wochen und Monaten wird die Erbschaftsteuer auf
Betriebsvermögen von den Lobbyverbänden als todbrin-
gende Gefahr für den Mittelstand gegeißelt . Und ich sage
Ihnen vorweg: Ich kann dieses Märchen wirklich nicht
mehr hören .


(Beifall bei der LINKEN)


Erst einmal zur Erinnerung: Das Bundesverfassungs-
gericht hatte Ende letzten Jahres verlangt, die weitrei-
chenden Verschonungsregeln für Erbinnen und Erben
von Unternehmen bei der Erbschaftsteuer einzuschrän-
ken . Als dann das erste Eckpunktepapier des Finanzmi-
nisteriums zur Erbschaftsteuerreform herauskam, brach
ein unfassbarer Propagandasturm der Lobbyisten los, der
den Teufel in Form des Endes des Mittelstandes an die
Wand gemalt hat .

Unter diesem Druck ist der Gesetzentwurf entstanden,
der heute vor uns liegt . Er besteht letztlich wieder aus
großzügigen Steuergeschenken an die Unternehmensdy-
nastien . Die Linke wird dem nicht zustimmen .

Die Geschenke sehen so aus: Wird Betriebsvermö-
gen vererbt, winken den Erbinnen und Erben, abhängig
vom Vermögenswert und unter der Voraussetzung, dass

Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister






(A) (C)



(B) (D)


sie das Unternehmen eine bestimmte Zeit weiterführen,
satte Verschonungsbeträge . Erbt man zum Beispiel ein
Unternehmen im Wert von 20 Millionen Euro und führt
man den Betrieb über sieben Jahre unter Einhaltung einer
bestimmten Lohnsumme für die Beschäftigten weiter, so
erhält man einen Abschlag von 100 Prozent .


(Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Das ist gut für die Beschäftigten!)


Man muss also überhaupt keine Erbschaftsteuer zahlen .

Erbt man mehr als 26 Millionen Euro, so ist künf-
tig eine Verschonungsbedarfsprüfung vorgesehen . Das
heißt, man muss, um in den Genuss einer Verschonung zu
kommen, darlegen, dass man sozusagen bedürftig ist und
die Steuerschuld nicht begleichen kann . Diese Prüfung
hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil an-
gemahnt . Es ist eigentlich schon kaum vorstellbar, dass
jemand, der Unternehmensvermögen im Wert von zum
Beispiel 70 Millionen Euro erbt, bedürftig sein soll und
sich die Zahlung der Erbschaftsteuer nicht leisten kann .

Aber jetzt kommt der Hammer: Um den Wohlha-
bendsten unserer Gesellschaft noch weiter entgegenzu-
kommen, wurde für Erbfälle über dieser besagten Grenze
von 26 Millionen Euro noch das sogenannte Abschmelz-
modell eingeführt . Anstatt sich einer Bedarfsprüfung zu
unterziehen, können sie alternativ dieses Modell wählen
und bekommen bei Fortführung des Unternehmens im-
mer noch einen satten Verschonungsabschlag, ganz egal,
wie viel sie erben und ob sie überhaupt bedürftig sind .

Wer Hartz IV bekommt, wird auf das Gründlichste
durchleuchtet, bevor gezahlt wird, aber bei den Reichen
macht man natürlich wieder eine Ausnahme, und das ist
eine Frechheit, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist angesichts der genannten Zahlen auch abso-
lut lächerlich, vom Ende des deutschen Mittelstands zu
sprechen . Das immer wiederkehrende Argument, dass
die Unternehmen und somit die Arbeitsplätze durch die
Erbschaftsteuer in ihrer Existenz gefährdet seien, ist an
den Haaren herbeigezogen . Folgende Fakten müssen von
allen Beteiligten endlich einmal zur Kenntnis genommen
werden:

Erstens . Bis heute ist kein einziger Fall bekannt, in
dem ein Unternehmen an der Last der Erbschaftsteuer
zugrunde gegangen wäre; wohlgemerkt: weder vor noch
nach Einführung der Verschonungsregeln im Jahr 2009 .
Sollte ein Unternehmen tatsächlich einmal aufgrund an-
stehender Erbschaftsteuerzahlungen in Schieflage gera-
ten, was – ich muss es einfach wiederholen – noch nie
passiert ist, so ließe sich dies ganz einfach über eine
Stundung, im Extremfall sogar über einen Steuererlass
regeln .

Zweitens . Die Lobbyisten nutzen hier gern das roman-
tische Bild des Familienunternehmens . Es geht aber bei
der vom Bundesverfassungsgericht angemahnten Ver-
schärfung der Verschonungsregeln gar nicht um den klei-
nen Bäckereibetrieb oder das in dritter Generation ge-
führte Familienhotel, sondern vor allem um schwerreiche
Unternehmensdynastien wie die Familie Quandt und Co .

Von der von den Lobbyisten verteufelten Bedarfsprü-
fung etwa sind nach dem jetzigen Entwurf gerade einmal
weniger als 2 Prozent aller Unternehmen in Deutschland
überhaupt betroffen .

Dritter und wichtigster Punkt: Auch hierzulande
nimmt die Vermögenskonzentration immer weiter zu .
Immer mehr Vermögen befindet sich in immer weniger
Händen . Mittlerweile besitzt 1 Prozent der Bevölkerung
in Deutschland ein Drittel des gesamten Vermögens,
während die unteren 50 Prozent, also die ärmere Hälfte
der Bevölkerung, gerade einmal 1 Prozent des Gesamt-
vermögens besitzt . Hier wäre die Erbschaftsteuer ein
adäquates Mittel, um dieser unheilvollen Entwicklung
und der fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft ent-
gegenzuwirken . Die derzeitigen Einkünfte aus der Erb-
schaftsteuer betragen aber weniger als 1 Prozent des
gesamten Steueraufkommens . Da ist noch reichlich Luft
nach oben – auch und gerade bei den Erbinnen und Erben
großer Unternehmensvermögen .

Ausgerechnet in der bayerischen Verfassung steht üb-
rigens ein Satz, den ich Ihnen an dieser Stelle nicht vor-
enthalten will:

Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die
Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen
einzelner zu verhindern .

Und auch im Grundgesetz steht:

Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen .

Ich meine, diese beiden Verfassungsnormen sollten die
Richtschnur für diese Erbschaftsteuerreform sein .


(Beifall bei der LINKEN)


Und wo wir gerade beim Verfassungsrecht sind: Meine
Damen und Herren von der Großen Koalition, ich streite
zwar gerne mit Ihnen über Ihre unbegründeten Ängste
bezüglich des deutschen Mittelstands . Dennoch will ich
Ihnen den Hinweis geben, dass Ihre ganze Dampfplaude-
rei, mit der Sie Ihr Steuergeschenk durchs Plenum wuch-
ten wollen,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Hey, hey!)


am Ende umsonst gewesen sein wird . Wenn Sie nämlich
dieses Gesetz so verabschieden, wird der nächste Gang
nach Karlsruhe nicht lange auf sich warten lassen . Das
Bundesverfassungsgericht wird das Gesetz allein schon
wegen Ihres Abschmelzmodells kassieren, und das zu
Recht .

An Herrn Schäuble gerichtet, der heute nicht da ist,
aber die Diskussion sicherlich vor dem Fernseher ver-
folgt: Wenn es um die Sparauflagen für Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in Griechenland geht, dann zeigen
Sie unbarmherzige Härte . Nach unten lässt sich immer
leicht treten, aber bei der Lobby der Superreichen kni-
cken Sie trotz der eindeutigen Hinweise des Bundesver-
fassungsgerichts sofort ein. Das finde ich, mit Verlaub,
beschämend .


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg . Max Straubinger [CDU/CSU])


Richard Pitterle






(A) (C)



(B) (D)


Ganz besonders bitter ist für mich übrigens der Bei-
trag eines Teils der SPD bei diesem Trauerspiel . Ausge-
rechnet der SPD-Finanzminister meines Bundeslandes
hat Schäuble noch rechts überholt und eine noch umfas-
sendere Verschonung der Erbinnen und Erben von Be-
triebsvermögen gefordert . Da kann man sich wirklich nur
noch an den Kopf fassen!

Ich hoffe, dass wenigstens die Grünen nicht einkni-
cken, deren Stimmen für die Verabschiedung des Geset-
zes im Bundesrat erforderlich sind .

Meine Damen und Herren, wie Sie es auch drehen
und wenden – am Ende gibt es für dieses riesige Steu-
ergeschenk, das Sie den Unternehmenserbinnen und Un-
ternehmenserben machen wollen, keine tragfähige Be-
gründung . Das Mantra vom Untergang des Mittelstands
und von massenhafter Arbeitsplatzvernichtung ist der
allerletzte Quatsch . Die Verschonungsregelungen gehö-
ren ersatzlos gestrichen . Alle, auch die Unternehmenser-
binnen und Unternehmenserben, müssen ihren Beitrag
für die Gemeinschaft leisten und die ihren Verhältnissen
angemessenen Steuern zahlen . Dafür wird zumindest die
Linke kämpfen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Und für die Enteignung!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812509000

Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Lothar Binding .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1812509100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuschauer hier im Haus und auch an den Fernse-
hern! Als Dr . Meister vorhin das Modell sehr schön und
geschickt, wie ich fand, erklärt hat, da hat er gesagt, dass
bei dem Betrag von 26 Millionen Euro eine Grenze ist .
Bei einem geerbten Vermögen bis zu einem Betrag von
26 Millionen Euro wird man zu 100 Prozent verschont
bzw . kann eine 100-prozentige Verschonung erreichen .

Jetzt müssen Sie aufpassen: Jeder hier im Saal oder
von den Zuschauern, der mehr als 26 Millionen Euro
erbt, wird von dem Betrag, der die Summe von 26 Milli-
onen Euro übersteigt, ein klein wenig versteuern müssen .
Erst ab einer Summe von weit mehr als 100 Millionen
Euro wird die Steuer, die wir uns überlegt haben, dann
überhaupt zur Geltung kommen .


(Dr . Axel Troost [DIE LINKE]: Das hört sich gerecht an!)


Ich rate Ihnen also jetzt schon einmal zu ein bisschen
Panik; denn die Belastung von Vermögen oberhalb von
26 Millionen Euro wird Sie alle ereilen .


(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg . Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU])


– Christian von Stetten muss jetzt seine Rede umschrei-
ben . – Interessant ist: In der Gemeindeordnung von Ba-

den-Württemberg steht, dass man, wenn der Anschein
der Befangenheit besteht, nicht an der Abstimmung teil-
nehmen darf . Wer sich jetzt einmal die Berichterstatter
der Union anschaut, kann sich seinen Teil denken .


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Von 100 Milllionen bin ich noch weit entfernt!)


Das Gute an dem Gesetz ist, dass wir die Erbschaft-
steuer erhalten; das steht im Koalitionsvertrag . Das ist
sehr gut . Das Schlechte ist, dass wir die optimale Lö-
sung noch nicht gefunden haben . Wir wissen: Der heute
vorliegende Gesetzentwurf ist nur ein Entwurf, und wir
stecken sehr tief im Suchprozess nach einem Kompro-
miss . Vor wenigen Stunden hat ja auch der Bundesrat
festgestellt, dass ihm einiges hinsichtlich der Verscho-
nung zu weit geht . Es wird also sicher noch ein langer
Weg werden . Ich bin gleichwohl optimistisch, dass wir
einen Kompromiss finden. Wir kommen von sehr weit
auseinanderliegenden Positionen . Das zeigt schon, wie
sehr wir uns anstrengen müssen, einen Kompromiss zu
finden. Das ist der Charakter einer Großen Koalition, und
das ist auch gut so .

Außerdem ist es nicht allein unser Problem . Das Bun-
desverfassungsgericht hat ja schon drei Mal Korrekturen
verlangt: 1995, 2006 und 2015 . Jedes Mal hielt es die ent-
sprechende Regelung für verfassungswidrig . Jetzt gibt es
also eine neue Aufgabe für uns . Daran sieht man schon:
Ganz so einfach ist es nicht . Jetzt könnte man natürlich
vermuten, dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hat:
Ihr belastet den Bürger zu stark . – Denn normalerweise
will das Parlament vom Einzelnen immer zu viel Steuern .
Das ist doch die große Idee .


(Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Wir nicht!)


Weit gefehlt! Wir wurden gerügt, weil wir vom Einzel-
nen für die Gemeinschaft zu wenig Steuern verlangt ha-
ben . Es ist doch eine interessante Beobachtung, dass das
Bundesverfassungsgericht sagt, dass wir übervorsichtig
waren . Wir waren sozusagen verfassungswidrig übervor-
sichtig . Die Übervorsichtigkeit begann aber erst ab ei-
nem bestimmten Vermögen, über das nur die verfügen,
die richtig reich sind .

Ich finde, das Bundesverfassungsgericht hat eine gute
Entscheidung getroffen . Diese zeigt uns auch einen Weg .
Wir hatten 2008 die Besteuerung der Vermögensarten
am Verkehrswert orientiert, weil die vorherige Rege-
lung ungerecht war . Das war sehr gut und hätte auch zu
Mehreinnahmen führen können . Leider haben wir diese
Mehreinnahmen, die wir gut hätten gebrauchen können,
sofort dadurch kompensiert, dass wir wieder Begünsti-
gungen eingeführt haben . Dadurch wurde dieser schöne
Effekt, wenn man so will, wieder ruiniert . Das Dumme
war: Das war zu viel des Guten, und zu viel des Guten ist
das Schlechte .

Die Unternehmer waren jedenfalls hochzufrieden .
Das ist auch in Ordnung . Da schließe ich mich auch dem
an, was Dr . Meister gesagt hat: Natürlich wollen wir die
mittelständischen Strukturen in Deutschland erhalten .
Natürlich wollen wir Familienunternehmen erhalten . Wir

Richard Pitterle






(A) (C)



(B) (D)


wären doch verrückt, wenn wir die Basis unseres Landes
zerstören wollten . Wer will denn das? Diese wollen wir
natürlich erhalten .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Ein guter Ansatz! Ein guter Gedanke!)


Wir wollen aber auch, dass sie sich fair an der Stär-
kung der Gemeinschaft beteiligen . Um noch einmal
auf die Verantwortung zurückzukommen: Man muss ja
schon sagen, dass zwischen den beiden Urteilen die Er-
ben von Unternehmen durch eine vorweggenommene
Erbfolge mit allen denkbaren Nachhol- und Vorziehef-
fekten versucht haben, sich dieser marginalen und lä-
cherlichen Steuer zu entziehen und dadurch Steuern in
Milliardenhöhe zu sparen . Da meine ich: Wenn wir uns
anstrengen, um mittelständische Strukturen und Famili-
enunternehmen zu stärken, dann müssen diese sich auch
anstrengen, die Gemeinschaft zu stärken . Das ist etwas
Symmetrisches .


(Beifall bei der SPD)


Was uns an dem Urteil sehr gefreut hat, war, dass der
Erhalt von Arbeitsplätzen im Interesse des Gemeinwohls
liegt . Das heißt, wir können den Erhalt von Arbeitsplät-
zen als Rechtfertigung benutzen, um Unternehmer bzw .
Erben von der Steuer zu befreien oder sie zumindest in
dieser Hinsicht zu privilegieren, wenn sie Arbeitsplätze
schaffen . Ich will trotzdem noch einmal eines erwähnen:
Jemand, der einen Arbeitsplatz schafft, schafft diesen ja
nicht, um keine Steuern zahlen zu müssen, sondern er
schafft ihn, weil er damit eine Ertragserwartung verbin-
det . Denn denjenigen, der einen Arbeitsplatz schafft, um
Verluste zu generieren, den möchte ich einmal kennenler-
nen . Der Arbeitsplatz ist nicht altruistisch, also selbstlos,
geschaffen, sondern zum Zwecke der Gewinnerzielung .

Hinsichtlich der Erbschaften haben mich manche Ver-
bände sehr irritiert . Das, was vererbt wird, wurde natür-
lich zuvor vom Manager und dem Eigner erarbeitet . Es
wird aber gelegentlich vergessen, dass bei den richtig di-
cken Erbschaften von über 100 Millionen Euro auch der
eine oder andere Arbeitnehmer daran beteiligt gewesen
ist, dieses Vermögen zu schaffen . Auch das muss man in
den Blick nehmen, wenn man über Erbschaften redet .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nachdem wir also bewiesen haben, dass wir verfas-
sungswidrig sensibel sind, erschreckt mich – das muss
ich sagen – die simulierte Panik vieler Unternehmer .
Wenn ich sehe, wie dick der Stapel der Gutachten ist, wie
dick der Stapel von Briefen ist, die ich von Leuten be-
komme, denen es richtig gut geht – deswegen schreiben
sie gar nicht selber; meistens schreibt uns eine Rechtsan-
waltskanzlei –, wie viele Gespräche, Anrufe, Podiums-
diskussionen und Besuche wir durchführen mussten, wie
extrem hoch der Druck der Verbände, Vorstände, Einzel-
personen, Rechtsanwaltsbüros, Berater war, dann glaube
ich, dass wir uns davon frei machen müssen . Wir brau-
chen eine eigene Meinung hinsichtlich der Besteuerung,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


damit sie gleichmäßig, gerecht und in angemessener
Höhe, die wir definieren, erhoben wird, die wir auch ver-
antworten können .

Wir dürfen nicht vergessen, dass einer nicht anruft –
das hat mich total enttäuscht –: Das Gemeinwesen hat
überhaupt nicht angerufen .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Gemeinwesen hat nicht gesagt: Ihr müsst mehr Steu-
ern einnehmen . Wir sorgen für Verkehrsinfrastruktur, wir
sorgen für innere Sicherheit . Wir schaffen eigentlich die
Basis für die Unternehmen, die die Gewinne erzielen, die
anschließend nicht versteuert werden sollen . – Da das
Gemeinwesen immer vergisst, anzurufen, müssen insbe-
sondere wir uns darum gut kümmern . Ich glaube, wenn
wir an das Gemeinwesen denken, sind wir mit der Erb-
schaftsteuer auf einem guten Weg .

Jetzt will ich noch eine Lanze für die Unternehmer
brechen . Mir ist nämlich aufgefallen, dass es eine große
Diskrepanz gibt zwischen dem Bemühen der Verbände,
mit uns etwas zu erreichen, und den Einzelunternehmern .
Die Einzelunternehmer sagen mir in Gesprächen ganz
oft: Ich hätte gerne eine unbürokratische, einfache Steu-
er mit einem Satz, den wir aushalten . Lasst das andere
weg . – Das wäre eine synthetische Erbschaftsbesteue-
rung .


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: 6 Prozent! Schlag ein!)


Dann würden die ganzen Sonderregelungen wegfallen
können . Was wir leider aus Zeitgründen versäumt haben,
ist, die anderen Modelle, die es gibt – vom Sachverstän-
digenrat, vom Wissenschaftlichen Beirat beim BMF,
vom Bundesverband der Steuerberater und auch vom
Wirtschaftsministerium des Saarlands – näher zu unter-
suchen .


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Neun Monate habt ihr dafür Zeit gehabt! Und nichts ist gekommen! – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Wir machen 6 Prozent auf alles! Jetzt kannst du einschlagen!)


Wir sollten uns etwas stärker darum kümmern; denn
dann hätten wir eine gute Perspektive für eine Erbschaft-
steuer . Wir werden an diesem Entwurf arbeiten . Ich bin
immer noch optimistisch, dass wir es schaffen, einen gu-
ten Kompromiss zu finden. Daran wollen wir arbeiten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812509200

Vielen Dank . – Als Nächste hat Lisa Paus das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen .


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812509300

Das ist schwer zu toppen . Allerdings wäre es schön,

wenn dem auch Taten folgen würden .


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das schaffst du!)


Lothar Binding (Heidelberg)







(A) (C)



(B) (D)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
bayerischen Verfassung steht ein sehr schöner und klarer
Satz:

Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die
Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen
einzelner zu verhindern .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine lieben Kollegen aus Bayern, Ihnen ist doch
auch sonst alles Bayerische so heilig . Daher frage ich Sie
heute: Warum halten Sie sich eigentlich mit Ihrer Politik
nicht an Ihre eigene Verfassung?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Eines steht außer Frage: Weder die derzeitige verfas-
sungswidrige Regelung der Erbschaftsteuer noch der hier
heute vorliegende Gesetzentwurf werden diesem Zweck
gerecht, meine Damen und Herren . Sie wollen weiter-
hin sehr großzügige Befreiungen – das haben wir schon
gehört – bei einem Erwerb von Vermögen in Höhe von
bis zu 52 Millionen Euro für Unternehmenserben ohne
Prüfung gewähren, und das, wo man in Deutschland
im Durchschnitt 120 000 Euro erbt . In Berlin liegt der
Durchschnitt übrigens bei 65 000 Euro . Also: ein Erwerb
von 52 Millionen Euro ohne Prüfung für die Unterneh-
menserben, auch wenn nicht ein einziger Arbeitsplatz
gefährdet ist .

Worum geht es jetzt? Es geht um die Korrektur . Am
17 . Dezember hat das Bundesverfassungsgericht die der-
zeitige Erbschaftsteuerregelung für verfassungswidrig
erklärt . So mancher Nicht-Steuerexperte hat tatsächlich
erst infolge dieses Urteils mitbekommen, was die Gro-
ße Koalition damals, 2008, beschlossen hat, was 2009
in Kraft getreten ist . Die bisherige Regelung ist schlicht-
weg unglaublich . Ich zitiere jetzt den Verfassungsrichter
Reinhardt Gaier, der es in der mündlichen Anhörung des
Bundesverfassungsgerichts so formuliert hat: Das gelten-
de Erbschaftsteuergesetz ist eine Subventionierung des
Großkapitals .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Man kann es auch wissenschaftlich formulieren: Die
4,5 Milliarden Euro Erbschaftsteuer, die jährlich seit
2009 erhoben wurden, wurden fast ausschließlich von
der Mittelschicht gezahlt . Im Durchschnitt mussten die-
se Erben nämlich 14 Prozent Erbschaftsteuer pro Erb-
fall zahlen, während selbst Superreiche, etwa Erben von
DAX-Konzernen, wegen der Steuerfreistellung von Be-
triebsvermögen bestenfalls – wenn es hoch kam – 2 Pro-
zent Erbschaftsteuer zahlen mussten . 19 Milliarden Euro
sind dem Fiskus dadurch bis 2013 verloren gegangen .
Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht
geurteilt:

Die Privilegierung betrieblichen Vermögens ist …
unverhältnismäßig, soweit sie über den Bereich

kleiner und mittlerer Unternehmen hinausgreift,
ohne eine Bedürfnisprüfung vorzusehen .

Zehn Monate später liegt jetzt ein Gesetzentwurf einer
Großen Koalition vor . Man muss leider konstatieren: Er
unterscheidet sich materiell kaum vom derzeitigen Ge-
setz . Das ist insbesondere für die SPD peinlich . Denn Sie
von der SPD hatten sich ja auch mal für eine höhere Be-
steuerung von großen Vermögen eingesetzt – Sie haben
es heute auch noch mal so formuliert –,


(Lothar Binding der Charakter von Kompromissen!)


aber die Wahrheit ist, dass Wirtschaftsminister Gabriel,
Ihr Parteivorsitzender, genau das verhindert: die Besteu-
erung von großen Vermögen .


(Manfred Zöllmer [SPD]: Na ja, Ihr Ministerpräsident ist ja auch nicht viel besser! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir Grüne legen bei der Umsetzung des Urteils drei
Kriterien an:

Erstens . Die Erbschaftsteuer muss wieder zu einer Ge-
rechtigkeitssteuer werden .

Zweitens . Sie muss natürlich wirtschaftspolitisch ver-
nünftig sein . Wir wollen die Wirtschaft in diesem Land
stärken und weiterentwickeln .


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Und die Vermögensabgabe wieder einführen!)


Drittens . Das Mindeste ist: Sie muss verfassungsfest
sein .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Gehen wir die Punkte durch: Ist der vorliegende Ent-
wurf gerecht? Ich habe es schon deutlich gemacht: Er ist
es nicht . Ich mache es noch mal anhand anderer Zahlen
deutlich: Laut Bundesfinanzministerium – es sind nicht
unsere Zahlen, sondern die Zahlen des BMF – wären
schon nach dem Referentenentwurf, der eine Freigrenze
von 20 Millionen Euro pro Unternehmenserben vorsah,
mehr als 99 Prozent aller Unternehmenserben ohne ir-
gendwelche Prüfungen steuerfrei geblieben . Das heißt
umgekehrt und in absoluten Zahlen: Ganze 80 Perso-
nen, vielleicht auch mal 100 Personen pro Jahr in ganz
Deutschland wären nach dem Schäuble-Entwurf über-
haupt nur gefährdet gewesen, jetzt oder in Zukunft Steu-
ern zahlen zu müssen, und auch das nur maximal bis zur
Hälfte ihres Privatvermögens, um Liquidität und Investi-
tionsfähigkeit der Unternehmen nicht zu beeinträchtigen .

Jetzt, mit der hier auch schon angesprochenen weiteren
Erhöhung der Freigrenze auf 26 bzw . 52 Millionen Euro
für Familienunternehmen, verbunden mit der Option, das
Privatvermögen doch nicht offenlegen zu müssen, reden
wir vielleicht noch von ganzen 50 Fällen im Jahr . Und
die Betroffenen schreiben Briefe, Briefe, Briefe .

Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf sieht
keine Begrenzung des Steuerprivilegs auf kleine und
mittlere Unternehmen zum Zwecke des Erhalts von Ar-
beitsplätzen vor . Damit bleibt es dabei: Mit diesem Ge-

Lisa Paus






(A) (C)



(B) (D)


setzentwurf wird die Mittelschicht die Erbschaftsteuer
zahlen und die Leistungsfähigen in diesem Land eben
nicht . Deswegen ist sie nicht gerecht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Lothar Binding (Heidelberg)

leistungsfähig!)

Ist die Erbschaftsteuer wirtschaftspolitisch vernünf-
tig? Das ist ja Ihr Hauptargument . Dazu kann man zum
einen sagen: Der Wissenschaftliche Beirat beim BMF hat
schon vor mehreren Jahren festgestellt, dass die derzei-
tige Regelung nicht wirtschaftspolitisch vernünftig ist .
Das könnte man vom vorliegenden Gesetzentwurf auch
sagen .

Aber eine Regelung im Gesetzentwurf finden wir tat-
sächlich wirtschaftspolitisch vernünftig: die Begrenzung
der Steuerschuld auf die Zahlungsfähigkeit bezogen auf
das Privatvermögen. Wir finden in der Tat: Das ist eine
klare Ansage, wenn es darum geht, die Liquidität des Un-
ternehmens nicht zu gefährden . Allerdings muss man im
weiteren Prozess noch sehen, wie man es gut abgrenzen
kann, damit es nicht zu Steuergestaltungen kommt .

Allerdings gibt es in diesem Gesetzentwurf noch wei-
tere Punkte, zum Beispiel neue Halteregeln – nicht nur
bezogen auf die Lohnsumme –, die es ermöglichen, ent-
sprechende Privilegien in Anspruch zu nehmen . Da darf
man jetzt 10 Jahre im Voraus und 30 Jahre nach Eintre-
ten des Erbfalles, also 40 Jahre lang, sozusagen nichts
ändern, um massive Privilegien in Anspruch nehmen zu
können . Das ist schlichtweg wirtschaftspolitischer Irr-
sinn, weil es total ineffizient ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Hauptpunkt: Ich habe an vielen Gesprächsrunden
teilgenommen . Die meisten Experten sagen schon jetzt,
dass der vorliegende Gesetzentwurf verfassungswidrig
ist . Somit besteht nach wie vor eine massive Investiti-
onsunsicherheit bei der deutschen Wirtschaft, und das ist
schlichtweg Gift für die Wirtschaft .

Seit einem Jahr wartet die Wirtschaft auf eine vernünf-
tige Regelung, und sie ist immer noch nicht in Sicht . Der
vorliegende Gesetzentwurf ist sehr wahrscheinlich ver-
fassungswidrig . Er wird sicherlich wieder vor dem Bun-
desverfassungsgericht landen . So ein Damoklesschwert
braucht Deutschland nicht . Investitionsunsicherheit zu
schüren, ist das wirtschaftspolitisch Schlechteste, was
man in Deutschland machen kann .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ist der Gesetzentwurf verfassungsgemäß? Wie ge-
sagt: Es gibt zahlreiche Experten, die das deutlich hin-
terfragen . Der erste wichtige Punkt – ich habe es schon
gesagt –: 99 Prozent der Unternehmenserben und mehr
werden von der Regel ausgenommen . Das Regel-Aus-
nahme-Verhältnis, das im Gesetz eigentlich beachtet
werden soll, wird eklatant verletzt .

Zweiter Punkt . Die Regelungen des Gesetzentwurfes
sind extrem gestaltungsanfällig . Das Bundesverfassungs-
gericht hat in seinem Urteil festgehalten, dass allein diese

Gestaltungsanfälligkeit ein Grund für Verfassungswid-
rigkeit ist .

Drittens . Im Unterschied zum Referentenentwurf gibt
es im vorliegenden Gesetzentwurf keine Folgerichtigkeit
der Verschonungswege mehr . Auch deswegen wird er aus
meiner Sicht verfassungswidrig sein .

Es gibt übrigens inzwischen neue Zahlen zur Vermö-
genskonzentration in Deutschland . Das Deutsche Institut
für Altersvorsorge prognostiziert, dass in den nächsten
zehn Jahren die reichsten 2 Prozent der Deutschen ein
Drittel des Gesamtvolumens der Erbschaften auf sich
vereinen werden .

Ich komme zum Schluss . In der bayerischen Verfas-
sung steht:

Die Erbschaftsteuer dient auch dem Zwecke, die
Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen
einzelner zu verhindern .

Ich appelliere an Sie: Überarbeiten Sie also den vorlie-
genden Gesetzentwurf grundlegend . Auch Erbschaften
und Schenkungen von großen Betriebsvermögen müs-
sen angemessen besteuert werden . Dann werden wir uns
auch wieder konstruktiv an der Debatte beteiligen .

Herzlichen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812509400

Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Antje Tillmann,

CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1812509500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Man sollte mei-
nen, dass wir heute das Erbschaftsteuergesetz schon in
zweiter und dritter Lesung beraten . Wir diskutieren über
dieses Thema seit dem 26 . Februar dieses Jahres: zuerst
über die Eckpunkte, dann über den Referentenentwurf,
jetzt über den Gesetzentwurf . In zahlreichen verschiede-
nen Veranstaltungen sind wir immer wieder aufeinander-
getroffen und haben über dieses Thema diskutiert .

Sie haben der Rede meines Kollegen Binding entneh-
men können, dass es zwischen den Koalitionsfraktionen
durchaus noch Einigungsbedarf gibt . Aber solange das in
einer konstruktiven Stimmung ausgetragen wird, ist mir
das recht . Wir haben noch einiges zu bereden . Das sollten
wir auch tun . Sie können sich sicher sein, dass wir über
dieses Thema verantwortungsbewusst diskutieren und ei-
nen Kompromiss finden werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die erforderliche Neuregelung haben nicht wir uns
ausgedacht . Vielmehr hat das Bundesverfassungsge-
richt – das ist mehrfach gesagt worden – uns ins Buch ge-
schrieben, dass Betriebsvermögen nur aus zwei Gründen
anders besteuert werden darf als Privatvermögen: zum

Lisa Paus






(A) (C)



(B) (D)


einen, um mittelständische Strukturen in Deutschland
aufrechtzuerhalten, und zum anderen, um Arbeitsplätze
zu sichern .

Herr Kollege Pitterle, Sie erwecken den Eindruck, als
wollten wir den Tennis spielenden Nichtstuer begünsti-
gen; das tun wir eben nicht . Vielmehr geht es um den
Arbeitnehmer und um die Arbeitnehmerin . Um deren Ar-
beitsplatz zu erhalten, schaffen wir bestimmte Begünsti-
gungen bei der Besteuerung von erworbenen Betriebs-
vermögen .

Ich finde das Verhalten der Linken ausgesprochen
wenig konkludent; denn wenn in einer Stadt das größte
mittelständische Unternehmen pleitezugehen droht, dann
sind Sie die Ersten, die mit den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern demonstrieren, Sie sind die Ersten, die
Steuermittel für Auffanggesellschaften fordern, Sie sind
die Ersten, die sagen, der Staat muss dieses Unternehmen
retten . Wir gehen den anderen Weg . Wir bringen das Un-
ternehmen erst gar nicht in Schwierigkeiten . Damit sind
die Arbeitsplätze gesichert . Ich glaube, unser Weg ist für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der viel siche-
rere und der nervenschonendere .


(Beifall bei der CDU/CSU – Richard Pitterle [DIE LINKE]: Sagen Sie doch einen einzigen Fall!)


Auch Sie, lieber Kollege Binding, haben vermutlich
überhaupt keine Probleme, Arbeitsplätze durch Subven-
tionen zu sichern bzw . entstehen zu lassen . In den Kom-
munen werden Grundstücke vergünstigt zur Verfügung
gestellt . Es gibt eine GFAW-Förderung . Wir subventio-
nieren die Schaffung von Arbeitsplätzen . – Das alles sind
Steuergelder . Aber an der Stelle, an der wir mit einem
Teil von Steuergeldern Arbeitsplätze, die schon da sind,
bestehen lassen wollen, haben Sie Probleme? Ich kann
nicht nachvollziehen, inwiefern das eine besser sein soll
als das andere . Wir glauben, es ist sehr viel leichter, einen
bestehenden Arbeitsplatz zu erhalten, als einen neuen zu
schaffen .


(Lothar Binding ben wir doch beschlossen! Das ist aber sehr missverständlich formuliert!)


Deswegen beschreiten wir mit dem, was wir tun, den
richtigen Weg . Wir begünstigen wirklich nur das Be-
triebsvermögen .

Dass der Eindruck erweckt wird, dass der Unterneh-
menserbe demnächst keine Steuern zahlt, ist doch völlig
irre .


(Lothar Binding meisten zahlen keine!)


Es wird keinem einzigen Unternehmenserben gelingen,
nur Betriebsvermögen zu erben . Er wird natürlich auch
Privatvermögen erben, und das wird er ganz normal ver-
steuern . Nach der Neuregelung wird er auch nichtbegüns-
tigtes Betriebsvermögen, sogenanntes Verwaltungsver-
mögen, erben . Auch das wird er ganz normal versteuern,
sogar noch stärker als vorher, weil das Verfassungsge-

richt die Grenze für unschädliches Verwaltungsvermö-
gen von 50 Prozent auf 10 Prozent reduziert hat .


(Lothar Binding müsste das Aufkommen aber viel höher sein!)


Selbstverständlich wird er das Verwaltungsvermögen
versteuern .

Aus diesem Grund sind wir dankbar, dass es von der
Vorlage des Eckpunktepapiers bis zum jetzt vorliegenden
Gesetzentwurf einige Veränderungen gegeben hat:

Hinsichtlich der Lohnsummenprüfung steht im Ge-
setzentwurf jetzt eine Zahl von drei Mitarbeitern . Das
war ursprünglich anders vorgesehen . Man wollte den
Wert des Betriebsvermögens zugrunde legen . Wir sind
froh, dass wir jetzt wieder die Anzahl der Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter zugrunde legen, weil das für die
Unternehmen weniger bürokratisch ist, als das Betriebs-
vermögen zu berechnen . Ich bin auch froh, dass es eine
Gleitklausel gibt: zwischen 4 und 15 Mitarbeitern .

Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob das, was hier
zur Freigrenze gesagt wird, draußen ankommt, und um-
gekehrt . Zur Erhöhung der Freigrenzen auf 26 Millionen
Euro bzw . auf 52 Millionen Euro sagen interessanterwei-
se alle Verbände: Das ist ein reiner Placeboeffekt . Nicht
ein einziges Unternehmen wird unter diese Grenzen fal-
len . – Sie haben Bilder an die Wand gemalt, nach denen
die meisten Unternehmen demnächst 52 Millionen Euro
erbschaftsteuerfrei übergeben können . Irgendwo dazwi-
schen liegt die Wahrheit . Die werden wir in den Anhö-
rungen finden. Wir werden uns auch mit diesem Punkt
sehr intensiv befassen .

Lothar Binding, in einem bin ich mit Ihnen einer Mei-
nung: Über den Ton der Verbände, die uns im Moment
aus meiner Sicht in ausgesprochen unangemessener Wei-
se beschimpfen, obwohl wir uns wirklich Mühe geben –
ich sage das für die CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich –,
eine Lösung zu finden, die die besonderen Beschränkun-
gen bei Familienunternehmen widergespiegelt, bin ich
sehr verärgert .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke, die Angesprochenen wissen das . Die sollen
sich das ruhig einmal zu Herzen nehmen .

Abschließend möchte ich einen Appell an die Mit-
glieder des Bundesrates richten: Wir erleben heute den
Beginn einer Debatte über eine Ländersteuer . Die Erb-
schaftsteuer ist ausschließlich Länderaufkommen . Sie
wird von den Ländern verwaltet . Ich sehe hier keinen
Ländervertreter, der mitberät . Das mag daran liegen,
dass heute der Bundesrat tagt . Die Meinungen im Bun-
desrat über diese Steuer gehen aber noch weiter ausein-
ander als die Meinungen von Lothar Binding und mir,
als die Meinungen von SPD und CDU/CSU . Das muss
sich ändern . Es ist Aufgabe der Länder, ihre Steuer zu re-
formieren . Ich erwarte, dass in den nächsten Wochen ein
abgestimmter Vorschlag der Ministerpräsidentinnen und
der Ministerpräsidenten vorgelegt wird, damit wir dieses
Gesetz gemeinsam reformieren und verfassungskonform

Antje Tillmann






(A) (C)



(B) (D)


gestalten können, damit wir die Arbeitsplätze sichern
können . Das ist ausdrücklich unser Ziel .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dabei haben wir natürlich auch die Bürokratie im
Auge . Frau Paus, diesbezüglich teile ich Ihre Auffas-
sung: Eine Aufbewahrungs- und Nachweispflicht von
30 Jahren scheint mir für die Betriebe gar nicht so pro-
blematisch zu sein . Die werden die Belege schon aufbe-
wahren können . Aber die armen Finanzbeamten, die bei
jeder Erbschaftsteuererklärung demnächst in den Keller
wandern, um 30 Jahre alte Akten herauszusuchen, bedau-
ere ich sehr . Auch darauf werden wir einen Schwerpunkt
legen .

Wir wollen ein Gesetz, das möglichst wenig Bürokra-
tie verursacht, das zu einer gerechten Besteuerung führt,
das Arbeitsplätze sichert, das Unternehmensübertragun-
gen möglich macht und das natürlich auch sicherstellt,
dass ein gewisser Beitrag zum Allgemeinwohl geleistet
wird . Ich bin sicher, das werden wir schaffen . Die De-
batte hat heute erst begonnen . Wir haben noch Zeit, um
endgültige Lösungen zu finden.

Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812509600

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Cansel

Kiziltepe von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Cansel Kiziltepe (SPD):
Rede ID: ID1812509700

Frau Präsidentin! Als Erstes möchte ich ausdrück-

lich meine Kolleginnen und Kollegen vom Bundesrat in
Schutz nehmen: Der Bundesrat tagt zeitgleich . Der Bun-
desrat – das möchte ich Ihnen und Euch als Botschaft mit-
teilen – hat heute beschlossen – Ziffer 18 zum Erbschaft-
und Schenkungsteuergesetz –, dass die Abschmelzzone
in der im Entwurf vorliegenden Form abgelehnt wird und
die Sockelverschonung abgeschafft werden soll .

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
Dezember vergangenen Jahres notwendig geworden . Es
ist nicht das erste Urteil des Verfassungsgerichts zu die-
sem Thema . Das haben wir schon mehrfach gehört . Ge-
rade deshalb sollte es unser vorrangiges Ziel sein, dass
die zu findende Lösung auch eine verfassungsfeste Lö-
sung ist, liebe Kolleginnen und Kollegen .

Das Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz
hat in seiner heutigen Ausgestaltung Gültigkeit seit An-
fang 2009 . Es gab also mehrere Reformen . Es gewährt
hohe persönliche Freibeträge . Für Ehepartner und Le-
benspartner sind bis zu 500 000 Euro, für Kinder sind
bis zu 400 000 Euro steuerfrei . Diese persönlichen Frei-
beträge sind also so ausgestaltet, dass sich niemand Sor-
gen machen muss, dass die Übertragung des vielzitierten
Häuschens der Oma besteuert wird .

Das Bundesverfassungsgericht hat sich allein mit der
Praxis der Verschonungsregelung von Betriebsvermögen
auseinandergesetzt . Die gute Nachricht ist, dass wir als
Gesetzgeber den Arbeitsplatzerhalt als Ziel verfolgen
können . In Zukunft müssen wir aber unterscheiden zwi-
schen denen, die dafür eine Verschonung von der Erb-
schaftsteuer brauchen, und denen, die diese Verschonung
dafür nicht brauchen .

Der Bundesfinanzminister hat im März solide Eck-
punkte für die Diskussion vorgelegt, die zu großen Teilen
in den Gesetzentwurf eingeflossen sind, zu Teilen aber
auch nicht . Für die allermeisten Betriebe in Deutschland
konnten wir eine Lösung finden, die unkompliziert ist.
Diese orientiert sich an der Betriebsgröße gemäß Be-
schäftigtenzahl und der Einhaltung gewisser Lohnsum-
menregeln .

In Zukunft wird aber auch bei großen und größten
Erbschaften und Schenkungen geschaut werden müssen,
ob die Erwerber eine Verschonung wirklich nötig haben
oder nicht .

Jetzt komme ich zur Bedürfnisprüfung . Die Verfas-
sungsrichter haben klargemacht: Je größer das Unterneh-
men ist, umso größer ist auch die Notwendigkeit, eine
Verschonung zu rechtfertigen . Sie haben auch klar he-
rausgestellt, dass mit der steuerlichen Privilegierung un-
ternehmerischen Vermögens nicht das Ziel verfolgt wer-
den darf, einzelne Erben und Beschenkte zu verschonen .
Es geht immer um den Erhalt von Arbeitsplätzen – das
kann man nicht oft genug betonen –, aber nicht um die
Verschonung von hohen Erbschaften .

Insofern ist aus unserer Sicht die Einbeziehung des
Privatvermögens nicht nur folgerichtig, sondern auch
eine Frage der Gerechtigkeit . Wir brauchen diese Ver-
teilungsgerechtigkeit in Deutschland, liebe Kolleginnen
und Kollegen .


(Beifall bei der SPD)


Über die Grenze, ab der eine Bedürfnisprüfung not-
wendig werden soll, ist in den vergangenen Monaten viel
gesprochen worden . Die Eckpunkte vom März sahen eine
Grenze von 20 Millionen Euro je Erbfall vor . Im Gesetz-
entwurf stehen nun 26 Millionen Euro bzw . 52 Millionen
Euro, aber auch das reicht einigen nicht .

Wir alle, die sich intensiv mit dieser Neuregelung
der Erbschaftsteuer beschäftigen, sind seit Wochen und
Monaten mit dem massiven Druck der Lobbyarbeit kon-
frontiert . Vor allem angesichts dieses Drucks möchte ich
die Kolleginnen und Kollegen von CSU und CDU bitten:
Laufen Sie mit Ihren Forderungen bitte nicht denjenigen
hinterher, deren einziges Ziel es ist, keinen Cent Steuern
auf ihre Erbschaften zu zahlen!


(Beifall bei der SPD)


Denn die Steuerausfälle durch die Überprivilegierung
des Betriebsvermögens sind enorm . Das Statistische
Bundesamt hat berechnet, dass zwischen 2009 und 2013
sage und schreibe 105 Milliarden Euro steuerfrei übertra-
gen wurden. Hiervon profitieren vor allen Dingen große
Vermögen .

Antje Tillmann






(A) (C)



(B) (D)


Im Rahmen des vorgeschlagenen Wahlrechts zwi-
schen Bedürfnisprüfung und Abschmelztarif können
auch in Zukunft Erben von Milliardenvermögen selbst
dann steuerbefreit werden, wenn sie umfangreiches Pri-
vatvermögen besitzen, weil sie eben die Wahlmöglich-
keit haben .


(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht steuerfrei!)


Erst ab 116 Millionen Euro bzw . ab 142 Millionen
Euro gilt – Stichwort „Sockelverschonung“ – eine Min-
destbesteuerung . Dabei hatte das Bundesverfassungs-
gericht eine Bedürfnisprüfung für große und sehr große
Vermögen als zwingend angemahnt . Das fehlt hier noch .

Im Ergebnis führt das dazu, dass nur 0,2 Prozent der
Erbvorgänge über dem Schwellenwert für diese Min-
destbesteuerung liegen . Somit werden weiterhin über
98,5 Prozent der Erben die Möglichkeit der Vollverscho-
nung in Anspruch nehmen . Das halten wir für nicht ver-
fassungsfest .

Diese Zahlen zeigen aber auch, dass nicht davon ge-
sprochen werden kann, dass der gesamte Mittelstand
betroffen ist . Betroffen sind vielmehr nur einige weni-
ge . Wie heute in der FAZ zu lesen war, hat mein Kollege
Christian von Stetten wieder einmal propagiert, dass wir
große deutsche Familienunternehmen nicht verstünden
und mit unserer Position dafür sorgen würden, dass diese
Deutschland verlassen würden .


(Manfred Zöllmer [SPD], an den Abg . Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU] gewandt: So was haben Sie gemacht? – Gegenruf des Abg . Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Für meine Verhältnisse war ich sehr zurückhaltend! – Lothar Binding (Heidelberg)

auch bekannt! – Weitere Zurufe von der CDU/
CSU und der SPD)

– Genau . – Befangenheit, Herr von Stetten? Nein, glaube
ich nicht .

Diese Punkte werden wir uns im Gesetzgebungsver-
fahren ganz genau anschauen müssen . Alle Zweifel an
der Verfassungsfestigkeit müssen ausgeräumt werden .

Ich möchte an dieser Stelle auch auf die Beratungen
der Länder hinweisen . Ich hatte anfangs erwähnt, dass es
heute einen Beschluss dazu gab . Dem vorausgegangen
war ein Beschluss der Landesfinanzminister, die auch
Bedenken bei dem Abschmelzmodell haben . Die Mehr-
heit der Landesfinanzminister ist der Meinung, dass die
Schwelle für die Bedürfnisprüfung wieder gesenkt wer-
den muss .


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Sie sehen, die Liste an Fragen und Aufgaben ist lang .
Länder und Kommunen sind auf die Einnahmen ange-
wiesen . Sie brauchen die Gelder für lange aufgeschobene
Zukunftsinvestitionen .

Ich möchte die Aufmerksamkeit auch noch auf einen
weiteren Punkt lenken; dieser kam in den letzten Mona-
ten zu kurz . Drei Richter des Bundesverfassungsgerichts

haben ein Minderheitenvotum abgegeben, das wir ernst
nehmen müssen . Dieses besagt, dass die Erbschaftsteuer
nicht nur an der Sicherung von Arbeitsplätzen orientiert
werden kann, sondern es auch Instrumente bedarf, um
der zunehmenden Ungleichverteilung von Vermögen und
damit Macht und Lebenschancen entgegenzuwirken .

Artikel 20 unseres Grundgesetzes definiert Deutsch-
land als Sozialstaat . Das vergessen viele immer wieder .
Die Erbschaftsteuer ist daher aus Sicht der drei Richter
ein zentrales Instrument, um der Vermögenskonzentrati-
on zu begegnen . Dieses Minderheitenvotum sollten sich
vor allem diejenigen zu Gemüte führen, die in den letz-
ten Monaten mit dem Gedanken gespielt haben, die Erb-
schaftsteuer gleich ganz abzuschaffen . Das wird es mit
mir, das wird es mit uns, mit der SPD, nicht geben, liebe
Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Richard Pitterle [DIE LINKE])


Wenn wir über die Erbschaftsteuer reden, dann reden
wir über diejenigen, die das Glück hatten, in die richtige
Familie geboren worden zu sein .


(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das ist aber relativ!)


Die Zeit schrieb im Juni an die Adresse der zukünftigen
Erben: „Hört auf zu jammern!“ . Das Ziel der SPD ist es
nicht, größtmögliche Erbschaften abzusichern, sondern
im Rahmen der Verfassungsmäßigkeit Arbeitsplätze zu
erhalten und einen kleinen Beitrag zur Finanzierung des
Sozialstaates zu leisten .

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812509800

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Christian Frei-

herr von Stetten von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Frhr. Christian von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1812509900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In der Tat: Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns im
Deutschen Bundestag mit der Reform der Erbschaft- und
Schenkungsteuer beschäftigen . Das Bundesverfassungs-
gericht hat es so gewollt . Deswegen ist es wichtig und
richtig, dass wir uns in den nächsten Wochen intensiv mit
diesem Thema beschäftigen und – das ist mir besonders
wichtig – den Betroffenen in der Anhörung ausreichend
Gelegenheit geben, ihre Sorgen und Befürchtungen im
intensiven Dialog mit uns deutlich zu machen .

Herr Dr . Meister für die Bundesregierung und Antje
Tillmann, unsere finanzpolitische Sprecherin, haben für
unsere Fraktion deutlich gemacht, dass wir uns für eine
mittelstandsfreundliche Reform einsetzen und für eine
Reform, die von den großen Familienunternehmen in
Deutschland praktikabel umgesetzt werden kann . Der
Gesetzentwurf der Bundesregierung hat Lösungswege
vorgegeben, die wir für unsere Kleinbetriebe und den

Cansel Kiziltepe






(A) (C)



(B) (D)


Mittelstand brauchen . Herzlichen Dank auch für dieses
klare Bekenntnis zum Mittelstand . Für uns kommt es
jetzt darauf an, dass wir im vor uns liegenden Gesetz-
gebungsverfahren noch einige Feinjustierungen vorneh-
men . Denn am Ende brauchen wir eine Gesetzgebung,
die die besonderen Situationen und die besonderen Be-
dürfnisse der großen deutschen Familienunternehmen
ebenfalls berücksichtigt .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Lothar Binding Diese Familienunternehmen sind Weltmarktführer, sind Hidden Champions, lieber Lothar Binding, um die uns die ganze Welt beneidet . (Lothar Binding wir auch stolz drauf!)


– Eben . Da sind wir stolz drauf . – Ob CDU-Minister oder
SPD-Minister, CSU-Minister oder grüne Ministerpräsi-
denten – davon haben wir leider auch einen –, weltweit
nehmen sie die Unternehmer mit, um zu zeigen, was die
besondere Unternehmenskultur in Deutschland bedeutet .
Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir diese Unterneh-
men, die maßgeblich zum wirtschaftlichen Wohlstand in
unserem Land beitragen und sichere Arbeitsplätze am
Wirtschaftsstandort Deutschland sichern, im Gesetzge-
bungsverfahren berücksichtigen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Um es klar zu sagen: Am Ende des Gesetzgebungs-
prozesses muss die Gefahr – die in einigen Einzelfällen
besteht –, dass Unternehmen und Unternehmer unser
Land wegen zu hoher Erbschaftsteuer verlassen, beseitigt
sein . Wenn Unternehmen das Land verlassen, weil sie die
Löhne nicht mehr zahlen können, weil sich Produktions-
techniken verändert haben, weil vielleicht Kunden ins
Ausland gegangen sind und die Unternehmen deswegen
mitwandern, dann ist das ein Punkt . Aber wenn Unter-
nehmen aufgrund zu hoher Erbschaftsteuer den Standort
verlassen, dann ist das ein Punkt, den wir nicht zulassen
dürfen .

Es sieht ja ganz gut aus, dass es uns gemeinsam ge-
lingt, dafür zu sorgen, dass dies nicht passiert . Wenn ihr
Fachpolitiker – die unseres roten Koalitionspartners und
die der grünen Opposition – im Finanzausschuss das um-
setzet, was eure Spitzenleute bei Unternehmensbesuchen
propagieren und in Sonntagsreden vor Unternehmerin-
nen und Unternehmern vortragen, dann können wir,
glaube ich, innerhalb kürzester Zeit einen vernünftigen
Gesetzentwurf, der Hunderttausende von Arbeitsplätzen
sichert, auf den Weg bringen und verabschieden .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber eines, lieber Lothar Binding und liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Opposition, ist klar: Das, was
ihr in eurem Wahlprogramm zur letzten Bundestagswahl
zur Erbschaftsteuer stehen hattet, können und werden wir
hier nicht umsetzen . Das, was auf Parteitagen von euch
beschlossen wurde, ist weder praxistauglich, noch ist es

für den Wirtschaftsstandort Deutschland Erfolg verspre-
chend .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bekomme, wie auch ihr, viele Briefe von betroffe-
nen Unternehmern . Sie sind keine Lobbyisten . Sie sind
vielleicht Patrioten – aber auch das gefällt euch ja nicht –,


(Lothar Binding ten haben wir gern, nur Nationalisten nicht! Der Patriot liebt sein Vaterland, der Nationalist verachtet die anderen!)


deutsche Patrioten, die ihre Unternehmen am Standort
Deutschland aufgebaut haben, in diesem Land bleiben
wollen, da sie hier ihre Mitarbeiter haben und hier Ar-
beitsplätze geschaffen haben, und die jetzt auf die kata-
strophalen Folgen hinweisen, die eventuell eintreten,
wenn wir im Gesetzgebungsverfahren einen Fehler ma-
chen . Deswegen ist das kein verbotener Lobbyismus .


(Lothar Binding die Art und Weise ist unanständig!)


Vielmehr erwarte ich von allen Betroffenen, egal in wel-
chem Gesetzgebungsverfahren, dass sie auf ihre Abge-
ordneten – ob von Rot, Grün oder Schwarz – zugehen
und ihnen mitteilen, welche Punkte besonders wichtig
sind .

Was noch viel besser ist: Sehr viel mehr Briefe als von
betroffenen Unternehmern bekomme ich von Mitarbei-
tern von Familienunternehmen, die mir klarmachen: Ein
Familienunternehmen ist etwas ganz Besonderes .


(Lothar Binding muss man uns doch nicht klarmachen! Das ist uns doch bekannt!)


Ich bekomme auch Briefe von Betriebsräten und gewerk-
schaftlich engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die mir
mit dramatischen Worten verdeutlichen, welche Vortei-
le es hat, statt bei einem anonymen Börsenkonzern bei
einem familiengeführten Unternehmen zu arbeiten, bei
einem Unternehmer, den man kennt,


(Carsten Schneider den man persönlich ansprechen kann und der nicht im erbschaftsteuerfreien Ausland wohnt . Sie schreiben mir mit Begeisterung, dass sich Familienunternehmer in der letzten Krise Sorge um jeden einzelnen Arbeitsplatz gemacht haben, dass privates Kapital in das Unternehmen gesteckt worden ist und dass man zusammengerückt ist, um die Krise gemeinsam – Familienunternehmer und Belegschaft – zu meistern . Sie schreiben mir auch vom sozialen und kulturellen Engagement der Unternehmer, das aber dann abbricht, wenn der Unternehmer nicht mehr am Sitz des Unternehmens, sondern ins Ausland verzogen ist . Sie schreiben mir auch – Dr . Meister hat es angesprochen – von den besonderen Strukturen, auch von den kulturellen Strukturen in einem solchen Unternehmen, die es so wahrscheinlich nur in unserem Land gibt . Sie haben Angst um die Arbeitsplätze und befürchten einen Wettbewerbsnachteil, der dadurch entstehen könn Christian Freiherr von Stetten te, dass der Unternehmer in Deutschland wohnt . Ja, es ist klar: Börsennotierte Unternehmen oder ausländische Unternehmen müssen eine eventuell zu erwartende Erbschaftsteuer bei der Preisfindung nicht berücksichtigen. Wenn das Werkstück in Deutschland produziert wurde und es deswegen einige Prozentpunkte oder Cent teurer ist als das im Ausland produzierte, dann erweisen wir uns damit sicherlich einen Bärendienst . Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte ich klarmachen: Im jetzt beginnenden parlamentarischen Verfahren werden wir uns intensiv mit den Betroffenen austauschen . Wir geben auch in unserem Gesetzentwurf ein klares Bekenntnis zu unseren Familienunternehmen ab . Es würde mich freuen, wenn auch die Kolleginnen und Kollegen dieses klare Bekenntnis im Ausschuss abgeben würden und dies auch bei der abschließenden Beratung unseres Gesetzentwurfes, über den wir jetzt diskutieren, deutlich würde . Herzlichen Dank . Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die Bitte, sich an die Redezeit zu halten . Wir sind nämlich schon eine halbe Stunde in Verzug, inzwischen wahrscheinlich schon 35 Minuten . Ich bitte, das in Erinnerung zu behalten . Als nächster Redner hat Philipp Graf Lerchenfeld von der CDU/CSU-Fraktion das Wort . Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Sehr geehrte Kolle ginnen und Kollegen! Hohes Haus! Nachdem die bayerische Verfassung hier mehrfach zitiert worden ist, möchte auch ich sie zitieren . Zunächst einmal ist festzustellen, dass es nach unserer Verfassung eine eigene bayerische Staatsangehörigkeit gibt . Das ist auch gut so . Daneben steht in Artikel 153 – ich empfehle Ihnen allen, diesen Artikel zu lesen –: Die selbstständigen Kleinbetriebe . . . in Landwirtschaft, Handwerk, Handel, Gewerbe und Industrie sind in der Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen . Was tun wir anderes, indem wir jetzt den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts erfüllen und einen verfassungsfesten Gesetzentwurf zur Erbschaftsteuer vorlegen? (Lothar Binding dass ich das nicht gehört habe!)





(A) (C)


(B) (D)


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812510000

(Beifall bei der CDU/CSU)

Graf Philipp Lerchenfeld (CSU):
Rede ID: ID1812510100

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein ganz besonderer Punkt in dem Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts war, dass es die Verschonung
gewisser Vermögensarten grundsätzlich zugelassen
hat . Dazu zählen auch – das möchte ich betonen – das

selbstbewohnte Haus und das Betriebsvermögen . Als
Hauptzweck – um in der Sprache des Gesetzestextes zu
bleiben – sind die Sicherung und Erhaltung von Arbeits-
plätzen der typisch deutschen Unternehmenslandschaft
zu nennen .

Die tragende Säule der deutschen Wirtschaft sind mit-
telständische, familiengeprägte Unternehmen, die sich
gerade in den Zeiten der Wirtschaftskrise, also noch vor
kurzem, als Stabilitätsanker und Arbeitsplatzgarant er-
wiesen haben .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese einzigartige Unternehmensstruktur müssen wir
erhalten . Wir dürfen nicht zulassen, dass die Unterneh-
mensnachfolger durch ein falsch ausgestaltetes Gesetz
gezwungen werden, Unternehmen zu verkaufen oder
Investitionen hintanzustellen, weil sie zu hohe Steuerbe-
lastungen haben .

Unsere mittelständischen Unternehmen – das hat
Christian von Stetten schon ganz richtig gesagt – ste-
hen im internationalen Wettbewerb mit Unternehmen,
die sich über den Kapitalmarkt finanzieren und damit
eine ganz andere Kapitalstruktur haben als unsere Un-
ternehmen . Wir müssen damit rechnen, dass es bei ei-
ner falschen Gesetzgebung auf Dauer zu einer massiven
Veränderung der Kapitalstruktur deutscher Unternehmen
kommen wird .


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


In den letzten Jahren ist es den meisten mittelständi-
schen Unternehmen gut gegangen . Die Wirtschaftslage
hat dazu geführt, dass Eigenkapital wieder aufgebaut
werden konnte . Auf diese Art und Weise wurde auch
das Rating der Unternehmen verbessert . Ich erinne-
re mich daran, dass die Unternehmen vor einiger Zeit
noch Schwierigkeiten hatten, Kredite aufzunehmen, weil
das Rating aufgrund des so geringen Eigenkapitals so
schlecht war .


(Lothar Binding Natürlich würde eine Steuerbelastung durch die Erbschaftsteuer jetzt wiederum in das Rating der Finanzinstitutionen einfließen und gegebenenfalls dafür sorgen, dass sich mittelständische Unternehmen wieder schlechter refinanzieren können. Das müssen wir verhindern. Wir dürfen den Unternehmern den Zugang zu Kreditmitteln nicht erschweren . Sicherlich sind bei dem Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, noch einige Baustellen offen . Hier werden wir vernünftige und in der Praxis auch handhabbare Regelungen finden. Wir werden noch viele Detailfragen beantworten müssen: Der Begriff „begünstigtes Vermögen“ ist sicherlich noch genauer zu definieren. Auch Fragen hinsichtlich des Finanzmitteltests und der Aufteilung bzw . der Verrechnung der Schulden müssen beantwortet werden . Daneben müssen wir uns damit beschäftigen, dass eine Doppelbelastung durch Erbschaftund Einkommensteuer zu Christian Freiherr von Stetten dramatischen Problemen führen kann . Der Umfang des einzubeziehenden Privatvermögens wird uns ebenso beschäftigten wie die Aufgriffsgrenzen bei entsprechenden gesellschaftsvertraglichen Bindungen der Anteilseigner, und nicht zuletzt müssen wir uns auf jeden Fall auch mit der vereinfachten Bewertung auseinandersetzen; denn die jetzige Ausprägung führt zu total unrealistischen Werten . Wir sollten in unsere Überlegungen natürlich auch einbeziehen, was inzwischen im Bundesrat diskutiert und beschlossen worden ist . Dort wurden einige sicherlich nicht uninteressante Vorschläge gemacht . Ich denke hier zum Beispiel an die Verkürzung der Fristen bei Kapitalbindungen, die wir gut in den Gesetzentwurf übernehmen können . Wir müssen in den nächsten Wochen darum ringen, administrative Holpersteine in diesem Gesetz zu entfernen und unnötige Belastungen für die Unternehmen zu vermeiden . Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht jetzt bei dieser Reform nicht darum, vorgefasste ideologische Gedanken zu verwirklichen, sondern es geht ausschließlich darum, Arbeitsplätze in unseren mittelständischen Unternehmen jeder Größenordnung zu erhalten . Ich appelliere deshalb an alle, die sich in den nächsten Wochen mit diesem Gesetzentwurf beschäftigen werden, ideologische Scheuklappen abzulegen und sich ausschließlich auf den Erhalt der einzigartigen Unternehmenslandschaft mit vielen Tausend Arbeitsplätzen zu konzentrieren . Ich wünsche uns gute und vor allem vernünftige Beratungen . Unsere deutsche Wirtschaft, die eben nicht überwiegend aus börsennotierten Großkonzernen, sondern aus familiengeprägten mittelständischen Unternehmen besteht, ist es wert, dass wir uns alle um ein vernünftiges Gesetz zur Besteuerung von Unternehmensübergängen bemühen . Vielen Dank . Vielen Dank . Die Redezeit wurde hervorragend ein gehalten . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/5923 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen . Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 25 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie Drucksache 18/5922 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen, und ich kann die Aussprache eröffnen . Als erster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kelber das Wort . U Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir kommen nun von den glücklichen Erben großer Vermögen – auch Immobilienvermögen – zu denjenigen, die sich eine Immobilie Stück für Stück sparsam über einen Immobilienkredit erarbeiten müssen . Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie – also der europäischen Richtlinie – stärken wir den Verbraucherschutz bei der Vergabe und der Vermittlung solcher Immobilienkredite . Zudem setzen wir zwei Vorhaben des Koalitionsvertrages um: Es wird die Honorarberatung bei Immobilienkrediten eingeführt, mit ihr bauen wir die unabhängige Beratung weiter aus . Außerdem schaffen wir ein verpflichtendes Beratungsangebot bei dauerhafter und erheblicher Inanspruchnahme eines Dispokredites . Ein Immobilienkredit ist durchaus mit erheblichen finanziellen Risiken verbunden . Mit den neuen Regelungen werden wir Verbraucherinnen und Verbraucher besser vor möglichen Fehlentscheidungen schützen, indem wir die Transparenz und Vergleichbarkeit der Produkte erhöhen . Künftig müssen Verbraucherinnen und Verbraucher vor Vertragsabschluss besser über die wesentlichen Inhalte des Angebots informiert werden . Die Kreditwürdigkeit muss strenger geprüft werden, um auch im Verbraucherinteresse unverantwortliche Kreditvergaben zu vermeiden . Wer zukünftig Beratungsleistungen bei Abschluss eines Kreditvertrages erbringen möchte, muss Verbraucher transparent beraten und bestimmte Standards einhalten . Der Verkauf von mit anderen Finanzprodukten gekoppelten Immobilienkrediten ist nur noch in einigen Fällen zulässig . Außerdem schützen wir die Verbraucherinnen und Verbraucher vor den Risiken von Fremdwährungskrediten . Die in Deutschland vorherrschende Kultur, Immobilienkredite mit festen Zinsen zu vergeben, hat sich in der Finanzkrise als Vorteil erwiesen . Mit der Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie stärken wir diese Kultur . Sie liegt gerade auch im Interesse von Verbraucherinnen und Verbrauchern . Wir wollen die Anforderungen an die Vermittlerinnen und Vermittler verschärfen . Sie müssen nachweisen, über spezifische Sachkunde zu verfügen. Sie müssen bei der Beratung bestimmte Qualitätsstandards einhalten und über eine Haftpflichtversicherung verfügen. Wir bauen auch die Honorarberatung weiter aus . In Zukunft wird es den Honorarberater geben . Wer diese Funktion innehaben will, darf keine Provision von Kreditgebern mehr annehmen . Er wird ausschließlich von seinen Kundinnen und Kunden bezahlt, die dann wissen, Philipp Graf Lerchenfeld dass die Beratung unabhängig erfolgt . Der Honorarberater dient nicht der Bank, er dient den Verbraucherinnen und Verbrauchern . Außerdem verbessern wir den Verbraucherschutz bei Dispokrediten . Wenn Verbraucherinnen und Verbraucher in der sogenannten Dispofalle stecken, wird ihnen in Zukunft ein Beratungsgespräch über Alternativen zum Dispokredit angeboten . Wir wissen aus Erhebungen, dass viele Verbraucherinnen und Verbraucher nicht darüber informiert sind, dass es selbst in dieser Situation oft noch preisgünstige Alternativen für sie gibt . Darüber hinaus soll rechtzeitig vor den Folgen einer dauerhaften Inanspruchnahme eines Dispokredites gewarnt werden . Ich freue mich, dass sich die Kreditwirtschaft bereit erklärt hat – über das hinaus, zu dem wir sie nach europäischem Recht rechtlich verpflichten können –, ihre Kunden mit einem Warnhinweis zu informieren . Die Banken werden überdies dazu verpflichtet, die Höhe ihrer Kreditzinsen auf ihrer Website gut sichtbar darzulegen . Hierdurch versetzen wir Verbraucherinnen und Verbraucher in die Lage, Zinssätze, Konditionen und Bedingungen für Girokonten schnell und einfach miteinander zu vergleichen . Wir setzen über Transparenz auf den Wettbewerb . Es wird schwer, von den Verbraucherinnen und Verbrauchern unangemessen hohe und vorher nicht bekannte Dispozinsen zu verlangen . Wir mussten immer wieder feststellen, zuletzt in einer Untersuchung der Stiftung Warentest, dass selbst bekannte Institute versucht haben, die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht zu informieren, zum Beispiel über die Höhe von Dispokrediten . Das ist schlicht ein Fall von unseriösem Geschäftsgebaren . (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg . Dr . Jan-Marco Luczak [CDU/CSU])


(Beifall bei der CDU/CSU)





(A) (C)


(B) (D)


(Beifall bei der CDU/CSU)


(Beifall bei der CDU/CSU)


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812510200

(Beifall bei der SPD)

Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1812510300




(A) (C)


(B) (D)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch eine
transparente und verantwortungsvolle Kreditvergabe
wird die im Verbraucherinteresse liegende Kultur von
festverzinslichen Krediten in Deutschland weiter ge-
stärkt . Wir wollen, dass Kredite für Verbraucherinnen
und Verbraucher bezahlbar bleiben, damit sie sich ihren
Traum von einer eigenen Immobilie erfüllen können .


(Beifall bei der SPD)


Wir erleichtern die unabhängige Beratung, damit ich
weiß, dass derjenige oder diejenige, die mich berät, auf
meiner Seite ist und ich wirklich die besten Konditio-
nen vermittelt bekomme . Aus Erfahrung wissen wir: Ein
nach einer bezahlten, unabhängigen Beratung vermittel-
ter Kredit ist oft günstiger als ein Kredit, der auf Provisi-
onsbasis durch eine Bank vermittelt wurde .

Ein transparenter Wettbewerb wird außerdem – davon
bin ich fest überzeugt – zur Senkung der Höhe der Dispo-
zinsen führen . In einer solchen Landschaft können Werte
von 10 Prozent und mehr nicht gehalten werden .

Für diese Vorhaben bitte ich Sie um Ihre Unterstüt-
zung bei den bevorstehenden Beratungen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812510400

Ebenfalls vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat

Caren Lay von der Fraktion Die Linke das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812510500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Für viele Menschen ist der Bau oder Kauf eines
Eigenheims ein ganz großer Traum . Darauf wird jahre-
lang hingearbeitet, dafür wird jahrelang gespart . Die al-
lermeisten können das aber alleine nicht stemmen . Sie
sind also auf einen Kredit angewiesen .

Ausgerechnet da, wo es um diese Kredite geht, gibt
es viele versteckte Kosten, weil die Banken denken, dass
sie bei dieser Gelegenheit ordentlich mitverdienen kön-
nen . Weil es eben für die meisten Menschen der größte
Kauf ist, den sie im Leben tätigen, ist das Ausmaß der
versteckten Kosten und der Verbraucherabzocke hier be-
sonders hoch . Deswegen, denke ich, ist es völlig unstrit-
tig, dass Häuslebauer gesetzlich besser geschützt werden
müssen .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich finde es allerdings umso bedauerlicher – da habe
ich an zwei Punkten eine andere Einschätzung –, dass
die Bundesregierung an einigen Stellen im vorliegenden
Gesetzentwurf nicht die Möglichkeiten nutzt, die die EU
hier bietet . Es ist im Verbraucherschutz ein ganz typi-
scher Vorgang: Zuerst zwingt die EU Sie zum Handeln .
Dann werden die Spielräume, die uns Brüssel lässt, von
der Bundesregierung nicht genutzt .

Kommen wir beispielsweise zu dem Merkblatt, auf
dem alle wichtigen Informationen stehen sollen . Das
sieht auf den ersten Blick nicht schlecht aus . Auf den
zweiten Blick finde ich das etwas mutlos. Wir kennen die
Debatte von den sogenannten Beipackzetteln bei Finanz-
produkten . Aus dieser Erfahrung wissen wir, dass diese
Merkblätter nur dann etwas nutzen, wenn es Mindestan-
forderungen gibt und wenn diese Merkblätter standardi-
siert sind . Wir sagen: Die Regeln an dieser Stelle müssen
deutlich konkretisiert werden, damit sie überhaupt etwas
nützen .


(Beifall bei der LINKEN)


Dass Provisionen, die sich ergeben, offengelegt wer-
den und dass die Honorarberatung eingeführt wird, ist
zweifellos ein wichtiger Schritt . Wir wissen, dass viele
Kreditvermittler auf Provisionsbasis arbeiten . Das lädt
natürlich dazu ein, dass die Interessen der Bank Vorrang
gegenüber den Interessen der Häuslebauer bekommen .
Denn je teurer der verkaufte Kreditvertrag ist, desto hö-
her ist am Ende die Provision .

Wir halten die Provisionsberatung für den falschen
Weg . Es geht um eine Stärkung der Honorarberatung,
und vor allen Dingen geht es auch um eine Stärkung der
Verbraucherzentralen . Denn die unabhängige Beratung

Parl. Staatssekretär Ulrich Kelber






(A) (C)



(B) (D)


durch die Verbraucherzentralen halten wir für den rich-
tigen Weg .


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Fall, der aus meiner Sicht hätte geregelt werden
sollen: Wenn ein Kreditnehmer, also ein Häuslebauer,
seinen Kredit früher zurückzahlen will, weil er beispiels-
weise eine Gehaltserhöhung bekommen hat, zocken die
Banken ordentlich ab . Eine Studie hat ergeben, dass für
eine vorzeitige Kreditrückzahlung 15 bis 20 Prozent fäl-
lig werden . Wir sagen: Das muss unterbunden werden .
Wir brauchen endlich klare Obergrenzen . Ich habe we-
nig Verständnis dafür, dass diese Möglichkeit, die die EU
eingeräumt hat, von Deutschland nicht genutzt wird . Hier
muss der Gesetzentwurf nachgebessert werden .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man schon über Immobiliendarlehen redet,
dann sollte man in diesem Zusammenhang auch über an-
dere Verbraucherdarlehen reden, wie es die Verbraucher-
zentralen und die Verbraucherverbände auch fordern .
Nehmen wir beispielsweise die Restschuldversicherun-
gen. Auch sie sind ein lukratives und häufig verstecktes
Zusatzgeschäft für die Banken, das für die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher zwar einen höheren Preis bedeu-
tet – was sie bei Vertragsabschluss häufig gar nicht er-
kennen können –, ihnen im Endeffekt aber wenig bringt .

Der Vorschlag lautet, dass das automatisch in den Ef-
fektivzins mit eingerechnet wird, der dadurch höher aus-
fallen würde . Dann könnten die Verbraucher von vorn-
herein sehen, dass es sie teuer zu stehen kommt . Ich bin
mir sicher, dass diese häufig unsinnigen Versicherungen
dann den Verbrauchern nicht mehr so leicht unterzuju-
beln wären .

Zu guter Letzt zum Dispozins . Wir fordern als Linke
seit sieben Jahren, dass die Dispozinsen gesetzlich gede-
ckelt werden müssen . Im Bundestagswahlkampf hat die
SPD sich dieser Forderung angeschlossen, und in jeder
Wahlkampfrede wurde die Abzocke durch die Banken
gegeißelt, und zwar zu Recht. Deswegen finde ich es
enttäuschend, dass dieser Gesetzentwurf nichts weiter
vorsieht als die Herstellung von Transparenz . Das mag
ja schön und gut sein, aber wenn alle Banken in einer
Art Kartellabsprache nur Dispozinsen zwischen 8 und
12 Prozent anbieten, dann gibt es gar keine Wahlfreiheit
für die Verbraucherinnen und Verbraucher .

Deswegen sagen wir: Die Dispozinsen müssen gesetz-
lich gedeckelt werden, und zwar auf 5 Prozent über dem
Leitzinssatz . Das ist der einzige richtige Weg, um diese
Abzocke der Banken endlich zu beenden .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Dr . Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812510600

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Stefan

Heck von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Stefan Heck (CDU):
Rede ID: ID1812510700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Auf diese Steine können Sie bauen“: So lautet ein Wer-
beslogan, der uns allen bekannt ist . Dieser Satz steht
nicht nur für einen großen Anbieter auf dem Baufinan-
zierungsmarkt; er steht auch für unser deutsches Baufi-
nanzierungssystem in seiner Gesamtheit .

Im europäischen Vergleich gehören wir noch immer
zu den Ländern mit den niedrigsten Zinsen im gesamten
Immobilienfinanzierungsbereich. Eine Studie zu Beginn
dieses Jahres hat gezeigt, dass Darlehen mit zehnjähriger
Zinsbindung in unserem Nachbarland Frankreich immer-
hin 0,8 Prozentpunkte teurer sind als in Deutschland, in
Großbritannien und Italien jeweils ganze 2 Prozentpunk-
te und in Spanien sogar 2,73 Prozentpunkte . Das heißt im
Klartext: Bei einem Hausbau mit den üblichen Kredit-
konditionen sind die Kosten für einen zehnjährigen Kre-
dit in Deutschland oftmals um einen hohen fünfstelligen
Betrag niedriger als in unseren Nachbarländern .

Hinzu kommt die nach wie vor große Solidität un-
seres Bankensektors . Die globale Finanzkrise ist am
Subprime-Markt und eben nicht im deutschen Festzins-
system ausgebrochen .

Unser Bankensystem ist zwar nicht ganz ohne Bles-
suren aus der Krise gekommen, aber wir haben sie doch
wesentlich besser meistern können als viele unserer eu-
ropäischen Partner . Darauf können wir stolz sein, und das
wollen wir auch in Zukunft bewahren .

Im Zuge der Umsetzung der europäischen Wohnim-
mobilienkreditrichtlinie wollen wir unser funktionieren-
des Baufinanzierungssystem ergänzen und weiter befes-
tigen . Den ersten Baustein hatte ich bereits erwähnt: Es
ist das deutsche Festzinssystem . Es ermöglicht seit vielen
Jahren den Verbrauchern sichere und planbare Darlehens-
möglichkeiten, damit der Traum vom Eigenheim auch in
Erfüllung gehen kann . Weil auch Banken langfristig pla-
nen müssen, profitieren die Verbraucher wiederum von
im internationalen Vergleich niedrigen Zinshöhen .

Dies führt mich bereits zum zweiten wichtigen Bau-
stein, den wir bewahren werden . Es sind das Prinzip
der Vertragsfreiheit und der damit verbundene Grund-
satz „pacta sunt servanda“ . Die langfristige Bindung an
wechselseitige Vorteile ist für beide Seiten gut, einerseits
für die Verbraucher, andererseits für die Banken . Deswe-
gen sind wir der festen Überzeugung, dass das vertragli-
che Gleichgewicht zwischen beiden Seiten nicht durch
gesetzgeberische Maßnahmen gestört werden darf . Ein
vorzeitiger Ausstieg aus einem Kreditvertrag mit zu-
meist langfristiger Bindung muss daher im Rahmen der
vertraglichen Vereinbarungen auch in Zukunft eine ent-
sprechende Vorfälligkeitsentschädigung zur Folge haben
können . Sonst bestünde für die Banken hinsichtlich ihrer
Refinanzierung keine Planungssicherheit mehr. Beispiele
dafür erleben wir unter anderem in den USA . Dort wird

Caren Lay






(A) (C)



(B) (D)


keine Vorfälligkeitsentschädigung gefordert, mit der Fol-
ge, dass alle Verbraucher höhere Zinsen für ihre Kredite
zahlen müssen . Das wollen wir als CDU/CSU-Fraktion
in Deutschland so nicht hinnehmen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Richtig hingegen ist – ich glaube, diese Überzeugung tei-
len wir alle –, dass der Vermittler dem Verbraucher genau
und verständlich erklären muss, zu welchen Modalitäten
eine vorzeitige Rückzahlung möglich ist, wie die Vorfäl-
ligkeitsentschädigung berechnet wird und wie hoch sie
am Ende werden kann .

Damit komme ich zum dritten Baustein, auf den wir
weiterhin bauen werden und der untrennbar mit der Ver-
tragsfreiheit verbunden ist: Verbraucherschutz durch
Transparenz . Um den Verbrauchern mehr Klarheit über
den Inhalt des Festzinsdarlehensvertrags zu verschaffen,
sieht der Gesetzentwurf eine detaillierte Beratung vor, in
der der Vermittler eine individuelle Empfehlung zu ei-
nem Produkt abgibt . Eine zwingende Kreditwürdigkeits-
prüfung soll gewährleisten, dass dem Verbraucher keine
unzumutbare Kreditlast auferlegt wird . Der Darlehens-
vermittler muss zukünftig Sachkunde und Zuverlässig-
keit nachweisen .

Die Koalition wird die Gelegenheit nutzen – Sie haben
das bereits angesprochen –, um Transparenz in einem an-
deren Finanzierungsbereich zu schaffen . Ich spreche von
den wichtigen Neuregelungen bei den Dispokreditzin-
sen . Kunden, die über längere Zeiträume den Dispositi-
onskredit in erheblicher Höhe in Anspruch nehmen, wer-
den künftig über günstigere Finanzierungsmöglichkeiten
beraten . So wollen wir sicherstellen, dass die Kunden
umfassende Informationen über mögliche Alternativen
erhalten. Die Kreditinstitute werden verpflichtet, die
Höhe ihrer Dispozinsen transparent auf ihrer Webseite
zu veröffentlichen . Dadurch wollen wir die Position der
Verbraucher bei Dispokrediten weiter stärken .

Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass in einem
anderen Bereich ein überfrachteter Verbraucherschutz
in keinem Verhältnis mehr zur Rechtssicherheit steht .
Es ist zwar richtig, dass fehlende oder falsche bzw . un-
vollständige Belehrungen über Widerrufsrechte zu einer
Verlängerung der sonst üblichen 14-Tages-Frist führen,
innerhalb derer Verbraucher bei vielen Geschäften ihre
Kaufentscheidung widerrufen können . Unverhältnismä-
ßig war jedoch, dass die Widerrufsfrist in diesen Fällen
erst dann begann, wenn später eine zutreffende Beleh-
rung ergangen ist . Die Notwendigkeit einer Einschrän-
kung haben wir alle erkannt: das Ministerium, das einen
entsprechenden Vorschlag gemacht hat, aber auch wir im
Parlament. Die Banken müssen sich durch die Refinan-
zierung dauerhaft festlegen, um ihren Kunden niedrige
Zinsen weiterhin anbieten zu können . Die Unsicherheit,
ob ein Darlehensnehmer vielleicht nach 10 oder 15 Jah-
ren doch widerruft, bringt das Festzinssystem insgesamt
in Gefahr . Damit solche Widerrufe nicht zulasten aller
anderen Darlehensnehmer gehen, müssen klare Fristen
für den Widerruf gelten .

Ich möchte abschließend noch einmal betonen: Ver-
tragsfreiheit, Planbarkeit und Verlässlichkeit durch das

Festzinssystem sowie Transparenz für den Verbraucher,
auf diese Steine sollten wir auch in Zukunft bauen .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Dagmar Ziegler [SPD])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812510800

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Gerhard

Schick von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812510900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Heck, ich möchte als Erstes sagen: Ich finde, Pro-
ductplacement muss bei einer Bundestagsrede nicht sein .
Ich würde zumindest davon absehen, hier Werbeslogans
von Unternehmen zu verwenden . Ich hoffe, dass das nicht
in Absprache mit dem Unternehmen stattgefunden hat .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Lachen des Abg . Dr . Stefan Heck [CDU/CSU])


Bei der Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtli-
nie geht es im Kern darum, wie wir die Stärke von Bank
und Kunden in einem Vertragsverhältnis rechtlich regeln .
Das heißt, die Frage ist, ob sich der Gesetzgeber in den
verschiedenen Bereichen eher auf die Seite der Banken
oder auf die Seite der Kunden stellt . Leider sind Sie da
zu bankenfreundlich . Ich will an vier Punkten deutlich
machen, warum diese Kritik gerechtfertigt ist:

Der erste Punkt betrifft die Dispozinsen . Einmal ganz
ehrlich: Wenn wir stolz darauf sind, dass wir im Gesetz
regeln, dass die Banken ihre Konditionen veröffentlichen
müssen – das kann ja wohl nicht sein! Das ist doch wohl
eine Selbstverständlichkeit . Das ist doch das absolute
Minimum . Wenn man darauf stolz ist, dann heißt das,
dass man die eigentlichen Fragen nicht angeht . Beim
Thema Dispozins heißt das auch: Es braucht eine Be-
grenzung, die natürlich gewisse Spielräume lässt, sich an
den Marktzinsen orientiert . Aber es kann doch nicht sein,
dass wir das, was es teilweise an Auswüchsen gibt, ein-
fach nur mit dem Regeln von Selbstverständlichkeiten,
mit der Offenlegung der Konditionen, angehen . Das ist
eindeutig zu wenig .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der zweite Punkt betrifft das Widerrufsrecht . Das Wi-
derrufsrecht war für die Banken und Sparkassen in der
Vergangenheit tatsächlich ein großes Problem, auch weil
im Gesetz ein Fehler war . Das muss man konstatieren .
Wenn wir uns das Ganze allerdings einmal mit Blick auf
die Zukunft anschauen, gilt trotzdem: Beide, der Ver-
braucher und die Bank, haben es mit komplexen recht-
lichen Fragen zu tun . Es ist ja wohl eher der Bank, dem
Profi, als dem Kunden zuzumuten, diese Regelungen
zu verstehen und richtig anzuwenden . Deswegen ist es
richtig, dass der Kunde hier ein Widerrufsrecht hat . Ich
glaube, dass Sie hier zu bankenfreundlich sind . Für den

Dr. Stefan Heck






(A) (C)



(B) (D)


Kunden muss es auch in Zukunft die Möglichkeit geben,
zu widerrufen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der dritte Punkt betrifft das Thema Vorfälligkeitsent-
schädigung . Dabei sind folgende Fragen wichtig: Die
eine ist: Wie hoch dürfen Vorfälligkeitsentschädigungen
sein? Braucht es eine Begrenzung oder nicht? Die ande-
re Frage lautet: Wie ist die Berechnungsmethode? Wird
das überprüft? Läuft das sauber? Außerdem stellt sich die
grundlegende Frage: Wollen wir Vorfälligkeitsentschädi-
gungen überhaupt?

Es ist klar, dass es dann, wenn wir – das gilt auch für
meine Fraktion – an einem über mehrere Jahre festen
Zins, also an der Zinsbindung, festhalten wollen, richtig
ist, dass es Vorfälligkeitsentschädigungen gibt; sonst ha-
ben die Banken keine Planungssicherheit – so weit d’ac-
cord . Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob man eine
Begrenzung festlegen muss . Ich meine, eine Begrenzung
ist notwendig, um sicherzustellen, dass es keine Exzes-
se gibt . Außerdem muss die Berechnungsmethode – das
ist das absolute Minimum – einheitlich und transparent
sein . Es kann nicht sein, dass sich die Verbraucher darauf
nicht verlassen können; denn sie können im Einzelnen
nicht so gut rechnen wie eine Bank . Es ist eine absolute
Selbstverständlichkeit, dass wir im Gesetz eine einheit-
liche und transparente Berechnungsmethode festlegen .
Auch da springen Sie mit Ihrer gesetzlichen Regelung
deutlich zu kurz .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will noch einen vierten Punkt nennen – es gibt wei-
tere Punkte; die werden wir in den weiteren Beratungen
ansprechen –: die Kopplungsgeschäfte . Die EU-Richtli-
nie legt fest, dass man Kopplungsgeschäfte nur durchfüh-
ren kann, wenn sie behördlich genehmigt sind . Es bleibt
den Mitgliedstaaten überlassen, das entsprechend umzu-
setzen . Sie haben aber hier genau diese Begründung, dass
es einen Nutzen für den Verbraucher haben muss, wegge-
lassen . Damit öffnen Sie Tür und Tor dafür, dass es wei-
terhin eine Reihe von unsinnigen Kopplungsgeschäften
gibt, dass etwa ein Immobilienkredit mit einem Bauspar-
vertrag oder mit einer Versicherung gekoppelt wird, bei
denen die Kosten für den Kunden teilweise deutlich stei-
gen, was für ihn weder transparent noch nachvollziehbar
ist, oder die Risiken deutlich zunehmen, weil nicht klar
ist, ob ein Kunde am Ende das Geld hat, um seinen Kre-
dit wirklich zurückzahlen zu können .

Solche problematischen Geschäfte, die es reihenwei-
se in Deutschland gibt, auch bei vielen, wie wir meinen,
eigentlich seriösen Häusern, müssen wir zurückdrängen .
Wir müssen schauen, dass es hierfür nicht wieder eine of-
fene Tür gibt . Sie haben aber genau hier die Bindung an
die Voraussetzung, dass ein solches Geschäft dem Kun-
den nutzen muss, weggelassen . Auch dieser Fehler zeigt,
dass Sie zu bankenfreundlich sind .

Deswegen sehen wir in dem vorgelegten Gesetzent-
wurf einen großen Korrekturbedarf und hoffen, dass es
in den Ausschussberatungen gelingt, diesen auch durch-
zusetzen .

Danke .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812511000

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Mechthild

Heil von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1812511100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Frau Lay, Sie haben recht: Der Traum
vom Eigenheim ist bei vielen Deutschen wirklich stark
verankert . Etwa drei Viertel aller Deutschen halten das
Eigenheim für die beste Geldanlage . Daran hat auch
die Finanzkrise nichts geändert . So verwundert es heute
nicht, dass die aktuell noch sehr niedrigen Zinsen auch
zum Kauf von Wohnimmobilien genutzt werden . Ich hal-
te das für eine gute Idee, natürlich nicht nur deshalb, weil
ich Architektin bin . Ich freue mich auch als Verbraucher-
schutzbeauftragte darüber, dass wir heute in erster Bera-
tung über die Wohnimmobilienkreditrichtlinie sprechen;
denn wir werden viele Dinge beschließen, die die Positi-
on der Verbraucher weiter stärken werden .

Was planen wir da genau? Wer sich zukünftig zu einer
Immobilie beraten lässt, der muss über die Höhe des Be-
ratungsentgelts und die Berechnungsmethode informiert
werden, und er muss informiert werden, ob der Berater
seiner Empfehlung nur eigene Produkte oder auch frem-
de Produkte zugrunde legt .

Zu Beginn der Beratung steht natürlich immer die Da-
tenerfassung . Darüber hinaus müssen auch die Wünsche
und Bedürfnisse eines Kunden aufgenommen werden .
Damit gilt dann auch hier das, was wir bereits in anderen
Finanzdienstleistungsbereichen erfolgreich eingeführt
haben .

Wir legen einen anderen Schwerpunkt auf die Qualifi-
kation der Berater . Was für die Finanzanlagen- und Ver-
sicherungsvermittler heute schon eine Selbstverständ-
lichkeit ist, gilt nun bald auch für die Immobilienberater .
Dazu gehören die Einführung eines Sachkundenachwei-
ses, der Nachweis einer Berufshaftpflichtversicherung
und eine Registrierung bei der jeweiligen Aufsichtsbe-
hörde .

Nicht selten werden zusätzlich zum Immobilienkredit
noch weitere Produkte verkauft . Es werden Verträge ab-
geschlossen, die den Kunden – vermeintlich – absichern
sollen . In vielen Fällen sind sie aber gar nicht notwendig
und nutzen in erster Linie dem Darlehensgeber . Diese
Geschäfte werden wir stark eindämmen, indem wir ein
Kopplungsverbot aussprechen werden . Der Kunde soll
nicht mehr gezwungen werden können, einen Vertrag zu
einem weiteren Produkt gemeinsam mit dem Immobili-
enkredit abschließen zu müssen . Freiwillig kann er das
natürlich nach wie vor tun, aber ein Kopplungsgeschäft
werden wir ausschließen .

Dr. Gerhard Schick






(A) (C)



(B) (D)


Um auch in diesem Bereich die Zahl der Wahlmög-
lichkeiten zu erhöhen, schaffen wir die Voraussetzungen
für eine Honorarberatung analog zur Anlageberatung .

In dem vorliegenden Entwurf sprechen wir noch ein
weiteres Thema an – auch die Kollegen haben es schon
angesprochen –: den Dispozins . Seit Jahren fordern wir
die Banken auf, die Dispozinssätze im Internet zu veröf-
fentlichen . Auch das, sollte man meinen, sollte eigent-
lich eine Selbstverständlichkeit sein; Herr Schick, da
gebe ich Ihnen vollkommen recht . Manche Banken sind
in den letzten Jahren allerdings sehr hartnäckig gewesen
und sind unserer Aufforderung nicht gefolgt . Damit muss
jetzt Schluss sein . Deswegen schreiben wir in dem Ge-
setz jetzt eine Offenlegung vor . Jeder Kunde kann dann
die Dispozinsen online vergleichen und für sich das beste
Angebot heraussuchen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein weiterer Punkt, den wir angehen, sind die Bera-
tungspflichten bei der Überziehung. Aus einer Umfrage
aus dem Jahr 2013 geht hervor, dass etwa 10 Prozent
aller Bürger jeden Monat den Dispo nutzen; 8 Prozent
nutzen ihn permanent, das ganze Jahr und über Jahre
hinweg . Das legt den Schluss nahe, dass vielen dieser
Dispokunden nicht bekannt sein kann, dass es wirklich
kostengünstigere Alternativen zum Dispo gibt . Das wol-
len wir und das müssen wir ändern .

Wenn ein Kunde – um das jetzt genau festzulegen –
sein Konto zukünftig über sechs Monate zu mehr als
75 Prozent des vereinbarten Höchstbetrages überzieht
oder die geduldete Überziehung über drei Monate unun-
terbrochen zu mehr als 50 Prozent nutzt, wird ihm ein
Beratungstermin offeriert . Wichtig dabei: Es bleibt nach
wie vor seine freie Entscheidung, ob er die Beratung an-
nimmt oder ob er sie ablehnt .

Die Beratung – das fordern wir allerdings ein – muss
auf alle Alternativen zum Dispokredit hinweisen, mögli-
che Konsequenzen aufzeigen oder auch geeignete Bera-
tungsstellen nennen, etwa eine Schuldnerberatung .


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man erst mal zwei Alternativen bieten!)


Mir als CDU/CSU-Verbraucherschutzpolitikerin sind
natürlich die Verbraucherinformationen ganz besonders
wichtig . Überall und immer spreche ich davon: Nur wenn
man gute Informationen hat, kann man auch eigenverant-
wortlich handeln und eigenverantwortliche Entscheidun-
gen treffen . Der Entwurf geht an dieser Stelle schon in
die richtige Richtung, aber sicherlich gibt es an der einen
oder anderen Stelle auch noch etwas nachzujustieren .

Ich freue mich auf die weiteren Beratungen mit Ihnen
und bin mir sicher, dass wir am Ende eine Umsetzung
der Wohnimmobilienkreditrichtlinie haben werden, die
ein Stück weit mehr die Handschrift der CDU trägt und
uns als CDU/CSU in der Verbraucherpolitik ein weiteres
Stück nach vorne bringt .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812511200

Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Dennis

Rohde von der SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dennis Rohde (SPD):
Rede ID: ID1812511300

Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Welt ist komplizierter und globaler ge-
worden . Wenn wir heute Kreditprodukte kaufen wollen,
dann haben wir eine Fülle von Angeboten vor uns . Wenn
meine Großeltern Bankgeschäfte getätigt haben, dann
sind sie meistens im Dorf geblieben . Sie sind zu ihrem
„Bankbeamten“ gegangen . Das war zwar in der Regel
kein Beamter, aber allen Leuten kam es so vor, als sei
er ein Beamter . Hatten sie Geld über, haben sie es aufs
Sparbuch gelegt; benötigten sie Geld, haben sie bei ihm
einen Kredit aufgenommen . Und wenn sie eine Beratung
bei einem Hauskauf brauchten, dann hat das alles bei die-
ser einen Person stattgefunden, die in der Regel in der
Nachbarschaft gewohnt hat . Und wenn die Mist gebaut
hat, hat man bei ihr an der Haustür geklingelt und sich
dort beschwert .

Die Welt ist, wie ich gesagt habe, etwas komplizier-
ter geworden . Wir kaufen Produkte im Internet und
schließen dort Kredite ab . Wenn wir ein Haus kaufen
wollen, dann haben wir nicht nur das Angebot von unse-
rem „Bankbeamten“ vor Ort, sondern wir können unter
vielen verschiedenen Angeboten auswählen . Wir haben
verschiedenste Produkte zur Auswahl, Produkte wie ein-
fache Immobilienkredite, die wir sofort verstehen, aber
auch Produkte mit ganz komplizierten Namen, bei denen
wir erst einmal gar nicht wissen, was sich dahinter ver-
steckt . So bietet zum Beispiel meine Bank einen Select
Emerging Markets Investment Grade Bond Fund an . Es
ist wohl allen klar, was damit gemeint ist . Wenn jeman-
dem es nicht klar ist – ich habe die Beschreibung dabei .

Die Welt ist also komplizierter geworden . Entspre-
chend muss auch die Antwort der Verbraucherschutzpo-
litik sein . Wir müssen die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher ein bisschen an die Hand nehmen .

Gleichzeitig harmonisieren wir den europäischen
Markt . Wir treffen nicht nur Entscheidungen für unser
Land, sondern versuchen, einen möglichst einheitlichen
europäischen Markt aufzubauen . Dafür wurde heute ein
Gesetzentwurf zur Umsetzung der Wohnimmobilien-
kreditrichtlinie eingebracht, die ganz viele Bereiche der
Wohnimmobilienkredite regelt . Sie enthält – ich zitiere
aus der Begründung des Gesetzentwurfs –

im Wesentlichen Bestimmungen zu Werbung, (vor-)

vertraglichen Informationen, Kreditwürdigkeits-
prüfung, Widerrufsrecht oder Bedenkzeit, vorzeiti-
ger Rückzahlung und Vorfälligkeitsentschädigung,
Fremdwährungsdarlehen, Beratungsleistungen bei
der Kreditvergabe und -vermittlung sowie zu Kopp-
lungsgeschäften .

Ich weiß, die Frau Präsidentin schaut hinter mir auf
die Uhr; ich kann nicht zu allen Punkten etwas sagen . Ich

Mechthild Heil






(A) (C)



(B) (D)


möchte daher zwei Punkte herausgreifen und sie etwas
näher ausführen .

Zum einen regeln wir mit der Wohnimmobilienkre-
ditrichtlinie auch die Honorarberatung für diesen Be-
reich. Ich finde, es ist ganz wichtig, dass wir ein zusätzli-
ches Angebot für die Verbraucherinnen und Verbraucher
schaffen . Aber ich möchte betonen, dass es ein zusätzli-
ches Angebot ist . Denn ich glaube, dass bei vielen Ver-
braucherinnen und Verbrauchern an dieser Stelle erst
einmal ein Umdenken stattfinden muss. Wenn wir heute
eine Versicherung oder einen Kredit brauchen, dann ge-
hen wir davon aus, dass die Beratungsdienstleistung für
uns kostenfrei ist, dass wir nicht dafür bezahlen müssen;
denn der Berater bekommt ja am Ende die Provision von
der Versicherung bzw . von der Bank . Deshalb glaube ich,
dass erst einmal ein Umdenken stattfinden muss, dass
jetzt für diese Leistung bezahlt werden soll .

Aber natürlich ergibt sich daraus auch ein Mehrwert;
denn ich kann zumindest mit dem sicheren Gefühl nach
Hause gehen, auch wirklich das für meine individuelle
Situation beste Produkt bekommen zu haben . Ich muss
nicht immer die Frage im Hinterkopf haben, ob es wirk-
lich das beste Produkt für mich ist oder ob es für dieses
Produkt vielleicht nur die höchste Provision gab. Ich fin-
de es gut, dass wir mit der Umsetzung dieser Richtlinie
die Honorarberatung für diesen Bereich auf den Weg
bringen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der zweite Punkt ist schon mehrfach angesprochen
worden: Wir legen neue Regelungen für die Dispozin-
sen fest . Ich möchte Frau Heil ausdrücklich recht geben:
Was da auf dem Zinsmarkt stattfindet, ist zum Teil eine
schreiende Ungerechtigkeit . Wir haben momentan einen
Basiszinssatz von 0,83 Prozent . Der Euribor liegt weit
unter 0,5 Prozent . Der Zinssatz für einen Dispokredit
liegt im Durchschnitt – so die Stiftung Warentest – im-
mer noch im zweistelligen Bereich . Es gibt immer noch
Banken, die für Dispozinsen 15 Prozentpunkte mehr ver-
langen und ihre Dispozinsen verschleiern – das hat Frau
Heil gerade gesagt – und nicht veröffentlichen, sodass
man sich als Verbraucher nicht informieren kann . Es ist
richtig und wichtig, dass wir endlich sagen: Mit diesem
Geschäftsgebaren muss Schluss sein . Jeder, der Dispo-
zinsen anbietet, muss auch transparent machen, wie hoch
diese sind .


(Beifall bei der SPD)


Ich muss für unsere Fraktion noch einmal betonen,
dass es uns natürlich am liebsten wäre, wenn wir sa-
gen würden: Wir warten jetzt einmal nicht ab, was die-
se Transparenzregelung bringt . Wir warten jetzt einmal
nicht ab, ob sie greift . – Wir sind da guter Dinge . Die
beste Lösung ist, dass wir eine gesetzliche Deckelung
auf den Weg bringen, wie sie übrigens vor wenigen Stun-
den wenige Meter von hier entfernt der Bundesrat be-
schlossen hat . Der Bundesrat fordert in der Umsetzung
der Wohnimmobilienkreditrichtlinie eine Deckelung auf
8 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz. Ich finde, dass

wir uns zumindest damit noch einmal intensiver beschäf-
tigen müssen .


(Beifall bei der SPD)


Natürlich helfen Dispozinsen nicht denjenigen, die
überschuldet sind . Wir wissen, dass fast 10 Prozent der
Bundesbürgerinnen und Bundesbürger in einer Situation
sind, die man schon fast als Überschuldung oder als klare
Überschuldung, bei der der einzige Ausweg die Privat-
insolvenz ist, bezeichnen muss . Für diese Bürgerinnen
und Bürger brauchen wir andere Lösungen . Ich bin da-
für, dass wir uns in den nächsten Wochen und Monaten
auch einmal selbst die Frage stellen: Welche Regelung
können wir denn auf den Weg bringen, um Menschen da-
vor zu schützen, überhaupt in die Verschuldungsfalle zu
kommen? Denn Vorbeugung ist, glaube ich, besser, als
Leute nachher in die Privatinsolvenz zu schicken . Auch
das sollte für uns eine Herausforderung in den nächsten
Wochen und Monaten sein .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812511400

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Volker

Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1812511500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Das Wort „Kredit“ kommt aus dem Lateinischen
und bedeutet „das in Treu und Glauben Anvertraute“ . Wir
haben die Aufgabe, in einem umfangreichen Gesetzge-
bungsprozess Vertrauen gerecht zu werden und Vertrau-
en zu schaffen, einerseits das Vertrauen des Verbrauchers
in einen praktikablen und ordnungsgemäßen rechtlichen
Rahmen der Kreditabwicklung und andererseits das not-
wendige Vertrauen einer Volkswirtschaft in einen funk-
tionierenden Kreditmarkt . Aus Sicht des Verbrauchers
steht diese Anforderung im Spannungsfeld zwischen
dem notwendigen Schutz einerseits und der notwendigen
Eigenverantwortung andererseits . Ich meine, dieser Ge-
setzentwurf wird diesem Spannungsfeld gerecht .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte auf drei Punkte eingehen, die aus meiner
Sicht eine nähere Betrachtung erfahren sollten .

Erstens . Wir führen auch zivilrechtlich eine soge-
nannte Kreditwürdigkeitsprüfung im Bereich der Ver-
braucherdarlehen ein . Bislang war es so, dass lediglich
die darlehensausreichende Bank aufsichtsrechtlich nach
dem Kreditwesengesetz eine Kreditwürdigkeitsprüfung
vornehmen musste . Jetzt wird diese auch im BGB ver-
ankert . Die Sanktionen sind durchaus gravierend: Wenn
ein Kredit ausgereicht wird, ohne eine ordnungsgemäße
Kreditwürdigkeitsprüfung vorgenommen zu haben, er-
mäßigt sich gesetzlich der Zinssatz auf den öffentlicher
Pfandbriefe, das heißt im Augenblick auf praktisch null .
Allerdings tritt diese Ermäßigung nur bei grober Fahrläs-
sigkeit oder Vorsatz in Bezug auf die Mitwirkungspflicht
des Darlehensnehmers ein . Kommt der Darlehensnehmer

Dennis Rohde






(A) (C)



(B) (D)


seiner Mitwirkungspflicht fahrlässig oder leicht fahrläs-
sig nicht nach, dann kann er diese Ermäßigung nicht in
Anspruch nehmen . Ich möchte betonen, dass wir im Er-
gebnis den schlampigen Kreditnehmer nicht auch noch
belohnen sollten . Deswegen sollten wir bei dieser Frage
noch einmal genauer hinsehen .

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch betonen, dass
wir uns überlegen sollten, ob sich die Kreditwürdigkeits-
prüfung nicht auch auf sogenannte Null-Prozent-Finan-
zierungen erstrecken sollte . Null-Prozent-Finanzierun-
gen unterliegen nicht dem Darlehensbegriff, weil sie
eben nicht entgeltlich sind . Aber die Folgen sind ähnlich,
vielleicht sogar gravierender, weil demjenigen, der eine
Null-Prozent-Finanzierung in Anspruch nimmt, bei-
spielsweise die Möglichkeit der Einrede der Mängelrüge
fehlt . Das heißt, wenn er das gekaufte Gut zurückgibt,
dann muss im Zweifel der Kredit dennoch bedient wer-
den . Das ist eine Unbilligkeit, die wir aufheben sollten .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Bei der Frage der Dispozinsen möchte ich ein wenig
meine Enttäuschung darüber zum Ausdruck bringen, dass
trotz der Appelle aus diesem Hohen Haus und der Debat-
te, die wir seit eineinhalb Jahren führen, die Banken kein
Zinsniveau erreicht haben, das allgemein akzeptabel und
dankbar ist . Die Dispozinsen sind nach wie vor zu hoch .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Frage ist, wie wir darauf reagieren . Gesetzliche
Deckelungen mögen eine Antwort sein . Die andere ist
aber, auf Transparenz und Beratung zu setzen, und zwar
Beratung in einem Umfang, der es für die Banken gar
nicht mehr attraktiv macht, hohe Dispozinsen zu verlan-
gen . Wenn Sie in diesen Gesetzentwurf schauen, dann
stellen Sie fest, dass die Banken beraten und dokumen-
tieren müssen . Sie müssen mehrmals beraten . Am Ende
des Tages müssen sie sogar auf Schuldnerberatungen und
andere Einrichtungen hinweisen . Da wäre es doch für die
Banken zukünftig einfacher, die Dispozinsen zu senken,
um diesen Dokumentationspflichten zu entgehen.

Der letzte Punkt bezieht sich auf die Vorfälligkeitsent-
schädigung und ihre Deckelung . Es ist zunächst einmal
Konsens, dass Vorfälligkeitsentschädigungen ein wichti-
ges Instrument sind, weil sie die Disposition der Bank
und das Vertrauen auf die Laufzeit des Darlehens ein
Stück weit kompensieren und weil damit die Banken ihre
eigenen Refinanzierungsmöglichkeiten besser absichern
können . Die Frage ist also, ob eine Vorfälligkeitsentschä-
digung gerade im Bereich der Immobilienkredite gede-
ckelt werden sollte oder nicht . Ich bitte darum, dass wir
diese Frage sehr sorgsam prüfen . Es nützt nämlich nichts,
wenn wir die Vorfälligkeitsentschädigungen bei Immobi-
liendarlehen deckeln, dadurch aber das Zinsniveau allge-
mein steigt, wir das Festzinsniveau in Deutschland unter-
minieren und damit am Ende die Kredite für Häuslebauer
teurer sind . Wir hätten dem ganzen System damit einen
Bärendienst erwiesen . Das wollen wir nicht . Wir stehen
an der Seite unserer Häuslebauer .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, es ist ein umfangreiches
Gesetzespaket mit einer enormen praktischen Auswir-
kung . Deswegen kann ich für unsere Fraktion zusichern,
dass wir dieses Gesetzesvorhaben sehr sorgsam und in-
tensiv begleiten und offen sind für praxistaugliche, ver-
braucherfreundliche und das System unserer Volkswirt-
schaft schützende Vorschriften und Vorschläge .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812511600

Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich

schließe die Aussprache .

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 18/5922 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Müller (Potsdam), Sigrid Hupach, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Kinderrechte umfassend stärken

Drucksache 18/6042
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend (13 . Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Doris Wagner, Beate
Walter-Rosenheimer, Dr . Franziska Brantner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Von Anfang an beteiligen – Partizipations-
rechte für Kinder und Jugendliche im demo-
grafischen Wandel stärken

Drucksachen 18/3151, 18/5276

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze
einzunehmen .

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner hat
Norbert Müller von der Fraktion Die Linke das Wort .
Gleichzeitig bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, sich
an die Redezeit zu halten; denn wir sind schon in Verzug .


(Beifall bei der LINKEN)



Norbert Müller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812511700

Ich will es versuchen, Frau Präsidentin .

Dr. Volker Ullrich






(A) (C)



(B) (D)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher, die Sie
am Freitagnachmittag auf der Tribüne sitzen! Es ist eine
gute Gelegenheit, dass wir auf der Grundlage einer Pe-
tition, die über 100 000 Menschen unterzeichnet haben,
jetzt darüber reden können, in Deutschland einen Kin-
derbeauftragten einzuführen . Die Debatte ist deutlich äl-
ter . Es gibt sie seit den 80er-Jahren . Aber immerhin hat
der Druck der Petition insgesamt wieder Bewegung in
das ganze Thema „Kinderrechte“ und „Kinderrechte ins
Grundgesetz“ gebracht .

Der Antrag, den wir vorgelegt haben, vereint erstmals
die Frage der Einberufung eines Kinderbeauftragten auf
der einen Seite mit der Umsetzung der UN-Kinderrechts-
konvention, die am 20 . November ins 27 . Jahr ihres Be-
stehens geht, und der Aufnahme von Kinderrechten ins
Grundgesetz auf der anderen Seite . Warum wollen wir
Kinderrechte stärken? Wir glauben, dass Kinderrechte
ins Grundgesetz gehören, damit die UN-Kinderrechts-
konvention in all ihren Punkten wirkungsmächtig umge-
setzt werden kann .

Gerade die Vereinten Nationen weisen immer wieder
auf Defizite in Deutschland hin. Ich will nur einige exem-
plarisch nennen: hohe Kinderarmut bei gleichzeitigem
massivem Reichtum im Land, frühe Selektion im Bil-
dungssystem und verwehrte Bildungschancen, die häufig
mit der Armut der Familien zu tun haben und sich dann
vererben, massive Qualitätsunterschiede bei Betreuung
und Bildung im Land, aber auch Rekrutierung und Wer-
bung der Bundeswehr in Schulen und Kitas, Rekrutie-
rung von 17-Jährigen zum Dienst an der Waffe – auf frei-
williger Basis, aber immerhin –, mangelnder Schutz für
besonders schutzbedürftige Gruppen wie junge Flücht-
linge oder junge Menschen mit Behinderung; über junge
Flüchtlinge haben wir heute früh bereits gesprochen .

Ich glaube übrigens, Herr Lehrieder: Hätten wir be-
reits einen Bundeskinderbeauftragten, dann würde er
Ihnen – ähnlich wie ein Menschenrechtsbeauftragter –
angesichts des heute früh andiskutierten Gesetzes zur
Umverteilung von unbegleiteten minderjährigen Flücht-
lingen die Leviten lesen .


(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ach, hör mir auf! Ein gutes Gesetz haben wir da!)


Was ist jetzt der Stand im Verfahren, und was sind die
Interessen der Koalition? Ich hatte gesagt: Die Debatte
um die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz
ist 25 Jahre alt . Es gab bereits in den 80er-Jahren eine
Bewegung für die Einsetzung eines Kinderbeauftragten .
Im Ergebnis wurde immerhin die Kinderkommission des
Deutschen Bundestages eingerichtet . Nun müssen wir ei-
nen Schritt weiter gehen .

Die Petition hat 114 000 Unterschriften erzielt . Aber
sie betrifft eben nur eine Seite der Medaille . Um einen
UN-kinderrechtskonformen Zustand in Deutschland her-
zustellen – darauf weist die Konvention selbst bereits
hin –, muss die Konvention in nationales Recht, auch in
nationales Verfassungsrecht, überführt werden . Ein Kin-
derbeauftragter kann dabei als Ergänzung zur Stärkung
der Rechtssubjektstellung von Kindern im Grundgesetz

angesehen werden . Es gehört eben zusammen; man darf
es nicht voneinander isolieren .

Was sind die drei Kernziele unseres Antrages?

Erstens . Wir wollen die Kinderrechte ins Grundgesetz
bringen, das heißt, wir wollen den Vorrang des Kindes-
wohls und den Anspruch der Kinder auf Schutz, Förde-
rung und Beteiligung verfassungsrechtlich verankern .
Das ist dringender denn je .

Zweitens . Wir wollen im Grundgesetz einen unab-
hängigen Kinderbeauftragten verankern . Das ist eine
Forderung, die auch von den Verbänden erhoben wird .
Es gibt immer den Hinweis auf den Wehrbeauftragten .
So ähnlich kann man sich das vielleicht vorstellen . Ich
glaube, wenn man auf der einen Seite die Rechtssubjekt-
stellung der Kinder stärkt, indem man die Kinderrechte
im Grundgesetz verankert, muss dies zwingend nach sich
ziehen, den Kinderbeauftragten ebenfalls im Grundge-
setz zu verankern .

Drittens . Wir brauchen ein Gesetz über die Befugnisse
eines Kinderrechtsbeauftragten .


(Beifall bei der LINKEN)


Wie können diese Befugnisse aussehen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen? Ein Kinderbeauftragter könn-
te unseres Erachtens zur Kinderrechtskonformität von
Gesetzesvorhaben des Bundes – möglicherweise auch
der Länder, wenn man das ganze System so ausgestal-
tet – Stellung nehmen . Er könnte Behördenhandeln, das
gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstößt, kritisie-
ren . Wir bauen allmählich über das Deutsche Institut für
Menschenrechte entsprechende Strukturen auf, aber wir
sind da erst ganz am Anfang .

Kinderrechte müssen ins öffentliche Bewusstsein ge-
bracht werden . Auch dafür kann ein Kinderbeauftragter
Botschafter an prominenter Stelle sein . Er kann aber auch
Ansprechpartner für die zum Teil schon vorhandenen
Kinderbeauftragten auf Landes- und kommunaler Ebene
sein .

Wir wollen dem Kinderbeauftragten darüber hinaus
Rechte geben . Auch deswegen muss er in der Verfassung
verankert werden . Wir wollen, dass er Akteneinsicht und
ein Anhörungsrecht, aber auch ein Recht auf Amtshilfe
erhält, um beschwerdeführende Kinder vertreten zu kön-
nen .

Wir wollen, dass Landesverfassungen und Landesge-
setze an den Vorrang des Kindeswohls angepasst werden
bzw . – um es mit den Worten der UN-Kinderrechtskon-
vention zu sagen – im besten Interesse des Kindes for-
muliert werden .

Wir wollen, dass die Beteiligungsmöglichkeiten suk-
zessive ausgebaut werden . Dafür bedarf es aber auch ent-
sprechender finanzieller Möglichkeiten auf kommunaler
und Landesebene sowie auf Bundesebene .

Die Monitoringstelle, die jetzt beim Deutschen Ins-
titut für Menschenrechte eingerichtet werden soll, muss
deutlich stärker aufgestellt werden, damit sie wirklich be-
fähigt wird, dafür zu sorgen, dass die UN-Kinderrechts-
konvention vollständig umgesetzt wird und es keine grö-

Norbert Müller (Potsdam)







(A) (C)



(B) (D)


ßeren Verletzungen mehr geben kann; sie muss ertüchtigt
werden . Dass es sie gibt, kann eben nur ein Anfang sein .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben erste Befürchtungen, was die Koalition daraus
machen wird . Wir wissen, dass Sie da unterschiedlichste
Vorstellungen haben . Ich weiß, dass die Sozialdemokra-
ten ebenso – da sind wir uns sehr einig – die Kinderrechte
ins Grundgesetz aufnehmen und einen Kinderbeauftrag-
ten einsetzen wollen . Wir hören aus der Union – wir hat-
ten ja schon eine erste Anhörung dazu –, dass auch Sie
sich vorstellen könnten, einen Kinderbeauftragten einzu-
setzen . Aber was ich da an konkreten Vorstellungen höre,
das macht mir eher Angst und Bange .

Ich sage Ihnen deutlich: Wenn die Debatte über einen
Kinderbeauftragten am Ende dazu genutzt wird, um die
spezifische Stellung der Kinderkommission des Deut-
schen Bundestages zu schleifen – das nennen Sie dann
Aufwertung, ich nenne das Abwertung –, daraus einen
ordentlichen Ausschuss zu machen, oder wenn sich die
Fraktionen der Großen Koalition mit Fraktionszwang
durchsetzen, um den Anfang von öffentlicher Ombud-
schaft für Kinder – denn das ist die KiKo ein Stück
weit – wegzuschleifen, um dann einen zahnlosen Kin-
derbeauftragten, der in Personalunion auch Vorsitzender
der Kinderkommission sein soll, zu installieren, dann ist
das genau der falsche Weg . Das führt zum Abbau von
Kinderrechten . Das geht nicht in die richtige Richtung .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen, dass das Amt des Bundeskinderbeauf-
tragten keine Alibiveranstaltung wird . Wir wollen die
114 000 Petentinnen und Petenten ernst nehmen . Sie
ernst zu nehmen, heißt in erster Linie – ich komme zum
Schluss –, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen,
aber auch, einen Kinderbeauftragten zu installieren, der
handlungsfähig ist . Er muss Verfassungsrang bekommen,
und er muss eine gesetzliche Grundlage bekommen, da-
mit er ordentlich arbeiten kann .

Ich wünsche mir eine konstruktive Debatte über un-
seren Antrag im Ausschuss . Herr Lehrieder, ich wünsche
mir auch, dass wir die Durchführung einer Anhörung im
Ausschuss nicht weiter aufschieben, sondern zu einer
zeitnahen Terminierung kommen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das machen wir doch am Mittwoch, Herr Müller!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812511800

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Eckhard Pols

von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1812511900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe
Jugendliche auf der Tribüne, ich freue mich, dass dieser
Debatte auch junge Leute beiwohnen!

Herr Müller hat es schon gesagt: Wir befassen uns
heute mit zwei Anträgen der Oppositionsfraktionen, die
sich in unterschiedlicher Breite und unterschiedlicher
Tiefe der Frage der Kinderrechte widmen . Sie beziehen
sich auf Rechte – das haben wir schon gehört –, die in
der UN-Kinderrechtskonvention verbrieft sind und damit
unmittelbare Geltung in unserem Land haben . Es sind die
wichtigen Rechte auf Schutz vor Gewalt und Krieg, auf
freie Meinungsäußerung, auf ein gesundes Aufwachsen,
aber auch auf Freizeit, Ruhe und Spiel, um nur einige zu
nennen .

Ich denke, Kollege Müller, dass wir in einigen Punk-
ten nicht ganz so weit mit den anderen Fraktionen aus-
einanderliegen, was die Wertschätzung und den Wunsch
nach Stärkung der Kinderrechte in Deutschland angeht .


(Norbert Müller Bei uns beiden glaube ich das schon!)


Insbesondere in Zeiten von Flüchtlingsströmen und in-
ternationalen Krisen ist das Kindeswohl etwas, das un-
serer besonderen Aufmerksamkeit bedarf . Vielmehr: Es
sind die Kinder, die unseres Schutzes bedürfen . Ich den-
ke hier besonders an die unzähligen unbegleiteten min-
derjährigen Flüchtlinge, denen wir schnellstens Obdach,
Sicherheit und ein möglichst kindgerechtes Umfeld bie-
ten müssen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Nicht umsonst ringen wir intensiv um den Gesetzent-
wurf zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung
und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher,
über den wir heute Vormittag in diesem Hause debattiert
haben .

Bei aller Einigkeit bei der Einstellung zu Kinderrech-
ten gibt es jedoch im Detail einiges, was uns, die Opposi-
tionsfraktionen und die Koalitionsfraktionen, trennt . Das
ist vor allem die Frage der praktischen Umsetzung . Wel-
che Wege wollen wir einschlagen, um eine Stärkung der
Kinder und ihrer unveräußerlichen Rechte zu erreichen?
Im Grunde lässt sich dabei die wiederkehrende Debatte
auf zwei zentrale Punkte zuspitzen: Werden Kinderrech-
te stärker wahrgenommen, wenn sie im Grundgesetz ste-
hen? Werden sie besser geachtet, wenn es einen Bundes-
kinderbeauftragten bzw . eine -beauftragte in Deutschland
gibt?

Gerade in der letzten Zeit – Herr Müller hat es ange-
sprochen – hat der letzte Punkt durch eine Petition des
Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte ein biss-
chen Aufwind bekommen . An dieser Stelle möchte ich
den Petenten danken, dass sie uns wichtigen und richti-
gen Input gegeben haben und den Finger auf einen Punkt
legen, über den seit vielen Jahren innerhalb und außer-
halb der Politik debattiert wird .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Der Antrag der Linken und in Teilen auch der Antrag
der Grünen greift die Forderung der Petenten auf . Sie
fügen dem potenziellen Amt aber auch weitere Anforde-
rungen, Aufgaben und Strukturen hinzu . Ich sage auch –
es ist ein offenes Geheimnis –, dass ich einer Stärkung

Norbert Müller (Potsdam)







(A) (C)



(B) (D)


der Kinderrechte, in welcher Form auch immer, offen
gegenüberstehe .

Dennoch halte ich den Zeitpunkt der Anträge für un-
glücklich . Denn wie auch Sie, liebe Kollegen der Op-
positionsfraktionen, wissen, findet innerhalb der Regie-
rungskoalition eine intensive Diskussion – ich schaue
hier besonders meine Kollegin Rüthrich an – über die Pe-
tition und die politischen Handlungsmöglichkeiten statt .


(Norbert Müller Wir können jetzt nicht mehr abwarten!)


Diese Diskussion ist noch nicht abgeschlossen,


(Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum müsst ihr es ein bisschen beschleunigen!)


und ich möchte dem Ergebnis an dieser Stelle auch nicht
vorgreifen . Für mich ist bei allen Optionen, die wir ha-
ben, die derzeit im Raum stehen, entscheidend, dass wir
am Ende eine substanzielle Verbesserung für Kinder und
deren Interessen erreichen . Das ist genau das, was ich,
glaube ich, vor einem Jahr in der Debatte zum 25 . Jubi-
läum der Kinderrechtskonvention hier deutlich gemacht
habe .

Es muss die Frage geklärt werden, ob die Einrichtung
einer neuen Bundesstelle für die Anliegen von Kindern
hilfreich ist oder ob dadurch hinderliche Doppelstruktu-
ren zu bestehenden Institutionen und Organen geschafft
würden . Auch muss geklärt werden, ob Verbesserungen
bestehender Organisationen nicht sinnvoller sind, um
eine Aufwertung der Kinderrechte zu erreichen .

Parallel zur Diskussion der angesprochenen Fragen
nehmen wir voraussichtlich schon im Herbst eine wich-
tige Stärkung von Kinderrechten vor, indem wir die
Monitoringstelle für die Umsetzung der Kinderrechts-
konvention einsetzen . Sie wird beim Deutschen Institut
für Menschenrechte angesiedelt und mit Bundesmitteln
gefördert . Daran wird deutlich: In Sachen Kinderrechte
ist einiges in Bewegung . Es ist also anders, als die Oppo-
sition uns das immer wieder glauben machen will .

An dieser Stelle möchte ich einen Hinweis zum An-
trag der Grünen geben – das habe ich in der Ausschuss-
debatte schon angesprochen; als aktiver Kommunalpo-
litiker möchte ich das aber wiederholen –: Viele Ihrer
Vorschläge zur Beteiligung mögen im ersten Moment
sinnvoll und schön klingen, aber leider nur im ersten Mo-
ment; denn – das wissen Sie alle – wir haben in der Bun-
desrepublik Deutschland aus gutem Grund eine föderale
Grundordnung . Aus einem ebenso guten Grund werden
viele Entscheidungen möglichst nah am Menschen ge-
troffen . Das ist übrigens ein Gütezeichen dieser födera-
len Ordnung: geteilte Zuständigkeiten und gemeinsame
Aufgaben . Diese Erkenntnis sprechen Sie, werte Kolle-
gen der Grünen, in Ihrem Antrag indirekt selbst an . Sie
stellen zu Recht fest, dass eine Beteiligung von Kindern
an den Orten am meisten Sinn macht, an denen die Kin-
der direkt betroffen sind, nämlich in ihrem Lebensum-
feld . Umso verwunderlicher ist es für mich, dass Sie
dabei nicht feststellen, dass ein Großteil der in Ihrem An-
trag formulierten Forderungen nicht in die Zuständigkeit

des Bundes fällt, sondern dafür aus guten Gründen die
Landesebene oder die Kommunen zuständig sind .

Partizipation von Kindern fängt überall dort an, wo die
Lebenswelten von Kindern berührt sind . Das beginnt in
der Familie, geht über den Kindergarten und die Schulen
bis zum Sportverein, also im direkten örtlichen Umfeld .
Es gibt wunderbare Beispiele, wie Kinder und Jugendli-
che vor Ort eingebunden werden können . Ich denke an
die engagierten Schülersprecher, an Vorstandsmitglieder
in Vereinen, aber auch die zahlreichen Kinder- und Ju-
gendparlamente, an die Kreisjugendringe, die Jugendge-
meinderäte oder die Kinder- und Jugendbeauftragten . Sie
leisten eine hervorragende Arbeit im Lebensumfeld der
Kinder, und damit unmittelbar erlebbar für die Kinder .

Die engagierten Jugendlichen, aber auch die Man-
datsträger vor Ort können sich der Unterstützung des
Bundes sicher sein, sei es über Fördermittel aus dem
Fonds „Demokratie leben!“, die gezielt für die Bildung
von Jugendforen und Jugendfonds zur Verfügung stehen,
über spezielle Förderinstrumente des Innovationsfonds
des Kinder- und Jugendplans des Bundes oder durch
praktische Tipps in der Broschüre „Qualitätsstandards
für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen“ des Bun-
desministeriums .

Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Vie-
le Kommunen gehen bereits neue und auch innovative
Wege in Sachen Kinder- und Familienfreundlichkeit,
schlicht und ergreifend, weil sie es müssen . Offenheit für
die Belange der Kinder und die besonderen Bedürfnisse
von Familien ist ein Standortvorteil, den ein Lokalpoliti-
ker natürlich gerne für sich nutzt .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Sönke Rix [SPD])


Dieses Engagement und den Ideenreichtum kleinzu-
reden, liebe Kolleginnen und Kollegen, empfinde ich ein
bisschen als Missachtung des Engagements der Men-
schen vor Ort . Anträge, die von einer solchen Einstellung
getragen werden, Herr Müller, kann und will ich nicht
unterstützen .

Lassen Sie uns den Menschen und den Strukturen vor
Ort vertrauen . Bringen wir ihnen Vertrauen entgegen;
denn die Menschen vor Ort wissen, wo Hilfe dringend
nötig ist . Unsere Aufgabe besteht zum großen Teil darin,
die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen .
Ich glaube, wir sind da auf dem richtigen Weg .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812512000

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Beate

Walter-Rosenheimer von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Ich bin froh,
dass wir heute diese Debatte zum Thema Kinderrechte

Eckhard Pols






(A) (C)



(B) (D)


führen . Ich begrüße ausdrücklich den Antrag der Linken,
über den wir heute sprechen und zu dem wir unseren An-
trag „Von Anfang beteiligen“ dazugestellt haben .

Kinder- und Jugendpartizipation im Zeitalter des
demografischen Wandels ist in aller Munde. Diskutiert
wird über Kinderrechte . Experten referieren, wie gut und
wichtig eine möglichst frühe altersgerechte Beteiligung
von Kindern ist und wie wichtig diese für unsere Gesell-
schaft ist . Ich glaube, da sind wir uns alle einig .

Warum sprechen wir aber immer noch und immer wie-
der darüber, Kinderrechte umfassend zu stärken? Weil,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Begriffe in
der Theorie zwar gut klingen, in der Praxis aber immer
noch relativ stiefmütterlich behandelt werden .


(Norbert Müller Richtig!)


Da heißt es: endlich handeln!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die UN-Kinderrechtskonvention ist bei uns nicht
vollständig umgesetzt, auch nicht im Hinblick auf die
Partizipationsrechte . Die Vereinten Nationen ermahnen
Deutschland immer wieder, den Kinderrechten mehr
politisches Gewicht zu verleihen . Deutschland ist, was
Kinderrechte angeht, ein Flickenteppich . Das sage nicht
ich, das sagen nicht die Grünen, sondern das sagen die
Vereinten Nationen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch richtig so! Da müssen wir ran jetzt!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie
fordern in Ihrem Antrag einen Gesetzentwurf, „der die
Kernaufgaben, die Befugnisse, die Stellung sowie die
Ausstattung des/der Bundeskinderbeauftragten regelt“ .
Das finde ich gut. Das wollen auch wir als Grünefraktion.
Eines muss klar sein: Wenn wir einen Kinderbeauftrag-
ten auf Bundesebene etablieren, dann braucht dieser eine
gewichtige Stimme – und kein Stimmchen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Norbert Müller [DIE LINKE])


Die Position muss stark sein und darf kein Spielball poli-
tischer Interessen werden .

Kinder- und Jugendpolitik ist aber viel mehr . Sie
bedeutet Beteiligung . Das hat Herr Pols, mein Kollege
aus der Kinderkommission, gerade schon gesagt . Selbst
entscheiden, selbst mitmachen, natürlich vor Ort in der
Familie, aber auch überall, Demokratie lernen . In Ihrem
Antrag, liebe Linke – das ist für mich ein Wermutstrop-
fen –, kommt dieser Partizipationsstrang ein bisschen zu
kurz . Deshalb haben wir uns in unserem Antrag auf das
Wahlalter 16 fokussiert . Auch dieses Thema wird seit
langem diskutiert .


(Zuruf von der CDU/CSU: Das bringt aber nichts!)


Einzelne Kommunen und Länder sind mit gutem Bei-
spiel vorangegangen . Nur im Bund warten wir bis heute
darauf . Das muss sich ändern .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Warum? Ich finde, da lohnt sich ein genauerer Blick.
Ihre Ministerin, Frau Schwesig, war auch Ministerin im
Mecklenburg-Vorpommern und hat sich dort vehement
für die Einführung des Wahlrechts ab 16 eingesetzt . Und
was ist passiert? Dürfen Jugendliche unter 18 jetzt den
Landtag in Schwerin mitwählen? Nein, sie dürfen es
nicht . Nun ist Frau Schwesig Bundesfamilienministerin .


(Zuruf von der LINKEN)


– Ja . Da war sie aber nicht . – Plötzlich scheint dieses
Thema von ihrer jugendpolitischen Agenda komplett ver-
schwunden zu sein . Die Opposition in Mecklenburg-Vor-
pommern hat der Ministerin, die heute leider nicht da ist,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ist im Bundesrat!)


damals vorgeworfen, dass sie, was dieses Thema angeht,
zwar – ich zitiere jetzt nur – kluge Reden hält, aber wenn
es darauf ankommt, schweigt und nicht handelt . Ich hof-
fe, dass wir es auf Bundesebene nicht mit dem gleichen
Phänomen zu tun haben .

Die Frau Ministerin hat in ihrer eigenen Fraktion bei
diesem Thema doch einen großen Rückhalt . Erst kürz-
lich, im Juli, hat der werte Herr Kollege Rix die generel-
le Absenkung des Wahlalters auf 16 gefordert . Die Frau
Ministerin hat viele gute Dinge durchgesetzt – das will
ich nicht bestreiten, und ich bin auch sehr froh darüber –,
aber jugendpolitisch sieht das anders aus . Jugendpoli-
tisch ist ihre Bilanz ein weißer Fleck auf der Landkarte .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Norbert Müller [DIE LINKE])


Die Hälfte dieser Wahlperiode ist um . Langsam wird
es Zeit . Oder ist Ihnen beim Thema Jugendpolitik buch-
stäblich auf halber Strecke die Luft ausgegangen? Ich
nenne ein Beispiel . Nach der Wahl haben Sie einen Ju-
gend-Check angekündigt . Das klingt erst einmal total gut
und hört sich richtig gut an . Im Juli 2015 wollte ich von
Ihrem Ministerium wissen, was daraus wird und wann
der Jugend-Check eingeführt wird . In der Antwort lese
ich, dass Sie sich im September auf Arbeitsebene mit den
Kollegen des österreichischen Familienministeriums zu-
sammensetzen . Das ist Mitte der Legislaturperiode das
erste Gespräch auf Arbeitsebene . Na ja, da brauche ich
nicht mehr viel zu sagen .


(Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich gespannt, ob das noch hinhaut!)


Sehr geehrte Große Koalition, geben Sie sich einen
Ruck! Es spricht vieles für das Wahlalter 16 und nichts
Vernünftiges dagegen .


(Norbert Müller Brandenburg war die CDU dagegen!)


Beate Walter-Rosenheimer






(A) (C)



(B) (D)


Wie sagte Frau Ministerin Schwesig selbst zum Welt-
kindertag am vergangenen Sonntag so schön: „Wir müs-
sen Jugendliche ernst nehmen, ihnen konkrete Angebote
machen, die Zukunft unserer Gesellschaft aktiv mitzu-
gestalten“?


(Zurufe von der CDU/CSU)


– Genau . – Machen Sie sich ans Werk . Die Devise heißt:
Wagen statt Zaudern, Handeln statt Ankündigen, Umset-
zen statt Versprechen . Stehen Sie zu Ihren Worten, und
handeln Sie auch für Jugendliche .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812512100

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Svenja

Stadler von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Svenja Stadler (SPD):
Rede ID: ID1812512200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Kürz-
lich habe ich auf einem Elternabend einen interessan-
ten Satz gehört: Dass Kinder Pflichten haben, wird gern
erwähnt, dass sie aber auch Rechte haben, wird ebenso
gern vergessen . – Natürlich haben Kinder Rechte, und
zwar ganz spezielle Rechte .


(Beifall bei der SPD)


Dazu gehört insbesondere die Feststellung, dass Kinder
und Jugendliche Träger eigener Rechte sind und nicht
bloß als Teil einer Familie oder als Kind von Eltern be-
trachtet werden dürfen .

Deshalb freue ich mich, dass wir zwei Anträge vorlie-
gen haben, die uns einen Anlass geben, hier heute über
das wichtige Thema Kinderrechte zu diskutieren . – Herr
Weinberg, ich freue mich, wenn Sie mitdiskutieren . Dan-
ke .


(Zuruf des Abg . Marcus Weinberg [CDU/CSU] – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


– Vorher sollten Sie mir vielleicht zuhören .

Zum einen diskutieren wir über den Antrag der Lin-
ken, der die UN-Kinderrechtskonvention in den Mittel-
punkt stellt . In diesem Monat jährt sich zum 25 . Mal das
Inkrafttreten der Konvention . Das bedeutet, dass heute
die erste Generation Kinder bereits erwachsen ist, die
von diesen Rechten profitiert hat. Ich finde, das ist ein
Grund zum Feiern, zum Feiern der Konvention selbst als
Grundlage für eine Politik, die Kindern ein gutes Auf-
wachsen ermöglicht, und zum Feiern der Fortschritte, die
wir bei ihrer Umsetzung gemacht haben . Denn der Kin-
derrechtsausschuss der Vereinten Nationen, der die Staa-
tenberichte zur Umsetzung der Konvention auswertet

und beurteilt, stellte zuletzt fest, dass Deutschland große
Fortschritte gemacht hat .


(Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tatsächlich?)


Darüber hinaus gab es auch Verbesserungsvorschlä-
ge . Zum Beispiel wurde vorgeschlagen, eine unabhän-
gige Monitoringstelle einzurichten . Diese wird übrigens
inzwischen vom Familienministerium installiert . Sie ist
vollständig unabhängig und – das wurde richtig fest-
gestellt – beim Deutschen Institut für Menschenrechte
angesiedelt . Die Geschäftsführerin und auch die Mitar-
beiter sind eingestellt, und die Strukturen werden gerade
aufgebaut .


(Beifall bei der SPD)


Sehen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-
ken, wir arbeiten kontinuierlich daran, die Umsetzung
der Konvention zu verbessern .

Das Jubiläum ist aber auch ein Anlass, wie ich finde,
sich zu fragen, was wir noch tun können, um die Rech-
te von Kindern und Jugendlichen zu verbessern und zu
stärken . Für mich liegt es ganz klar auf der Hand: Die
Kinderrechte gehören ins Grundgesetz .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Norbert Müller Schon in der letzten Legislaturperiode legte die SPD-Bundestagsfraktion einen Antrag dazu vor . (Norbert Müller Wir auch!)


Auch mit unserer Familienministerin Manuela Schwesig
sind wir uns darin einig .

Neben dem Antrag der Linken sprechen wir heute
auch über einen Antrag der Grünen .


(Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Genau!)


Ihnen geht es insbesondere um die Beteiligungsrechte
und die Partizipation von Kindern und Jugendlichen .
Dieser Teilbereich der Kinderrechte ist mir als engage-
mentpolitische Sprecherin meiner Fraktion besonders
wichtig .


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Engagementpolitische Sprecherin! – Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen!)


Denn Beteiligung und das Sicheinbringen in eine demo-
kratische Gesellschaft müssen von Anfang an erfahren
und erlernt werden .

Ich möchte hier noch einmal auf die aktuelle Situa-
tion der Flüchtlinge zu sprechen kommen . Bei uns in
Deutschland leben bereits jetzt viele Kinder und Jugend-
liche, die aufgrund von Kriegen, Terror und Verfolgung
aus ihren Heimatländern flüchten mussten. Machen wir
uns nichts vor: Weitere werden kommen . Viele von ihnen
leben ohne Eltern oder Familie bei uns . Ihnen müssen im
Sinne der Chancengleichheit, wie sie in der UN-Kinder-
rechtskonvention festgeschrieben ist, dieselben Rechte

Beate Walter-Rosenheimer






(A) (C)



(B) (D)


zukommen wie allen anderen Mädchen und Jungen in
Deutschland auch .


(Beifall bei der SPD)


Deshalb ist es unendlich wichtig, dass gerade diese Kin-
der und Jugendlichen von Anfang an das Gefühl haben,
dass sie sich und ihre Interessen einbringen können, dass
sie bei uns Gehör finden, dass wir sie ernst nehmen.

Wer Demokratie lernen soll, der muss von Anfang an
die Erfahrung machen, dass Demokratie etwas mit ihm
selbst zu tun hat . Wir müssen dafür Sorge tragen, dass
die Beteiligungsrechte wirklich allen Kindern zustehen,
unabhängig von ihrer Herkunft und unabhängig von ihrer
Religion .

Bereits heute Vormittag haben wir über die unbeglei-
teten minderjährigen Flüchtlinge und ihre Situation ge-
sprochen . Der dazu vorgelegte Gesetzentwurf ist in mei-
nen Augen eine gute Grundlage . Wir müssen aber auch
weiterhin sehr genau darauf achtgeben, dass die Rechte
von Kindern gewahrt und geachtet bleiben . Auch ange-
sichts einer Krisensituation können und dürfen wir hier
keine Abstriche machen .


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass in
unserem Land jedes Kind gut und frei von Gewalt auf-
wächst, von Anfang an gute Bildung genießt und sich ak-
tiv in unsere Gesellschaft einbringen kann, unabhängig
von seiner Herkunft und unabhängig von seiner Religion .
Packen wir es an!

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812512300

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dr . Silke

Launert von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Silke Launert (CSU):
Rede ID: ID1812512400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Jahren
wird kontrovers darüber diskutiert, ob wir Kinderrech-
te in das Grundgesetz aufnehmen sollen . Das 25-jähri-
ge Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention bietet nun
einmal mehr Gelegenheit, darüber zu diskutieren, und ist
Anlass für die Anträge der Opposition .


(Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht reden! Machen!)


Was da beantragt wird, hört sich zunächst einmal gut
an: „Kinderrechte ins Grundgesetz!“ – Was, die stehen da
noch nicht drin? Das kann doch nicht sein .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau, das stimmt!)


Aber beim Durchlesen des Antrages stellt man sich,
wenn man sich genau mit dem Verfassungsrecht beschäf-

tigt hat, die Frage: Ist es denn wirklich so? Sind Kinder
bei uns in Deutschland verfassungsrechtlich noch nicht
ausreichend abgesichert?


(Svenja Stadler [SPD]: Ja! – Norbert Müller Wenn man sich ein bisschen mehr mit der Verfassung beschäftigt, erkennt man, dass Kinder natürlich Träger von Grundrechten sind; (Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Müller Rechte!)


(Potsdam) [DIE LINKE]: Ja, so ist es!)


(Potsdam) [DIE LINKE]: Eigenständige


das wird hier nicht oft genug betont, aber es ist so . Sie
sind Träger des Grundrechts auf Menschenwürde, Arti-
kel 1 Grundgesetz . Sie sind Träger des Grundrechts auf
Leben und Gesundheit, Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz;
das ist relevant, wenn Kinder zu Hause verletzt werden .
Sie sind Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts;
das wird immer wieder angeführt . Sie sind nach der
geänderten Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts inzwischen sogar Träger des Rechts auf Pflege und
Erziehung durch die Eltern aus Artikel 6 Absatz 2 Grund-
gesetz . Die Rechtsprechung hat also schon sehr viel ent-
wickelt; es gibt da sehr viel . Kinder sind Menschen, und
sie haben dieselben Grundrechte wie Menschen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Ehrlich?)


– Ja, weil Sie so tun, als seien Kinder bei uns in der Ver-
fassung nicht ausreichend geschützt . So ist es eben nicht .


(Beate Walter-Rosenheimer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Doch!)


Ich frage mich: Wenn wir jetzt anfangen, Kindern be-
sonderen Schutz zuzugestehen, kommen dann nicht auch
die Senioren, kommen dann nicht zu Recht auch die Be-
hinderten und sagen: „Auch wir möchten einen besonde-
ren Schutz bekommen“?


(Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh ja! Ich will auch noch mehr!)


Kommt dann nicht – zu Recht – die nächste Gruppie-
rung?


(Ulli Nissen [SPD]: „Gruppierung“? – Weiterer Zuruf von der SPD: Kinder sind doch keine Gruppierung!)


Genau darum geht es . Das ist mit dem System der Grund-
rechte, so wie es derzeit angelegt ist, nicht vereinbar .


(Dr . André Hahn [DIE LINKE], an die SPD gewandt: Habt ihr einen tollen Koalitionspartner!)


Wissen Sie, ich habe ein Jahr Verfassungsrecht ge-
macht, mich ein Jahr mit Artikel 6 Grundgesetz beschäf-
tigt .


(Zurufe von der SPD: Oh! – Na, dann müssten Sie sich ja eigentlich auskennen! – Wie toll!)


Svenja Stadler






(A) (C)



(B) (D)


– Nein, aber die, die das fordern, haben sich meistens
eben nicht so tief eingearbeitet . Deshalb würde ich Ihnen
gern kurz sagen, was da drinsteht .

Es gibt in der Verfassung eine zentrale Norm, in der
das Verhältnis Kinder/Eltern/Staat geregelt ist . Dafür
gibt es auch einen Grund; den erzähle ich Ihnen nachher .
Wenn ich Sie jetzt fragen würde, würden Sie ihn nämlich
wahrscheinlich nicht kennen .


(Susann Rüthrich [SPD]: Ja, wir sind alle zu blöd dazu! – Stefan Schwartze [SPD]: Danke, Frau Dozentin!)


Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz besagt:

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche
Recht der Eltern

– das natürliche Recht! –

und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.

Das heißt, die Eltern sind in der Pflicht. Das ist also nicht
nur das einseitige Recht der Eltern, sondern es ist ein
dienendes Recht im Interesse des Kindes . Entscheidend
ist das Kindeswohl . Wenn Sie sagen: „Wir brauchen das
Kindeswohl“, antworte ich Ihnen: Da steckt es drin . Das
Bundesverfassungsgericht sagt das schon die ganze Zeit .

In Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz geht es wie folgt
weiter – Satz zwei –:

Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemein-
schaft .

Genau das ist der Unterschied, den wir hier haben: Es
erfolgt eine Kontrolle durch den Staat . Die Eltern haben
das natürliche Recht und die Pflicht, die Interessen der
Kinder wahrzunehmen . Der Staat darf dagegen nur wa-
chen und nicht von vornherein bestimmen, was das Kin-
desinteresse ist .


(Susann Rüthrich [SPD]: Was ist das Interesse des Kindes?)


Der Staat darf eingreifen – es gibt aber Gegenrech-
te, zum Beispiel das allgemeine Persönlichkeitsrecht
des Kindes –, und er darf sogar – Artikel 6 Absatz 3 des
Grundgesetzes – das Kind von den Eltern trennen, wenn
die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn das Kind
zu verwahrlosen droht . Glauben Sie mir: In der Praxis
passiert es nicht selten, dass die Eltern versagen und man
ihnen die Kinder wegnehmen muss . Weil es Kinderrechte
gibt, dürfen Kinder auch jetzt schon den Eltern wegge-
nommen werden .

Wir haben ein ausdifferenziertes System, und das
funktioniert . Sie wollen mir doch nicht im Ernst sagen,
dass alle Kinder bei uns schrecklich leiden .


(Dr . Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Glauben Sie, dass wir die Kinder als Objekte betrachten? Mannomann! – Beate WalterRosenheimer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen wir doch auch gar nicht!)


Der Rechtsprechung gelingt es hier, für einen angemes-
senen Ausgleich zu sorgen .

Ich möchte jetzt noch einmal ganz kurz sagen, warum
sich diejenigen, die die Verfassung geschrieben haben,
für diesen Ausgleich entschieden haben: Sie haben sich
für diese Gestaltung entschieden, weil man während der
NS-Diktatur entsprechende Erfahrungen gemacht hat .
Damals war es üblich, die Kinder den Eltern wegzuneh-
men und sie, wann man wollte, von morgens bis abends
fremdzubetreuen und zu indoktrinieren . Glauben Sie es
mir: Genau das ist der Grund, warum diejenigen, die die
Verfassung geschrieben haben, den Artikel 6 Absatz 2 so
verankert haben, wie er ist .


(Unruhe)


– Ich weiß, dass Sie es nicht wissen, sonst würden Sie
sich nicht so aufregen . – Die Eltern sollen ein bisschen
Freiheit haben, und der Staat soll nicht diktieren, was das
Wohl des Kindes ist .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das ist mein Problem:


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ich glaube, das ist nicht Ihr einziges Problem!)


Was wollen Sie mit Ihrem Antrag? Wollen Sie, dass wir
einfach nur eine schöne Symbolpolitik machen, die man
gut verkaufen kann, nach dem Motto: Kinderrechte jetzt
auch ins Grundgesetz?


(Norbert Müller die Symbolpolitik sind Sie gerade zuständig!)


– Nein, Sie haben es nicht verstanden .


(Lachen bei der LINKEN)


Wollen Sie nur eine Symbolpolitik? Die haben wir jetzt
schon. Wollen Sie, dass der Staat mehr in die Pflicht ge-
nommen wird? Oder wollen Sie – das ist der Grund, wa-
rum ich bezüglich dieses Antrags Angst habe –, dass wir
noch mehr Gegenrecht – Kinder gegen Eltern – haben?

Wer bestimmt das Recht der Kinder? Der Staat? Wol-
len Sie, abgesehen von all den Einschränkungen des El-
ternrechts, die wir jetzt schon haben, dass jemand vom
Schreibtisch aus alles besser weiß und bestimmt? Ich will
das nicht .


(Norbert Müller reden über Beteiligung! Nicht über Diktatur! Das ist etwas anderes!)


Ich kann es nicht mehr hören, dass man von morgens
bis abends immer nur sagt, Fremdbetreuung sei das ein-
zig Wahre .


(Sönke Rix [SPD]: Wer sagt das denn? Wer hat das denn gesagt? – Beate Walter-Rosenheimer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie nicht zugehört?)


Glauben Sie es mir: Wir brauchen auch ein bisschen Frei-
heit für die Eltern . Geben Sie sie ihnen, und lassen Sie
es sein .


(Sönke Rix [SPD]: Wer hat das denn gesagt? – Norbert Müller haben einen falschen Antrag!)


Dr. Silke Launert






(A) (C)



(B) (D)


Ich habe einfach Angst, dass hier eine weitere Stär-
kung wieder dazu genutzt wird, um gegen die Eltern zu
schießen . In diesem Zusammenhang sage ich: Denken
Sie noch einmal darüber nach . Ich weiß, es ist 70 Jahre
her . Viele wissen es nicht mehr . Wehret den Anfängen!
Es gibt einen Grund, warum der Artikel 6 Absatz 2 des
Grundgesetzes so aussieht, wie er aussieht .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Schwartze [SPD]: Manche Redebeiträge tun körperlich weh! – Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Realität! Wir sind in der heutigen Zeit! – Norbert Müller KE]: Jetzt wird es hart! Das geht hart an die Grenze!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812512500

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Susann

Rüthrich von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Susann Rüthrich (SPD):
Rede ID: ID1812512600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Dem überwiegenden Teil der Kinder in
Deutschland geht es gut . Sie wachsen geborgen auf und
bringen sich ein . Ein Beispiel aus der vergangenen Wo-
che: Ich habe die Kinder zweier Grundschulklassen aus
meiner Region dazu eingeladen, mir ihre Stadt aus ihrer
Sicht zu zeigen . Was wir da hörten, war: Es geht uns gut,
wir fühlen uns wohl in unserer Stadt, wir fühlen uns wohl
mit unseren Eltern, wir fühlen uns wohl in unserer Schu-
le . – Das soll auch so sein, und das freut mich .


(Beifall bei der SPD)


Die Kinder sagten aber auch: Wir hätten noch ein paar
Vorschläge . Es geht nämlich noch besser . – Hier schlu-
gen sie einen Fußgängerüberweg und da einen Spielplatz
vor . Außerdem hätten sie gern mehr Zeit, und zwar nur
für sich .


(Beifall bei der SPD – Michaela Noll [CDU/ CSU]: Hätte ich auch gerne!)


Das ist vielleicht ein kleiner Baustein dafür, was wir
manchmal ein bisschen abstrakt „Beteiligung“ nennen .

Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion, wollen das Recht auf Beteiligung von Kindern stär-
ken . Wir wollen das auch .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich will, dass das überall passiert: von der Einrichtung
über die einzelnen Ebenen bis hin zur internationalen Po-
litik .

Ein gutes Beispiel dafür ist „Plant for the Planet“ .
Das ist eine Initiative von Kindern und Jugendlichen, die
kommunal gestartet ist und mittlerweile weltweit Kinder
und Jugendliche organisiert, um sich für Klimaschutz ein-
zusetzen, und sie tun auch selbst etwas, indem sie Bäume
pflanzen. Außerdem streiten die sehr engagiert und, wie
ich finde, mit sehr guten Argumenten – wir haben uns in

der Kinderkommission davon überzeugt – dafür, selber
wählen zu können bzw . Kinder an allen sie betreffenden
Entscheidungen und Fragen selber zu beteiligen . Das ist
kein Fall für: Wenn es nichts kostet und wenn es gera-
de passt, dann machen wir das gerne . – Nein, es ist ihr
Recht .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nicht alle Kinder kommen zu diesem Recht – weder
zu dem auf Beteiligung noch zum Beispiel zu dem auf
beste gesundheitliche Versorgung . Das ist so, wenn ich
etwa an Flüchtlingskinder denke, die leider weitestge-
hend immer noch nicht mit einer Karte einfach zum Arzt
gehen können . Auch kommen nicht alle Kinder zu dem
Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit . Dabei
denke ich etwa an den Umgang mit intergeschlechtlich
geborenen Kindern oder an Kinder mit Behinderung .
Mich macht es richtig traurig, dass auch Deutschland die
Kinderrechtscharta noch nicht vollständig umsetzt . Da
müssen wir aber hin .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nur wie? Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, schlagen
verschiedene Hebel vor . Die Aufnahme der Kinderrechte
ins Grundgesetz ist einer . Dafür haben Sie, wie Sie wis-
sen, unsere vollständige Zustimmung . Ich würde liebend
gerne endlich in die Debatte einsteigen, welche Formu-
lierung und welche Aspekte wohin geschrieben werden,
anstatt dauernd beim Ob aufgehalten zu werden .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen einen nationalen Aktionsplan für Kinder-
und Jugendbeteiligung . Wir wollen das auch . Da sind
wir dabei . Sie wollen das Wahlalter auf 16 Jahre senken .
Gern, das wäre ein Schritt in die richtige Richtung . Sie
können gerne in den Bundesländern, wo Sie mitregieren,
damit anfangen:


(Norbert Müller ben wir schon! – Dr . Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir schon: in Schleswig-Holstein!)


zum Beispiel in Baden-Württemberg und in Hessen . Da
haben wir noch ein bisschen vor uns .

Da, wo die Jugendlichen von „Plant for the Planet“
hinkommen wollen, wären wir damit immer noch nicht .
Die schlagen zum Beispiel – ich finde das durchaus über-
zeugend – ein Wahlregister vor, in das sich Menschen
unter 18 Jahre eintragen lassen können . Sie müssen dazu
nur ihren persönlichen freien Willen bekunden . Dann
sollte ihnen dieses hohe Gut auch nicht vorenthalten
werden .

Die unabhängige Monitoringstelle muss dankens-
werterweise nicht mehr gefordert werden . Es gibt sie
seit Juli . Wir werden sie nach Kräften unterstützen und
wünschen der Leiterin, Frau Kittel, die wir alle aus guter

Dr. Silke Launert






(A) (C)



(B) (D)


Zusammenarbeit mit der National Coalition kennen, und
ihren Kolleginnen und Kollegen bestes Gelingen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie fordern des Weiteren einen Kinderbeauftragten .
Wir alle kennen die Petition dazu . Ich habe mich darü-
ber sehr gefreut . Der Bundestag befasst sich noch damit .
Hier und jetzt einen Beschluss dazu zu fassen, würde
dem Verfahren vorgreifen . Ich nehme trotzdem zu ein
paar Punkten daraus Stellung .

Viele der Problembeschreibungen der Petenten teilen
wir . Sie gehen in Ihren Anträgen ja auch darauf ein . Die-
se Probleme abzustellen, muss unser gemeinsames Ziel
sein . Wir wollen aber natürlich nicht, dass der Kinder-
beauftragte im Rahmen einer Symbolpolitik – so nach
dem Motto: klingt gut, dann haben wir ja immerhin etwas
gemacht – in die Landschaft gestellt wird . Nein, wir müs-
sen uns natürlich um die in der Petition beschriebenen
Aufgaben kümmern . Die nennen Sie ja auch in Ihrem
Antrag .

Schauen wir uns die also im Einzelnen an: Die Mo-
nitoringstelle gibt es schon . Weiter fordern Sie, Gesetze
auf ihre Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche hin
zu prüfen . Das ist der Jugend-Check . Der wird gerade im
Ministerium erarbeitet . Er steht im Koalitionsvertrag . Ich
wünsche mir, dass er nicht nur im Familienministerium,
sondern in allen Häusern angewendet wird .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben ein Beschwerdesystem . Das nennt sich
Petitionsausschuss . Wenn wir den mit einem Beschwer-
desystem nur zu Kinderthemen ausstatten würden, um
die Zugänge kindgerecht zu machen, hätten wir eine Be-
schwerdestelle .

Es gibt die Kinderkommission . Sie bringt die Belange
von Kindern ins Parlament – und damit in die Gesetz-
gebung – ein . Das Einstimmigkeitsprinzip, Herr Müller,
macht uns in der Kinderkommission stark . Da wollen wir
nicht ran .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Doch, wir könnten mehr, wenn wir ein eigenes An-
tragsrecht, eigene Mitbefassungen und die Ressourcen
dazu hätten und wenn wir als KiKo-Mitglieder im Zwei-
fel die Kinderpetitionen bearbeiten würden .

Sie sprechen die Öffentlichkeitsarbeit an . Das macht
das Ministerium . Und Sie wollen Beteiligung . Richtig!
Aber das zum Beispiel ist ja gerade die Stärke von Kin-
der- und Jugendverbänden . Dort engagieren sich die Kin-
der und Jugendlichen .


(Beifall bei der SPD)


Und es ist unsere Aufgabe, die dann auch entsprechend
zu hören und auszustatten .

Meine Schlussfolgerung ist demzufolge: Ja, wir stär-
ken die Kinderrechte . Wir haben Instrumente neu ge-

schaffen, und wollen die ausbauen, die es schon gibt . An
den ganz dicken Brettern bohren wir gemeinsam weiter,
bis wir es geschafft haben . Die Kinderrechte werden ir-
gendwann im Grundgesetz stehen; da bin ich mir ganz
sicher .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812512700

Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-

mit schließe ich die Aussprache .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6042 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Von Anfang an beteiligen – Par-
tizipationsrechte für Kinder und Jugendliche im demo-
grafischen Wandel stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5276,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3151 abzulehnen . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Die Koalition . Wer stimmt da-
gegen? – Die Opposition . Gibt es Enthaltungen? – Das ist
nicht der Fall . Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppositi-
on angenommen worden .

Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Haltung der Bundesregierung zu unzutref-
fenden Angaben beim Spritverbrauch und
Schadstoffausstoß von Pkw

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bit-
ten, zügig Ihre Plätze einzunehmen und keine Gespräche
mehr zu führen . Das gilt auch für die Kolleginnen .

Ich eröffne die Aussprache . Als erstem Redner in der
Aktuellen Stunde gebe ich Oliver Krischer von der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812512800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Ermittlungen der US-amerikanischen Umweltbehör-
de EPA haben in dieser Woche den wohl größten indust-
rie- und umweltpolitischen Skandal der letzten Jahre of-
fenbar gemacht – nicht ausgelöst –, der den VW-Konzern
ins Wanken bringt und den Ruf der Vorzeigeindustrie
Deutschlands, der Automobilbranche, schwer beschä-
digt .

Es ist deutlich geworden, dass zumindest der
VW-Konzern, aber offensichtlich auch – das können wir
nicht ausschließen – die gesamte Branche mehr Ressour-

Susann Rüthrich






(A) (C)



(B) (D)


cen dareingesetzt hat, mit Tricksen und Täuschungen bis
hin zu illegalen Betrügereien die Abgastests so zu mani-
pulieren, dass die Fahrzeuge die Abgaswerte im Labor
einhalten, aber nicht auf der Straße .

Diese Aufweichung von Umwelt- und Klimaschutz-
standards, dieses Hintergehen von Vorgaben zeigt, dass
es langfristig einer Industrie schadet, wenn sie versucht,
zu tricksen und zu täuschen, statt zu versuchen, die
höchsten Standards tatsächlich einzuhalten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es macht deutlich: Nur wer die höchsten Standards auf
der Welt hat und sie auch einhält, der hat eine Chance auf
den Weltmärkten der Zukunft .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei ist das Problem keineswegs neu . Millionen
deutscher Autofahrer, die sich einen VW Passat kaufen,
kennen das: In den Papieren steht, dass das Auto 4 Liter
auf 100 Kilometern verbraucht, aber an der Tankstelle
gibt es das böse Erwachen . Der Wagen verbraucht 5,5
oder 6 Liter . Ich sage: Schon allein diese Tatsache ist
ein Betrug . Das ist Verbrauchertäuschung . Damit muss
Schluss sein .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Darüber hinaus belegen diverse Studien, dass gerade
Dieselfahrzeuge der neuen Generation die Grenze für
Stickoxidwerte, die in unseren Städten vielfach über-
schritten wird, wobei dieser Stoff als Ursache für eine
Vielzahl von Erkrankungen gilt, trotz ihrer Zulassungen
aufgrund der Abgaswerte und der erfolgreichen Tests im
Labor um ein Vielfaches überschreiten .

Ich kann, ehrlich gesagt, nur kopfschüttelnd fragen:
Wie skrupellos oder inkompetent müssen Manager ei-
gentlich sein, die in Kenntnis dieser Studie versuchen,
genau diese Fahrzeuge unter der Überschrift „Clean Die-
sel“ in den USA auf den Markt zu bringen? Das ist ein
Skandal . Das ist ein Negativbeispiel für deutsches Ma-
nagement und deutsche Industrie .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich fürchte, das ist auch das Ende des Traums vom
Diesel als sauberer Antriebstechnologie . Wir werden da-
rüber reden müssen, was das in Zukunft zum Beispiel
auch für das Subventionieren des Diesels an der Zapf-
säule heißt .

Aber noch schlimmer als das, was im Management
passiert ist, ist, dass die Automobilindustrie die Tests sel-
ber durchgeführt hat und dass es keine Kontrolle gab . Mit
freundlicher Unterstützung der Bundesregierung hat man
akzeptiert, dass die Automobilindustrie sich selber kon-
trollieren kann und dass sie manipulieren, tricksen und
täuschen kann . Das zuständige Kraftfahrt-Bundesamt,
das Herrn Dobrindt untersteht, hat nicht einmal einen
Etat dafür, solche Überprüfungen vorzunehmen .

Es ist doch unglaublich, dass der Rückzug des Staates,
die Kumpanei zwischen Bundesregierung und Automo-

bilindustrie, genau dazu führt, dass diese Industrie jetzt
schwer beschädigt wird . Damit muss Schluss sein . Wir
brauchen eine starke Kontrolle des Staates bei Abgas-
werten . Nur so werden wir auch in Deutschland nicht nur
die Umwelt und das Klima schützen, sondern auch der
Autoindustrie auf Dauer eine Perspektive geben, meine
Damen und Herren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich staune über den zuständigen Verkehrsminister
Herrn Dobrindt . Er sagt allen Ernstes, er habe von diesen
Manipulationen und Überschreitungen der Grenzwerte
für CO

2
und Stickoxide zum ersten Mal am Sonntag aus

der Zeitung erfahren . Meine Damen und Herren, wenn
man vorher schon Zeitung gelesen und sich ein paar Stu-
dien angesehen hätte, dann hätte man das als normaler
Zeitungsleser mitbekommen können, erst recht als Ver-
kehrsminister .

Ich will jetzt gar nicht darüber reden, dass der Mi-
nister seinen Antworten auf unsere Anfrage selber nicht
glaubt . Ich staune, dass die Bundesregierung am 18 . Au-
gust 2015 geschrieben hat, dass ihr seit Herbst 2014 be-
lastbare Indizien vorliegen, dass bei Stickoxiden Über-
schreitungen gerade bei Euro-6-Fahrzeugen vorliegen .
Man staunt, dass das der EU-Kommission geschrieben
worden ist, der zuständige Verkehrsminister aber davon
offensichtlich nichts gewusst haben will .

Was wir brauchen, ist ein Mentalitätswechsel . Wir
brauchen die ehrliche Einhaltung von Umwelt- und Kli-
mastandards, gerade auch zum Schutz für eine Zukunfts-
perspektive der deutschen Automobilindustrie .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn VW jetzt reinen Tisch machen will, dann muss
dieser Mentalitätswechsel her . Der erste Schritt ist, dass
umfassende Transparenz hergestellt wird und dass die
Fahrzeuge all derjenigen, die geglaubt haben, einen sau-
beren Wagen zu kaufen, zurückgerufen und nachgerüstet
werden .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812512900

Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812513000

Diesen Mentalitätswechsel brauchen wir . Dazu brau-

chen wir auch einen Verkehrsminister, der das voran-
treibt und diese Maßnahmen angeht . Herr Dobrindt, ich
habe aber Zweifel, dass Sie dazu in der Lage sind .

Ich danke Ihnen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812513100

Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir

haben uns selber die Regel gegeben, dass die Redezeit
im Rahmen einer Aktuellen Stunde fünf Minuten beträgt,
nicht sechs Minuten, und ich bitte, das auch zu beachten .

Oliver Krischer






(A) (C)



(B) (D)


Als nächster Redner hat der Bundesverkehrsminister
Alexander Dobrindt für die Bundesregierung das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der darf neun Minuten reden!)


Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Sehr ge-
ehrter Herr Krischer, Sie setzen das fort, was Sie schon
die ganze Woche über in den Medien öffentlich verkün-
det haben . Ich sage Ihnen noch einmal sehr deutlich: Ich
missbillige dieses Verhalten von Ihnen .


(Stephan Kühn DIE GRÜNEN]: Sie sollten das Verhalten von VW missbilligen! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kümmern Sie sich um VW! Kümmern Sie sich um die Industrie! Machen Sie Ihren Job!)


Sie haben in einem Interview gesagt:

Es ist … ganz offensichtlich so, dass man hinge-
nommen hat, dass diese Manipulationen stattfinden.

Sie haben dabei die Bundesregierung verdächtigt . Ich
kann Ihnen dazu sagen: Ihre Verdächtigungen sind
falsch . Ihr Verhalten ist unanständig, und Ihr Auftritt hier
war ein Minusrekord auf der Skala, lieber Herr Krischer .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wussten schon im letzten Jahr!)


Die von Volkswagen eingestandenen Manipulationen
bei Emissionen an Dieselfahrzeugen sind unzulässig und
illegal . Daran gibt es keinen Zweifel . Das bedeutet nicht
nur einen großen Schaden für die Marke VW, sondern
erschüttert auch das Vertrauen der Verbraucher zutiefst .
VW steht hier in der Verantwortung, den Schaden zu be-
heben und das Vertrauen wiederherzustellen .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundesregierung!)


Deswegen sind in der Tat lückenlose Aufklärung der Ma-
nipulationen, vollständige Transparenz, Kooperation und
öffentliche Unterrichtung gefordert . Das ist von uns auch
so gegenüber Volkswagen eingefordert worden .

Ich habe zu diesem Zweck bereits am Montag nach
Bekanntwerden der Manipulationen das Kraftfahrt-Bun-
desamt angewiesen, strenge spezifische Nachprüfungen
bei Volkswagen durch unabhängige Gutachter vorneh-
men zu lassen . Die Nachprüfungen erstrecken sich üb-
rigens auch auf Fahrzeuge anderer Hersteller sowohl aus
dem Inland als auch aus dem Ausland . Und wir werden
diese Nachprüfungen sowohl auf dem Prüfstand, der so-
genannten Rolle, als auch unter realen Verkehrsbedin-
gungen vornehmen .

Am Dienstag habe ich eine Untersuchungskommissi-
on aus Fachleuten des Bundesverkehrsministeriums und

des Kraftfahrt-Bundesamtes eingesetzt, die bereits am
Mittwoch vor Ort in Wolfsburg zu ersten Gesprächen
waren und Einsicht in Unterlagen genommen haben . So-
wohl bei diesem Termin als auch bei den weiteren Ge-
sprächen mit Volkswagen hat VW zugesagt, die Arbeit
der Kommission vollumfänglich zu unterstützen und bei
der Aufklärung mitzuarbeiten .

Klar ist inzwischen, dass auch Fahrzeuge in Deutsch-
land von diesen Manipulationen betroffen sind . Es sind
nach unserer aktuellen Kenntnis Fahrzeuge der 2-Liter-
und der 1,6-Liter-Dieselklasse . Dabei handelt es sich um
circa 2,8 Millionen Fahrzeuge auf dem deutschen Markt .
Es ist jetzt in der Diskussion, dass 1,2-Liter-Fahrzeuge
ebenfalls betroffen sind . Zumindest aktuell gehen wir
davon aus, dass sich auch hier mögliche Manipulatio-
nen zeigen können . Weiteres wird gerade in den aktuel-
len Gesprächen mit Volkswagen ermittelt . Wir konnten
ebenfalls feststellen – so unser aktueller Kenntnisstand –,
dass auch leichte Nutzfahrzeuge von Volkswagen betrof-
fen sind, in denen ebenfalls die in Rede stehenden Moto-
ren zum Einsatz kamen .

Das Kraftfahrt-Bundesamt fordert Volkswagen auf,
verbindlich zu erklären, ob sich das Unternehmen in der
Lage sieht, die eingestandenen technischen Manipulatio-
nen zu beheben,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie oft hat das Kraftfahrt-Bundesamt das vorher einmal geprüft? Wie oft?)


sodass die Fahrzeuge in einen den technischen Regeln
entsprechenden Zustand gebracht werden können . Wir
erwarten einen verbindlichen Zeitplan, aus dem hervor-
geht, bis wann eine technische Lösung vorliegt und bis
wann sie umgesetzt werden kann . Klar ist dabei auch,
dass die Verbraucherinteressen vollumfänglich berück-
sichtigt werden müssen .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Endlich!)


Das heißt, dass alle Maßnahmen, die der Schadensbe-
hebung dienen, wie auch mögliche Folgeauswirkungen
nicht zulasten des Kunden gehen dürfen .

Meine Damen und Herren, wir achten darauf, dass so-
wohl die Aufklärung als auch die Transparenz als auch
die Schadensbehebung als auch die vollumfängliche Be-
rücksichtigung der Kundeninteressen so stattfinden. Ich
habe gegenüber Volkswagen keinen Zweifel daran gelas-
sen, dass wir dies ständig aufmerksam begleiten werden
und nicht nachlassen, bis der ganze Fall aufgeklärt ist .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn vorher gemacht?)


Sehr geehrter Herr Krischer, was wir dabei nicht ma-
chen sollten, ist die unzulässige Vermischung von einer
verbotenen technischen Manipulation an Fahrzeugen mit
den Verhandlungen, die wir seit 2011 auf europäischer
Ebene führen, um die Prüfmechanismen zu optimieren .

Sie wissen eigentlich sehr genau, dass sich die Verhand-
lungen zwischen der Kommission und den Nationalstaa-
ten in Brüssel seit 2011 darum drehen, dass wir neben

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn






(A) (C)



(B) (D)


dem Test auf der Rolle auch einen Test im Realverkehr
auf der Straße schaffen, den sogenannten RDE-Test .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Setzen Sie sich mal dafür ein, dass da etwas verbessert wird! Sie verhindern das seit Jahren!)


Aktuell finden Diskussionen darüber statt, wie dieser
Test ausgestaltet werden soll . Die Verkehrsminister der
Länder sind sich seit langem darüber einig, dass diese
RDE-Tests eingeführt werden . Deswegen wird in den
nächsten Wochen und Monaten weiter darüber debattiert,
bis wann dies geschehen kann .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2017 oder 2019?)


Wir werden auf dem nächsten Verkehrsministerrat in
Brüssel ebenfalls darüber reden .

Die Vermischung der beiden Diskussionen ist – ich
sage es noch einmal – eindeutig unzulässig . Auf der ei-
nen Seite geht es um eine verbotene Manipulation .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn getan, als Sie eingestanden haben, dass die Stickoxidwerte nicht eingehalten werden?)


Auf der anderen Seite versuchen wir, die Prüfmechanis-
men zu verbessern .

Diskussionsgegenstand hinsichtlich der Prüfungen
war, dass die Tests auf der Rolle andere Verbräuche und
damit andere Schadstoffausstoßwerte hervorbringen, als
bei Fahrten auf der Straße entstehen . Das liegt aber da-
ran, dass bei den Tests auf der Rolle klar definiert ist, wie
die Emissionen des Fahrzeugs zu messen sind . Das kann
sich natürlich vom individuellen Fahrverhalten auf der
Straße unterscheiden .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber das wissen Sie alles seit Jahren! Warum taten Sie nichts? Warum kommt das jetzt?)


Gerade deswegen wird die Idee verfolgt, Tests auf die
Straße zu verlegen, um so näher an das reale Fahrverhal-
ten der Autofahrer heranzukommen . Wir führen darüber
eine Diskussion, und wir setzen das entsprechend um .
Das ist allgemein bekannt .


(Lachen des Abg . Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Und wir werden da zu einem Ergebnis kommen .

Dass Sie versuchen, das eine mit dem anderen zu ver-
mischen und daraus einen Vorwurf zu machen, das halte
ich in der Tat für unredlich . Wir arbeiten daran, dass die
Bedingungen der Tests verbessert werden, und wir lassen
keinen Zweifel daran, dass Manipulationen – diese sind
ja unzulässig – nicht stattfinden dürfen. Zumindest dür-
fen sie nicht ungestraft stattfinden.

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812513200

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Sabine

Leidig von der Fraktion Die Linke das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812513300

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Besucherinnen und Besucher! Ich will zunächst
darüber sprechen, warum dieser Abgasskandal eigentlich
so gewaltig ist . Dann stelle ich einige Sofortmaßnahmen
vor, die wir als Linksfraktion fordern .

Zunächst also: Was ist Sache? In den USA wurde
nachgewiesen, dass VW mit einem technischen Ein-
griff seine Dieselmotoren manipuliert hat, und zwar bei
11 Millionen Autos; das hat VW zugegeben . Die meisten
Autos sind in Europa, viele auch in Deutschland, unter-
wegs . VW hat dafür gesorgt, dass bei den standardisier-
ten Messverfahren niedrige Abgaswerte vorgetäuscht
werden . Im wirklichen Fahrbetrieb aber kommt das
Zigfache aus dem Auspuff . Andere Autokonzerne haben
das Gleiche gemacht . BMW ist in den Schlagzeilen . Die
Firma Bosch hat bekannt gegeben, dass sie das Förder-
und Dosiermodul zur Abgasnachbehandlung an fast alle
Autohersteller geliefert hat .

Auch die Werte von Benzinmotoren werden mit ver-
schiedenen Eingriffen so manipuliert, dass sie auf dem
Prüfstand deutlich weniger verbrauchen oder ausstoßen
als auf der Straße . Das weiß man seit Jahren; die Deut-
sche Umwelthilfe hat es akribisch nachgewiesen . Ich war
auf einem Seminar zu diesem Thema . Einige Fraktionen
von hier haben dort komplett gefehlt – schade . Heute
veröffentlichte der VCD, dass diese Abweichungen 2001
noch bei 8 Prozent lagen . Mittlerweile liegen sie bei
40 Prozent . Das heißt, das Ganze hat System . Die Auto-
fahrerinnen und Autofahrer, die auf sparsamen Verbrauch
achten, werden belogen und betrogen .

Seit Jahren wird darüber gesprochen . Die Umweltver-
bände haben es öffentlich kritisiert .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur der Verkehrsminister hat es nicht mitgekriegt!)


Seit Jahren werden unabhängige Prüfungen gefordert .
Passiert ist nichts . Der Verkehrsminister hat nicht re-
agiert . Das zuständige Kraftfahrt-Bundesamt hat keine
einzige eigene Kontrollmessung durchgeführt . Dabei
geht es ja nicht irgendwie um gewisse Abweichungen .
Die Verantwortlichen in der Automobilindustrie haben
veranlasst, dass Schadstoffe weit über das verträgliche
Maß hinaus in die Landschaft und in die Städte gebla-
sen werden, und zwar, weil sie noch mehr Profit machen

Bundesminister Alexander Dobrindt






(A) (C)



(B) (D)


wollen . Was in den Chefetagen der Automobilindustrie
organisiert wurde, ist gewerbsmäßiger Betrug .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Skandal!)


Sie tragen bewusst und systematisch zur Schädigung von
Gesundheit, Umwelt und Klima bei, und das ist der ei-
gentliche Skandal, den wir nicht länger hinnehmen dür-
fen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es reicht nicht, wenn ein paar Herren aus den Vor-
ständen zurücktreten . Die Verantwortlichen müssen
strafrechtlich verfolgt werden . Die Bundesregierung
muss alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um
die milliardenschweren Eigentümer der Autokonzerne
für den finanziellen Schaden haftbar zu machen, der den
Verbraucherinnen und Verbrauchern, dem Fiskus und der
Allgemeinheit entstanden ist .

Damit bin ich bei unseren Forderungen für ein Sofort-
programm:

Erstens . Es muss eine neue und unabhängige Untersu-
chungskommission eingesetzt werden . Die Expertinnen
und Experten, die da zum Einsatz gebracht werden, müs-
sen von den Umwelt- und Verbraucherorganisationen
oder vom VCD und anderen benannt werden, von den
Organisationen, die tatsächlich seit Jahren gegen diesen
Abgasbetrug vorgehen . Herr Dobrindt hat die eigenen
Fachleute eingesetzt, aus seinem Ministerium und aus
dem Kraftfahrt-Bundesamt .


(Kirsten Lühmann [SPD]: Die sind zuständig!)


Aber genau die Leute haben diese Machenschaften seit
Jahren einfach nicht gekontert .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die wissen das alle! Die kennen das alle!)


Sie haben sie durchgehen lassen, als Helfershelfer quasi,
und jetzt sollen sie der Sache auf den Grund gehen . Das
ist der ungeeignete Mechanismus .


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens . Die Kommission, deren Einsetzung wir
fordern, muss bei allen in Deutschland produzierenden
Autoherstellern, beim Automobilverband VDA und bei
Autozulieferern wie Bosch zu den Manipulationen an
Fahrzeugmotoren ermitteln, und sie muss dabei umfas-
send mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt ja noch nicht mal eine Strafe für diese Manipulationen!)


Es geht nicht nur darum, herauszufinden, mit welchem
technischen Modul es VW gemacht hat .

Drittens . Die Kommission muss eine unabhängige
Überprüfung der tatsächlichen Abgas- und Verbrauchs-
werte veranlassen . Das muss für alle Pkw repräsentativ

durchgeführt werden . Da darf man auch nicht auf das
neue europäische Prüfverfahren warten, das ja die Bun-
desregierung bisher immer verzögert hat .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wird es weiter verzögern, wie immer!)


Es ist überhaupt nicht sinnvoll, darauf zu warten . Man
kann sofort etwas tun . Und dann muss die Kommission
aus diesen Überprüfungen errechnen, wie hoch die ge-
sellschaftlichen Schäden sind, die die Automobilkonzer-
ne verursacht haben .


(Beifall der Abg . Karin Binder [DIE LINKE])


Schließlich muss diese Kommission dem Bundestag
berichten, und nicht dem Minister; denn der Bundestag
ist dafür verantwortlich, Schaden von der Bevölkerung
und auch von der Umwelt abzuwenden .

Zum Schluss noch eine Anmerkung . Dieser Skandal
ist kein einzigartiges Ereignis . Die Bundesregierung hat
immer wieder ihre schützende Hand über die Automobil-
industrie gehalten . Auch in dieser Legislatur gehen die
Spitzenvertreter der Automobilindustrie im Kanzleramt
und im Verkehrsministerium ein und aus . Das nützt aber
den Menschen in diesem Land nichts .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch der Industrie selber nicht!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812513400

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812513500

Es ist höchste Zeit, dass die Verkehrspolitik auf andere

Füße gestellt und sozialökologisch umgebaut wird,


(Ulli Nissen [SPD]: Verstaatlichen, oder was?)


und das geht nicht mit diesem Verkehrsminister .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/ CSU: Sechs Minuten Quatsch!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812513600

Ich bitte wirklich noch einmal, auf die fünf Minuten

zu achten .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das waren 20 Sekunden mehr!)


Als nächste Rednerin spricht Kirsten Lühmann von
der SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1812513700

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

Als Erstes ist festzustellen: Die deutsche Fahrzeugindus-

Sabine Leidig






(A) (C)



(B) (D)


trie ist ein weltweiter Innovationsmotor für neue Sicher-
heits- und Umwelttechnik .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und beim Manipulieren! – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Und für Betrug!)


Das haben wir in den letzten Jahrzehnten deutlich gese-
hen . Ich könnte Ihnen Beispiele nennen; das geht vom
Fahrerairbag über ABS bis hin zu digitalen Außenspie-
geln und teilautonomem Fahren .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Super! Digitale Außenspiegel! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber bei Klimaund Umweltschutz nicht unbedingt!)


Über 750 000 Menschen in unserem Land bauen zu-
verlässige und sichere Fahrzeuge . Das war letzte Woche
so, das ist diese Woche so, und das wird nächste Woche
auch so sein, liebe Kollegen und Kolleginnen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die so weitermachen, wird das bald nicht mehr so sein!)


Nur eines ist in dieser Woche anders . Es ist etwas be-
kannt geworden, was uns die Wirtschaft immer als bei
deutschen Firmen undenkbar dargestellt hat, nämlich
dass aus Gründen der Gewinnmaximierung bei gesetzli-
chen Standards betrogen wurde .

Für mein gänzliches Unverständnis sorgt die Tatsa-
che, dass einige Fachleute jetzt sogar sagen, dass der zur
Diskussion stehende Motor durchaus die strengen ame-
rikanischen Normen problemlos hätte einhalten können,
wenn nur zum Beispiel ein entsprechender Filter einge-
baut worden wäre . Das ist allerdings nicht passiert, weil
einige VW-Verantwortliche das Geld dafür eben sparen
wollten . Das ist skandalös, liebe Kollegen und Kollegin-
nen .


(Beifall bei der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sind es einige Verantwortliche!)


Das Thema hat zwei Dimensionen . Die erste ist die
Aufklärung . Dabei hat VW uneingeschränkte Koopera-
tion zugesagt; VW hat auch erste personelle Konsequen-
zen gezogen . Der neue Vorstandsvorsitzende muss jetzt
allerdings den Worten Taten folgen lassen . Das kann er
sehr gut, weil der Minister – er hat es eben angespro-
chen – eine Kommission eingesetzt hat, die die Frage
untersuchen soll, ob die Motoren die europäischen Nor-
men auch ohne Manipulationen erfüllen können . Da die
Antwort auf diese Frage und die möglicherweise daraus
resultierenden rechtlichen Folgen bis hin zu Rückrufakti-
onen die Menschen in Deutschland besonders bewegen,
sind wir der Meinung, dass es einen zeitnahen Zwischen-
bericht im Verkehrsausschuss geben sollte – möglichst
noch im nächsten Monat .


(Lachen des Abg . Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die zweite Dimension betrifft die Frage, wie sol-
che Manipulationen in Zukunft möglichst verhindert
werden können . Zurzeit schreibt die EU umfangreiche
Prüfungen vor, und zwar sowohl für Neufahrzeuge bei
der Typzulassung als auch später mit Gebrauchtwagen .
Und, Herr Krischer, Sie wissen genau: Die Prüfungen
mit Gebrauchtfahrzeugen werden nicht von den Fahr-
zeugherstellern durchgeführt, sondern von unabhängi-
gen Prüforganisationen . Allerdings – da gebe ich Ihnen
recht – finden all diese Prüfungen im Labor unter den
gleichen Bedingungen statt, um eine Vergleichbarkeit der
Ergebnisse sicherzustellen . Das Problem dabei ist:


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es werden alle Verbraucher belogen!)


Auf dem Prüfstand kommen idealisierte Werte zustande,
die wenig mit dem tatsächlichen Verbrauch der Fahrzeu-
ge zu tun haben und daher als Kundeninformationen we-
nig hilfreich sind .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja mal ein Eingeständnis!)


Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist: Vor-
hersehbare Prüfzyklen sind relativ einfach manipulier-
bar . Es ist bekannt, dass Programme, die Prüfzyklen
erkennen, nicht nur zur Beeinflussung von CO

2
- und

Stickoxidemissionen, sondern zum Beispiel auch zur
Beeinflussung von Lärmemissionen existieren. EU-weit
sind bei Motoren sogenannte Abschaltautomatiken ver-
boten – grundsätzlich . Grundsätzlich heißt aber auch,
dass sie ausnahmsweise eingebaut werden können . Das
nun ist das Problem bei der Prüfung: Die Prüfenden müs-
sen feststellen, ob es sich um eine legale Abschaltauto-
matik handelt oder ob neben der legalen Software noch
eine illegale Software aufgespielt ist . Dazu muss tief in
die Programmierung geschaut werden .

Allen EU-Mitgliedstaaten ist diese Problematik be-
kannt . Daher haben sie auch gehandelt . Sie haben eben
nicht nichts getan . Vielmehr haben alle Verkehrsminister
verabredet, Lösungen zu entwickeln .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber er wusste doch am Sonntag noch gar nichts davon! Frau Lühmann, das verstehe ich nicht! Er hat gesagt, am Sonntag wusste er noch nichts davon!)


Und wir alle gemeinsam haben im Verkehrsausschuss
die Fortschritte dabei verfolgt . Niemand wusste mehr als
der andere . Wir alle wussten – es ist eben angesprochen
worden; ADAC und Deutsche Umwelthilfe haben seit
Jahren darauf hingewiesen –: Die Werte aus dem Labor
können nicht realistisch sein, seien sie nun manipuliert
oder nicht . Daher sind neue Verfahren im Echtbetrieb er-
forderlich .

Der Minister will so etwas jetzt prüfen, auch wenn das
noch keine Rechtsfolgen haben kann . Denn Rechtsfolgen
kann es nur haben, wenn wir die von der EU inzwischen
entwickelten Verfahren endlich verbindlich einführen,
nämlich vergleichbare Standards im Echtbetrieb, die we-
nig manipulationsanfällig sind . Die Kommission hat uns
solche Verfahren vorgeschlagen .

Kirsten Lühmann






(A) (C)



(B) (D)


Ja, es gibt da auch noch einige Bedenken . Deshalb
habe ich erfreut zur Kenntnis genommen, dass der Ver-
band der Automobilindustrie jetzt sagt, er möchte inten-
siv und konstruktiv an der Lösung dieses Themas mit-
arbeiten . Angesichts der aktuellen Ereignisse gehe ich
also davon aus, dass der Verband aktiv die möglichen
Bedenken von Kritikern ausräumen wird, damit wir das
neue Verfahren möglichst schnell – möglichst noch im
nächsten Jahr – einführen können . Das führt dann endlich
zu der erforderlichen Klarheit sowohl für die Verbrau-
chenden als auch für die Behörden . Das wäre wenigstens
ein positives Ergebnis dieses Skandals .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812513800

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Thomas

Viesehon von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Viesehon (CDU):
Rede ID: ID1812513900

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und

Herren! Das VW-Werk im nordhessischen Baunatal ist
mit rund 16 000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber
meines Wahlkreises mit einer herausragenden Bedeutung
für die gesamte Region .

Mit großem Fleiß und großer Zuverlässigkeit werden
dort von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jährlich
unter anderem mehr als 4 Millionen Schalt- und Auto-
matikgetriebe produziert . Das entspricht der Hälfte der
weltweit vom Konzern benötigten Getriebe . Die von dem
jetzigen Skandal ausgehende Betroffenheit ist daher in
meiner Heimat besonders groß .

Ich selbst bin fassungslos, wie Einzelne im VW-Kon-
zern mit ihrer Verantwortung für das Unternehmen und
für Hunderttausende Beschäftigte umgegangen sind . Ich
will aber, ohne das Handeln von VW in irgendeiner Wei-
se zu relativieren, auch auf die Verantwortung der Ge-
setzgeber bei der Festlegung von Grenzwerten eingehen .

In Sachen Dieseltechnologie hat sich in den letzten
Jahrzehnten viel getan, auch unter Mitwirkung der Poli-
tik . Durch strengere Abgasnormen auf EU-Ebene haben
wir die Einführung von Rußpartikelfiltern bei Dieselfahr-
zeugen erreichen können, eine Regelung, die die Indus-
trie mit vorhandener Technik umsetzen konnte und die
heute zum Standard gehört . Dazu kommt die seit Februar
2012 bestehende Möglichkeit einer vom Bund geförder-
ten Nachrüstung dieser Filter . Wir haben den Dieselmo-
tor im Pkw-Bereich mit erfüllbarem Aufwand sauberer
gemacht – zusammen mit der Automobilindustrie –, und
wir bleiben am Ball .

Mit Einführung der Euro-6-Norm haben wir den zu-
lässigen Ausstoß von Stickoxid


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Studien belegen, dass es nicht eingehalten wird, Herr Kollege!)


für neu zugelassene Dieselfahrzeuge auf einen Maximal-
wert von 80 Milligramm pro Kilometer begrenzt .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn? Sie haben ja gar nichts verstanden!)


– Herr Kreischer .


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


– Entschuldigung . Herr Krischer, ein bisschen mehr Zu-
rückhaltung bitte .


(Ulli Nissen [SPD]: Kreischer war besser!)


Für Ottomotoren gilt ein Grenzwert von 60 Milligramm .
Der Fortschritt in der Dieseltechnologie ist gewaltig,
wenn man bedenkt, dass wir von einem Grenzwert von
500 Milligramm in 2001 kommen .

Die Gründe dafür, dass der Grenzwert für Dieselfahr-
zeuge in den USA gerade einmal halb so hoch ist, können
verschieden sein . Es sind sicherlich Umweltaspekte, aber
ich bin sicher, dass die USA damit auch wirtschaftliche
Eigeninteressen verfolgen .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Die Dieseltechnologie kommt aus Europa und ist für die
Verbraucher attraktiv, weil der Treibstoff energieeffizi-
enter, günstiger und der Verbrauch überdies geringer ist .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für eine Verschwörungstheorie?)


Im Jahr 2012 waren lediglich 3 Prozent der zugelassenen
Fahrzeuge in den USA Dieselfahrzeuge .


(Zuruf des Abg . Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die neuen, höchst innovativen Dieseltechnologien, die
auch VW nutzt, ließen eine Steigerung um mehr als das
Doppelte auf 7 Prozent zu . Für 2023 wurden 28 Prozent
prognostiziert .

Worauf will ich hinaus? Mit der Herabsetzung von
Grenzwerten kann man eine Technologie natürlich auch
ganz vom Markt verdrängen . Scheinbar wollen Sie das .
Ich will es nicht; denn ich bin für einen schonenden und
effizienten Umgang mit unseren Ressourcen. Bei allem
Fortschritt und der Förderung umweltschonender Tech-
nologien, die ich ausdrücklich gutheiße, kommt derzeit
eine völlige Verdrängung des Diesels ja wohl nicht in
Betracht . Um zu verstehen, warum das so ist, muss man
sich einmal mit der Gewinnung von Dieselkraftstoff be-
fassen . Diesel ist ein Produkt, das unweigerlich bei der
Aufbereitung von Rohöl gewonnen wird, genauso wie
Benzin, Kerosin und Flüssiggas . Deshalb sollten wir die-
ses Produkt auch weiterhin einer Nutzung zuführen . Die
Verdrängung oder die Abschaffung des Diesels wäre der
falsche Schritt und würde nicht einmal zur weiteren Ver-
besserung des Klimas führen . Ganz im Gegenteil: Bei der
Verbrennung von Benzin entstehen mehr Treibhausgase
als bei der Verbrennung von Diesel .

Kirsten Lühmann






(A) (C)



(B) (D)


Auch ich bin dafür, dass die Weiterentwicklung vor-
angetrieben wird . Dazu hat auch die Politik einen Beitrag
geleistet und wird ihn weiter leisten, aber mit Bedacht
und zumutbaren Vorgaben, die die Hersteller auch um-
setzen können .

Ich will das Vorgehen von VW – das wird Sie dann
beruhigen – in keiner Weise entschuldigen oder baga-
tellisieren . Ich möchte aber, dass der Vorfall zum Anlass
genommen wird, die Grenzwertpolitik der vergangenen
Jahre – im Übrigen gilt das auch für andere Emissionen –
ab und zu einmal zu hinterfragen .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, Sie wollen die noch erhöhen! Das gibt es doch nicht! – Stephan Kühn Sie wollen also die Luftqualität in den Städten nicht verbessern!)


(Dresden) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:


– Wir sind auf einem guten Weg, Herr Krischer . Ihr Weg
ist natürlich, die Autos einfach stehen zu lassen . Wenn
das Ihr Weg ist, dann sage ich Ihnen: Meiner ist es nicht .


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hallo?! Haben Sie den Gong überhaupt gehört? – Gegenruf der Abg . Ulli Nissen [SPD]: Sie wollen die doch senken!)


Natürlich geht vollumfassende Aufklärung vor .
Alexander Dobrindt hat zu Recht eine Überprüfung an-
geordnet, ob vergleichbare Manipulationen am Abgas-
system auch in Deutschland stattgefunden haben . Die
von ihm einberufene Untersuchungskommission wird
dies in Zusammenarbeit mit dem Kraftfahrt-Bundesamt
und auf technischer Seite mit den unabhängigen Sachver-
ständigen von TÜV und DEKRA klären . Lassen Sie uns
das Ergebnis dieser Untersuchung abwarten und dann
urteilen .

Lassen wir aber nicht zu, dass dieser Fall dazu führt,
dass eine ganze Branche, die in den letzten Jahren gerade
im Hinblick auf die Verminderung von Schadstoffemis-
sionen vieles geleistet hat – auch Frau Lühmann hat das
eben betont –, in Verruf gerät . Das schadet nicht nur zu
Unrecht den anderen Unternehmen, sondern am Ende
auch den fleißigen, ehrgeizigen und zu Recht stolzen
Mitarbeitern der deutschen Automobilindustrie .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb halten Sie daran fest!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812514000

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Herbert

Behrens von der Fraktion Die Linke das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812514100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn das, was uns Herr Viesehon hier vorge-

stellt hat, auch der Punkt sein sollte, mit dem die Unter-
suchungskommission in Wolfsburg unterwegs ist, dann
wird mir angst und bange .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


So würde aber genau das Gegenteil von dem erreicht,
was Sie gesagt haben . Sie haben gesagt: Lasst uns bloß
bei den Grenzwerten aufpassen, damit wir nicht eine gan-
ze Industrie in eine Ecke drängen, in die sie nicht gehört .


(Thomas Viesehon [CDU/CSU]: So ist es!)


Wenn wir nicht aufpassen, dass die Industrie mit diesem
Vorgehen um Marktanteile ringt, dann schafft die Indus-
trie uns und die Arbeitsplätze ab .


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


So herum müssen Sie das denken . Von daher sind wir
sowohl als Gesetzgeber als auch als Parlamentarier ge-
halten, in das, was wir hier sehen, politisch einzugreifen .

Wir wissen: Autoabgase töten . Darum wird der Ge-
setzgeber aktiv . Er ist dafür verantwortlich, dass die
Bevölkerung in diesem Land gesund leben kann, auch
bei zunehmenden Verkehrsbelastungen . Darum gibt es
Grenzwerte. Darum gibt es auch die Pflicht, diese Grenz-
werte einzuhalten .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Richtig!)


Und es gibt die Notwendigkeit, diese Grenzwerte zu kon-
trollieren . Umzukehren und zu sagen: „Jetzt passen wir
die geltenden Grenzwerte den tatsächlichen Verbräuchen
und dem tatsächlichen Schadstoffausstoß an“, würde be-
deuten, sämtliche Umweltpolitik, sämtliche Verkehrspo-
litik der letzten Jahre mit einer Tat aus der Welt zu räu-
men . Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Autokäufer sind sich beim Kauf eines Autos durchaus
bewusst: Wenn sie möglichst umweltschonend fahren
wollen, dann müssen sie sich ein Auto aussuchen, das
sowohl beim Schadstoffausstoß als auch beim Verbrauch
die Werte einhält, die angegeben sind . Wenn diese Werte
gar nicht stimmen, dann ist es ein vorsätzlicher Betrug
an den Interessen der Kundinnen und Kunden, mit dem
entsprechenden wirtschaftlichen Schaden .

In den USA wird angesichts der entsprechenden
Klagemöglichkeiten, die man dort hat, damit gerechnet,
dass für den VW-Konzern ein Schaden in Höhe von bis
zu 18 Milliarden Euro entstehen kann . Wenn das mal
kein Schaden für die deutsche Volkswirtschaft ist! Daran
sind wir durch unsere falsche Kontrollpolitik, wie sie von
meiner Kollegin Leidig schon dargestellt worden ist, auch
ein Stück weit mitverantwortlich . Wenn wir nicht dafür
sorgen, dass durch Kontrollen die Angaben eingehalten
werden, sind wir ebenfalls mitverantwortlich, wenn die
Verbraucherinnen und Verbraucher so getäuscht und be-
trogen werden .

Wir haben deshalb einen Fünf-Punkte-Plan aufgelegt,
um sehr schnell und gründlich mit den Punkten aufzu-

Thomas Viesehon






(A) (C)



(B) (D)


räumen, die offenkundig – so der Sachstand heute – dazu
geführt haben, dass diese Betrügereien am Kunden statt-
finden konnten. Die Automobilindustrie täuscht bei den
Verbrauchswerten, beim Schadstoffausstoß . Sie geht mit
solchen Maßnahmen vor, um im mörderischen Wettbe-
werb der Automobilindustrie zu bestehen . Wir haben als
Gesetzgeber die Pflicht, diesem mörderischen Konkur-
renzkampf zulasten der Kundinnen und Kunden und der
Bevölkerung Einhalt zu gebieten . Darum ist es wichtig,
sofort und schnell zu handeln .

Die Bosse haben den Schaden erst einmal von sich
weggeschoben und haben gesagt: Wir werden das mit
entsprechenden personellen Maßnahmen lösen . – Darum
wurden schon einmal die Manager ausgetauscht . Win-
terkorn und Neußer gehen bei VW, Hatz geht bei Por-
sche, Hackenberg geht bei Audi . Damit werden offenbar
Verantwortliche aus dem Verkehr gezogen . Aber sie sind
trotzdem verantwortlich . Darum ist es so wichtig, dass
die Verantwortung bei denen bleibt, die jetzt aus ihren
Verantwortungsbereichen abgelöst worden sind und
künftig nicht mehr verantwortlich sein sollen . Darum
sind sie sowohl beim finanziellen Ausgleich als auch bei
strafrechtlichen Konsequenzen, wenn es sie geben sollte,
heranzuziehen . Der Porsche-Piëch-Clan, so kann man es
ja sagen, verfügt über ein privates Vermögen von 35 Mil-
liarden Euro . Winterkorn gehörte zu den bestbezahlten
Managern Europas . Sie haben über Jahre gescheffelt,
immer mit dem Hinweis: Wir sind die Erfolgreichen auf
dem Automobilmarkt . Darum stehen uns solche Gehäl-
ter, darum stehen uns solche Boni zu . Das, was sie in den
letzten Jahren da abgeräumt haben, muss zum Ausgleich
des Schadens wieder herangezogen werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Belegschaft steht vor einer Riesenaufgabe . Sie
hat, wenn es der Verkehrsminister am Sonntag aus der
Zeitung erfahren hat, vielleicht auch erst am Sonntag aus
der Zeitung erfahren, welche Instrumente sie in den Jah-
ren in den Autos verbaut hat . Das wollten sie nicht .

Von daher ist es notwendig, dass wir innerhalb des
VW-Konzerns zu einer Zusammenarbeit zwischen den
Mitbestimmungsgremien und der Belegschaft kom-
men; denn sie hat offenbar überhaupt nicht funktioniert .
Wenn Herr Osterloh, der Betriebsratsvorsitzende, davon
spricht, in Wolfsburg habe ein Kasernengehorsam ge-
herrscht, dann ist da doch das Problem zu sehen .

Insofern ist es notwendig, dass wir jetzt im Rahmen
der Untersuchungen – wir wollen sie auf der Grundlage
unseres Fünf-Punkte-Programms durchführen – alle Hin-
weisgeber, sogenannte Whistleblower, davor schützen,
dass sie Nachteile erleiden, wenn sie endlich auspacken
und über die Struktur des vorsätzlichen Betrugs berich-
ten, den es bei VW gegeben hat und den wir bekämpfen
wollen .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812514200

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Arno Klare

von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Arno Klare (SPD):
Rede ID: ID1812514300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich bin der Auffassung, dass wir jetzt zwei gro-
ße Aufgaben haben . Die erste Aufgabe besteht darin, das
Vertrauen wiederherzustellen . Das Vertrauen drückt sich
darin aus, dass die gemessenen Verbrauchswerte auch die
tatsächlichen sind .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Das Zweite ist – etwas in die Zukunft gesprochen –: Wir
müssen jetzt politisch die richtigen Weichen stellen, in-
dem wir diese Krise als Chance zur Dekarbonisierung
der Mobilität nutzen .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsche Partei!)


Lassen Sie mich etwas zum ersten Punkt sagen . Kann
man es hinbekommen, dass die gemessenen Werte die
tatsächlichen sind? Ja, das geht; Frau Lühmann hat gera-
de schon darauf hingewiesen . Die Systemanforderungen
sind eigentlich auf ein paar Punkte zu reduzieren, die da
lauten: Das System muss transparent sein, das System
muss messgenau sein, es muss zuverlässig, zukunftssi-
cher, kosteneffizient und standardisierbar sein, und es
muss natürlich auch – leider muss man das sagen – mög-
lichst manipulationsresistent sein .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Frage ist jetzt: Gibt es so etwas schon? Im
Lkw-Bereich gibt es das bereits . Manchmal muss man
nachschauen, was für Dinge man im eigenen Hause – um
es mit Kafka zu sagen – vorrätig hat . Das System heißt
VECTO . Das ist ein Akronym und heißt im Langtext: Ve-
hicle Energy Consumption Calculation Tool . Das kann
man als Nichtverkehrspolitiker sofort wieder vergessen;
nur VECTO sollte man sich merken .

Was ist das? Das ist eine Kalkulationssoftware, die
einzelne Elemente, die verbrauchsrelevant sind, und
zwar die tatsächlichen Verbrauchswerte, misst und dann
im Kalkulationstool zusammenführt . Bei Prototypen von
Lkws, bei denen das Tool im Gebrauch ist, funktioniert
das so gut, dass die Abweichungen unter 3 Prozent lie-
gen . Das ist also durchaus treffgenau .

Am Ende könnte so etwas wie ein Verbrauchertool
stehen: Man sucht sich dann ein Auto nicht mehr anhand
der Marke aus, sondern legt im Rahmen der Konfigura-
tion bestimmte Bedingungen fest . So erhält man Fahr-
zeuge mit optimierter THG-Bilanz, und erst dann werden
ihnen die Marken zugeordnet . Das wäre ein Fortschritt .


(Beifall bei der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Gute Idee!)


Herbert Behrens






(A) (C)



(B) (D)


– Es ist nicht nur eine Idee . VECTO gibt es bereits . Es
geht also über die Blaupause hinaus .

Der zweite Punkt, zu dem ich kommen will: Die Zu-
kunft sind Wasserstoff- und Brennstoffzellenantriebe und
die Elektromobilität .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Herr Rimkus wird nicht müde, immer wieder darauf
hinzuweisen, dass das die Zukunft sei, und er hat völlig
recht . Wir müssen nicht Emissionen heraus- und herun-
terrechnen, sondern technologische Innovationen in die
Welt setzen und natürlich auch – darauf hat der Bundes-
wirtschaftsminister gestern hingewiesen – durch Kaufan-
reize den Markt in diesem Bereich stimulieren .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Er hat gesagt, wir brauchen jetzt Incentives .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Endlich sagt es mal einer hier!)


Man muss auch mal einen Blick in den Haushalt werfen:
Genau für diesen Bereich, für die NOW, stehen 20 Milli-
onen Euro mehr bereit .


(Stephan Kühn GRÜNEN]: Na ja! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da kriegt der Winterkorn ja mehr als Abfindung!)


In der mittelfristigen Finanzplanung summiert sich das
auf 220 Millionen Euro genau für diesen Bereich . Das
heißt, die Behauptung, die Große Koalition würde dort
nicht investieren, stimmt einfach nicht .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Florian Oßner [CDU/CSU])


Das gibt es nämlich schon .

Wir müssen aus der Krise eine Chance machen . Ich bin
relativ sicher, dass uns das gelingt, dass wir das können .
Frau Lühmann hat zu Recht zu Beginn ihrer Rede darauf
hingewiesen: Wir haben die besten Automobilingenieure
der Welt, und wir bauen auch mit die besten Autos der
Welt . Diese Autos müssen in Zukunft emissionsfrei und
CO

2
-neutral durch die Gegend fahren . Dann wird daraus

der Business Case für das ganze Land .

Danke schön . – Vier Minuten!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812514400

Super! Vorbildlich! – Als nächster Redner spricht

Stephan Kühn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .

Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass VW die
Abgaswerte illegal manipuliert hat, ist wirklich schockie-
rend . Die wirtschaftlichen Folgen sind derzeit noch nicht
absehbar . Aber klar ist: Die gesamte Automobilbranche

hat nicht nur einen Kratzer abbekommen, da ist richtig
der Lack ab .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Schön wär‘s!)


Der noch größere Skandal ist aber, dass seit Jahren
durch zahlreiche Untersuchungen belegt ist, dass Die-
selautos die Abgaswerte um ein Vielfaches überschreiten
und die Bundesregierung null dagegen unternommen hat .
Volkswagen ist insofern nur ein neues Kapitel in einer
langen Kette von Mogeleien .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Man habe seit dem Herbst 2014 belastbare Indizi-
en, dass selbst moderne Euro-6-Diesel im Realbetrieb
vielfach erhöhte Stickoxidemissionen aufweisen . Das
schrieb die Bundesregierung im August in ihrer Antwort
auf einen Mahnbrief aus Brüssel; denn Brüssel hat gegen
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnet,
weil die gesundheitsgefährdende Stickoxidbelastung in
unseren deutschen Städten zu hoch ist . Sehr geehrter
Kollege Viesehon, das ist das Problem, über das wir hier
reden . Zwei Drittel der NOx-Belastungen gehen auf den
Verkehr und hier vor allen Dingen auf Dieselmotoren zu-
rück . Das gehört zur Wahrheit dazu . Diese Emissionen
müssen gesenkt werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der ICCT hat im Oktober 2014 herausgefunden, dass
die Stickoxidwerte auf der Straße die erlaubten Werte im
Durchschnitt um das Siebenfache überschreiten . Diese
Abweichungen lassen sich im Übrigen nicht mit Unter-
schieden zwischen Laborbedingungen und realem Fahr-
verhalten erklären; denn der überwiegende Teil der beob-
achteten Überschreitungen konnte weder extremen noch
untypischen Fahrsituationen zugeordnet werden . Das ist
also ganz klar ein systematisches Problem .

Was haben Sie, Herr Dobrindt, mit den Ergebnissen,
die seit 2014 vorliegen, gemacht? Nichts! Sie haben
nichts gegen diese Verbrauchertäuschung unternommen .
Spätestens nach der Veröffentlichung des ICCT-Berichts
2014 hätten Sie eine Untersuchungskommission einrich-
ten müssen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Spätestens 2014 hätten Sie das Kraftfahrt-Bundesamt
mit Nachtests beauftragen müssen und nicht erst diese
Woche .

Auch das Umweltbundesamt hat Untersuchungen
durchgeführt und Nachprüfungen eingefordert . Insofern
ist es albern, sich hier hinzustellen und zu sagen, dass
wir auf das RDE-Messverfahren warten sollen; denn das
wird bekanntlich nicht vor 2017 in die Praxis umgesetzt .

Trotz der Untersuchung einer nachgeordneten Behör-
de des Bundes hat der Bundesverkehrsminister sich nicht
ein einziges Mal die Mühe gemacht, die Angaben der
Hersteller zu kontrollieren . Erst jetzt wollen Sie prüfen,
ob das, was typgenehmigt wurde, auch tatsächlich ver-
baut wurde . Das ist viel zu spät .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Arno Klare NEN], an Bundesminister Alexander Dobrinth gewandt: Fakten, Fakten, Fakten!)





(A) (C)


(B) (D)


Die grüne Bundestagsfraktion hat in dieser Woche
den Antrag „Zum Schutz der Verbraucher – Unzutref-
fende Angaben beim Spritverbrauch und Schadstoffaus-
stoß von PKW beenden“ eingebracht . Darin fordern wir
regelmäßige, unabhängige Nachtests für Abgase und
CO

2
-Emissionen. Die zahlreichen legalen Schlupflöcher

bei den Labortests müssen beseitigt werden . Die Abgas-
tests spiegeln in keiner Weise die Wirklichkeit wider .
Schnelles Beschleunigen oder Fahren über 120 km/h
kommen darin überhaupt nicht vor . Das geht an den rea-
len Fahrsituationen aber völlig vorbei . Deshalb brauchen
wir andere Labortests, damit Abgastests wirklich aussa-
gekräftig sind .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist im Übrigen traurig, dass es einen Skandal sol-
chen Ausmaßes braucht, damit das Kraftfahrt-Bundesamt
das tut, was es schon längst hätte tun müssen . Zusätzlich
zur Überprüfung der Fahrzeuge im Labor müssen auch
Straßentests vorgenommen werden, also Messungen
während Realfahrten, nicht nur auf dem Rollenprüfstand .
Die zuständigen Behörden müssen diese Ergebnisse dann
auch endlich allen Verbraucherinnen und Verbrauchern
öffentlich zugänglich machen . Auch das ist bisher nicht
erfolgt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Der Verband der Automobilindustrie – der in den
letzten Tagen auffällig abgetaucht ist – wollte uns im-
mer weismachen, dass der sogenannte Clean Diesel für
das Erreichen der Klimaziele absolut unverzichtbar sei .
Genau das Gleiche hat das Bundesverkehrsministerium
auch immer behauptet .


(Florian Oßner [CDU/CSU]: Ist ja auch richtig!)


Nein, meine Damen und Herren, der Diesel ist ein Teil
des Problems . Es wird erkennbar, dass die Bundesregie-
rung kein Konzept hat, wie sie die Stickoxidbelastungen
in unseren Städten deutlich reduzieren und die Luft-
qualität deutlich verbessern will . Das fehlt . Das ist das
Problem, über das wir zu sprechen haben, Herr Kollege
Viesehon .

Auch die Reduktion der CO
2
-Emissionen im Verkehr fin-

det nur auf dem Papier statt . Wir reden nicht nur über
Abgase . Auch hier hat der ICCT Differenzen zwischen
Herstellerangaben und tatsächlichem Kraftstoffver-
brauch festgestellt, die im Übrigen immer größer wer-
den. Auch hier gibt es zahlreiche Schlupflöcher in Test-
verfahren im Labor . Wenn jetzt die Abgaswerte vom
Kraftfahrt-Bundesamt kontrolliert werden, müssen auch
die Verbrauchsangaben in die Untersuchung einbezogen
und kontrolliert werden . Herr Minister, das erwarten wir
jetzt von Ihnen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer die CO
2
-Emissionen wirklich reduzieren und die

Luft in den Städten verbessern will, der muss endlich die

Chance ergreifen und die Elektromobilität zum Fliegen
bringen . Das sehe ich ganz genauso wie der Kollege
Klare . Insofern sage ich auch: –


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812514500

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .

Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
– Wenn wir das erreichen wollen, brauchen wir ein ent-
sprechendes Marktanreizprogramm zum Kauf von Elek-
troautos . Dieses Marktanreizprogramm muss jetzt kom-
men .

Herzlichen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812514600

Als nächster Redner hat Florian Oßner von der CDU/

CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Oßner (CSU):
Rede ID: ID1812514700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich denke, wir stimmen alle darin überein, dass
es sich bei den Manipulationen in einem Automobilkon-
zern um ein völlig inakzeptables Fehlverhalten handelt .
Allerdings stehen wir erst am Anfang der Ermittlungen .
Viele Details und Fragen sind derzeit noch ungeklärt .
Deswegen warne ich ausdrücklich davor – dies ist ins-
besondere an Sie gerichtet, liebe Kollegen der Grünen –,
sich im Eifer des Gefechts wie ein Elefant im Porzellan-
laden aufzuführen und die positive Reputation unserer
Automobilindustrie zu zerdeppern .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Durch diesen Porzellanladen ist VW schon selber gefahren! Sie haben ja keine Ahnung! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ein Witz! – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lächerlich!)


Hören Sie bitte auf, immer alles zu skandalisieren und
schlechtzureden .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Allerdings ist es schon interessant, sich in diesem Zu-
sammenhang die Chronologie der Ereignisse anzuschau-
en . Der International Council on Clean Transportation
mit Sitz in Berlin liefert Informationen in die USA . Die
Fraktion der Grünen stellte hierzu im Sommer eine Klei-
ne Anfrage . Die Diskussion kommt ausgerechnet zu dem
Zeitpunkt auf, wo mit der IAA in Frankfurt die weltweit
größte Leistungsschau der Automobilbranche stattfindet.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Wir sind ferngesteuert von den USA! Oder was wollen Sie uns jetzt erklären? Das ist abenteuerlich!)


Stephan Kühn (Dresden)







(A) (C)



(B) (D)


Wir sollten im Rahmen dieser Debatte nicht verges-
sen, dass in der deutschen Automobilindustrie erstklas-
sige Arbeit geleistet wird . Die deutschen Autobauer sind
weltweit spitze, insbesondere was die Umweltverträg-
lichkeit angeht . Die hart arbeitenden Mitarbeiter in der
Automobilbranche dürfen deshalb nicht aufgrund Ver-
fehlungen Vereinzelter unter Generalverdacht gestellt
werden .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Dann müssen Sie die Einzelnen mal strafrechtlich verfolgen!)


Zudem warne ich davor, die jetzige Debatte dazu zu
missbrauchen, die Selbstzünder komplett zu verteufeln,
auch wenn ich selbst, wie auch einige Vorredner, ein
Freund der wasserstoffbetriebenen und vollelektrischen
Fahrzeuge bin . Bei Verbrennungsmotoren hat sich in
den letzten zehn Jahren nämlich Gewaltiges getan, so-
wohl im Verbrauch als auch hinsichtlich der spezifischen
CO

2
-Emissionswerte der Pkws, die in Deutschland von

175 auf 125 Gramm CO
2
pro Kilometer gesunken sind,

also um fast ein Drittel .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Im Labortest, aber nicht in der Realität, Herr Kollege! Im manipulierten Labortest! Das ist doch das Problem!)


– Herr Krischer, Schreien allein hilft da auch nicht . –
Das ist eine beeindruckende Zahl, vor allem, wenn man
zugleich den stetigen Anstieg der Verkaufszahlen der
sparsameren Dieselfahrzeuge berücksichtigt . Das ist eine
großartige Leistung der Automobilindustrie . Das war üb-
rigens nur mit der Dieseltechnologie möglich .

Für das Einsetzen einer Untersuchungskommission
mit dem Auftrag, festzustellen, ob die betroffenen Fahr-
zeuge unter Einhaltung der bestehenden deutschen und
europäischen Vorschriften gebaut wurden, möchte ich
ausdrücklich ein großes Lob an unseren Bundesverkehrs-
minister aussprechen: Lieber Alexander Dobrindt, herzli-
chen Dank für dieses sehr beherzte Handeln .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da klatscht einer!)


Die Kommission hat am 22 . September 2015 ihre Arbeit
aufgenommen und wird unter anderem Gespräche mit
der amerikanischen Umweltbehörde EPA sowie mit den
Automobilherstellern führen .

Mit Ihren falschen Anschuldigungen, liebe Grüne, die
Bundesregierung hätte seit dem Frühsommer alle Vor-
gänge gekannt, sowie mit Ihren fortgesetzten Angriffen
auf Bundesminister Dobrindt tragen Sie keineswegs zur
Aufklärung des Sachverhalts bei,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Der war doch längst aufgeklärt!)


sondern verzögern diese vorsätzlich, und zwar aus einfa-
cher, populistischer Profilierungssucht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Verhalten ist nicht nur kontraproduktiv, sondern auch
ein Stück weit scheinheilig .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Angst muss ja groß sein, dass Sie immer noch solche Sachen reden!)


Ich will ergänzen, warum dies so ist . Die Antwort der
Bundesregierung, die Sie als direkten Beweis heranzie-
hen, war Ihnen doch schon seit Monaten bekannt . Sie
hätten also schon vor Monaten Alarm schlagen müssen,
wenn doch alles so klar gewesen wäre .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind ja von den USA ferngesteuert! Deshalb haben wir gewartet!)


Da Sie das nicht getan haben, sondern der Bundesregie-
rung nun Untätigkeit vorwerfen, kann man Ihr Verhalten
nur als heuchlerisch bezeichnen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2,8 Millionen VW-Besitzer hören Ihre Rede!)


Man muss schon auf dem Boden der Tatsachen blei-
ben . Fakt ist, dass Artikel 3 Absatz 10 der Verordnung

(EG) Nummer 715/2007 den Begriff einer Abschaltein-

richtung legal definiert. Fakt ist aber auch, dass diese
Definition im Zusammenhang mit Artikel 5 Absatz 2 zu
sehen ist . In diesem wird klar und unmissverständlich ge-
regelt, wann die Verwendung einer Abschalteinrichtung
zulässig ist und wann nicht . Dies ist beispielsweise dann
der Fall, wenn es darum geht, den Motor vor Beschädi-
gungen oder bei einem Unfall zu schützen .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Rede ist auch ein Unfall!)


Ein Blick in Ihre eigene Anfrage, liebe Grüne, erleich-
tert definitiv die Wahrheitsfindung. Darin steht, dass die
Bundesregierung die Auffassung der Europäischen Kom-
mission teilt, dass sich das Konzept zur Verhinderung
von Abschalteinrichtungen in der Praxis bislang nicht
umfänglich bewährt hat


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Rede kommt in der heute-show!)


und daher die Arbeiten


(Zuruf des Abg . Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– hören Sie doch einmal zu, damit Sie etwas dazuler-
nen – zur Fortentwicklung des EU-Regelwerks weiter
unterstützt werden, und zwar nicht erst seitdem die Vor-
gänge in den USA bekannt geworden sind .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mann, Mann, Mann!)


Florian Oßner






(A) (C)



(B) (D)


Anstatt politische Scheingefechte zu führen, sollten
wir lieber gemeinsam an der Aufklärung dieser aktuellen
Missstände arbeiten


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir schon seit Jahren gesagt!)


und weiteren Schaden vom Industriestandort Deutsch-
land abwenden .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812514800

Auch Sie muss ich ermahnen, zum Schluss zu kommen .


Florian Oßner (CSU):
Rede ID: ID1812514900

Herzliches Vergelts Gott fürs Zuhören .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine dolle Nummer am Freitagnachmittag!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812515000

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulli Nissen von

der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Ulli Nissen (SPD):
Rede ID: ID1812515100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
von VW! Wir alle sind am Wochenende von den unter
Betrugsabsicht manipulierten Abgaswerten von VW kalt
erwischt worden . Erst dachte ich, das kann doch nur eine
gefälschte Nachricht sein, aber leider erwies sie sich als
wahr .

Alle sind geschockt von diesem Vorgehen, auch die
Belegschaft von VW . Der Betriebsratsvorsitzende Oster-
loh hat es in einem Schreiben formuliert – ich zitiere –:

Dies rüttelt am Selbstverständnis unseres Unterneh-
mens und diskreditiert die gute Arbeit . . .

Dem kann ich nur zustimmen .

Weltweit sind knapp 600 000 Beschäftigte betroffen,
in Deutschland etwa 270 000, davon etwa 16 000 in
Nordhessen; das ist schon erwähnt worden .

Wie geht es jetzt der Belegschaft? Viele machen sich
Sorgen um ihren Arbeitsplatz und haben zudem Verlus-
te durch den Kursverfall bei Mitarbeiteraktien erlitten .
Auch in deren Interesse ist die lückenlose Aufklärung
hinsichtlich des Ausmaßes der Manipulationen wichtig .
Aufklärung allein genügt aber nicht . Wir müssen auch
handeln und verändern .

Mich als Umweltpolitikerin hat es besonders empört,
dass erneut sträflich mit der Gesundheit der Bevölke-
rung umgegangen wurde . Grenzwerte wurden bewusst
umgangen . Damit wurden mehr Schadstoffe als erlaubt
ausgestoßen . Der Gedanke der Nachhaltigkeit, der Un-
ternehmensverantwortung für die Umwelt, für die Luft

und auch für die Menschen hörte an der eigenen Fabrik-
tür auf . Das ist schäbig .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Herbert Behrens [DIE LINKE])


Das ist auch kein Problem eines einzigen Unterneh-
mens oder einer einzelnen Branche; das will ich hier
deutlich machen . Hohe Absatzzahlen und deutliche Ge-
winnsteigerungen sind bei vielen Unternehmen wichtiger
als Umwelt und Gesundheit. Die Gemeinwohlverpflich-
tung des Grundgesetzes scheinen viele nicht zu kennen .

Was nutzen Werte – ich meine sowohl Messwerte als
auch moralische, ethische Werte –, wenn sie nur auf dem
Papier existieren und nicht ins reale Handeln umgesetzt
werden?

Das Umweltbundesamt hat deutlich gemacht, dass
Stickstoffdioxid Luftschadstoff Nummer eins ist . Die er-
laubten Werte überschreiten wir immer noch um 60 Pro-
zent im Jahresmittel . Dies hat Deutschland zu Recht
reichlich Ärger mit der Europäischen Kommission ein-
getragen .

Ein Beispiel für Überschreitungen ist Darmstadt . Dort
hatten wir – Stand gestern Abend – schon 57 Fälle . Er-
laubt sind für das gesamte Jahr aber nur 18 .


(Sören Bartol [SPD], an BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Das wird von den Grünen regiert! – Gegenruf des Abg . Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Kollege Krischer, es wäre schön, wenn Sie zuhören
würden . – Auch in meinem Wahlkreis Frankfurt kommt
es an der Friedberger Landstraße immer wieder zu Über-
schreitungen . An einer solchen Straße zu leben, erhöht
das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder an
Lungenkrebs zu erkranken . Stickstoffdioxid ist zudem
an der Entstehung von Ozon beteiligt . Bei Sonneneinwir-
kung kann es zu Sommersmog führen, der zu Lungenrei-
zungen führt und gefährlich für Asthmatiker und andere
Empfindliche ist. Auch das müssen wir bedenken, liebe
Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nach einer aktuellen Studie eines Max-Planck-Insti-
tuts sterben jährlich weltweit 3,3 Millionen Menschen
an den Folgen von Luftverschmutzung; Ursache sind
natürlich nicht nur Verkehrsemissionen, aber auch . In
Deutschland sind das 35 000 Tote pro Jahr, hiervon allein
7 000 durch die Luftbelastung im Verkehr . Das sind dop-
pelt so viele Tote wie durch Verkehrsunfälle . Ich selber
fahre schon seit 2009 einen Elektroroller und seit 2012
ein Elektroauto .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich versuche – es hat mich letzte Woche hart getroffen,
weil ich in strömenden Regen gekommen bin; aber ich
habe es gemacht –,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Florian Oßner






(A) (C)



(B) (D)


möglichst alle Fahrten im Stadtgebiet mit diesen Fahr-
zeugen zu erledigen . Das ist gut für die Luft und senkt
zusätzlich die Lärmbelastung .

Wir müssen endlich die Gesundheit der Menschen in
den Vordergrund rücken . Noch einmal: In Deutschland
sterben doppelt so viele Menschen an den Folgen der
Verkehrsemissionen wie an Verkehrsunfällen . Deshalb
brauchen wir Grenzwerte . Sie wirken aber natürlich nur,
wenn sie eingehalten werden .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal in Richtung Regierungsbank!)


Deshalb brauchen wir bessere Tests und bessere Kontrol-
len in Deutschland und natürlich auch in Europa .

Wir haben schon einiges auf den Weg gebracht . Meine
Kollegin Kirsten Lühmann hat es bereits angesprochen .
Weitere Schritte und schärfere Maßnahmen müssen na-
türlich folgen . Sie müssen klar und deutlich sein sowie
unabhängig kontrolliert werden . Ich denke, das wollen
wir alle .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schock sollte
für uns Anreiz und Antrieb sein, endlich mit dem nöti-
gen Druck in der EU, aber auch in Richtung der Auto-
mobilhersteller zu sagen: Wir müssen die Grenzwerte im
realen Betrieb einhalten . So können wir Vertrauen wie-
dergewinnen . Das ist ein Wettbewerbsvorteil und keine
zusätzliche Bürde . Nutzen wir die Chance, um saubere
Autos herzustellen, damit wir saubere Luft, saubere Städ-
te und gesunde Menschen haben .

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und herzli-
che Grüße an die Kolleginnen und Kollegen von VW .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812515200

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Matthias

Heider von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Matthias Heider (CDU):
Rede ID: ID1812515300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Als ich am vergangenen Wochenende
die ersten Meldungen aus den USA über die Verstöße von
VW gesehen habe, war ich genauso entsetzt wie Sie . Wir
alle kennen die Produkte von VW als zuverlässig und
qualitativ hochwertig . Umso mehr sind die offenbar ge-
zielten Manipulationen an den Testergebnissen von VW
in den USA zu kritisieren . Sie sind inakzeptabel .

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen, was Sie hier heute in der Öffentlichkeit abziehen, ist
mindestens genauso inakzeptabel .


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hä?)


Ich habe ja ein gewisses Verständnis dafür, dass die Op-
position immer ein gesatteltes Pferd im Stall stehen haben
muss . Aber wenn Sie es schon heute herausholen, dann
sollten Sie zumindest nicht die anderen Pferde scheu ma-
chen . Beschädigen Sie nicht eine Branche, beschädigen
Sie nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er beschädigt sich gerade selbst! – Stephan Kühn GRÜNEN]: Das macht er gerade selber!)


Fügen Sie den Unternehmen und Arbeitnehmern und vor
allen Dingen ihren Familien heute keinen Schaden zu .
Das ist meine dringende Bitte .


(Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wer die Betrüger benennt, beschädigt nicht!)


Meine Damen und Herren, das Gebot der Stunde ist,
umfassend und unverzüglich weiter aufzuklären . Das ist
VW den Verbrauchern, den Aktionären, aber auch der ge-
samten Branche schuldig . Es muss für die Verbraucher
klar werden, welche Autos in Deutschland betroffen sind .
Es geht nicht an, dass wir Wasserstandsmeldungen über
den Ticker bekommen, wie viele Fahrzeuge betroffen
sind . Das muss jetzt auf den Tisch . Ich bin dem Verkehrs-
minister sehr dankbar, dass er über das Umweltbundes-
amt und das Kraftfahrt-Bundesamt dazu beiträgt, dass
die entsprechenden Werte auf den Tisch kommen .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das eine Kritik am Minister?)


Das sind erste Schritte, um das Vertrauen der Verbrau-
cher, der deutschen Autofahrer, wieder zu sichern . Die
bereits getroffenen personellen Konsequenzen in den
Gremien von VW sprechen für sich . Das zeigt, dass VW
handelt . Das macht Hoffnung auf eine weitere umfas-
sende und schnelle Aufklärung . Das ist gut so . Auch die
anderen international tätigen Autobauer müssen schnell
aufkommende Verdachtsmomente aus dem Weg räumen
und klarstellen, dass das bei VW ein Einzelfall ist .


(Stephan Kühn GRÜNEN]: Es ist doch längst klar, dass es so nicht ist!)


Mich hat noch etwas anderes völlig entsetzt . Das sind
die Auswirkungen auf die Branche und auf den Auto-
mobilbau in Deutschland, die wir zu befürchten haben .
Wir wissen, dass jeder siebte Arbeitsplatz in Deutschland
mittelbar vom Automobilbau abhängt; direkt sind es so-
gar 750 000 Arbeitsplätze . Deshalb kann ich kaum ver-
stehen, meine Damen und Herren von den Grünen, dass
Sie hier heute versuchen, eine ganze Branche für einen
Vorfall in Mithaft zu nehmen .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Vorfall? 2,8 Millionen geschädigte Kunden allein in Deutschland!)


Wir müssen aufklären, ja – aber bitte ohne politisches
Kalkül . Daran sollten Sie denken, wenn Sie so vortragen,
wie Sie es heute getan haben . Die Automobilindustrie ist

Ulli Nissen






(A) (C)



(B) (D)


eine Schlüsselindustrie mit einigen Hunderttausend Ar-
beitsplätzen, die davon betroffen sind .


(Stephan Kühn GRÜNEN]: Und deshalb dürfen die manipulieren, oder was?)


Jetzt kommt es auf Verantwortungsbewusstsein an, auch
im politischen Raum .


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das genau ist das Problem! Ihre Rede macht das Problem deutlich!)


Im Übrigen: Zu unterstellen, dass es keine Informa-
tionen über und keine Anhaltspunkte für unterschiedli-
che Testverfahren, für Echtbetrieb und Testverfahren im
Labor, gegeben habe, ist völlig abwegig . Das ist längst
bekannt .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Der guten Ordnung halber wäre hier vielleicht auch
der Hinweis angebracht gewesen, dass schon zwischen
dem Typzulassungsverfahren und den normalen Abgas-
untersuchungen bei einer Hauptuntersuchung ein großer
Unterschied besteht .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, und?)


Bei der Hauptuntersuchung wird beispielsweise sicher-
gestellt, dass sich die Abgaswerte der zugelassenen Fahr-
zeuge über den Nutzungszeitraum innerhalb der festge-
legten Überwachungsgrenzen bewegen . Diese sind mit
den Grenzwerten, die von der jeweiligen Abgasnorm
einmalig bei einem Zulassungsverfahren gefordert wer-
den, keineswegs identisch . Herr Krischer, das hätten Sie
mit einigen Klicks im Internet herausbekommen können .
Das ist doch kein Geheimnis .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was hat das jetzt mit dem Thema zu tun?)


Dass das Messverfahren der NEFZ von 1996 inzwi-
schen sicherlich veraltet ist, ist klar . Dass ein neues Mess-
verfahren, das WLTP, gerade in Arbeit ist – wir werden es
in wenigen Jahren bekommen –, ist richtig .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In wenigen Jahren? Aha! – Ulli Nissen [SPD]: Das sollte doch wohl ein bisschen früher klappen! – Sabine Leidig [DIE LINKE]: „In wenigen Jahren“? Das ist ja wohl ein Witz!)


Hier spielen nicht nur die Werte zum CO
2
-Ausstoß, son-

dern auch die Stickoxidemissionen eine Rolle .

Lassen Sie mich zum Schluss, wenn Sie schon Werte
vergleichen, ein Beispiel anführen: Ein Kleinwagen hat
andere Werte als ein Familien-Van;


(Ulli Nissen [SPD]: Ach! So ein Glück, dass Sie mir das jetzt gesagt haben! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das musste ja mal gesagt werden!)


das muss auch messbar sein . Ein Familien-Van ist ein
Gegenstand, der schwer ist . Der braucht eben mehr Ener-
gie, um in Bewegung gebracht zu werden, und er hat
auch einen höheren Schadstoffausstoß . Das ist Physik,
Herr Krischer,


(Stephan Kühn DIE GRÜNEN]: Das ist ja überraschend!)


und wenn man Messzyklen zusammenrechnet, dann ist
das Mathematik . Die entsprechenden Ergebnisse müssen
dann evaluiert werden . Das ist vernünftig . Vernunft ist,
glaube ich, das Gebot der Stunde .

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812515400

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Andreas Jung,

ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion, das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1812515500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist offenkundig: Durch die Manipulation von VW ist
viel Vertrauen zerstört worden . Deshalb muss es jetzt bei
allem und uns allen darum gehen, Vertrauen wiederher-
zustellen . Darauf müssen jetzt alle Anstrengungen ge-
richtet sein .

Der erste wichtige Punkt ist dabei Aufklärung und
Transparenz . Deshalb halte ich und halten wir es für
richtig, dass der Bundesverkehrsminister sofort nach Be-
kanntwerden der Manipulation eine Untersuchungskom-
mission eingesetzt hat, in der die Experten aus dem Mi-
nisterium und die Experten des Kraftfahrt-Bundesamtes
den Vorwürfen nachgehen und untersuchen, was bei VW
passiert ist und wie die Situation bei anderen Automobil-
konzernen ist . Das ist der richtige Weg . Es muss alles auf
den Tisch . Für dieses Vorgehen hat der Minister unsere
volle Unterstützung .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Ulli Nissen [SPD], an das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Da könnt ihr ruhig mitklatschen!)


Zweitens . Selbstverständlich stellt sich auch die Frage
nach der Belastbarkeit der Messwerte; auch sie ist wich-
tig . Aber dabei geht es um etwas anderes . Deshalb, glaube
ich, tut man dem Anliegen, Vertrauen zu schaffen, keinen
Gefallen, wenn man diese beiden Sachverhalte wissent-
lich miteinander vermischt, obwohl sie nicht zusammen-
gehören, und dann irgendwelche Vorwürfe daraus strickt .
Auch dieses Thema ist wichtig und schon länger bekannt .
Dabei geht es aber, wie gesagt, um etwas anderes als bei
den aktuellen Fragen . Hier wird schon länger an einer
Antwort gearbeitet; auch das ist gesagt worden .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Leuten ist es egal, ob sie legal oder illegal betrogen werden!)


Die Bundesregierung befindet sich in Abstimmung
mit den europäischen Partnern . Es ist entschieden wor-

Dr. Matthias Heider






(A) (C)



(B) (D)


den, dass man ein neues Messverfahren einführt, bei dem
unter realistischen Bedingungen auf der Straße gemessen
wird und nicht im Labor . Der Minister hat gesagt, bei der
nächsten Tagung der EU-Verkehrsminister wird dieses
Thema auf der Tagesordnung stehen. Ich finde, wir soll-
ten ihn gemeinsam dabei unterstützen, dieses Thema vo-
ranzubringen, damit das neue Messverfahren so schnell
wie möglich eingeführt werden kann .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Genau! So schnell wie möglich! Das ist richtig!)


Drittens geht es natürlich darum – ich denke, auch hier
gibt es große Übereinstimmung –, Vertrauen dadurch zu
gewinnen bzw . jetzt zurückzugewinnen, dass Deutsch-
land die Technologieführerschaft hat,


(Beifall der Abg . Ulli Nissen [SPD])


weil unsere Autos die effizientesten, die besten und die
ökologischsten sind und sie auch unserem Anspruch,
Vorreiter beim Klimaschutz zu sein, gerecht werden .


(Ulli Nissen [SPD]: Ja!)


Das ist eine ökologische, aber auch eine wirtschaftliche
Frage .


(Ulli Nissen [SPD]: Das muss aber zusammenpassen!)


Das werden die Autos der Zukunft sein .

Wenn wir weiterhin das Autoland Nummer eins blei-
ben wollen, dann müssen wir hier an der Spitze sein . Das
muss unser Anspruch sein .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das richtet sich natürlich als Erstes an die Automobilun-
ternehmen, die diese Entwicklungen vorantreiben müs-
sen, aber auch an die Politik . Wir setzen die Rahmen-
bedingungen . Die Bundesregierung hat einen Prozess
eingeleitet, um die Brennstoffzelle und die Elektromobi-
lität voranzubringen und genau das zu erreichen . Sie hat
Milliardenprogramme aufgelegt und ihre Forschungsan-
strengungen in den Bereichen Batterietechnik, Antriebs-
technik, Leichtbautechnik und in Bezug auf die Verbin-
dung zum Energiesystem erhöht .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kaufanreize für Elektromobilität!)


– Herr Krischer, mit der Forderung nach Kaufanreizen
greifen Sie eine Forderung der Automobilindustrie auf .


(Zuruf von der SPD: Oh! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht der deutschen!)


– Diese Forderung wird auch in der Automobilindustrie
so vertreten . – Ich bin da etwas zurückhaltend . Ich glau-
be, ein Auto wird dann gekauft, wenn die Technik über-
zeugt, wenn es effizient ist, wenn der Käufer das Auto
fahren will, weil es einfach gut ist .

Natürlich geht es auch darum, Rahmenbedingungen
zu setzen . Diese haben wir mit dem Elektromobilitätsge-
setz auf den Weg gebracht .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Da haben Sie ein paar Busspuren freigegeben! Das ist das Elektromobilitätsgesetz! – Gegenruf des Abg . Carsten Müller hat es nicht verstanden!)


(Braunschweig) [CDU/CSU]: Herr Krischer


Denken Sie zum Beispiel an die Nutzervorteile und
andere Dinge . Es geht hier auch um steuerliche Anrei-
ze . Kaufprämien, wie Sie sie fordern – normalerweise
nennen Sie das „Subventionen“ –, sind zum Beispiel in
Frankreich eingeführt worden . Damit hatte man aber nur
sehr begrenzt Erfolg . Ich glaube deshalb, dass man noch
einmal darüber nachdenken muss, wie man bei diesem
Thema anders vorankommt, gemeinsam mit der Natio-
nalen Plattform Elektromobilität, die hierzu bereits Vor-
schläge erarbeitet hat .

Das Ziel ist klar: Wir brauchen die besten Autos mit
alternativen Antrieben, und wir brauchen Fortschritte bei
den konventionellen Fahrzeugen . Das ist die Linie der
Bundesregierung und auch die Linie unserer Fraktion .
Auf diesem Weg sollten wir gemeinsam mit der Auto-
industrie vorankommen . Unser Anspruch muss sein: Die
besten Autos kommen aus Deutschland .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812515600

Vielen Dank . – Als letzter Redner in der Aktuellen

Stunde hat Carsten Müller von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Carsten Müller (CDU):
Rede ID: ID1812515700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen

und Herren! In meiner Heimatregion Braunschweig/
Wolfsburg spreche ich im Moment mit vielen besorg-
ten Menschen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
von Volkswagen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
von Zulieferern, auch mit Leuten, die mit dem Volkswa-
gen-Konzern und der Branche gar nichts zu tun haben,
aber trotzdem besorgt sind . Wir haben es in den Kom-
munen in meiner Heimatregion mit der Situation zu tun,
dass die Haushaltsberatungen verschoben werden, weil
die Kalkulationsbasis für die Gewerbesteuereinnahmen
überhaupt nicht mehr vorhanden ist . Sie mögen daraus
ableiten, wie tief die Verunsicherung ist .

Es gibt an dieser Stelle keine zwei Meinungen . Die
illegalen Manipulationen, die es bei Volkswagen ganz of-
fensichtlich gegeben hat, sind überhaupt nicht tolerierbar .
Hier ist Vertrauen verspielt worden, und dieses Vertrauen
muss durch rückhaltlose Aufklärung zurückgewonnen
werden . Daran arbeitet die Bundesregierung hart – das
ist heute mehrfach richtigerweise gesagt worden –; sie
hat in dieser Woche umgehend die richtigen Maßnahmen
ergriffen .

Andreas Jung






(A) (C)



(B) (D)


Wie gesagt: Die Situation ist schlimm . Ich will den
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aber auch einmal ganz
deutlich sagen: Wie Sie sich heute hier aufgeführt haben,
ist fast genauso schlimm . Für die Menschen in meiner
Heimatregion, die Sie heute beobachtet und gesehen ha-
ben, mit welcher klammheimlichen Schadenfreude Sie
diese Diskussion geführt bzw . begleitet haben, war das
über alle Maßen erschreckend .


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverschämtheit! – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Reden Sie auch noch zur Sache? Sagen Sie auch noch etwas zum Thema?)


Frau Leidig, zu Ihnen komme ich am Schluss . Das, was
Sie hier heute geäußert haben, fand ich ganz besonders
bemerkenswert .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Gut, dass Sie zugehört haben!)


Der SPD will ich einen guten Rat geben – Kollegin-
nen und Kollegen aus Nordrhein-Westfalen sind ja da –:
Sagen Sie Ihrem SPD-Justizminister in Nordrhein-West-
falen einmal, dass es in dieser Situation nicht hilfreich
ist, wenn er um einer billigen Schlagzeile willen sofor-
tige Schadensersatzzahlungen an VW-Fahrerinnen und
-fahrer fordert . Damit spielt er meines Erachtens mit den
Ängsten .


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der VW-Konzern ist nicht Opfer, sondern Täter!)


Die Linken haben gefordert, dass die milliardenschwe-
ren Eigner von Autokonzernen erst einmal enteignet wer-
den müssen . Frau Kollegin Leidig, das ist kenntnislos .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Da haben Sie leider nicht zugehört!)


– Ich habe ganz genau zugehört .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wir haben gesagt, sie müssen den Schaden begleichen! Sie müssen bei der Wahrheit bleiben, Herr Kollege! Nicht einfach lügen!)


Sie wollen vor allen Dingen das Land Niedersachsen
drankriegen, das an Volkswagen beteiligt ist, und die vie-
len Belegschaftsaktionärinnen und -aktionäre . Das halte
ich für schäbig .

Zu den Grünen . Herr Kollege Krischer, ich halte das,
was Sie hier gesagt haben, ehrlich gesagt, für über alle
Maßen wohlfeil . Es kommt selten vor – es gibt nur ei-
nen Fall –, dass die öffentliche Hand an einem Automo-
bilkonzern beteiligt ist . Die Beteiligung an Volkswagen
wird durch eine Landesregierung ausgeübt, an der die
Grünen beteiligt sind, und Sie stellen sich jetzt hier-
hin und unterstellen dem mit der Aufklärung befassten
Alexander Dobrindt, der das hervorragend macht,


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Warten wir es mal ab!)


dass er bestimmte Dinge gewusst hätte . Ich frage Sie:
Was haben Sie und Ihre Parteifreunde in Niedersach-
sen in ihrer Eigentümerstellung eigentlich gemacht, um
dieses Thema frühzeitig anzugehen? Ich sage es Ihnen:
Nichts! Deswegen ist das auch wohlfeil, was Sie hier ab-
liefern . Sie spielen mit den Ängsten der Menschen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Dagmar Ziegler [SPD])


Was ist zu tun? Erstens . Das verlorengegangene Ver-
trauen muss zurückgewonnen werden; darüber denken
wir heute alle nach, hoffentlich auch Sie von den Linken
und den Grünen . Das geht aber nicht einfach so . Rück-
haltlose Aufklärung ist erforderlich . Da ist die Bundes-
regierung gefordert, ebenso andere Stakeholder . Da ist
auch die Industrie gefordert, zwar nicht nur Volkswagen,
aber vor allen Dingen Volkswagen .

Zweitens . Das Thema RDE, Real Driving Emissions,
ist heute mehrfach angesprochen worden . Eigentlich soll
das 2017 kommen . Dann sollen die Prüfzyklen so durch-
geführt werden, dass sie der wirklichen Benutzung der
Fahrzeuge auf der Straße entsprechen . Das ist wichtig;
denn mit reiner Theorie kann man nichts ausrichten . Zu-
dem führt das zu Verbraucherverunsicherung . Ich könn-
te mir schon vorstellen – und würde mir das auch wün-
schen –, dass man hier schneller vorankommt und die
RDE-Zyklen nicht erst 2017 auf dem Weg über Europa
einführt . Hier müssen wir dranbleiben .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Drittens . Wenn man sich mit diesem Thema auseinan-
dersetzt, sieht man, dass es noch andere Möglichkeiten
gibt . Wenn wir uns anschauen, welche ISO-Normen bei-
spielsweise für sicherheitsrelevante Systeme in Fahrzeu-
gen gelten – ich hebe hier auf die ISO-Norm 26262 ab –,
kann ich mir durchaus vorstellen, eine analoge Regelung
in Bezug auf eine unabhängige Testierung der umwelt-
relevanten Komponenten bei Straßenfahrzeugen zu er-
reichen . Das sollten wir uns überlegen . Damit können
wir, glaube ich, ganz wesentlich Verbrauchervertrauen
zurückgewinnen .

Meine Damen und Herren, das waren drei Punkte . Ich
habe mir während der Debatte noch einen vierten Punkt
notiert . Wir alle sollten – ich wende mich abermals an
die Grünen und die Linken – nicht mit den Ängsten der
Menschen spielen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wir machen das auch nicht!)


– Frau Leidig, ich hatte versprochen, dass ich noch zu
Ihnen komme .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812515800

Herr Kollege, ich würde Sie bitten, zum Schluss zu

kommen .


Carsten Müller (CDU):
Rede ID: ID1812515900

Das mache ich . Ich komme Ihrer Bitte gerne nach . –

Als der Kollege Kühn sagte, bei der Automobilindustrie
sei der Lack ab, haben Sie dazwischengerufen: „Schön

Carsten Müller (Braunschweig)







(A) (C)



(B) (D)


wär’s!“ – Das ist zynisch . Die Menschen in diesem Lan-

de sollen das wissen . Schlimm! Schämen Sie sich!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812516000


Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Aktu-

elle Stunde beendet .

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Dieses Thema wird uns aber sicherlich noch etwas länger
beschäftigen .

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages, auf Mittwoch, den 30 . September 2015, 13 Uhr,
ein .

Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen eine
gute Heimfahrt .