Gesamtes Protokol
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Rechnung des Bundesrechnungshofesfür das Haushaltsjahr 2011 – Einzel-plan 20 –
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Einzelplan 10Bundesministerium für Ernährung,Landwirtschaft und VerbraucherschutzIlse Aigner, Bundesministerin BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Ulrich Kelber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Rainer Erdel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Roland Claus . . . . . . . . . . . . . .
Franz-Josef Holzenkamp . . . . .Rolf Schwanitz . . . . . . . . . . . . . . . . . .Heinz-Peter Haustein . . . . . . . . . . . . .Caren Lay . . . . . . . . . . . . . . . .
Mechthild Heil . . . . . . . . . . . . .Elvira Drobinski-Weiß . . . . . . . . . . . .Dr. Erik Schweickert . . . . . . . . . . . . . .Georg Schirmbeck . . . . . . . . . . .Einzelplan 17Bundesministerium für Familie, Senio-ren, Frauen und JugendDr. Kristina Schröder, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dagmar Ziegler . . . . . . . . . . . . . . . . . .Florian Toncar . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Steffen Bockhahn . . . . . . . . . .
Ingrid Fischbach . . . . . . . . . . . .Rolf Schwanitz . . . . . . . . . . . . . . . . . .Miriam Gruß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Diana Golze . . . . . . . . . . . . . .
Norbert Geis . . . . . . . . . . . . . . .Caren Marks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Sibylle Laurischk . . . . . . . . . . . . . . . .Andreas Mattfeldt . . . . . . . . . . .Einzelplan 07Bundesministerium der JustizSabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . .Christine Lambrecht . . . . . . . . . . . . . .Dr. Günter Krings . . . . . . . . . . .Steffen Bockhahn . . . . . . . . . .23121 C23121 C23122 A23122 C23122 D23125 A23126 C23127 B23128 B23129 C23131 B23132 C23133 C23134 C23135 D23137 C23138 D23139 D23141 D23143 D23144 C23145 C23147 A23148 B23150 C23152 A23153 A23154 C23155 B23157 A23158 C23159 B23160 D23162 B23164 A23166 CIVMetadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Dr. Stefan Ruppert . . . . . . . . . . . . . . . .Burkhard Lischka . . . . . . . . . . . . . . . .Stephan Mayer (CDU/CSU) . . . . .Steffen Bockhahn . . . . . . . .Jens Petermann . . . . . . . . . . . .
Dr. Patrick Sensburg . . . . . . . . .Ingo Egloff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Alexander Funk . . . . . . . . . . . . .Jens Petermann . . . . . . . . . . . .Dr. Patrick Sensburg . . . . . . . . .Ewald Schurer . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Einzelplan 06Bundesministerium des InnernDr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Christine Lambrecht . . . . . . . . . . . . . .Hartfrid Wolff (FDP) . . . . . . . .Steffen Bockhahn . . . . . . . . . .Dr. Christoph Bergner . . . . . . . .Steffen Bockhahn . . . . . . . . . .
Dr. Hans-Peter Uhl . . . . . . . . . .Gabriele Fograscher . . . . . . . . . . . . . .Florian Toncar . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Petra Pau . . . . . . . . . . . . . . . . .
Helmut Brandt . . . . . . . . . . . . . .Dr. Peter Danckert . . . . . . . . . . . . . . . .Gisela Piltz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Stefanie Vogelsang . . . . . . . . . .Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Anlage 1Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .Anlage 2Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut-schen Bundestages, die an der Wahl einesMitglieds des Vertrauensgremiums gemäߧ 10 a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnungteilgenommen haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Anlage 3Erklärung des Abgeordneten ThomasOppermann zur Abstimmung über dieNr. 2 der Beschlussempfehlung des Haus-haltsausschusses zur Entlastung der Bundes-regierung für Haushaltsjahr 2010 und Bemer-kungen des Bundesrechnungshofes 2011
(Tagesordnungs-
punkt 4 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23167 D23169 A23170 B23171 B23173 A23173 C23174 D23175 D23177 D23179 A23180 B23180 C23180 D23181 D23184 B23186 B23187 C23189 C23189 C23190 A23191 C23193 B23194 B23195 C23196 A23197 A23198 C23200 B23201 C23203 A23205 A23205 B23208 A
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23061
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192. SitzungBerlin, Donnerstag, den 13. September 2012Beginn: 9.00 Uhr
Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie herzlich.Zunächst möchte ich Sie mit einigen runden Geburts-tagen vertraut machen. Vizepräsident Eduard Oswaldhat am 6. September seinen 65. Geburtstag gefeiert,
ebenso wie zuvor der Kollege Günter Baumann unddie Kollegin Dr. Marlies Volkmer.
Außerdem beging der Kollege Axel Schäfer am 3. Au-gust seinen 60. Geburtstag. Allen Kolleginnen und Kol-legen auch von dieser Stelle aus die geballten gutenWünsche des ganzen Hauses.
Für den am 11. August verstorbenen Kollegen JürgenHerrmann ist der Kollege Hubert Hüppe nachgerückt.Ich begrüße ihn herzlich.
Er kennt sich hier schon relativ gut aus, sodass er sicherdie guten Wünsche und die sichere Erwartung einer wie-der guten Zusammenarbeit in die alte und neue Aufgabemitnimmt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen vorEintritt in unsere heutige Tagesordnung noch zwei Wah-len durchführen.Für die aus dem Beirat bei der Bundesnetzagenturfür Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post undEisenbahn ausgeschiedene Ingrid Nestle schlägt dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, den KollegenOliver Krischer als ordentliches Mitglied zu berufen.Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? – Dasscheint der Fall zu sein. Dann ist der Kollege OliverKrischer in den Beirat gewählt.
– Erleichterung und Jubel bei der betroffenen Fraktion.
Wir haben noch eine bedeutende andere Wahl. Wirmüssen nämlich einen neuen Schriftführer wählen, weilder Kollege Dr. Tobias Lindner unverständlicherweisedieses Amt niedergelegt hat. Auch hier hat die Fraktioneinen Vorschlag gemacht: Die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen schlägt vor, den Kollegen Arfst Wagner
als neuen Schriftführer zu wählen.
– Das sieht nach Akklamation aus. Hat irgendjemand da-gegen Einwände? – Das ist nicht der Fall. Dann ist derKollege Wagner damit zum Schriftführer bestellt. Glück-wunsch und gute Zusammenarbeit!
Man könnte fast den Eindruck haben, als solle derLärmpegel das Verfahren beschleunigen. Dafür sehe icheigentlich überhaupt keine Aussichten. – Na, es gehtdoch.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiumsgemäß § 10 a Absatz 2 der Bundeshaushalts-ordnung– Drucksache 17/10660 –ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 3a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-sung des Bauproduktengesetzes und weitererRechtsvorschriften an die Verordnung
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Nr. 305/2011 zur Festlegung harmonisierterBedingungen für die Vermarktung von Bau-produkten– Drucksache 17/10310 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Rechtsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten TomKoenigs, Dr. Frithjof Schmidt, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFlüchtlinge aus Syrien aufnehmen– Drucksache 17/10638 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittigc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth , Thilo Hoppe, Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDen globalen Schutz der biologischen Vielfaltsichern – Strategischen Plan der Biodiversi-tätskonvention finanzieren und umsetzen– Drucksache 17/10639 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungDabei soll wie immer von der Frist für den Beginn derBeratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 3 e wird abgesetzt.Schließlich mache ich noch auf nachträgliche Aus-schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der am 15. Juni 2012 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Kultur und Medien zur Mit-beratung überwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes gegen Wettbewerbs-beschränkungen
– Drucksache 17/9852 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für GesundheitAusschuss für Kultur und MedienDer am 28. Juni 2012 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Vertei-digungsausschuss , dem Ausschuss fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung ,dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit und dem Ausschuss für Kul-tur und Medien zur Mitberatung über-wiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes2013– Drucksache 17/10000 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Rechtsausschuss VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOAuch hierzu kann ich offensichtlich Ihre Zustimmungfeststellen.Ich rufe jetzt unseren Zusatzpunkt 1 auf:ZP 1 Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiumsgemäß § 10 a Absatz 2 der Bundeshaushalts-ordnung– Drucksache 17/10660 –Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksache17/10660 die Abgeordnete Stefanie Vogelsang vor.Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Auf-merksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren.Laut Gesetz ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheitder Mitglieder des Bundestages auf sich vereint, dasheißt, wer mindestens 311 Stimmen erhält. Die Wahl er-folgt mit Stimmkarte und Wahlausweis. Den Wahlaus-weis können Sie, soweit noch nicht geschehen, IhremStimmkartenfach in der Lobby entnehmen. Bitte achtenSie unbedingt darauf, dass der Wahlausweis auch wirk-lich Ihren Namen trägt. Die Stimmkarten wurden bereitsim Saal verteilt. Sollten Sie noch keine Stimmkarte ha-ben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von denPlenarassistenten zu erhalten.Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei„Ja“, „Nein“ oder „Enthalte mich“. Ungültig sind dem-zufolge Stimmkarten, die kein Kreuz oder mehr als einKreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten. Die Wahlfindet offen statt, Sie können Ihre Stimmkarte also an Ih-rem Platz ankreuzen. Bevor Sie die Stimmkarte in eineder Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte den Schrift-führerinnen und Schriftführern an den Wahlurnen IhrenWahlausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahlkann nur durch die Abgabe dieses Wahlausweises er-bracht werden.Das haben wir ja schon ein paar Mal geübt. Daherdarf ich jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführerbitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Ich
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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nehme an, dass alle Urnen besetzt sind. Ich eröffne denWahlgang.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Ich habe den Eindruck,dass nun jeder Gelegenheit hatte, seine Stimmkarte ab-zugeben. Dann schließe ich diesen Wahlgang und bittedie Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl teilen wirIhnen dann im Laufe der nächsten Debattenrunde mit.1)Ich darf nun darum bitten, dass diejenigen, die an denHaushaltsberatungen teilnehmen wollen, ihre Plätze ein-nehmen und diejenigen, die noch Wichtigeres vorhaben,den Saal verlassen. – Nehmen Sie bitte Platz, damit wirmit dem nächsten Tagesordnungspunkt fortfahren kön-nen.Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord-nungspunkt 1 – fort:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2013
– Drucksache 17/10200 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungFinanzplan des Bundes 2012 bis 2016– Drucksache 17/10201 –Überweisungsvorschlag:HaushaltsausschussWir haben am Dienstag für die heutige Ausspracheeine Redezeit von insgesamt neuneinhalb Stunden be-schlossen. Wir beginnen heute mit dem Geschäftsbe-reich des Bundesministeriums für Wirtschaft undTechnologie, Einzelplan 09. Ich erteile das Wort demBundesminister Dr. Philipp Rösler.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die deutsche Wirtschaft ist robust. Unter Rot-Grün war das anders. Unter Rot-Grün gab es über 5 Mil-lionen Arbeitslose. Heute, unter einer schwarz-gelbenRegierung, gibt es weit unter 3 Millionen Arbeitslose.
In Ihrer Regierungszeit ist über 1 Million sozialversi-cherungspflichtige Beschäftigungen verloren gegangen.In unserer Regierungszeit sind über 1,1 Millionen neueArbeitsplätze aufgebaut worden.
Das Wachstum war in den letzten beiden Jahren stark.Auch jetzt, in schwieriger werdenden Zeiten, stehen wiran Europas Spitze.Wir als Regierungskoalition stehen für Wachstum, fürWohlstand, für Beschäftigung, und ich sage Ihnen: Ge-rade jetzt kann man erkennen, dass die letzten drei Jahreder deutschen Wirtschaft und unserem Land insgesamtsehr gut getan haben. Wir werden diesen richtigen wirt-schaftspolitischen Kurs als christlich-liberale Koalition,als Koalition aus CDU, CSU und FDP, beibehalten.
Wir werden genau diesen Kurs jetzt auch brauchen;denn wir alle sehen: Die wirtschaftliche Entwicklungwird schwieriger werden.
Wir sehen eine abnehmende Dynamik in den Exportre-gionen in der Welt: in den Schwellenländern, aber auchin den Exportabsatzmärkten in den USA und natürlichauch innerhalb Europas. An einer Exportnation wieDeutschland kann eine solche Entwicklung natürlichnicht spurlos vorbeigehen. Deswegen erwarten wir auchfür das nächste Jahr eine gedämpfte Konjunktur.All diejenigen, die jetzt gleich wieder die konjunktur-politischen Streichhölzer herausholen wollen, um viel-leicht wirtschaftspolitische Strohfeuer zu zünden, sollteneines nicht vergessen: Es waren damals ungedeckte Aus-gabenprogramme – wirtschaftspolitische Strohfeuer –
und verschleppte Reformen, die diese Schwierigkeitenin ganz Europa überhaupt erst verursacht haben. Daszeigt eines sehr klar: Ihre wirtschaftspolitischen Kon-zepte mit immer mehr Schulden ohne wirtschaftlicheReformen haben sich überholt. Wir müssen sie dringendändern, wenn wir in Deutschland und in Europa gemein-sam weiter auf einem Wachstumskurs voranschreitenwollen.
Statt sich auf die Tugenden der sozialen Marktwirt-schaft zu besinnen,
nämlich stabile Haushalte auf der einen Seite und Refor-men und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit auf deranderen Seite, greifen Sie in die wirtschaftspolitischeMottenkiste der 70er-Jahre. Ihre neue Beschlusslagesieht doch wieder nur Steuererhöhungen vor.Das beste Beispiel dafür ist die Vermögensteuer. Siefahren damit massiv einen Angriff auf den unternehme-rischen Mittelstand in Deutschland. Damit gefährden SieArbeitsplätze und Ausbildungsplätze.
Es ist der absolut falsche Weg, das Rückgrat der deut-schen Wirtschaft, den Mittelstand, so zu schädigen, wie 1) Ergebnis Seite 23067 C
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Sie es vorhaben. Ein solcher Weg ist mit uns definitivnicht zu machen.
Sie agieren nicht nur gegen den unternehmerischenMittelstand, sondern auch gegen die gesellschaftlicheMitte in unserem Land. Sehenden Auges akzeptierenSie, dass jede kleinste Gehaltserhöhung im Bereich derunteren und mittleren Einkommen gleich wieder durchdie Inflation und durch die kalte Progression aufgefres-sen wird. Wir haben etwas dagegen getan und ein Gesetzverabschiedet, das Sie aus ideologischen Gründen imBundesrat blockieren.
Ich sage Ihnen: Wenn sich für die Empfänger untererEinkommen und für die Mitte in unserer Gesellschaft dieLeistung nicht mehr lohnt, dann wird das Wachstum aufDauer nicht zu halten sein.
Ihre Blockade richtet sich gegen die gesellschaftlicheMitte in unserem Lande. Ich sage Ihnen: Ein Aufbrechendieser Blockade wäre einmal ein echter Beitrag für mehrGerechtigkeit, nämlich für Leistungsgerechtigkeit, inunserem Land.
Es muss auch Menschen geben – sie gibt es zumGlück –, die zunächst einmal an das Erwirtschaften undnicht, wie Sie, ständig nur an das Umverteilen denken.Deswegen müssen wir jetzt die Wachstumsbremsenlösen.
Wir haben das gerade im letzten Jahr auch geschafft.
Eine Hauptwachstumsbremse – gerade für den Mittel-stand – war der Fachkräftemangel. Wir haben es erstma-lig geschafft, ein System der gesteuerten Zuwanderungqualifizierter Arbeitskräfte in den ersten Arbeitsmarktauf den Weg zu bringen.Ich sage Ihnen: Wir dürfen damit noch nicht Schlussmachen. Im Gegenteil: Das, was für den Bereich derHochqualifizierten gilt, kann man auch auf alle weiterenFachkräftebereiche ausdehnen. Ich wäre sogar sehrdafür, dass wir auch für diejenigen, die keinen Hoch-schulabschluss haben, aber dringend von der deutschenWirtschaft gebraucht werden, weitere Erleichterungendurchsetzen. Das wäre ein wesentlicher, ein echter Bei-trag für mehr Willkommenskultur und zur Verstetigungunseres Wachstums in Deutschland.
Zum wichtigen Thema Rohstoffe. Unter Rot-Grünhaben Sie den Bedarf an Rohstoffen einer großen Volks-wirtschaft wie Deutschland immer verleugnet. Sie habennichts dafür getan.
Wir haben Rohstoffpartnerschaften abgeschlossen –ganz aktuell mit der Mongolei. Das große Thema „Sel-tene Erden“ wird hier auch zukünftig eine wichtige Rollespielen.
Die Industrie hat ihr Schicksal selbst in die Hand genom-men und eine Rohstoffallianz gegründet, und die mittel-ständischen Unternehmen werden künftig durch diegerade gegründete Deutsche Rohstoffagentur beratenwerden. Das ist gerade angesichts der steigenden Roh-stoffpreise in der Welt wichtig.Ihr einziger Beitrag war, eine Abwrackprämie fürFahrräder zu fordern. Das ist nicht nur romantisch, son-dern schlichtweg naiv. Das ist in einer Industrienationwie Deutschland – zum Glück sind wir das noch – nichtangemessen.
Zur Entwicklung in der Industrie: Wir setzen eindeutigauf die Zukunftsmärkte. Wir brauchen auf der einen Seiteweiterhin die klassische Industrie. Wir brauchen das pro-duzierende Gewerbe. Zunehmend gibt es aber eine Ver-knüpfung mit Telekommunikation, mit modernen Kom-munikationsformen. Wir nennen das die vierteindustrielle Revolution. Deswegen ist das Thema „Indus-trie 4.0“
ein entscheidender Aspekt bei der Ausrichtung der In-dustrie- und Wirtschaftspolitik dieser Regierungskoali-tion.
Wir setzen hierbei auf neue Ideen, auf Innovationen,gerade im Mittelstand. Deswegen ist es gut, dass wir beiden Haushaltsberatungen dafür sorgen werden, dass daszentrale Innovationsprogramm für den Mittelstand nichtnur erhalten, sondern auch mit finanziellen Mitteln gutausgestattet bleibt. Wir werden erstmals die hochinnova-tiven, die kreativen Unternehmensgründer im Bereichder IT-Wirtschaft stärken. Erstmalig wird es bei dem
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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wichtigen Thema Wagniskapital Unterstützung geben.Das zeigt, dass wir auf die neuen Herausforderungen fürdie Industrie reagieren. Wir haben das klare Ziel, dafürzu sorgen,
dass unsere Wirtschaft immer um das besser sein kann,was die anderen billiger sind. Das ist unsere Verantwor-tung. Wir werden dieser Verantwortung angesichts derneuen industriellen Herausforderungen definitiv gerechtwerden, Frau Kollegin.
Neben der Industriepolitik und der Frage der Roh-stoffversorgung wird natürlich auch die Energiepolitikeine große Rolle spielen.
– Herr Heil, schauen Sie sich nur einmal die Energie-preise für die Industrie an.
Ein mittleres deutsches Industrieunternehmen hat imletzten Jahr bis zu doppelt so hohe Industriestrompreisegezahlt wie unsere französischen Freunde und Nach-barn.
Deswegen haben wir dafür gesorgt – das ist selbstver-ständlich –, dass es zu Strompreiskompensationenkommt, dass es zu einem Netzentgeltausgleich kommt.Eines will ich Ihnen aber auch sagen: Wir sind es lang-sam leid, dass man sich ständig dafür entschuldigenmuss, dass man durch solche Maßnahmen die Wett-bewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft stärkt und fürArbeitsplätze kämpft und für Arbeitsplätze sorgt.
Ihre Politik ist gegen die Leistungsfähigkeit unsererWirtschaft gerichtet. Sie haben damals eine Preisredu-zierung beim Strom aus Photovoltaik verhindert. Es gibt100 000 Arbeitsplätze im Bereich der Solarwirtschaft,aber allein 875 000 im Bereich der energieintensivenUnternehmen, und denen fühlen wir uns genauso ver-pflichtet wie den Unternehmen in allen anderen Bran-chen.
Deswegen ist es richtig, dass wir an die Energiepreiseherangehen.
Wir alle wissen, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetzein richtiges Gesetz zur Förderung einer Nischenbranchewar,
aber, Herr Heil, jetzt ist der Stromproduktionsanteil bei20 bis 25 Prozent angekommen.
Das ist keine Nische mehr. 25 Prozent, das ist die Grö-ßenordnung der sozialdemokratischen Partei. Da kannman vielleicht von einer politischen Nische sprechen,aber nicht in Bezug auf die Strompreise. Deswegen ist esrichtig, dass wir an das EEG herangehen.
Ihre Ideologie steht pragmatischen Lösungen immerentgegen. Bestes Beispiel ist die Diskussion über denNetzausbau. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir dierund 4 000 Kilometer neue Netze, die im Netzentwick-lungsplan beschrieben wurden, brauchen. Deswegen binich bereit, gemeinsam mit den europäischen Partnerndarüber zu diskutieren, die Umweltstandards für einenbestimmten Bereich für einen bestimmten Zeitraumaußer Kraft zu setzen, damit wir gemeinsam die Zeithaben, den Netzausbau voranzubringen;
denn diese Netze sind ein wesentlicher Beitrag zur Ver-stetigung der Energieproduktion im Bereich der erneuer-baren Energien. Das ist eine zutiefst umweltpolitischeAufgabe. Dies ist eine Maßnahme nicht gegen, sondernfür den Umweltschutz und für die Energieversorgung inDeutschland.
Herr Minister, der Kollege Krischer würde Ihnen
dazu gerne eine Zwischenfrage stellen.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:
Gerne.
Herr Bundesminister Rösler, Sie haben gerade daraufhingewiesen, dass wir im Bereich der energieintensivenIndustrie im internationalen Wettbewerb stehen. Es istohne Zweifel so, dass es viele Unternehmen gibt, die iminternationalen Wettbewerb stehen. Selbstverständlich
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Oliver Krischer
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brauchen diese Unternehmen eine Kompensation, um imWettbewerb bestehen zu können.
Ich glaube, das steht hier überhaupt nicht zur Debatte.
Ich bitte Sie aber, mir die Frage zu beantworten, wa-rum Sie – Ihre Regierung, aber insbesondere Sie – dieStrompreiskompensationen ständig ausgeweitet haben,sodass zum Beispiel der Deutsche Wetterdienst, der mei-nes Wissens nicht im internationalen Wettbewerb stehenkann, solche Strompreiskompensationen in Anspruchnehmen kann. Welche Begründung liefern Sie dafür?Welche Arbeitsplätze sollen damit erhalten werden?
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Erstens, Herr Kollege, finde ich es schade, dass Sienicht darauf hingewiesen haben, dass die Ursprungsideeder Strompreiskompensation eine rot-grüne Idee gewe-sen ist.
Es ist geradezu lächerlich, dass Sie ein solches Instru-ment erst auf den Weg bringen, aber jetzt gegen diepraktische Anwendung einer solchen Strompreiskom-pensation sind. Mit Ehrlichkeit hat das definitiv nichtszu tun.
Zweitens werden nicht einzelne Branchen von unsbegutachtet, sondern es richtet sich nach dem Stromver-brauch; das wissen Sie.
Der Deutsche Wetterdienst ist zwar kein produzierendesUnternehmen, aber – ich weiß nicht, ob Sie das wissen –für die Voraussagen von Wetter brauchen Sie Rechner-leistungen, das machen Sie nicht alles mit Kopfrechnen.
Wenn Sie Ahnung von Technologie hätten, wüssten Sie,dass gerade die IT-Industrie ein großer industriellerStromverbraucher ist. Hier gibt es übrigens noch dieMöglichkeit, auf Energieeffizienzreserven zurückzugrei-fen. Ich sage es Ihnen noch einmal: Es werden keine ein-zelnen Branchen beurteilt, sondern Stromverbrauch vonenergieintensiven Unternehmen insgesamt.Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter.
Es geht darum, nicht nur energieintensive Unternehmenzu entlasten, sondern die gesamte deutsche Wirtschaft.Deswegen ist es richtig, dass wir die erneuerbaren Ener-gien, den Hauptkostentreiber in der heutigen Zeit, ange-hen; denn wir brauchen Bezahlbarkeit von Energie für80 Millionen Menschen, 40 Millionen Haushalte und4 Millionen kleine und mittelständische Unternehmen.Das ist das Ziel dieser Regierungskoalition. Darauf kön-nen sich die Unternehmen in Deutschland verlassen.
Wir wollen die Menschen nicht nur in diesem Bereichentlasten – Stichwort: kalte Progression –;
nehmen Sie das vorgesehene Absenken der Rentenversi-cherungsbeiträge als aktuelles Beispiel:
Auch das ist ein wesentlicher Beitrag zur wirtschaft-lichen Wettbewerbsfähigkeit. Ich wundere mich, dassgerade Rot und Grün gegen diese sinnvolle Absenkungder Rentenversicherungsbeiträge sind. Vergessen wirnicht: Diese Beitragssenkung ist nur durch mehr Wachs-tum möglich. Das haben sich die Menschen selber ver-dient und erarbeitet.
Sie wollen Ihnen genau diese Beitragssenkung vorent-halten. Das ist das eigentlich Schäbige der Rentenpolitikvon Rot und Grün.
Neben der eigenen Leistungsfähigkeit, der eigenenwirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit brauchen wireine stabile gemeinsame Währung. Deswegen sind wiralle über das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ges-tern sehr froh gewesen.
Aber ich wundere mich, dass sich auch ausgerechnet dieSPD darüber gefreut hat; denn es ist keine BestätigungIhres politischen Kurses, sondern es ist eine Bestätigungdes Kurses dieser Regierungskoalition.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23067
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Es gibt zwei wesentliche Säulen im Rahmen unsererStabilitätsunion: keine neuen Schulden, sondern Schul-denabbau sowie Stärkung der wirtschaftlichen Wettbe-werbsfähigkeit für mehr Wachstum.
Dieser Kurs ist im ESM und im Fiskalpakt festgeschrie-ben. Dieser Kurs wurde durch das Urteil gestern mehrals bestätigt. Jetzt geht es darum, dass genau diese Posi-tion – Schuldenabbau durch solide Haushalte und wirt-schaftliche Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit –von allen Mitgliedstaaten in Europa eingehalten wird.
Nur wenn dieser Kurs konsequent von allen eingehaltenwird, kommen wir zu mehr Wachstum, zu mehr Ver-trauen und zu mehr Glaubwürdigkeit auch im Bereichunserer eigenen Währung. Wenn das gelingt, dann – da-von bin ich fest überzeugt – wird unsere gemeinsameWährung, der Euro, zu einer der stabilsten Währungender Welt gehören. Dieses Grundprinzip, keine Schuldenzu machen und mehr Wachstum zu generieren, gilt nichtnur für Deutschland und für Europa, sondern auch füralle anderen Teile der Welt, zum Beispiel für Nordame-rika. Darauf sollten wir uns gemeinsam konzentrieren.
Das ist die Grundposition: Eine stabile Währung auchin Zukunft für weiteren Wohlstand in Europa, solideHaushalte, so wie sie in dieser Woche diskutiert unddurch diese Regierungskoalition auf den Weg gebrachtwerden, Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbs-fähigkeit durch Stärkung des unternehmerischen Mittel-standes, Rohstoffversorgung, Fachkräftesicherung undBezahlbarkeit von Energie.Sigmar Gabriel hat im Zusammenhang mit der Euro-papolitik gefordert, dass es demnächst eine Volksabstim-mung geben soll. Es gibt demnächst tatsächlich eineVolksabstimmung, so ziemlich genau in einem Jahr.
Ich freue mich, dass wir dann unsere gemeinsamen Kon-zepte zum Austausch bringen können.
Wer auf Schulden setzt, wer auf Planwirtschaft setzt,der ist gut aufgehoben bei Sozialdemokraten, bei Grünenund Linken. Wer auf Solidität, auf stabile Haushalte so-wie auf eine Stärkung der Wirtschaft und der Wettbe-werbsfähigkeit setzt, der ist gut aufgehoben bei dieser Re-gierungskoalition. Auf diese Auseinandersetzung könnenwir uns freuen. Das wissen die Menschen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor der Kollege Hubertus Heil als nächster Redner
das Wort erhält, möchte ich Ihnen das Ergebnis der
Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums nach
unserer Bundeshaushaltsordnung mitteilen: abgegebene
Wahlausweise 571, folglich 571 abgegebene Stimmen.
Mit Ja haben gestimmt 481, mit Nein haben gestimmt
45 bei 42 Enthaltungen und 3 ungültigen Stimmen.
Damit hat die Abgeordnete Stefanie Vogelsang die Stim-
men der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundes-
tages erhalten und ist damit zum Mitglied des Vertrau-
ensgremiums gewählt.1)
Herzlichen Glückwunsch! – Nun hat der Kollege Heil
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Herr Rösler, das war keine Rede ei-nes Bundeswirtschaftsministers, das war die Rede einesFDP-Vorsitzenden, dem das Wasser erkennbar bis zumHalse steht.
Sie als FDP-Vorsitzender haben erkennbar nur dreiProbleme: Kubicki, Lindner und Brüderle. Aber das sindnicht unsere Probleme. Unser Problem ist, Herr Rösler,dass Sie als Bundeswirtschaftsminister Ihren Job nichtmachen. Ich will Ihnen das an drei Beispielen deutlichmachen, auch anhand dessen, was Sie eben ausgeführthaben.Wo ist der Bundeswirtschaftsminister der Bundesre-publik Deutschland, der größten Volkswirtschaft in Eu-ropa, wenn es beispielsweise darum geht, in Europa dieWirtschaftspolitik stärker zu koordinieren? Denn wennes eine ganz zentrale Ursache der Krise in Europa gibt– darüber sind wir uns in der Analyse möglicherweiseeinig –, dann ist es der Geburtsfehler einer Währungs-union, bei der man glaubte, eine gemeinsame Währungzu schaffen, aber die nationalen Politiken im Bereich derFiskalpolitik einzeln zu lassen. Wo sind Ihre Vorschläge?Sie sind schlicht und ergreifend nicht auf dem Platz.Deshalb sage ich Ihnen mit Blick auf die wirtschaftlicheEntwicklung, Herr Rösler: Sie haben sich zwei, dreiJahre lang auf einer guten konjunkturellen Entwicklungausgeruht, einer guten konjunkturellen Entwicklung, zuder Sie keinen Beitrag geleistet haben.
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
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Hubertus Heil
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Von Ihnen brauchen sich deutsche Sozialdemokratennichts über Mut zu Reformen erzählen zu lassen. Wir ha-ben die Reformen durchgesetzt; Sie sind es nicht gewe-sen.
Ich sage Ihnen: Es gibt mehrere Gründe, warum dieEntwicklung in Deutschland in den letzten drei Jahren sogut war, dass wir trotz der Krise in Europa und in derWelt bis dato besser durch die Krise gekommen sind.Erstens sind es in den 90er- und frühen 2000er-Jahrendie Umstrukturierungen in den Unternehmen gewesen,in einer Zeit, in der Deutschland am Ende einer schwarz-gelben Regierung von Helmut Kohl weltweit als derkranke Mann Europas galt. Wir erinnern uns daran. Daswar das Ergebnis des Reformstaus schwarz-gelber Poli-tik von Helmut Kohl.
Es war eine rot-grüne Bundesregierung, die gegen er-hebliche Widerstände, auch mit erheblichen Auseinan-dersetzungen in den eigenen Reihen – gar keine Frage –,Mut zur Veränderung, zu Strukturreformen hatte, den Siein der deutschen Geschichte niemals aufgebracht haben.
Das hat für uns einen hohen Preis bedeutet; gar keineFrage. Aber ich sage Ihnen: Für das Land war dies rich-tig und notwendig. Sie haben in den letzten drei Jahrengeerntet, aber Sie haben nie gesät. Sie können nichts fürdie gute wirtschaftliche Entwicklung der vergangenendrei Jahre.
Der zweite Grund ist die Tatsache, dass die GroßeKoalition 2008/2009 rasch gehandelt hat, als wir nachder Lehman-Pleite mit einem Tsunami am Arbeitsmarktzu rechnen hatten. Minus 5 Prozent beim wirtschaftli-chen Wachstum, das war aufgrund der Zockereien aufden internationalen Finanzmärkten die Situation 2008/2009.Ich sage Ihnen: Nicht wir waren es, die gegen die not-wendigen Maßnahmen waren, sondern wir haben dieseMaßnahmen mit Olaf Scholz, mit Peer Steinbrück undmit Frank-Walter Steinmeier in der Großen Koalition aufden Weg gebracht. Ohne uns hätte es die verändertenKurzarbeitsregelungen nicht gegeben, nach dem Motto:Besser Arbeit sichern als Arbeitslosigkeit. Ohne unshätte es auch die wesentlichen Anstöße für die Konjunk-turprogramme nicht gegeben, die mitgeholfen haben,Brücken über die Krise zu bauen. Also: Reden Sie andieser Stelle nicht herum! Sie haben keinen Beitrag zurguten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre ge-leistet. Sie stellen sich hier hin und halten FDP-Partei-tagsreden. Aber Sie machen Ihren Job als Bundeswirt-schaftsminister nicht, Herr Rösler.
Das, was ich Ihnen ganz persönlich übel nehme, ist,dass Sie in den letzten Jahren mit solchen Fensterreden– aber ohne zu handeln – den Reformvorsprung, den sichDeutschland mühsam erarbeitet hat, verspielen. DennTatsache ist: Die weltwirtschaftliche Entwicklung bleibtnicht stehen; wir sind nach wie vor mitten in der Krise inEuropa. Tatsache ist: Der internationale Wettbewerblässt nicht nach; er nimmt zu. Es gibt mit China, Indienund den lateinamerikanischen Staaten aufstrebendeMächte in der Welt, und Deutschland muss sich aufdiese Entwicklung einstellen. Tatsache ist: Der Struktur-wandel bleibt nicht stehen; wir müssen bei Forschungund Entwicklung mithalten. Tatsache ist: Der demografi-sche Wandel in diesem Land stellt uns vor erheblicheHerausforderungen. Und Tatsache ist: Die Ressourcen-knappheit und die Energiewende gehören zu den größtenAufgaben, die vor uns liegen.Herr Rösler, ich möchte Ihnen eines sagen: Was dasThema Fachkräftesicherung betrifft, können Sie mit unsvielleicht besser als mit der CSU über qualifizierte Zu-wanderung und Weltoffenheit reden; da haben Sie eherein Problem in der eigenen Koalition. Aber ein Bundes-wirtschaftsminister, der beim Stichwort „Fachkräftesi-cherung“ nur an Zuwanderung denkt – Sie haben keinweiteres Wort dazu gesagt – und keine Maßnahmen er-greift, um dafür zu sorgen, dass die Potenziale inDeutschland gehoben werden, damit wir keinen gespal-tenen Arbeitsmarkt bekommen, wird seinem Job nichtgerecht.
Sie sind ein FDP-Vorsitzender, der im Bereich derGesellschafts- und Bildungspolitik fatale Weichenstel-lungen mit unterstützt, zum Beispiel das unselige Be-treuungsgeld. Was Deutschland stattdessen braucht, sindeine höhere Frauenerwerbsbeteiligung und bessereChancen für Kinder und Jugendliche, und zwar durchdie frühe und individuelle Förderung von Kindern. Siemachen mit Ihrem Betreuungsgeld das Gegenteil. Es istgesellschaftlicher Unsinn, es ist finanzpolitischer Un-sinn, es ist aber auch wirtschaftspolitischer Unsinn, denSie mitverantworten. Sie werfen Deutschland zurückund bringen das Land in diesem Bereich nicht voran.
Durch Ihr Unterlassen läuft Deutschland, wenn es soweitergeht, in einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt. Aufder einen Seite suchen immer mehr Unternehmen – kleineund mittelständische, aber auch große – händeringendqualifizierte Fachkräfte in Deutschland. Auf der anderenSeite gibt es viel zu viele Menschen, die in prekären Ar-beitsverhältnissen oder in der Langzeitarbeitslosigkeitabgehängt sind. Die soziale Herkunft entscheidet inDeutschland stärker über die Bildungs- und Lebenschan-cen von Kindern als Leistungsfähigkeit und Talente. Indieser Situation machen Sie nichts im Bereich der Bil-dung und das Falsche im Bereich der Arbeitsmarktpoli-
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tik. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden das ThemaFachkräftesicherung nach dem Regierungswechsel imkommenden Jahr ressortübergreifend zu einem Topthemamachen. Wir werden es nicht brachliegen lassen wie Sie.
Wir werden die Spaltung des Arbeitsmarktes, die Sie mitverursacht haben, überwinden.
Ich will Ihnen etwas zum Thema Energiepolitik sa-gen. Sie reden ja, als seien Sie gar nicht im Amt, undmalen eine Bedrohung an die Wand. Ich sage Ihnen dazuFolgendes: Eine Bundesregierung und eine Bundeskanz-lerin, die im Bereich der Energiepolitik so dermaßen imZickzack fahren, sind das größte Investitions- und Pla-nungshemmnis für das Gelingen der Energiewende inDeutschland.
Herr Fuchs, wir haben in der Energiepolitik innerhalbvon vier Jahren vier verschiedene BundeskanzlerinnenMerkel kennengelernt: Da war die große Klimakanzlerinmit ehrgeizigen Zielen, da war die Atomkanzlerin, diedie Laufzeiten verlängert hat, und da war die Anti-Atom-Kanzlerin nach Fukushima. Sie werden sagen:Lernfähigkeit ist auch eine Tugend.
– Ich sage Ihnen, was wir jetzt erleben: Jetzt erleben wireine Frau Merkel, die tatenlos dabei zusieht, wie sichHerr Altmaier und Herr Rösler gegenseitig blockierenund in dieser Legislaturperiode nichts energiepolitischEntscheidendes mehr auf den Weg bringen. Das ist das,was ich Ihnen vorwerfe.
Es gibt natürlich – das wissen wir doch alle – in allenParteien intensive Diskussionen zwischen Umwelt- undWirtschaftspolitikern. Das ist ein natürliches Spannungs-verhältnis, weil wir eine saubere, eine sichere und einebezahlbare Energieversorgung erreichen wollen. Da gibtes Diskussionen zwischen Wirtschafts- und Umweltpoli-tikern; das ist ganz natürlich. Diese Diskussionen hat esauch in unserer Zeit gegeben: zwischen Jürgen Trittinund Werner Müller; daran kann ich mich lebhaft erin-nern. Der Unterschied ist nur: In der damaligen Zeit, beider Energiewende, die wir damals auf den Weg gebrachthaben, gab es am Ende des Tages Entscheidungen undein Bundeskanzleramt mit Frank-Walter Steinmeier alsKanzleramtsminister, der einen Energiekonsens zu-stande gebracht hat. Zu einem solchen Konsens sind Sienicht in der Lage, Herr Rösler.
Zu diesen Fensterreden, die Sie hier halten, zu diesemPopanz, den Sie hier aufbauen, will ich Ihnen eines sa-gen: Wir sind es gewesen, die mitgeholfen haben, dassDeutschland eine industrielle Wertschöpfung behaltenhat. Unser Land hat eine industrielle Wertschöpfungsba-sis von den Grundstoffindustrien über die kleinen, mit-telständischen Unternehmen bis hin zu den Hightech-schmieden wie keine andere Volkswirtschaft in Europa.Die rot-grüne Bundesregierung ist eben nicht den Modenhinterhergelaufen, denen Sie damals gefolgt sind, nachder die Zukunft allein in den Finanzdienstleistungen undim irischen volkswirtschaftlichen Modell liegen sollte.
Wir haben die industrielle Basis in diesem Land mit er-neuert, weil wir wissen, dass Realwirtschaft wichtig istund nicht Finanzwirtschaft. Das haben Sie damals nichtbegriffen.
Deshalb haben wir damals dafür gesorgt, dass es fürenergieintensive Unternehmen Ausnahmetatbeständegibt, weil sie im internationalen Wettbewerb stehen. Ichsage Ihnen: Ich weiß, wovon ich rede. Ich komme aus ei-ner niedersächsischen Stadt, die Sie möglicherweisekennen. Meine Heimatstadt ist Peine. Dort steht einElektrostahlwerk. Ich will, dass das auch in Zukunft sosein wird. Dieses Werk hat bei der Produktion eine ge-wisse Gradzahl zu erreichen und braucht einen bestimm-ten Energieinput. Deshalb darf man nicht zuschauen, wiedie Arbeitsplätze verlagert werden. Für solche Unterneh-men sind die Ausnahmen richtig.Aber das, was Sie gemacht haben, ist, die Ausnahme-tatbestände auch auf Unternehmen auszuweiten, die sienicht brauchen, die noch Energieeffizienzpotenziale ha-ben. Wir sind für Ausnahmen für energieintensive Un-ternehmen, die im Wettbewerb stehen, weil wir inDeutschland Industrie halten wollen. Wir sind für Ver-sorgungssicherheit. Wir sind aber auch der Meinung,dass Effizienzpotenziale da gehoben werden müssen, woes geht. Deshalb darf es die Ausnahmen nur geben, wennein verbindliches Öko- und Effizienzaudit durchgeführtworden ist. Das ist der Unterschied zwischen Klientel-politik, die Sie betreiben, und einer Energie- und Wirt-schaftspolitik mit Vernunft und Augenmaß.
Ich will Ihnen etwas zum Erneuerbare-Energien-Ge-setz sagen. Wir sind uns einig, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz ein Riesenerfolg war.
– Finden Sie das nicht? Das hat aber Ihr Wirtschafts-minister behauptet. Herr Lindner bestreitet das gerade. –Ich sage Ihnen: Ein Gesetz, das in 60 Ländern der Weltkopiert wird, das mitgeholfen hat, dass Deutschland beiden erneuerbaren Energien die Nase vorn hat, kann nichtschlecht sein.
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Hubertus Heil
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Klas ist aber auch, dass das Gesetz der Markteinfüh-rung diente, dass wir langfristig ein Marktdesign brau-chen, mit dem dafür gesorgt wird, dass die ErneuerbarenSchritt für Schritt als Teil einer stabilen Energieversor-gung marktfähig werden. Über ein solches Marktdesignsollten wir uns unterhalten.
Aber Sie werden – das prophezeie ich Ihnen – in dieserLegislaturperiode mit Herrn Altmaier nichts mehr zu-stande bringen. Das Gleiche gilt für den Ausbau derNetze, für die Verteilnetze, genauso wie für die großenEnergieautobahnen, die dieses Land braucht.
Kollege Heil, Sie wissen, dass Sie jetzt zum Ende
kommen müssen.
Da habe ich von Ihnen schöne Sprüche gehört, aber
nicht das, was notwendig ist.
Deshalb zum Schluss, Herr Bundeswirtschaftsminis-
ter: Lösen Sie meinetwegen die Probleme Ihrer FDP, aber
lassen Sie uns mit solchen Reden, wie Sie sie hier gehal-
ten haben, in Ruhe. Das ist eines Bundeswirtschafts-
ministers nicht würdig. Wir werden den Reformstau, den
Sie uns hinterlassen haben, im nächsten Jahr nach der
Bundestagswahl wieder auflösen müssen, aber das gehen
wir in Verantwortung für unser Land an: bei Fachkräften,
bei Europa und auch bei der Energiepolitik.
Herzlichen Dank.
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Heil, zumgroßen Teil war das heilloser Unsinn, den Sie uns erzählthaben. Wenn Sie mir jetzt weismachen wollen, dass inder Zeit von Helmut Kohl der Economist Deutschlandals „sick man in Europe“ bezeichnet hat, dann haben SieGeschichtsklitterung versucht. Das funktioniert nicht.Das stammt aus dem Jahr 2002, zu Gerhard SchrödersZeiten. Lesen Sie die Zeitungen noch einmal nach.
Das war zu dieser Zeit. Das sollten Sie bitte auch einge-stehen.Es war Gott sei Dank so, dass damals, zu diesem Zeit-punkt, Gerhard Schröder gemerkt hat, dass es so nichtweitergehen kann. Ich empfehle Ihnen, das Handelsblattvon Dienstag dieser Woche zu lesen, in dem er zugibt,dass seine Partei das zwar nicht verstanden hat, er aberverstanden hat, dass die Situation so ist, wie sie ist, unddass die Reformen bleiben müssen. Sie stehen doch garnicht mehr zu diesen Reformen. Sie wollen das doch al-les gar nicht mehr wahrhaben. Sie tun doch so, alsmüsste das wieder abgeschafft werden. Fragen Sie IhrenKollegen Barthel, der gerade gefordert hat, die Rente mit67 abzuschaffen und die Reformen bei der Rente so zuändern, dass wir wieder von 43 Prozent auf 51 Prozentkommen, etc.
All das wissen Sie. Deswegen sollten Sie das nicht ver-schweigen.
Sie stehen nicht zu dem, was Sie richtigerweise in denJahren 2004 und 2005 gemacht haben. Wir stehen dazu,und wir wollen Ihre Reformen weiter fortführen, sodassdie Bundesrepublik Deutschland weiter vorankommt.
Denn Deutschland geht es gut. Ich bin es eigentlich leid,dass hier immer wieder gejammert wird, dass alles ganzfürchterlich sei.Wir hatten noch nie seit der Wiedervereinigung sogünstige Arbeitslosenzahlen wie jetzt. Ein Thema, dasmich persönlich, auch als Unternehmer, immer wiederbeschäftigt hat, war die Jugendarbeitslosigkeit. Wir ha-ben mit weitem Abstand die niedrigste Jugendarbeits-losigkeit in ganz Europa. Reden Sie das doch bitte nichtschlecht!
Die jungen Leute haben in Deutschland eine Chance.Wir haben weniger als 8 Prozent Jugendarbeitslosigkeit.Suchen Sie irgendein Land in Europa, in dem das so ist!Natürlich sind auch diese 8 Prozent noch verbesserbar.Damit haben Sie recht. Wir müssen versuchen, diejeni-gen, die Ausbildungsschwierigkeiten bzw. die sogenann-ten multiplen Einstellungshemmnisse haben, noch in denArbeitsmarkt zu integrieren. Das müssen wir hinbekom-men. Deswegen sollten wir gemeinsam daran arbeiten.Das ist auch vollkommen richtig. Aber ich weiß, dassder Bundeswirtschaftsminister seit langem auf diesemWeg ist und das schon zu Zeiten gemerkt hat, als Sienoch gar nicht darüber nachgedacht haben.
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Dr. Michael Fuchs
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Wir haben diese positive Situation zu einem Zeit-punkt erreicht, an dem wir durch die FinanzkriseSchwierigkeiten auf dem finanziellen Sektor hatten.Trotzdem ist Deutschland die Lokomotive in Europa.Stellen Sie sich bitte vor, was wäre, wenn Deutschlandjetzt nicht so positiv dastünde. Dann hätte Europa nocheine ganze Menge mehr Schwierigkeiten.Sie versuchen, jede Statistik zu verdrängen. Aber dasWorld Economic Forum, das Ihnen sicherlich ein Begriffist, hat vor einigen Tagen festgestellt, dass Deutschlandvon allen großen Industriestaaten die wirtschaftlich wett-bewerbsfähigste Nation ist.
Das ist christlich-liberale Politik. Darauf sind wir stolz.
Meine Damen und Herren, diese Position ist hart erar-beitet. Sie wurde von den Unternehmen zusammen mitihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erarbeitet. Siewurde von den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbän-den erarbeitet, und sie wurde von allen gesellschaftli-chen Kräften gemeinsam erarbeitet. Wir haben es inner-halb von zehn Jahren geschafft, aus der Misere, in dieuns Rot-Grün gebracht hat, herauszukommen und zu derwirtschaftlich stärksten großen Industrienation der Weltzu werden. Es gibt zwar auch wirtschaftlich starke kleineIndustrienationen wie Singapur, aber sie haben es auchein kleines bisschen einfacher als wir.Nur, es ist auch unsere Aufgabe, das Ganze zu bewah-ren. Damit komme ich zu meinem Lieblingsthema – Siehaben mich eben schon darauf angesprochen, Herr Heil –,nämlich zum Energiesektor. Im Jahr 1998 hat Bundes-minister Günter Rexrodt die Liberalisierung der Energie-wirtschaft begonnen. Von 1998 bis 2012 sind zwar dieStrompreise im Versorgungsanteil – das ist der Teil, dendie Hersteller bestimmen – nominell um 9 Prozent ge-stiegen. Aber die Steuern und Abgaben sind im selbenZeitraum, im Wesentlichen durch Rot-Grün induziert,um 178 Prozent gestiegen.
Genau das ist das Problem beim Strompreis: 45 Prozentdes Strompreises sind Steuern und Abgaben,
und 20 Prozent sind regulierte Netzentgelte. Das heißt,65 Prozent der Preise im Stromsektor sind reguliert. Da-mals waren wir vor der Regulierung faktisch bei null.Die Regulierung hat dazu geführt, dass nur noch bei35 Prozent des Strompreises der Markt herrscht. Daswird sich noch weiter verändern, weil das EEG weiterausgebaut wird. Das wollen Sie ja; das wollen wir ja.
Der Ausbau des EEG führt dazu, dass wir noch wenigerMarkt haben werden.
Genau daran werden wir arbeiten müssen.
Der Wettbewerbsdruck beim Energiepreis wird zu-nehmen.
Wenn man sich anguckt, was zurzeit in der Welt passiert,dann wird man feststellen, dass in den USA eine Revolu-tion bei den Energiepreisen stattfindet. Man will inAmerika über die Energiepreise eine Reindustrialisie-rung schaffen. Dort werden Schiefergas und Schieferölgefördert, und die Preise in den USA sinken heftigst.
Das macht mir erhebliche Sorgen, weil sich bestimmteenergieintensive Industrien in den USA ansiedeln wer-den. Dann kommt es zum Abbruch von Wertschöpfungs-ketten in Deutschland.Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Die Firma SGL Carbon,ein Spin-Off von Hoechst, produziert nicht mehr inDeutschland,
weil sie aufgrund der hiesigen Strompreise nicht mehrwettbewerbsfähig Karbonfasern herstellen kann.
Das bereitet mir deswegen Sorgen, weil es sich hier umeinen Hightechwerkstoff der Zukunft handelt, um einProdukt, das wir für die Produktion benötigen. Ein Air-bus A 380 würde nicht fliegen, wenn es solche Produktenicht gäbe.
Die EEG-Umlage wird weiter steigen, und zwar auchdeswegen, weil Sie als Blockierer im Bundesrat verhin-dert haben, dass wir eine vernünftige Solarpolitik ma-chen können.
Der Solarausbau geht in einer Weise vonstatten, dernicht zu verantworten ist. Im letzten Jahr waren es schon
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Dr. Michael Fuchs
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7 500 Megawatt. In diesem Jahr wird es noch mehr sein.Sie haben das verursacht, weil Sie uns beim Absenkender Preise im Bundesrat blockiert haben.
Wir wollen diese Förderung senken, weil die Renditenmittlerweile geradezu verrückt sind. Die Solarfonds, diees überall ein Deutschland gibt, garantieren inzwischen9 Prozent. Ich halte das für unanständig. Das ist eineUmverteilung von unten nach oben. Die kleinen Leutedürfen das bezahlen. Es handelt sich obendrein um eineUmkehr des Länderfinanzausgleichs; denn Nordrhein-Westfalen zahlt in diesem Fall für Bayern. Nur, das ha-ben Sie noch nicht bemerkt. Es wird aber höchste Zeit,dass Ihnen das auffällt.Wir werden in diesem Jahr leider – die Bundeskanzle-rin hat das vor zwei Tagen angedeutet – ein kräftige Stei-gerung aufgrund des EEG zu verzeichnen haben. DieEEG-Umlage wird von 3,6 Cent mit Sicherheit auf über5 Cent pro Kilowattstunde steigen. Was bedeutet das?Das bedeutet, dass nicht nur die Haushalte der kleinenLeute, sondern auch die gesamte mittelständische Wirt-schaft, die nicht von der EEG-Umlage befreit ist – essind knapp 2 000 Unternehmen, die bislang befreit sindbzw. weniger als den vollen Satz zahlen –, stark belastetwerden.
Das betrifft viele kleine Unternehmen wie Bäckereienund Schreinereien. Neulich hat mich ein Schreiner inmeinem Abgeordnetenbüro in Koblenz besucht und mirerklärt, dass er – weil er mit Strom Holz trocknen muss –das nicht mehr bezahlen kann. Darüber müssen wir unsGedanken machen.Jeder von uns hat vermutlich gestern gegen 10 Uhrvor dem Fernseher gesessen und darauf gewartet, was inKarlsruhe passiert.
Einzelne Kollegen haben hier gesessen, weil eine
Plenarberatung stattfand.
Herr Präsident, Sie haben vermutlich unmittelbar wei-tergegeben, was in Karlsruhe passiert.Also, ich habe vor dem Fernseher gesessen – ich gebedas zu – und sehr gespannt darauf gewartet, was inKarlsruhe passiert. Die acht Herren
– zwei Damen; Damen und Herren, jawohl – kamendann in ihren Roben herein und haben uns verkündet,dass sie den Deckel bei 190 Milliarden Euro draufma-chen. Warum betone ich das so? Weil ich das für richtighalte. Ich bin froh, dass das Urteil so gefällt wurde. Wirhaben es aber bislang nicht geschafft, beim EEG einenDeckel draufzumachen. Das EEG ist mittlerweile teurerals der ESM.
Das Geld für das EEG ist weg, während das Geld für denESM hoffentlich nie weg ist; es ist ja eine Garantie. Wirsollten schon auf die Entwicklung achten; denn dieEEG-Umlage wird weiter steigen. Es ist dringend not-wendig, dass wir das wissen.
Ich fordere die Opposition auf – weil ich es leid bin,dass Sie uns hier im Plenum ständig vorwerfen, dass wires schuld sind, während Sie im Bundesrat permanentblockieren –: Machen Sie bitte mit, Herr Heil! HelfenSie bitte mit, und sorgen Sie dafür, dass Ihre Kollegenim Bundesrat nicht ständig blockieren! Fordern Sie dieHerrschaften von Rot-Grün in den Landesregierungenauf, mitzumachen!
Das gilt nebenbei für alle anderen Maßnahmen ge-nauso. Hier fordern Sie den Netzausbau; in den Ländernverhindern Sie ihn. Auf regionaler Ebene gibt es perma-nent Bürgerinitiativen gegen jeden Netzausbau. DieGrünen sind für mich die Nimby-Numby-Nomby-Gesellschaft: Not in my backyard, not under my back-yard and not over my backyard.
So kann es nicht gehen.
Entweder wollen wir die Energiewende gemeinsam hin-bekommen – dann müssen auch Nord-Süd-Trassen ge-baut werden –, oder wir lassen es sein. Aber es ist unfair,hier etwas zu fordern und es dann in den Ländern nichtzu machen. Bitte helfen Sie da mit! Es wird Zeit, dasswir umdenken.Deutschland braucht eine vernünftige Infrastruktur.Deutschland ist darauf angewiesen, dass neue Technolo-gien realisiert werden.
Wir müssen um eine Verbesserung der Akzeptanz vonKraftwerken, Leitungsnetzen, Flughäfen, Autobahnenetc. kämpfen. Es ist doch ein Drama, dass alle großen In-frastrukturprojekte immer wieder blockiert werden. ObStuttgart oder München, überall gibt es Blockaden. Ge-
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Dr. Michael Fuchs
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nau daran müssen wir als verantwortliche Politiker inDeutschland arbeiten, damit sich das besser entwickelt.Es ist allerhöchste Zeit, dass wir das hier gemeinsam tun.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, HerrBundesminister, der mir erhebliche Sorgen für die Zu-kunft bereitet. Wenn wir den internationalen Handel be-trachten, stellen wir fest, dass die Doha-Runde seit Jah-ren zu einem Stillstand gekommen ist, und das ist nichtgut. Ein relativ kleines Land wie Deutschland ist aufeine Struktur angewiesen, die möglichst multilateral undnicht bilateral ist. Die Amerikaner haben sich von derDoha-Runde und damit von der Multilateralität verab-schiedet und setzen auf FTAs, Free Trade Agreements,zwischen zwei Ländern. Das mag für ein großes Landwie die USA funktionieren, aber für uns ist das schlecht.Wir sind ein Land, in dem es einen großen Mittelstandgibt. In Deutschland gibt es rund 1 500 Hidden Cham-pions, die in der Welt Geltung haben. Diese sind abernicht in der Lage, für jedes Land die Handelsregeln zuüberprüfen, um mit diesem Land Handel zu treiben. Esschadet uns also ganz gewaltig, dass es uns nicht gelun-gen ist, die Doha-Runde in Schwung zu bringen.Ich weiß, dass es vor der amerikanischen Wahl über-haupt keinen Sinn macht, darüber zu diskutieren, aberich bin der Meinung, dass die Bundesregierung aufge-fordert ist, sowohl mit Brüssel als auch mit Genf, mitPascal Lamy, nach der amerikanischen Wahl möglichstbald loszulegen und zu versuchen, die bilateralen Ver-handlungen in multilaterale zu überführen. Multilaterali-tät hat immer geholfen. Das wissen wir. Deswegen bitteich Sie, das auf die Agenda zu setzen. In der zweitenHälfte des Jahres, direkt nach den amerikanischen Wah-len, muss das losgehen. Bilateralität schadet nämlich al-len Beteiligten. Deswegen wäre ich froh, wenn Sie dasmit auf die Agenda setzten.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Roland Claus für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!Herr Kollege Fuchs von der CDU, mein Vorredner, hatnach meinem Verständnis hier schon einmal ganz aus-drücklich Opposition geübt. Er hat wortreich über diewirtschaftspolitischen Zustände in diesem Land geklagt.Verdammt noch mal, Sie regieren hier! Dann ändern Siewas, und klagen Sie nicht nur!
Herr Minister Rösler, Sie haben im Moment ärgereGegner als Abgeordnete der Linken. Sie vermuten rich-tig: Ich meine Ihre Parteifreunde. Die gehen zwar hart,aber nicht fair mit Ihnen um. Das könnte uns in der Op-position bei der Betrachtung Ihres Etats fast milde stim-men. Aber so viel Pfusch am Haushalt, wie Sie hier ab-liefern, können wir Ihnen natürlich nicht durchgehenlassen.
Sie begegnen dem ausschließlich mit dem untauglichenVersuch, Probleme wegzulächeln. Die Aneinanderrei-hung von Banalitäten, die Sie, Herr Minister, heute hierabgeliefert haben, ist einfach nur dünne Suppe.
Wir müssen Ihren Haushalt an den aktuellen Proble-men der Wirtschaft messen. Dazu einige Fakten. DieWirtschaft will Taten sehen. Sie wollen liefern, wie Sieversprochen haben. Sie haben einen 6-Milliarden-Euro-Etat. Wenn man davon die Subventionen für Steinkohleund die Luft- und Raumfahrt abzieht, bleiben 3 Milliar-den Euro übrig. Das macht exakt 1 Prozent des Bundes-etats. Ich sage das hier nur, damit niemand aus VersehenPhilipp Rösler für einen großen Wirtschaftslenker hältoder denkt, er dreht an einem ganz großen Rad. Mit dem,was Sie hier anbieten, lässt sich kein Staat machen undauch keine Wirtschaftspolitik. Sie, Herr Minister, liefernnicht.
– Das kommt noch. – Herr Bundesminister Rösler hatkürzlich ein wirtschaftsliberales Konzept von Otto GrafLambsdorff aus dem Jahre 1982 gewürdigt. So viel zurMottenkiste des vorigen Jahrhunderts, die Sie vorhin be-mühen mussten.
Er zieht daraus die Schlussfolgerung: Wir brauchen auchheute mehr Wirtschaftsliberalität. – Er hat das Erneuer-bare-Energien-Gesetz in dieser Rede glatt als Planwirt-schaft bezeichnet. Ich sage Ihnen dazu: 2012 ist nicht1982. Die Freiheit der Wirtschaft bis hinein in die kleins-ten Unternehmen wird heute erheblich durch die Über-macht der Banken und der internationalen Finanzmärkteeingeschränkt. Vernünftiges Wirtschaften kann in die-sem Lande erst wieder möglich sein, wenn diese unse-lige Übermacht der Banken und Finanzmärkte gegen-über der Realwirtschaft überwunden ist. Das ist dieAufgabe, vor der wir stehen.
Aber statt neue Wege aus der Krise zu suchen und dieInstabilität zu überwinden, ist Ihr Haushaltsplan einepure Philosophie des Weiter-so. Haushaltsposten werdenbei Ihnen von Lobbyisten überwacht, und die FDP kas-siert dafür Spenden.
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Man könnte auch sagen: Was Sie als Wirtschaftsministerausgeben, kassieren Sie als FDP-Vorsitzender wiederein. Aber es sind Steuergelder, die Sie ausgeben; daranmüssen Sie erinnert werden.
Wenn Sie mir das nicht glauben: Erst vor einer Wo-che, am 5. September, erhielt die FDP 80 000 Euro vomVerband der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie.Das ist nicht meine Erfindung, sondern eine Mitteilungdes geschätzten Präsidenten. Das ist die Wahrheit in die-sem Lande, und das wollen wir so nicht hinnehmen.
Es kann doch nicht wahr sein, dass ein Wirtschaftsminis-ter auf der einen Seite Wirtschaft fördern will und aufder anderen Seite dicke Spenden einkassiert.
Kanzlerin Merkel hat gestern von einem robustenWachstum und einer Arbeitslosenzahl von unter 3 Mil-lionen gesprochen. Das sind Fakten, die anzuerkennensind. Fakt ist in diesem Land inzwischen aber auch, dassüber 20 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnbe-reich arbeiten müssen und oftmals Zuschüsse vom Amtbrauchen. Zur Wahrheit gehört leider auch, dass dieseZahl im Osten exakt doppelt so hoch ist; dort sind esnämlich 40 Prozent. Dies hat Armutsrenten und Ernied-rigung von Menschen zur Folge, die ihr Leben lang gear-beitet haben. Dagegen hilft nur eines: ein gesetzlicherMindestlohn. Dazu müssten wir uns aufraffen. Dazu feh-len dieser Koalition aber der Wille und der Mut. Das istein Armutszeugnis Ihrer Politik.
Ich will noch ein Wort zur Wirtschaft im Osten sagen.Nach wie vor gibt es dort keine einzige Firmenzentrale;wir haben es mit einer abgewickelten Industrieforschungzu tun. Das BIP-Wachstum betrug im Jahre 2011 im Os-ten 2,5 Prozent, im Westen 3,1 Prozent. So geht Aufholennicht. Nun hat das Thüringer Wirtschaftsministerium beider Wirtschaftsberatung Roland Berger eine Studie be-stellt. Diese Studie beinhaltet die wunderbare Idee, dassnochmals 1 000 Milliarden Euro benötigt werden, umden Aufholprozess der ostdeutschen Wirtschaft in Gangzu bringen. Das ist doch absolut absurd, weil es nach wievor der falschen Logik folgt, dass der Aufbau Ost alsNachbau West vollzogen werden könnte. 1 000 Milliar-den Euro ist eine so erschreckend hohe Zahl, dass man an-nehmen könnte, diese Studie sei in München bestellt wor-den und nicht in Erfurt.Die Solarbranche ist – das wissen wir alle – in einerschweren Krise. Herr Minister, Sie haben eine fraktions-übergreifende Einladung in die Region Bitterfeld erhal-ten. Diese Einladung haben Ihnen mein Kollege Korteund andere Bundestagsabgeordnete geschickt. Sie sinddarin gebeten worden, sich die Dinge einmal vor Ort an-zuschauen. Acht Wochen lang haben Sie auf diesen Hil-feruf überhaupt nicht geantwortet, und dann haben Sieeine banale, nichtssagende Absage erteilt. Das ist in ei-ner solchen Situation einfach zynisch und nicht hinzu-nehmen.
Jetzt wollen Sie ein Programm zur Fachkräftesiche-rung im Umfang von 13 Millionen Euro auflegen. Dasklingt nach viel Geld. Aber das wären umgerechnet nichtmehr als 150 Fachkräftegehälter. Das würde ja nicht ein-mal reichen, um die Lücken in Ihrem eigenen Hause zudecken. Das ist einfach nur peinlich.Zum Schluss komme ich, weil ich dazu aufgefordertwurde, zum Konzept der Linken. Die Linke will eineWirtschaftspolitik, die dem Mittelstand und den Exis-tenzgründern Chancen eröffnet und nicht verbaut,
die Arbeit schafft, von der Beschäftigte sorgenfrei lebenkönnen und die so zu mehr Stabilität und sozialer Ge-rechtigkeit gleichermaßen beiträgt.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Minister Rösler, bei allem Verständnis für denWunsch, gute Zahlen zu präsentieren: Sie stehen mit Ih-rem Konjunkturoptimismus ziemlich alleine da. Der Fi-nanzminister hat bei der Einbringung des Haushalts einedeutliche Konjunkturabkühlung angekündigt, und dieOECD erwartet auch in Deutschland eine Rezession.Wenn wir eine Konjunktureintrübung erfahren, dann istdieser Haushalt nur noch reine Makulatur, und das habenSie als Kabinettsmitglied dann auch zu verantworten.
Was Sie ebenfalls zu verantworten haben, ist das immerweitere Einbrechen der Wirtschaft in Europa. Die Lö-sung der Euro-Krise wurde verschleppt und blockiert.Sie haben viel zu einseitig auf Sparkurs gesetzt. Sie ha-ben vergessen, dass neben das Sparen auch das Investie-ren gehört. Sparen und Investieren in die ZukunftDeutschlands und Europas sind nötig. Das haben Sienicht gemacht.
Beim Investitionsprogramm haben wir Sie zum Jagentragen müssen für mehr Kapital für die Europäische In-vestitionsbank und für verbindliche Einsparziele bei derEnergie, die Investitionen in neue Geräte, in Baustoffe
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Kerstin Andreae
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und in Energieberatung bedeuten. Das schafft viele neueJobs im Handwerk. Über Monate hinweg aber hat dieseBundesregierung die Umsetzung der Energieeffizienz-richtlinie in Brüssel blockiert; sie musste erst in denSchlussverhandlungen zum Fiskalpakt dazu gebrachtwerden. Dabei ist die Energieeffizienzrichtlinie eines derentscheidenden Instrumente für mehr Effizienz beimEnergieverbrauch, für neue Jobs im Handwerk und fürneue Geschäftsmodelle auf diesem wichtigen Energie-sektor. Das haben Sie aus Lobbyinteressen heraus ver-schlafen. Wir mussten Sie zum Jagen tragen und sindfroh, dass die Energieeffizienzrichtlinie jetzt endlich um-gesetzt werden muss.
Es gäbe so viel zu tun. Wo ist die steuerliche For-schungsförderung? Wo ist das Programm für BusinessAngels? Wo ist das von Ihnen in Ihrer Rede erwähntenotwendige Programm für Venture Capital, für Wagnis-kapital? Es gibt nichts davon. Sie sagen hier wolkig, dassei wichtig; aber Sie machen keinen Vorschlag, wie Siees machen wollen. Wir sagen: Wir wollen Forschungs-förderung, und wir wollen bessere Bedingungen fürGründer.
In jeder Rede betonen Sie den Fachkräftemangel. Wirhaben Sie bei der Senkung der Einkommensschwelle fürZuwanderung und bei der Bluecard unterstützt. Es istaber nicht richtig, dass Sie jetzt Mittel für die Qualifizie-rung von Arbeitslosen streichen. Ist denn ein Arbeitslo-ser für Sie keine potenzielle Fachkraft, die Sie mit Quali-fizierung in den Markt holen können? Stellen Sie dieseMenschen auf das Abstellgleis? Wir sagen: InvestierenSie in die Qualifizierung von Arbeitslosen. Das ist gutfür die Menschen, und es ist gut für die Wirtschaft. Hiermachen Sie einen kapitalen Fehler.
Wo ist Ihre ehrliche Konsolidierungspolitik? Die Märvon der FDP als einem soliden Haushälter ist schonlange geplatzt. Ich kann mich noch sehr gut an Ihr Libe-rales Sparbuch erinnern.
Davon ist immer wieder gesprochen worden. Als Sie dieAnzahl der Staatssekretäre erhöht haben, haben Sie dasLiberale Sparbuch doch in der Mottenkiste versenkt.Jetzt schöpfen Sie das Steuerplus ab und bedienen sichauch noch aus den Sozialkassen: mit 1 Milliarde Eurobei der Rentenkasse, mit 2 Milliarden Euro bei der Bun-desagentur und mit 2 Milliarden Euro beim Gesund-heitsfonds. Ich sage Ihnen: Wenn Sie das nicht machenwürden, dann wären die Beiträge nicht so hoch, wie siees heute sind. Sie würden so deutlich mehr für die Bür-gerinnen und Bürger tun, als Sie es bei der kalten Pro-gression versprechen. Fakt ist: Sie entlasten die Bürge-rinnen und Bürger nicht, sondern ziehen ihnen Geld ausder Tasche.
Bei der eigenen Klientel ist die FDP immer besondersspendabel. Von der Hotelsteuer will ich gar nicht reden.Bei dem wachsweichen Spielhallengesetz aber wurdendie Ratschläge der Suchtexperten glatt ignoriert.
Ehrlich gesagt, finde ich es für einen ehemaligen Ge-sundheitsminister peinlich, dass Sie nicht bereit waren,die Suchtexperten anzuhören und den Kampf gegen dieSpielsucht aufzunehmen. Was haben Sie gemacht? Siehaben die Lobbyinteressen der Spielhallenindustrie un-terstützt.
Bei niemandem war auch der Widerstand gegen dieFinanztransaktionsteuer so groß wie bei der FDP. Dasheißt ganz klar: Weder wollen Sie das Casino im Kleinenregulieren, noch wollen Sie das Casino im Großen regu-lieren. Sie schauen nach Ihrer Klientel, und das war esdann auch.
Für Grüne heißt Konsolidieren sparen, Subventionen ab-bauen und Einnahmen stabilisieren.
Kommen wir doch einmal zu den Subventionen. Wirhatten ja schon das Beispiel „energieintensive Betriebeim internationalen Wettbewerb“. Ja, für ein energieinten-sives Unternehmen, das im internationalen Wettbewerbsteht, braucht es Ausnahmen. Rot-Grün hat diese Aus-nahmen eingeführt. Sie haben sie aber verzehnfacht.Jetzt ist sogar der Deutsche Wetterdienst befreit. Und er-klären Sie mir doch einmal, warum Sie jedes Jahr auf40 Millionen Euro EEG-Umlage verzichten, indem Siedie Braunkohleförderung von der Umlage ausnehmen.Bei der Braunkohle gibt es überhaupt keinen internatio-nalen Wettbewerb. Die Kohle wird aus dem Boden ge-holt und geht ins Kraftwerk. Diese 40 Millionen Eurosind Gelder der Steuerzahler, die Sie verschwenden. Dasist eine unsinnige Subvention.
Ein Haushalt soll wegweisend sein. Er soll immer dieSchritte in die Zukunft aufzeigen, die wir gehen: beimGesellschaftsbild, bei der Frage „Investieren wir in Bil-dung und Betreuung?“ – damit meine ich keineswegs Ihrunsinniges Betreuungsgeld –, bei der Frage „Sparen wir,und stabilisieren wir die Einnahmen?“ und beim Schul-denabbau. Sie sagen immer, Sie sparen. Darunter verste-
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Kerstin Andreae
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hen Sie, die Neuverschuldung nicht weiter nach oben zutreiben. Aber dafür, wie Sie die Schulden wirklich ab-bauen wollen, liegt kein Konzept vor. Wir hingegen le-gen Ihnen ein Konzept vor. Wir sagen: Wir müssen vondem Schuldenstand von 80 Prozent herunterkommen.Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen.Damit können wir die zukünftigen Generationen nichtbelasten. Wir wollen den Schuldenabbau nicht durch dieStreichung bei öffentlichen Ausgaben erreichen, auchnicht durch einen weiteren Sozialabbau, sondern da-durch, dass wir eine Vermögensabgabe einführen.
Die, die es sich wirklich leisten können, sollen in denSchuldenabbau investieren.
Da die FDP es immer noch nicht begriffen hat, sage ich:Eine Vermögensabgabe fließt in den Bundeshaushalt undnicht in die Länderhaushalte. Deswegen ist es möglich,sie ganz konkret zum Schuldenabbau zu verwenden.
Mit diesem Haushalt wird nicht ausreichend in Bil-dung und Betreuung investiert. Die Energiewende istnicht solide finanziert. Der Strukturwandel der Wirt-schaft wird damit nicht vorangebracht. Dieser Haushaltgibt das nicht her, der Wirtschaftsminister allemal nicht.Es wird Zeit für einen Wechsel.Vielen Dank.
Florian Toncar erhält nun das Wort für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ImLaufe der Debatte habe ich mich gefragt, was eigentlichein neutraler Beobachter, ein Gast aus dem Ausland den-ken würde, wenn er nach Deutschland käme, sähe, wiehier die Wirtschaft läuft, und dann diese Haushaltsde-batte über die Lage der Wirtschaft in Deutschland ver-folgte. Ich glaube, er würde sich die Augen reiben ange-sichts des Bildes, das hier gezeichnet wird. Ich mussauch sagen: Vieles von der Kritik, die von der Opposi-tion gekommen ist, ist ausgesprochen kleinlich.
Wenn Sie genau hinschauen würden, dann müsstenSie doch sehen, dass es die Bundesregierung war, die2010 nicht nur als erste Regierung in Europa, sondernauch als erste Regierung im Rahmen der G 20 überhauptgesagt hat: Wir müssen nach dieser Krise darangehen,die Haushalte zu konsolidieren. – Das ist ein Faktum,das nicht zu bestreiten ist. Auf dem Gipfel in Montrealim Jahre 2010 haben die meisten unserer Partner in derG 20 gesagt: Deutschland, warum konsolidiert ihr? Istdas wirklich richtig? Seid ihr euch sicher? – Wir habengesagt: „Wir sind uns sicher“, und das hat sich als richtigerwiesen. Wenn Sie ehrlich und redlich wären, dannmüssten Sie doch auch einmal anerkennen, dass da vondieser Regierung frühzeitig eine richtige Entscheidunggetroffen worden ist, an der sich andere orientiert haben.
Da wir nicht so kleinlich sind, sagen wir – das ziehtsich durch alle Reden –: Natürlich haben auch Sozialde-mokraten und Grüne einen Anteil daran, dass es durchReformpolitik zu Verbesserungen gekommen ist. Dasfällt uns überhaupt nicht schwer. Wir finden, dass manes, wenn es gut gemacht worden ist, auch sagen kann.Darauf können wir gemeinsam stolz sein. Ich will aller-dings auf eines hinweisen – das soll mein Beitrag zurVergangenheitsbewältigung heute sein –: In den Jahren2003, 2004 und 2005 haben Sie einen Bundesrat vorge-funden, in dem es eine schwarz-gelbe Mehrheit gab, undder war konstruktiv. Er hat zur Agenda 2010 gesagt: Wirreden über die Vorschläge von Herrn Schröder; bei de-nen, die gut sind, machen wir mit. Es ist eine ganzeMenge gemeinsam erreicht worden. Ich würde mir wün-schen, Sie hätten heute im Bundesrat auch einmal dieGröße, zu sagen: Da kommt ein Vorschlag von der Bun-desregierung. Es ist zwar nicht unsere Bundesregierung,aber das hilft dem Land. Deshalb fördern wir energeti-sche Gebäudesanierung, deshalb sorgen wir für einenAbbau der kalten Progression, deshalb helfen wir mit,die Strompreise zu begrenzen. – Ihnen fehlt diese Größe,diese Fähigkeit, sich zu einigen und daran mitzuwirken,dass etwas besser wird. Das ist der Vorwurf, den man Ih-nen heute machen muss.
Natürlich machen wir mit diesem Haushalt und in derWirtschaftspolitik allgemein viele richtige Dinge, dieuns weiterbringen. Ich will die Verschärfung des Kartell-rechts erwähnen: von Rainer Brüderle auf den Weggebracht, durch Philipp Rösler nun nahezu auf die Ziel-gerade in der parlamentarischen Beratung. Wir wollen,dass Fusionen strenger kontrolliert werden, dass dasKartellamt eine Missbrauchsaufsicht im Energiesektorausüben und einschreiten kann, wenn ein Energieunter-nehmen seine Stellung am Markt missbraucht und dieVerbraucher zu viel Geld zahlen müssen. Das ist docheine vernünftige Sache. Es kann wirklich keiner sagen,dass da nichts passiert.
Nehmen Sie das Beispiel Fachkräfte. Wir kümmernuns darum, dass die Unternehmen die nötigen Fach-kräfte bekommen, und zwar nicht nur aus dem Ausland,sondern auch aus dem Inland. Da wir heute über denEtat des Bundeswirtschaftsministers reden, will ich dasProgramm „Berufliche Bildung“ erwähnen, für das74 Millionen Euro bereitgestellt werden. Da geht es
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Florian Toncar
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zum Beispiel darum, überbetriebliche Lehrgänge, alsoLehrgänge für Mitarbeiter aus mehreren Betrieben, vorallem im Handwerk zu ermöglichen und zu unterstützenoder überbetriebliche Bildungsstätten zu fördern, damitBetriebe, die alleine keine Lehrgänge anbieten würden,weil sie zu klein sind, die Möglichkeit haben, dasgemeinsam mit anderen zu machen. Es ist schlichtwegfalsch, was der Kollege Heil gesagt hat, nämlich dass wiruns nicht um die Fachkräfte im Inland kümmern. Hätteer diesen Haushalt gelesen oder verstanden, dann hätteer so etwas hier nicht ernsthaft behaupten können.
Natürlich kümmern wir uns auch um das wichtigeThema Gründungen; auch das können Sie in diesemHaushalt nachlesen. Es gibt dort die bewährte Initiative„Gründerland Deutschland“. Hier wird es das neue Pro-gramm „Investitionszuschuss Wagniskapital“ geben fürjunge, innovative Unternehmen, die einen Partner brau-chen, damit sie ihre Ideen umsetzen können. Ich glaube,dass das sehr wichtig ist, weil es in den nächsten Jahrenviele Altersabgänge geben wird und viele Unternehmensagen werden: Wir hören auf. – Sie würden ihr Unter-nehmen gerne übergeben.
Wenn wir darauf keine Antwort haben, wenn wir keinejungen Menschen finden, die sagen: „Ich gehe dasRisiko ein, ich mache das“, dann kann das Problem auf-treten, dass Unternehmen verschwinden, die eigentlichgut sind und gebraucht werden. Um all diese Dingekümmern wir uns, und das sieht man auch im Haushalt.Erfreulich ist übrigens, dass in den letzten drei Jahrenin Deutschland mehr Unternehmen gegründet als liqui-diert worden sind. Wir haben jedes Jahr ungefähr400 000 Gründungen und ungefähr 380 000 Unterneh-men, die vom Markt verschwinden. Das heißt, wir habeneinen positiven Saldo: jedes Jahr ungefähr 20 000 bis30 000 Unternehmen mehr. Das zeigt doch, dass vieleMenschen darauf vertrauen, dass sie hier in Deutschlanddie Chance bekommen, ein eigenes Unternehmen zugründen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich sollten wirfalsche Dinge bleiben lassen. Es ist sicherlich nicht rich-tig, einfach nur die Frage zu stellen: Was tun Sie? Esgeht auch darum, Dinge, die der Wirtschaft schaden, dieArbeitsplätze gefährden, bleiben zu lassen. Dazu zähleich höhere Steuern und eine Regulierung des Arbeits-marktes, die über das hinausgeht, was wir haben, oderweitere ungedeckte Belastungen für die sozialen Siche-rungssysteme, gleich welcher Art.Ich bin übrigens sehr gespannt, wie sich die wirt-schaftliche Lage in Frankreich entwickeln wird, untereinem Präsidenten, der Ihnen ja sehr nahe steht und derjetzt ausprobiert, was Sie gerne hätten. Ich bin mir sehrsicher, dass wir in drei, vier, fünf, sechs Monaten sehenwerden, ob das wirklich die bessere Alternative zur Poli-tik dieser Regierung ist. Ich bin sehr zuversichtlich, dasswir dann im Bundestagswahlkampf vergleichen können:Wollen wir das Modell Hollande/Gabriel, oder wollenwir das Modell Merkel/Rösler?Vielen herzlichen Dank.
Der Kollege Klaus Brandner hat nun das Wort für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Wir wollen heute den Einzelplan 09,den Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft undTechnologie, beraten, um nachvollziehen zu können, obden großen Worten, die wir gehört haben, tatsächlichTaten folgen können. Dafür muss man in den Haushalts-plan schauen; man darf nicht nur den großen Worten lau-schen.Schön ist, dass der Haushaltsplan Ihres Ministeriumszwischenzeitlich auf Anregung des Bundesrechnungs-hofs und des Bundesfinanzministeriums transparenter,übersichtlicher und vergleichbarer geworden ist. Damithaben wir die Möglichkeit, die Vorhaben einfacher nach-zuvollziehen; aber wir haben auch die Möglichkeit,schnell nachzuschauen, welche Schwerpunktsetzungenund welche Linien der Haushalt beinhaltet.Wir kommen zu dem Ergebnis, dass es große Pro-bleme gibt. Zum einen können wir feststellen, dass sichdie Veränderung des Haushalts in diesem Jahr mit1,2 Prozent noch im Plusbereich bewegt. Aber wir habeneine Berg- und Talfahrt hinter uns, und in der mittelfristi-gen Finanzplanung gibt es eine ähnliche Entwicklung.Es scheint, dass es nur noch willkürliche Steigerungenund willkürliche Absenkungen gibt; denn sie machenpolitisch gesehen häufig wenig Sinn.Herr Rösler hat heute bei seinem Vortrag nichtbenannt, welche Lehren er aus der Finanz- und Schul-denkrise zieht. Es stellen sich doch viele Fragen: Wiewollen wir daraus herauswachsen? Auf welchen Feldernwollen wir wachsen? Welche ambitionierten Ziele setzenwir uns? Welche Aktivitäten wollen wir im Haushaltsystematisch positiv abbilden? Es fehlt einfach an klarenAntworten.
Ein Blick auf den mittelfristigen Finanzplan zeigt,dass es fast nur noch Absenkungen des Haushalts gibt:2014 minus 0,6 Prozent, 2015 minus 1,8 Prozent usw.Mit Wachstum hat eine solche Haushaltsentwicklungsicherlich nichts zu tun. Man muss sich doch die Fragestellen: Wie will ich den demokratischen Gestaltungs-spielraum nutzen, um politische Impulse zu setzen, umden Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht zuwerden, wenn ich einen solch mickrigen Haushalt mit sofalschen Weichenstellungen vorlege?Ich möchte den Themenbereich Energiewende an-sprechen. Ich bekomme mehr und mehr den Eindruck,
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Klaus Brandner
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dass Sie, Herr Minister, die Energiewende eher als Wahl-kampfthema denn als Aufgabe von wachsender gesell-schaftlicher Bedeutung begreifen.
Wir wissen, dass uns die Energiewende vor große He-rausforderungen stellt. Der beschleunigte Ausstieg ausder Atomkraft im letzten Jahr war eine richtige Entschei-dung. Ihre Parteinahme für die Atomkraft zu Beginn derschwarz-gelben Regierungszeit, 2009/2010, und dasZurückschrauben der Energiewende, die SPD und Grüneim Jahr 2000 beschlossen hatten, waren nicht nur ein fal-sches Signal. Das hat auch verunsichert und dazugeführt, dass Entwicklungen in den Bereichen Energie-effizienz, Energieeinsparung und regenerative Energiennicht beschleunigt, sondern verzögert wurden. Sie habenmit Ihrer schwarz-gelben Politik das Land zurückgewor-fen und nicht nach vorne gebracht.
Die langfristigen Projekte hätten längst angegangenwerden müssen. Ich nenne nur das Stichwort „Netzaus-bau“. Während Sie, Herr Minister, von erheblichen Fort-schritten beim Ausbau der Netze sprechen, kritisiert dieBundesnetzagentur, dass bei den Projekten, die schon vor2009 angestoßen wurden, massive Verzögerungen zu be-obachten seien. Ich will sie konkret benennen: 214 Kilo-meter von insgesamt 1 800 Kilometern Leitung solltenfertiggestellt werden; von 24 Leitungen sind aber bishernur 2 in Betrieb genommen. Hinzu kommt, dass die vor-gesehenen 1 800 Kilometer nicht ausreichen werden,wie die Bundesnetzagentur festgestellt hat. Sie sagtaußerdem, dass laut Netzentwicklungsplan davon auszu-gehen ist, dass 4 400 Kilometer Leitung im bestehendenNetz optimiert werden müssen und weitere 3 800 Kilo-meter neue Stromleitungen benötigt werden.Sie wollen die Bauzeit nun deutlich verkürzen, vonzehn auf vier Jahre. Wir werden Sie beim Wort nehmen.Sie wollen das erreichen, indem Sie richterlich entschei-den lassen und dafür sorgen, dass es nur einen Rechtszuggibt. Außerdem wollen Sie die Umweltauflagen vo-rübergehend außer Kraft setzen. Anstatt die Menschenaufzuklären, die Bürger mitzunehmen, ihnen die Not-wendigkeiten zu erklären, wollen Sie von oben herabden Prozess par ordre du mufti durchsetzen. Das ist ge-gen die Menschen, das ist kein demokratischer Prozess.Wir finden das nicht in Ordnung.
Vor dem Hintergrund, dass wir die Energiewendebrauchen und den Netzausbau daher dringend vorantrei-ben müssen, machen Sie sich völlig unglaubwürdig,wenn in dem von Ihnen vorgelegten Haushaltsentwurfvorgesehen ist, dass die Mittel für Aktivitäten zur Ver-besserung der Energieeffizienz um 2 Prozent zurückge-fahren und die Mittel für die Energieforschung sogar um4,8 Prozent gekürzt werden. Das sind doch Maßnahmen,die Ihrem Ansinnen widersprechen. Das bringt das Landnicht nach vorne. Das ist eine falsche Prioritätensetzung,die Sie und auch die Bundeskanzlerin zu verantwortenhaben.Wenn ich von Prioritäten spreche, dann will ich aberauch klar sagen, dass Sie deutlich machen müssen, dassSie mit der regionalen Wirtschaftsförderung dafür ein-stehen, dass das wirtschaftliche Wachstum in bestimm-ten Regionen unserer Republik deutlicher zurückgeht.Das Handelsblatt titelte in den letzten Tagen „StillstandOst“ –:Die Aufholjagd in Ostdeutschland ist zum Erliegengekommen. Die Produktivität stagniert weit unterWestniveau, die Lebensverhältnisse entwickeln sichwieder auseinander.Es heißt weiter, die an sich positive Entwicklung aufdem Arbeitsmarkt spiegele sich nicht in den jeweiligenEinkommensverhältnissen wider, weil diese immer nochlediglich 80 Prozent des Westniveaus betragen. – In die-ser Situation kürzen Sie die Fördermittel der GRW, alsoder Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“, um 4,9 Prozent. Sie machen alsodas Gegenteil von dem, was dringend notwendig ist,nämlich dafür zu sorgen, dass wir in diesem Land nichtnur eine politische, sondern auch eine wirtschaftlicheEinheit haben. Sie machen damit in diesen RegionenPolitik gegen die Menschen.
Ich finde, Ihre Worte und Taten passen nicht zusam-men. Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Sie sagen:Wir wollen Politik für den Mittelstand machen; wirmachen Politik für die KMUs. Tatsächlich aber fördernSie Großprojekte, zum Beispiel eines in Vietnam mitinsgesamt einem Zuschuss von 90 Millionen Euro undweiteren finanziellen Zusicherungen. Interessant ist indem Zusammenhang, dass Sie bei der Erläuterung diesesProjekts in Ihrem Haushaltsentwurf schreiben:Durch eine Mitwirkung deutscher Unternehmenkönnten nach ersten Schätzungen– wohlgemerkt: mit 90 Millionen Euro Zuschuss –voraussichtlich 200 Arbeitsplätze für den Zeitraumvon fünf Jahren, davon 50 Prozent bei mittelständi-schen Unternehmen, gesichert werden.Ist das nicht eine Förderung, die völlig unwirtschaftlichist? Müssten solche Beträge nicht in andere Bereichegesteckt werden, in Bereiche wie Existenzgründung,Weiterbildungsmaßnahmen und Qualifizierungsmaßnah-men, um Menschen zu befähigen, den wirtschaftlichenHerausforderungen der Zukunft gerecht zu werden?
Genau das tun Sie nicht genügend. Deshalb sage ichIhnen – und ziehe damit ein Fazit –: Der Haushaltsent-wurf, den Sie vorlegen, entspricht nicht Ihren Wortenvon heute Morgen. Er muss dringend nachgebessert wer-den. Ich hoffe, dass Sie die Anregungen aus der heutigenDebatte ernst nehmen und dafür sorgen, dass wir uns in
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Klaus Brandner
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der Schlusslesung mit einem deutlich verbesserten Ent-wurf beschäftigen können.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Hinsken für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Gerade heute erinnere ich mich an die große Wirt-
schaftsdebatte vor zehn Jahren. Damals habe ich in der
fünften Reihe gesessen, hatte eine rote Laterne dabei und
habe versucht, sie dem Bundeskanzler Schröder zu über-
reichen.
Warum? Weil die Bundesrepublik Deutschland damals
mit der rot-grünen Koalition am Ende des europäischen
Geleitzuges war.
– Ich bin schon stolz, dass ich darauf verweisen konnte.
Ja, aber der Versuch ist damals schon am amtierenden
Präsidenten gescheitert. Das ist Ihnen in Erinnerung?
Wenn die rote Laterne heute als zeitgeschichtlichesDokument im Haus der deutschen Geschichte in Bonnnoch zu sehen ist, dann habe ich erreicht, was ich damalserreichen wollte, nämlich den Leuten plakativ klarzu-machen, wo wir uns befinden.
Jetzt können wir feststellen: Es hat sich vieles verändert.Wir stehen in der Bundesrepublik Deutschland dankeiner hervorragenden Bundesregierung und einem gutenWirtschaftsminister blendend da. Es gilt, das aufrechtzu-erhalten und darauf stolz zu sein, weil wir von allen an-deren Ländern darum beneidet werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundes-republik Deutschland ist „in“. Sie von der linken Seitedieses Hauses sollten endlich einmal eingestehen, dassdem so ist. Hören Sie doch auf mit Ihrer Schwarzmalereiund der Panikmache! Seien Sie bereit, zu erkennen, wassich momentan auf dem Gebiet der Wirtschaft zeigt:dass sich die deutsche Wirtschaft in einem schwierigeneuropäischen Umfeld nämlich weiterhin als großartig ro-bust erweist. Der private Konsum profitiert von günsti-gen Rahmenbedingungen, die Exporte der deutschenWirtschaft stiegen bis zuletzt kräftig, die Beschäftigungnimmt weiter zu und stützt die Binnennachfrage. Daraufkönnen und sollen wir besonders stolz sein; denn nochnie waren in Deutschland so viele Menschen in Lohnund Brot wie heute.Kein Land in Europa ist so gut durch die Krise ge-kommen wie gerade unser Land. Daran haben alle mit-geholfen, die einen mehr, die anderen weniger. Wir ste-hen blendend da. Das ist vor allen Dingen das Verdienstunserer tüchtigen Bundeskanzlerin Angela Merkel, aberauch das der deutschen Wirtschaft.
– Den habe ich vorhin schon erwähnt. Verehrter KollegeLindner, da Sie es hören wollen, möchte ich noch einmalsagen, dass wir mit Herrn Rösler einen ausgezeichnetenWirtschaftsminister haben. Jetzt haben Sie es noch ein-mal amtlich gehört.
Vor allem die vielen Mittelständler, die als Rückgrat diedeutsche Wirtschaft so stark machen und ihre Unterneh-men besonnen durch unruhige Fahrwasser der Krisesteuern, haben einen enormen Beitrag dazu geleistet,dass dem so ist.Die Bilanz, insbesondere unseres Mittelstandes, istbeeindruckend:
490 000 neue Arbeitsplätze, 33,3 Millionen Beschäftigteund ein Umsatzzuwachs von 3,4 Prozent im Jahr 2011.Für das laufende Jahr wird ein weiteres Umsatz- und Be-schäftigungswachstum erwartet. Allein 210 000 neueArbeitsplätze könnten entstehen, weil insbesondere dasHandwerk in der Erfolgsspur bleibt, vor allem wegen derstabilen Binnennachfrage, die wir verzeichnen können.Mit diesen Daten können wir uns, wie erwähnt, wahr-lich sehen lassen und müssen wir den Vergleich mit an-deren Ländern nicht scheuen. Aber was tun wir inDeutschland? Wir machen uns doch schon langsam lä-cherlich und schaden unserem guten Ruf in der Welt,weil wir es nicht auf die Reihe bekommen, dringend not-wendige Großprojekte vernünftig zu verwirklichen. Obder Berliner Flughafen, ob Stuttgart 21, ob der Donau-ausbau, ob die dritte Startbahn am Münchner Flughafenusw. usf.: Geben Sie auf der linken Seite sich doch end-lich einmal einen Ruck, und sorgen Sie dafür, dass dieBundesrepublik Deutschland das Vorzeigeland in derganzen Welt bleibt und dass andere weiterhin animiertwerden, uns das nachzumachen! Aufgrund genannterGegebenheiten werden Sie nicht das bekommen, was Siebrauchen.
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Ernst Hinsken
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– Herr Beck, Sie können den Kopf schütteln, hin- undherwanken und dergleichen mehr, aber es wäre ganz gut,wenn Sie das einmal aufgreifen und Ihren Sachverstandauf diesem Gebiet ein bisschen erweitern würden.
Warum sage ich das alles? Ich sage das, weil diegroße Mehrheit im Lande dies von uns erwartet.Deutschland war Vorreiterland und soll es auch heuteund morgen bleiben.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der vorgelegteHaushalt ist meiner Meinung nach gut geschnürt. Erstellt richtige Weichen, es werden richtige Akzente ge-setzt.
Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung werdendurch Investitionszuschüsse für Wagniskapital in Ge-samthöhe von 30 Millionen Euro zur Verbesserung derFinanzierungssituation junger, innovativer Unternehmenauf hohem Niveau fortgeführt. Frau Kollegin Andreae,
ich möchte Antworten auf Ihre Fragen geben. Das wardie erste Antwort.Mit meiner zweiten Antwort richte ich mich an denKollegen Brandner. Die Mittel für die Gemeinschafts-aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk-tur“ werden mit dem Ziel der Verstetigung um 33 Millio-nen Euro angehoben.Drittens. Wir nutzen jetzt das inländische Arbeitskräf-tepotenzial besser und haben ein Fachkräftekonzept er-stellt, den Ausbildungspakt verlängert und das dualeSystem gestärkt.Viertens. Außerdem werden wir die Rahmenbedin-gungen für die Finanzierung mittelständischer Unterneh-men bei der jetzt anstehenden Basel-III-Gesetzgebungfest im Blick haben. Das erwartet gerade der Mittelstandvon uns.Fünftens. Beim Bürokratieabbau sind wir vorange-kommen. Bürokratie ist – das ist doch unbestritten – dieGeißel der Wirtschaft. Bürokratieabbau ist ein Wachs-tumsprogramm zum Nulltarif. Dadurch wird der Wirt-schaftsstandort Deutschland gestärkt und zukunftsfähiggemacht. Ich möchte Ihnen ins Gedächtnis rufen: Vorfünf Jahren mussten deutsche Unternehmen jährlichnoch rund 50 Milliarden Euro für amtliche Statistiken,Antragsformulare, das Ablegen von Rechnungen usw.aufwenden.
Herr Kolleg Hinsken, darf der Kollege Seifert Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Selbstverständlich, gerne.
Herr Kollege Hinsken, Sie wissen aus eigener Erfah-
rung sehr gut, welches Fachkräftepotenzial unter Men-
schen mit Behinderungen vorhanden ist. Erklären Sie
mir doch jetzt bitte einmal, warum in Ihrer famosen
Fachkräfteinitiative, die von Ihrem Ministerium und
Ihrer Regierung veröffentlich worden ist, zwar an die
Expertise von alten Menschen, von Frauen sowie von
Migrantinnen und Migranten gedacht wurde, aber nicht
an die hunderttausend gut ausgebildeten Menschen mit
Behinderungen, die keinen Job haben. Wollen Sie da
wieder eine Sonderlösung finden, oder wollen Sie sie
endlich einmal inkludieren?
Herr Kollege Dr. Seifert, ich bin dankbar für die Zwi-
schenfrage, weil gerade diese Bundesregierung die Be-
hinderten nicht am Rande stehen lässt, sondern in die
Entscheidungsfindung einbezieht. Sie hat in den letzten
Jahren vieles getan, dass sie besser integriert werden,
dass die Wirtschaft bereit ist, auf sie zuzugehen, und
dass die notwendigen Bildungsmaßnahmen aufgelegt
werden, die erforderlich sind, um sie zielgerichtet einset-
zen zu können, sobald es eine Möglichkeit dazu gibt. Ich
meine, das sind nicht Menschen zweiter Klasse, sondern
Menschen wie du und ich. Ich habe selbst eine schwerst-
behinderte Enkelin. Ich weiß, wovon ich spreche. Des-
halb meine ich: Wir sind auf dem richtigen Weg. Auf
diesem Weg werden wir weitergehen. Wir werden die
Behinderten so einbeziehen, wie es erforderlich ist, und
wir werden die Wirtschaft weiter dazu animieren.
Ich nenne den Zehn-Punkte-Katalog. Wir haben steu-
erliche Freiräume geschaffen, zum Beispiel durch Er-
leichterungen im Rahmen des Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetzes, das unter anderem Änderungen bei der
Erbschaftsteuer und der Abschreibung geringwertiger
Wirtschaftsgüter mit sich brachte.
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Der Grün-dergeist wurde gestärkt, und die Unternehmensnachfolgewurde erleichtert. Die Eigenkapitalquote des deutschenMittelstandes – das möchte ich noch sagen dürfen – istseit 2005, aber insbesondere im letzten Jahr in 43 Pro-zent der Betriebe gestiegen. Sie lag 2011 bei 20,7 Pro-zent. Auch zur Sicherung der Rohstoffversorgung habenwir etwas unternommen. Die Investitionstätigkeit ist ge-genüber dem Vorjahr beinahe unverändert.Das ist gut. Die Unternehmen wissen, dass wir diePolitik machen, die sie brauchen, damit sie weiterhin
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Ernst Hinsken
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existieren können, damit sie weiterhin zu Innovationenbereit sind, damit sie weiterhin bereit sind, zu investierenund Arbeitsplätze zu schaffen; denn dadurch sorgen siemit dafür, dass wir in der Bundesrepublik Deutschlandauf dem Wohlstand, den wir uns erarbeitet haben, auf-bauen können. Grundlage dafür ist in erster Linie unserePolitik.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nun spricht die Kollegin Ulla Lötzer für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die
OECD warnt vor einer Rezession im zweiten Halbjahr
2012 in Deutschland, Kollege Hinsken. Nicht wir betrei-
ben Schwarzmalerei, wie Sie uns eben vorgeworfen ha-
ben, sondern Sie und Ihr Minister betreiben Schönfärbe-
rei der Entwicklung und nicht Vorsorge gegen eine
Krisenanfälligkeit. Das ist das Problem, das alle Redner
von der Opposition hier angesprochen haben.
Nach wie vor ist die deutsche Wirtschaft von der boo-
menden Exportwirtschaft abhängig. Frau Merkel hat
gestern in ihrer Rede gesagt: Wenn es Europa gut geht,
geht es Deutschland gut. –
Andersherum wird leider ein Schuh daraus: Infolge vor
allem Ihrer Politik geht es der Mehrheit der Menschen in
Europa schlechter statt besser.
Rezession, Arbeitslosigkeit, Armut und öffentliche
Schulden haben infolge Ihrer europäischen Krisenpolitik
zugenommen. Das europäische Spardiktat, das vor allem
Sie den europäischen Krisenländern aufzwingen, kommt
inzwischen als Bumerang zurück. Die Auftragsrück-
gänge gerade aus den südeuropäischen Krisenländern
können auf Dauer nicht durch Export nach China, in die
Schwellenländer oder vielleicht in Zukunft auf den
Mond ausgeglichen werden.
Das von Ihnen versprochene Wachstumsprogramm
für Europa besteht im Wesentlichen aus Luftbuchungen.
Es werden keine zusätzlichen Mittel für den Aufbau in
den Krisenländern bereitgestellt, geschweige denn ein
öffentliches Investitionsprogramm für einen sozialöko-
logischen Umbau und für Infrastrukturmaßnahmen in
Europa vorgeschlagen.
– Ich rede zum Wirtschaftsetat.
Auch Ihre viel beschworene Stärkung der Binnen-
nachfrage kommt nicht in Schwung, woher auch bei ei-
ner Wirtschafts- und Sozialpolitik, die auf flächende-
ckende Ausweitung von Niedriglöhnen, Leiharbeit und
prekärer Beschäftigung setzt.
Zwar haben die Gewerkschaften Lohnsteigerungen
durchgesetzt, doch das reicht nicht aus. Herr Lindner,
8 Millionen Beschäftigte arbeiten in befristeten und in
Teilzeitjobs oder kommen nicht aus der Leiharbeit he-
raus, 760 000 Rentnerinnen und Rentner müssen mit Ne-
benjobs ihre Armutsrente aufbessern, davon sind
120 000 älter als 75 Jahre. Ist das Ihr Wohlstand für alle,
den Sie erreicht haben, Herr Rösler? Bekämpfen Sie
endlich die Armut und die prekäre Beschäftigung! Stop-
pen Sie die Absenkung des Rentenniveaus und die Al-
tersarmut! Das wäre die Förderung von Leistungsge-
rechtigkeit, Herr Rösler.
Mindestsicherung, Mindestlohn und Mindestrente
sind längst überfällig, werden aber gerade von Ihnen im-
mer wieder blockiert. Zukunftsfähigkeit sieht anders aus.
Sie erfordert Krisenvorsorge im Haushaltsentwurf statt
eines Schönwetterhaushalts. Statt einer Wirtschaftspoli-
tik des Wettbewerbs um Armut und unsichere Lebens-
verhältnisse brauchen wir eine Orientierung an sozialer
und ökologischer Nachhaltigkeit.
Es ist höchste Zeit für Investitionen in ein soziales
und ökologisches Zukunftsprogramm in Deutschland
und in Europa, doch dazu findet man in Ihrem Haushalt
schlichtweg nichts. – Der Kollege möchte mich, glaube
ich, etwas fragen.
Das mag sein. Ich stelle die Bereitschaft der Rednerin
fest, das zuzulassen. – Bitte schön, Herr Kollege.
Frau Kollegin Lötzer, Sie haben gerade nach Wachs-tumsimpulsen gerufen. Sie wollten ja auch eigentlichzum Wirtschaftshaushalt sprechen. Weil Sie in derEnquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens-qualität“ immer eine sehr wachstumskritische Haltungeinnehmen, frage ich mich an dieser Stelle: Worum gehtes Ihnen denn jetzt? Welche Lösung wollen Sie in dieserKrise? Geht es Ihnen um mehr Wachstum und Ressour-censchonung, oder geht es Ihnen um weniger Wachstumund Beschädigung des Industriestandorts Deutschland,
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Dr. Matthias Heider
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der die Grundlage für die höchste Beschäftigung ist, diewir seit langem in diesem Land gehabt haben?
Herr Heider, auch in der Enquete-Kommission führen
wir schon lange diese Auseinandersetzung. Es geht um
Entwicklungsziele in dieser Gesellschaft, die sowohl so-
zial als auch ökologisch nachhaltig sind. Es geht darum,
die dafür notwendigen Maßnahmen zu treffen. Es geht
nicht um ein Wachstum im Wettbewerb um Niedrig-
löhne, um die niedrigsten Steuern für Vermögende, um
sozusagen die höchste Armut. Unsere Politik ist dadurch
gekennzeichnet, dass wir uns an Entwicklungszielen für
die Gesellschaft orientieren. Wir fordern Investitionen in
sozialen und ökologischen Umbau. Wir fordern auch so-
ziale Absicherung gegen die Armut. Wir fordern eine
Regulierung der Finanzmärkte, um die Wirtschaft in die
Lage zu versetzen, die notwendigen Umbrüche auch in
der Wirtschaft zu vollziehen. Wachstum kann dabei
durchaus ein Ergebnis sein. Wir haben nie auf Schrump-
fung gesetzt, aber wir haben andere Orientierungen als
Sie.
Der Klimawandel und die Konflikte um Rohstoffe er-
fordern schon längst aktive Industriepolitik. Umwelttech-
nologien, Materialproduktivität, Energieeffizienz und
Kreislaufwirtschaft müssen gefördert werden. Aber da-
von findet man bei Ihnen nichts. Vielmehr kürzen Sie die
Forschungsmittel für Energieeffizienz. Neue Dienstleis-
tungen sind gefragt: Mobilitätsdienstleistungen, Recy-
clingsammelstellen, Energieberatung usw. Wenn der
Staat nicht den richtigen Rahmen setzt und keine Zu-
kunftsinvestitionen tätigt, ist der Zug abgefahren.
Kommen wir nun zur Energiepolitik. Sie sind nichts
anderes als ein Energiewendeverhinderungsminister.
Seit Wochen predigen Sie landauf, landab, wie auch hier
heute, die Stromkosten, die Energiekosten würden we-
gen der erneuerbaren Energien und des EEG steigen.
Das ist von vorne bis hinten heuchlerisch.
Sonne und Wind führen seit Jahren zu einer Senkung der
Strompreise an der Börse.
Das Bundesumweltministerium bezifferte diesen Effekt
im Juni mit 2,8 Milliarden Euro. Aber davon kommt bei
den Privatkunden nichts an.
Im Juli wurde bekannt, dass Eon mit den Gaslieferan-
ten günstigere Preise ausgehandelt hat. Aber für den Pri-
vatkunden wurden die Preise im gleichen Atemzug er-
höht. Was tun Sie gegen diese Preistreiberei, Herr
Rösler?
Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft hat
gerade ermittelt, dass die Subventionen und Folgekosten
für Kohle- und Atomstrom wesentlich höher sind. Dies
merkt nur niemand, weil sie nicht über eine Umlage,
sondern über die Steuern finanziert werden. Würden
diese auf den Strompreis umgelegt, wären sie mit
10,2 Cent pro Kilowattstunde dreimal so hoch wie die
gegenwärtige EEG-Umlage.
Auch sagen Sie den Menschen nicht, dass die EEG-
Umlage viel niedriger sein könnte, wenn Sie die Aus-
nahmen für energieintensive Unternehmen nicht so weit
ausgedehnt hätten.
Eine solche Politik ist eben nicht nur unsozial; sie zer-
stört auch die Umwelt, weil damit Maßnahmen in Ener-
gieeffizienz unterbleiben. Sie begrenzen die Strompreise
nicht, sondern Sie treiben sie mit Ihrer Politik für die
Verbraucher in Höhe.
Auch die IG Metall fordert eine Reduzierung der
Ausnahmeregelungen
und die Wiedereinführung von Transparenz und Preis-
kontrolle bei den Energiepreisen.
Das unterstützen wir. Wir meinen darüber hinaus, dass
800 000 Haushalten im Land nicht der Strom abgesperrt
werden kann, damit Sie schamlos die Großkonzerne be-
dienen können. Wir brauchen endlich auch einen Sozial-
tarif, der eine Mindestversorgung mit Energie sicher-
stellt.
Herr Rösler, Sie machen nicht nur keine Wirtschafts-
politik; Sie blockieren sinnvolle Wirtschaftspolitik im
Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Des-
halb wäre der beste Sparvorschlag für den Haushalt, Ihr
Ministerium bzw. Ihren Ministerposten abzuschaffen.
Aber darauf müssen wir wohl noch mindestens ein Jahr
warten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege
Brandner das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident, dass ich die Gelegenheitbekomme, noch kurz zu dem Beitrag des von mir ge-schätzten Kollegen Hinsken Stellung zu nehmen.Herr Hinsken hat ausgeführt, ich hätte in meinem Re-debeitrag dargestellt, die GRW-Förderung würde um27 Millionen Euro gesenkt. Er hingegen war der Auffas-sung, dass sie steigt. Ich habe gerade nachgeschaut: Ichhabe aus dem Haushaltsplan 2013 des Bundesministe-riums für Wirtschaft und Technologie zitiert. KollegeHinsken, entweder haben Sie einen anderen Entwurf,
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Klaus Brandner
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oder Sie haben aus der Rede des letzten Jahres zitiert.Sie haben nämlich auch von anderen positiven Ergebnis-sen gesprochen. Vielleicht haben Sie aus Versehen wirk-lich aus einer Rede der Vergangenheit zitiert. Vielleichtnehmen Sie einmal Stellung dazu. Die Datenlage ausdem Ministerium drückt jedenfalls aus: Die GRW-För-derung soll von 2012 auf 2013 um 27 Millionen Euro re-duziert werden. Das war eine kritische Anmerkung vonmir. Ich würde mich darüber freuen, wenn Sie das rich-tigstellen könnten.
Herr Beck, wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Herr Kollege Brandner, wir haben in der Vergangen-
heit immer dafür gestritten, dass die Mittel zur Verbesse-
rung der regionalen Wirtschaftsstruktur erhöht werden.
Heute sind wir dabei, den Haushalt, der eingebracht
wurde, in erster Lesung zu beraten.
Wir werden ihn weiterhin genau unter die Lupe nehmen.
Dabei gehe ich davon aus, dass man meinen Aussagen
nachkommt. Ich habe das nicht einfach so gesagt, son-
dern meine Aussagen sind fundiert. Ich habe sie eruiert
und bin zu dem Schluss gekommen, dass das etwas Ver-
nünftiges, Gutes und Richtiges ist. Was die Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur angeht, müssen auch
die Konversionsmittel, die aufgrund der Schließung ver-
schiedener Bundeswehrstandorte zur Verfügung gestellt
werden, einbezogen werden. Ich befürchte, Sie haben sie
nicht berücksichtigt und sind deshalb zu anderen Ergeb-
nissen gekommen als ich.
Sie dürfen versichert sein, dass ich über meine Frak-
tion so gut wie möglich auf den Bundeswirtschaftsminis-
ter Einfluss nehmen werde,
um darauf hinzuwirken, dass das bewährte Instrument
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ aufrechterhalten bleibt. Wir brau-
chen es nämlich dringend. Es hat sich, wie gesagt, be-
währt. An Bewährtem wollen gerade wir Konservativ-
Liberale immer festhalten.
Tobias Lindner ist nun der nächste Redner für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Haus-haltsdebatte heute Morgen verfolgt, könnte den Eindruckhaben, der Bundeswirtschaftsminister habe über etwasanderes als über seinen eigenen Haushaltsplan gespro-chen.
Herr Rösler, Sie haben gesagt, die Bundesregierungstehe für solide Haushalte. Der Bundesfinanzministerhat gestern dargestellt, welche Konsolidierungsbemü-hungen Sie anstellen und wie Sie den Haushalt konsoli-dieren würden. Ehrlich gesagt, würde ich gerade bei ei-nem Haushaltsplan des Bundeswirtschaftsministeriumserwarten, dass dieser konjunkturell atmet und dass ge-rade der Etat des Wirtschaftsministeriums in Zeiten gu-ter Konjunktur einen Beitrag zur Haushaltskonsolidie-rung erbringt.
Schaut man sich Ihren Entwurf an, erkennt man aber:Fehlanzeige.Sie geben im nächsten Jahr 75 Millionen Euro mehraus. Hinzu kommt eine globale Minderausgabe von65 Millionen Euro. Mit anderen Worten: Gespart wirdhier nicht. Sie nutzen die gute konjunkturelle Situationnicht, um Vorsorge für die Herausforderungen der Zu-kunft zu treffen.
Den Kommentar Ihres Hauses zu Ihrem Etat über-schreiben Sie mit „Fortschritt, Chancen, Optimismus“.Schauen wir uns einmal das Thema Fortschritt an. Wo-ran denken wir beim Thema Fortschritt? Sie haben esselbst erwähnt: Es findet ein Paradigmenwechsel in un-serer Industriegesellschaft statt. Sie haben von einer „In-dustrie 4.0“ gesprochen. Digitalisierung, Automatisie-rung und Vernetzung bringen völlig neue Möglichkeiten,Produkte und Geschäftsmodelle hervor. Gerade diesemüssten Sie fördern. In Ihrem eigenen Koalitionsvertrag,den Sie vor drei Jahren geschlossen haben, ist von steu-erlicher Forschungsförderung die Rede. Aber was kamvon dieser Koalition? Nichts und wieder nichts. Das ver-stehe ich nicht.
Ich wage heute die Prognose: Diese Regierung wird diesteuerliche Forschungsförderung in Deutschland nichtmehr einführen.Stellen wir uns eine zweite Frage. Woran denken dieMenschen in diesem Land, wenn wir sie fragen: Welchesind die Schlüsseltechnologien der deutschen Wirt-schaft? Was fällt uns da ein? Der Maschinenbau, der Au-tomobil- und Fahrzeugbau,
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Dr. Tobias Lindner
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die chemische Industrie, die Softwareindustrie und dieKreativwirtschaft. Sehen wir uns dann den Einzelplan 09an, um zu schauen, wo das Bundeswirtschaftsministe-rium seine Schwerpunkte setzt, stellt man fest: Es tau-chen wieder einmal nur die zwei Lieblingsbereiche die-ses Hauses auf: die maritime Wirtschaft und die Luft-und Raumfahrt. Nein, meine Damen und Herren, das istkeine Schwerpunktsetzung, die den deutschen Schlüssel-technologien entspricht.
Ich komme zu den Chancen, die Sie in Ihrem Etatent-wurf verkennen. Wir sollten uns angesichts des Wandels,der mit der Erhöhung der Energie- und Ressourceneffi-zienz und mit der Energiewende einhergeht, nicht nurfragen: Wo gibt es Bedrohungen?, sondern auch: Wogibt es neue Möglichkeiten? Wo liegt denn die Möglich-keit, unsere Industrie und unsere Wirtschaft besser zumachen? Indem wir bei der Ressourcenpolitik an ge-schlossenen Stoffkreisläufen arbeiten, an alternativenRohstoffen, an einer ganz anderen Art von Kreislauf-wirtschaft statt nur und einzig und allein auf die Ausbeu-tung ausländischer Minen zu setzen. Nein, beim ThemaRessourcenpolitik und Energiewende ist in diesemMinisterium Fehlanzeige. Das sieht man auch daran,dass Sie im Kapitel Energie um 25 Millionen Euro kür-zen.
Ein letzter Satz zum Thema Fachkräftesicherung. Wirsind uns alle einig, dass wir in Deutschland an einer gu-ten Fachkräftesituation arbeiten müssen, dass wir dafürviel tun müssen, dass wir verschiedene Dinge tun müs-sen. Aber warum kürzen Sie dann in Ihrem Haushalts-plan gerade den Titel „Fachkräftesicherung für kleineund mittlere Unternehmen“? Ich verstehe das nicht, undich bin mir sicher, die kleinen und mittleren Unterneh-men in unserem Land verstehen das auch nicht.
Ein Wort zum Optimismus. Ich glaube, der Optimis-mus in Ihrem Etatentwurf bezieht sich hauptsächlich da-rauf, dass diese globale Minderausgabe irgendwie er-wirtschaftet wird. Im Folgejahr 2014 gehen Sie sogardavon aus, dass Sie in diesem Haushalt irgendwo110 Millionen Euro sparen werden. Sie wissen nur nicht,wo. Das ist kein Haushaltsplan. Das ist Planlosigkeit.
Ich kann Ihnen auch sagen, warum Sie für 2014 eineglobale Minderausgabe von 110 Millionen einstellen.Sie verschieben damit die Konsolidierungsbemühungenin die Zukunft, weil Sie dann nicht mehr an der Regie-rung sind, und dann wird eine andere Regierung schauenmüssen, woher dieses Geld kommt und wie der Wirt-schaftsetat zur Konsolidierung in diesem Haushalt bei-trägt.
Abschließend noch ein Wort zur Europapolitik. Ichhabe im letzten Jahr außer einer Reise nach Griechen-land von Ihnen nicht viel positive Akzente Ihres Hauseserkennen können, was Europapolitik betrifft. Wenn wirüber Optimismus reden, dann hätte ich mir persönlichgewünscht, dass gerade der BundeswirtschaftsministerOptimismus in Europa verbreitet und sagt: Ja, gemein-sam schaffen wir das. Gemeinsam schaffen wir wirt-schaftliche Perspektiven und Investitionen für Staatenwie Portugal, Spanien und Griechenland. – Ich hätte mirgewünscht, dass Sie eben nicht Vokabeln wie: „Ein Aus-tritt Griechenlands aus der Euro-Zone hat seinen Schre-cken verloren“ in den Mund nehmen. Das ist einer deut-schen Bundesregierung nicht würdig.
Meine Damen und Herren, Herr Minister, wir werdenSie in den anstehenden Haushaltsberatungen treiben.Wir werden alles daransetzen, dass in diesem Wirt-schaftsetat die richtigen Schwerpunkte gesetzt werden,dass sich unser Land für die wahren Herausforderungender Zukunft fit macht, dass wir dann wirklich sagen kön-nen: Die Wirtschaftspolitik in Deutschland verbreitetFortschritt, Chancen und Optimismus. Ehrlich gesagt,bin ich mir aber nicht sicher, ob das mit Ihnen als Minis-ter noch gehen wird.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Joachim Pfeiffer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die christlich-liberale Regierung liefert.
– Das sage ich Ihnen. – Deutschland gelingt nämlich das,was in ganz Europa dringend notwendig ist: gleichzeitigzu konsolidieren und zu wachsen.Für die Konsolidierung sind die Weichen richtig ge-stellt. Die Schere zwischen den Einnahmen und denAusgaben, die sich seit 40 Jahren, egal welche Regie-rung im Bund verantwortlich war, immer weiter öffnete,schließt sich. Die Ausgabenquote, also der Anteil derAusgaben am Bruttoinlandsprodukt, sinkt von 11,9 Pro-zent in 2012 auf 11 Prozent in 2013 und auf 10,5 Prozent
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Dr. Joachim Pfeiffer
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bis 2016. Die Kreditfinanzierungsquote, also der Anteilder Neuverschuldung an den Ausgaben, sinkt von10,3 Prozent in 2012 auf 6,2 Prozent in 2013 laut Planund geht bis spätestens 2016 auf null zurück.Das heißt, die Kriterien der Schuldenbremse, dienicht nur in Deutschland gelten, sondern auch in ganzEuropa eingeführt werden, werden von uns mindestenszwei Jahre früher erfüllt als vorgeschrieben.Auch die relative Verschuldung geht zurück, weil esuns gelingt, durch mehr Wachstum zu einer Reduktionihres relativen Anteils am BIP zu kommen. Wir habengute Chancen, bei der Gesamtverschuldung unter dieMarke von 80 Prozent zu kommen. Damit haben wir denWeg zurück in Richtung Einhaltung der Maastricht-Kriterien, die ja eine Gesamtverschuldungsquote vonmaximal 60 Prozent vorsehen, eingeschlagen.Das ist die Bilanz von CDU/CSU und FDP. Ein Endeder Neuverschuldung und der Einstieg in den Schul-denabbau werden nicht nur angekündigt, sondern reali-siert,
und zwar, auch wenn wir heute über den Bundeshaushaltreden, nicht nur im Bund, sondern auch dort, wo CDU/CSU und FDP in den Ländern Verantwortung tragen,beispielsweise in Bayern und Sachsen.
Diese Länder gehen jetzt auch den Schuldenabbau anbzw. haben die Neuverschuldung bereits auf null redu-ziert.Wie sieht aber die Situation in den Ländern aus, woRot und Grün Verantwortung tragen? Es ist schon ver-wunderlich:
Im letzten Jahr haben Sie uns bei den Haushaltsberatun-gen noch gesagt, wir würden das Land kaputtsparen; wirsollten nicht so viel sparen, sondern mehr ausgeben unddie Konjunktur auf Pump stimulieren.
Das machen Sie nun in den Ländern, wo Sie Verantwor-tung haben. In Nordrhein-Westfalen ist Frau Kraft dieSchuldenkönigin. Noch nie hat ein Land eine so hoheNeuverschuldung erreicht, wie es in Nordrhein-Westfa-len in diesem Jahr der Fall ist.
Herr Kollege Dr. Pfeiffer, aus der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gibt es eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Lindner. Würden Sie sie zulassen?
Mit Vergnügen.
Also sogar mit Vergnügen. – Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege, wobei ich nicht weiß, ob
Ihnen das wirklich Vergnügen bereitet.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie eben
auf die Reihen der Opposition und damit auch auf meine
Fraktion bezogen gesagt, wir hätten im letzten Jahr in
den Haushaltsberatungen gefordert, man solle nicht so
viel sparen, sondern mehr Geld ausgeben. Sind Sie be-
reit, zur Kenntnis zu nehmen, dass meine Fraktion im
Rahmen der Haushaltsberatungen Anträge eingebracht
hat, die, wenn man diesen Anträgen gefolgt wäre, zu ei-
ner Nettoneuverschuldung geführt hätten, die um 4 Mil-
liarden Euro geringer gewesen wäre
als der dann vom Deutschen Bundestag beschlossene
Haushaltsplan?
Ich bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen.
Ich nehme auch zur Kenntnis, dass Sie außerdem An-
träge eingebracht haben, die das Gegenteil dessen bewir-
ken, indem Sie an der Ausgabenschraube drehen.
Ich bin auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Sie
dort, wo Sie Verantwortung tragen, nämlich in Baden-
Württemberg, das Gegenteil dessen tun, was Sie hier
vollmundig ankündigen.
– Sie dürfen ruhig noch stehen bleiben. Ich beantworte
noch Ihre Zwischenfrage. Das sollte mir nicht auf die
Redezeit angerechnet werden.
Nein, das mache ich nicht. Der Kollege weiß, was er
zu tun hat.
Bei der Vorgängerregierung in Baden-Württemberggab es 2008/2009 erstmalig keine Neuverschuldung,
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Dr. Joachim Pfeiffer
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sondern einen ausgeglichenen Haushalt. Baden-Würt-temberg ist in die Schuldenreduzierung eingestiegen.Aber was machen Sie unter grüner Führung in Baden-Württemberg? Sie haben erst einmal die Rücklagen auf-gebraucht, die die Vorgängerregierung dort hinterlassenhat. Dann haben Sie einen neuen Doppelhaushalt vorge-legt und gesagt, Sie könnten den Haushalt nicht ausglei-chen und wollten bis 2020 neue Schulden machen. Fürden neuen Doppelhaushalt wollen Sie 1,5 MilliardenEuro neue Schulden machen, und dann spricht FrauAndreae hier vom Sparen. Wer genau hingesehen hat,hat gemerkt, dass sie rote Ohren bekommen hat.
Denn das hat mit der Realität dort, wo Sie Verantwor-tung haben, nichts zu tun.
Was Sie unter Sparen verstehen, sind Steuererhöhun-gen und Neuverschuldung. In Baden-Württemberg istdas der Fall. Sie führen Baden-Württemberg zusammenmit der SPD in die Liga von Bremen, was die Verschul-dung anbelangt.
Wir hatten in Baden-Württemberg zwei Haushalte ohneVerschuldung hinterlassen und mit dem Schuldenabbaubegonnen. Sie sagen: Bis 2020 werden wir neue Schul-den machen und keine ausgeglichenen Haushalte vorle-gen. – Das ist Ihre Politik.
Herr Kollege Dr. Pfeiffer, ich gehe davon aus, dass
Sie jetzt die Frage beantwortet haben.
Vielleicht hat er noch eine weitere Zwischenfrage.Schauen wir mal.So weit zum Thema Verschuldung und zu dem, waswir leisten, und zu dem, was Sie ankündigen und wasSie dann dort, wo Sie Verantwortung tragen, abliefern.Jetzt zum Thema Wachstum. Wir sind erfreulicher-weise – anders als andere Länder in Europa – nicht nurschneller aus der Krise herausgekommen. Vielmehr hat-ten wir 2010 und 2011 das höchste Wachstum seit derWiedervereinigung zu verzeichnen. Vor wenigen Tagenhaben die Statistiker – die wenigsten dürften das regis-triert haben – das Wachstum von 2010, das bislang auf3,7 Prozent beziffert wurde – das war sowieso schonsehr hoch –, nachträglich auf 4,2 Prozent nach oben kor-rigiert. 4,2 Prozent Wachstum in 2010! Der Einbruchvon knapp 5 Prozent im Jahr 2009 wurde also nochschneller kompensiert, als wir das bislang angenommenhatten. 2011 betrug das Wachstum 3 Prozent. Trotz allerSchwierigkeiten, die wir haben – ich freue mich wirklichnicht über Schwierigkeiten, die das Wachstum beein-trächtigen –, und der einen oder anderen dunklen Wolkeam Horizont besteht die Chance, dass dieses Jahr eine 1vor dem Komma beim Wachstum steht und Deutschlandan der Spitze in Europa bleibt.Nicht nur die Wirtschaft wächst, sondern auch die Be-schäftigung; der Bundeswirtschaftsminister hat es ein-gangs bereits angesprochen. Nicht nur die Arbeitslosen-quote, die immer gerne herangezogen wird, istentscheidend, sondern auch die Zahl der Beschäftigten.Es sind so viele wie nie zuvor. Über 41,5 MillionenMenschen sind in dieser Republik in Lohn und Brot.Alle 60 Sekunden entsteht ein neuer Job in Deutschland.Was hat dies zur Folge? Philipp Rösler hat darauf hinge-wiesen, dass seit 2009 1 Million neue sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstandensind. Ich gehe bis 2005 zurück, als die rot-grüne Regie-rungszeit endete: Seitdem sind sogar 2 Millionen neuesozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisseentstanden.
Das ist das Gegenteil dessen, was uns Herr Heil immerversucht einzureden. Er behauptet ja, es habe vor allenDingen einen Aufwuchs im Niedriglohnbereich und beiden prekären Beschäftigungsverhältnissen gegeben. DasGegenteil ist der Fall. Der Hauptzuwachs findet bei densozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhält-nissen statt.Im Übrigen hat der Niedriglohnsektor – so wird ermanchmal ja bezeichnet, um auszudrücken, dass es sicheigentlich um etwas Schlechtes handelt – durchaus seinepositiven Seiten, Herr Kollege Heil. Er bedeutet für diemeisten den Einstieg in den Aufstieg. Viele schaffen ausdem Niedriglohnsektor heraus den Wiedereinstieg in so-zialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsverhältnisse.24 Prozent schaffen innerhalb eines Jahres den Über-gang in eine besser bezahlte Tätigkeit. Die Wahrheit ist:Für jemanden, der im Niedriglohnsektor beschäftigt ist,sinkt die Wahrscheinlichkeit, zum armutsgefährdetenPersonenkreis zu zählen, von 60 Prozent auf nur noch16 Prozent.
Der Niedriglohnsektor stellt also eine Brücke, eine Auf-stiegsmöglichkeit dar. Lassen Sie uns das also nichtschlechtreden! Lassen Sie uns dies als Chance nutzenund diesen Weg weiter beschreiten!Auch die Langzeitarbeitslosigkeit, von der Sie vorhingesprochen haben, ist zurückgegangen. So ist die Zahlder Langzeitarbeitslosen von 1,7 Millionen Menschenim Jahr 2007 auf rund 1 Million im letzten Jahr gesun-ken.Herr Heil, sehen Sie es mir nach: Sie reden noch im-mer von der Agenda 2010. Diese war gut und richtig,
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und wir haben sie auch unterstützt. Aber das liegt schonzwei Jahre zurück.
Wir schreiben nun das Jahr 2012. Sie versuchen nochimmer, rückwirkend die Agenda 2010 zu korrigieren,weil Sie sich der Vaterschaft zum Teil nicht mehr be-wusst sind.
Wir arbeiten heute aber an der Agenda 2030.
Wir investieren in die Zukunft dieses Landes, gleicher-maßen in Forschung und Entwicklung wie in den Ar-beitsmarkt.
Lassen Sie mich Forschung und Entwicklung als Bei-spiel nennen. Die Union investiert in die Zukunft desLandes, in die Tüftler und Denker. Im Durchschnitt wirdin dieser Legislaturperiode so viel wie nie zuvor für For-schung und Entwicklung ausgegeben: 13,5 MilliardenEuro pro Jahr. Das bedeutet im Vergleich zu 2005, alsdie rot-grüne Regierung endete, eine Steigerung vonüber 50 Prozent. So sieht die Zukunftspolitik aus, die wirbetreiben.
Wir investieren in den innovativen Mittelstand. Wirhaben das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstandmit einem Volumen von über 500 Millionen Euro verste-tigt. Für die Schaffung von Arbeitsplätzen gilt hier derFaktor 3. Wir investieren in die Forschungsinfrastrukturund in moderne Verkehrstechnologie, egal ob in der ma-ritimen Wirtschaft oder in der Luftfahrtindustrie. Wirinvestieren in moderne Informations- und Kommunika-tionstechnologie und in die Gründung neuer Unter-nehmen. „Gründen, Wachsen, Investieren“ lautet unsereMaxime. Im Haushalt des BMWi wird die Gründungneuer, innovativer Unternehmen mit 83 Millionen Eurounterstützt. Erstmalig – auch das hat der Bundeswirt-schaftsminister eingangs angesprochen – engagiert sichder Bund auf dem Markt für Wagniskapital bis 2016 mit150 Millionen Euro.Das heißt, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit nimmtdurch diese Investitionen zu. Es gelingt aufgrund dieserWettbewerbsfähigkeit, Wachstum zu generieren, und da-durch werden neue Arbeitsplätze für die Menschen indiesem Land geschaffen. Dabei belassen wir es abernicht. Auch auf dem Arbeitsmarkt gibt es neue Heraus-forderungen. Ich nenne die demografische Entwicklung.7,5 Millionen Menschen werden bis zum Jahr 2025 feh-len. Die Menschen, die dann nicht zur Verfügung stehenwerden, sind die, die heute nicht geboren werden. Wirmüssen also die Vereinbarkeit von Familie und Berufverbessern.
Wir können uns nicht mehr leisten, auf ältere Arbeitneh-mer zu verzichten oder junge Menschen ohne Abschlusszu lassen. Wir arbeiten daran. Wir stärken auch die Bin-nennachfrage durch eine Erhöhung der Kaufkraft. Diekalte Progression und anderes ist angesprochen worden.Sie halten unsere Bemühungen auf. Sie wollen Steuernerhöhen, während wir den Menschen mehr von demLohn belassen wollen, den sie für ihre Arbeit bekom-men. Sie blockieren im Bundesrat 6 Milliarden Euro, diewir den Menschen zurückgeben wollen.
Wir als christlich-liberale Koalition werden diesenWachstumspfad konsequent weitergehen. Ich fordere Sieauf, nicht am Wegesrand als Wegelagerer zurückzublei-ben, sondern konstruktiv diese Karawane in die Zukunftzu begleiten, damit Deutschland vorankommt und wirdie Probleme, die wir in Europa haben, gemeinsam lösenkönnen. So wie Deutschland gestärkt aus der Krise he-rausgeht, soll auch Europa die Chance haben, erfolgreichund gestärkt aus der Krise herauszukommen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Joachim Pfeiffer. – Nächs-
ter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unser Kollege Wolfgang Tiefensee.
Bitte schön, Kollege Wolfgang Tiefensee.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Beim Einzelplan 09 wird über dieAntwort des Bundeswirtschaftsministers auf die drän-genden Fragen unserer Zeit diskutiert. Gibt es tatsäch-lich, sehr verehrter Herr Dr. Pfeiffer, irgendetwas Ähnli-ches zur Agenda 2010, also eine Agenda 2020 oder2030, oder gibt es das nicht? Aus den eigenen Reihenschallt Ihnen, Herr Rösler, entgegen: Wer ein Papier, das30 Jahre alt ist, zum Erweckungsmanifest erklärt, musssich gefallen lassen, dass ihm der fatale Vorwurf ge-macht wird, dass er inhaltlich eine Schwäche habe. –Man kann dem, was Herr Kubicki unlängst gesagt hat,nur zustimmen. Man kann zu ihm stehen, wie man will,aber schaut man sich den Einzelplan 09 an, dann stelltman nur Fehlanzeige bei Antworten auf die große Frageder Energiewende fest. Auch Antworten auf die Fragender europäischen Integration und der Schuldenkrise wer-den aus dem Bereich Wirtschaft nicht gegeben. Es gibtkeine Antwort auf die Frage, wie wir die Binnennach-frage stärken. Es gibt kaum Antworten auf die Frage der
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Wolfgang Tiefensee
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Fachkräftesituation. Dasselbe gilt für Fragen der Finan-zierung des Mittelstands. Wir als Opposition müssen sa-gen: In all diesen zentralen Punkten gibt es keine klareAntwort, geschweige denn eine Vision des Bundeswirt-schaftsministers.
Herr Hinsken, wenn wir in die Vergangenheit schauenund auf die Reformen, die unter Rot-Grün mühevolldurchgesetzt wurden, und das mit dem, was die schwarz-rote Koalition auf den Weg gebracht hat, vergleichen,dann soll das keine Selbstbeweihräucherung sein; wirwollen vielmehr deutlich machen, dass es ähnlicher An-strengungen bedarf, um den Herausforderungen vonheute gerecht zu werden. Man kann sich nicht auf denErfolgen von früher ausruhen. Man kann nicht so weiter-wurschteln und glauben, dass man den zentralen Anlie-gen, die speziell die Wirtschaft, aber auch die Gesell-schaft insgesamt hat, gerecht wird. Dass Sie sich soverhalten, das ist unser zentraler Vorwurf.
Die wirtschaftliche Situation ist schwierig. Wenn Siesich nur auf den Vorhaben ausruhen, die wir in der Ver-gangenheit eingeleitet haben, dann werden Sie denAnforderungen nicht gerecht. Ich möchte das an vier si-gnifikanten Bereichen deutlich machen, von denen dieWirtschaft, wie der BDI in einer Umfrage festgestellthat, meint, wir müssten sie im Hinblick auf eine guteZukunft in den Griff bekommen. Der BDI sagt:Erstens. Kümmern Sie sich um die Rohstoff- undEnergiepreise.Zweitens. Kümmern Sie sich um die europäischenHerausforderungen.Drittens. Die Unternehmen erwarten, dass die Bin-nennachfrage gestärkt wird.Viertens. Beziehen Sie Stellung zur Fachkräftesitua-tion.In all diesen Bereichen versagt die Bundesregierung.Ich möchte das in der gegebenen Zeit kurz an einzelnenBeispielen durchdeklinieren.Sehr verehrter Herr Minister, wir haben als Erstes diegroße Frage der Energiewende zu bewältigen. Das isteine zentrale Aufgabe; sie beinhaltet gleichzeitig eineChance für die Zukunft. Wir könnten mit der Energie-wende der Industrie, dem Mittelstand, aber auch denBeschäftigten, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern, eine positive Zukunft geben. Doch was sehen wir?Gibt es bei Ihnen einen Masterplan? Fehlanzeige! Wirhaben mit unserem energiepolitischen Konzept einenFahrplan aufgestellt, der Ihnen handlungsleitend seinkönnte. Nutzen Sie diese Zuarbeit. Bisher ist da beiIhnen ja ein weißer Fleck.Ein weiteres Thema. Wir müssen die Netze ausbauen.Wo bleiben von Ihrer Seite die Incentives? Die Entwick-lung innovativer Technologien im Bereich der regenera-tiven Energien im Mittelstand soll gefördert werden. Wobleiben dort die Impulse? Stattdessen erleben wir nichtsanderes als Chaos zwischen mindestens zwei, wennnicht sogar vier Ministerien. Als die Frau Bundeskanzle-rin gestern in ihrer Rede andeutete, dass jetzt die nötigenStrukturen geschaffen würden, damit Bund und 16 Bun-desländer endlich in diesem Punkt zusammenarbeiten,fragte ich mich: Bedarf es erst des Herbstes 2012, umauf diese Idee zu kommen? Müssten wir nicht schonlängst einen Rat haben, der alles vereinigt und der dieseunterschiedlichen Konzepte auf einen Nenner bringt?Fehlanzeige bei der Bundesregierung! Fehlanzeige beimBundeswirtschaftsminister! So kann es nicht weiter-gehen.
Greifen wir uns als weiteren Punkt die Frage heraus:Wie gehen Sie mit den europäischen Themen um? HerrBundeswirtschaftsminister, sind Sie eigentlich in derletzten Zeit mit den Vertretern kleiner und großer Unter-nehmen unterwegs gewesen, und zwar nicht nur in denLändern, in denen wir schon ein gutes Standing haben?Werben Sie eigentlich wie Ihre Vorgänger, egal welcherCouleur – neben der Aufgabe, die Sie zweifelsohne hierin Deutschland haben: die FDP irgendwie voranzubrin-gen –, außerhalb Deutschlands für unsere Unternehmen,und helfen Sie dabei, Aufträge zu generieren? Fehlan-zeige im Bereich der Außenwirtschaft! Ich kann nichterkennen, dass Sie tatsächlich eine Vision haben, wiehier die deutsche Wirtschaft aufgestellt werden soll.Das Gleiche gilt für Ihren Umgang mit der Finanz-krise und beispielsweise Ihren Blick auf Griechenland.Wie wollen Sie eigentlich Investoren animieren, inbetroffene Länder wie Griechenland zu gehen?
Wie wollen Sie eigentlich das Programm für Wachstumund Beschäftigung, das dank der SPD in Deutschlandund dank der Sozialisten in Frankreich in den Fiskalpakthineinverhandelt wurde, umsetzen? Wie soll es zu einerAnkurbelung der Investitionen, zu einem Investmentvon Unternehmen, auch deutscher, in betroffenen Län-dern wie Griechenland kommen, wenn Sie gleichzeitig,wie in Ihrem Sommerinterview, immer wieder davonschwätzen, dass Griechenland ruhig aus der Euro-Zoneausscheiden könne?
Das ist keine klare Linie. Dies schädigt nicht nur diedeutsche Wirtschaft, sondern insbesondere auch diebetroffenen Staaten.Sie haben dann gesagt, dass die gestrige Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts Ihnen und Ihrer Argu-mentation zupasskommt und dem Standpunkt der Oppo-sition zuwiderläuft. Damit liegen Sie völlig falsch. Siewissen genau, dass die Staatsanleihenkäufe der EZB und
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dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts gerade aufunserer Linie liegen. Der Ankauf von Staatsanleihenwiderspricht eindeutig dem, was Sie über die sogenannterote Linie hinsichtlich einer gemeinsamen Schuldenhaf-tung gesagt haben. Sie sind über die von Ihnen selbstgezogene rote Linie gegangen. Verdummen Sie nicht dieBevölkerung und sagen Sie endlich klar: Wir brauchensowohl eine gemeinsame Haftung und ein gemeinsamesAuftreten gegenüber denen, die unseren Finanzmarktbedrohen, als auch Incentives, damit diese Staaten wie-der Wirtschaftskraft erlangen und vorankommen.Das dritte Thema, das ich ansprechen möchte, ist dasThema der Binnennachfrage. Auch hier: Fehlanzeige!Ich möchte das, was mein Kollege Brandner angespro-chen hat, noch einmal ausführen, Herr Hinsken; denn Siehaben die entsprechende Frage nicht beantwortet. Siehaben gesagt, Sie werden als CDU/CSU oder als FDPdem Minister Beine machen, auf dass er bei der GRWzulegt. Im Haushalt stehen aber andere Zahlen: 2011waren es 610 Millionen Euro, 2012 waren es 596 Millio-nen Euro, und 2013 stehen dort bloß 569 Millionen Euro.Das ist die Wahrheit. Das heißt, Sie fahren die GRW – fürdie Damen und Herren auf den Rängen: Das ist ein Pro-gramm für die regionale Wirtschaftsförderung – nach un-ten. Gleichzeitig – auch das wissen Sie – läuft die Inves-titionszulage 2013 aus, die wir im Osten Deutschlandsdringend brauchen und die dann durch die GRW kom-pensiert werden müsste. Das ist ein deutliches Zeichendafür, dass in dem Bereich der Binnennachfrage nichtsgeschieht.
Herr Kollege Tiefensee, ich wollte Sie fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage unseres Kollegen Dr. Joachim
Pfeiffer zulassen.
Ja.
Bitte schön, Kollege Joachim Pfeiffer.
Lieber Kollege Tiefensee, Sie sagen, im Zusammen-
hang mit der Binnennachfrage würde nichts unternom-
men. Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, wovon ich eigent-
lich ausgehe, dass neben dem Export, der in den
vergangenen Jahren die tragende Säule des Wirtschafts-
wachstums war, bereits im letzten Jahr auch die Binnen-
nachfrage mindestens in gleicher Höhe zum Wachstum
in Deutschland beigetragen hat und in diesem Jahr wahr-
scheinlich sogar einen höheren Wachstumsbeitrag leis-
ten wird?
Der Grund dafür ist ja, dass durch die eingeleiteten
Maßnahmen und durch die dadurch eingetretene verbes-
serte Wettbewerbsfähigkeit jetzt auch die Löhne steigen,
und zwar beschäftigungsorientiert. Dadurch wird mehr
Binnennachfrage generiert, beispielsweise auch dadurch,
dass aufgrund dieser Entwicklung auch die Renten stei-
gen. Wir befinden uns also in einem positiven Prozess;
er wäre anders verlaufen, wenn all das nur auf staatli-
chen Ausgaben beruhte, die auch noch kreditfinanziert
wären.
Herr Dr. Pfeiffer, mir sind die Zahlen selbstverständ-
lich bekannt. Mir ist bekannt, dass wir als Exportnation
auch im Binnenmarkt stark sind. Dies ist aber genau die
Diskussion, die ich vorhin angesprochen habe. Die Frage
ist: Können wir uns auf einer bestimmten Quote der Bin-
nennachfrage im Verhältnis zur Exportrate ausruhen,
oder müssen wir Incentives setzen, um hier voranzu-
kommen?
Sie sehen genauso wie ich, dass mittlerweile zum Bei-
spiel Ford in Köln, Opel in Bochum und auch VW nicht
nur im Ausland, sondern auch im Inland Absatzrück-
gänge haben, also dass dunkle Wolken am Himmel auf-
ziehen. Die Frage lautet nun lediglich: Was spiegelt sich
an Maßnahmen und von mir aus auch an Visionen in
konkreten Haushaltstiteln im Haushalt des Wirtschafts-
ministers wider? – Hier kann ich nichts erkennen. Die
Titel, die Investitionen beinhalten, zum Beispiel für die
GRW – andere kann ich gern noch benennen –, werden
gekürzt. Das heißt, man setzt letztlich auf eine Entwick-
lung, die nicht durch den Bundeshaushalt getrieben wird,
sondern die irgendwie zwangsläufig entsteht. Das kann
nicht die Antwort des Bundeswirtschaftsministers sein.
Herr Kollege Tiefensee, der nächste Fragesteller will
sich äußern. Ihre Entscheidung ist, ob Sie die Frage des
Kollegen Ernst Hinsken zulassen.
Es wäre unverzeihlich, Herrn Hinsken nicht das Wort
zu geben. So kann er noch einmal über die rote Laterne
sprechen.
Mal schauen, was er fragt.
Ich kann mir vorstellen, dass Sie das alle irritiert hat,als ich Sie daran erinnerte, wie das vor zehn Jahren war.Verehrter Herr Kollege Tiefensee, meine Frage be-zieht sich auf das, was Sie eben hier ausgeführt haben.Ich habe dem Kollegen Brandner, was den Haushalts-ansatz für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derregionalen Wirtschaftsstruktur“ anbelangt, geantwortetund in meiner Rede gesagt, dass es 33 Millionen Euromehr sind als vorher. Ich habe dies bewusst vor demHintergrund gesagt, dass hier auch KonversionsmittelBerücksichtigung finden müssen, die für zu schließendeBundeswehrstandorte zur Verfügung gestellt werden.Wenn Sie diese Mittel, die dazugehören, mitzählen, dannkommen Sie auf einen Betrag, der 33 Millionen Euroüber dem liegt, den wir momentan haben. Das möchteich hier ausdrücklich feststellen. Sind Sie bereit, dies zurKenntnis zu nehmen?
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23090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Ernst Hinsken
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Das war die Frage des Kollegen Hinsken.
Wir haben also jetzt ein Rechenspielchen darüber,
welche Positionen von früher verschoben werden, damit
ein Mehr an Mitteln für die GRW herauskommt. Ich will
mir das gern noch einmal anschauen.
Die Haushaltsansätze für die GRW an sich, die bezo-
gen auf die Jahre 2011, 2012 und 2013 vergleichbar sind,
bewegen sich in dem Rahmen, den ich genannt habe.
Wir können die Zahlen gern noch einmal vergleichen: Es
sind 610, 596 und 569 Millionen Euro. Das ist die Zah-
lenreihe, die wir kennen. Vielleicht rechnen Sie andere
Positionen dazu. Zumindest zeigt das die Entwicklung,
die es bei der klassischen GRW gibt.
Ich sage noch einmal, Kollege Hinsken – das wissen
Sie genauso gut wie ich –: Die Investitionszulage, die in
den letzten Jahren zu der GRW hinzugekommen ist, fällt
im Jahre 2013 weg. Darauf wird nicht reagiert. Wir soll-
ten dort aber, statt zu sparen und Geld wegzunehmen
und damit Investitionen zu verhindern, eher einen Auf-
wuchs vornehmen. Ich hoffe, dass wir in den Diskussio-
nen bis zur letzten Lesung doch noch zueinanderkom-
men.
Ich wollte, meine sehr geehrten Damen und Herren,
noch einmal auf das Thema Binnennachfrage zu spre-
chen kommen.
Die Forschungsförderung ist ein Thema, das dazu
gehört. 24 von 36 OECD-Staaten, 15 Länder der Euro-
päischen Union verfügen über eine solche Forschungs-
förderung. Dass sie auch hier eingeführt werden soll,
steht irgendwo versteckt in der Koalitionsvereinbarung.
Warum wird das nicht umgesetzt?
Schließlich gehört zur Binnennachfrage auch, dass
wir über angemessene Löhne nachdenken. Hier kommt
die Frage auf den Tisch: Was tut diese Bundesregierung,
was tut der Wirtschaftsminister, damit mehr Geld im
Portemonnaie der Leute übrigbleibt – ganz analog zu
dem, was Sie zu Anfang Ihrer Regierungszeit gesagt
haben?
Die SPD fordert nachdrücklich, endlich den Mindest-
lohn einzuführen, damit wir sowohl die Binnennach-
frage stärken als auch das Problem der Altersarmut lösen
helfen. Meine Damen und Herren, handeln Sie hier end-
lich, damit wir vorankommen!
– Diese Blockade, dieser Widerstand – der Kollege hat
die Gebäudesanierung angesprochen – gründet darauf,
dass der Bundesfinanzminister nicht bereit ist, den Län-
dern in den Verhandlungen so weit entgegenzukommen,
dass die über Gebühr belasteten Länderhaushalte nicht
auch noch diese Last tragen müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser
Haushalt ist ein Armutszeugnis, ein Hin und Her, ein
Sowohl-als-Auch, es wird ein Zickzackkurs gefahren,
der sich sowohl in der Energiepolitik als auch im euro-
päischen Bereich bis hin zu Fragen der Binnennachfrage
und der Fachkräftesituation widerspiegelt.
Herr Bundeswirtschaftsminister, nutzen Sie die
nächsten Wochen, um hier entscheidend nachzubessern!
Ansonsten werden Sie Ihrer Aufgabe und vor allen
Dingen den Anforderungen, die jetzt vor Deutschland
stehen, nicht gerecht.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Tiefensee. – Nächs-
ter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte
schön, Kollege Dr. Georg Nüßlein.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Unsere außerordentliche Wettbe-werbsfähigkeit hat zu einem zweiten deutschen Wirt-schaftswunder geführt. Ich will hier nicht ausführen, wiefragil das alles ist. Das haben wir zur Kenntnis genom-men; das wissen wir. Ich will auch nicht die fleißigenArbeitnehmer und Arbeitgeber loben, die täglich zu die-ser Wettbewerbsfähigkeit beitragen. Auch das ist etwas,was bekannt ist. Ich will auch nicht den politischen Rah-men, der letztendlich die Voraussetzung dafür schafft,loben, weil sonst sofort wieder das Parteiengezänk los-geht, wer denn welchen Beitrag dazu geleistet hat.Ich will an dieser Stelle einmal versuchen, ein paarBesonderheiten der deutschen Wirtschaft herauszuarbei-ten, und Akzente setzen, die aus meiner Sicht letztend-lich in eine Agenda 2020 eingehen müssen.
Wir müssen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen,dass Deutschland die letzte echte Industrienation inner-halb der Europäischen Union ist. Darauf müssen wirunser politisches Handeln abstellen. Wenn man in Brüs-sel REACH, die europäische Chemikalienverordnung,verhandelt, wenn man demnächst über den Emissions-handel redet, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23091
Dr. Georg Nüßlein
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die anderen EU-Staaten Industrie und Wirtschaft anderssehen als wir aufgrund eigener Betroffenheit.Meine Damen und Herren, auch wenn man über dieStrompreise in Deutschland redet, muss man die Indus-trie im Auge haben. Ich finde Folgendes schon bemer-kenswert, Frau Kollegin Andreae: Sie haben bei einerEEG-Umlage von 0,2 Cent je Kilowattstunde gesagt,dass man die Differenz ausgleichen und die energiein-tensiven Branchen in Deutschland von der EEG-Umlageentlasten muss – vollständig richtig. Jetzt kommt Ihr La-mento, wir hätten die Zahl derjenigen, die in den Genussdieser Freistellung kommen, verzehnfacht. Ja – nur hatsich die EEG-Umlage in der Zwischenzeit verfünfzehn-facht.
Da ist es doch vollständig richtig, dass man jetzt endlichzusätzliche Branchen mit einbezieht, die heute noch in-tensiver von dieser Umlage betroffen sind. Deshalbmacht das Sinn, was wir an der Stelle getan haben,meine Damen und Herren. Deshalb macht es auch Sinn,dass wir in Zukunft weiterhin dafür Sorge tragen, dassman sich die Energiepreise in Deutschland noch leistenkann.Die zweite Besonderheit. Wir haben in unserem Landmittelständische Strukturen wie in keinem anderen euro-päischen Land. Ich meine, auch darauf sollte man den Fo-kus richten. Nun möchte ich darauf hinweisen, dass imHaushalt des Bundeswirtschaftsministeriums 756 Millio-nen Euro für die Förderung des innovativen Mittelstandesenthalten sind. Das ist auch in Zeiten, in denen man nurnoch über Milliarden spricht, viel Geld. Ich möchte michganz klar von Ihnen abgrenzen und darauf hinweisen,dass das, was Sie dem Mittelstand in Aussicht stellen, nurVermögensabgaben und Steuererhöhungen sind, und daswird diesem Bereich sicher nicht gerecht.
Eine dritte Besonderheit – dazu habe ich heute weniggehört – ist das duale Ausbildungssystem, das aus mei-ner Sicht geeignet ist, die Fachkräfteproblematik inDeutschland nachhaltig zu lösen. Ich habe von der lin-ken Seite nur Seltsames und Ideologisches gehört zumThema Bildung, zur Zwangsakademisierung und zurFrage, was man mit Blick auf die Chancengleichheit al-les machen müsste. Das duale Ausbildungssystem bietetder jungen Generation in einer ganz besonderen Art undWeise Chancen; es ist eigentlich der Kern für unsereWettbewerbsfähigkeit und für die gute Entwicklung aufdem Arbeitsmarkt. Deshalb würde ich mir wünschen,dass wir uns mehr Gedanken darüber machen, wie wirdieses System, auch im Kontext der internationalen bü-rokratischen Einordnungen, schützen können, und dasswir uns weniger Gedanken darüber machen, wie manden Anteil der Akademiker in diesem Land formal anhe-ben könnte. Das wäre gut für den Arbeitsmarkt. Es ist imÜbrigen auch gut und richtig, denjenigen, die das dualeAusbildungssystem durchlaufen haben, Wertschätzungentgegenzubringen.
Die vierte Besonderheit, die die deutsche Wirtschaftvon dem abhebt, was um uns herum stattfindet, ist diedeutsche Bankenwelt. Es ist nicht so – auch wenn manes in der Debatte vielleicht manchmal denken könnte –,dass wir hier von risikogetriebenen Großbanken domi-niert sind. Vielmehr ging die Stabilisierung, die wir inden letzten Jahren erlebt haben, auch von Sparkassen,Genossenschaftsbanken und Volksbanken aus, die ge-rade unseren Mittelstand in einer besonderen Art undWeise finanzieren. Ich weise deswegen ausdrücklich da-rauf hin, weil ich in Sorge bin, dass wir bei all dem, waswir hinsichtlich der Regulierung der Finanzmärkte, derFrage einer Bankenaufsicht in Brüssel und Basel III dis-kutieren, genau diese Struktur vernachlässigen und die-jenigen unter Kuratel stellen, die nichts für die Fehlent-wicklungen können.
Ich sage auch: Wenn wir den Blick für die Strukturder kleinen Banken verlieren, werden wir die Mittel-standsfinanzierung maßgeblich beschädigen. Deshalbsollten wir diesen Aspekt unbedingt im Auge behalten.Wenn ich über die Finanzwelt spreche, Herr Heil, kannich mir angesichts Ihrer heutigen Haltet-den-Dieb-Redeeinen Seitenhieb nicht ersparen. Das war schon eigen-tümlich. Wer hat denn die Griechen in die Währungs-union aufgenommen? Die SPD. Wer hat die Finanz-märkte dereguliert? Die SPD und die Grünen. Wer hat denStabilitätspakt aufgeweicht? Die SPD und die Grünen.
Sie waren das, und Sie stellen sich heute hin und versu-chen, uns auch noch die europäische Schuldenkrise indie Schuhe zu schieben. Da hätte ich mir persönlich et-was mehr Demut von Ihrer Seite erwartet.
– Ich will es nicht umkehren und sagen, Sie seien an al-lem schuld. Das stimmt nun auch nicht.
– Nein. Sie sind nicht an der Schuldenkrise schuld. Ander Schulden- und Vertrauenskrise sind diejenigenschuld, die über Gebühr ihre Haushalte belasten undGeld ausgeben. Deshalb ist es aus meiner Sicht völligrichtig, dass wir durch Auflagen darauf drängen, dass dieeuropäischen Schuldenstaaten wieder zur Haushaltskon-solidierung zurückkehren.
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23092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
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Herr Kollege Dr. Georg Nüßlein, gestatten Sie eine
Zwischenfrage unseres Kollegen Hubertus Heil?
Gern.
Herr Kollege Nüßlein, Sie wissen, dass wir der Über-
zeugung sind, dass Sie durch das Nichthandeln Ihrer
Bundesregierung und durch diese merkwürdigen Ankün-
digungen während der Krise die Mitverantwortung dafür
tragen, dass die EZB dazu getrieben wurde, unbegrenzt
Staatsanleihen aufzukaufen.
Meine Frage an dieser Stelle ist einfach zu beantwor-
ten: Sind Sie der Meinung von Frau Merkel, dass es rich-
tig und gut ist, dass die EZB jetzt unbegrenzt Staatsan-
leihen aufkauft oder halten Sie das für so gefährlich wie
Ihr Generalsekretär Dobrindt? Also: Sind Sie für
Dobrindt oder für Merkel?
Ich frage deshalb, weil ich den Eindruck habe, dass
Sie in Bezug auf die europäische Schuldenkrise mit ge-
spaltener Zunge reden. In Europa treiben Sie Deutsch-
land immer stärker in die Haftung für Schulden anderer,
und in Deutschland tun Sie so, als wollten Sie das ver-
hindern. Das kostet Vertrauen, nicht nur auf den Märk-
ten, sondern auch in der Bevölkerung, weil die Men-
schen merken, dass die roten Linien, von denen Sie
immer sprechen, nichts anderes als Wanderdünen sind.
Sind Sie auf Dobrindt-Kurs, auf Merkel-Kurs, oder ha-
ben Sie einen eigenen Nüßlein-Kurs in dieser Sache?
Lieber Kollege Heil, erstens habe ich immer eine sehreigene Vorstellung von dem, was ich für richtig halte;das steht einem selbstbewussten Parlamentarier zu.Zweitens bin ich der Auffassung, dass das, was Sie ma-chen wollen, fatal wäre.
– Lassen Sie mich doch weiter antworten, ich sage auchgleich etwas zur EZB.Die Einführung des Euro hat den Euro-Staaten einegigantische Chance geboten, auf Grundlage niedrigerZinsen in Infrastruktur zu investieren und sich wirt-schaftlich voranzubringen.
Diese Chance wurde in vielen Staaten nicht genutzt.Stattdessen haben die niedrigen Zinsen dazu geführt,dass sie über Gebühr Schulden gemacht haben.
Das ist die Ursache der jetzigen Krise.Ihr Lösungsvorschlag ist: Wir probieren das Ganzenoch einmal, wir führen Euro-Bonds ein und vergemein-schaften damit alle Schulden. Wir lassen es noch einmalzu, dass die disziplinierenden Elemente wegfallen,
was dazu führt, dass manche Staaten eine höhere Bonitäterhalten – was zulasten unserer Bonität geht –
und mit niedrigen Zinsen wieder Schulden machen dür-fen.Deshalb ist der Weg von Angela Merkel völlig rich-tig; denn wenn man Maßnahmen beschließt, dann mussklar sein, dass es entsprechende Auflagen gibt, die erfülltwerden müssen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dassdiese Auflagen am Schluss auch eingehalten werden.
– Darauf komme ich doch gleich. Haben Sie noch zweiMinuten Geduld.
– Mit Verlaub, Sie müssen warten, bis ich zu diesemPunkt komme. Ihre Frage ist nicht so einfach zu beant-worten wie die, ob man dafür oder dagegen ist.Ich sage Ihnen ganz offen:
Ich habe ein Problem damit, dass die EZB in dieserWeise eingreift,
weil das dazu führt, dass die Zinsen in den Schuldnerlän-dern niedriger werden, und die Gewährung niedrigerZinsen – erstes Semester Volkswirtschaftslehre – führtdazu, dass mehr Geld ausgegeben wird.
Deshalb funktionieren die Maßnahmen nur, wenn manstrenge Auflagen daran knüpft und dafür Sorge trägt,dass die betroffenen Länder anfangen, zu sparen.
Das funktioniert längst noch nicht so. Deshalb sagen wirganz klar: nur konditioniert finanzieren über ESM undEZB; und Sie sagen: unkonditioniert, Schleusen öffnen,finanzieren, Zinsen senken und dafür sorgen, dass diebetroffenen Länder wieder Geld ausgeben können.
Das ist falsch.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23093
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Ich gehe jetzt davon aus, dass die Frage beantwortet
ist.
Ja, die Frage ist aus meiner Sicht beantwortet.
Gut, dann läuft die Redezeit jetzt normal weiter. Bitte
schön.
Wir können uns darüber gerne bilateral unterhalten,
aber ich kann schon jetzt sagen: Ihr Ansatz ist falsch. Als
wir vorhin darüber gesprochen haben, wie man die Kon-
junktur ankurbeln kann, hat Ihr Kollege Tiefensee auf
die Rolle der Binnennachfrage hingewiesen; so habe ich
ihn jedenfalls verstanden.
– Er kann ja nicht gemeint haben, man sollte einen Bei-
trag dazu leisten, dass die Menschen wieder mehr Netto
vom Brutto in der Tasche haben; denn sonst müsste er ei-
gentlich mit den Kollegen vom Bundesrat sprechen und
nicht mit uns. Das kann er also nicht gemeint haben. Er
hat ganz dezidiert geäußert, der Staat müsse wieder die
Konjunktur ankurbeln. Das ist aber Quatsch. Das muss
man einmal ganz klar sagen. Denn sonst müsste es den
Ländern, die Geld ausgeben und Schulden machen, blen-
dend gehen, und sie müssten wirtschaftlich top dastehen.
Das Gegenteil ist der Fall. Nehmen Sie doch zur Kennt-
nis, dass die Theorien von Keynes nur zur Hälfte funk-
tionieren.
Wenn es in Demokratien um das Geldausgeben geht,
dann funktioniert Keynes tipptopp. Wenn es aber darum
geht, in guten Zeiten zu sparen, klappt das nicht.
– Zumindest die Abwrackprämie war unnötig.
Ich bin der Auffassung, dass es vollständig richtig
und eine große Errungenschaft war, die Schuldenbremse
in das Grundgesetz zu schreiben. Ich habe darüber von
Ihnen heute nichts gehört, gar nichts. Man muss doch
einmal sagen können, dass das gut war und dass es für
die europäischen Länder beispielgebend ist. Es geht
nicht darum, irgendetwas zu vereinbaren oder in ein Ge-
setzblatt zu schreiben, was man morgen wieder ändert,
sondern es geht um die Einführung einer unabänderli-
chen Schuldenbremse.
Herr Kollege Dr. Nüßlein, geben Sie mir die Chance,
Sie zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wolfgang Tiefensee zulassen.
Ja.
Bitte schön, Kollege Wolfgang Tiefensee.
Sehr verehrter Herr Kollege Nüßlein, Sie haben ge-
rade ganz vehement gegen die Förderungen von Investi-
tionen durch die öffentliche Hand gesprochen.
Meine erste Frage: Haben Sie etwa gegen die Kon-
junkturprogramme der Bundesregierung gestimmt, die
wir sowohl im Bereich des Verkehrs als auch im Baube-
reich aufgelegt haben, um der Krise entgegenzuwirken,
und die nach meiner Auffassung eine segensreiche Wir-
kung hatten?
Meine zweite Frage: Meinen Sie nicht, dass wir ange-
sichts eines Investitionsstaus – Stichwort: Straßen, Schu-
len, Kindertagesstätten, Wasser- und Abwasserleitungen –,
aber auch im Hinblick auf die Stärkung der Binnennach-
frage neben dem Investment der privaten Wirtschaft
auch das Investment der öffentlichen Hand im Blick ha-
ben müssten? Es wäre deshalb sinnvoller, diesen Sektor
nicht zu verteufeln und sich nicht der Meinung der FDP
anzuschließen, dass der Staat ein teurer Schwächling sei.
Der Staat ist ein Akteur, der sowohl in Krisenzeiten
helfen kann als auch insgesamt die Aufgabe hat, die In-
frastruktur zur Verfügung zu stellen, die die Privatwirt-
schaft wiederum braucht. Sind Sie da mit mir einer Mei-
nung? Wenn ja, warum verteufeln Sie das dann?
Ich verteufele das in keiner Weise. Erstens bin ich derfesten Überzeugung – das wurde heute schon gesagt –,dass die Ausdehnung der Kurzarbeit das zentrale Instru-ment zur Krisenbewältigung war. Das haben wir ge-meinsam richtig gemacht.Zweitens spricht nichts dagegen, dass der Staat dort,wo ein Investitionsstau vorhanden ist, eingreift. Es sprichtalso nichts gegen staatliche Investitionen. Problematischwird es bei den Schulden, die man macht, um das Geldnicht in Investitionen und in die Zukunft, sondern in dieVergangenheit und in den Konsum zu investieren. LeiderGottes scheint das das Problem derjenigen Staaten zusein, die in Europa bisher in Schwierigkeiten sind. Das istdie Problemlage.Wenn ich Sie falsch verstanden haben sollte und Siestattdessen meinen, Investitionen seien notwendig, dannmüssen wir einmal auf europäischer Ebene klären, wa-rum die Strukturbeihilfen von diesen Ländern nicht ab-gerufen worden sind und im Gegenzug Schulden aufge-baut worden sind. Also: Dieses Geld ist offenbar nicht inInvestitionen, sondern in den Konsum geflossen. Ich
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23094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Dr. Georg Nüßlein
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muss Ihnen sagen: Es ist sinnvoll, Investitionen zu unter-stützen. Aber Schulden machen für Konsum ist falsch.
Das kann man aus meiner Sicht letztendlich nicht unter-stützen.Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Sätze zurThematik der Energiepolitik sagen, die hier auch eineRolle gespielt hat. Ich würde mir wünschen, dass wir,wenn wir ein gemeinsames Projekt wie die Energie-wende angehen, das etwas weniger wahltaktisch tun unduns gegenseitig weniger Vorwürfe machen, nach demMotto: Die einen wollen es nicht, die anderen können esnicht usw. – Ich weiß, das ist ein frommer Wunsch, dernicht in Erfüllung gehen wird, aber ich würde mir hierein bisschen mehr Problembewusstsein wünschen.Wir haben immer gesagt, dass das, was wir hier tun,Zeit und Geld kostet, dass die Versorgungssicherheit einProblem und dass die Akzeptanz ein Thema ist. Mankann uns nicht vorhalten, dass wir ohne Problembe-wusstsein in die Debatte gegangen sind. Was man unsvorhalten kann, ist, dass wir uns zu sehr auf Ihre pro-blemorientierte Diskussion einlassen. Sie wollen ja nurüber die Probleme und nicht über die Lösungen diskutie-ren. Darauf lassen wir uns zu sehr ein. Das ist falsch.Herr Bundeswirtschaftsminister, wir müssen uns bei-spielsweise mehr Gedanken über das neue Marktdesignmachen, wofür man sich beispielsweise im Wirtschafts-ressort brennend interessiert. Nach meiner festen Über-zeugung ist im Strombereich der Zukunft weniger derArbeitspreis je Kilowattstunde von Bedeutung. Wir müs-sen uns stattdessen mehr auf einen Markt konzentrieren,auf dem man Leistung handelt. Diese Erkenntnis ist ur-alt; die gab es schon, als man die ersten Wasserkraft-werke in Deutschland gebaut hat. Das hilft uns, inZukunft Gaskraftwerke zu bauen, und führt uns aus derMisere, dass Strom, der auf dem Dach produziert undteuer eingespeist wird, für den Eigenverbrauch billigvom Kraftwerk zurückgekauft wird.Diese Themen sollten wir in den Vordergrund stellen,und wir sollten nicht immer in die Falle gehen und unsvon einer ideologischen Diskussion über das EEG leitenlassen. Das führt nämlich nicht weiter.
Kollege Dr. Nüßlein, würden Sie bitte einmal nicht
nur den Herrn Minister anschauen, sondern auch beach-
ten, dass vor Ihnen etwas blinkt.
Ja. Ich schaue den Minister nicht nur an, sondern ich
werde ihn auch noch ansprechen und ihm meine Sicht
noch einmal darlegen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und die
Geduld. Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Georg Nüßlein. – Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Dr. Michael Luther. Bitte schön, Kollege Dr. Michael
Luther.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Debatte zum Einzelplan des Wirtschafts-ministeriums ist nun zweieinhalb Stunden alt. Ich binjetzt der letzte Redner. Am Ende dieser Woche wird derBundestag den Haushalt zur weiteren Beratung in dieVerantwortung des Haushaltsausschusses geben.Zweieinhalb Stunden habe ich dem, was gesagt wor-den ist, intensiv zugehört. Ich bin der Meinung, dassdiese Debatte in erster Lesung dazu dient, über denHaushalt zu reden und dem Haushaltsausschuss Vor-schläge zu machen, was er bei seinen Beratungen in dennächsten zwei Monaten beachten könnte.
Ich denke, der Herr Minister hat die Debatte gut eröff-net.
Er hat an dieser Stelle noch einmal festgestellt, wo wirheute in Deutschland stehen:
Wir haben eine erfolgreiche und robuste Wirtschaft, wirhaben eine niedrige Arbeitslosigkeit – so niedrig wie seit21 Jahren nicht mehr –, und die Jugendarbeitslosigkeit inDeutschland ist ebenfalls sehr niedrig. Ich denke, das istein Erfolg. Man kann auch einmal über Erfolg reden undsagen: Das, was wir gemeinsam geleistet haben, ist gut.Das ist der momentane Stand.Er hat aber auch gesagt, dass wir uns auf dem schonErreichten nicht ausruhen dürfen, sondern dass wir wei-tergehen und die Zeichen der Zeit heute erkennen müs-sen, um das weiterzuentwickeln.Der nächste Redner war der Kollege Heil. Es ist fürmich sehr interessant: Schon mehrfach in dieser Haus-haltswoche – gestern und vorgestern – war die SPD sehrstolz, dass sie die Agenda 2010 gemacht hat. Sie warwichtig und richtig; das will ich an dieser Stelle aucheinmal sagen. Sie ist damals von der Mehrheit im Bun-desrat – auch von CDU, CSU und FDP – unterstütztworden, weil wir das als gemeinsames Anliegen erkannthaben. Worüber ich mich bei Ihnen aber wundere, ist,dass Sie heute immer wieder eine Rolle rückwärts ma-chen und ständig Abstand von dem nehmen, was Sie da-mals als richtig und gut empfunden haben. Das versteheich überhaupt nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23095
Dr. Michael Luther
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Ich empfehle Ihnen, Ihre Rede von heute aufzuheben.Ich glaube, Sie werden sie in zehn Jahren noch immergebrauchen können, weil Sie auf mehr nicht verweisenkönnen.
Um mit der Mär ein Ende zu machen, das sei allesRot-Grün gewesen, muss man sagen: Schwarz-Gelb istnun seit drei Jahren in der Verantwortung.
Ich denke, wenn die Koalition alles verkehrt gemachthätte, dann würden wir heute nicht da stehen, wo wir ste-hen. Ich glaube, sie hat sehr viel richtig gemacht,
und genau deshalb ist sie entscheidend dafür verantwort-lich, dass wir heute so gut dastehen.Herr Fuchs hat als nächster Redner das Thema Ener-giewende für mich sehr eindrücklich dargestellt.
Das, was in diesem Zusammenhang gesagt worden ist,ist sehr wichtig. Wir wollen die Energiewende. DieEnergiewende muss uns gemeinsam gelingen. Sie istaber kein Selbstläufer; auch das ist klar.An dieser Stelle will ich eines feststellen: Acht Bun-desländer haben sich vorgenommen, zukünftig beimStrom autark zu sein, und acht Bundesländer haben sichvorgenommen, Strom zu exportieren, aber keiner hatbislang abschließend die Frage beantwortet, wie dieStromsicherheit kontinuierlich über einen ganzen Tagund über ein ganzes Jahr hinweg sichergestellt werdenkann. Keiner hat wirklich im Blick, was mit den Strom-preisen passiert, wenn die Förderung durch das EEGnicht gebremst wird, sondern die Entwicklung so weiter-geht. Das zeigt, dass es lohnenswert und notwendig ist,dass Bundestag und Bundesländer darüber reden– schließlich tragen sie gemeinsam Verantwortung –,wie wir diese Probleme in den Griff bekommen können.Herr Brandner, an dieser Stelle will ich Ihnen rechtgeben: Der Netzausbau ist völlig richtig. Sie haben dieFakten alle aufgelistet. Ich glaube aber, dass es nichtausreicht, nur die Bevölkerung aufzuklären. Wir brau-chen auch Gesetze, die einen schnellen Netzausbau er-möglichen. Ich denke in diesem Zusammenhang an einsehr erfolgreiches Gesetz auf einem anderen Gebiet– dieses Gesetz war nach 1990 sehr nützlich –, nämlich andas Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Wennwir das nicht gehabt hätten, hätten wir die Probleme, dieim Zusammenhang mit der deutschen Einheit verkehrs-technisch auf uns zukamen – ich will sie nicht im Einzel-nen ausführen –, nicht bewältigen können. Wenn wirkein ähnliches Instrument schaffen, das ähnlicheMöglichkeiten bietet und das es uns ermöglicht, denNetzausbau schnell zu organisieren, dann werden wirden Netzausbau nicht schaffen. Dann würde ein wichti-ges Instrument in der Energiepolitik fehlen.Wenn ich schon bei Ihnen bin, Herr Brandner, will ichauch das Thema GRW erwähnen; das ist schon mehrfachangesprochen worden. Ich bin dafür bekannt, dass ichmich immer dafür einsetze, dass wir dieses Instrumenthochhalten, weil es ein gutes Instrument ist. Ich glaube,es lohnt sich wirklich, im Rahmen der Haushaltsberatun-gen noch einmal darüber zu reden. Herr Heil, da sie im-mer so stolz auf das sind, was Rot-Grün alles zustandegebracht hat, will ich an dieser Stelle aber auch daran er-innern, dass Sie, als Sie die Regierungsverantwortunginnehatten, die Mittel für die GRW halbiert haben.
Jetzt, in der Opposition, bringen Sie immer wieder tolleAnträge ein und wollen die Mittel für die GRW erhöhen.Ich finde, das ist kein lauteres Verhalten.
Zuletzt möchte ich auf den Kollegen Lindner einge-hen. Das ist ein von mir geschätzter Kollege im Haus-haltsausschuss. In Ihrer Rede, Herr Lindner, gab es einenWiderspruch. Sie haben gesagt, wir müssten sparen,
und dann haben Sie eine Reihe von Beispielen gebracht,wo man mehr ausgeben müsste. Das ist natürlich keinKonzept, das in der Summe funktioniert. In den Haus-haltsberatungen können wir uns aber gerne damit aus-einandersetzen. Auch Ihre Behauptung, wir würden imHaushalt die falschen Schwerpunkte setzen, ist nichtrichtig. Ich finde, dass wir die richtigen Schwerpunktegesetzt haben. Ich will ein paar nennen: Ein Schwer-punkt hat die Überschrift „Innovation, Technologie undneue Mobilität“. Das spiegelt sich im Haushaltsentwurfwider. Wir haben weiterhin das Thema „Energie undNachhaltigkeit“. Auch das spiegelt sich im Haushalts-entwurf wider. Wir geben auf diesem Gebiet eine MengeGeld aus. Wir geben auch eine Menge Geld für For-schung und Entwicklung aus, gerade auch mit dem Ziel,die Energiewende zu schaffen.
Auch der Mittelansatz für das Zentrale Innovations-programm Mittelstand, ZIM, wird erhöht. Man kann sichnatürlich mehr wünschen. Ich denke aber, vor dem Hin-tergrund des Konsolidierungsziels ist das anständig undordentlich. Es gibt noch ein paar andere Schwerpunkte,über die man in den Haushaltsberatungen reden kann.Der vorliegende Entwurf ist meiner Ansicht nach ein gu-ter Ausgangspunkt für konstruktive Haushaltsberatun-gen.
Metadaten/Kopzeile:
23096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Dr. Michael Luther
(C)
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Die berühmte Uhr, auf die der Präsident hin und wie-der schon hingewiesen hat, zeigt mir an, dass ich zumEnde kommen muss. Das mache ich gerne.Ich freue mich auf eine konstruktive Beratung in dennächsten Wochen und Monaten im Haushaltsausschuss.Wenn das, was die einzelnen Redner hier vorgetragenhaben, ernst zu nehmen ist und wir das gemeinsam um-setzen können, dann kommen wir zu einem guten Ergeb-nis in der zweiten und dritten Lesung.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Dr. Michael Luther. – WeitereWortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen mir nichtvor.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zudem Geschäftsbereich des Bundesministeriums fürArbeit und Soziales, Einzelplan 11.Das Wort als erste Rednerin in unserer Aussprachehat für die Bundesregierung Frau BundesministerinDr. Ursula von der Leyen. – Bitte schön, Frau Bundes-ministerin.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 20,25 Jahren gibt es in der Rentenpolitik eine Gretchen-frage, die immer wieder gestellt wird: Ist die Rente si-cher? Jeder Sozialpolitiker und jede Sozialpolitikerin hatdarauf eine eigene Antwort. Meine Antwort heute ist imKern die Antwort, die der Gesetzgeber in den letzten gutzehn Jahren gegeben hat: Die Rente ist sicher, wenn wirfleißig arbeiten, wenn wir zusätzlich privat vorsorgenund wenn wir genügend Kinder erziehen. Ohne das gehtes nicht.
In diesem Sinne hat der Gesetzgeber die Kindererzie-hungszeiten höher bewertet. Er hat nach 2000 die zusätz-liche Vorsorge für das Alter attraktiv gemacht. Er hat dasRenteneintrittsalter um zwei Jahre auf 67 erhöht. Er hatauch das Rentenniveau so weit angepasst – er lässt es bisauf 43 Prozent im Jahr 2030 absinken –, dass die nach-kommenden Generationen von den Rentenlasten nichterdrückt werden. Ich kann nicht sehen, dass heute einemaßgebliche Kraft im Parlament von diesem breitenKonsens abrückt,
und das ist gut so, weil die Rente von Verlässlichkeitlebt.
Aber auch der Umkehrschluss muss verlässlich sein.Wenn jemand jahrzehntelang fleißig gearbeitet hat, wenner oder sie zusätzlich privat vorgesorgt hat
und auch noch Kinder erzogen hat, dann muss am Endedes Tages eine eigene ausreichende Rente erreichbarsein. Weil aber das Rentenniveau notwendigerweisesinkt, gibt es eine wachsende Gruppe von Menschen, fürdie das unerreichbar wird. Obwohl sie 35, 40 oder45 Jahre Beiträge zahlen werden, obwohl sie einen Aus-bildungsberuf haben und obwohl sie nach Tariflohn be-zahlt werden, erreichen sie keine Rente über dem Exis-tenzminimum. Wir sprechen von Menschen, die vor demEintritt ins Rentenalter immer unabhängig von staatli-chen Leistungen gewesen sind. Wir sind immer auf derSeite der fleißigen Leute gewesen. Es kann uns nicht kaltlassen,
dass diese Menschen im Alter zum Sozialamt gehen undGrundsicherung beantragen müssen wie jemand, der kei-nen einzigen Tag gearbeitet hat. Das lässt uns nicht kalt.
Diese Gruppe ist heute noch klein. Es zeichnet sichaber deutlich ab, dass sie wachsen wird. Das liegt zumeinen am Absinken des Rentenniveaus – dies ist unaus-weichlich –, es liegt aber auch daran, dass sich die pri-vate Säule – sie ist unverzichtbar – schwächer entwickelthat, als wir es vor zehn Jahren angenommen haben.
40 Prozent der Geringverdiener sorgen weder durchRiestern noch durch eine betriebliche Altersvorsorgevor.
Gerade sie müssten dies eigentlich tun, aber sie geratenin die Falle, dass die Erträge daraus angerechnet werden,wenn diese Menschen in der Grundsicherung landen. Al-lein schon deshalb wird die Zahl derer, die in der Grund-sicherung fürs Alter landen, für die der Bundeshaushaltsowieso künftig geradestehen wird, unweigerlich an-wachsen.Das heißt für uns: Die Bekämpfung der Altersarmutgibt es nicht zum Nulltarif. Wir müssen uns jetzt demProblem stellen, wir müssen uns mit den Zahlen, die dasProblem beschreiben, auseinandersetzen, und wir müs-sen jetzt vorbeugen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23097
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Ich finde, es ist auch eine Frage der Generationensoli-darität, dass wir Ältere, denen es verhältnismäßig gutgeht, angesichts der wachsenden Probleme der Jungennicht den Kopf in den Sand stecken. Wir wollen, dasssich junge Menschen darauf verlassen können, im Spie-gel ihres Erwerbslebens in Würde altern zu können. Dasist unser Ziel.
Damit sind wir beim Arbeitsmarkt selbst. Wenn derSatz „Die Renten von morgen sind immer auch ein Spie-gelbild des Arbeitsmarktes von heute“ stimmt, wie mussdenn dann der Arbeitsmarkt beschaffen sein? Es mussein nachhaltiger Arbeitsmarkt sein, der von Anfang andie Weichen richtig stellt. Eine solide Ausbildung ist diebeste Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt. Wir haben denniedrigsten Stand der Jugendarbeitslosigkeit in Europa.Das ist schon einmal eine ganz wichtige Basis für dieZukunft.
Wir nehmen jährlich rund 3 Milliarden Euro in dieHand, um jungen Menschen den Übergang von derSchule zum Beruf zu ermöglichen. Wir haben eine Re-kordbeschäftigung: 41,6 Millionen Menschen sind in Ar-beit. Wir haben weniger als 3 Millionen Arbeitslose. Esist uns gelungen, die Langzeitarbeitslosigkeit seit 2007um 40 Prozent zu senken. Wir stellen im kommendenJahr rund 8 Milliarden Euro für aktive Arbeitsmarktpoli-tik in der Grundsicherung zur Verfügung. Denn für unsist und bleibt das wichtigste Ziel: der Übergang in denersten Arbeitsmarkt. Dies ist für die Menschen entschei-dend; das ist die Basis, auf der wir aufbauen.
Es ist auch gut, dass der Anteil der Frauen in Beschäf-tigung noch nie so hoch war wie heute. Aber wir dürfennicht nachlassen. Bei der Vereinbarkeit von Beruf undFamilie sind unbestreitbar noch Hindernisse vorhanden.Die gläserne Decke ist strukturell fest verankert, wennFrauen an die Spitze wollen. Frauen dürfen sich nicht indie Teilzeitfalle oder in die Minijobsackgasse abdrängenlassen, und zwar nicht nur deshalb, damit es heute fürden Lebensunterhalt reicht, sondern auch, damit es spä-ter für die eigene Rente reicht.Richtig ist auch, dass gute Arbeit auf Dauer fair be-zahlt werden muss. Deshalb haben wir in zwölf Bran-chen für insgesamt mehr als 4 Millionen Menschen ge-setzliche Lohnuntergrenzen festgeschrieben,
übrigens nicht gegen, sondern mit den Tarifpartnern. Ichbin davon überzeugt, dass das auf Dauer der richtigeWeg in Deutschland allgemein ist.
Ich hoffe, dass wir so klug sein werden, es einer Kom-mission zu überlassen, die Höhe einer Lohnuntergrenzefestzulegen.
– Da sagen Sie: Unter 10 Euro hilft es nicht.
Machen wir uns doch nichts vor: Mit Blick auf die Al-tersvorsorge lindern Mindestlöhne höchstens das Pro-blem, aber sie lösen es nicht.
Selbst bei einem Mindestlohn von 12 Euro, den meinesWissens niemand in diesem Haus verlangt, muss man,von heute an gerechnet, 40 Jahre lang Vollzeit arbeiten,um eine Rente knapp über der Grundsicherung zu errei-chen.
Ein so hoher Mindestlohn zerstört aber Arbeit. Daszeigt: Im Arbeitsmarkt gibt es viel zu tun, aber die Ge-rechtigkeitslücke im Rentensystem bleibt bestehen. Damüssen wir ran, meine Damen und Herren.
Mein Vorschlag liegt jetzt auf dem Tisch. Er ist imvorliegenden Haushaltsplanentwurf abgebildet. Über dieDetails können wir streiten. Aber wie auch immer unsereAntworten ausfallen, uns sollte ein Gedanke einen: Wirsollten der kommenden Generation gute Gründe an dieHand geben, damit sie beherzt für ein solidarisches Ren-tensystem eintritt, anstatt die Flinte ins Korn zu werfen.
Dazu lade ich Sie ein.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Nächste Red-
nerin für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kol-
legin Andrea Nahles. Bitte schön, Frau Kollegin Nahles.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieArbeitsministerin ist mit einer Minireform zur Bekämp-fung der Altersarmut in den eigenen Reihen gescheitert,erst an Wolfgang Schäuble, dem Finanzminister, der ver-hindert hat, dass das einzig Sinnvolle kommt, nämlicheine steuerfinanzierte Zuschussrente. Dann hat FrauMerkel die Arbeitsministerin auch noch am langen Arm
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23098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Andrea Nahles
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verhungern lassen. Frau von der Leyen, was machen Siejetzt? Sie schmusen sich an uns heran,
nach dem Motto: Herrchen gibt mir nicht genug Futter.Dann suche ich mir ein neues Frauchen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsko-alition, schmusen Sie doch einmal mit sich selbst; dennIhre Beziehung hat es nötig, wenn ich nur die Berichter-stattung der letzten Wochen sehe.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass wir Ihnen zueiner solchen Reform nicht die Hand reichen werden.
Es ist nämlich richtig, was Frau von der Leyen eben ge-sagt hat: Rente braucht Verlässlichkeit. Nur, Frau vonder Leyen: Wie unwürdig ist es dann, dass Sie versuchthaben, mit irreführenden Zahlen einen innerparteilichenGeländegewinn zu erreichen? Ich wiederhole: mit irre-führenden Zahlen. Sie unterstellen, die Rentnerinnenund Rentner in Deutschland hätten keine weiteren Ein-künfte, was nachweislich falsch ist. Sie unterstellen, dasssie alle Singles sind und alleine leben. Sie suggerierenden Deutschen, und zwar geschickt, dass das deutscheVolk vor einer Welle von Rentenkürzungen steht. WissenSie was? Das ist nicht wahr. Dies ist das erste Mal, dasseine Arbeitsministerin bzw. ein Arbeitsminister in die-sem Land zu einem solchen Mittel greift. Dafür solltenSie sich wirklich schämen.
Ich sage Ihnen: Wir haben in Deutschland einenAgent Provocateur der Versicherungsbranche, und derheißt Ursula von der Leyen. Ich meine das ernst. In denletzten Tagen habe ich nämlich mit zig Leuten gespro-chen, die aufgrund der von Ihnen genannten falschenZahlen jetzt meinen, eine zusätzliche private Rentenver-sicherung abschließen zu müssen. Dabei sollten Sie alsArbeitsministerin dieses Landes der Anwalt der gesetzli-chen Rentenversicherung und damit der breiten Mehr-heit der Bevölkerung in unserem Land sein, Frau von derLeyen.
Ich sage Ihnen noch etwas: Man muss gar nicht mitZahlen tricksen, um zu wissen, dass die Altersarmut inunserem Land erheblich steigen wird, wenn wir nichtendlich die Hauptursachen für den Anstieg der Altersar-mut bekämpfen.
Die Hauptursache sind Armutslöhne, Frau von derLeyen; das ist der entscheidende Punkt.
Frau Kollegin Andrea Nahles, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Dr. Tauber von der Fraktion der
CDU/CSU?
Bitte.
Bitte schön, Herr Kollege.
Liebe Frau Kollegin, herzlichen Dank, dass Sie meine
Zwischenfrage zulassen. – Da Sie im Hinblick auf die
private Altersvorsorge von einem Agent Provocateur ge-
sprochen haben, würde ich gerne wissen, ob Ihnen be-
kannt ist, dass die Ministerin, wenn sie für die private
Vorsorge wirbt, dies aufgrund ihrer politischen Verant-
wortung für die Gesellschaft tut,
und ob Sie wissen, dass sich Herr Riester die Vorträge,
die er hält, um für die private Vorsorge zu werben, gut
bezahlen lässt. Ich glaube, unter diesem Gesichtspunkt
stellt sich die Frage, wer hier aus eigenem Interesse als
Agent Provocateur der Versicherungsgesellschaften
agiert. Das würde ich gerne von Ihnen wissen.
Herr Kollege, eine Bedingung für die Gewährung derZuschussrente ist, dass man privat vorsorgt. Genau die-ser Punkt ist wirklich besonders problematisch, undzwar aus dem einfachen Grund, weil dies gerade für dieBezieher niedriger Einkommen nicht möglich ist, sodasses hier erhebliche Lücken gibt. Diejenigen, die die Zu-schussrente am dringendsten bräuchten, würden durchdiese Zusatzbedingung von Frau von der Leyen niemalsvon der Zuschussrente profitieren. Deswegen ist das einvölliger Irrweg. Das ist meine Position dazu.
Wir sind jetzt bei den Armutslöhnen.
Man kann jeden Monat erleben, dass Frau von der Leyenstrahlend vor die Kameras tritt und die guten Arbeits-marktzahlen verkündet.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23099
Andrea Nahles
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Frau Kollegin Nahles, es gibt einen weiteren Wunsch
nach einer Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen
Ernst.
Nein, jetzt nicht mehr. Ich muss jetzt wirklich zu desPudels Kern kommen;
das sind die Löhne in Deutschland. Frau von der Leyen,auch ich freue mich über gute Arbeitsmarktzahlen, undzwar jedes Mal. Wir haben in Deutschland nämlich auchschon andere Zeiten erlebt.
Gerade die Sozialdemokraten haben für ihre Arbeits-marktreformen, was die politische Unterstützung angeht,einen hohen Preis zahlen müssen. Aber ich frage Sie:Merken Sie eigentlich nicht, was in Deutschland Sacheist?
Mittlerweile erfolgen 50 Prozent der Neueinstellun-gen nur noch befristet.
Die Leiharbeiter in diesem Land werden mit Löhnen ab-gespeist, die nur halb so hoch sind wie die der normalBeschäftigten in einem Betrieb.
21 Prozent der Menschen in Deutschland arbeiten hartund bekommen trotzdem nur Niedriglöhne. Auch diese21 Prozent der Menschen sind fleißig. Frau von derLeyen, Sie haben eben gesagt: Man muss nur fleißig ar-beiten. – Nein, viele arbeiten fleißig und bekommentrotzdem nur Armutslöhne.Was haben Sie dagegen unternommen? Nichts habenSie dagegen unternommen!
Gesetzlicher Mindestlohn? Fehlanzeige! Tarifbindung inunserem Land stabilisieren? Fehlanzeige! Sie reden zwarvon Mindestlöhnen, die als Lohnuntergrenze mit Lö-chern so groß wie in einem Schweizer Käse daherkom-men, aber Sie tun noch nicht einmal das.Es kommt hinzu, dass Sie aus meiner Sicht völlig un-verantwortlich den Eindruck erwecken, dass die Fehler,die am Arbeitsmarkt gemacht werden, am Ende durcheine Minizuschussrente von Ihnen wieder korrigiert wer-den können.
Das heißt doch wirklich, die Menschen in unserem Landhinter die Fichte führen, liebe Frau von der Leyen.
Ich sage Ihnen auch, dass ich mich seit geraumer Zeitfrage, warum diese Regierungskoalition, insbesonderedie Kollegen von der CDU, nicht mehr zuwege bringen.
Ich weiß, Sie haben gute Sozialpolitiker in Ihren Reihen.Ich weiß, dass zum Beispiel Peter Weiß ein guter Ren-tenexperte ist. Ich weiß, dass Herr Schiewerling sichwirklich für arbeitslose Menschen interessiert.
Ich weiß, dass es zum Beispiel einen ganz hervorragen-den Rentenexperten im Saarland namens Andreas Stormgibt.
Warum kommt dann so ein Mist dabei herum? Ichsage Ihnen: Das liegt daran, dass die Sozialpolitiker indieser Regierung nichts zu sagen haben und deswegenfür die Menschen in diesem Land nichts erreichen kön-nen.
Damit müssen Sie sich einmal beschäftigen. In derUnion ist eine Entwertung der Sozialpolitik erfolgt, diees in diesem Maße vor 20 Jahren nicht gegeben hätte.Auch deswegen können wir, mit Verlaub, nicht auf Ihremerkwürdige Zuschussrente und andere Konzepte einge-hen.
Arbeit ist gut für das Selbstwertgefühl der Menschen.Es geht um die innere Würde hart arbeitender Menschen.Arbeit schafft Zufriedenheit, wenn man dafür ausrei-chend entlohnt wird.
Die Menschen in Deutschland wollen, dass sich ihreRente danach bemisst, was sie geleistet haben. Sie wol-len doch in Wirklichkeit nichts geschenkt bekommen,sondern sie wollen am Ende des Tages, dass sich ausdem, was sie in ihrer Arbeit geleistet haben, eine anstän-dige Rente ergibt. Das zu erreichen, muss doch unserZiel sein. Deswegen sperren wir uns nicht dagegen,steuerfinanzierte Mindestsicherungen einzuführen, wennes nicht gelingt, eine anständige Rente aus Arbeit zuschaffen.
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23100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Andrea Nahles
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Aber es kann doch nicht sein, dass, da wir Angst ha-ben, uns mit den Arbeitgebern anzulegen, die keine an-ständigen Löhne zahlen, die Beitragszahler für diese un-anständigen Dumpinglöhne herhalten müssen und wirdas Problem vom Ende her angehen. Das, was Sie vorge-legt haben, akzeptieren wir Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten nicht als Lösungsweg.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Sie tun nichts, um Al-tersarmut zu bekämpfen. Sie reden darüber, Sie streitendarüber, Sie packen aber nichts an. Das müssen Sie ver-antworten. Aber ich denke, das werden die Bürgerinnenund Bürger bewerten. Dafür haben sie im nächsten Jahreine gute Gelegenheit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Andrea Nahles. – Bevor
ich der Frau Kollegin Dr. Winterstein das Wort erteile,
gebe ich das Wort zu einer Kurzintervention dem Kolle-
gen Klaus Ernst.
Liebe Kollegin Nahles, dass Sie die Arbeitsministerin
dafür kritisieren, wie die entsprechenden Zahlen zu-
stande kommen, dafür habe ich noch Verständnis.
Ich habe aber – das ist der erste Punkt – kein Ver-
ständnis dafür, dass Sie nicht im selben Atemzug sagen,
dass es aufgrund dieser Zahlen zumindest gelungen ist,
das Thema Altersarmut auf die Tagesordnung zu setzen.
Dafür bin ich der Ministerin ausgesprochen dankbar.
Zweitens. Die SPD lobt seit zwei Tagen in jeder Rede
ihre Reformen, die Hartz-Gesetze und die sogenannten
Veränderungen am Arbeitsmarkt, und gleichzeitig macht
sie die niedrigen Löhne für die schlechten Renten in der
Bundesrepublik verantwortlich. Dafür seid ihr mitver-
antwortlich. Ich kann diese Heuchelei kaum noch ertra-
gen.
Wenn man schon eine Politik macht, bei der man über
die Hartz-Gesetze und durch Leiharbeit und Befristung
die Löhne senkt, dann hätte man zumindest in der Zeit,
als ihr die Mehrheit hattet, den Mindestlohn einführen
müssen. Das habt ihr auch nicht gemacht. Das ist der
nächste Vorwurf. Ich kann es wirklich nicht mehr hören.
Drittens. Die Altersarmut hat nicht nur mit den Löh-
nen zu tun. Sie hat zwar auch damit zu tun, aber nicht
nur. Das zweite wesentliche Element ist das Absenken
des Rentenniveaus auf 43 Prozent. Jetzt lese ich euren
Vorschlag: Sie wollen an dieser Absenkung des Renten-
niveaus festhalten. Damit sind Sie auch weiter für
Altersarmut in dieser Republik verantwortlich. Ich kann
es nicht mehr ertragen, wie Sie sich aus dieser Verant-
wortung herausstehlen.
Die Linke hat ein Konzept vorgetragen. Dazu gehört
natürlich, dass man die Kürzung des Rentenniveaus
rückgängig machen muss. Wir kommen erst wieder zu
einer vernünftigen Rente, wenn das von Ihnen gesenkte
Niveau wieder angehoben wird.
Zur Gegenrede, bitte schön, Frau Kollegin Andrea
Nahles.
Herr Ernst, erstens kann ich nichts dafür, wenn Sie esnicht mehr ertragen können. Ich empfehle Ihnen, danndas Plenum in Zukunft zu verlassen. Das ist aus meinerSicht der einzige Weg, um aneinander vorbeizukommen.Zweitens. Ich erwarte von einer Ministerin, dass sienicht mit Zahlen trickst und Angst schürt. Das tut sieaber. Sie kann doch nicht unterstellen, dass das Durch-schnittseinkommen im Jahr 2030 auf demselben Niveauist wie heute. Mit Verlaub, das ist unredlich. Es gibteinen Zusammenhang zwischen Standardrente undDurchschnittseinkommen. Ich möchte nicht das Einmal-eins der Rentenpolitik durchgehen. Ich erwarte von derMinisterin, dass sie das kennt, und sie kennt es auch. Siemacht aber bewusst etwas anderes, weil sie ihr Konzeptinnerparteilich nicht durchbekommt. Das finde ich schä-big; das wiederhole ich hier noch einmal ausdrücklich.
Im Übrigen gebe ich Ihnen völlig recht, Herr Ernst.Es gibt das Problem der Altersarmut. Es wird zunehmen,wenn wir nicht für bessere Arbeitsbedingungen, Ord-nung auf dem Arbeitsmarkt und vor allem für eine Min-destlohnabsicherung sorgen. Diese allerdings wird ausmeiner Sicht mit dieser Bundesregierung in keiner Weiseumsetzbar sein. Deswegen ist es besser, dass es an dieserStelle ausgesprochen wird: Wenn wir bei der Rente Ver-besserungen erreichen wollen, dann sollten wir zuerstOrdnung auf dem Arbeitsmarkt schaffen.Wenn es dann am Ende Menschen gibt, die es nichtschaffen, vollständig aus Erwerbsarbeit vernünftigeRenten zu bekommen und noch einen Zuschuss brau-chen – das wird wahrscheinlich der Fall sein –, bin ichdie Letzte, die sagt: „Wir brauchen keine Mindestab-sicherung“, aber dann bitte schön steuerfinanziert stattaus den Taschen der Beitragszahler.
Wenn es etwas gibt, das aus Steuern finanziert werdensollte, dann ist das eine ergänzende Rente. Insoweit – dasmuss ich ehrlich sagen – ist das von Ihnen vorgelegteKonzept a) nicht ausreichend und b) auch noch falschfinanziert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23101
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen nun
weiter in der Reihenfolge unserer Wortmeldungen. Als
Nächste hat das Wort für die Fraktion der FDP unsere
Kollegin Dr. Claudia Winterstein. Bitte schön, Frau Kol-
legin Winterstein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Erst einmal zurück zum Haushalt. Als Haus-haltspolitikerin will ich es noch einmal deutlich sagen:Mit dem Entwurf für den Bundeshaushalt 2013 liegenwir bei den Ausgaben um 10,5 Milliarden Euro unterdem Ansatz für 2012.
Das heißt, es wird gespart. Das ist der einzig richtigeWeg zur Konsolidierung des Haushaltes.
Der Einzelplan für Arbeit und Soziales leistet hierzueinen guten Beitrag. Obwohl das so ist, meine Damenund Herren von der Opposition, liegt in diesem Bundes-haushalt der Schwerpunkt aller Ausgaben auf der sozia-len Sicherung, nämlich mit 48 Prozent. Zu Zeiten vonRot-Grün lag der Wert bei 42 Prozent.
Das zeigt, dass wir uns unserer sozialen Verantwortungsehr wohl bewusst sind. Diese Zahlen müssen Sie zurKenntnis nehmen.Dank deutlicher Einsparungen und dank der gutenEntwicklung auf dem Arbeitsmarkt können wir imBereich Arbeit und Soziales die Ausgaben im Vergleichzu 2012 um 7,4 Milliarden Euro senken.Wir haben uns bestimmte Ziele gesetzt, und wirhaben sie auch erreicht. Unser Ziel war, mehr Menschenin Arbeit zu bringen. Ergebnis: Wir erleben Rekorde. ImJuni waren 41,7 Millionen Menschen erwerbstätig, soviele wie nie zuvor. Das sind 469 000 mehr als im ver-gangenen Jahr. Ich möchte betonen, dass auch die Zahlder sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gut aus-sieht. Im Juni lag diese Zahl bei knapp 29 Millionen.Das sind 546 000 mehr als im Vorjahr.Unser Ziel war, das Verwaltungs- und Eingliede-rungsbudget, mit dem der Bund arbeitsmarktpolitischeMaßnahmen bezahlt, bis zum Jahr 2013 auf etwa 8 Mil-liarden Euro zurückzuführen. Ergebnis: Wir haben dieseSparvorgaben aus dem Zukunftspaket 2010 punktgenauerfüllt.
Unser Ziel war, die Zahl der Arbeitslosen weiter zuverringern. Ergebnis: Bei den Arbeitslosen liegen wirstabil bei unter 3 Millionen. Im August waren es2,9 Millionen, 40 000 weniger als im letzten Jahr. Wennman zugleich berücksichtigt, dass sich nach den Zahlender Bundesagentur für Arbeit im August 2012 insge-samt 160 000 Menschen weniger in geförderten arbeits-marktpolitischen Maßnahmen befanden als vor einemJahr – diese zählen nicht als Arbeitslose –, dann stelltman fest, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit letzt-endlich sogar noch höher ist, als es die offiziellen Zahlenzeigen. Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Es läuft also gut auf dem Arbeitsmarkt, auch dank dermutigen und tatkräftigen Unternehmer in diesem Land.Darüber sollten wir uns freuen.Für die Finanzen der Bundesagentur für Arbeit be-deutet das: Sie profitiert doppelt, weil sie sowohl höhereEinnahmen aus den Beiträgen der Versicherten bekommtals auch geringere Ausgaben aufgrund der gesunkenenZahl der Arbeitslosen hat.Zwischen dem Bundeshaushalt und dem Etat derBundesagentur für Arbeit flossen bisher jährlich Milliar-den hin und her. Der Bund beteiligte sich mit Milliarden-summen an den Kosten der Arbeitsförderung im BereichArbeitslosengeld I. Die Bundesagentur beteiligte sichmit Milliardensummen an den Eingliederungskosten imBereich ALG II. Mit diesem Haushalt werden in derBeziehung zwischen Bund und Bundesagentur endlichklare Verhältnisse geschaffen.
Der Bund beteiligt sich eben nicht mehr an den Kostender Arbeitsförderung. Im Gegenzug entfällt der Einglie-derungsbeitrag bei der BA. Für den Haushalt 2013bedeutet das eine Ersparnis von 2,1 Milliarden Euro.Das ist ein ganz hervorragender Konsolidierungsbeitrag.Zugleich kommt die Bundesagentur in ihrer mittel-fristigen Finanzeinschätzung zu dem Ergebnis, dass sieunter Maßgabe der neuen Regelungen und bei einemBeitragssatz von 3 Prozent bis Ende 2016 einen Über-schuss von 9,5 Milliarden Euro aufbauen kann. Das isteine äußerst positive Nachricht.
Frau Hagedorn, noch eine positive Nachricht, näm-lich für die Kommunen. In diesem Haushalt findet sichwiederum eine massive Entlastung für die Kommunen.Der Bund übernimmt jährlich steigende Anteile an denKosten bei der Grundsicherung im Alter. 2012 sind es45 Prozent, 2013 75 Prozent und 2014 schließlich100 Prozent. Betrachtet man die Zahlen für den Zeit-raum von 2012 bis 2016, dann stellt man fest, dass sichallein aus dieser Kostenübernahme eine Entlastung
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23102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Dr. Claudia Winterstein
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zugunsten der Kommunen von circa 20 Milliarden Euroergibt. Für den Bundeshaushalt ist das ein wirklich gro-ßer Kraftakt. Für die Kommunen ist das eine großeFreude.
Frau Kollegin Dr. Winterstein, wie Sie sicherlich
schon gesehen haben, möchte die Kollegin Hagedorn
eine Zwischenfrage stellen.
Ich möchte gerne fortfahren.
Ich möchte jetzt kurz zum Thema Rente kommen. Ich
will dazu nicht viel sagen, aber das Thema hat den letz-
ten Wortbeitrag völlig beherrscht. Mein Kollege, Herr
Dr. Kolb, wird nachher noch einiges zur Rente sagen.
Ich will aber eines klarstellen: Im Haushaltsentwurf für
2013 ist kein Geld für die Zuschussrente vorgesehen.
Das ist aus meiner Sicht auch richtig; denn, wie Volker
Kauder schon gesagt hat, eine Vermischung des Versi-
cherungs- und des Fürsorgeprinzips ist kein geeignetes
Mittel zur Bekämpfung von Altersarmut. Da müssen wir
nach anderen Lösungen suchen.
Ein Zweites. Die Kritik an der Senkung des Renten-
beitrags ist aus meiner Sicht völlig unverständlich. Wenn
ich versuche, die Motive dafür zu ergründen, dann wird
eines deutlich: Alle diejenigen, die jetzt höhere Rück-
lagen für die Rentenkasse fordern, wollen in Wirklich-
keit nicht sparen, sondern sie wollen das Gegenteil, näm-
lich diese Rücklagen für neue soziale Wohltaten nutzen.
Das ist unvernünftig. Vernünftig ist vielmehr, die Bei-
träge zu senken, wie es im Gesetz auch eindeutig gere-
gelt ist, und damit Arbeitnehmer und Arbeitgeber um
insgesamt 6 Milliarden Euro zu entlasten.
Wir werden in den Einzelplanberatungen sorgfältig
prüfen, wo Korrekturen vorzunehmen sind. Eine Erhö-
hung der Neuverschuldung kommt jedenfalls nicht in-
frage. Diese Koalition hat Jahr für Jahr dafür gesorgt,
dass die Grenzen der Schuldenbremse nicht nur einge-
halten, sondern deutlich unterschritten werden. Unser
Ziel ist ein ausgeglichener Haushalt. Den werden wir bis
spätestens 2016 erreichen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Winterstein. – Jetzt gibt
es eine Kurzintervention der Frau Kollegin Bettina
Hagedorn.
Frau Dr. Winterstein, Sie haben dargestellt, dass die
Bundesagentur für Arbeit 2016 mit einer Rücklage von
9,5 Milliarden Euro ausgestattet sein werde. Dabei haben
Sie aber vergessen, einige Kleinigkeiten zu erwähnen.
Der eine Punkt ist, dass in dem Topf dieser Rücklage im
Moment noch nicht einmal 1 Milliarde Euro ist. Das
heißt, dass der Aufbau dieser Rücklage erst in der
Zukunft erfolgen soll. Dabei wird – wie in Ihrem gesam-
ten Haushalt – unterstellt, dass wir nicht nur 2013 ein
Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent haben, sondern
bis 2016 konstant ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Pro-
zent. Wie Sie diese äußerst optimistische Annahme mit
dem, was uns Experten angesichts der Euro- und Finanz-
krise sagen, in Übereinstimmung bringen, sollten Sie
hier vielleicht erklären.
Eines ist allerdings besonders wichtig: Sie als Koali-
tion haben sich hier gebrüstet, dass Sie die Kommunen
entlasten. Das finden auch wir Sozialdemokraten hervor-
ragend. Das war unsere Forderung im Rahmen des Kom-
promisses, den wir gemeinsam gefunden haben. Was Sie
aber vergessen haben, zu erwähnen, ist, dass diese Ent-
lastung ausschließlich auf dem Rücken der Bundesagen-
tur für Arbeit erfolgt, indem ihr der Ertrag aus einem
halben Prozentpunkt der Mehrwertsteuer weggenommen
wurde. Vor allen Dingen haben Sie vergessen, zu erwäh-
nen, dass nach Ihrem sogenannten Zukunftspaket der
Bundesagentur für Arbeit Jahr für Jahr in die Tasche
gegriffen wird. Im Jahr 2013 beläuft sich das Minus auf
3 Milliarden Euro. Das heißt, allein 2013 summieren
sich der gestrichene Ertrag aus einem halben Prozent-
punkt der Mehrwertsteuer und die Summe, die aus dem
Griff in die Kasse der BA resultiert, auf 5,65 Milliarden
Euro. Um genau diesen Betrag von 2013 könnte die
Rücklage größer sein, wenn Sie die Kassen nicht künst-
lich geplündert hätten.
Zur Antwort, Frau Kollegin Dr. Winterstein.
Liebe Bettina Hagedorn, wir führen immer vielfältigeDiskussionen bei uns im Ausschuss zu diesem Thema.Ich habe vorhin ganz korrekt gesagt, dass sich diese9,5 Milliarden Euro in den Jahren 2012 bis 2016 ansam-meln werden. Ich kann mich noch sehr gut an die Dis-kussionen erinnern, in denen gesagt wurde: Um GottesWillen, die Bundesagentur für Arbeit kann das über-haupt nicht verkraften. Es wird zu Defiziten kommen,wenn wir diesen halben Prozentpunkt der Mehrwert-steuer nicht weiterleiten. –Sie sehen: Wir sind überrascht worden. Die Zahlenwaren im letzten Jahr noch ganz anders; das wissen Sieselber. Damals hat noch keiner eine solche Entwicklungvermutet. Aber es ist nun einmal so. Wir sollten die Fak-ten zur Kenntnis nehmen, und wir sollten uns auch da-rüber freuen, dass die Entwicklung auf dem Arbeits-markt so positiv ist. Die Bundesagentur für Arbeit leistethervorragende Arbeit. Sie muss sie in keiner Weise ein-schränken, sondern sie tut alles, um Arbeitslosigkeit zubeseitigen, um alle Arbeitslosen – auch Langzeitarbeits-lose – wieder in Arbeit und Brot zu bringen. Wir haben
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23103
Dr. Claudia Winterstein
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festgestellt, dass es ihr sehr gut gelingt. Das zeigen dieZahlen. Insofern, glaube ich, sind wir hier auf einemrichtigen und guten Weg und setzen das Geld so effi-zient, wie es nur irgend geht, ein.
Wir fahren in der Reihenfolge der Wortmeldungen
fort.
Ich gebe das Wort für die Fraktion Die Linke unserer
Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Lötzsch.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Der Einzelplan Arbeit und Sozialesist der größte im Bundeshaushalt, und das wird gern alsArgument verwendet – Frau Winterstein hat das auchwieder getan –, um zu sagen: Sehet her, wie sozial es inunserem Land zugeht.
Das klingt im ersten Augenblick logisch. Bei genaueremHinsehen zeigt sich aber: Logisch ist es nicht.Ich frage Sie: Ist es Ausdruck von guten sozialen Ver-hältnissen, wenn 1,2 Millionen Menschen arbeiten ge-hen und von ihrer Hände und Köpfe Arbeit nicht lebenkönnen? Ist es etwa Ausdruck von guten sozialen Ver-hältnissen, wenn 1,2 Millionen Menschen Hartz IV be-antragen müssen, obwohl sie arbeiten gehen? Ich glaubenicht.
Auch die Erhöhung des Hartz-IV-Betrags um 8 Eurowird nicht dazu beitragen, dass diese Menschen wirklichgut für ihre Familien sorgen können. Wir sind der Auf-fassung: Hier brauchen wir eine deutliche Erhöhung– nein, wir brauchen noch mehr –, wir brauchen eineÜberwindung des unwürdigen Hartz-Systems.
Ist es etwa Ausdruck von guten sozialen Verhältnissen,wenn 2,6 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäf-tigte zusätzlich einen Minijob annehmen müssen, um ih-ren Lohn aufzubessern? Oder ist es etwa Ausdruck einerguten sozialen Situation, wenn 761 000 Rentnerinnenund Rentner arbeiten gehen müssen, um ihre schmalenAltersbezüge aufzustocken? Ich frage Sie: Wann habendiese Menschen Zeit für ihre Kinder, für pflegebedürf-tige Angehörige, für ehrenamtliche Arbeit in unserer Ge-sellschaft oder einfach nur einmal für sich selbst?Meine Damen und Herren, wir brauchen keine Ar-beitsministerin, die sich in einem vermeintlichen Job-wunder sonnt. Sicher, in den vergangenen Jahren sindauch gute Arbeitsplätze entstanden. Aber das sogenanntedeutsche Jobwunder basiert doch überwiegend auf Bil-ligjobs wie Leiharbeit, Beschäftigung im Rahmen vonWerkverträgen und Minijobs. Jeder fünfte Arbeitnehmerin Deutschland bekommt nur einen Niedriglohn, und da-mit ist auch Altersarmut vorprogrammiert. Wir als Linkesagen: So kann das nicht weitergehen.
Wir erwarten von der Arbeitsministerin, dass sie inder Koalition gesetzliche Regelungen, die die arbeiten-den Menschen schützen, durchsetzt. Ich sage Ihnenauch: Wir brauchen keine Arbeitsministerin in unseremLand, die unstet von einem Thema zum anderen hüpftund so tut, als müsse sie sich allen als Ersatzkanzlerinanbieten.
Wir brauchen endlich einen gesetzlichen Mindestlohnin Höhe von 10 Euro, und wir brauchen ein Verbot vondiskriminierender Leiharbeit. Wir brauchen ordentlicheund zuverlässige Qualifizierung von Arbeitslosen.
Minister Schäuble hat am Dienstag zwei richtigeDinge gesagt:Er hat zum einen darauf verwiesen, dass Deutschlandbisher relativ gut durch die Krise gekommen sei. Das istrichtig, wenn man das Wort „relativ“ mit beachtet.Zweitens hat Minister Schäuble darauf hingewiesen,dass das nicht automatisch immer so bleiben wird. Auchdas ist richtig. Da dachte ich mir, dass Sie, Frau von derLeyen, so etwas vielleicht auch einmal in Ihrem Kabinettbesprechen und dass diese Erkenntnisse in die Haus-haltsaufstellung einfließen. Aber bei der Aufstellung Ih-res Haushalts gehen Sie davon aus, dass die Konjunkturanhält und die Arbeitslosenzahlen weiter sinken. Das hatmit der Realität nichts zu tun – leider.Die Wirtschaftsorganisation OECD geht davon aus,dass die Rezession noch in diesem Jahr auch Deutsch-land treffen kann. Wie reagieren Sie auf diese unerfreuli-che Prognose? Völlig falsch! Die Bundesregierung hatfatalerweise bereits im Jahr 2010 beschlossen, im Zeit-raum von 2011 bis 2014 in der aktiven Arbeitsmarktpoli-tik 16 Milliarden Euro zu streichen.Das ist noch nicht alles. Zählt man den Bereich derSozialleistungen wie zum Beispiel die Streichung desElterngelds oder die der Rentenbeiträge für Arbeitslo-sengeld-II-Empfänger hinzu, dann ergibt sich eine Kür-zungssumme von etwa 30 Milliarden Euro. Das ist un-verantwortlich. Das muss zurückgenommen werden.
Wir müssen jetzt vorausschauend einen Schutzschirmfür Arbeitnehmerinnern und Arbeitnehmer aufspannen.Wir brauchen eine wirklich aktive Arbeitsmarktpolitik.Wir brauchen einen guten öffentlichen Beschäftigungs-sektor, und wir brauchen Sonderregelungen zur erleich-terten Kurzarbeit sowie eine Verlängerung der Bezugs-dauer des Arbeitslosengelds I.Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: All das istwirklich finanzierbar. Es geht allerdings nur durch eine
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Dr. Gesine Lötzsch
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solidarische Umverteilung in unserer Gesellschaft. Dasheißt, starke Schultern müssen mehr tragen. Wir brau-chen eine höhere Erbschaftsteuer, eine höhere Einkom-mensteuer und eine Millionärssteuer, und wir brauchenendlich nicht nur das Gerede über die Einführung derFinanztransaktionsteuer, sondern wir brauchen eineschnelle Einführung einer wirklichen Finanztransaktion-steuer.
Meine Damen und Herren, wir werden die Haushalts-beratungen dazu nutzen, für einen wirklich soliden undsolidarischen Haushalt zu kämpfen. Dieser Haushalt istnicht zukunftsgewandt. Er ist nicht verantwortlich. Ersteht auf tönernen Füßen. Das haben die Menschen inunserem Land nicht verdient.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Lötzsch. – NächsteRednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist un-sere Kollegin Frau Priska Hinz. Bitte, Frau Kollegin.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Frau von der Leyen, an einem Thema haben Sie beider Einbringung Ihres Einzelplans konsequent vorbeige-redet, nämlich an dem Thema, dass Ihr Etat das Spar-schwein des Finanzministers ist, und zwar seit Beginndieser Wahlperiode.
Dieses Sparschwein wird permanent geschlachtet.
Nirgendwo spart die Bundesregierung so dreist Geldein wie bei diesem Etat und bei den Beitragszahlerinnenund Beitragszahlern. Von 2011 bis geplant 2014 sind esim Sozialbereich Kürzungen in Höhe von 30 MilliardenEuro. Frau Winterstein stellt sich hier hin und sagt: Wirfinden es gut, dass im Haushalt endlich einmal gespartwird.
Meine Damen und Herren, das geht zulasten derjenigen,die Unterstützung brauchen. Das ist keine Konsolidie-rung des Haushalts. Den anderen Teilaspekt, den Sie ein-mal versprochen haben, dass eine Konsolidierung auchvon den Unternehmen mitgetragen werden muss – wirsagen, sie muss auch von Vermögenden mitgetragenwerden –, blenden Sie völlig aus. Das ist wirklich einDrama.
Frau von der Leyen, Sie kündigen medienwirksamimmer neue Baustellen an. Jetzt ist es die Bekämpfungder Altersarmut. Es ist doch klar: Das beste Mittel zurBekämpfung der Altersarmut sind Einstiegschancen inden Arbeitsmarkt, Qualifizierung und Aufstiegschancenaus dem Niedriglohnsektor, in dem sich inzwischen je-der Fünfte befindet, und gute und konsequente Mindest-löhne. Auch hier haben Sie eine Baustelle aufgemacht.Irre ist nur, dass Sie all das ankündigen, aber nie zumRichtfest kommen. Sie kommen von der Baustelle nichteinmal bis zum Richtfest, und das werfen wir Ihnen zuRecht vor.
Bei der Agentur für Arbeit wird besonders gespart. Indiesem Jahr gibt es dort wieder einen Taschenspieler-trick. Nach dem Geschehen im letzten Jahr, bei dem derBA ein halber Mehrwertsteuerprozentpunkt entzogenwurde, damit die Grundsicherung im Alter finanziertwerden kann, wobei diese Finanzierung eigentlich zulas-ten des Bundeshaushalts in Form einer Steuerfinanzie-rung hätte geschehen müssen, werden der Bundesagen-tur für Arbeit jetzt 2 Milliarden Euro genommen. Dassind 2 Milliarden Euro, die bei der aktiven Arbeitsmarkt-politik fehlen.Wir haben beim Gründungszuschuss gesehen, wasdann passiert. Da bricht dieses erfolgreiche Instrumentvöllig weg. Die Menschen, die Interesse haben, die – umin Ihren Worten zu sprechen – fleißig sein wollen, habengar keine Chance mehr, fleißig zu sein und auf eineRente hinzuarbeiten, in welchem System auch immer.
Auch Qualifizierung kostet Geld. Nur wenn man qua-lifiziert, kann man Menschen in Arbeit bringen und er-reichen, dass sie überhaupt für die Rente vorsorgen, dasssie in die Rentenkasse einzahlen und auch noch privateVorsorge betreiben. Qualifizierung ist aber nur möglich,wenn man die Mittel dafür nicht streicht, wie Sie es tun.Deswegen sagen wir ganz klar: Wir wollen einen sozia-len Arbeitsmarkt. Wir wollen aktive Arbeitsmarktpoli-tik, die Menschen den Zugang gewährt und ihnen dieMöglichkeit eröffnet, sich zu qualifizieren, um tatsäch-lich gute Löhne und gute Arbeitsplätze zu haben.
Ich weiß nicht, woher Sie den Glauben nehmen, dassdie Konjunktur so bleibt, wie sie ist, Frau Winterstein.
Sie reden von Überschüssen, die die BA demnächst ha-ben wird. Aber die Wachstumsprognosen werden jetztschon wieder zurückgenommen. Herr Weise, der bei unsregelmäßig im Ausschuss ist, hat deutlich gemacht, dasses diese Überschüsse nur geben kann, wenn die Situationso bleibt, wie sie ist, und die Arbeitslosenzahlen nichtweiter steigen.
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Priska Hinz
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Aber was haben wir zu verzeichnen? Das Konjunk-turwachstum bricht laut Prognosen ein, und die Zahl derArbeitslosen steigt auch schon wieder an. Deswegenweiß ich nicht, woher Sie Ihren Glauben nehmen, dassalles gut wird. Gerade die BA dürfte nicht geschröpftwerden; denn in Zeiten der Krise brauchen wir die BA.Das hat sich bei den Kurzarbeiterlöhnen gezeigt. Nurwenn wir solche Überbrückungsmöglichkeiten haben,können Menschen und Unternehmen tatsächlich erfolg-reich Krisen überstehen. Das ist das, was wir Grünenverfolgen und worauf wir unsere Politik ausrichten.
Sie liefern das leider alles nicht. Mit dem vorliegen-den Entwurf reiht sich der Sozialetat in die traurigeReihe der Etats mit fehlender Vorsorge im Bundeshaus-halt für das Jahr 2013 ein.
Ich finde, Sie sollten sich an unseren Vorschlägenorientieren. Wir brauchen eine steuerfinanzierte Garan-tierente. Wir brauchen aktive Arbeitsmarktpolitik. Wirbrauchen Mindestlöhne, und wir brauchen einen sozia-len Arbeitsmarkt. Dafür werden wir kämpfen, meineDamen und Herren.
Vielen Dank, Frau Kollegin Hinz. – Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Karl Schiewerling. Bitte schön, Kollege
Karl Schiewerling.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Hört man den Rednern– oder wenigstens einigen von der Opposition – hier zu,so gewinnt man den Eindruck, als drohe in Deutschlanddie blanke Verelendung. Wenn wir uns die Umfragen an-schauen, erleben wir aber etwas völlig Neues. Wir erle-ben nämlich, dass die Menschen plötzlich deutlich weni-ger Angst vor Arbeitslosigkeit haben. Nach der Statistik,die aussagt, wovor sich Menschen fürchten, ist die Angstvor Arbeitslosigkeit deutlich gesunken.
Das kommt nicht von ungefähr. Deswegen ist eswichtig, darauf hinzuweisen, dass wir in der Tat einenZuwachs an Beschäftigung haben. Wir haben eine sohohe Beschäftigung, wie wir sie seit der Wiedervereini-gung nicht hatten. Allein im Vergleich zum letzten Jahrsind es 470 000 Beschäftigte mehr. Wir haben dank un-seres dualen Systems die niedrigste Jugendarbeitslosig-keit. Wir haben einen Rückgang der Langzeitarbeits-losigkeit um etwa 40 Prozent. Zum ersten Mal seit45 Jahren erleben wir, dass nach einer Rezession keinhöherer Sockel von Arbeitslosen zurückbleibt, sonderndass der Sockel der Arbeitslosen, auch der Langzeitar-beitslosen, kleiner wird.
Wir sollten uns gemeinsam darüber freuen. Wir soll-ten froh sein, dass wir diese Entwicklung haben. Vor die-sem Hintergrund wäre es unvernünftig, den Haushaltnicht darauf auszurichten. Deswegen – und nur deswe-gen – kann im Haushalt der BundesarbeitsministerinGeld eingespart werden.
Es wird eingespart, weil es den Menschen besser gehtund deswegen die Hilfesysteme an dieser Stelle nichtnötig sind.
Meine Damen und Herren, ob aber diese positive Ent-wicklung anhält – das sage ich Ihnen sehr deutlich –,hängt auch mit der Frage zusammen, wie sich die Staats-schuldenkrise entwickelt und wie sie sich auf unsereKonjunktur auswirkt; das ist richtig. Ich freue mich, dassder Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit,Herr Weise, so optimistisch ist, dass er sagt: Sie wirdsich nicht negativ auf den Arbeitsmarkt auswirken.
Er geht davon aus, dass die prognostizierten Zahlen2013 erreicht werden. Ich freue mich sehr, dass HerrWeise zu dieser Einschätzung kommt, und wie ich ihnkenne, hat er die Zahlen sauber durchgerechnet.Meine Damen und Herren, Frau Nahles, ich kommeauf einen Punkt zurück, der mich schon etwas überraschthat; ich habe da überlegt, ob ich in einem anderen Landlebe. Wir haben in dieser Koalition im Bereich der Ar-beitsmarktpolitik ganz maßgeblich Dinge verändert, diezu früheren Zeiten im Rahmen der Agenda 2010 ge-macht worden sind. Die Zeitarbeit ist von uns reguliertworden, in dieser Legislaturperiode. Wir haben dieDinge wieder so weit in Ordnung gebracht, dass wir inder Lage sind, in der Zeitarbeit bessere Arbeitsbedingun-gen zu gewährleisten.
Deswegen gibt es in der Zeitarbeit keine „blanke Ver-elendung“. Es mag nach der Definition eine atypischeBeschäftigung sein; aber Fakt ist, dass wir im Bereichder Zeitarbeit durch Drehtürklauseln und Mindestlohntarifliche Regelungen gefunden haben, die Equal Paynahekommen.
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Karl Schiewerling
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Insofern bin ich froh, dass wir hier in einer guten Gesamt-entwicklung sind. Dies geht von der Arbeitsmarkt- undSozialpolitik dieser Koalition aus; dies wurde von derCDU/CSU-Bundestagsfraktion auf den Weg gebracht.
Kollege Karl Schiewerling, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Schaaf von der Fraktion der
Sozialdemokraten?
Ja.
Vielen Dank. – Karl Schiewerling, nun weiß ich ja,
dass Sie in der Regel sehr redlich sind. Würden Sie mir
recht geben, dass in der Großen Koalition gerade auch
die Zeit- und Leiharbeit Gegenstand der Debatten von
SPD und CDU/CSU war und dass sich die CDU/CSU im
Rahmen der Großen Koalition massiv geweigert hat,
einen Mindestlohn im Bereich der Zeit- und Leiharbeit
einzuführen, und zwar wegen der Wirtschaftspolitiker in
der Union? Würden Sie mir zugestehen, dass es stimmt,
dass ein solcher Mindestlohn auf der Tagesordnung der
Großen Koalition stand und die Union ihn verweigert
hat?
Ich möchte einen Dank aussprechen, dass die anstän-
digen Sozialpolitiker und die Ordnungspolitiker in der
FDP dafür gesorgt haben, dass das Enteignungspro-
gramm der Ministerin von der Leyen auf Kosten der
Rentnerinnen und Rentner und der Beitragszahlerinnen
und Beitragszahler, die von ihr vorgeschlagene Zu-
schussrente, verhindert worden ist. Dafür möchte ich
mich ausdrücklich bedanken.
In dem Zusammenhang habe ich noch eine Frage. Die
Ministerin unterstellt, dass wir in der Rentenversiche-
rung im Jahre 2030 unausweichlich bei einem Leistungs-
niveau von 43 Prozent des durchschnittlichen Netto-
lohns landen. Würden Sie mir zugestehen, dass die
Ministerin als Mitglied der Regierung gesetzeswidrig
handeln würde, wenn sie dies unwidersprochen hin-
nähme, weil nämlich das Gesetz vorsieht, dass die Re-
gierung spätestens 2020 Vorschläge zu machen hat, wie
ein Leistungsniveau von 46 Prozent zu halten ist, sofern
abzusehen ist, dass dieses Niveau unterschritten werden
könnte? Die Ministerin hat sich hier hingestellt und so
getan, als wäre ein Leistungsniveau von 43 Prozent
unausweichlich. Das würde auch bedeuten, dass sie nicht
dagegensteuern würde, aber nach dem Gesetz müsste sie
es machen. Kann ich davon ausgehen, dass die CDU/
CSU, die dann wahrscheinlich nicht an der Regierung
ist, gesetzestreu agieren würde und ein Leistungsniveau
von 46 Prozent halten würde?
Sie können getrost davon ausgehen, dass die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion alles daransetzen wird, die
Altersrenten und die Altersabsicherung angesichts der in
der Tat auf uns zukommenden Entwicklung in eine Form
zu gießen, die es erlaubt, dass die Menschen, die, wie es
die Bundesarbeitsministerin vorhin dargelegt hat, getan
haben, was sie können – ich füge an dieser Stelle schon
jetzt hinzu: Das gilt aus meiner Sicht insbesondere für
die Frauen, die Kinder erzogen haben, die ihre Eltern im
Alter gepflegt haben, die arbeitslos waren, wieder einen
Minijob bekommen haben, wieder eine Teilzeitstelle
bekommen haben, wieder erwerbslos waren, aber ganz
wichtige Beiträge für die Zukunft unserer Gesellschaft
geleistet haben –, nicht auf Sozialhilfeniveau fallen. Da-
rüber werden wir reden. Alle anderen Fragen, die renten-
politisch zu beachten sind, werden wir in einem Dialog
aufgreifen und eine Lösung voranbringen.
Herr Kollege Schaaf, Ihre erste Frage war, ob wir in
der Großen Koalition über das Thema Leih- und Zeitar-
beit diskutiert haben. Ja, das ist in der Großen Koalition
diskutiert worden, und zwar unter Berücksichtigung der
damaligen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen,
das heißt, unter Berücksichtigung der Bedingungen, die
die Koalition, auch die CDU/CSU, damals vorgefunden
hat. Wir sind froh, dass sich die Bedingungen jetzt geän-
dert haben. Das ist auch die Antwort auf die Frage,
warum wir auf die aktuellen Entwicklungen, die damals
gerade begonnen haben, später reagiert haben.
Kollege Karl Schiewerling, darf ich Sie fragen, ob Sie
eine weitere Zwischenfrage zulassen?
Nein.
Ich möchte noch darauf hinweisen, lieber Herr Kollege
Anton Schaaf, dass es unter den Sozialpolitikern – das gilt
für alle Politiker – nur anständige Menschen gibt.
Bitte schön, Kollege Karl Schiewerling, machen Sie
weiter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! InDeutschland herrscht Fachkräftemangel. Das hat es überviele Jahre nicht gegeben. Ich will dieses Thema an die-ser Stelle aufgreifen, weil das auf das Engste mit denpositiven Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zusam-menhängt. Ich bin froh, dass auf dem diesjährigen Som-merempfang der Industrie- und Handelskammer NordWestfalen Präsident Dr. Hüffer zu Recht darauf hinge-wiesen hat, dass es bei der Diskussion über den Fach-
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Karl Schiewerling
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kräftemangel nicht nur um möglicherweise fehlendeAkademikerinnen oder Akademiker geht. Vielmehrmüssen wir endlich unseren Blick darauf richten, dasswir auch gut ausgebildete Handwerkerinnen und Hand-werker, Meisterinnen und Meister im Bereich Handwerkbrauchen. Daher halte ich es für notwendig, diesen Be-reich stärker in den Fokus der Debatte zu nehmen. Dakann jemand noch so hoch angesiedelt sein in seiner aka-demischen Ausbildung: Wenn sein Wasserspülbeckennicht in Ordnung gebracht wird, dann wird er keinenSpaß am Leben haben.
Die Hauptklage, die mir aus meiner Region, demMünsterland, immer wieder zugetragen wird, ist: Unsfehlen gut ausgebildete Handwerker. In diesem Bereichmüssen wir mächtig gegensteuern. Wir müssen in unse-rem Land dafür sorgen, dass Bildung nicht mit Hoch-schulbildung gleichzusetzen ist, sondern dass Bildungauch mit handwerklicher Bildung gleichzusetzen ist,auch sie beinhaltet Perspektive und Qualifizierung.Wenn wir diesen Sachverhalt nicht in den Mittelpunktrücken, dann werden wir uns wundern, was im zentralenBereich unserer Wirtschaft, dem handwerklichen Be-reich, geschieht.
Lassen Sie mich einen weiteren Bereich ansprechen.Die Entwicklung im Bereich der Grundsicherung fürAr-beitsuchende bewegt uns alle. Mit den Änderungen imSGB II haben wir tatsächlich erreicht, dass wir 40 Pro-zent weniger Langzeitarbeitslose haben. Über 1 MillionMenschen ist aus diesem Bereich – Gott sei Dank – aus-geschieden. Wir haben gemeinsam – das betone ich andieser Stelle sehr deutlich – im Rahmen der neuen Ent-wicklungen, die mit dem SGB II angestoßen wordensind, Ordnung geschaffen. Wir haben eine Organisa-tionsreform durchgeführt, wir haben die Regelsätze an-gehoben, und wir haben das Bildungs- und Teilhabepa-ket auf den Weg gebracht. Es bleibt dabei: Das SGB IIist ein lernendes System, in dem ständig die Erfahrungenneu gesammelt und ausgewertet werden. Das führt letzt-endlich zu neuen Schritten.
Dank der guten Konjunktur sind wir in nicht wenigenOrten an den harten Kern der Langzeitarbeitslosen he-rangekommen. Zu Beginn nächsten Jahres wird es not-wendig sein, zu überprüfen, was die Organisationsre-form gebracht hat. Wie haben sich die Dinge entwickelt?Was ist aus den Wirkungen des Instrumentenkastens ge-worden, der erst ab dem 1. April dieses Jahres seine Wir-kung entfaltet? Dann müssen wir die nächsten Schritteeinleiten. Aber um eines werbe ich hier im HohenHause. Wir dürfen nicht jedes Mal anfangen, neue Ge-setze zu verabschieden und Verordnungen zu erlassen,sobald ein Problem auftaucht. Wir müssen den Men-schen erst einmal Luft geben, um reagieren zu können,um Erfahrungen zu sammeln, die hinterher ausgewertetwerden können.
Ich will darauf hinweisen, dass im Einzelplan derBundesarbeitsministerin Programme aufgeführt sind, dieebenfalls ihre Wirkung entfalten, zum Beispiel das Pro-gramm der Bürgerarbeit oder wenn es um die Integrationder Älteren in den Arbeitsmarkt geht. Wir bleiben injedem Fall am Ball. Wir werden die Dinge weiterent-wickeln, damit auch Menschen mit multiplen Vermitt-lungshemmnissen Chancen auf dem Arbeitsmarkt be-kommen.Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, nämlichzur Frage der Alterssicherung. Ich gehe davon aus, dassmein Kollege Max Straubinger darauf gleich noch imDetail eingehen wird. Mir ist es ein großes Anliegen, andieser Stelle deutlich zu machen, dass die Grundsiche-rung im Alter, die wir eingeführt haben
– die in der Bundesrepublik eingeführt wurde –, ein Sys-tem ist, dessen Wirkung nicht unterschätzt werden darf.Es ist kein System dritter Klasse, sondern es unterstütztMenschen, damit sie aufgefangen werden und nicht insBodenlose fallen. Deswegen rate ich dringend dazu, dasThema Rente als Lohn für Lebensleistung im Blick zubehalten und es in der Alterssicherung aufzunehmen.Manche Diskussionsbeiträge zur Frage der Absenkungdes Beitrags von 19,6 auf 19,0 Prozentpunkte
haben mich zum Nachdenken gebracht. Ich wunderemich, dass diejenigen, die den kapitalgedeckten Syste-men mehr als kritisch gegenüberstehen, jetzt auf einmalgar nicht genug Geld in der Rücklage haben können.
Selbst wenn wir den Beitrag jetzt auf 19,0 Prozentpunkteabsenken, bleiben immer noch 28 Milliarden Euro in derRücklage. Ich lenke allen Ernstes den Blick auf ein Pro-blem, das neu ist, und ich bitte Sie, es ernst zu nehmen.Die Bedingungen, unter denen die Rentenversicherungdas Geld anzulegen hat, dass es nämlich mündelsicherangelegt und kurzfristig verfügbar im Rahmen von60 bis 90 Tagen ist und dann auch noch Erträge erwirt-schaftet, um die Inflationsrate auszugleichen, sind amKapitalmarkt unmöglich einzuhalten. Jeden Tag verlie-ren dann die Rücklagen, die dort liegen, an Wert. Wirnehmen damit denjenigen, die Beiträge geleistet haben,ein Stück Wert weg.
Aus diesem Grunde bin ich dafür, die Mittel zurückzuge-ben bzw. den Beitragssatz abzusenken; denn dann ist dasGeld bei den Betrieben und den Versicherten besser auf-gehoben.Ich bin dafür, dass wir uns darauf verständigen, dassdie Untergrenze, bis zu der die Rücklage abgesenkt wer-den darf, nicht mehr bei 0,2 Monatsausgaben liegt, son-dern höher angesiedelt wird, und zwar bei 0,5 Monats-
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Karl Schiewerling
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ausgaben. Ich weiß noch, dass wir im Dezember 2005ein Darlehen benötigten, um die Rente überhaupt aus-zahlen zu können. Auf der anderen Seite müssen wireinen breiteren Korridor schaffen, der zwei oder dreiMonatsausgaben beinhaltet. Wir müssen von der starrengesetzlichen Regelung wegkommen und den Kapital-markt beobachten und von Fall zu Fall vernünftig ent-scheiden, wie wir mit der Rücklage umgehen. Ichglaube, das ist die Antwort auf die Erfahrungen, die wirin den letzten Wochen und Monaten gesammelt haben.
Meine Damen und Herren, ich danke der Bundes-arbeitsministerin sehr herzlich, dass es ihr gelungen ist,das Thema Sicherung im Alter auf die Tagesordnung zusetzen.
Keiner kommt mehr an diesem Thema vorbei. Es ist gut,dass wir die Augen davor nicht verschließen. Es ist keinangenehmes Thema, es ist ein schwieriges Thema.
Es ist eine große Herausforderung, aber wir müssen siejetzt anpacken, das schulden wir der künftigen Genera-tion. Es geht um die Frage, ob sich die Menschen auf unsverlassen können.
Kollege Schiewerling, bitte kein neues Thema mehr
beginnen.
Es geht unter dem Strich darum, dass die Menschen,
weil sie sich auf uns verlassen können, mit Sicherheit
und voller Hoffnung in die Zukunft schauen können.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Karl Schiewerling. – Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist unsere Kollegin Elke
Ferner für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte
schön, Frau Kollegin Elke Ferner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbin einmal sehr gespannt, auf was sich die Koalition ver-ständigen wird; denn offenbar gibt es noch keine Eini-gung über das Thema Alterssicherung. Bei Frau von derLeyen, muss ich sagen, ist es wie immer: Sie macht einegroß angelegte PR-Kampagne, kündigt eine Wohltat anund verpackt diese dann in einem wunderschönen Paket.Wenn der Empfänger das Paket öffnet, kommt das böseErwachen. Es geht Ihnen, Frau von der Leyen – ich mussdas leider so deutlich sagen –, immer nur um die eigeneSelbstinszenierung. Es geht Ihnen nicht um die Lösungdes Problems.
Sie preisen die Zuschussrente an als das Allheilmittelgegen Altersarmut, und in dem schönen Paket ist nichtsanderes drin als ein Placebo.Die Ursachen der Altersarmut bekämpfen Sie über-haupt nicht. Sie tun nichts – Frau Nahles hat das ebengesagt – gegen die zunehmende Anzahl befristeter Ar-beitsverhältnisse bei den jungen Leuten – das ist inzwi-schen das Normalarbeitsverhältnis geworden –, Sie tunnichts zur Durchsetzung eines flächendeckenden gesetz-lichen Mindestlohns, Sie tun nichts – gar nichts! – gegendie Entgeltdiskriminierung von Frauen,
Sie tun nichts, um Frauen, die einmal auf Teilzeit redu-ziert haben, einen Rechtsanspruch auf Vollzeit bzw. ih-ren alten Arbeitsplatz zu gewähren – das fordert sogarIhre Kollegin Schröder –, und Sie tun auch nichts, umden Anteil der Frauen nicht nur in den oberen, sondernauch in den mittleren Führungsebenen zu erhöhen. Siehalten nur Sonntagsreden, in denen Sie von Ihrer Kolle-gin Frauenministerin das fordern, was Sie als Frauen-ministerin nicht gemacht haben. Das ist Ihre Politik,Frau von der Leyen.
Es geht noch weiter: Sie kürzen dann auch noch beider aktiven Arbeitsmarktpolitik. Ich frage Sie: Wann,wenn nicht gerade in Zeiten guter Konjunktur, hat mandas notwendige Geld dafür, die Langzeitarbeitslosen, diees noch immer nicht geschafft haben, so zu qualifizieren,dass sie eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben? Siegeben diese Langzeitarbeitslosen mehr oder weniger auf.Eines muss ich Ihnen zu Ihrer Zuschussrente auchnoch sagen: Sie machen Fehler in der Arbeitsmarktpoli-tik – dort tun Sie ja eigentlich gar nichts –,
setzen den Hut der Rentenministerin auf und klagen da-rüber, dass es im Alter möglicherweise nicht reicht. Da-bei ziehen Sie Zahlen hinzu, aufgrund derer man Sieschon einmal fragen darf, was eigentlich Ihr Bild ist undob Sie überhaupt noch daran interessiert sind, dass dieMenschen Vertrauen in die gesetzliche Rentenversiche-rung haben.Es ist ja unbestritten, dass auch jemand nach 30 Er-werbsjahren mit einem Durchschnittseinkommen nichtwirklich über die Armutsschwelle kommt. Wollen wiraber wirklich, dass die Menschen nur 30 Jahre lang er-werbstätig sein können? Sie verteidigen die Rente mit67. Ich rechne jetzt einmal 30 Jahre herunter: Sollen dieMenschen erst mit 37 Jahren anfangen, zu arbeiten? Wasist denn das für ein Vergleich, den Sie hier ständig an-stellen?Ich glaube auch, dass Ihre Zuschussrente das Ver-trauen in die gesetzliche Rentenversicherung untergräbt,weil Sie damit keine Gerechtigkeit herstellen. Sie schaf-fen es damit nicht, die Altersarmut zu bekämpfen und zureduzieren, und Sie schaffen neue Ungerechtigkeiten,weil diejenige, die es nicht schafft, privat vorzusorgen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23109
Elke Ferner
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weil sie als alleinerziehende Verkäuferin die 10 Euro, diesie im Monat übrig hat, vielleicht lieber in ihr Kind als inihre eigene Altersversorgung investiert, keine Zuschuss-rente bekommt, obwohl sie genauso lange gearbeitet hatwie die Chefarztgattin bei der Freundin in der Boutique,die privat vorsorgen konnte und sie bekommt. Ist denndie Lebensleistung der alleinerziehenden Verkäuferinweniger wert als die der anderen? Ich muss sagen: Siestellen hier keine Gerechtigkeit, sondern nur eine neueUngerechtigkeit her. Ihre Zuschussrente ist wirklich Au-genwischerei und sonst nichts.
Es geht noch weiter. Sie tun in Sachen Gleichstel-lungspolitik ja immer so modern. Eigentlich haben Siesich eben selber verraten; denn Sie haben gesagt, dassman unter anderem viele Kinder erziehen muss. Dannbekäme man auch eine anständige Rente. Wissen Sie,was Sie mit Ihrer Zuschussrente machen? Die Frauen,die einen relativ geringen eigenen Rentenanspruch ha-ben, gehen leer aus; denn die, die schon in Rente sind,bekommen nichts. Denjenigen, die schon lange gearbei-tet haben, werden erst die neuen Zeiten besser bewertet.Das heißt, sie haben nur relativ wenig davon. Der Frau-engeneration, die es aus eigener Kraft schaffen könnte,über die Armutsschwelle zu kommen, suggerieren Sie:Am besten ist es, du verdienst relativ wenig, weil du so-wieso 850 Euro bekommst. – Jetzt sagen Sie auch noch:Bekommt viele Kinder, erzieht sie und arbeitet nicht,dann habt ihr auch eine anständige Rente.Sie preisen der jungen Frauengeneration erneut dasZuverdienermodell an, Frau von der Leyen. Das ist ei-gentlich das Gegenteil von dem, was Sie sonst immerproklamieren.
Ich sage Ihnen noch eines: Der Totalverriss Ihres Vor-schlags, den Sie von allen Seiten – auch aus Ihrer eige-nen Koalition – gehört haben, kommt ja nicht von unge-fähr. Eigentlich geht man so vor: Man versucht, dasProblem zu identifizieren, und diskutiert dann über dieLösung. Sie bieten aber eine Lösung an, und wenn Siedann merken, dass niemand von Ihrer Lösung wirklichbegeistert ist, dann versuchen Sie, ein Problem dafür zufinden.Dieses Problem gibt es natürlich. Es bestreitet ja nie-mand, dass es durch die niedrigen Löhne in Zukunftmöglicherweise mehr Altersarmut gibt. Am Schluss ha-ben Sie die bekannten Zahlen vorgelegt, um Ihre eigenenLeute in die Ecke zu drängen, damit sie am Ende Ihrerkomischen Zuschussrente zustimmen.
Das ist keine seriöse Politik, Frau von der Leyen. Das istKamikazepolitik. Ich sage Ihnen: Mit dieser Kamikaze-politik befinden Sie sich in allerbester Gesellschaft mitFrau Merkel und Ihren Kabinettskollegen und Kabinetts-kolleginnen.Zum Schluss möchte ich noch etwas zu der Beitrags-satzsenkung sagen. Die Beitragssatzsenkung ist wirklichmehr als dümmlich. Sie senken jetzt den Beitragssatz,um ihn dann, nach Ihren eigenen Angaben, sukzessivebis zum Jahr 2020 wieder hochzusetzen.
Wann, wenn nicht in guten Zeiten, versuche ich, mirRücklagen zu schaffen, um in den schlechten Zeiten bes-ser dazustehen?
Wir wissen alle, dass die Konjunktur nicht so weiterlau-fen wird wie jetzt. Wenn nachher die konjunkturelleDelle kommt – weniger Beitragseinnahmen bei gleich-zeitig steigenden Beitragssätzen –, dann verschärft sichdas Problem. Deswegen kann ich Sie nur ermuntern:Stimmen Sie dem zu, was einige Ihrer Landesministerund auch wir wollen. Lassen wir den Beitragssatz so,wie er jetzt ist, damit wir jetzt wirklich einmal vorsorgenkönnen, damit wir uns einen Puffer für die Zukunft ver-schaffen.Ihr Zuschussrentenmodell – das sei am Schluss nochgesagt –, ist für uns überhaupt nicht verhandelbar, zu-mindest nicht, bevor Sie nicht angefangen haben, die Ur-sachen zu bekämpfen. Diesbezüglich müssen Sie in Vor-leistung gehen, und dann sehen wir weiter. Ich denke,spätestens im nächsten Jahr werden wir hier Veränderun-gen haben.Schönen Dank.
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Al-tersarmut ist ein Problem, das heute glücklicherweisenur vergleichsweise wenige Menschen betrifft.
Es ist ein Problem, das in Zukunft an Bedeutung gewin-nen kann, aber nicht an Bedeutung gewinnen muss. Wirhaben durchaus die Gestaltungsfreiheit und Gestaltungs-möglichkeiten, wenn wir heute anfangen, weil Renten-fragen immer Fragen mit langer Laufzeit sind.Ich will darauf hinweisen, dass aus meiner Sicht diegesetzliche Rente sicher ist. Ich sage das hier ohne Wennund Aber.
Sie ist und bleibt die wichtigste Säule der Altersvorsorgein Deutschland. Die gesetzliche Rentenversicherungführt in den allermeisten Fällen dazu, dass die Beitrags-zahler aus eigener Kraft einen Rentenanspruch oberhalbdes Grundsicherungsniveaus haben.
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Dr. Heinrich L. Kolb
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Dem, was Frau Ferner hier gesagt hat, ist beizupflich-ten: Es verbietet sich, mit Beitragszeiten von 35 Jahrenzu rechnen. Herr Rische von der Deutschen Rentenversi-cherung hat in einem Beitrag darauf hingewiesen, dasses realistischer wäre, von Beitragszeiten zwischen40 und 47 Jahren auszugehen. Bei solchen Beitragszei-ten erreicht man auch mit einem durchschnittlichenLohnniveau eine eigene Altersvorsorge oberhalb derGrundsicherung.Wir setzen auf ein weiter gehendes Konzept. Die ge-setzliche Rente – diesbezüglich gab es hier im Deut-schen Bundestag einen breiten Konsens – muss um min-destens ein weiteres Instrument ergänzt werden, um dieprivate und/oder betriebliche Vorsorge. Viele Menschenin Deutschland haben das erkannt. 60 Prozent der Ar-beitnehmer zahlen in die betriebliche Altersvorsorge ein.Das sind 19,6 Millionen Menschen. 15,6 MillionenMenschen haben einen Riester-Vertrag. Auch für dieje-nigen, die schon heute privat und/oder betrieblich vor-sorgen – auch diese Menschen darf man nicht verunsi-chern –, gilt, dass sie in der Summe aus gesetzlicherRente und privater und/oder betrieblicher Vorsorge einAlterseinkommen deutlich oberhalb der Grundsicherungerzielen werden. Das wird auch in Zukunft in der weitüberwiegenden Mehrzahl der Fälle so sein. Das ist derNormalfall in Deutschland, und das ist gut so.
Es gibt aber ein Problem, Herr Kollege Birkwald: FürGeringverdiener lohnt es sich heute nicht, in die privateoder betriebliche Vorsorge zu investieren, weil dieseMenschen, falls die erwirtschaftete Leistung das Grund-sicherungsniveau möglicherweise doch nicht überschrei-tet, erleben müssen, dass das, was sie mit eigenerAnstrengung erwirtschaftet haben, voll und ganz ange-rechnet wird. Das halten wir für falsch und dringend ver-änderungsbedürftig. Dieser Fehlanreiz muss beseitigtwerden. Wir von der FDP-Bundestagsfraktion fordernhiermit einen Freibetrag von 100 Euro und darüber hi-naus die Nichtanrechnung von weiteren mindestens20 Prozent, um auch Geringverdienern das klare Signalzu geben: Es lohnt sich, selbst etwas zu tun. Wenn dieseKräfte zusammenwirken, werden wir erleben, dass Al-tersarmut in vielen Fällen vermieden werden kann.
Die SPD weist in ihrem Papier noch auf etwas ande-res hin. Frau Kollegin Ferner, ich habe das Papier durch-aus intensiv gelesen.
Sie schreibt, dass ein hohes Maß an Beschäftigung einSchlüssel zur Bekämpfung der Altersarmut ist. Ich willhier in Erinnerung rufen – in diesem Bereich ist keineKoalition in den letzten Jahren und Jahrzehnten so er-folgreich gewesen wie diese –: Wir haben den Höchst-stand an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung inDeutschland.
– Nein, gerade wegen dieser Regierung. Ich sage gleichnoch mehr dazu.Sie mäkeln immer, Frau Kollegin Ferner, dass das Be-schäftigungsverhältnisse sind, die Ihnen nicht gefallen.Ich will betonen: Jeder Beitrag zählt, egal ob er aus ei-nem befristeten oder einem unbefristeten Arbeitsverhält-nis kommt. Sie zahlen beide in gleicher Weise auf dasindividuelle Rentenkonto ein.
Aus einem Zeitarbeitsverhältnis einen Beitrag zu ent-richten, ist immer noch besser, als als Langzeitarbeitslo-ser keinen Beitrag auf seinem Rentenkonto gutgeschrie-ben zu bekommen.
Ich bitte Sie, das bei Ihrer Kritik hier zu bedenken.
Ein hohes Maß an Beschäftigung sollte es auch amEnde des Erwerbslebens geben. Dies kann man – da den-ken Sie immerhin in die Richtung, in die die FDP schonseit langem denkt – mit flexiblen Übergängen gewähr-leisten.
Ich finde es wichtig, dass wir die Menschen möglichstlange im Erwerbsleben halten, sodass sie auch bei redu-zierter Arbeitszeit möglicherweise noch eine ganze Zeitlang weiter Rentenbeiträge einzahlen und damit auch er-neut Rentenansprüche erwerben, die sie dann abschlags-frei oberhalb der Regelaltersgrenze für die eigene Alters-vorsorge einsetzen können. Aber man darf es nicht sobürokratisch machen, wie Sie es vorschlagen: siebenJahre lang eine Reduzierung der Arbeitszeit um jeweils10 Prozent. Frau Kollegin Ferner, was soll das denn?
Wer grundsicherungsfrei ist, der soll jenseits der 60frei entscheiden können, ob und in welchem Umfang eroder sie noch erwerbstätig sein will. Man sollte sich hierauf ein unbürokratisches Konzept verständigen. Esmacht übrigens auch keinen Sinn, den Menschen vorzu-schreiben, wie viel sie verdienen dürfen. Gerade weil je-der Beitrag zählt und weil Zuverdienste voll verbeitragtwerden, macht es Sinn, den Menschen zu erlauben, mög-lichst viel verdienen zu dürfen, wenn sie als Teilrentnerparallel tätig sind.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23111
Dr. Heinrich L. Kolb
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Sie wollen mit Ihrem Vorschlag zur abschlagsfreienErwerbsunfähigkeitsrente, Frau Kollegin Ferner – dasmuss ich kritisch anmerken –,
das Tor zur Frühverrentung erneut sehr weit aufstoßen.Ich glaube aber, Ziel einer nachhaltigen Rentenpolitikkann nicht sein, die Menschen möglichst früh abschlags-frei in Rente zu schicken, sondern Ziel muss sein, dafürzu sorgen, dass sie möglichst lange gesund am Erwerbs-leben teilhaben können.
Das liegt übrigens auch im Interesse der Menschenselbst, weil Arbeit das Selbstwertgefühl steigert. DieVorschläge dafür habe ich schon genannt.Die Beitragssatzsenkung halte ich für erforderlich.Frau Kollegin Ferner, im Zusammenhang mit dem Fis-kalpakt hat sich die SPD auf europäischer Ebene sehr fürWachstumsprogramme ausgesprochen; diese konntenaus Ihrer Sicht nicht hoch genug sein. Ich will Ihnen ei-nes sagen: Wenn Sie endlich damit aufhören, im Bundes-rat die Beseitigung der kalten Progression zu blockieren,dann können wir 6,5 Milliarden Euro für die Menschenfreisetzen.
Wenn Sie die vorgesehene Rentenbeitragssatzsenkungauf 19,0 Prozent nicht verhindern, dann können wirweitere 6 Milliarden Euro gerade für Menschen mit ge-ringem Einkommen aktivieren. Ein solches Wachstums-programm, 12,5 Milliarden Euro aus dem Stand, istmöglich. Werfen Sie Ihr Herz über die Hürde, und helfenSie uns dabei, dies zu realisieren.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Matthias Birkwald für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine rie-sige Welle neuer Altersarmut rast auf uns zu, und wirLinken warnen seit Jahren vor ihr. Bisher wurde das alsSchwarzmalerei abgetan.
Darum danke auch ich Ihnen, Frau Bundesministerinvon der Leyen. Sie haben mit Ihrer Schocktabelle dafürgesorgt, dass endlich breit über Altersarmut diskutiertwird. Aber Ihre Zuschussrente wird an der Altersarmutleider nichts ändern. Darum sage ich Ihnen: IhreDiagnose ist fast richtig, nur Ihre Therapie ist leider völ-lig falsch.
Zur Diagnose gehört nämlich ebenfalls, dass die Al-tersarmut, Herr Kolb, schon heute bedrohlich näherkommt. Denn:Beständig sinkende Renten, steigende Zahlen in derGrundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde-rung sowie bei den minijobenden Menschen imRentenalter haben eines gemeinsam: Sie sind dieVorboten einer neuen Altersarmut.Über 40 Prozent der Menschen haben nach einer reprä-sentativen Emnid-Umfrage im Auftrag der Bild amSonntag – die ist kein linksradikales Kampfblatt – Angstvor Altersarmut.Ihr Ministerium, Frau von der Leyen, hat die Faktendazu klar auf den Tisch gelegt: Langjährig Versicherte,also Menschen, die 35 Versicherungsjahre erreichthaben, die neu in Rente gingen, haben im Jahr 2000 imDurchschnitt 1 021 Euro Rente gehabt. 2011 wurdenNeurentnerinnen und Neurentnern nur noch 953 Euroüberwiesen. Die durchschnittliche Rente bei vollerErwerbsminderung sank in dieser Zeit von 738 Euro auf634 Euro. Die durchschnittliche Rente der Frauen imWesten lag vergangenes Jahr bei mickrigen 593 Euro.Immer mehr Menschen im Rentenalter haben einenMinijob. 120 000 Minijobberinnen und Minijobber sindsogar älter als 75 Jahre. Vor allem sind immer mehrMenschen auf die Grundsicherung im Alter angewiesen.Doch das sind nur die offiziellen Zahlen. Viele Men-schen beantragen nämlich aus Scham die Grundsiche-rung im Alter nicht. Würden all diejenigen, die einenAnspruch auf Grundsicherung haben, sie auch wirklichbeantragen, würden wir hier heute nicht von 412 000,sondern von mehr als 1 Million armer Alter reden. Dasheißt, Altersarmut ist schon heute ein Problem, und dasin einem der reichsten Länder der Welt. Ich nenne daseine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit.
Es ist also allerhöchste Zeit, endlich umzusteuern.Die Rente muss wieder den einmal erworbenen Lebens-standard sichern, und sie muss vor Altersarmut schützen.
Ein ganz wichtiger Punkt dabei ist: Das Rentenniveaudarf nicht weiter gesenkt werden. Ganz im Gegenteil: Esmuss wieder auf 53 Prozent angehoben werden, also aufdas Niveau aus dem Jahre 2000, bevor SPD und Grünees gesenkt haben.
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23112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Matthias W. Birkwald
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Denn wenn das Rentenniveau weiter sinkt, ist die Gefahrfür die große Mehrheit der Friseurinnen, der Gebäude-reiniger, der Kellnerinnen und der Leiharbeiter, derBäckerinnen, der Floristen und der Hotelkauffrauen rie-sengroß, in die Altersarmut zu rutschen. Sie alle habenweniger als 2 200 Euro brutto im Monat. Das ist das Ein-kommen, das nach den Berechnungen von Frau von derLeyen direkt in die Altersarmut führt. Ich sage Ihnen:Das müsste nicht so sein.Wer davon spricht, Altersarmut bekämpfen zu wollen,macht sich völlig unglaubwürdig, wenn gleichzeitig dasRentenniveau weiter sinken soll. Das gilt für die CDU,für die FDP, für die SPD und auch für alle anderen, diedas wollen.
Deswegen ist das SPD-Rentenkonzept von SigmarGabriel ein ebenso schlechtes Rentenkonzept wie dasvon der CDU-Frau von der Leyen. Die SPD nenntimmerhin ein paar gute einzelne Punkte; das will ichkonzedieren. Aber das Rentenniveau soll weiter sinken.Auch an der Rente erst ab 67 wollen weder HerrSteinmeier noch Herr Gabriel irgendetwas ändern.
Dabei wird diese in Zukunft massiv für Rentenkürzun-gen sorgen. Deswegen ist es kein Wunder, dass die IGMetall das SPD-Konzept ablehnt. Völlig zu Recht!
Wir Linken haben noch einen ausgesprochen wichti-gen Grund, das Konzept des SPD-Chefs abzulehnen.Von der Angleichung der ostdeutschen Renten an dasWestniveau ist in dem ganzen Papier nichts zu lesen.Das ist wie bei der CDU und der FDP. Auch die machennichts für die Ostrentnerinnen und Ostrentner. Dabeimüssten die Renten der Menschen in den neuen Bundes-ländern so schnell wie möglich auf das Westniveauangehoben werden, damit sowohl diejenigen, die heuteRente bekommen, etwas davon haben als auch diejeni-gen, die dafür bestraft werden, dass sie heute mit 20 oder25 Jahren im Osten leben.
Innerhalb von fünf Jahren kann das Rentenniveau stu-fenweise angehoben werden. Darum sollten dafür2,4 Milliarden Euro in den Haushalt für das nächste Jahreingestellt werden.
Genau deshalb darf der Bundeszuschuss an die Ren-tenkasse im kommenden Jahr nicht um 1 Milliarde Eurogekürzt werden. Die Rentenkasse braucht jeden Cent fürRentengerechtigkeit und um Altersarmut zu vermeiden.Darum ist es richtig, auf die Beitragssatzsenkung von19,6 auf 19 Prozent zu verzichten. Auch das hilft, Alters-armut zu vermeiden.
Teilhabe darf auch im Alter nicht enden. Darum wol-len wir den Solidarausgleich innerhalb der Rente stärken.Deshalb will die Linke eine steuerfinanzierte, einkom-mens- und vermögensgeprüfte solidarische Mindestrente– diesen Begriff haben wir zuerst genannt – von zunächst900 Euro einführen, die schrittweise auf 1 050 Euroerhöht wird.
Das wäre eine Mindestrente, die vor Armut schützt unddie vor allem ihren Namen verdient.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Noch ein Jahr Schwarz-Gelb;
drei Jahre haben wir hinter uns. Die sozialpolitischeBilanz der Regierung kann man sich ganz aktuell auf derSeite des Statistischen Bundesamtes im Internetanschauen. Dort ist gerade die Topmeldung zu lesen,dass die Armutsgefährdungsquote zwischen 2010 und2011 von 14,5 Prozent auf 15,1 Prozent angestiegen ist.Es ist kein sozialpolitischer Erfolg, aus armen Arbeits-losen arme Erwerbstätige zu machen. Das ist einArmutszeugnis für die Bundesregierung.
Was hat die Ministerin nicht alles versprochen: eineinheitliches Rentensystem in Ost und West, ein Mittag-essen für alle Kinder, Geigenunterricht noch dazu,
einen flächendeckenden Mindestlohn. Doch dann lief esimmer nach dem gleichen Prinzip ab: Entweder machtdie Ministerin gar nichts, oder – wenn sie etwas macht –man wünscht sich, sie hätte besser nichts gemacht.
So sollte der Hartz-IV-Regelsatz neu berechnet wer-den; das war übrigens eine Forderung des Bundesverfas-sungsgerichts. Was kam nach über einem Jahr heraus?Es gab monatlich 5 Euro mehr.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23113
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte abernicht nur Auswirkungen auf Hartz IV, sondern auch aufdas Asylbewerberleistungsgesetz. Die Ministerin hatrelativ schnell festgestellt: Auch die Leistungen desAsylbewerberleistungsgesetzes sind an dieser Stelle ver-fassungswidrig. Dann hat es zweieinhalb Jahre gedauert,bis das Bundesverfassungsgericht erneut sagen musste:Hier muss etwas getan werden. – Denn was hatte dieBundesministerin unternommen? Nichts, gar nichts.
Was war mit der Ost-West-Rentenangleichung? Pas-siert ist nichts. Was war in Sachen Mindestlohn? Passiertist nichts. Aber, wie gesagt, noch schlimmer ist das, washerauskommt, wenn die Ministerin etwas macht, Bei-spiel Bildungspaket. Am Ende stand ein bürokratischesMonster, mit der Folge, dass die Betroffenen kaum etwaserhalten.
Nun droht bei der Rente genau das Gleiche. Richtigist: Altersarmut ist ein Problem, übrigens schon heute. Inder Zukunft wird es allerdings massiv anwachsen, wennwir nichts dagegen tun. Es geht dabei um mehr als umAltersarmut. Es geht um die Akzeptanz der Rentenversi-cherung.Unser Vorschlag dazu besteht seit langem in der grü-nen Garantierente, mit der die Renten für langjährig Ver-sicherte auf ein Mindestniveau aufgestockt werden.Plötzlich entdeckt auch Frau von der Leyen das ThemaAltersarmut und fordert – „forderte“ muss man jetztschon fast sagen –, die Renten für langjährig Versicherteauf ein Mindestniveau aufzustocken. Guttenberg lässtgrüßen! Aber: Die Kopie war von Anfang an schlechterals unser Original. Es gab zu hohe Hürden, der Vor-schlag war insgesamt zu bürokratisch, und er wäre des-wegen relativ wirkungslos geblieben. Aber immerhin:Der Grundgedanke, der ganz am Anfang der Zuschuss-rente stand, war richtig.Was dann geschah, war typisch von der Leyen: Ausder Aufstockung auf mindestens 850 Euro wurde eineAufstockung auf maximal 850 Euro.
Aus der Versicherungsleistung wurde eine bedürftig-keitsabhängige Fürsorgeleistung bzw. ein Mischmasch,den Herr Kauder zu Recht kritisiert hat, also nichts ande-res als eine zweite Sozialhilfe. Mit jeder neuen Modifi-kation wurden die Regelungen komplizierter und kom-plizierter. Gleichzeitig stellt sich die Ministerin hier hinund tut immer noch so, als sei sie die Hauptkämpferingegen die Altersarmut. Wir sagen: Schluss mit der Von-der-Leyen-Show!
Wir brauchen eine unbürokratische, transparenteGarantierente, die die Menschen, ohne einen Antrag stel-len zu müssen, automatisch bekommen. Nur so ist zugewährleisten, dass die verdeckte Armut bekämpft, dieMenschen nicht stigmatisiert und die Akzeptanz derRentenversicherung wiederhergestellt werden. Und:30 Versicherungsjahre müssen reichen. Es müssen nicht40 oder 45 Versicherungsjahre sein. Weitere Bedingun-gen wie „35 Jahre Riestern“ sind unnötig. Wir braucheneine Garantierente, die wirklich vor Armut schützt, undkein Placebo.
Apropos Placebo. Auch die SPD hat jetzt ein Modellvorgelegt. Sie nennt ihre Zuschussrente „Solidarrente“.Bedingung: 40 Versicherungsjahre und 30 Beitragsjahre.Das kommt einem bekannt vor. Die Hürden sind alsoähnlich hoch wie beim Vorschlag von Frau von derLeyen. Für Frauen sind sie sogar noch höher. Denn beiden 30 Beitragsjahren werden nur drei Jahre Kinderer-ziehungszeit pro Kind gezählt, und Teilzeit soll wenigerzählen als Vollzeit. Gemeinsam ist beiden Konzepten,dass sie eine zweite Sozialhilfe sind, also eine ArtHartz IV de luxe für die Rente. Die SPD redet auch garnicht groß darum herum und nennt ihre Solidarrente„zweite Stufe der Grundsicherung“. All das klingt nachGroßer Koalition.
Die Probleme werden damit aber nicht gelöst.
Ich möchte zum Schluss noch folgenden Punkt an-sprechen:Aufgrund der demografischen Entwicklung stehenwir in der gesetzlichen Rentenversicherung in dennächsten Jahren vor einem deutlichen Ausgaben-anstieg. Es wäre absurd, wenn wir jetzt die Rück-lagen … fast restlos abbauen, um kurzfristig den Bei-tragssatz … zu senken.
Dann stünden wir schon mittelfristig wieder vorerheblichen Finanzierungsproblemen. Eine nach-haltige Rentenfinanzierung sieht anders aus.
Jetzt müsste eigentlich die CDU klatschen.
Jetzt müssten Sie zum Ende kommen.
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23114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
(C)
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Das war ein Zitat von Andreas Storm, der vor einemJahr noch Staatssekretär von Frau von der Leyen warund jetzt Sozialminister im Saarland ist. Recht hat er:Wir müssen über die Anpassung des Beitragssatzes neunachdenken. Da finde ich den Vorschlag von dem Kol-legen Schiewerling durchaus vernünftig. Man könntedarüber diskutieren, jetzt die Beitragssatzsenkung auszu-setzen und dann über einen neuen Mechanismus nachzu-denken.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Wenn Mittel frei werden, dann sollten sie in die
Erwerbsminderungsrente gesteckt werden. Auch das ist
ein Punkt, zu dem es von der Ministerin immer nur
warme Worte gibt, von denen sich die Betroffenen aber
nichts kaufen können.
Herr Kollege, hören Sie mich nicht? Sie müssen wirk-
lich zum Ende kommen.
Das alles ist typisch von der Leyen. Noch ein Jahr,
dann ist Schluss.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Max Straubinger für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Esist schon schwierig, wenn die Opposition keine richtigenKritikpunkte finden kann
und sich dann im Nirwana verliert. Vor allen Dingenzeichnet sie dabei ein Bild, das mit der Realität inDeutschland nichts mehr zu tun hat.
Deshalb möchte ich doch zuerst herausstellen, wasdiese Bundesregierung geleistet hat, insbesondere für diesoziale Absicherung der Menschen in Deutschland, undzwar aller Menschen in Deutschland.
Die Menschen können sich auf unsere sozialen Siche-rungssysteme genauso wie auf den Beistand der Bundes-regierung verlassen, ob jung oder alt.Wir haben wieder – das zeigt sich sehr deutlich – einsolides, stabiles und vor allen Dingen auf einer gutenfinanziellen Basis stehendes Rentenversicherungssystemgeschaffen, während es bei Rot-Grün kein Geld mehr inder Rücklage gegeben hat. Jetzt jammern Sie darüber,dass die Rücklage nicht höher ist.
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, der KollegeSchiewerling hat in keiner Weise die Absenkung desRentenbeitragssatzes kritisiert, sondern er hat sie sogarbegrüßt,
und zwar aufgrund mehrerer Tatbestände. Da ist zumeinen die schwierige Lage hinsichtlich der Anlagemög-lichkeit für die deutsche Rentenversicherung zu nennen,aber zum anderen – das ist viel wichtiger – gilt es, dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zuentlasten.Die Linken-Fraktion will überall abkassieren.
Das ist der Unterschied zwischen unseren Politikansät-zen. Wenn wir den Beitragssatz von 19,9 Prozent auf19,6 Prozent und dann auf 19,0 Prozent absenken,
dann bedeutet das eine erhebliche Entlastung, insbeson-dere für die Geringverdiener, die durch Steuern ohnehinkaum belastet sind.Heute ist schon kritisiert worden, dass die Konjunkturmöglicherweise nicht mehr so rasant Fahrt aufnimmt,wie das in der Vergangenheit der Fall war. Diese Bei-tragssatzsenkung ist eine konjunkturelle Stütze, weildamit die Volkswirtschaft, die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer und die Betriebe in unserem Land um ins-gesamt 6 Milliarden Euro entlastet werden. Das bedeutetletztendlich Sicherheit für die Menschen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23115
(C)
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hagedorn?
Gerne.
Herr Kollege Straubinger, weil Sie gerade gesagt
haben, dass Sie in dieser Koalition es waren, die die So-
zialkassen und insbesondere die Rentenkasse stabilisiert
haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie sich gemeinsam mit
mir erinnern können, dass Sie für Ihr sogenanntes
Zukunfts- oder Sparpaket pro Jahr 1,8 Milliarden Euro
aus der Rentenkasse, die für Rentenzahlungen für Lang-
zeitarbeitslose gedacht waren, herausgenommen haben.
Das hat nicht nur Konsequenzen für die Langzeitarbeits-
losen, sondern es fehlen, seitdem Sie das gemacht haben,
in der Summe schon 5,4 Milliarden Euro in der Renten-
kasse. Hinzu kommen weitere 5,4 Milliarden Euro bis
2016.
Es kommt aber noch etwas hinzu. Wir reden hier über
den Haushalt 2013 und den Finanzplan. Würden Sie mir
recht geben, dass Sie im Haushalt 2013 einen Konsoli-
dierungsbeitrag von 1 Milliarde Euro aus der Renten-
kasse vorgesehen haben und dann bis 2016 pro Jahr
1,25 Milliarden Euro? Das macht in der Summe bis 2016
etwa 4,75 Milliarden Euro, die in der Rentenkasse feh-
len. Summa summarum macht das bis 2016 ein Minus
von 15,55 Milliarden Euro. Nennen Sie das Konsolidie-
rung?
Natürlich ist das Konsolidierung, Frau Hagedorn. DasErste ist: Wir haben nämlich die gesetzlich notwendigeRücklage von 1,5 Monatsrenten erreicht: Was ergibt esfür einen Sinn, diese Reserve zusätzlich aufzustocken?Das Zweite ist: Auch wenn wir keine Beiträge fürLangzeitarbeitslose zahlen, so sind sie trotzdem weiterversichert. Sie haben weiter Schutz bei der Erwerbsmin-derung und darüber hinaus. So ist es also nicht, FrauKollegin Hagedorn, wie Sie das Bild zeichnen, dass dieBürgerinnen und Bürger in den sozialen Sicherungssys-temen dann schutzlos wären.
Auch das zeichnet unsere Politik aus.
Aber, werte Damen und Herren, nicht nur bei derRentenversicherung ist ein gutes finanzielles Fundamentgegeben, sondern das gilt für alle Sicherungssysteme, seies im Bereich Gesundheit, in dem wir ebenfalls hoheRücklagen gebildet haben, sei es bei der Bekämpfungder Arbeitslosigkeit. Heute ist beklagt worden, dass beider Eingliederungshilfe gekürzt worden ist. Ich erinneredaran, dass die Mittel im vergangenen Jahr nicht einmalvollständig abgerufen worden sind.
Deshalb ist es gerechtfertigt, neue Ansätze vorzusehen.Festzuhalten ist, dass wir die Kommunen entlasten,indem wir die Grundsicherung übernehmen. Das ist einwichtiger Beitrag für die finanzielle Ausstattung derKommunen. Darüber hinaus zeigt es deutlich, dass dieseBundesregierung mit ihrer Wirtschaftspolitik erreichthat, dass sich die Menschen in Deutschland auf die so-zialen Sicherungssysteme und den Sozialstaat mit ver-lassen können.Alle Redner sind heute schon vielfältig auf die Ren-tenversicherung und die aktuelle Diskussion eingegan-gen. Ich möchte etwas differenzierter beginnen und sa-gen, dass alle Alterssicherungssysteme, unabhängigdavon, ob sie umlagefinanziert oder kapitalgedeckt sind– ich erinnere daran, dass die betrieblichen Altersvorsor-gesysteme ebenso wie die privaten kapitalgedeckt sind –,zu einem Zeitpunkt X, wenn die Leistungen zu erbringensind, davon abhängen, dass wir dafür eine vernünftigevolkswirtschaftliche Grundlage haben. Das ist entschei-dend. Deshalb gilt es dies zu stärken. Das ist zuvörderstdie Aufgabe.Wenn wir in der Vergangenheit Rentenreformen ge-macht haben, einmal im Wettstreit und vielleicht aucheinmal in großer Gemeinsamkeit, dann ist der Grund da-für auch, dass es eine Änderung der Bevölkerungsstruk-tur gibt und nicht alles über die Volkswirtschaft ausge-glichen werden kann.Wir hatten – das geht aus den Zahlen des StatistischenBundesamtes hervor – 2008 bei ungefähr 82 MillionenEinwohnern 50 Millionen erwerbstätige Menschen inDeutschland. Diese Zahl sinkt bis 2060 auf 33 MillionenMenschen. Deshalb ist es richtig, den Herausforderun-gen entsprechend auch die zukünftigen Altersvorsorge-systeme immer wieder neu zu justieren. Hinter dieserNeujustierung stand in der Vergangenheit sicherlichauch die Überlegung, eine zusätzliche kapitalgestützteForm einzuführen, um die zukünftigen Umlagezahler,nämlich die Erwerbstätigen und die jungen Menschen,nicht über Gebühr belasten zu müssen. Denn jede Ren-tenzusicherung aus der gesetzlichen Rentenversicherungmuss von den zukünftigen Umlagezahlern erwirtschaftetund bezahlt werden.Deshalb ist es sinnvoll, die kapitalgestützten Systemedanebenzustellen und sie nicht in der Öffentlichkeit zudiskreditieren,
wie es in vielfältigster Weise getan wird, wenn zum Bei-spiel gesagt wird, dass sich die Riester-Rente nicht lohnt.Sie lohnt sich gerade für den Geringverdiener in unse-rem Land.
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23116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Max Straubinger
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Vor allem für Familien mit Kindern lohnt sie sich beson-ders ob der staatlichen Zuschüsse, weil damit ein Kapi-talstock aufgebaut wird, der eine lebenslange Rente ga-rantiert.
Herr Kollege.
Moment. – Deshalb sind die Vergleiche und die Aus-
sage, eine Riester-Rente rentiere sich nicht, man müsse
schon 85 bzw. 94 Jahre alt werden, Unsinn. Wenn es da-
rum geht, eine lebenslange Rente zu garantieren, ver-
gleicht das kein Mensch damit, dass sich die gesetzliche
Rentenversicherung möglicherweise auch nicht rentiert,
wenn man zu früh stirbt. Das angesammelte Kapital
kommt dann als Risikogewinn der Versichertengemein-
schaft zugute. Das muss man meines Erachtens auch mit
darstellen.
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen
Ernst?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Straubinger, recht herzlichen Dank. – Sie spre-
chen von Entlastung insbesondere der jungen Generation
durch die Rentenpolitik, also durch die Tatsache, dass
die Beiträge aufgrund der Senkung des Rentenniveaus
sinken. Stimmen Sie mir zu, Herr Straubinger, dass auch
die private Vorsorge, die notwendig ist, um diese Ren-
tenlücke zu schließen, nicht umsonst zu haben ist? Stim-
men Sie mir zu, dass dafür auch die junge Generation ei-
gene Beiträge zu zahlen hat? Stimmen Sie mir zu, dass
diese Beiträge von der jungen Generation alleine aufge-
bracht werden müssen, während sie in einem paritätisch
finanzierten Umlagesystem nur zur Hälfte aufgebracht
werden müssen? Wenn das richtig ist: Stimmen Sie mir
auch zu, dass die private Vorsorge für die jungen Men-
schen eine höhere Belastung darstellt, als wenn das in
der gesetzlichen Rentenversicherung geregelt wäre?
Herr Kollege Ernst, Sie verwechseln etwas. Die von
Ihnen angestellten Vergleiche stimmen so nicht. Sie he-
ben darauf ab, dass die Beiträge zur gesetzlichen Ren-
tenversicherung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
hälftig gezahlt werden. Das ist letztlich nur eine Form;
denn in der Gesamtheit müssen es immer die Arbeitneh-
mer und die Betriebe erwirtschaften. Die Arbeitgeber-
beiträge fallen nicht wie Manna vom Himmel. Sie müs-
sen mithilfe der Tatkraft der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer erwirtschaftet werden. Das ist der erste
Punkt.
Der zweite Punkt ist: Gerade bei Geringverdienern
macht der staatliche Zuschuss mehr als 50 Prozent bei
den Beitragszahlungen zur Riester-Rente aus. Bei einem
Beitrag von 5 Euro im Monat, also von 60 Euro im Jahr,
und einer staatlichen Zulage von 154 Euro leisten der
Staat, der Steuerzahler, der Unternehmer oder der Gut-
verdiener über 70 Prozent der privaten Altersvorsorge
des Geringverdieners; dieser trägt weniger als 30 Pro-
zent dazu bei.
Diese von uns gewählte Form der Altersvorsorge ist
also günstiger für den Geringverdiener.
Kollege, gestatten Sie eine weitere Nachfrage?
Gerne.
Aber Sie stimmen mir doch zu, Herr Kollege, dass ein
Normalbeschäftigter, also jemand, der nicht im Niedrig-
lohnbereich tätig ist, die von Ihnen für alle vorgenom-
mene Absenkung des Rentenniveaus – genauso wie ein
Geringverdiener – durch eine private Vorsorgeversiche-
rung ausgleichen muss, die er alleine zu tragen hat? Da-
mit hat er eine höhere Belastung als bei einer paritäti-
schen Finanzierung. Das bedeutet, dass Ihre Aussage,
dass Sie die Menschen entlasten, nicht stimmt. Eigent-
lich belasten Sie die Menschen dadurch, dass Sie die pa-
ritätische Finanzierung für einen Teil der Rente nicht
mehr gewähren.
Herr Kollege Ernst, ich verstehe nicht, warum Sie dasnicht begreifen wollen, und zwar aus folgendem Grundnicht: Die staatlichen Zulagen werden immer fällig, un-abhängig davon, ob es sich um einen Geringverdiener,einen Durchschnittsverdiener oder einen Höchstverdie-ner handelt. Derjenige, der einen höheren Steuersatz zuzahlen hat, hat zusätzlich die Möglichkeit, seine Auf-wendungen für die private Vorsorge abzusetzen und soeinen steuerlichen Zuschuss zu erhalten. Der staatlicheZuschuss kann bei einem Geringverdiener einen Anteilvon bis zu 80 Prozent bei der privaten Vorsorge ausma-chen, während die zusätzliche Entlastung bei einemSpitzensteuerzahler höchstens 20 Prozent betragen kann.Das zeigt sehr deutlich: Das ist sozial ausgewogen. Ge-rade Geringverdiener haben den größten Nutzen, wenn
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23117
Max Straubinger
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sie einen entsprechenden Sparvertrag abschließen, umihren Lebensstandard im Alter zu sichern.
– Es ist ein großer Unterschied, ob man es sich nichtleisten kann oder nicht leisten will, Herr KollegeBirkwald.Die Altersarmut ist nun ins Blickfeld gerückt. Manmuss die Entwicklung aber realistisch betrachten. Zum1. September dieses Jahres hat das neue Lehrjahr begon-nen. Es ist auch ein großer Erfolg der Bundesregierung,dass das Lehrstellenangebot die Zahl der Bewerber über-steigt. Zwar sind nicht alle Lehrstellen besetzt. Abermittlerweile ist die Nachfrage nach Lehrlingen größerals das Angebot. Wenn diese mit 16 oder 17 Jahren zuarbeiten anfangen und bis zum 67. Lebensjahr arbeitenmüssen, dann kommen sie auf 50 Jahre. Das muss manin die gesamten Berechnungen einbeziehen. Deshalb istes richtig, das besonders hervorzuheben. Herr KollegeKolb hat dies bereits getan.Ich möchte noch hervorheben, dass ein durchschnittli-cher Verdiener bereits nach 30 Jahren dann, wenn er inRente geht, eine Rente von 850 Euro erhält. Wenn je-mand nur 75 Prozent des Durchschnittseinkommen ver-dient hat, erreicht er nach 40 Jahren eine Anwartschaftaus der gesetzlichen Rentenversicherung von 850 Euro.Deshalb ist es wichtig, dass immer Beiträge gezahlt wer-den. Herr Kollege Kolb hat auf die stetige Beitragszah-lung hingewiesen. Die Beitragszahlung muss sich posi-tiv auf die Rente auswirken. Das ist auch der Fall. Ichwünschte mir, dass, wenn die Verdienstgrenze der ge-ringfügigen Beschäftigung von 400 Euro auf 450 Euroangehoben wird, ein obligatorischer Beitrag für die Ren-tenversicherung fällig wird, damit die Anwartschaft aufErwerbsunfähigkeitsrente bestehen bleibt und letztend-lich mehr Rente im Alter bezogen werden kann. Die Ver-bände der Gebäudereiniger und des Einzelhandels for-dern dies genauso. Ich bin überzeugt davon, dass daseine gute Lösung wäre. Das würde auch für Frauen einezusätzliche Absicherung über die Rentenversicherungbedeuten.
Für die Bürgerinnen und Bürger soll die Botschaftsein: Sie können sich auf die CDU/CSU und auf die FDPin sozialen Fragen verlassen.In diesem Sinne herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Bettina Hagedorn für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Bevor ich zu dem komme, was ich eigentlich sagenwollte, muss ich erst einmal den Kollegen Schiewerlingansprechen. Lieber Kollege Schiewerling, Sie haben sowie viele andere Ihrer Kollegen in der Haushaltsdebatteaus meiner Sicht viele Dinge gesagt und für die Zu-schauerinnen und Zuschauer ins Schaufenster gestellt,
die leider mit dem Haushalt, den Sie vorgelegt haben,nichts zu tun haben.Ich will Ihnen dafür ein konkretes Beispiel nennen.Sie haben die Notwendigkeit angesprochen, dass wir un-sere Jugend motivieren, Handwerksberufe zu erlernen.Von dieser Aussage bin ich ganz begeistert. Ich selbstbin Handwerkerin und habe drei Söhne, die auch Hand-werker sind. Einer dieser drei Söhne hat zwei Hand-werksberufe erlernt, nämlich Tischler und Zimmermann,er hat aber in den letzten zehn Jahren leider nur sehr sel-ten unbefristete und nach Tarif bezahlte Arbeitsplätzegehabt. Da er inzwischen Frau und Kind hatte, hat er vorzwei Jahren begonnen, seinen Meister zu machen. Nach-dem er vor einem Jahr seine Meisterprüfung abgelegthat, hat er sich selbstständig gemacht. Inzwischen sindzwei Kinder da. Das war eine großartige Entscheidung.Ich glaube, da stimmen wir überein.Das Problem ist nur: Er hat vor einem Jahr einenGründungszuschuss bekommen. Das war damals einRechtsanspruch, den wir gemeinsam 2007 eingeführt ha-ben. Den Gründungszuschuss konnte man beantragen,um den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Wirhaben bis 2011 im Bundeshaushalt pro Jahr dafür knapp2 Milliarden Euro zur Verfügung gehabt. Das IAB, einInstitut, das von der Regierung beauftragt wurde, zu eva-luieren, wie die Instrumente, die wir in der GroßenKoalition eingeführt haben, gewirkt haben, hat das In-strument des Gründungszuschusses als eines der erfolg-reichsten Instrumente bewertet. Und was haben Sie indieser Regierung gemacht? Sie haben mit Ihrer soge-nannten Instrumentenreform und Ihrer sogenannten Um-wandlung von Rechtsansprüchen in Ermessensleistun-gen den Gründungszuschuss zu einer Ermessensleistunggemacht.Was bedeutet das? Die 1,9 Milliarden Euro, die wirursprünglich dafür im Bundeshaushalt hatten, haben Sieim ersten Jahr halbiert. Im Haushalt 2013 kommt einHaushaltstitel für den Gründungszuschuss gar nichtmehr vor. Der wird jetzt budgetiert, dezentral zur Verfü-gung gestellt; er kann bewilligt werden. Wozu hat dasgeführt? Wir hatten noch 2011 und in den Jahren davorim Schnitt um die 140 000 Bewilligungen von Grün-dungszuschüssen. Wissen Sie, wie viele bis August 2012bewilligt worden sind? 14 000. Das entspricht etwa10 Prozent der Vorjahreswerte.Manch einer denkt vielleicht: Dies sind bundesweiteZahlen; sie können sich noch ändern; sie schwanken. –Daher nenne ich Ihnen jetzt die Zahlen aus meiner Hei-matregion – sie bestätigen, was ich meine; wir haben dieVergleichszahlen von Januar bis September 2011 und
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von Januar bis August 2012 –: Dort ist die Anzahl derBewilligungen um 87 Prozent zurückgegangen. WissenSie, um wie viel die Ablehnung von Anträgen auf Grün-dungszuschuss gestiegen ist? Die Anzahl der abgelehn-ten Anträge hat sich in meiner Heimatregion in dem glei-chen Zeitraum verachtfacht. Nun müssen Sie mir einmalerklären, wie Ihr unterstützenswertes Plädoyer für guteHandwerker und für Personen, die Mut haben und flei-ßig arbeiten – wie die Ministerin hier immer so schönsagt –, die wirklich etwas leisten wollen, die ihre Familieaus eigener Kraft sattmachen wollen, gemeint ist, wasSie eigentlich dazu beitragen, um jungen Menschen wiedenen, die Sie hier beschrieben haben, tatsächlich nochHoffnung zu machen?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schiewerling?
Wenn das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird,
gerne.
Kollege Schiewerling, bitte.
Frau Kollegin, stimmen Sie mir zu, dass der Grün-
dungszuschuss, der im SGB III verankert war und auch
für das SGB II galt, in erster Linie dafür da ist, Men-
schen, die in Arbeitslosigkeit sind, wieder in Beschäfti-
gung zu bringen? Stimmen Sie mir zu, dass der Vorgang,
dass sich jemand selbstständig macht, möglicherweise
damit zu tun hat, dass der Betreffende aus der Arbeits-
losigkeit herauskommen möchte, dass das Ganze aber
im Wesentlichen in den Bereich der Wirtschaftsförde-
rung und nicht der Arbeitsmarktpolitik fällt? Das ist ein
zentraler Punkt. Stimmen Sie mir außerdem zu, dass
Gründungszuschüsse auch dann vergeben werden, wenn
ihre Gewährung eine Ermessensleistung ist, und dass es
in Deutschland eine Vielzahl von Gründungen von Start-
up-Firmen gibt, so viele wie nie seit Abschaffung des
Gründungszuschusses?
Herr Kollege, das, was ich hier vorgetragen habe, ba-siert auf der Evaluierung des Gründungszuschussesdurch das von der Regierung beauftragte IAB. Ich kannIhre persönlichen Bewertungen im Moment, ehrlich ge-sagt, nicht ganz nachvollziehen.Aber in einem Punkt sind wir uns, glaube ich, einig:Wir haben gemeinsam den Gründungszuschuss einge-führt, und er hat nachweislich pro Jahr – pro Jahr! – dazugeführt, dass sich ungefähr 140 000 Arbeitsuchende– arbeitsuchend zu sein, war ja eine Voraussetzung fürdie Gewährung dieses Zuschusses – selbstständig ge-macht haben.
– Das ist doch nur Ihre Meinung. Das IAB hat ganz ein-deutig auf wissenschaftlicher Grundlage festgestellt:Dieser Zuschuss war eines der erfolgreichsten Instru-mente, die wir gemeinsam eingeführt haben.
Was ich Ihnen auch sagen muss: Das passt zu dem,was Sie gesagt haben, nicht. Sie haben hier von denHandwerkern gesprochen. Jeder Handwerker, der eineMeisterausbildung macht und der nach der Meisteraus-bildung erst einmal mit Schulden dasteht, die er abstot-tern muss, kann sich ohne Gründungszuschuss eigentlichgar nicht selbstständig machen, schon gar nicht, wenn erFrau und Kinder hat. Wir wollen junge Familien mitKindern. Wir wollen, dass sich junge Leute eigenverant-wortlich weiterqualifizieren. Aber Sie streichen ihnendie Unterstützung. Diese Kannbestimmung hat ja einenHaken: Was soll denn der arme Mitarbeiter in der Bun-desagentur für Arbeit oder im Jobcenter machen, wenner einen Gründungszuschuss bewilligen soll und seineKasse leer ist?
Das ist ja das Problem: Den Ermessensspielraum habenSie nur ins Fenster gestellt; aber die Kasse ist leer. Allein2013 nehmen Sie mit Ihrem Sparpaket erneut 6,5 Mil-liarden Euro aus der aktiven Arbeitsmarktpolitik heraus.
Frau von der Leyen, zum dritten Mal in Folge sinktIhr Haushalt stärker als der all Ihrer Ressortkollegen. Siereden das hier immer schön und sagen: Das ist ganz toll;die Verringerung ist natürlich zu einem Teil – das stimmtsogar – konjunkturellen Einsparungen zu verdanken;man nimmt einige Einsparungen sozusagen im Schlaf-wagen mit. Dagegen muss man nicht kämpfen, und es istnicht mit echten Kürzungen verbunden.So muss ich Ihnen sagen, Frau von der Leyen: Siepflegen das Image, tough, durchsetzungsstark, eineKämpfernatur zu sein. Ich wünsche mir sehr, dass Sie,auch gegen Herrn Schäuble, erfolgreich um den Etat fürArbeit und Soziales kämpfen. Fakt ist, dass inzwischenüber die Hälfte aller strukturellen Kürzungen im Rah-men dieses sogenannten Sparpakets aus dem Jahr 2010Ihren Etat betreffen. Damit werden die Familien von Ar-beitslosen und von Langzeitarbeitslosen, also auch ihreKinder, betroffen. Es werden aber auch die betroffen, dieArbeit suchen und Schwierigkeiten auf dem Arbeits-markt haben. Betroffen sind zum Beispiel Migrantenund Alleinerziehende mit ihren Kindern, aber auch Men-schen mit Behinderung.2010 haben Sie diesem Sparpaket schon kampflos zu-gestimmt. 2012 haben Sie es zugelassen, dass die vonuns allen gewollte Entlastung der Kommunen durch denhalben Mehrwertsteuerprozentpunkt ausschließlich auf
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dem Rücken der Bundesagentur für Arbeit stattgefundenhat. Dadurch wird der BA zusätzlich zum Sparpaket bis2016 ein Betrag von 17 Milliarden Euro aus der Kassegegriffen.Schon 2011 haben Sie das erste Mal einen Griff in dieRentenkasse zulasten der Langzeitarbeitslosen zugelas-sen; das war vorhin schon Thema. Bis heute sind es über5 Milliarden Euro, die aus Ihrem Haushalt im BereichRente entschwunden sind. 2013 kommt nun erneut derGriff in die Rentenkasse mit einem Minus von 1 Mil-liarde Euro als Konsolidierungsbeitrag. Das heißt nichtsanderes, als dass das Geld aus Ihrem Haushalt ver-schwindet und bei Herrn Schäuble landet. Das soll bis2016 so weitergehen mit einem jährlichen Minus von1,25 Milliarden Euro.Das heißt, dass die Rentenkasse weiter geplündertwird und dass die Kasse der Bundesagentur für Arbeitschon geplündert ist – und das, Frau von der Leyen, ob-wohl wir gemeinsam mit der Großen Koalition folgendegute Erfahrung gemacht haben: Es gab 2008 nämlich17 Milliarden Euro in der Kasse der Bundesagentur fürArbeit. Nur weil diese Summe in der Kasse war, konntenwir 2009 in der Krise die Kurzarbeitergeldregelung ge-meinsam stemmen. 15 Milliarden Euro Defizit hat dieBundesagentur für Arbeit in jenem Krisenjahr 2009 ge-macht, und sie wird ein solches Defizit wieder machen,wenn eine neue Krise kommt.
Wissen Sie, was das Drama ist? Da ist nichts mehr,die Kasse ist leer. Sie plündern die Sozialkassen, undIhre Regierung plündert zusätzlich noch den Gesund-heitsfonds. Damit beherzigen Sie nicht das Motto: Sparein der Zeit, so hast du in der Not. Vielmehr tun Sie genaudas Gegenteil. Und wissen Sie, was? Das verstößt oben-drein noch gegen den Geist der Schuldenbremse.
Als letztem Redner in diesem Debattenteil erteile ichKollegen Axel Fischer für die CDU/CSU-Fraktion dasWort.
Axel E. Fischer (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dervorliegende Haushaltsentwurf trägt die Handschrift derchristlich-liberalen Koalition. Er ist ein eindrucksvollerBeleg für die erfolgreiche, wachstumsorientierte Politikder Regierung Angela Merkel.
Deutlich wird darin besonders im Einzelplan 11 dieOrientierung an unseren Zielen: Wir wollen die Men-schen wieder in Arbeit bringen und den Bundeshaushaltkonsolidieren.Frau Kollegin Hagedorn, nun zu Ihnen und zumThema Gründungszuschuss. Sie haben in Ihrer Wortmel-dung nicht darauf hingewiesen, dass beim Gründungszu-schuss enorme Mitnahmeeffekte festgestellt werdenkonnten.
Deshalb war die Entscheidung, daraus eine Ermessens-entscheidung zu machen, richtig. Die Zahlen belegen,dass die Anzahl der Neugründungen und ihre Entwick-lung sehr positiv sind. Wir können dieses Thema imRahmen der Haushaltsausschusssitzung gern vertiefen.Wir können nachweisen: Es war die richtige Entschei-dung, die wir hier getroffen haben.
Denn, liebe Frau Kollegin Hagedorn, unsere Politikhat in den vergangenen drei Jahren erfolgreich aufWachstum durch Investitionen und auf sparsame Haus-halte gesetzt und weniger auf Umverteilung, wie Sie sieimmer wieder an verschiedenen Stellen fordern.Die Erfolge haben sich eingestellt: Dank der großenLeistungen von Arbeitnehmern wie Unternehmern flo-riert die Wirtschaft, die Steuer- und Abgabenquellensprudeln, und auch Löhne und Gehälter konnten steigen.Unser Wachstumspaket hat gewirkt.
Im Mittelpunkt standen nicht nur Sachinvestitionen,im Mittelpunkt standen auch Investitionen in Menschen:in Langzeitarbeitslose, die erfolgreich in den ersten Ar-beitsmarkt integriert wurden. Selbstverwirklichung inproduktiver Arbeit statt in Beschäftigungsprogrammen,das ist unsere Maxime. Das ist es, was eine menschlicheGesellschaft ausmacht.Die Zahlen über die Entwicklung der Langzeitarbeits-losigkeit belegen den Erfolg eindrucksvoll. Der bishe-rige Kurs der christlich-liberalen Koalition, orientiert amLeitbild der Leistungsgerechtigkeit, war auch mit Blickauf den Arbeitsmarkt sehr erfolgreich. Unter 3 MillionenArbeitslose – in Ihrer Regierungszeit waren es einmalüber 5 Millionen – und unter 2 Millionen Langzeitar-beitslose, das sind Erfolge, die sich sehen lassen können.
Dennoch wollen wir die erfolgreiche Vermittlung vorallem langfristig Arbeitsloser in den ersten Arbeitsmarktweiter verbessern. Genau deshalb wollen wir alle beste-henden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen systema-tisch auf ihre Effizienz hin untersuchen und auf ihre Ein-satzhäufigkeit hin prüfen. Es geht uns darum, zu wissen,in welcher Situation mit welcher Zielsetzung welches In-strument am besten wirken kann; denn wir wollenknappe Steuermittel nicht für irgendwelche Maßnahmensinnlos verpulvern, sondern zukünftig noch mehr kon-kret am Einzelfall orientiert und zielgerichtet geeigneteInstrumente für die Arbeitsuchenden anwenden. Das
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Axel E. Fischer
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kommt dann auch den betroffenen Menschen noch vielbesser zugute.Sie sehen, wir stehen für aktive gesellschaftliche Teil-habe am Arbeitsprozess. Es gibt kein Abschieben in per-spektivlose Beschäftigungsprogramme. Für die hervor-ragende Umsetzung dieser vernünftigen Ziele durch dieBundesagentur für Arbeit danke ich stellvertretend füralle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BA HerrnWeise an der Spitze des Vorstands. Die BA ist dank derUmstrukturierung, die die Kollegin Winterstein schonausführlich dargestellt hat, auf einem guten Weg. Ichkann mir die Nennung von Einzelheiten dazu ersparen.Den bestehenden Verantwortlichkeiten aber, meineDamen und Herren, wird Rechnung getragen, indem wirfür Transparenz sorgen und die BA die Aufgaben, die siemacht, entsprechend selbst finanziert. Liebe Frau Kolle-gin Winterstein, herzlichen Dank, dass Sie es hier soausführlich dargestellt haben.
Meine Damen und Herren, ich bin mir absolut sicher,dass Herr Weise mit seinem engagierten Team weiterhinerfolgreich die anstehenden Herausforderungen bei derBundesagentur für Arbeit meistern wird. Bei einem sta-bilen Beitragssatz von 3 Prozent für die Arbeitslosenver-sicherung sollte es möglich sein, die gesteckten Ziele zuerreichen und notwendige Rücklagen für wirtschaftlichweniger erfolgreiche Zeiten zu bilden.Die erfolgreiche Wachstumspolitik der vergangenendrei Jahre fußt ganz zentral auf einem breiten gesell-schaftlichen Konsens, einem Konsens über die Entwick-lung der Systeme sozialer Sicherung, und der Akzeptanzder damit einhergehenden Umverteilung zwischenPersonen, Geschlechtern, Berufsständen und anderenAnspruchsgruppen sowie zwischen den Generationen.Gegenseitiges Vertrauen und Solidarität haben die Haus-haltsausgaben für die soziale Sicherung, für die Zu-schüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung langfristigkalkulierbar gemacht. Sie haben Instrumente wie dasKurzarbeitergeld möglich gemacht, das maßgeblich mitdazu beigetragen hat, uns erfolgreich durch die letzteKrise zu führen.
Wenn wir jetzt darüber reden, den allgemeinen Bun-deszuschuss an die gesetzliche Rentenversicherung fürdie Zeit bis 2016 zu kürzen, und die Beitragszahler dasbereitwillig über ihre Beitragsleistungen auffangen undauf Nettolohn damit verzichten, dann ist das direkt Aus-druck der bestehenden breiten Akzeptanz unseres Ge-sellschaftssystems und der darin gelebten Solidarität.Diese Akzeptanz, liebe Kolleginnen und Kollegen, soll-ten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Wir solltennicht den seit über einem Jahrzehnt bestehenden partei-und generationenübergreifenden Rentenkonsens aufkün-digen. Wir sollten nicht bestehende Abmachungen überdie Verteilung des zukünftigen, von uns und von unserenKindern zu erwirtschaftenden Sozialprodukts infragestellen. Und wir sollten nicht eine Stimmung gesell-schaftlicher Entsolidarisierung fördern und das gemein-sam Erreichte unnötig gefährden.Nachdem wir mit gemeinsamen Kräften aus der Krisegekommen sind, sollten wir das Gemeinsame auchgemeinsam bewahren. Das, liebe Kolleginnen undKollegen, ist mein Wunsch für die vor uns liegendenHaushaltsberatungen. Der Haushaltsentwurf für den Ein-zelplan 11 ist zukunftsweisend, solide und eine hervorra-gende Grundlage für die parlamentarischen Beratungen,die wir jetzt aufnehmen werden. Ich jedenfalls freuemich sehr darauf, gemeinsam mit den Kolleginnen undKollegen aus dem Ausschuss für Arbeit und Soziales,aber auch mit den Kolleginnen und Kollegen aus demHaushaltsausschuss wie natürlich auch mit den Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern des Ministeriums, ganz beson-ders mit Ihnen, Frau von der Leyen, diesen Etat zu bera-ten. Wir werden an der einen oder anderen Stelle kleineÄnderungen vornehmen; das gehört sich einfach so.Aber die Grundlage ist sehr gut. Sie zeigt: Wir als christ-lich-liberale Koalition sind auf dem richtigen Weg.Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegennicht vor.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d und 3 fbis 3 h sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-richtung einer Markttransparenzstelle für denGroßhandel mit Strom und Gas– Drucksachen 17/10060, 17/10253 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-ordnung der Postbeamtenversorgungskasse
– Drucksache 17/10307 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialesc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-führung des Haager Übereinkommens vom23. November 2007 über die internationaleGeltendmachung der Unterhaltsansprüchevon Kindern und anderen Familienangehöri-gen sowie zur Änderung von Vorschriften aufdem Gebiet des internationalen Unterhaltsver-fahrensrechts– Drucksache 17/10492 –
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Gesetzes über die Statistik im Produ-zierenden Gewerbe– Drucksache 17/10493 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologiec) Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaMichalk, Michael Grosse-Brömer, Stefan Müller
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Molitor, RainerBrüderle und der Fraktion der FDPMehr Berücksichtigung von Qualität bei derVergabe von Dienstleistungen– Drucksache 17/10113 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschussg) Beratung des Antrags des Bundesministeriumsder FinanzenEntlastung der Bundesregierung für dasHaushaltsjahr 2011– Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundesfür das Haushaltsjahr 2011 –– Drucksache 17/9908 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschussh) Beratung des Antrags des Bundesministeriumsder FinanzenEntlastung der Bundesregierung für dasHaushaltsjahr 2011– Vorlage der Vermögensrechnung des Bundesfür das Haushaltsjahr 2011 –– Drucksache 17/9909 –Überweisungsvorschlag:HaushaltsausschussZP 2 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-sung des Bauproduktengesetzes und weitererRechtsvorschriften an die Verordnung
Nr. 305/2011 zur Festlegung harmonisierterBedingungen für die Vermarktung von Bau-produkten– Drucksache 17/10310 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Rechtsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten TomKoenigs, Dr. Frithjof Schmidt, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFlüchtlinge aus Syrien aufnehmen– Drucksache 17/10638 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittigc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth , Thilo Hoppe, Sven-ChristianKindler, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDen globalen Schutz der biologischen Vielfaltsichern – Strategischen Plan der Biodiversi-tätskonvention finanzieren und umsetzen– Drucksache 17/10639 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei derdie Federführung strittig ist. Interfraktionell wird dieÜberweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/10638 zur Aufnahme vonFlüchtlingen aus Syrien an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführungist strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP wün-schen die Federführung beim Innenausschuss. Die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beimAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlagder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführungbeim Menschenrechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmtfür diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag istgegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenmit den übrigen Stimmen des Hauses abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen von CDU/CSU und FDP, also Federführungbeim Innenausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist gegen dieStimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit denübrigen Stimmen des Hauses angenommen.Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen;das sind die Tagesordnungspunkte 3 a bis d, 3 f bis h unddie Zusatzpunkte 2 a und 2 c. Interfraktionell wird vor-geschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
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einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 4 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses
– zu dem Antrag des Bundesministeriums derFinanzenEntlastung der Bundesregierung für dasHaushaltsjahr 2010– Vorlage der Haushaltsrechnung des Bun-des für das Haushaltsjahr 2010 –– zu dem Antrag des Bundesministeriums derFinanzenEntlastung der Bundesregierung für dasHaushaltsjahr 2010– Vorlage der Vermögensrechnung des Bun-des für das Haushaltsjahr 2010 –– zu der Unterrichtung durch den Bundesrech-nungshofBemerkungen des Bundesrechnungshofes2011 zur Haushalts- und Wirtschaftsfüh-
– zu der Unterrichtung durch den Bundesrech-nungshofBemerkungen des Bundesrechnungshofes2011 zur Haushalts- und Wirtschaftsfüh-rung des Bundes– Weitere Prüfungsergebnisse –– Drucksachen 17/5648, 17/6009, 17/7600,17/9250, 17/10104 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Michael LutherUnter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung schlägt derHaushaltsausschuss die Erteilung der Entlastung derBundesregierung für das Haushaltsjahr 2010 vor. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen ange-nommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derHaushaltsausschuss, die Bundesregierung aufzufordern,a) bei der Aufstellung und Ausführung der Bundeshaus-haltspläne die Feststellung des Haushaltsausschusses zuden Bemerkungen des Bundesrechnungshofs zu befol-gen, b) Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlich-keit unter Berücksichtigung der Entscheidungen desAusschusses einzuleiten oder fortzuführen und c) dieBerichtspflichten fristgerecht zu erfüllen, damit einezeitnahe Verwertung der Ergebnisse bei den Haushalts-beratungen gewährleistet ist. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men von CDU/CSU, FDP, Linken und Grünen gegen dieStimmen der SPD angenommen.1)Tagesordnungspunkt 4 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses
zu dem Antrag des Präsidenten des Bundesrech-nungshofesRechnung des Bundesrechnungshofes für dasHaushaltsjahr 2011– Einzelplan 20 –– Drucksachen 17/9600, 17/10105 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Michael LutherWer stimmt für Nr. 1 der Beschlussempfehlung, alsodie Feststellung der Erfüllung der Vorlagepflicht? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist einstimmig angenommen.Wer stimmt für Nr. 2 der Beschlussempfehlung, alsodie Erteilung der Entlastung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfehlung isteinstimmig angenommen.Wir setzen nun die Haushaltsberatungen fort undkommen zum Geschäftsbereich des Bundesministe-riums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz, Einzelplan 10.Ich erteile der zuständigen Bundesministerin IlseAigner das Wort.
Ilse Aigner, Bundesministerin für Ernährung, Land-wirtschaft und Verbraucherschutz:Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir gehen in das letzte Haushaltsjahr ei-ner erfolgreichen Legislaturperiode, auch in dem Be-reich „Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz“. Die Koalition aus Union und FDP hat hier stetsKurs gehalten. Unsere Koordinaten stehen, und sie bil-den sich für jedermann gut lesbar ab. In den Einzelplä-nen der Jahre 2009 bis 2013 ergeben sich klare Linien.Union und FDP stehen für Verlässlichkeit und Stabilität,aber auch für Bewegung und Fortschritt.
Unsere landwirtschaftliche Sozialpolitik ist dabei eineunverzichtbare Konstante. 3,65 Milliarden Euro machtihr Anteil am Haushalt aus, was 70 Prozent entspricht.Aber dieses Geld ist gut investiert; denn es hilft im Alter,es unterstützt bei Krankheit, und es sichert bei Unfällenab. Mit zusätzlichen Bundesmitteln in Höhe von150 Millionen Euro, verteilt auf die Jahre 2012 bis 2014,1) Anlage 3
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Bundesministerin Ilse Aigner
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geben wir den Landwirtinnen und Landwirten den Halt,den sie brauchen und den sie sich auch verdient haben.
Durch die Anpassung der Mittel werden wir auch die Or-ganisationsreform zu einem echten Erfolg führen.Auch im Bereich „Nachhaltigkeit, Forschung undInnovation“ geht es im Haushalt weiter aufwärts. DasBudget ist mittlerweile fast eine halbe Milliarde Eurostark. Das ist ein dickes Plus.
Über Modell- und Demonstrationsvorhaben zumTierschutz und zur Tierhaltung sollen neue Impulse ge-setzt werden. Deshalb wollen wir bis 2016 allein 21 Mil-lionen Euro für Modellvorhaben im Bereich Tierschutzbereitstellen. Wir wissen: Nutztierhaltung in der Land-wirtschaft kann nur erfolgreich sein, wenn sich die Tierewohlfühlen und wenn es genügend Akzeptanz in derGesellschaft gibt. Dafür machen wir uns stark: mit For-schung, Beratung, Kontrolle und, wenn notwendig, auchmit Gesetzesänderungen.
Union und FDP sind es, die das Arzneimittelgesetzverschärfen, damit die Abgabe von Antibiotika in derTierhaltung auf ein Minimum reduziert wird. Für rot-grüne Landesregierungen gibt es dann endgültig keineAusreden mehr.
Es werden nämlich mehr Studien herausgegeben undPressekonferenzen abgehalten, als Kontrolleure, derenArbeit notwendig wäre, eingestellt.
Außerdem gehen Union und FDP das Tierschutzgesetzan. Union und FDP sind es, die ein Tiergesundheitsge-setz auf den Weg bringen. Union und FDP sind es, diedas Tierwohl mit einer Forschungsstrategie voranbrin-gen. Dabei lassen sich Union und FDP nicht von Ideolo-gien leiten. Wir wollen auf der Basis wissenschaftlicherErkenntnisse den besten Tierschutz, aber auch einenpraktikablen Tierschutz.
Ein weiteres wichtiges Thema, das zurzeit im Fokussteht, ist die europäische Agrarpolitik. Meine Ziele inden Verhandlungen für die nächste Förderperiode sindklar: eine solidarische, schrittweise Angleichung der eu-ropäischen Nachbarn – ja, aber unzumutbare Einschnittefür deutsche Bauern – nein,
mehr Einsatz für die Umwelt bei Anerkennung bereitserbrachter Leistungen – ja, aus Brüssel verordneteFlächenstilllegungen – nein,
benachteiligte Gebiete fördern – ja, aber irrationale Neu-abgrenzungen – nein,
praxisgerechte Vorschriften – ja, übergeordnete Büro-kratie – nein.
– Herr Kelber, von der Opposition hören wir nur: Kür-zungen, Umverteilungen, Stilllegungen – aber nicht mituns!
Es ist schon bemerkenswert: Während ich in Europafür unsere Bauern verhandle, haben Grüne und SPD dieLandwirtschaft offensichtlich bereits abgehakt. FrauKünast fordert die Abschaffung der Direktzahlungen,während mich ihr baden-württembergischer KollegeAlexander Bonde auffordert, die erste Säule zu stabili-sieren und verpflichtend fortzuführen. Ja, was wollen Siedenn jetzt eigentlich?
Die SPD spricht auch eine eindeutige Sprache. Dieewige Troika aus Gabriel, Steinmeier und Steinbrück hatschwarz auf weiß niedergelegt, Europa müsse in Zu-kunftsbereiche investieren; die Landwirtschaft zählt hiernicht dazu. Wissen Sie, was das heißt? Das heißt: Mitder SPD hat die Landwirtschaft keine Zukunft.
Was von der Troika als Parole ausgegeben wird, wird inden Ländern gleich konsequent umgesetzt. MinisterSchmid in Baden-Württemberg will ganze Schwarz-waldtäler zuwachsen lassen.
Er sagt: Es gibt Wichtigeres als Landwirtschaft und essei nicht entscheidend – jetzt ein Zitat –, „ob es einenBauern mehr oder weniger gibt“.
: Unverschämt!)
Ich würde sagen, diese Worte sprechen für sich; sie sinddie Konsequenz einer fatalen Haltung.
Die SPD legt die Axt an unsere Landwirtschaft. Wir,Union und FDP, dagegen stehen geschlossen unserenLandwirten zur Seite.
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Bundesministerin Ilse Aigner
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Union und FDP haben auch in der Verbraucherpolitikneue Akzente gesetzt. Deshalb zeigen die Haushaltszah-len für die Jahre 2009 bis 2013 deutlich nach oben, undzwar Jahr für Jahr. Im kommenden Jahr etwa wollen wirallein 5 Millionen Euro zusätzlich für die Verbraucher-information investieren. Das ist eine Investition in mehrTransparenz bei der Geldanlage, bei der Altersvorsorgeoder auch bei Gesundheit und Pflege. Hinzu kommenzusätzlich 1,5 Millionen Euro an die Stiftung Wartentest.Mit diesem Geld soll sie Finanzangebote künftig stärkerunter die Lupe nehmen und Verbraucher noch intensiverüber Finanzfragen informieren können.
Zuvor, sehr geehrter Herr Kelber, haben wir das Stif-tungskapital um 50 Millionen Euro erhöht.
Deshalb haben wir die Zuschüsse kürzen können.
Der Verbraucherschutz gewährleistet bei uns Selbst-bestimmung und Schutz. Unsere Arbeit wirkt. Unionund FDP haben mit dem neuen Verbraucherinforma-tionsgesetz mehr Behördenauskünfte für Bürgerinnenund Bürger zu Produkten ermöglicht, und das schnellerund unbürokratischer. Union und FDP schützen durchdie Buttonlösung wirksam vor Abzocke beim Geschäftim Internet. Union und FDP bewahren Verbraucherdurch die Neuregelung bei Telefonwarteschleifen vorexplodierenden Telefonkosten. Union und FDP habenbei den Finanzprodukten durch Produktinformations-blätter für mehr Transparenz und durch die Kontrolledurch die BaFin für mehr Sicherheit gesorgt.
Auch die Honorarberatung ist auf einem guten Weg. Washören wir von der Opposition? Alarm, Verbote, Zwang –auch das nicht mit uns!
Union und FDP ziehen klare Grenzen, stärken aberzugleich – das ist mir sehr wichtig – Bildung und For-schung. Union und FDP machen keine Politik auf Ver-dacht, mit Vorurteilen und Feindbildern. Dafür erhaltenwir Bestätigung. Das vorliegende Gutachten zur Lageder Verbraucher – das wird Ihnen wehtun – zeigt deut-lich: Die Lage der Verbraucherinnen und Verbraucher inDeutschland ist besser als je zuvor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir ohne unnö-tige Vorschriften, ohne unnötige Verbote und ohne unnö-tige Bürokratie viel bewegen können, haben wir mit derInitiative zum Wert von Lebensmitteln gezeigt. Lebens-mittel sind in der Tat zu gut für die Tonne. Jedes Jahrwerden 11 Millionen Tonnen Lebensmittel weggewor-fen. Das kann uns nicht egal sein. Die Initiative mobili-siert; jeder kann seinen Beitrag dazu leisten, die Res-sourcen zu schonen.Der umsichtige Umgang mit Ressourcen leitet unsauch in der Debatte über die Frage „Teller oder Tank?“.Meine Linie war, ist und bleibt: Erste Aufgabe derBauern ist die Produktion von Nahrungsmitteln. Wo sichZukunftsfelder auftun, setzen wir Impulse; aber dort, woes Fehlentwicklungen gibt, steuern wir um.
Das haben wir beim EEG schon bewiesen. Allein in die-ser Legislaturperiode haben wir das EEG mehrfachnachgebessert. Zum Beispiel haben wir bei der Sonder-vergütungsklasse für 75-kW-Biogasanlagen darauf ge-setzt, Reststoffe zu verwerten. Wir haben auch den för-derfähigen Einsatz von Mais bei Bioenergie begrenzt
und die Förderansätze insbesondere für Großanlagen ge-senkt. Die Politik wirkt auch; denn der Neubau von Bio-gasanlagen ist bundesweit eindeutig zurückgegangen.Impulse auf Zukunftsfeldern setzen und Fehlentwick-lungen korrigieren, das tun wir auch bei den Biokraft-stoffen; denn hier fördern wir den Einsatz von Reststof-fen und auch die Forschung, zum Beispiel in Bezug aufAlgen. Insgesamt laufen zurzeit rund 102 Projekte miteinem Fördervolumen von 40 Millionen Euro, die einenBezug zur Verwertung von Rest- und Abfallstoffen ha-ben. Auch so fördern wir die nachwachsenden Rohstoffezielgenau.Eines ist ebenfalls wichtig: Für eine gesicherte Ver-sorgung der Menschen mit Lebensmitteln ist die Produk-tion vor Ort entscheidend. Deshalb haben wir die Mittelfür die bilaterale technische Zusammenarbeit in meinemHaushalt über die Jahre mehr als verdoppelt. Mein Haushat auch ein internationales Modellprojekt der Welter-nährungsorganisation finanziert, das Entwicklungslän-dern hilft, die Ernährung zu sichern und zugleich dasPotenzial der Bioenergie zu nutzen. Diese Methodikwird heute in Sierra Leone angewendet, und sie wirktauch. Wir wissen um die Bedeutung des Wissenstrans-fers für die Welternährung. Im Schulterschluss mit mei-nem Kollegen Dirk Niebel geben wir der Landwirtschaftdie Rolle, die ihr gebührt, nämlich die Schlüsselrolle fürden Kampf gegen den Hunger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen für Sta-bilität und Verlässlichkeit, gerade in der Sozialpolitik.Wir setzen aber auch neue Akzente, ohne dass wir dieAusgaben insgesamt steigern, und schichten in Zu-kunftsfelder um. Im Bereich Verbraucherpolitik began-nen wir mit 121 Millionen Euro; jetzt sind wir bei142 Millionen Euro. Im Bereich „Nachhaltigkeit, For-schung und Innovation“ begannen wir bei 416 MillionenEuro; jetzt sind wir bei über 494 Millionen Euro. Bei
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Bundesministerin Ilse Aigner
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den Haushaltsmitteln für die internationalen Maßnah-men begannen wir bei 46 Millionen Euro; jetzt sind wirbei 60 Millionen Euro. Das ist die Linie unserer Politik,der Politik von Union und FDP: nicht immer nur Ausga-ben ausweiten, sondern da, wo es notwendig ist, um-schichten und neue Impulse setzen.Herzlichen Dank und auf gute Beratungen.
Das Wort hat nun Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Man muss es wahrscheinlich hinnehmen und alsnormal betrachten, dass eine Ministerin in der Haus-haltsdebatte versucht, sich selber ein gutes Arbeitszeug-nis auszustellen. Die Öffentlichkeit kommt zu einem et-was anderen Ergebnis. Ich darf auf den Spiegel derletzten Woche verweisen.
Dort steht: große Worte, noch größere Ankündigungen,kleine Taten. – Dasselbe Etikett, das Ihnen die Opposi-tion angeheftet hat, das Etikett der Ankündigungsminis-terin, haben Sie zu Recht auch von den Medien bekom-men.
Wie sieht denn die Verbraucherpolitik dieser Bundes-ministerin aus?
Sie folgt eigentlich immer dem gleichen Prinzip: AmMorgen spricht der Verbraucherzentrale Bundesverbandein Problem an. Am Nachmittag schickt die Ministerineine Pressemitteilung heraus – noch lieber geht sie vordie Kameras – und sagt, dass sie sich um das Problemkümmern wird.
Einige Wochen oder Monate später stellt man fest:Nichts ist geschehen. Die Schlagzeile war genug.Ein paar Beispiele gefällig? – Erstes Beispiel: Ab-mahnungen. Wo ist denn die Ministerin beim Streit umein Gesetz, um Abmahnungen, Abzocke und Betrug imInternet zu verhindern? Seit dem Frühjahr behindert dieFraktion der CDU/CSU das FDP-geführte Justizministe-rium bei einem Gesetzentwurf, der viel Lob von denVerbraucherverbänden bekommen hat. Jeden Tag, andem dieser Entwurf blockiert wird, werden die Men-schen in Deutschland um Millionen Euro betrogen. FrauMinisterin, was machen Sie, um diese Blockade aufzu-heben?
Zweites Beispiel: Datenschutz. Dass Sie in Ihrer zer-strittenen Koalition von Schwarz-Gelb kein modernisier-tes Datenschutzrecht auf nationaler Ebene hinbekom-men, hatte vermutlich auch niemand anders erwartet.Dass die Minister jetzt aber auch noch in Brüssel versu-chen, zu verhindern, dass ein modernisiertes europäi-sches Datenschutzrecht entsteht, das Datenkraken wieFacebook etwas entgegenstellt, ist eine Unverschämt-heit. Es reicht eben nicht, dass Sie selber öffentlichkeits-wirksam bei Facebook austreten; Sie müssten 83 Millio-nen Deutschen helfen, dass ein Schutz ihrer Datenexistiert – auf nationaler oder auf europäischer Ebene.
Drittes Beispiel: Schlichtungsstelle im Luftverkehr,damit die Kunden endlich zu ihren Rechten kommen.Wie sieht der Gesetzentwurf aus? Es wird drei Schlich-tungsstellen geben. Chaos ist vorprogrammiert. Für ei-nige Dinge sind diese Schlichtungsstellen noch nichteinmal zuständig. Im Gesetz ist auch angelegt, dass dieVerbraucherinnen und Verbraucher in Zukunft vermut-lich sogar für den Schutz, den die Schlichtungsstellenliefern, bezahlen sollen. So kann ein Entwurf natürlichnicht aussehen. Wie ist eigentlich die Haltung der Ver-braucherschutzministerin dazu?
– Vielen Dank für den Einwurf von der FDP. Was ist dieHaltung der Opposition im Bundestag,
da die SPD eine Mehrheit im Bundesrat hat? Die SPDhat diesen falschen Entwurf angehalten. Jetzt haben wirdie Chance, daraus einen guten zu machen. Vielen Dankfür die Erinnerung. Dieses Stichwort hatte ich vergessen.
Viertes Beispiel: Energie. Wo ist die Stimme der Ver-braucherschutzministerin bei der Frage der Energie-preise? Bei jeder Welle einer Benzinpreiserhöhung kün-digt Schwarz-Gelb an, jetzt käme man mit einemwirksamen Instrument, um überhöhte Benzinpreise so-wie Kartelle und Monopole zu verhindern.
Nach wenigen Wochen stellen wir fest: Wieder ist nichtspassiert. Die Pressemitteilung wird aber bei der nächstenWelle von Benzinpreiserhöhungen recycelt. Wo ist FrauAigner? Wo ist der Protest gegen die Kostenverlagerungim Zusammenhang mit der Energiewende auf dieVerbraucherinnen und Verbraucher? Vorhin kam dieMeldung, dass eine Arbeitsgruppe von Schwarz-Gelbvorgeschlagen hat, weitere Kosten von den Firmen aufdie Verbraucherinnen und Verbraucher zu verlagern. Icherwarte ein Wort der Verbraucherschutzministerin zudiesem Thema.
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Ulrich Kelber
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Es ist übrigens nicht so, dass sie kein einziges Wort zudiesem Thema verloren hat. Als der Vorschlag kam, wei-terhin eine Rendite von 9 Prozent für Investitionen inNetze zu zahlen, das Risiko aber auf die Verbraucherin-nen und Verbraucher zu verlagern, haben wir ein Presse-statement bekommen. Es hieß, sie würde das ablehnen.Zwei Tage später ist dieser Gesetzentwurf im Kabinettohne Aussprache verabschiedet worden. Waren Sie nichtanwesend, Frau Aigner, als dieser Gesetzentwurf verab-schiedet wurde?Fünftes Beispiel: Gesundheitswesen. Ich weiß nochnicht einmal, ob ich in meinem Leben je eine Pressemit-teilung von dieser Ministerin dazu gelesen habe. DasGesundheitswesen ist einer der größten Märkte; hier sinddie Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher zuschützen. Die Verbraucher sind zu schützen vor Fehlbe-handlungen, überflüssigen Leistungen und finanziellenBenachteiligungen. Aber es herrscht völlige Stille imVerbraucherschutzministerium.Sechstes und letztes Beispiel für heute: Finanzdienst-leistungen. Wenn eine Ministerin nicht einmal mehr anden Beratungen über wichtige Gesetzesvorhaben zu Ver-braucherschutzleistungen im Finanzsektor beteiligt wird,dann sagt das einiges über den Stellenwert dieses The-mas im Kabinett.Bei der unabhängigen Finanzberatung, dem nächstenThema, gab es im April 2011 ein Versprechen der Regie-rung, man werde bald eine Vorlage erarbeiten. DieVorlage war dann im Juni 2011 ein Eckpunktepapier derMinisterin. Bis heute ist aus diesem Eckpunktepapiernichts umgesetzt worden. Die Schlagzeile war wichtig,das Tun war erneut unwichtig.Mein letztes Thema im Zusammenhang mit den Fi-nanzdienstleistungen sind die überhöhten Dispozinsen.Mit Steuerzahlergeldern wird eine Studie in Auftrag ge-geben. Das ist richtig; das ist Ihr Job. Das Ergebnis ist:Die Dispozinsen in Deutschland sind überhöht. Wasmacht die Ministerin? Viele Monate macht sie garnichts. Jetzt habe ich aber gehört, dass Sie als Folge die-ser Studie in der nächsten Woche zu einem Kaffeekränz-chen ins Ministerium eingeladen haben.Frau Aigner, Ihnen fehlt der Mut. Vielleicht fehlt Ih-nen auch die Unterstützung Ihrer Fraktion. Bei lebens-mittelklarheit.de, einem Vorhaben, das ich eindeutiglobe, haben wir erlebt, wie mühevoll Sie sich gegen dieRegierungsfraktionen durchsetzen mussten. Sie könnenweiter auf unsere Unterstützung setzen, wenn diese Re-gelung verlängert und ausgebaut werden soll. Wir wer-den am Ende dieser Budgetberatungen sehen, wer denlängeren Atem hat, Sie oder diejenigen, die diese Leis-tung schon wieder wegkürzen wollen.Was wir brauchen, ist eine moderne Verbraucherpoli-tik, die Verbraucherinnen und Verbraucher auf Augen-höhe mit global agierenden Konzernen hebt. Den dafürnotwendigen Mut haben Sie nicht. Ihnen ist die Eigen-darstellung oder, wie heute, der Wahlkampf für Bayernund den Bund wichtiger. Sie haben von den Wählerinnenund Wählern aber einen Job bekommen. Wenigstens inden nächsten zwölf Monaten sollten Sie ihn auch ma-chen.
Das Wort hat nun Rainer Erdel für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Am 10. November 1965 gab LudwigErhard eine Regierungserklärung ab und forderte dabeizum Maßhalten auf. Über Jahrzehnte wurde er für dieseÄußerung verlacht, über Jahrzehnte wurde er als anti-quiert dargestellt. Er hatte etwas ausgesprochen, dasviele Regierungen in Europa und die Regierung inDeutschland vielleicht hätten beherzigen sollen. Dannwären uns manche Probleme, die uns momentan be-schäftigen, erspart geblieben.Der Entwurf für den Bundeshaushalt 2013, den wirvorlegen, berücksichtigt genau diese Maßgabe, nämlichMaßhalten. Wir haben das Defizit deutlich reduziert.Auch im Agrarhaushalt tragen wir dieser MaßgabeRechnung. 70 Prozent des Agrarhaushaltes sind füragrarsoziale Projekte vorgesehen. Wir nutzen die ver-bleibenden 30 Prozent, um die Herausforderungen derGegenwart anzunehmen.Welche Herausforderungen sind dies? Wir stellenfest, dass sich die Verbraucher immer mehr von der Pro-duktion entfernen. Wir stellen fest, dass es immer mehrUnsicherheit bei den Menschen gibt, ob die Lebensmit-tel, die sie kaufen, gesund sind. Deswegen, Frau Minis-terin, bin ich sehr dankbar, dass Sie diesen Spielraumnutzen und diese 30 Prozent Gestaltungsspielraum fürForschung in alternative Pflanzen bei den erneuerbarenEnergien und in ökologischen Landbau einsetzen unddass Sie den Verbraucherschutz und die Verbraucher-information verstärken.Ich denke, in Deutschland ist der Dreiklang „Wissen-schaft, Lehre und Praxis“ sehr wichtig. Dieser Dreiklangfunktioniert: Immer neue wissenschaftliche Erkenntnissefließen in die Praxis ein. Eines wird in unserem Einzel-plan 10 allerdings nur am Rande tangiert: die europäi-sche Agrarpolitik.Ich bin Ihnen sehr dankbar, Frau Ministerin, für ihreÄußerung zur Flächenstilllegung. In einer Zeit, in derwir über „Teller oder Tank“ diskutieren, in der wir unsnicht sicher sind, ob es richtig ist, auf unseren ÄckernEnergiepflanzen anzubauen, diskutieren wir allen Erns-tes darüber, 800 000 Hektar – das wären 7 Prozent – miteinem Kapitalwert von 8 Milliarden Euro – diese Zahlergibt sich, wenn man pro Quadratmeter 1 Euro ansetzt –aus der Produktion zu nehmen und diese nicht stattfin-dende Produktion mit Steuergeldern auszugleichen. Wel-che Branche in Europa würde dies mitmachen? DerLandwirtschaft will man das zumuten.
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Rainer Erdel
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In dem Dreiklang „Wissenschaft, Lehre und Praxis“ist es uns gelungen, moderne Ställe zu entwickeln undeine zukunftsfähige Landwirtschaft in Deutschland auf-zubauen. Wenn ich von den Grünen höre, dass dernächste Wahlkampf die Landwirtschaft als Zielgruppehat, dann frage ich mich: Wollen Sie beim VerbraucherAngst schüren? Wollen Sie die Situation ausnutzen undbewirken, dass sich Erzeugung und Verbraucher immerweiter voneinander entfernen? Ich glaube, unsere Land-wirte haben dies nicht verdient.
Die Menschen, die täglich hart arbeiten, die bereit sind,zu investieren, und innovationsbereit sind, haben unse-ren Schutz und unsere Anerkennung verdient. Sie habennicht verdient, dass auf ihrem Rücken Wahlkampf ge-macht wird.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Roland Claus für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauMinisterin, wer hier wie Sie so demonstrativ die Ge-meinsamkeit von Union und FDP beschwört, der mussin Wirklichkeit ein riesiges Problem damit haben. Daswissen Sie, und wir alle kennen diese Probleme.
Ansonsten sind Sie in Ihrer Maxime Jesus gefolgt: „EureRede aber sei: Ja, ja; nein, nein.“ Wenn Sie in der Bibelein Stückchen weiterlesen, werden Sie herausfinden,dass auch das schiefgegangen ist.Das Problem dieses Etats ist nicht so sehr, was drin-steht, sondern eher das, was nicht drinsteht. Agrar- undVerbraucherschutzpolitik wird heute eben nicht in ersterLinie in Parlamenten und Regierungen gemacht, sondernan Börsen, in Lebensmittelkonzernen und Discounter-ketten. Das Ergebnis davon ist das Gegenteil einer nach-haltigen Agrarpolitik. Wir wollen ganz ausdrücklich,dass das nicht so bleibt und dass wir uns dort wehren.
Bevor wir über Einzelposten reden, ist es bitter nötig,etwas zur gegenwärtigen Börsenspekulation mit Nah-rungsgütern zu sagen. Über 900 Millionen Menschen ha-ben inzwischen nicht mehr genügend Nahrung, und de-ren Zahl nimmt zu. Hierzulande trifft man häufig auf dieSelbstbezeichnung von der „zivilisierten Welt“. Aberwas ist daran zivilisiert, wenn in Deutschland die Zahlder Millionäre auch deshalb wächst, weil in den ärmstenLändern der Welt der Hunger anwächst? Eine gerechte,solidarische und friedliche Weltordnung erfordert des-halb auch eine neue globale Ernährungsstrategie.
Dazu gehört ein Verbot von Spekulationsgeschäften mitNahrungsmitteln. Hierzu hat die Linke einen Antrag ein-gebracht. Wir wären jederzeit bereit, auch einen inter-fraktionellen Antrag zu unterstützen. Ich denke, dass esfür diese Forderung auch eine Zweidrittelmehrheit imBundestag gibt. Warum haben wir nicht den Mut, diesauf den Weg zu bringen?
Zu einigen Fakten: Milchbäuerinnen und Milchbau-ern haben uns allen in jüngster Zeit signalisiert, mit wel-chen Problemen sie zu tun haben, womit sie zu kämpfenhaben. Man muss eindeutig sagen: In der Agrarwirt-schaft nimmt die Selbstausbeutung zu.An Ihre Adresse, Frau Ministerin: Die Milchbauernerwarten ganz eindeutig, dass Sie sich hier auf ihrerSeite positionieren. Sie brauchen Ihre Unterstützung.Wir werden Sie da an Ihren Taten messen.
Heute hat das Statistische Bundesamt eine Sozialsta-tistik veröffentlicht, die belegt – das haben wir schondiskutiert –, dass die Armut in Deutschland anwächst.Auf der anderen Seite wächst auch der Reichtum an. DasAnwachsen der Armut gehört zur Wahrheit. Viele derBetroffenen leben auf dem Land. Ich will aus dieser Ver-öffentlichung hier nur hervorheben, dass unter den Flä-chenländern leider wieder die Länder Mecklenburg-Vor-pommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen, also Länder imOsten der Republik, diese Statistik anführen.Ihnen ist gut bekannt, dass die Linke für Chancen-gleichheit für ostdeutsche Agrarunternehmen eintritt. Dahaben wir im Moment zwei akute Probleme: Das sindzum einen die sinkenden Zuwendungen für größere Un-ternehmen im Zuge der Gemeinsamen Agrarpolitik.Dazu kennen Sie unsere Position. Das ist zum anderendie Bodenpreisentwicklung. Die Pachtflächenpreise ha-ben sich seit 2007 verdreifacht. Wir finden, die bundes-eigene Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH,BVVG, spielt hier eine besonders unrühmliche Rolle.Das schadet den Agrarbetrieben, nicht nur im Osten,aber in besonderem Maße im Osten. Deshalb fordern wiran dieser Stelle einen Stopp der Privatisierung; das istder falsche Weg.
Die Linke fordert eine steuerfreie Rücklage für denRisikoausgleich. Auch dazu kennen Sie unseren Antrag.Klimawandel und zunehmende Wetterextreme erhöhendie ökonomischen Risiken von Agrarbetrieben. Das sindnicht nur Buchhalterrisiken. Es sind Risiken, die sozusa-gen den Lebensunterhalt untergraben oder berühren kön-nen. Deshalb brauchen wir eine unbürokratische Hilfe,um bessere Vorsorge bei unverschuldeten Ausfällen zuerreichen.
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Roland Claus
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Natürlich gibt es auch erfreuliche Entwicklungen inIhrem Etat. Mehr Geld für alle Forschungseinrichtungendes Bundes wird von uns ausdrücklich unterstützt. Dieswird aber leider durch die über alle Etats geltenden Stel-leneinsparungen von 1,5 Prozent pro Jahr – ich weiß,dass das nicht an Ihnen liegt, Frau Ministerin – konterka-riert. Das steht leider dem entgegen, was diese wunder-baren anerkannten Leistungen in den Instituten an weite-rer Förderung verdient hätten.
Positiv sehen wir auch, dass es im Deutschen Bundes-tag nach wie vor gelingt, interfraktionell – in diesem Fallüber alle Fraktionen hinweg – etwas zur Förderung desWeinbaus in unserem Land zu tun.Die Linke steht für eine Agrar- und Verbraucher-schutzpolitik, die den Konsumenten eine gesunde undbezahlbare Ernährung und den Produzenten ein nachhal-tiges und angstfreies Wirtschaften garantiert.Zum Schluss noch ein Tipp an Sie, Frau Ministerin:Ich bin sicher, dass Sie daran interessiert sind, auch ausIhrer bayerischen Heimat Nachwuchs für Ihr Ministe-rium zu bekommen. – Sie nickt. Wenn sich die jungenLeute mit Laptop und Lederhose, wie wir gelernt haben,in Bayern auf den Weg machen, dann sorgen Sie bittedafür, dass es ein Ticket nach Berlin ist und nicht ein Ti-cket nach Bonn;
sie wollen inzwischen nämlich lieber nach Berlin. IhrMinisterium ist noch geteilt. Tun Sie etwas für IhreLandsleute! Sie werden es Ihnen danken.Danke schön.
Nun hat Kollegin Katja Dörner das Wort für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Wenn man sich die Fotos auf derHomepage des Ministeriums anschaut, dann könnte manmeinen: Landwirtschaft in Deutschland – das reinsteBullerbü.
Man sieht kleine Ferkelchen mit süßen Ringelschwänz-chen, die um die Sau herumtollen.
Man sieht ganz propere Hennen samt Hahn auf einer gro-ßen grünen Wiese. Klar ist: Solche Bilder haben mit derRealität der schwarz-gelben Agrarpolitik nichts zu tun.Hier wird den Menschen Sand in die Augen gestreut. Hierwird bewusst davon abgelenkt, dass Schwarz-Gelb weiterauf Massentierhaltung, auf immer größere Ställe und da-rauf setzt, immer mehr Tiere auf kleinstem Raum zusam-menzupferchen. Wir lassen Ihnen, Frau Ministerin, dieseAugenwischerei nicht durchgehen.
Die Ministerin bemüht sich allenthalben, auch heute,ihre Politik als ökologisch, nachhaltig und tierfreundlicherscheinen zu lassen. Jetzt hat sie sogar einige neue Pro-gramme und Forschungsschwerpunkte in ihrem Haus-haltsentwurf, die suggerieren könnten, dem sei auch so.Stichwort Tierschutz. 5 Millionen Euro sind hier neuvorgesehen.
Dieses neue Programm, liebe Kolleginnen, liebe Kolle-gen, ist einfach nur absurd, wenn die Bundesregierunggleichzeitig Hermesbürgschaften im Umfang von 26 Mil-lionen Euro für Tierfabriken in der Ukraine vergibt,
für Tierfabriken, in denen Platz für 3 bzw. 5 MillionenLegehennen ist. Es werden 26 Millionen Euro für Tierfa-briken zur Verfügung gestellt, die nach Auskunft derBundesregierung in Deutschland und in der EU gar nichtzulässig wären. Klar ist: Der Bundesregierung ist derTierschutz einfach schnuppe. Wenn es um die Interessender Käfigindustrie geht, muss sich der Tierschutz ganzhinten anstellen. Das ist aus unserer Sicht völlig inak-zeptabel.
Dass auch der Ministerin selbst der Tierschutz ziem-lich schnuppe ist, zeigt ein Blick in die Haushaltsunterla-gen. Wozu dient denn dieses 5-Millionen-Euro-Pro-gramm? Die daraus finanzierten Projekte dienen dazu– ich zitiere aus den Haushaltsunterlagen –, „die Akzep-tanzprobleme, auf die die Haltung landwirtschaftlicherNutztiere bei vielen Bürgerinnen und Bürgern stößt, zulösen“. Tierschutz ist an dieser Stelle Fehlanzeige. Esgeht darum, Akzeptanzprobleme zu lösen. Das ist einfachungeheuerlich.
Beim Tierschutz sind endlich echte Veränderungennötig. Ich kann Sie alle nur auffordern, sich uns anzu-schließen und unser Tierschutzgesetz zu unterstützen.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, noch ein gutklin-gender neuer Posten im Haushaltsentwurf: 2 Millio-nen Euro für Forschungskooperationen zur Verbesse-rung der Welternährungssituation. Aber was sollen diese2 Millionen Euro, wenn Sie, Frau Ministerin, ganz direktund unmittelbar so viel mehr tun könnten, um die Welt-ernährungssituation tatsächlich zu verbessern, beispiels-weise indem Sie sich endlich gegen den Export von Bil-ligprodukten und in Deutschland nicht vermarktbarenFleischteilen zum Beispiel nach Afrika engagieren wür-
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Katja Dörner
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den? Diese treiben die lokalen Bäuerinnen und Bauernnämlich in den Ruin und untergraben die Ernährungs-souveränität in diesen Ländern.
Sie könnten die Welternährungssituation auch dadurchverbessern, dass sie uns darin unterstützten, in Deutsch-land und in der EU die Selbstversorgung mit Futtermit-teln zu stärken.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, was den Verbrau-cherschutz betrifft, begrüßen wir die Erhöhung der Mit-tel, beispielsweise für die Stiftung Warentest und für dieVerbraucherinformation. Mehr Mittel für den Verbrau-cherschutz, das ist aus unserer Sicht natürlich richtig.Nichtsdestotrotz: Diese Erhöhung fällt zu mickrig aus.
Ich muss auch darauf hinweisen: Sie erfolgt natürlichvor dem Hintergrund, dass für das Jahr 2012 die Mittelgekürzt worden sind.Weiterhin tut die Ministerin strukturell nichts zumSchutz der Verbraucherinnen und Verbraucher im Be-reich der Finanzprodukte. Der Schaden durch Fehlbera-tungen in diesem Bereich wird auf 20 bis 30 MilliardenEuro jährlich geschätzt. Der von uns vorgeschlageneFinanzmarktwächter, den wir auch in diesen Haushalts-beratungen wieder beantragen werden, würde jährlichlaufende Kosten von rund 10 Millionen Euro verursa-chen. Das wäre aus unserer Sicht eine sehr lohnenswerteInvestition.
Auch hier im Bereich des Verbraucherschutzes bleibtFrau Aigner die schon genannte Ankündigungsministe-rin. Ich kann den von Ulrich Kelber schon eröffnetenReigen von Beispielen und guten Belegen noch weiterfortsetzen.
Was ist beispielsweise mit der ziemlich populistischenForderung nach verdeckten Ermittlern bei Finanzpro-dukten? Sie ist 2010 von der Ministerin aufgetan wor-den. Wie viele dieser Testeinkäufer sind mittlerweile un-terwegs? Kein Einziger, null! Warum ist das so? Es fehltauf der Bundesebene die gesetzliche Grundlage dafür.Ich finde, ehrlich gesagt, wenn man Ministerin ist, sollteman sich doch einmal erkundigen, ob man die eigenenVorschläge umsetzen kann, bevor man solche Ideen indie Öffentlichkeit pustet.
Auch die Änderung des Telekommunikationsgeset-zes, um die Abzocke in den Warteschleifen zu beenden,
finden wir alle richtig. Aber selbst hier lässt diese Minis-terin ein verbraucherfeindliches Schlupfloch;
denn die vorangestellten Bandansagen bleiben weiterhingebührenpflichtig. Ich hoffe nur, dass niemand auf dieIdee kommt, die Bänder mit den nicht umgesetzten An-kündigungen von Ilse Aigner zu besprechen, weil dasdann für die Anrufer verdammt teuer würde.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Franz-Josef Holzenkamp für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Das, was ich gerade eben gehört habe, ist eigentlichziemlich dünne und ziemlich billig.
Sie haben außer Anklage nichts Konstruktives zu bieten,meine Damen und Herren.Dabei ist das Beste an Landwirtschaftspolitik, dassüber 80 Millionen Menschen tagtäglich essen und trin-ken können, und zwar Lebensmittel, die wir hier inDeutschland erzeugen, die höchsten Ansprüchen anQualität, an Vielfalt und an Sicherheit genügen, und dasssich auch Menschen mit etwas geringerem Einkommendiese leisten können. Darauf muss man heute ganz be-sonders deutlich hinweisen. Es ist unserer starken undleistungsfähigen Land- und Ernährungswirtschaft zuverdanken, dass eben nur 12 Prozent des durchschnittli-chen Einkommens für Nahrungsmittel ausgegeben wer-den müssen. Das ist eine großartige Leistung unsererLandwirtschaft.
Viele in unserer Gesellschaft empfinden das mittler-weile als selbstverständlich: rein in den Supermarkt, rausaus dem Supermarkt, Einkaufskorb voll, und günstig wares auch noch. Diese Selbstverständlichkeit in unsererGesellschaft führt nun zu einem gewissen Luxuspro-blem, nämlich zu Lebensmittelverschwendung, mit derwir uns Gott sei Dank überfraktionell beschäftigen, aberauch zunehmend zu einer geringeren Wertschätzung derLebensmittelerzeugung. Hier ist Handlungsbedarf, weiles diese Selbstverständlichkeit nicht gibt.Hinter der Fülle an eben genannter Qualität stehenüber 300 000 landwirtschaftliche Familien. Sie sind topausgebildet, arbeiten sieben Tage die Woche und bewirt-schaften ihre Betriebe erfolgreich, sie sorgen dafür, dassneben der Erhaltung unserer Vielfalt unserer Kulturland-
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Franz-Josef Holzenkamp
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schaft über 4 Millionen Menschen in unserem Land imLandmaschinenbau, in der Düngemittelwirtschaft, in derFuttermittelindustrie oder auch in der Ernährungswirt-schaft Arbeit haben: 4 Millionen Menschen in Deutsch-land, die ohne die Landwirtschaft keine Beschäftigunghätten.Ich finde es bemerkenswert – ich möchte unterstrei-chen, was Bundesministerin Aigner vorhin schon ange-deutet hat –, wenn ein Finanz- und Wirtschaftsministeraus Baden-Württemberg – das ärgert mich auch – fest-stellt, dass die Landwirtschaft im ländlichen Raum eineuntergeordnete Rolle spielt. Ich finde, das ist ein Schlagins Gesicht der Bauern. Die Bauern sind Menschen, dietagtäglich mit Leidenschaft und Verantwortungsbe-wusstsein zu Werke gehen. Sie haben unsere Anerken-nung und unseren Dank verdient, meine Damen undHerren.
Wir stehen vor globalen Herausforderungen. Dieweltweite Nahrungsmittelversorgung ist auch eine Auf-gabe für uns. Die Folgen des Klimawandels müssen ein-geschränkt werden, und wir müssen mit der Volatilitätder Märkte fertigwerden. Das zeigt sich in diesem Jahrsehr konkret bei der Getreideernte. In Deutschland gabes im Winter noch Auswinterungsschäden. Wir habenjetzt mit der Leistung der Bauern mit etwa 45 MillionenTonnen eine gut durchschnittliche Ernte in Deutschlandgeschafft. Aber in den USA herrscht Dürre, und weltweitexplodieren die Getreidepreise. Das ist gut für dieAckerbauern, aber schlecht für die Veredelungswirt-schaft.Um diese Herausforderungen zu bewältigen, erwartendie Landwirte und die Ernährungswirtschaft zu RechtVerlässlichkeit in der Politik. Diese Verlässlichkeit zeigtsich unter anderem auch im Agrarhaushalt. Denn zurUnterstützung der Landwirte und der Verbraucherinnenund Verbraucher braucht es einen starken Haushalt. Die-ser Haushalt leistet einen Beitrag zur Konsolidierung,aber er ist gleichermaßen zukunftsorientiert und setzt dierichtigen Schwerpunkte. Ilse Aigner, unsere Bundes-landwirtschafts- und -verbraucherministerin, hat einensehr guten Haushalt aufgestellt. An dieser Stelle einherzliches Dankeschön.Wir haben die Ausgaben für Verbraucherpolitik umüber 4 Millionen Euro gesteigert. Darauf wurde schonhingewiesen. Diese Maßnahmen sind auch richtig. Dafürgab es gerade schon Lob von den Grünen. Ich will andieser Stelle einfach feststellen: Sie können so viel he-rumnörgeln, wie Sie wollen. Keine Regierung hat in derVergangenheit so viel in Sachen Verbraucherschutz um-gesetzt wie unsere Bundesministerin Ilse Aigner. Dasmuss an dieser Stelle einmal gesagt werden.
– Herr Kelber, eines wundert mich: Die fünftwichtigsteBranche in Deutschland, die Agrar- und Ernährungswirt-schaft mit über 5 Millionen Arbeitsplätzen, haben Siemit keinem Wort erwähnt.
Das finde ich sehr schade.Wir haben weitere gute Aspekte im Haushalt. Wir si-chern die Gemeinschaftsaufgabe trotz wirklich knapperKassen. Das ist eine großartige Leistung. Wir förderngleichbleibend hoch die Landwirtschaft und damit auchden ländlichen Raum. Denn das ist bei uns anders: Füruns gehören Landwirtschaft und ländlicher Raum zu-sammen.Was mir persönlich noch wichtig ist, ist der Ausbauder Forschung. Forschung ist, wie wir wissen, Zukunft.Auf die Forschung insbesondere in Sachen Tierschutz istdie Ministerin schon eingegangen. Auch daran kann manso viel herumnörgeln, wie man will: Wenn wir auchdurch Umschichtungen zusätzliche Mittel einsetzen, wasin einem Konsolidierungsverfahren im Gesamthaushaltnotwendig ist – darin sind wir uns sicherlich alle einig –,und mehr für den Tierschutz und die Tierhaltung tun undbeides weiterentwickeln, dann ist das eine großartigeLeistung.Wir wollen in der Landwirtschaft in Deutschlandnicht nur die Spitze in Europa bleiben; wir wollen unsereSpitzenposition auch weiter ausbauen.
Ich finde, wir sollten bei diesen schwierigen Fragen ver-suchen, mehr Lösungsansätze über den Dialog zu findenstatt durch allgemeine Anklage oder Generalverdacht.Das hilft uns nicht weiter. Denn worum geht es? Es gehtum ökonomische und ökologische Fragen, um Fragendes Tierschutzes und, was auch sehr wichtig ist, um so-ziale Belange und soziale Verantwortung. Es geht da-rum, dass sich auch jemand mit etwas niedrigerem Ein-kommen einmal ein Stück Fleisch leisten kann.Entscheidend ist, dass man nicht nur einzelne Punkteherausgreift, sondern dass wir alle Parameter miteinan-der verbinden. Die Lösung heißt nicht Ideologie, son-dern Effizienzsteigerung. Das ist vernünftig. Das ist Zu-kunft, und das hilft letztlich uns allen in der Gesellschaftweiter.
Aktuelles Thema der letzten Tage war der Antibioti-kaeinsatz in der Tierhaltung. Ich glaube, wir sind hierauf einem guten Weg.
Die Bundesregierung bzw. das Ministerium bereitet eineNovelle zum Arzneimittelgesetz vor; das ist bekannt. Siewird hoffentlich noch in diesem Monat in das Kabinetteingebracht werden. Permanente Generalanklagen helfenuns nicht weiter. Vielmehr müssen wir neben Sicherheits-mechanismen Strukturen schaffen, die es ermöglichen– das hat Frau Aigner angesprochen –, Minimierungskon-
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Franz-Josef Holzenkamp
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zepte auf die Ebene der einzelnen Betriebe herunterzu-brechen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,weil auch die Heimtiermedizin und die Humanmedizineine Rolle spielen. Ich lade Sie herzlich zu konstruktiverMitarbeit ein.Ein letzter Satz zu der schon seit einiger Zeit geführ-ten Diskussion über die anstehenden GAP-Verhandlun-gen. Ende dieses Jahres steht wahrscheinlich die Ent-scheidung zum Finanzrahmen auf europäischer Ebenean. Wir werden es – im Gegensatz zu SPD und Grünen –nicht zulassen, dass der Agrarhaushalt zum finanziellenSteinbruch gemacht wird, und das auf Kosten der deut-schen Bauern. Wenn sich die Bauern auf die SPD verlas-sen, dann sind die deutschen Bauern tatsächlich verlas-sen.
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom-
men.
Ich komme zum Schluss. – Es ist Wahnsinn: Während
viele Menschen auf der Welt Hunger haben, wollen wir
wertvolle Ackerflächen stilllegen. Das ist verrückt.
Mit dieser Bundesregierung haben die deutschen
Bauern –
Herr Kollege!
– eine hervorragende Interessenvertretung. Meine Da-
men und Herren von der Opposition, Sie können sich
gern konstruktiv beteiligen, aber bitte nur konstruktiv.
Sonst sollten Sie es sein lassen.
Danke schön.
Das Wort hat nun Rolf Schwanitz für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man sich den Einzelplan 10 anschaut, dann fällteinem zuerst auf, dass es in der Landwirtschaftspolitikwenig Neues gibt. Das, was man da liest, malt das altbe-kannte Bild, das typische Bild, das wir von Frau Minis-terin Aigner nun schon seit drei Jahren kennen. DieLandwirtschaftspolitik reduziert sich auf das passiveAusschütten von Subventionen vor allen Dingen im Be-reich der landwirtschaftlichen Sozialpolitik, während dieSubstanz der aktiven Elemente der Politik, wenn es umStrukturfragen und Innovationen geht, immer dünnerwird.
Herr Kollege Holzenkamp, vor diesem Hintergrundbitte ich Sie, Ihre Aussage, Rot-Grün verstehe die Agrar-politik als finanziellen Steinbruch, noch einmal zu über-denken. Sie sollten die Diskussionen in den letzten Jah-ren Revue passieren lassen. Die Ministerin selbst hatdarauf hingewiesen, dass 70 Prozent ihres Haushalts fürRente, Krankenversicherung und Unfallversicherungaufgewendet werden. 2013 erhöhen Sie die Subventio-nen in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung nocheinmal um 50 Millionen Euro. Im aktiven Teil haben Sievor, noch einmal 25 Millionen Euro für die GMA he-rauszukürzen. Ich vermute, dass das mit der Subventiondes Agrardiesels zusammenhängt. Die aktiven Teile neh-men also zunehmend ab.Wir werden Ihnen im Rahmen dieser Haushaltsbera-tungen neue Bundesprogramme für eine nachhaltigeLandwirtschaft, die Tierschutzforschung und den Be-reich der Regionalvermarktung vorschlagen, damit die-ser Titel einen echten Gestaltungsanspruch zurückge-winnt.
Im Bereich der Innovationen – dieser hat bei ver-schiedenen Rednern eine große Rolle gespielt – solltenwir genau auf die Zahlen schauen. Die Kanzlerin hatgestern gesagt – Sie haben das sicherlich auch noch imOhr –: Wir setzen vor allem auf Investitionen in die Zu-kunft. – Den Einzelplan 10 kann sie damit nicht gemeinthaben. Schauen wir uns einmal genau an, was er tatsäch-lich enthält. Da fällt als Erstes ins Auge, dass die Be-träge für die ressorteigenen Institute – Julius-Kühn-Insti-tut, Friedrich-Loeffler-Institut, Max-Rubner-Institut undVon-Thünen-Institut – im Titel 544 01, „Forschung, Un-tersuchung und Ähnliches“, im Jahresvergleich negativsind. Die Gesamtsumme für diese vier Institute geht um2,23 Millionen Euro im Vergleich zu 2012 zurück. Ichstelle einfach fest: Das ist ein eklatant anderes Bild alsdas, das Sie hier zeichnen.
Wenn ich in das Innovationskapitel schaue, das neueingerichtet worden ist, das Kapitel 1005 „Nachhaltig-keit, Forschung und Innovationen“, und mir ansehe, wieder Mittelabfluss ist, dann kann ich nur feststellen: Eswird zappenduster. Ich will einmal die Titelgruppen nen-nen. Bei „Zuweisungen und Zuschüsse“ für 2011 sind4,69 Millionen Euro nicht ausgegeben worden. Bei derTitelgruppe „Nachwachsende Rohstoffe“ haben wirnicht abgeflossene Mittel in Höhe von 6,9 MillionenEuro. Bei der Titelgruppe „Zuschüsse an Forschungsein-richtungen außerhalb der Bundesverwaltung“ sind5,7 Millionen Euro nicht abgeflossen. In der Titelgruppe„Forschung und Innovation“ sind 14,7 Millionen Euronicht abgeflossen. Summa summarum sind Innovations-mittel in Höhe von 32 Millionen Euro nicht in 2011 ab-geflossen.
Seit dieser Woche liegen die vorläufigen Istzahlen für2012 vor. 66 Prozent des Haushaltsjahres 2012 sind vor-bei. Wenn ich die Zahlen hochrechne, wird das Bildnoch erschreckender. Pi mal Daumen, gleiche proportio-
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Rolf Schwanitz
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nale Haushaltsmittelabflüsse unterstellt, liegen Sie indiesem Innovationskapitel schon jetzt bei nicht ausge-schöpften 41 Millionen Euro. Die Gelder fließen nichtab. Sie bekommen das nicht in den Griff. Sie sind quasieine Innovationsbremse, was die eingesetzten Mittel be-trifft, aber keine Innovationsministerin. Dort sind Siekomplett gescheitert.
Sie haben das Thema Verbraucherschutz in den Mit-telpunkt gestellt. Meine Kollegin wird im Anschlussdazu etwas sagen. Ich will zur Stiftung Warentest einigeSätze verlieren. Ich habe bei den Haushaltsberatungender letzten Jahre quasi gebetsmühlenartig kritisiert, dasses falsch ist, auf der einen Seite das Stiftungskapital zuerhöhen – das ist in Ordnung –, auf der anderen Seiteaber die Zuführungen in die Stiftung zu kürzen. Das isteine glatte Fehlentscheidung gewesen. Okay, jetzt erhö-hen Sie die Zuführungen wieder und stellen 1,5 Millio-nen Euro mehr zur Verfügung. Das ist richtig, und daswill ich nicht kritisieren. Das ist aber eine Bankrotterklä-rung des Kurses, den Sie über mehrere Jahre verfolgt ha-ben.
Übrigens haben Sie zuvor 2,5 Millionen Euro gekürzt,bevor Sie jetzt wieder 1,5 Millionen Euro zuführen.Zur Wahrheit gehört auch, dass damit noch langenicht die dramatische Situation beschrieben ist, in dersich die Stiftung befindet. Ich erinnere daran, was derVorstand der Stiftung, Herr Primus, bei der Jahrespresse-konferenz der Stiftung Warentest im Mai dieses Jahreserzählt hat. Er hat dort signalisiert, wie drückend dieseKürzungsentscheidungen waren. Er hat weiter signali-siert, dass das Ergebnis der Stiftung im Jahre 2011 nurgehalten werden konnte, weil buchungstechnisch diebeiden Hefte – die Flaggschiffe der Publikationen – vonJanuar 2012 auf Dezember 2011 zurückgerechnet wer-den konnten, diese Hefte also 13-mal abgerechnet wur-den. Sie haben mit dieser Kürzungspolitik die Stiftung indie Situation gebracht, Bilanztricks anzuwenden. Sie ha-ben sie in eine Schieflage geführt. Das ist die Situation,die Sie angerichtet haben. Kein Wort von der Ministerindazu.
– Herr Schirmbeck, ich empfehle Ihnen weniger Dres-sing und mehr Beschäftigung mit Zahlen. Dann würdesich das auch Ihnen erschließen.Ich habe gemerkt – auch das wird noch eine Rollespielen –, dass Sie auf einmal Ihr Herz für die Informa-tion der Verbraucherinnen und Verbraucher entdeckt ha-ben. Im letzten Jahr haben wir dafür 1 Million Euromehr gefordert. Jetzt werden 5 Millionen Euro zur Ver-fügung gestellt. Ein Schelm, der Böses dabei denkt unddarauf verweist, dass es sich bei dem Jahr 2013 um einBundestagswahljahr handelt. Wir werden auch über denanwachsenden PR-Bereich im Einzelplan 10 zu redenhaben.Ich freue mich auf intensive und konstruktive Diskus-sionen.
Das Wort hat nun Heinz-Peter Haustein für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Dankbarkeit und Weizen gedeihennur auf gutem Boden.
Seien wir dankbar, dass wir in Deutschland genug gutenBoden haben, und seien wir dankbar, dass es uns so gutgeht wie noch nie in diesem Lande, dass wir genug zuessen und zu trinken und dass wir Frieden haben. Daskommt nicht von ungefähr. Das ist vor allem ein Ver-dienst dieser christlich-liberalen Bundesregierung.
Nun stehe ich hier als Haushälter, als jemand, der in derFDP-Fraktion für den Einzelplan 10 – Bundesministeriumfür Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz –zuständig ist. Mein Kollege Schorsche Schirmbeck hatdiese Aufgabe in der CDU/CSU-Fraktion. Wir helfenunserer tatkräftigen Ministerin, Ilse Aigner, die ja einMachertyp ist, dabei, ihre Vorhaben umzusetzen. Dafürsind wir auch da. Denn wir kämpfen für unser Land.
Dieser Haushalt, der Einzelplan 10, umfasst 5,26 Milliar-den Euro. Wir haben 20 Millionen Euro eingespart. Dasentspricht einem Rückgang des Gesamthaushaltes diesesBundesministeriums um 1,7 Prozent.Wir sehen den Bauern, den Landwirt als Unterneh-mer, der im Wettbewerb steht – im Wettbewerb stehen jaalle Unternehmer – und der auch noch das mit dem Wet-ter verbundene Risiko auszuhalten hat: Stets muss erAngst vor Dürre oder Unwetter haben. Wir flankierendeshalb mit richtigen Maßnahmen die Betriebe unsererBäuerinnen und Bauern, damit sie wettbewerbsfähigbleiben. Das ist unsere Aufgabe, und die erfüllen wirauch.So ist es nicht verwunderlich, dass 69 Prozent diesesHaushaltes, genau 3,65 Milliarden Euro, in Kap. 1001,„Landwirtschaftliche Sozialpolitik“, fließen. Es ist schonsehr verwunderlich, dass ein Sozialdemokrat sagt, wirgäben zu viel für Soziales aus. Diese Regierung, getra-gen von der Koalition aus CDU/CSU und FDP, ist so so-zial wie noch keine Regierung vorher. Noch nie wurdemehr für Sozialleistungen in diesem Land ausgegeben.
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Heinz-Peter Haustein
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Ich möchte ein paar Details nennen. Wir geben für dieAlterssicherung der Landwirte 2,14 Milliarden Euro aus.Das ist recht und billig; denn die gesetzlichen Renten-versicherungen erhalten aus dem Steuersäckel einen Zu-schuss in Höhe von 80 Milliarden Euro. Wir bezuschus-sen die landwirtschaftliche Unfallversicherung. DerHaushaltsansatz sieht hierfür 150 Millionen Euro vor. Imletzten Jahr waren es 175 Millionen Euro. Wir wolleneinmal sehen, was bei den Haushaltsberatungen heraus-kommt. Wir bezuschussen die Krankenversicherung mit1,29 Milliarden Euro, die Landabgaberente mit 34 Millio-nen Euro und die Zusatzaltersversorgung mit 29 Millio-nen Euro. Es kann sich sehen lassen, dass 69 Prozentdieses Etats für landwirtschaftliche Sozialpolitik ausge-geben werden. So sozial sind wir eben. Sozial ist bei die-ser Regierung Herzenssache.
Da unsere Bauern Unternehmer sind, müssen wirauch dafür sorgen, dass sie im Wettbewerb in Europanicht benachteiligt werden. Ein Punkt in diesem Zusam-menhang ist der Preis für Agrardiesel, also für den Sprit,den die Bauern brauchen, wenn sie mit dem Traktor oderdem Mähdrescher fahren. Während der Steuersatz aufAgrardiesel in den Niederlanden bei 6,1 Cent pro Literliegt, in Großbritannien bei 6,0 Cent, sind es bei uns im-mer noch 26 Cent. Wir bewirken eine Entlastung derBauern um 430 Millionen Euro. Dazu stehen wir, auchwenn manche Teile der Opposition dieses Hauses sie denBauern nicht gönnen. Wir gönnen es unseren Bauern.
Wir haben die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut-zes“ trotz unserer Sparbemühungen bei 600 MillionenEuro belassen. Wir fördern Nachhaltigkeit, Forschungund Innovation mit 494 Millionen Euro.Ein neues Modellvorhaben ist der Bereich Tierschutzund Tierhaltung, in den 5 Millionen Euro mehr fließen,sodass dafür insgesamt 14 Millionen Euro zur Verfü-gung stehen.Wir geben im Titel „Internationale Maßnahmen“ vielGeld aus: immerhin 60,2 Millionen Euro. Für die bilate-rale technische Zusammenarbeit stellen wir 10 Millio-nen Euro zur Verfügung, was einen Aufwuchs von25 Prozent bedeutet. Auch hier sei auf den Einzel-plan 30, Bildung und Forschung, verwiesen, in den auchin diesem Jahr 811 Millionen Euro mehr fließen. In dieForschung muss investiert werden, weil dort die Zukunftliegt; ich nenne hier nur den Titel „Forschung für Inno-vationen, Hightech-Strategie“.Noch ganz kurz etwas zur Verbraucherpolitik. Hierfürgeben wir 142,6 Millionen Euro aus. Die Stiftung Wa-rentest erhält 1,5 Millionen Euro mehr. Ich halte es fürrichtig, dass wir dem Stiftungskapital in den letztenbeiden Jahren einen Zuschuss von 20 Millionen Euro ge-währt haben, um diese Stiftung auf ein solideres Funda-ment zu stellen und unabhängiger zu machen. Außerdemhaben wir die Mittel für die Verbraucherinformation um25 Prozent erhöht.Zusammengefasst: Der Bauernstand ist bei uns gutaufgehoben. Wir stehen für unsere Bäuerinnen und Bau-ern, für die Landwirtschaft, für die Winzer und für dieFischerei. In diesem Sinne sage ich ein herzliches„Glück auf!“ aus dem Erzgebirge.
Caren Lay hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist ein denkbar kleines Stück vom Kuchen,das Verbraucherinnen und Verbrauchern von diesemHaushalt zugestanden wird. Die Verbraucherpolitik istder Regierung gerade einmal 143 Millionen Euro wert.Im Vergleich zu anderen Summen ist das ein lächerlichkleiner Betrag. Der Industrie schenken Sie beispiels-weise 6,5 Milliarden Euro allein bei der Ökosteuer unddurch den kostenfreien Emissionshandel.Dieses Missverhältnis spiegelt sich auch in diesemHaushaltsentwurf wider; denn auch im Vergleich zu denAusgaben für die Landwirtschaft sind die Ausgaben fürdie Verbraucherpolitik verschwindend gering. Relativ istder Anteil sogar gesunken. Waren es 2011 noch 3 Pro-zent der Ausgaben des Haushaltsentwurfs, so sind esjetzt nur noch 2,7 Prozent. Diese stiefmütterliche Be-handlung der Verbraucherpolitik muss endlich ein Endehaben.
Sicherlich gilt auch hier: Gute Politik muss nicht zwin-gend viel kosten. Aber die Bilanz sieht ja insgesamt sehrmager aus. Ich möchte noch einmal darauf eingehen.Im Kern besteht die Verbraucherpolitik der Bundesre-gierung aus Ankündigungen. Es geht um Projekte, diezwar nicht viel Wirkung haben, aber dafür auch nichtskosten. Das scheint hier das Motto der Ministerin zusein. Ob es das Verbraucherinformationsgesetz ist, dieButtonlösung im Internet, der konsequente Schutz vorTelefonabzocke, die Begrenzung der teuren Warteschlei-fen beim Telefonieren – all diese Dinge wurden entwe-der zu spät, halbherzig oder mit Schlupflöchern durchge-setzt. So kann es einfach nicht gehen.Nehmen wir ein anderes Beispiel. In Deutschlandwird schätzungsweise 600 000 Haushalten im Jahr derStrom abgestellt, weil die Bewohner den Strom nicht be-zahlen können. Das interessiert die Regierung noch nichteinmal. Sie verfügt diesbezüglich nicht einmal über eineordentliche Statistik. Ich finde, auch dieser Skandal
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Caren Lay
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müsste der Verbraucherministerin wenigstens ein kriti-sches Wort wert sein.
Stattdessen kümmert sich die Koalition weiter ummilliardenschwere Stromgeschenke an die Großindu-strie. Von wirkungsvollen Ideen, um die Strompreise zubegrenzen, habe ich bislang noch nichts gehört.
Nehmen wir das Beispiel der Dispozinsen. Wenn inder Sommerpause wieder dramatische Zahlen darüberveröffentlicht werden, wie Verbraucherinnen undVerbraucher bei den Dispozinsen von den Banken abge-zockt werden, dann finden das alle plötzlich ganzschlimm. Vor Monaten aber, als die Linke einen entspre-chenden Antrag zur Begrenzung der Dispozinsen einge-bracht hatte, haben alle geschlossen dagegen gestimmt –mit Ausnahme der Grünen; die haben sich bei einem ei-genen Antrag enthalten. Ich finde, das ist einfach unse-riös. Allein mit Pressemitteilungen kann man keine se-riöse Politik machen.
Es gibt noch viele andere Dinge, auf die wir warten.Ich nenne die Nährwertampel, das Girokonto für jeder-mann oder Maßnahmen zum Beispiel zur Begrenzungunseriöser Inkassounternehmen. Auf all das warten wirbis heute.Ein anderes gutes Beispiel ist die Installierung von Fi-nanzmarktwächtern, die wir als Opposition gemeinsamfordern, um die Verbraucherinnen und Verbraucher aufden Finanzmärkten tatsächlich wirkungsvoll zu schüt-zen. Dafür müsste man entweder die Verbraucherorgani-sationen stärken oder, wie wir fordern, endlich einenöffentlichen Finanz-TÜV einführen. Mit diesen 1,5 Mil-lionen Euro für die Stiftung Warentest, mit denen Siesich heute brüsten, ist es wirklich nicht getan. Sie wissenselbst, dass die Stiftung Warentest mit diesem Betragdiese Herkulesaufgabe niemals wird stemmen können.Wenn Sie einen unabhängigen Verbraucherschutzwollen und zugleich die Ausgaben begrenzen wollen,dann könnten wir auf eine alte und in der Tat gute Ideeder Ministerin zurückgreifen, nämlich die Einnahmenaus den Kartellstrafen den Verbraucherorganisationenzukommen zu lassen. Die Regierung selbst schätzt, dasshier 192 Millionen Euro im Jahr eingestellt werdenkönnten. Damit stünde mehr als doppelt so viel Geld fürden Verbraucherschutz zur Verfügung, als wir jetzt ha-ben. Ich finde, es wäre an der Zeit, wenn die CDU/CSU-und die FDP-Fraktion hier endlich einmal die gutenIdeen ihrer Ministerin in die Tat umsetzen würden.
Auch die positive Bilanz der heute schon erwähntenPrognos-Studie, die Sie selbst in Auftrag gegeben haben,kann ich so nicht teilen. Ich finde, da muss man auch dasKleingedruckte lesen, da muss man auch bis zum Endelesen. Darin steht zum Beispiel – ausdrücklich –: Ver-braucherschutz ist eine öffentliche Aufgabe. Und dort,wo Sie von Bürokratie, von Zwang und von Verbotensprechen, mahnt Ihre eigene Studie Gesetze und ord-nungspolitische Maßnahmen an. Vielleicht sollten Sieauch diesen Ratschlag einmal befolgen.Meine Damen und Herren, als Linke möchte ich einenletzten Punkt ansprechen, der uns am Herzen liegt: Dasist die Personalpolitik. Schauen Sie sich einmal diePersonalentwicklung in den Einrichtungen des Ministe-riums an! Wenn Sie das tun, sehen Sie, dass befristeteBeschäftigungsverhältnisse massiv ausgebaut werdensollen. Ich finde, eine nachhaltige Personalpolitik siehtanders aus.
Konsequenter Verbraucherschutz muss der Wirtschaftund ihrer Lobby manchmal wehtun. Dieser Haushaltmuss im Interesse der Verbraucherinnen und Verbrau-cher dringend nachgebessert werden. So, wie er jetztvorliegt, kann er dieses Parlament mit Sicherheit nichtpassieren.Vielen Dank.
Friedrich Ostendorff hat jetzt das Wort für Bünd-nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! „Wir nehmen die Kampfansage der Grünen andie moderne Tierhaltung an und werden dagegenhalten“,verkündete vor wenigen Tagen Kollege Holzenkamp,der Agrarsprecher der CDU und Aufsichtsratsvorsit-zende des Agrarriesen AGRAVIS.
Ich weiß nicht, Herr Holzenkamp, was an Tierfabrikenmodern sein soll.
Aber wir Grünen werden in der Tat alles tun – daraufkönnen Sie sich verlassen –, um die oft unsäglicheMassentierhaltung von circa 900 Millionen Nutztierenzu beenden.
Was Sie von der Koalition unter moderner Tierhal-tung verstehen, kann man in der Ukraine besichtigen.Dort stehen nämlich seit kurzem zwei Legehennenfabri-ken für insgesamt 8 Millionen Hühner: ausgestattet mitbei uns verbotenen Käfigen, errichtet von einem zyprio-tischen Investor, gebaut mit deutscher Technik und abge-sichert mit Hermesbürgschaften der Bundesregierung inHöhe von über 26 Millionen Euro. Das Risiko – wenüberrascht es? – trägt der Steuerzahler. Verantwortlichdafür: Bundeswirtschaftsminister Rösler.
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Friedrich Ostendorff
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Während Frau Aigner nette Gesprächsrunden zumTierschutz veranstaltet, unterstützt Herr Rösler heimlichdie schmutzigen Geschäfte mit dem Tierleid. Das ist Ihreschwarz-gelbe Arbeitsteilung, meine Damen und Her-ren!
Das ist Arbeitsteilung, wie Sie sie verstehen! Wen inte-ressiert schon der Tierschutz, wenn man dem Käfigher-steller aus Vechta einen Millionenauftrag für EU-weitverbotene Käfige zuschanzen kann? Herr Rösler verfährtdabei, wie er es immer bei Schwarz-Gelb in Niedersach-sen gelernt hat: Niedersächsisches Landrecht bricht Bun-desrecht.
Nun gilt: Ukrainisches Recht bricht EU- und Bundes-recht.
Meine Damen und Herren, diese Doppelmoral muss einEnde haben!
Wir brauchen endlich eine gesetzliche Regelung fürHermesbürgschaften, die neben Menschenrechten undUmwelt auch den Tierschutz berücksichtigt. Wir Grünenfordern die Bundesregierung auf: Legen Sie endlich dieFakten aller Hermesbürgschaften auf den Tisch! Erklä-ren Sie endlich uns, dem Parlament, wen und was Siemit Steuergeldern fördern!
Man muss ja gar nicht bis in die Ukraine fahren. Siekönnen auch in Niedersachsen besichtigen, was indus-trielle Intensivtierhaltung heißt. Das Tier als Lebewesenund Mitgeschöpf spielt in diesem System keine Rollemehr. Sie sprechen noch nicht einmal mehr von drei Putenpro Quadratmeter, sondern von 58 Kilogramm Puten-fleisch, nicht von 23 Hühnchen pro Quadratmeter, son-dern von 39 Kilogramm Hühnchenfleisch. Das verstehenSie von der Koalition unter moderner Tierhaltung, unter„tierischer Veredlung“, wie Sie es immer so schönfärbe-risch nennen.1 734 Tonnen Antibiotika braucht diese Industrie alsTreib- und Schmierstoff. Das ist mehr als doppelt soviel, wie Frau Aigner bisher angenommen hatte. DieseZahlen müssen uns außerordentlich stark beunruhigen,liebe Kolleginnen und Kollegen. Mir ist völlig unver-ständlich, wie Bauernverband und CDU dazu kommen,diesen Zahlen etwas Erfreuliches abzugewinnen, wie sieverlauten ließen. Wir finden es nicht erfreulich, wenn dieMassentierhaltung dazu führt, dass die medizinischeVersorgung unserer Menschen zunehmend gefährdetwird. Genau das ist hier der Fall.
Meine Damen und Herren von der CDU, Sie wollendiese Agrarindustrie, Sie subventionieren diese Agrarin-dustrie, Sie hören allein auf diese Agrarindustrie; dennSie sind Teil dieser Agrarindustrie.Wir Grünen wollen, dass Bäuerinnen und Bauern dasLand bewirtschaften und die Tiere halten, und nicht Spe-kulanten, Fleischkonzerne, Saatgutmultis und windigeGeschäftemacher.
Ich glaube, dass auch die Mehrheit der Bäuerinnen undBauern in Deutschland das will. Die Mehrheit der Ge-sellschaft, meine Damen und Herren, will es sowieso.Die Agrarindustrie hat die Landwirtschaft als Geiselgenommen. Wir wollen, dass es eine demokratische Ent-scheidung über die Zukunft der Landwirtschaft bei unsgibt. Darum werden wir Grünen die Landtagswahl inNiedersachsen und die Bundestagswahl auch zu Abstim-mungen über diese Themen machen: Lebendige Dörferoder Agrarindustrie? Artgerechte Haltung oder Massen-tierhaltung? Tierwohl oder Tierverstümmelungen? Bau-ernhöfe oder Agrarfabriken? Wir können auch einfachsagen: Grün oder Schwarz!
Mechthild Heil hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Zumindest ich freue mich,dass der Etat im Bereich der Verbraucherpolitik gegen-über dem Vorjahr um 4 Millionen Euro erhöht wurde.Ich finde, das ist eine gute Nachricht.
2013 stehen uns damit 142,6 Millionen Euro zur Verfü-gung. Sie werden für einen guten Verbraucherschutz ein-gesetzt. Wir haben in der Vergangenheit Hervorragendesgeleistet, und wir werden auch in Zukunft mit diesemGeld weiter Hervorragendes leisten.Haushaltsdebatten sind immer auch Grundsatzdebat-ten. Lassen Sie mich deswegen einige grundsätzlicheWorte zu unserer Verbraucherpolitik sagen. Was sind dieZiele unserer Verbraucherpolitik, und wofür wollen wirdie Mittel einsetzen? Wir wollen Sicherheit und Selbst-bestimmung für alle Verbraucherinnen und Verbraucher.Sie sollen in unserer differenzierten und immer kompli-zierter werdenden Wirtschaftswelt ihr Konsumverhalteneigenverantwortlich gestalten können.Was sind die Voraussetzungen für ein selbstbestimm-tes, eigenverantwortliches Verhalten? Die Verbrauche-rinnen und Verbraucher müssen die Angebote an Warenund Dienstleistungen verstehen und objektiv vergleichen
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Mechthild Heil
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können. Die Verbraucherinnen und Verbraucher benöti-gen dafür einen festen Rechtsrahmen, der sie vor Irre-führungen und Täuschungen schützt. Und: Die Verbrau-cherinnen und Verbraucher wollen Gesundheit undSicherheit, und das möchten wir gewährleisten.Unser Ziel erreichen wir nicht alleine. An unsererSeite stehen starke Partner. Dabei handelt es sich um In-stitutionen, die wir finanzieren und die die Aufgabe ha-ben, Verbraucher zu informieren, zu unterstützen und zuschützen. Ich möchte Ihnen hier drei unserer Partnernennen: die Stiftung Warentest, die Verbraucherzentrale,aber auch das Bundesinstitut für Risikobewertung.Die Aufgabe des Bundesinstituts für Risikobewertungbesteht, wie der Name schon sagt, darin, erst einmal dieRisiken zu bewerten und darüber hinaus auf neue Risi-ken hinzuweisen und diese zu kommunizieren. DenkenSie an die Krisen um Dioxin und Ehec – ich will es garnicht „Skandal“ nennen –: Da hat das BfR hervorra-gende Arbeit geleistet und die Öffentlichkeit in guterWeise aufgeklärt.
Die Verbraucherzentrale ist die Stimme der Verbrau-cher schlechthin, also deren Interessenvertretung, undebenfalls in der Beratung ein guter Partner der Verbrau-cherinnen und Verbraucher.Auch die Stiftung Warentest genießt, genauso wie dieVerbraucherzentralen, einen hervorragenden Ruf. DieZeitschrift der Stiftung ist jedem bekannt und bietet denVerbrauchern mit ihren vergleichenden Tests eine unab-hängige und objektive Beratung. Aber diese Unabhän-gigkeit und Objektivität kann sie nur erreichen, weil sievon uns finanziert wird. Das Urteil der Stiftung Waren-test ist für viele Verbraucherinnen und Verbraucher eineOrientierung.Sie sehen: Wir sind ein Team, und wir sind gut aufge-stellt.
Die hier beispielhaft genannten Institutionen und diechristlich-liberale Koalition leisten gute Arbeit
und genießen ein hohes Ansehen und Vertrauen in derBevölkerung.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle einen herzlichenDank an all diejenigen richten, die für diese Institutio-nen, unsere Partner, arbeiten, aber auch an diejenigen,die in den Verwaltungen und Ministerien arbeiten. Ichfinde, sie machen einen tollen Job. Heute ist der Zeit-punkt, ihnen einmal ein herzliches Dankeschön zu sa-gen.
Aber für uns ist das alles kein Grund zum Ausruhen.Wir wollen noch besser werden; denn wir stehen vorgroßen Herausforderungen. Dazu gehören die Finanz-krise, der demografische Wandel, die Energiewende,aber auch die gesundheitliche Situation vieler unsererMitbürger. 66 Prozent der Männer, 51 Prozent derFrauen und – das muss man sich auf der Zunge zergehenlassen – 15 Prozent unserer Kinder sind übergewichtig.An dieses Thema müssen wir ran.2013 wollen wir 5 Millionen Euro mehr für Informa-tion, Bildung und Aufklärung ausgeben, insgesamt dann25 Millionen Euro. Ein großer Teil dieses Geldes wirdfür Aufklärungsarbeit in den Bereichen gesunde Ernäh-rung und Bewegung verwendet. Vor vier Jahren wurdezu diesem Zweck der Nationale Aktionsplan IN FORMverabschiedet. Ziel von IN FORM ist es, das Ernäh-rungs- und Bewegungsverhalten der Bevölkerung biszum Jahre 2020 zu verbessern. Im Haushalt 2013 wer-den nun Mittel bereitgestellt, um IN FORM mit einerInformationskampagne noch ein Stück bekannter zumachen. Wir wollen dabei besonders Projekte in Kinder-tagesstätten und an Schulen fördern. Ziel ist immer, dieErnährungserziehung für Kinder und junge Leute zu ver-bessern und Präventionsmaßnahmen sowohl in der Ar-beitswelt als auch zum Beispiel für Senioren zu fördern.Auch die Stimme der Verbraucherzentrale wird vonuns noch etwas mehr geölt. Im kommenden Jahr erhältdie Verbraucherzentrale 700 000 Euro mehr, also insge-samt 9,4 Millionen Euro. So machen wir sie zu einemnoch stärkeren Partner der Verbraucher.Lassen Sie mich zu einem anderen Thema kommen,zur Finanzkrise. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass diewenigsten Verbraucher den Finanzmarkt noch durch-schauen können. Er wird immer unübersichtlicher. Esgibt mittlerweile Hunderte von riskanten Finanzproduk-ten, die für Kunden nur schwer oder gar nicht mehrnachvollziehbar sind. Eine unabhängige Institution, diediese Produkte vergleicht und bewertet, kann den Kun-den helfen. Deshalb erhält die Stiftung Warentest vonuns jährlich 1,5 Millionen Euro zusätzlich. Diese wirdsie nutzen, um Finanzdienstleistungen zu prüfen, zu be-werten und ihr Informationsangebot auszubauen.Gute Informationen braucht auch jeder Internetnutzer,Stichwort „Datenschutz“. Wir müssen zur Kenntnis neh-men, dass nicht jeder im Umgang mit dem Internet fitist. Das betrifft nicht nur Kinder, Menschen mit Behin-derungen, etwa Blinde, oder Senioren, sondern das kannjeden von uns betreffen, das betrifft sicherlich auch deneinen oder anderen hier im Raum. Mit der Buttonlösunghaben wir einen ersten richtigen Schritt getan, aber esgibt immer noch Gebiete, auf denen zusätzliche Orien-tierungshilfen und Transparenz dringend gebraucht wer-den. Ein Beispiel wurde heute schon genannt: der Ge-sundheits- und Pflegemarkt.Wir reagieren auch auf die Verunsicherung in SachenStromkosten. Wir stellen zusätzliche Mittel für Informa-tionen zum Anbieterwechsel sowie zu Energieeinspar-möglichkeiten bereit.Damit investieren wir insgesamt 10,1 Millionen Eurofür Informationen im Bereich des wirtschaftlichen Ver-braucherschutzes. Sie sehen: Im Jahr 2013 steht für uns
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die Information der Verbraucher im Fokus; denn Ver-braucher verlassen sich auf die ihnen vorliegenden Infor-mationen und natürlich auch auf die eigene Urteilskraft.Deswegen wollen wir Verbraucher, die selbst entschei-den, selbst entscheiden müssen, aber auch selbst ent-scheiden können. Wir wollen die Menschen positiv undkonstruktiv zu einer gesunden Lebensweise anhalten undzu vernünftigen Entscheidungen befähigen – mit staatli-cher Unterstützung, aber ohne Zwang. Verbraucher müs-sen den Anbietern von Produkten und Dienstleistungenauf Augenhöhe begegnen können. Deshalb ist der Be-griff Verbraucherschutz die falsche Bezeichnung für un-sere Verbraucherpolitik; denn Verbraucher sind selbstbe-stimmte Bürger und keine unmündigen Kinder. DasBeste für den Einzelnen darf eben nicht staatlich defi-niert werden.
Das Beste wählt jede Bürgerin und jeder Bürger für sichselbst – ohne Bevormundung, aber mit allen notwendi-gen Informationen.
Wir schaffen die Rahmenbedingungen, damit die Ver-braucher angemessene und für sie richtige Entscheidun-gen treffen können. Wir geben den Verbrauchern dieInformationen, die sie brauchen. Übersichtlich und ver-ständlich müssen sie sein. Wir helfen den Verbrauchern,ihre Rechte durchzusetzen.
Frau Kollegin.
Ja?
Ich wollte damit sagen, dass Ihre Redezeit beendet ist.
Ich sehe es, weil die Präsidentin piepst.
– Entschuldigung, Frau Präsidentin, ich wollte Sie nicht
beleidigen.
Piepsen tue ich nicht. Nein.
Wir sind der verlässliche Partner für die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher. Verbraucher können sich auf die
CDU/CSU verlassen.
Vielen Dank.
Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Sehr verehrte Damen und Herren auf den Zu-schauertribünen! Wir brauchen mehr Transparenz aufdem Markt. Verständliche und leicht zugängliche Infor-mationen sind dabei ein wichtiges Instrument. 5 Millio-nen Euro mehr für die Informationen der Verbraucherin-nen und Verbraucher sind im Haushalt des BMFeingeplant. Aber wir wissen leider nicht, was genau mitdiesem Geld passieren soll. In den Erläuterungen heißtes, das Geld solle dazu dienen – ich zitiere –, die Instru-mente der Verbraucherinformation an die Herausforde-rungen durch den demografischen Wandel und durch diemodernen Kommunikationstechnologien gleichermaßenanzupassen.Was ist denn damit gemeint? Da lässt sich alles undnichts unterbringen: von der Internetseite in großerSchrift bis zu wirklich ausgereiften und an den Bedürf-nissen Älterer ausgerichteten Informationsangeboten.Ich fürchte, Letzteres ist nicht zu erwarten; denn dazumüssten solche geeigneten Angebote erst mal erforschtund entwickelt werden. In die Verbraucherforschungfließt aber weniger Geld als im Vorjahr. Dort wird ge-spart.5 Millionen Euro mehr für Verbraucherinformation:Dabei geht es wohl weniger um hilfreiche Informations-angebote im Verbraucheralltag, sondern um Informatio-nen über die Arbeit der Bundesregierung; denn nächstesJahr ist Wahljahr.
Dort, wo die Position der Verbraucherinnen und Ver-braucher am Markt durch alltagstaugliche Informationwirklich gestärkt werden könnte, ist diese Bundesregie-rung ein Totalausfall.
Beispiel Nährwertampel: Wie leicht verständlich,hilfreich und beliebt bei den Verbrauchern die Ampel ist,brauche ich nicht zu wiederholen; denn die Kolleginnenund Kollegen aus den Koalitionsfraktionen werden dasweiterhin abstreiten, wider jede Vernunft.
– Schön wäre es, Herr Kollege.Vor ein paar Tagen wurde nun bekannt, dass Aldi undLidl in Großbritannien die Ampel einführen werden.
Wann kommt denn die Ampel nach Deutschland? FrauAigner, was in Großbritannien geht, geht auch bei uns.
Weiteres Beispiel für wichtige und alltagstauglicheInformation ist die Hygieneampel. Die Smiley-Symbolikwäre uns natürlich lieber gewesen, da schon bekannt undeingeführt. Aber auch das Kontrollbarometer in Ampel-farben kann zur einfachen und verständlichen Darstel-
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Elvira Drobinski-Weiß
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lung wichtiger Informationen über den Hygienezustandvon Bäckereien oder Restaurants genutzt werden. AlleLänderverbraucherminister waren sich einig: Die Hygie-neampel muss her, und zwar bundesweit einheitlich. Ei-ner war dagegen. Sie dürfen raten, wer: der aus Bayern.Einen Kommentar dazu erspare ich mir. Aber wo bleibtdie bundeseinheitliche Rahmenregelung dazu, FrauMinisterin? Sie entziehen sich einfach diesem Thema.Wenn Sie die Verbraucherinnen und Verbraucher wirk-lich stärken wollen, dann können Sie sich nicht hinterden Ländern verstecken.Zwar habe ich den Medien jetzt entnommen, dass Siedurch eine Änderung beim Lebensmittel- und Futtermit-telgesetzbuch ausdrücklich die Möglichkeit für eigeneRegelungen der Länder vorsehen wollen. Aber das istdoch Augenwischerei! Wenn es dazu keinen bundesein-heitlichen Rahmen gibt, dann kommen wir nie zu einereinheitlichen Regelung. Das ist nicht im Sinne der Ver-braucher.
Frau Ministerin, Sie nutzen Ihre Möglichkeiten nicht.Sie ducken sich weg, oder Sie kündigen an und setzennicht um.Angekündigt haben Sie in den letzten drei Jahren viel.Ich denke zum Beispiel an den Finanzbereich: Kleinan-leger sollten durch gute Beratung vor dem Verlust ihrerErsparnisse geschützt werden. Wie gut das wirklichfunktioniert, hat uns ja Stiftung Warentest aufgezeigt.Das vernichtende Urteil im Juni dieses Jahres lautete:„… Kreditberatung der Filialbanken im Test mangel-haft“.Die von Ihnen bereits 2010 in Aussicht gestellten ver-deckten Ermittler im Auftrag der BaFin finden wir we-der im vorliegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Fi-nanzaufsicht noch im aktuellen Haushaltsentwurf 2013.
Auch für den Verband Lebensmittel ohne Gentechnik,der ja zur Vergabe des Gentechniklogos gegründetwurde, sind keine Mittel mehr vorgesehen. Die überJahre hier angekündigte Informationskampagne zu„Ohne Gentechnik“ hat es nie wirklich gegeben. Wir for-dern Sie auf, Mittel für eine Informationskampagne be-reitzustellen; denn solange wir keine Kennzeichnungs-pflicht für tierische Produkte aus GVO-Fütterung haben,besteht hier ein Informationsdefizit, das nur durch Auf-klärung ausgeglichen werden kann.
Frau Ministerin, wir haben das, was Ihnen fehlt, näm-lich ein Konzept für gute Verbraucherpolitik.
Wir laden Sie ein, es mit uns zusammen umzusetzen.Wir wollen einen anderen Markt, einen sicheren, ei-nen transparenten, einen nachhaltigen. Merken Sie sichdas, Herr Kollege: einen nachhaltigen!
Wir wollen einen verbraucherfreundlichen Markt. Des-halb ist für uns der Titel „Information der Verbraucherin-nen und Verbraucher“ auch sehr wichtig. Der Marktmuss aber von allen Beteiligten gestaltet werden. Miteinfach nur mehr Informationen für Verbraucher ist we-nig erreicht.Wir brauchen auch eine größere Offenheit bei denAnbietern und mehr Transparenz seitens der Wirtschaft.Wir brauchen gute Informationen für die Verbraucher,und wir brauchen Kriterien dafür, wie gute Informatio-nen aussehen müssen. Wir wollen alle vorhandenen In-strumente für eine gute Verbraucherpolitik nutzen, undwir wollen auch neue Instrumente entwickeln. Wir wol-len den Verbrauchercheck, wir wollen Marktwächtereinsetzen, wir wollen einen Schwerpunkt auf die Ver-braucherforschung setzen, um wirklich gute Verbrau-cherpolitik machen zu können. Unsere Vorschläge dafürwerden wir gerne ausführlich mit Ihnen diskutieren.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Erik
Schweickert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Keine Vorgängerregierunghat windigen Geschäftsmodellen und schwarzen Schafenso deutlich den Garaus gemacht wie Schwarz-Gelb. Dasmuss man einmal festhalten.
Vorhin wurden von Kollegen, die jetzt gar nicht mehrhier sind, Fragen gestellt. Sie wollten Beispiele hören.Ich nenne Ihnen gerne welche:Kostenfreie Warteschleifen: Wer hat sie eingeführt?Wir haben sie eingeführt! Frau Dörner, lesen Sie es bittein § 3 Nr. 30 c Telekommunikationsgesetz nach, wennSie es nicht wissen. Dankansagen sind Warteschleifen;immer dann, wenn das Anliegen nicht bearbeitet wird,handelt es sich um eine Warteschleife. Alles andere istkeine. Verbreiten Sie hier keine Unwahrheiten!
Wir haben auch dafür gesorgt – zweites Beispiel –,dass das verbindliche Bestätigungsfeld bei Vertragsab-schlüssen im Internet eingeführt wird, sodass kein unbe-darfter Klick mehr dazu führt, dass man ein teures undnutzloses Abo abschließt, weil irgendetwas in seitenlan-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23139
Dr. Erik Schweickert
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gen AGB versteckt ist. Wir als Schwarz-Gelb haben dasgemacht.
Schwarz-Gelb hat auch dem Verbraucherinforma-tionsgesetz Zähne verliehen. Es erfolgt eine schnellereVeröffentlichung von schwarzen Schafen, und wir habenzusätzliche Auskunftsrechte bezogen auf die Produktsi-cherheit eingeführt. Auch hier haben wir gehandelt. Esgibt auch keine Abzocke mehr bei Call-by-Call; daswurde von uns umgesetzt. Dank Schwarz-Gelb gibt eshier mehr Transparenz durch eine Ansagepflicht.Wir haben außerdem für mehr Durchblick bei Finanz-anlagen gesorgt: durch Produktinformationsblätter, Pro-tokollpflichten, die Einführung eines Sachkundenach-weises von Beratern und die Regulierung des grauenKapitalmarktes. Die Opposition war jahrelang nicht dazufähig, hier etwas zu tun. Wer hat es getan? Wir haben esgetan!
Abzocker haben bei dieser Bundesregierung keineChance. Deswegen möchte ich den Institutionen, die unsdabei helfen und deshalb im Bundeshaushalt entspre-chend gefördert werden, meinen herzlichen Dank aus-sprechen.Der Verbraucherzentrale Bundesverband, die Stimmeder Verbraucher, ist aktiv und uns ein wertvoller Ratge-ber, und die Stiftung Warentest mit ihrem umfangreichenund fachlich bewährten Informationsangebot hilft durchProdukttests und Wertungen, den Verbrauchern verlässli-che Informationen zu geben. Deshalb erhält sie 1,5 Mil-lionen Euro on top, um ihre Bewertungen von Finanzan-lageprodukten weiter ausbauen zu können.Die Finanzkrise hat uns eines gezeigt: Wir brauchenmehr Verbraucherschutz, mehr Transparenz, mehr Infor-mationen für Anleger. Diesem Auftrag kommen wirauch dadurch nach, dass wir bei der BaFin endlich einenVerbraucherbeirat einrichten. Auch das wird die Stimmeder Verbraucher und der Anleger stärken.
Schließlich möchte ich dem Bundesinstitut für Risi-kobewertung, BfR, und der Deutschen Gesellschaft fürErnährung meinen Dank aussprechen; denn Sicherheitund Informationen zu Lebensmitteln sind ein essenziel-ler Bestandteil von Lebensmittelqualität und deshalb un-verzichtbar. Wir wollen wissen, welche Gefahren vonProdukten für Verbraucher ausgehen. Auf diesem Gebietist das BfR ein sehr guter Forschungspartner. Die Bun-desregierung hat vor dem Europäischen Gerichtshof dieEU verklagt, weil sie keine hohen Grenzwerte bei Kin-derspielzeug haben will. Diese richtige Klage der Bun-desregierung geht genauso auf die Expertise des BfR zu-rück wie das Verbot von Bisphenol A in Babyflaschen.Ich hätte Ihnen gerne noch weitere Erfolge derschwarz-gelben Regierung aufgezeigt, zum Beispiel dieSchlichtungsstelle Luftverkehr, aber das kann ich leidernicht; denn die Opposition hat im Bundesrat mal wiedergezeigt, dass ihr Blockadepolitik wichtiger ist als ein or-dentliches Gesetz.
Wir wollten die Verbraucher mit neuen Rechten ausstat-ten, damit sie bei einer Flugverspätung nicht erst ein Ge-richt anrufen müssen. Beim Streit um Regressforderun-gen, Gepäckschäden oder Annullierungen sollten sienicht im Regen stehen, sondern zu ihrem Recht kommen.Wir haben einen guten Gesetzentwurf dazu vorgelegt,aber Sie haben im Bundesrat Nein dazu gesagt.
In Sonntagsreden ist die Opposition immer ganzvorne dabei. Wenn es aber darauf ankommt, dann blo-ckieren Sie. Die Verbraucher brauchen aber mehr alseine Blockadehaltung der Opposition. Sie brauchen einegute Regierung. Die haben sie. Wir setzen uns für effi-ziente Rechte und für Schutz vor Betrügern ein. Mit uns,mit Schwarz-Gelb, haben die Verbraucher die bestenAnwälte, die man sich vorstellen kann: diese Bundesre-gierung.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Georg
Schirmbeck das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Wenn Sie mich heute in einem unge-wöhnlichen Dress sehen – darauf steht: „Rendezvous mitKopernikus“ –, dann liegt das daran, dass ich heute Mor-gen als Sprecher der Deutsch-Polnischen Parlamenta-riergemeinschaft eine Gruppe zu Gast hatte, die die Luft-fahrtausstellung in Berlin besucht. Zu dieser Gruppegehörte auch der erste polnische Kosmonaut, der heuteGeneral ist. Wir haben über die Entwicklung in der Luft-fahrtindustrie gesprochen. Meine Damen und Herrenvon den Grünen, wenn Kopernikus heute leben würde,dann würden Sie wahrscheinlich eine Mahnwache abhal-ten, weil er zu Erkenntnissen gekommen ist, die nicht inIhr Weltbild passen, und es Ihrer Meinung nach keinepositiven Entwicklungen geben darf.Frau Präsidentin, ich weiß nicht, ob das möglich ist,aber man sollte hier gelegentlich Preise für die größteScheinheiligkeit vergeben. Hier stellt sich ein ausge-wachsener Abgeordneter hin und sagt: Sie denken nur andie Wahl im nächsten Jahr. – Ja, wer denkt denn hiernicht an die Wahl im nächsten Jahr?
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Georg Schirmbeck
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Hier gibt es sogar einige, die radikale Sprüche klopfen,die sie so gar nicht meinen. Das tun sie nur, weil sie aus-schließlich daran denken, einen guten Listenplatz in ih-rem Landesverband zu bekommen.
Deshalb erzählen sie hier so einen Unsinn. Das hat dochmit dem, worum es hier geht, gar nichts zu tun.
Jetzt sage ich Ihnen einmal etwas zu den Tierfabriken,zu dem großen Elend, das wir dort haben. In meinemWahlkreis und in dem Wahlkreis von Herrn Holzenkampist die moderne Landwirtschaft erfunden worden. Dasbehaupten wir einmal so.
– Beim Kollegen Goldmann auch; das ist richtig. – Ichwar dort vor zehn Tagen auf einem Bauernmarkt. Beibestem Wetter waren Zehntausende Leute unterwegs.Die Stimmung war bestens. Wir haben dort eine Arbeits-losenquote von 3 Prozent; da ist die Welt in Ordnung.Die Menschen wollen in Ruhe gelassen werden undnichts von dieser Schlechtmacherei hören, die Sie hierunter das Volk streuen.
Wenn Sie sagen, dass das, was die Bundesministerinmacht, langweilig ist, dann sage ich: Die Dame ist bere-chenbar. In der Politik ist das eine ganze Menge, wennman berechenbar ist. Die Politik, die wir hier verantwor-ten, sorgt dafür, dass wir soziale Sicherheit im Dorf ha-ben. Dafür geben wir 3,65 Milliarden Euro aus.
Jetzt sage ich Ihnen etwas zum Stichwort Bauerngeld.Das ist von Ihnen kurzfristig gedacht und außerdempolemisch. Was ist denn die Wahrheit? Wenn der BauerGeld hat, dann kann er investieren und einen Auftragvergeben. Dann hat der Maurer, der Zimmermann, derTischler oder der Heizungsbauer Geld. Dann ist im Dorfetwas los. Dann haben wir Arbeitsplätze und Wertschöp-fung. Auf diese Weise werden die Regionen interessant.Das wollen wir doch. Wir brauchen dann auch keineModellversuche durchzuführen, um zum Beispiel zu un-tersuchen, warum der ländliche Raum ausblutet. Aufdiese verlässliche und langweilige Politik sind wir stolz.
Jetzt fordert der eine oder andere mehr Geld.
Gestern haben wir hier die großen Gladiatoren ein-schließlich der Bundeskanzlerin reden gehört. Wir habeneine Staatsschuldenkrise. Woher soll dann mehr Geldkommen? Auf welchem Stern leben Sie denn? HabenSie gestern nicht zugehört? Das Plenum war doch vollbesetzt. Ich kann Sie wirklich nicht verstehen.Herr Kollege Schwanitz, mich hat eben aufgeregt, wieSie hier über die Stiftung Warentest gesprochen haben.Jetzt wollen wir doch einmal ehrlich sein. Was ist mit derStiftung Warentest? Das, was wir jetzt im Bundeshaushaltfestschreiben, hat unser Fraktionsvorsitzender VolkerKauder mit der Stiftung Warentest höchstpersönlich undeinvernehmlich ausgehandelt. Die Zuschüsse werden zu-rückgefahren, und es hat eine Kapitalaufstockung gege-ben. Jetzt gebe ich Ihnen aber eines zu – das ist nicht nurdas Problem der Stiftung Warentest, sondern ein Problemaller Stiftungen in Deutschland –: Sie haben ihr Geld zubestimmten Zinssätzen angelegt, und die Chargen, diefrei werden, werden neu angelegt. Die Zinssätze liegenjetzt aber nicht mehr bei 8 oder 9 Prozent, sondern bei 1oder 2 Prozent. Dadurch sind die Zinseinnahmen nichtmehr so hoch.Das ist aber nicht nur das Problem der Stiftung Waren-test, sondern ein Problem – das sage ich Ihnen voraus – al-ler Stiftungen in Deutschland. Wir werden uns an der ei-nen oder anderen Stelle noch damit beschäftigenmüssen, weil diese Stiftungen in aller Regel sehr ver-dienstvolle Arbeit machen. Wenn sie notleidend werden,dann haben wir ein gesamtstaatliches Problem. Darummüssen wir uns kümmern. Ich sage Ihnen voraus, dasswir das machen werden. Ihre Polemik war hier fehl amPlatz.Ich hatte gedacht, dass wir den Sozialismus inDeutschland überwunden haben, nachdem 17 MillionenDeutsche damit Erfahrungen gemacht haben.
Sie fordern jetzt, dass die Zinsen für das Überziehen ei-nes Girokontos festgeschrieben werden. Dazu sage ichIhnen eines: Wenn ich 1 000 Euro auf dem Konto habe,dann stelle ich fest, dass ich keine Zinsen bekomme undauch noch Kontoführungsgebühren zahlen muss. Das är-gert mich. Wenn ich das Konto aber um nur 100 Euroüberziehe, dann muss ich sofort hohe Zinsen zahlen. Dasist so. Wenn das einfach zu ändern wäre, dann wäre dasbestimmt schon geschehen. Ich sitze im Kreditausschusseiner Sparkasse,
der überwiegend mit Sozialdemokraten und Grünen be-setzt ist. Dort könnte man sofort eine Änderung be-schließen. Es kommt aber niemand auf die Idee, dass dasjetzt quasi durch eine staatliche Regelung festgelegt wer-den soll.
Ihre Kommunalpolitiker wollen diesen Blödsinn, denSie hier erzählen, nicht.Wir sagen ja immer: Bauern sind Verbrecher.
Wenn du Bauer bist und aus dem ländlichen Raumkommst, musst du eigentlich schon dankbar sein, dass dufrei herumlaufen darfst.
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Georg Schirmbeck
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Es gibt auch unter den Bauern – so ist es aber in der gan-zen Gesellschaft – den einen oder anderen, der Fehlermacht und der etwas nicht so toll macht.
Was für Helden sind die großen Kritiker, die Demons-trationen durchführen und uns in den Medien beleidigen.Ich empfehle Ihnen einmal, sich das Buch SchwarzbuchWWF zu kaufen oder sich über den FSC zu informierenund darüber, in welchen Fällen er sein Siegel für nachhal-tige Forstwirtschaft vergibt. Gehen Sie einmal ins Inter-net und informieren sich. Sie sagen, Sie hätten keine In-formationen, aber das ist Quatsch. Wir haben durch dasInternet eher das Problem, dass wir zu viele Informatio-nen haben, sodass wir sie nicht mehr einordnen könnenund den Überblick verlieren. Schauen Sie im Interneteinmal unter Report Mainz nach oder gehen Sie auf dieInternetseite des WDR. Über diese Themen wird zuneh-mend in Sendungen berichtet, aber leider zu Tagesrand-zeiten, in denen das nicht von breiten Kreisen zur Kennt-nis genommen wird. Schauen Sie sich einmal dieseBerichte an. Vielleicht kommen Sie dann zu anderen Er-kenntnissen.Wissen Sie, was mich betrübt? Ich war mit dem Vor-stand der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe in derUkraine, in den Karpaten, wo es riesige, völlig unge-nutzte, unbetretene Buchenwälder und auch eine tolleLandschaft gibt. Dort gibt es auch Sägewerke. WissenSie, was sie in diesen Sägewerken feststellen? Dort gibtes Kinderarbeit. Jetzt mögen wir ja kritisieren, dass ir-gendwo auf der Welt Ställe mit deutschen Bürgschaftengebaut werden, die nicht ganz den deutschen und euro-päischen Normen entsprechen. Aber in diesen Sägewer-ken in der Ukraine gibt es Kinderarbeit. Dort werdenMöbel produziert, die dann in Deutschland in großenMöbelhäusern für wenig Geld verkauft werden. Dass wirden Luxus haben, diese Möbel so günstig kaufen zu kön-nen, geht zulasten dieser Menschen. Sie regen sich ander einen oder anderen Stelle – vielleicht auch berech-tigt – über Dinge in der Tierzucht und Tierhaltung auf,die nicht richtig sind, aber Sie sollten sich erst einmalum die Menschen kümmern. In meinem Weltbild stehendie Menschen im Mittelpunkt unseres Tuns.
Die Zeit rennt dahin. Gleich piepst es wieder, wie mirgesagt wurde. Dann ist meine Redezeit um.Ich möchte Ihnen nur noch eines sagen: Im Sommer-loch haben wir uns über das Thema Tank oder Teller imZusammenhang mit nachwachsenden Rohstoffen unter-halten. Das ist eine abenteuerliche Diskussion. Jeden-falls dort, wo ich den Überblick habe, stehen bereitsBiogasanlagen. Dort haben die Betreiber dieser Biogas-anlagen auf Grundlage des EEG mit der BundesrepublikDeutschland Verträge geschlossen. Diese laufen – jenachdem, wann die Anlagen gebaut wurden – erst in 17,18 oder 19 Jahren aus. Das heißt, wir können uns zwarüber Änderungen, die vielleicht notwendig sind, weil wirandere Erkenntnisse haben, unterhalten. Aber jetzt istder Zug erst einmal abgefahren, weil wir im Bundestagentsprechende Beschlüsse gefasst haben. Sie haben dochim Zweifel immer noch viel mehr gefordert.Ich habe mich ganz herzlich zu bedanken. Ich werdemit meinem Freund Heinz-Peter Haustein den Einzel-plan 10 wieder in beispielhafter Art und Weise beraten.
Es piepst jetzt.
Ich darf mich beim Ministerium und bei der ganzen
Mannschaft in Ihrem Haus, Frau Ministerin, aber auch
bei den nachgeordneten Behörden für die vorzügliche
Arbeit bedanken. Wir haben in Deutschland noch nie
bessere Lebensmittel gehabt. Uns ging es noch nie bes-
ser. Darauf sind wir stolz.
Herr Kollege.
Das lassen wir uns auch nicht miesmachen.
Herzlichen Dank.
Damit ist die Aussprache zu diesem Einzelplan been-det.Wir setzen die Haushaltsberatungen fort und kommennun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriumsfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Einzel-plan 17.Die Bundesministerin Dr. Kristina Schröder hat dasWort.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gesellschaftlicher Zusammenhalt braucht starke Fami-lien und faire Chancen für alle Generationen und alleGeschlechter. Dafür sind im Einzelplan 17 des Regie-rungsentwurfs für das Haushaltsjahr 2013 Ausgaben inHöhe von rund 7,1 Milliarden Euro vorgesehen. Dassind rund 338 Millionen Euro bzw. 5 Prozent mehr als2012. Dieser Aufwuchs kommt insbesondere Familienund Kindern in Deutschland zugute. Das zeigt: Auch inwirtschaftlich schwierigen Zeiten können sich Familienin Deutschland auf Union und FDP verlassen.
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Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Für uns zählt in der Familienpolitik vor allen Dingeneines: Was wollen die Familien? Darauf kann die Ant-wort nur lauten: Vielfalt in der Familienförderung. DennBedürfnisse sind nun einmal unterschiedlich, je nach Al-ter des Kindes, je nach individuellen Lebensumständen,je nach Werteüberzeugungen in den Familien. Deshalbbrauchen wir unterschiedliche Instrumente in der Famili-enförderung.Dazu gehört das Elterngeld, für das 2013 – wie imletzten Jahr – 4,9 Milliarden Euro vorgesehen sind. DasElterngeld ermöglicht genau das, was sich fast alle Paarewünschen, nämlich dass im ersten Jahr nach der Geburtdes Kindes ein Partner zu Hause beim Kind sein kann.Gleichzeitig unterstützt es Paare dabei, Familie undBeruf partnerschaftlich zu teilen. Vor Einführung desElterngelds haben 3,3 Prozent der Väter eine Auszeit ge-nommen. Jetzt sind es über 25 Prozent.Ich werde im Herbst einen Gesetzentwurf vorlegen,der Eltern mehr Gestaltungsfreiheit in der Elternzeitgibt, vor allen Dingen was Teilzeitarbeit betrifft, und dereine Großelternzeit ermöglicht, sodass Paare Elternzeitauch auf die Großeltern übertragen können. Ich glaubeohnehin, dass bei uns in Deutschland gnadenlos unter-schätzt wird, welchen Beitrag die Großeltern zur Betreu-ung ihrer Enkel leisten und welche Möglichkeiten sie da-mit auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familieund Beruf für die mittlere Generation schaffen.
Zur Vielfalt der familienpolitischen Leistungen gehö-ren aber auch der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatzund ein Betreuungsgeld für Familien, die die Betreuungihrer ein- und zweijährigen Kinder selbst organisieren.Für das Betreuungsgeld sind 2013 300 Millionen Euroetatisiert. Das erweitert den Gestaltungsspielraum vonEltern ein- und zweijähriger Kinder.Klar ist aber auch: Ohne genügend Kitaplätze gibt esgenauso wenig Gestaltungsfreiheit. Wir haben für denKitaausbau neue Mittel in Höhe von 580,5 Millio-nen Euro zugesagt.
Diese können rückwirkend ab dem 1. Juli dieses Jahresin Anspruch genommen werden. Damit ermöglichen wirden Ländern und Kommunen die Einrichtung von min-destens 30 000 zusätzlichen Betreuungsplätzen.Insgesamt stellt der Bund bis 2013 4,6 Milliar-den Euro für den Kitaausbau zur Verfügung, und er be-teiligt sich ab 2014 mit einem Betrag von 845 Millio-nen Euro jährlich an den Betriebskosten. Angesichtsdieser gewaltigen Summen, die wir hier investieren,trotz der Tatsache, dass die Finanzierung des Kitaaus-baus Ländersache ist, ist ganz klar: Der Kitaausbau hatfür Union und FDP oberste Priorität, meine Damen undHerren.
Ich habe mein Zehn-Punkte-Programm vorgelegt, umden Ausbau der Kinderbetreuung zu beschleunigen.Darin geht es unter anderem um die Stärkung der Kin-dertagespflege und den Ausbau von Betriebskinder-gärten. Der Bund hat all seine Kräfte für den Kitaausbaumobilisiert. Dasselbe erwarte ich auch von den Ländern,insbesondere von denen, die immer noch im Energie-sparmodus unterwegs sind.
Ein Anliegen, das mir persönlich sehr wichtig ist, be-steht darin, diejenigen Paare zu unterstützen, die sich einKind wünschen, auf natürlichem Wege aber keines be-kommen können. Ich erhalte zu kaum einem anderenThema so bewegende Briefe: von Menschen, die mir ihrGlück schildern, dass sie nach jahrelanger Kinder-wunschbehandlung endlich ihr Baby in den Armen hal-ten, aber auch von Paaren, die durch diese Behandlungihre letzten Ersparnisse aufgebraucht haben und nunkein Geld für weitere Versuche haben. Eine familien-freundliche Gesellschaft, meine Damen und Herren, darfdiese Menschen nicht alleine lassen. Deshalb habe ichmich dafür eingesetzt, dass der Bund betroffene Paarebei Kinderwunschbehandlungen unterstützt. Die ent-sprechenden Mittel stehen zur Verfügung. 2013 sindhierfür 10 Millionen Euro vorgesehen.
Vielfalt zu ermöglichen, darum geht es auch in derGleichstellungspolitik.
Wir brauchen eine Arbeitswelt der fairen Chancen fürMänner und Frauen mit unterschiedlichen Lebensent-würfen. Bisher kommen oft nur diejenigen nach ganzoben, die jemanden haben, der zu Hause den Kühl-schrank füllt und für regelmäßigen Nachschub an fri-schen Hemden sorgt.
Benachteiligt sind dadurch insbesondere Frauen, abergenauso auch Männer, die sich Zeit für die Familie wün-schen. Deshalb kämpfe ich für eine intelligente Quote,die bei den Ursachen der männlichen Monokultur imManagement ansetzt und die Unterschiede in den Unter-nehmen und Branchen berücksichtigt. Dazu will ichnatürlich eine gesetzliche Lösung; das sage ich noch ein-mal klar und deutlich. Wir kommen aber auch auf unter-gesetzlichem Wege gut voran.
Von den Fortschritten im Rahmen meiner DAX-30-Initiative können Sie sich auf www.flexi-quote.de selbstein Bild machen. Um diese Fortschritte künftig objektivmessen, beurteilen und vergleichen zu können, habe ichdie Entwicklung eines Frauen-Karriere-Indexes in Auf-trag gegeben, den ich in den nächsten Wochen vorstellenwerde.
Kurz vor der Vollendung steht auch ein weitereswichtiges frauenpolitisches Projekt dieser Legislatur-
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Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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periode: Das bundesweite Hilfetelefon bei Gewalt gegenFrauen wird voraussichtlich Anfang 2013 freigeschaltet.
Für die Finanzierung des laufenden Betriebs sind 6 Mil-lionen Euro vorgesehen. Damit tragen wir dafür Sorge,dass Frauen in Notlagen möglichst schnell Hilfe bekom-men. Wer eine ungefähre Vorstellung davon hat, was ge-waltbetroffene Frauen physisch und psychisch durchma-chen, der weiß auch, wie wichtig dieses Hilfetelefon ist.
Die erfolgreiche Arbeit dieser Bundesregierung bele-gen auch die geplanten Ausgaben für den Bundesfreiwil-ligendienst und die Freiwilligendienste im Einzel-plan 17. Vor einem Jahr haben hier viele aus derOpposition noch Stimmung gegen den Bundesfreiwilli-gendienst gemacht.
Da gab es viel Skepsis, ob sich denn überhaupt genü-gend Freiwillige finden würden. Hier zeigt sich docheinmal wieder der Unterschied: SPD und Grüne ver-trauen auf den Staat, Union und FDP vertrauen auf dieMenschen.
Wir haben den Menschen zugetraut, sich aus eigenerMotivation zu engagieren. Das hat überwältigend funk-tioniert.Sehr froh bin ich auch über einen weiteren Erfolg, denwir gemeinsam erreicht haben. Am 1. Januar ist das neueKinderschutzgesetz in Kraft getreten, ein Meilenstein füreinen aktiven Kinderschutz in Deutschland. Für die Bun-desinitiative „Familienhebammen“ sind 2013, wie wirdas im Vermittlungsausschuss beschlossen haben,45 Millionen Euro etatisiert. Damit erreichen wir jungeEltern zu einem Zeitpunkt, an dem sie für Hilfe undUnterstützung noch zugänglich sind.
Alles in allem spiegelt der Einzelplan 17 des Haus-haltsentwurfs 2013 die großen gesellschaftspolitischenErfolge wider, die Union und FDP in den letzten dreiJahren erreicht haben. Wir haben durch den Kitaausbaudie Gestaltungsfreiheit für Familien gestärkt. Wir habenein neues umfassendes Kinderschutzgesetz auf den Weggebracht, das in der vergangenen Legislaturperiode nochgescheitert ist. Wir haben – einmalig in Europa – selbst-gesetzte Quoten bei den DAX-30-Unternehmen, durchdie 5 400 Frauen in Führungspositionen kommen wer-den. Wir haben eine Familienpflegezeit, mit der dieVereinbarkeit von Pflege und Beruf unterstützt wird. Wirhaben für 4 000 Kitas in Deutschland die Sprachförde-rung verbessert, und wir haben den Bundesfreiwilligen-dienst eingeführt, dessen Erfolg alle Erwartungen über-trifft.
Aber ich glaube, dass wir noch mehr können, wennwir Menschen ihr Leben leben lassen und ihnen Hürdenaus dem Weg räumen. Wir wissen, dass 1,2 MillionenFrauen in Deutschland mit älteren Kindern gerne arbei-ten würden, es aber nicht tun, weil die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf noch immer nicht gut genug ist:1,2 Millionen Frauen! Diese Frauen könnten dann selbstfür ihre Altersvorsorge sorgen. Sie könnten einen eigen-ständigen Anspruch aufbauen, wenn es gelingt, hier dieVereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern.Aber dafür, meine Damen und Herren, müssen wir nichtdie Familien ändern, sondern dafür müssen wir die Ar-beitswelt ändern. Das wird das große Thema der Zukunftsein.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Dagmar Ziegler hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Nun ist er da: der Haushaltsplan fürFamilienpolitik, wie ihn sich die Koalition von Unionund FDP vorstellt. Nun haben wir schwarz auf gelb, dassjeder, aber auch wirklich jeder Modernisierungsversuchgescheitert ist, einschließlich der zuständigen Ministerin.Denn die Chaostheorie der Bundeskanzlerin lautet auchin Bezug auf die Familienpolitik in unserem Lande: überalles und nichts ein bisschen reden lassen. Sie reden überdie Frauenquote: ein bisschen Flexi, aber ach, dann dochnicht. Sie reden über Jugendpolitik: ein bisschen eigen-ständiger, aber am Ende: ach, doch nicht. Sie reden überPflegezeit für Angehörige von Pflegebedürftigen: einbisschen gesetzlich, aber dann doch bitte freiwillig. Siereden über die steuerliche Gleichstellung von eingetra-genen Lebenspartnerschaften: ja, mal so dahingesagt,aber dann doch nicht. Sie reden über Familiensplitting:Das wäre ja so schön, aber dann doch nicht.
Ja, unsere Ministerin ist fleißig. Wir haben schon wie-der viele Ankündigungen zu den Projekten gehört, diesie sich für den Rest der kurzen Zeit, die ihr noch bleibt,vorgenommen hat. So schaufelt sie angestrengt alle zweibis drei Monate heiße Luft von einer Ecke in die andere.Genauso sehen die Haushaltszahlen aus: stabil schlecht,aber stabil; keine Verbesserungen für Familien, aber daskonsequent.
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Dagmar Ziegler
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Aber ein Sahnehäubchen gibt es dann doch noch– das hat die Ministerin gar nicht erwähnt –: das Betreu-ungsgeld.
Auch hier war bei der Sahne schnell die Luft raus. Dennblöderweise sind alle dagegen. Rund 30 namhafte Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler haben geradeheute in der Zeit einen Appell an die Koalition gerichtet,von diesem unsinnigen Projekt Abstand zu nehmen.Die Unterzeichner sind– ich zitiere –Ökonomen, Erziehungswissenschaftler, Psycholo-gen, Soziologen, Rechtswissenschaftler und Medi-ziner. Viele von ihnen sitzen oder saßen in Bera-tungsgremien der Bundesregierung, vornehmlichzur Familienpolitik.Aber Herrn Seehofer kann man doch nicht vor denKopf stoßen, wo er doch selber so familienfreundlich ist,
wo er so lieb gegenüber ärmeren Regionen im In- undAusland ist und die Kanzlerin so lieb im Würgegriff hat.Da hat er sich doch für seine Landtagswahl etwas ver-dient. Da nimmt der Bund doch gerne einen Kredit auf,um das Betreuungsgeld einzuführen.Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, was wie eineBüttenrede klingt, ist leider bittere Wahrheit.
Aber jeder kann sich einen Reim darauf machen. Sie ma-chen schlichtweg keine Politik: nicht für die Jugendli-chen, nicht für die Älteren, nicht für die Kinder und nichtfür deren Eltern. Ihre Arbeit, die Sie tatsächlich leisten, istso wichtig und zukunftsweisend wie Ramsauers Initiativefür austauschbare Autokennzeichen.Wo aber ist unsere Bundeskanzlerin? Sie führt diesesKabarett, nein, Kabinett
zu seiner letzten Vorstellung, zum Haushalt vonSchwarz-Gelb.Vielen Dank.
Der Kollege Florian Toncar hat das Wort für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollegin Ziegler, bei Ihrer Rede hatte ich das Gefühl,dass Sie, gelinde gesagt, etwas übertrieben haben. Dennwenn Sie sagen, dass jeder Modernisierungsversuch inder Familienpolitik gescheitert sei, und von Chaostheo-rie und Ähnlichem sprechen, dann sind das starke Worte.Ich glaube übrigens nicht, dass die Familien es schätzen,dass man über ihre Themen mit so starken Worten disku-tiert, und ich glaube nicht, dass die Politik der Bundesre-gierung dazu Anlass gibt.Man muss vielleicht vorausschicken – das gilt für die-sen wie für jeden Haushalt –: Dies ist eine Legislatur-periode, in der es außerordentlich schwer ist, neue finan-zielle Akzente zu setzen.
Dabei ist nicht die Frage, wer regiert. Vielmehr hat dieseRegierung eine Situation vorgefunden, die von einerziemlich dramatischen Haushaltslage gekennzeichnetwar. Es kamen, beispielsweise durch die Energiewendeund das Thema ESM, ziemlich hohe Kosten dazu. Wennman das berücksichtigt, dann ist es gut, wohin sich derHaushalt jetzt bewegt, nämlich in Richtung Erreichungder Ziele der Schuldenbremse drei Jahre früher als er-wartet. Aber man kann natürlich keine haltlosen Ver-sprechen und riesengroßen Sprünge finanzieller Art ma-chen. Das ist einfach ein Faktum.
Wir haben trotzdem – die Ministerin hat das schon er-wähnt – viele Lücken gefüllt und neue Angebote da ge-macht, wo Bedarf bestand.
Frau Kollegin Ziegler, die Ministerin hat nicht nur An-kündigungen gemacht,
wie Sie behaupten, sondern das aufgezählt, was in denletzten drei Jahren gemacht wurde und was sich auch imHaushalt wiederfinden lässt. Beispiele sind die Familien-pflegezeit, Hilfen für Familien, die ungewollt keine Kin-der bekommen können, die Erziehung von Heimkindern– das haben wir im Konsens geregelt – und das Hilfetele-fon. Nichts davon ist eine Ankündigung. Alles wurde er-reicht, und für alles wurden entsprechende Mittel in denHaushalt eingestellt. Das ist angesichts der Voraussetzun-gen, die wir hatten, wirklich eine ganze Menge.
Es ist gut, dass wir im nächsten Jahr eine wirklicheÜbersicht über alle familienpolitischen Leistungen be-kommen. Die sogenannte Evaluation hat einige Jahre ge-dauert und sehr viel Geld gekostet. Aber so haben wireine gute Grundlage, um in der nächsten Legislaturpe-riode sachlich darüber zu diskutieren, mit welchen Leis-tungen familienpolitische Ziele erreicht werden, wo wir
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23145
Florian Toncar
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vorankommen und wo wir im Familien- oder Bildungs-bereich vielleicht Geld ausgeben, das schlecht investiertist, weil bestimmte Ziele nicht erreicht werden. Ich binsehr gespannt, Frau Ministerin, welche Ergebnisse dieseEvaluation zeitigen wird. Ich hoffe, dass wir auf derGrundlage dieser Erhebung dann gute Entscheidungenfür die kommenden vier Jahre treffen werden.Wir investieren bereits viel Geld in eine familien-freundliche Infrastruktur in Deutschland. Dazu zähle ichnicht nur die Qualifizierungsoffensive – ein neues Pro-jekt dieser Regierung –, bei der es darum geht, mithilfevon Fachleuten gezielt Sprachförderung in Kitas zu be-treiben, in deren Umfeld die Sozialstrukturen schwierigsind und viele benachteiligte Kinder und Familien woh-nen, und dafür zu sorgen, dass die Kinder möglichstschnell die deutsche Sprache erlernen. Denn wenn einKind bei der Einschulung die deutsche Sprache nicht be-herrscht, dann wird es das im Rahmen einer normalenSchullaufbahn nur schwerlich aufholen können. Wennwir die entsprechenden Voraussetzungen nicht am An-fang schaffen, wird es schwierig, das im Schulsystem zureparieren. Wir bemühen uns darum, hier für Verbesse-rungen zu sorgen. Ich habe mir Kitas mit Sprachförder-kräften in den Kommunen angeschaut und muss sagen:Es gab in den letzten Jahren selten ein Projekt, zu dem esso viel Zustimmung und Lob von denjenigen gab, diedamit befasst sind. Daran sollten wir weiter festhalten.Wir sorgen sogar für einen entsprechenden finanziellenAufwuchs. Wir haben ein Interesse, dieses Projekt län-gerfristig fortzuführen.
Wie bereits erwähnt, investieren wir über unsere Ver-pflichtungen hinaus weitere Mittel in den Ausbau derKitaplätze. Der Bund investiert noch einmal über580 Millionen Euro. Ursprünglich war ausgemacht, dasssich Bund, Länder und Kommunen die Kosten zu je ei-nem Drittel teilen. Nun hat sich aber eine Lücke aufge-tan. Die Bundesregierung hat sich bereit erklärt, diese zufüllen. Ich frage mich allerdings, wo das Engagementder Länder bleibt. Warum sind diese nicht in der Lage,sich zu verpflichten, mehr Geld zu geben, wenn das auchder Bund tut? Das vermisse ich. Ich denke, Sie, meineDamen und Herren von der Opposition, hätten auf IhreMinisterpräsidenten entsprechend einwirken sollen. Aufjeden Fall werden wir die erwähnten zusätzlichen Mittelbereitstellen, weil wir wollen, dass die Familien imnächsten Jahr das Angebot vorfinden, das ihnen zuge-sagt wurde. Auch das ist eine positive Erwähnung wert;denn das kostet den Bund eine Menge Geld.
Ich will dem Eindruck entgegentreten, dass hiernichts passiert. Wer sich den Haushalt genau anschaut,wird das schwerlich behaupten können; denn der Haus-halt sieht ganz anders aus als der von vor drei Jahren, alswir in die Regierungsverantwortung gekommen sind. Erist deutlich umgestaltet worden. Es wurde viel Positiveserreicht.Wir werden uns als Haushaltspolitiker in den nächs-ten Wochen aber auch genau anschauen, ob beispiels-weise die Verwaltungsausgaben angemessen sind. Esgibt sicherlich Aufwüchse an der einen oder anderenStelle, die wir kritisch unter die Lupe nehmen sollten.Das ist unsere Aufgabe. Wir wollen, dass die Behördenreibungslos arbeiten können, aber nicht, dass mehr Mit-tel als nötig in den Etat eingestellt werden.Insgesamt bildet dieser Haushaltsentwurf eine guteGrundlage für die Beratungen. Er zeigt, dass nicht nurAnkündigungen gemacht wurden, sondern dass auch be-reits eine Menge umgesetzt wurde.
Der Kollege Steffen Bockhahn hat jetzt das Wort für
die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bin jetzt seit ziemlich genau drei JahrenVater. Natürlich kommt nun der Spruch: Wann kommtdenn das nächste? Die Antwort behalte ich für mich;denn das geht Sie nichts an. Ich erwähne das aber, weilich Ihnen sagen möchte: Für mich wäre ein weiteresKind in finanzieller Hinsicht kein Problem. Wie viel einBundestagsabgeordneter im Durchschnitt verdient, wis-sen Sie alle ziemlich genau.
– Es reicht für mehrere Kinder; das ist wahr.Allerdings kenne ich viele in meiner Altersgruppe,bei denen sich die Frage deutlich anders stellt. Das istdeswegen der Fall, weil – meine Damen und Herren, dasist auch im Jahre 2012 noch bittere Realität – Kindernach wie vor das größte Armutsrisiko in der Bundesre-publik Deutschland sind. Das ist fatal, das muss anderswerden.
Das ist so, weil das Geld, das wir ausgeben, falschverteilt wird. Nun wurde die große Evaluation der fami-lienpolitischen Leistungen angekündigt. Ich hoffe, dassdiese etwas pünktlicher vorgelegt wird als der Berichtzum BAFzA. Die Frist zu dessen Vorlage wurde einmaloffiziell verlängert, dann ohne Begründung noch einmal.Wir sollen ihn in den nächsten Tagen bekommen, aberwann genau, weiß ich nicht. Ich hoffe, noch vor dem Be-richt über die Evaluation der familienpolitischen Leis-tungen. Wir werden sehen.Kinderfreundlichkeit in dieser Gesellschaft funktio-niert aber auch deswegen nicht, weil die Arbeitswelteben nicht familienfreundlich ist und weil nichts pas-siert, um das zu verändern. Frau Ministerin, Ihre Ana-lyse war nicht falsch; allerdings vermisse ich echte, kon-krete Handlungsansätze, um daran etwas zu ändern. Esist doch möglich, etwas zu tun.Was würde denn wirklich helfen? Ein Krippenplatzkostet über 300 Euro für ein Kind. Wer soll sich da drei
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Steffen Bockhahn
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leisten? Auch Kindergarten, Hort und Schule sind allesandere als kostenfrei. Dabei reden wir noch gar nichtvon Ausbildungsberufen. Wenn Ihre Tochter beispiels-weise Ergotherapeutin werden will, dann wird sie dasnicht einfach so tun können, sondern sie muss im Regel-fall sehr viel Geld für die Ausbildung bezahlen. Ergothe-rapeutinnen kümmern sich vorzugsweise um kleine Kin-der, die Defizite haben. Es wäre gut, wenn sich der Staatmehr darum kümmern würde.
Natürlich wollen Eltern ihren Kindern eine solche Aus-bildung ermöglichen.Eine kostenlose Infrastruktur schafft Sicherheit. Des-wegen brauchen wir eine kostenfreie Infrastruktur beiKrippen und Kindergärten. Wir brauchen einen ordentli-chen Kündigungsschutz für Eltern, der Verlässlichkeitschafft. Wir brauchen auch endlich das Ende der mas-senhaften prekären Beschäftigung; denn nur wer dauer-haft beschäftigt ist, hat auch Vertrauen in die Zukunftund wird sich für Kinder entscheiden. Alles anderebleibt eine Lüge.
Wir brauchen ebenso einen real durchsetzbaren An-spruch auf Teilzeitarbeit. Ich weiß, dass es formal gese-hen die gesetzlichen Regelungen dazu gibt. Aber in derPraxis ist das eine Farce. Wenn Sie bei einem mittelstän-dischen oder kleinen Unternehmer beschäftigt sind, derSchwierigkeiten hat, einen Arbeitsplatz anders zu beset-zen, dann haben Sie ernsthafte Schwierigkeiten, IhrenRechtsanspruch auf eine Teilzeitstelle durchzusetzenbzw. dann, wenn die Teilzeitphase beendet ist, wiederauf eine ganze Stelle zurückzukehren. Wir brauchendeutlich klarere Regelungen und im gegebenen Fall aucheine Unterstützung für die Unternehmerinnen und Unter-nehmer, damit diese das umsetzen können. Auch mussdie Weiterzahlung des Gehalts bei Krankheit der Kinderdeutlich länger als zehn Tage erfolgen. Unter Dreijährigesind sehr schnell einmal länger als zehn Tage krank.Wir müssen aus meiner Sicht auch den Steuerfreibe-trag für Kinder abschaffen. Warum ist es nach wie vorim Jahre 2012 so, dass unterschiedliche Kinder unter-schiedlich viel wert sind? Warum habe ich als Bundes-tagsabgeordneter mit einem guten Gehalt noch einenSteuerfreibetrag für Kinder, von dem ich profitierenkann,
aber meine Mitarbeiterin – die zweifelsfrei gut bezahltist – nicht? Warum ist das Kind meiner Mitarbeiterin nurdas Kindergeld wert, meines aber auch noch einen Steu-erfreibetrag? Das ist Unsinn, das ist ungerecht, und dasist falsch. Diese Regelung muss abgeschafft werden.
Genauso muss das Schulgeldprivileg weg. Wir zahlenganz viel Geld für öffentliche Schulen, die auch gut sind,und wir zahlen ganz viel Geld für Schulen in freier Trä-gerschaft, die oft auch gut sind. Wir zahlen aber zusätz-lich für die Schulen in freier Trägerschaft, indem wir dasSchulgeld für die Schulen in freier Trägerschaft anrech-nungsfähig bei der Einkommensteuererklärung machen.Warum erzähle ich Ihnen das? Weil die Einkommen-steuer eine Bundessteuer ist. Mit dem Geld, das wir hierzusätzlich einnehmen könnten, könnten wir sinnvolle fa-milienpolitische Leistungen anbieten. Dafür wäre dasGeld dann da. Wir sind der Gesetzgeber, wir dürfen soetwas machen.
Natürlich geht es bei Kindern nicht nur um das Geld.Lachen, Zärtlichkeit und die unverwechselbaren Sprü-che der lieben Kleinen kann man nicht mit Geld bezah-len. Aber wenn man Verantwortung für Kinder überneh-men will, dann will man ihnen auch etwas bieten. Wennman kein Vertrauen in die soziale Sicherheit hat, dannwird man sich gegen Kinder entscheiden. Das muss an-ders werden.
Man möchte seinen Kindern eine Chance geben. Dasaber muss man sich leisten können; denn von der Regie-rung kommt da eher nichts.Apropos, man tut nichts: Da sind wir bei der Frauen-förderung. Ich wollte jetzt einmal ganz lange über dasGute Ihrer Frauenpolitik, Frau Ministerin, sprechen.Aber ich fand es dann unfair, in der verbleibenden Rede-zeit von 1 Minute und 15 Sekunden zu schweigen.
Deswegen rede ich jetzt doch über die sensationelle Kam-pagne zur Flexi-Quote. Keiner außer Ihnen, Frau Minis-terin, und natürlich den Männern, die Angst um ihre Jobshaben, fürchtet sich vor einer ordentlichen Quote. Sie ma-chen trotzdem weiter und geben auch noch Steuergelderaus, um der Welt zu sagen, dass die 30 DAX-Konzerneihre Quote in den Vorständen und Aufsichtsräten bis 2014um fantastische, unglaubliche – halten Sie sich fest, eswird Wahnsinn! – 0,82 Prozent steigern.
Viviane Reding, die EU-Justizkommissarin, will perRichtlinie der EU bis 2020 eine Frauenquote von 40 Pro-zent durchsetzen. Ich frage mich natürlich, wie Sie dazustehen. Kämpfen Sie womöglich dagegen? Frau Ministe-rin, mit diesem Agieren – nicht nur bei der Frauenförde-rung und der Frauenquote, sondern auch mit diesemHaushaltsentwurf – reiten Sie ein totes Pferd. SteigenSie ab! Satteln Sie neu! Oder noch besser: Lassen Sie je-mand ran, der Ahnung davon hat!Ich danke Ihnen.
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Katja Dörner hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Der Entwurf des Haushalts des Fami-lienministeriums für 2013 ist klar und deutlich eines: Erist das in Zahlen gegossene Scheitern der MinisterinKristina Schröder.
Es gibt zwar einiges, was uns hier als großartige Errun-genschaft verkauft wird, aber was steckt denn dahinter?Wir schauen einfach einmal, was das sein könnte.Stichwort Familienhebammen. Wir alle hier habenuns für Familienhebammen eingesetzt. Es ist wichtig,mit Familienhebammen die Netzwerke früher Hilfen zustärken – aber doch nicht als Sonderprogramm im Fami-lienministerium, sondern im Rahmen eines vernünftigenKonzepts, entwickelt zusammen mit dem Gesundheits-ministerium und den Krankenkassen. Fakt ist: BeimBundeskinderschutzgesetz hat sich Kristina Schrödervom Gesundheitsministerium einfach schnöde abwim-meln lassen. Dass diese 45 Millionen Euro jetzt so imHaushaltsentwurf veranschlagt sind, das haben wir dochnicht dieser Ministerin zu verdanken,
das haben wir den rot-grünen Bundesländern und ihrenerfolgreichen Verhandlungen im Bundesrat zu verdan-ken. Das steckt hinter diesem Programm.
Stichwort Leistungen zur Unterstützung bei unge-wollter Kinderlosigkeit. Es ist schon angesprochen wor-den: Da haben wir ursprünglich große Ankündigungengehört. Aber auch hier gab es eine Rote Karte für diePläne dieser Ministerin, auch vom Gesundheitsministe-rium.
Was ist denn jetzt dabei herausgekommen? Ein Pro-gramm, das die Bundesländer subventioniert, die ihrer-seits anteilig die Kosten für Kinderwunschbehandlungenübernehmen. Davon betroffen waren, bevor dieses Pro-gramm aufgelegt worden ist, zwei Bundesländer. Essteht völlig in den Sternen, ob weitere Bundesländer da-zukommen.
Ergo, es kommt kein zusätzliches Geld bei den betroffe-nen Paaren an, ganz zu schweigen von einer sinnvollenAusweitung dieser finanziellen Unterstützung, etwa auflesbische und auf unverheiratete Paare.
Das jetzige Programm ist einfach ein komplett ver-murkster Ansatz.
Stichwort Familienpflegezeit. Der ursprünglich imGesetzentwurf vorgesehene Rechtsanspruch wurde ein-fach gestrichen. Nun bleibt die Familienpflegezeit letzt-endlich dem Goodwill der Arbeitgeber überlassen. Dassdie Familienpflegezeit so, wie sie jetzt konzipiert ist,einfach ein Rohrkrepierer ist, das kann man ganz einfacham Haushalt ablesen. Von den 400 000 Euro, die für2012 im Haushalt veranschlagt wurden, sind zum jetzi-gen Zeitpunkt überhaupt erst 8 000 Euro – ich wieder-hole: 8 000 Euro – abgeflossen. Dieses Vorhaben istganz klar ein Rohrkrepierer. Ich frage mich, warum wirvor diesem Hintergrund zustimmen sollten, die Mittelfür diese Leistung im nächsten Jahr noch auf über 1 Mil-lion Euro zu erhöhen.Das waren drei kleine Beispiele, die zeigen, dass dieMinisterin gern als Tigerin springt und … Na ja, mansieht, wie sie landet.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nun wird es mehrGeld für den Kitaausbau geben – wir haben das eben ge-hört –: 580 Millionen Euro zusätzlich im Rahmen einesNachtragshaushalts. Dieses Geld kommt spät, aberHauptsache, es kommt. Denn es wird in den Kommunentatsächlich gebraucht. Um auch hier jeder Legendenbil-dung direkt einen Riegel vorzuschieben: Diese zusätzli-chen Kitamillionen haben mit dieser Ministerin nämlichebenfalls nichts zu tun.
Fakt ist doch, dass Kristina Schröder in den letztenJahren versucht hat, dem Finanzminister zusätzlicheMittel für den Kitaausbau aus den Rippen zu leiern, undsie ist damit immer gescheitert. Fakt ist: Diese zusätzli-chen 580 Millionen Euro kommen aus den erfolgreichenVerhandlungen im Zusammenhang mit dem Fiskalpakt,an denen auch die Bundesländer beteiligt waren.
Also auch hier ganz klar keine Blumen für KristinaSchröder.
Dass der Etat des Familienministeriums steigt, ist die-ses Jahr kein Grund zur Freude; denn der Grund dafür,dass er steigt, ist das Betreuungsgeld. Wider alle Ver-nunft, wider den breiten Sachverstand der familienpoliti-schen Verbände und Initiativen
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Katja Dörner
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und auch wider die Mehrheit der Familien wird diesesBetreuungsgeld nun in den Haushalt geboxt. Union undvor allem die FDP lassen sich hier am Nasenring durchdie familienpolitische Arena ziehen.Mit diesem Haushaltsentwurf wird der Weg frei ge-macht für eine bildungspolitische und eine gleichstel-lungspolitische Katastrophe, für eine Leistung, dieglücklicherweise, hoffentlich und voraussichtlich inKarlsruhe wieder einkassiert wird.
Das alles geschieht, um Horst Seehofer zu pampern.Ich muss Ihnen sagen: Das würde ich mir gut überlegen.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, in den diesjähri-gen Beratungen des Etats des Familienministeriums wirdes ganz zentral um das Betreuungsgeld gehen. Wir set-zen auf die Macht der besseren Argumente. Wir setzenauch auf die Aussagekraft der nackten Zahlen. Die Kol-leginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionensollten die Chance nutzen, von diesem toten Pferd abzu-steigen. Ich setze dabei insbesondere auf meine Kolle-gen aus dem Haushaltsausschuss, die sich an der einenoder anderen Stelle schon ziemlich weit aus dem Fenstergelehnt haben. Dies gilt insbesondere für die Kollegender FDP, die angekündigt haben, das Betreuungsgeld imHaushaltsausschuss doch noch stoppen zu wollen. Daswäre eine Lieferung seitens der FDP, die sogar wir gerneentgegennehmen würden.Vielen Dank.
Ingrid Fischbach hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wenn die Zeit nicht schon so fortgeschrit-ten wäre, dann würde ich sagen: Die Märchenstunde hatangefangen. Frau Ziegler, ich habe Sie immer als Kolle-gin geschätzt, aber das, was Sie heute zum Besten gege-ben haben, war wirklich nichts.
Ihre große Überschrift lautete: Jeder Modernisie-rungskurs der Ministerin ist gescheitert. Ich nenne dazunur einige Stichworte, obwohl ich eine längere Liste he-runterrattern könnte.Stichwort Pflegezeit. Wir sind sie angegangen. Gab esdas Pflegeproblem noch nicht, als Rot-Grün regiert hat?Haben Sie hier etwas gemacht? Ich habe nichts gehört.Wir haben damit angefangen. Die Pflegezeit ist auf demWeg. Solche Projekte müssen erst einmal anlaufen. Mankann nichts von oben herab bestimmen. Man muss dieUnternehmen mitnehmen, und das tun wir.
Dazu habe ich in den sieben Jahren Ihrer Regierungszeitnicht ein Wort gehört.Stichwort Kitaausbau. Das war ein großer Kampf. Ichkann mich daran erinnern, wer in der Zeit der GroßenKoalition dafür gesorgt hat, dass die Mittel von 4 Mil-liarden Euro im Bundeshaushalt festgeschrieben wur-den.
– Sie waren dabei. Ich habe ein gutes Gedächtnis.Die Ministerin hat gesagt: Das ist uns sehr wichtigund hat oberste Priorität, dafür werde ich Mittel frei ma-chen. – Ich finde das lobenswert. Es ist richtig, das setztdie richtigen Akzente. Das haben Sie nicht gemacht, wirhaben das gemacht.
Stichwort Kindertagespflege. Sie wissen genau: Wirwerden den Betreuungsbedarf allein mit öffentlichenEinrichtungen nicht abdecken können. Tagesmütter wa-ren für Sie immer etwas für die ganz oberen Schichten.Sie sagten, diese Betreuung könne sich niemand leisten.Die Ministerin ist das Problem angegangen. Sie hat ge-sagt: Wir müssen sehen, dass wir auch für die Tagesmüt-ter Verbesserungen hinkriegen. – Hier ist ganz viel pas-siert.Was Ihnen eigentlich am meisten wehtun muss – dasist mein letztes Wort hierzu; damit ich noch zu meinerursprünglich vorgesehenen Rede komme –: Wann ist ei-gentlich der erste Gleichstellungsbericht erstellt worden?Ich bin seit 1998 im Deutschen Bundestag. Ich glaube,der ersten Gleichstellungsbericht ist unter MinisterinSchröder auf den Weg gebracht worden. Gleichstellungwar doch Ihr Thema. Hier ist nichts passiert, hier wurdenichts gemacht.
Sie aber stellen sich hier hin und sagen: Es gab keineModernisierung. Ich glaube, allein die wenigen Stich-worte haben gezeigt, wohin der Weg geht und dass dieseAussage nicht stimmt.
Frau Dörner, Sie sagten, der Haushaltsentwurf sei dasin Zahlen gegossene Scheitern der Ministerin.
Man kann Zahlen natürlich einfach ignorieren und sienicht wahrnehmen; das kann man machen. Aber der An-teil der Vätermonate im Zusammenhang mit dem Eltern-geld ist allein durch den Einsatz der Ministerin und ihre
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Ingrid Fischbach
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Werbung bei den Unternehmen und Verbänden von3 Prozent auf 20 Prozent gestiegen. Das ist für mich einWert, der Aussagekraft hat.
Familienhebammen. Ich komme jetzt zu einem Punkt,bei dem ich mittlerweile einen dicken Hals habe. Ichkomme aus Nordrhein-Westfalen. Das ist ein Bundes-land, in dem die Post abgeht und wo man immer in derersten Reihe steht. Ich will nicht sagen, wer dort jahr-zehntelang regiert hat. Aber Dinge zu fordern, die manselbst nicht bezahlen muss, das ist toll.
– Es ist doch so. – Familienhebammen sind wichtig.Wenn dieses Thema den Ländern so wichtig ist, dannfrage ich Sie, meine Damen und Herren: Warum mussder Bund letztlich die vollen Kosten übernehmen?
Wenn das wichtig ist, dann würde ich sagen: Wir teilenuns die Kosten. Man kann aber nicht etwas verlangen,und der andere muss dafür bezahlen.
Ich kann auch nicht in die Wirtschaft gehen und sagen:Ich möchte gern ein Rumpsteak, aber ich habe das Geldnicht dafür. Und dann muss der Ober kommen und mir5 Euro dazugeben.Die Ministerin hat gesagt: Das ist uns wichtig. Wenndas Ding platzt und die Sache scheitert, dann überneh-men wir die Kosten eben komplett. – Das hätten wirnicht gemusst.Gleiches gilt für den U-3-Ausbau. Das ist noch so einschönes Thema, das mich wirklich zum Platzen bringt.Jetzt haben wir zusätzliche Mittel, mit denen wir al-lein 30 000 Plätze mehr zur Verfügung stellen können.Ich kann mich noch gut an den Anfang dieses Jahres er-innern: Da haben die Länder geklagt: Wir schaffen esnicht. Aber ich erinnere: Die Länder haben sich irgend-wann mit an den Tisch gesetzt und gesagt: 4 MilliardenEuro zahlen wir mit. Ich denke, die Länder haben Ver-antwortung. Gilt das Wort nicht mehr, das Ländervertre-ter in den Runden mit dem Bund abgeben? Dann, meineDamen und Herren, machen wir es in Zukunft ganz al-lein. Dann brauchen wir die Länder nicht mehr. Dannmüssen die Länder aber auch ihre Kompetenz bei derKinderbetreuung an den Bund abtreten. Dann will ich,dass wir hier in Gänze entscheiden und nicht nur dieGeldgeber sind.
– Herr Schwanitz, ich wäre ganz ruhig, wenn ich IhreBilanz vorlegen müsste; da wäre ich ganz, ganz ruhig.NRW hat dann getönt: Wir machen das. Wir rufen dieMittel gar nicht in Gänze vom Bund ab, sondern gebenselber Mittel. – Es kann aber die erforderlichen Plätzenicht zur Verfügung stellen. Und was hat die Ministerinin Nordrhein-Westfalen schon einmal vorausschauendüberlegt: Die erforderliche Anzahl an Plätzen werdenwir nicht schaffen, dann erhöhen wir einfach die Grup-pengröße. – Wir hätten nur einmal daran denken sollen,zu sagen: Wir gehen nicht mehr von 9 Kindern in derU-3-Betreuung aus, sondern erweitern die Zahl auf 10,11, 12 oder 15 – O-Ton! Aber es ist für ein Kind unterdrei Jahren ein enormer Unterschied, ob es in einerGruppe mit 9 Kindern oder mit 15 Kindern betreut wird.
Und da zählt nicht nur allein die Aufstockung der Perso-nalstellen. Das hat einen ganz anderen Ansatz und fürdie Kinder eine ganz andere Bedeutung. Und mal ebenso locker zu sagen: „Wir verdoppeln die Anzahl derPlätze“, das ist schon eine Nummer.Meine Damen und Herren, ich möchte trotzdem aufden Haushalt und den Einzelplan des Ministeriums fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend zu sprechen kom-men. Ich bin froh, dass wir endlich – auch das ist demDrängen und dem Einsatz der Ministerin zu verdanken –die Evaluation der familienpolitischen Leistungen disku-tieren. Wir haben den ersten Teil bzw. die Akzeptanzana-lyse vorliegen. Die haben Sie alle bekommen.
– Ja, Sie wissen alles vorher. Nur, Sie machen dannnichts. Und wenn Sie es schon vorher wissen, brauchenwir doch die Evaluation nicht.
Das verstehe ich jetzt nicht: Herr Bockhahn hat geradegesagt: „Wir wollen eine Evaluierung“, und Sie rufenjetzt: Wir wissen das schon alles. – Ich weiß es nicht. Ichkann nicht hellsehen.
– Aber ich möchte doch belegbare Daten haben; dennanders als Sie möchten wir politische Entscheidungentreffen, die die Eltern wollen. Darin unterscheiden wiruns. Sie meinen, Sie können für alle Eltern denken. Wirsagen: Die Eltern sollen selber denken. Wir nehmen ihreGedanken auf und versuchen, entsprechende politischeRahmenbedingungen zu schaffen. Das ist der Unter-schied.
Die Akzeptanzanalyse hat gezeigt, dass die Eltern dasElterngeld als besonders wichtig empfinden. Wenn82 Prozent sagen: „Ohne das Elterngeld wäre ich garnicht in die Lage gekommen, das erste Erziehungsjahrzu Hause zu verbringen“, dann ist das ein großes Zei-chen, dass das wichtig ist, dass wir das auch erhalten
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müssen und dass wir alles dafür tun, dieses Elterngeldweiterzuentwickeln.Der zweite wichtige Punkt war, dass die Kinderbe-treuung eine große Rolle spielt. Ich habe es gerade schongesagt: Wenn sich der Bund mit 4,6 Milliarden Euro be-teiligt – mit mehr, als er vorher zugesagt hat –, dann istdas eine ordentliche Größenordnung.Für besonders erwähnenswert halte ich die Tatsache,dass wir uns auch nach 2013 mit weit über 800 Millio-nen Euro an den Betriebskosten der Kitas beteiligen.Auch das ist nicht selbstverständlich. Das müsste derBund nicht tun. Wir tun es, weil es uns wichtig ist. Ichglaube, dass es auch richtig ist. Es ist ein richtiges Zei-chen an die Kommunen.
Meine Damen und Herren, es ist nicht damit getan,Kindertagesbetreuungsplätze zu schaffen und Erziehe-rinnen auszubilden. Es geht auch darum, dass wir denKindern die Chancen geben, die sie brauchen. Moderni-sierung gab es ja bei Ihnen hier nicht. Die Initiative „Of-fensive Frühe Chancen“ zeigt, dass die Ministerin dieKinder im Blick hat. Denn auch das müssten wir nichttun. Wir müssten in die Kitas nicht zusätzliche Kräfteschicken, die für die Sprachförderung zuständig sind.Das müssten wir nicht. Aber wir sagen: Die Kinder kön-nen nichts dafür. Wenn die Eltern nicht dafür sorgen,dass eine angemessene Sprachfähigkeit vorhanden ist,dann müssen wir als verantwortungsvoller Staat dafürsorgen.
Ich sehe auch Ihre Kollegen, Frau Ziegler. Auch dieSPD-Kollegen kommen in die Kitas und begrüßen dieseInitiative. Sie sagen: Wir sind froh, dass wir diese halbeStelle zusätzlich haben. – Nur vergessen sie dann immer,zu sagen: Das war eine Initiative der Ministerin. – Aberich hole das nach, wenn ich da bin; ich habe da keineProbleme.
Seit August 2012 liegt bundesweit für alle4 000 halben Stellen der Bewilligungsbescheid vor, dasheißt, alle Stellen sind bewilligt worden. Vor Ort werdenqualifizierte pädagogische Fachkräfte für die sprachlicheBildung sorgen. Ich glaube, das ist ein wichtiges Zei-chen. Wir zeigen damit: Die Kinder sind uns wichtig;wir haben sie vorrangig im Blick. – Das ist etwas, wasdie Familienpolitik und die Jugendpolitik der Ministerinauszeichnet.Meine Damen und Herren, ich könnte jetzt auch nochauf das Hilfetelefon eingehen. Ich glaube, wir schaffenhier eine wirklich gute Institution: Bundesweit kann dasHilfetelefon kostenfrei angerufen werden, um anonymund in verschiedenen Sprachen Hilfestellungen zu erhal-ten. Das ist der richtige Schritt. Ich glaube, damit helfenwir denen, die von Gewalt bedroht sind, in einem erstenSchritt.Zwei Punkte zum Schluss.
Frau Kollegin.
Ich sehe es blinken, Frau Präsidentin. – Ich möchte
zum Schluss für eine überfraktionelle Initiative danken,
Stichwort: Heimkinder in Ost und West. Diese haben wir
gemeinsam auf den Weg gebracht. Das zeigt, dass wir
nicht immer nur gegeneinander kämpfen müssen, son-
dern es auch Bereiche gibt, in denen es Sinn macht, dass
wir uns gemeinsam einsetzen.
Frau Kollegin.
Wenn wir gemeinsam für die Familien in diesem
Land kämpfen, dann sind wir auf einem guten Weg.
Danke schön.
Der Kollege Rolf Schwanitz hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Schröder, dieSelbstgerechtigkeit, mit der Sie hier vorgetragen haben,war ein starkes Stück; das muss ich schon einmal sagen.
Die Zahlen, die Sie vorgelegt haben, geben das nicht her,übrigens auch nicht die Abläufe.Ich will etwas zur ersten Baustelle, dem Kitaausbau,sagen. Wir haben drei Jahre lang von Ihnen eigentlichimmer eine klare Botschaft gehört: Erstens sagten Sie,das Bundesprogramm reiche aus; zweitens haben Sie aufdie Länder und Kommunen verwiesen. Die Abgeordne-ten der SPD und auch andere aus der Opposition habenfrühzeitig signalisiert: Der Bedarf, der damals, 2007, er-mittelt worden ist, ist nicht ausreichend; wir müssen hierverstärken. Vor nicht einmal einem Jahr, in der Schluss-beratung zum Haushalt 2012, hat Ihnen die SPD einenVerstärkungsantrag zur namentlichen Abstimmung vor-gelegt. Die Koalition hat ihn abgelehnt; auch Sie, FrauMinisterin, waren dagegen. Jetzt kommen Sie, nachdemdie Länder Sie gezwungen haben,
und müssen die Mittel sogar in einen Nachtragshaushaltzum selben Haushalt 2012 einstellen. Das ist an Pein-lichkeit nicht zu überbieten.
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Seit Montag, als das Berichterstattergespräch mitIhrem Haus stattfand, wissen wir nun auch, dass sich IhrHaus schon längst mit den Ländern verständigt hat, dassvon den 580 Millionen Euro, die für die Finanzierungdes Zusatzbedarfs von 30 000 Kitaplätzen notwendigsind, bis zum Inkrafttreten des Rechtsanspruchs nichtalle Mittel eingesetzt werden sollen. Sie geben hier quasidie Mahnerin, die Controllingministerin, diejenige, dieDruck macht, aber in Ihrem Haus steht heute schon fest,dass die Gelder für die 30 000 Plätze auf zwei Jahre, bisEnde 2014, gestreckt werden. Das ist ein übler Taschen-spielertrick, den Sie uns hier vorführen. Das ist nicht inOrdnung.
Frau Schröder, das hat auch etwas damit zu tun, dass Siejahrelang, bis ins letzte Jahr hinein, hier die Bedarfe unddie Verstärkungsnotwendigkeit ignoriert haben. Jetztgibt es große Schwierigkeiten, die neuen Gelder wirklichin die Region zu bekommen.Wir lassen Ihr Zehn-Punkte-Programm, das Sie ange-sprochen haben, analysieren; ich bin gespannt. Sie habenes im Frühjahr aus der Taufe gehoben. Ich vermute, dasses überwiegend aus Dingen besteht, die schon längst inden Programmen enthalten sind. Ich vermute, dass wirdort altbekannte Projekte und Programme wiederfinden,übrigens mit einer Degression im Jahr 2013. Ich ver-mute, da ist viel heiße Luft und wenig Hilfe. Nochschlimmer ist die Situation im Bereich Kindertages-pflege. Im Haushalt 2013 ist für diesen Bereich keineVerstärkung vorgesehen. Im Gegenteil: Es ist ein klarerRückgang der finanziellen Mittel zu verzeichnen. Ein-schließlich der von Ihnen vorgesehenen ESF-Mittel sinktdie Förderung 2013 um 2,5 Millionen Euro, das sind23 Prozent weniger als in diesem Jahr.Noch krasser ist die Situation in den Betriebskitas.Hier wollen Sie im Jahre 2013 die ESF-Mittel sogarvollständig kappen, das heißt, es stehen 10 MillionenEuro weniger zur Verfügung als 2012, und das bei einemProjekt, das Sie selber so sehr loben. Von einer Familien-ministerin hätte man erwarten können, dass es ein akti-ves Management zu diesem vielleicht wichtigsten Pro-jekt in dieser Legislaturperiode, dem Kitaausbau, gibt.Stattdessen haben Sie ignoriert, gezögert, Verantwortungverdrängt. Wirkliche Interessensvertretung sähe andersaus.
Lassen Sie mich ein paar Worte zu dem von Ihnen ge-äußerten Eigenlob in Bezug auf Ihr Engagement im Be-reich Bundesfreiwilligendienst sagen. Ich erwarte, dassSie im Zuge dieser Haushaltsberatungen offen und klarauf Hinweise auf Fehlentwicklungen eingehen und dazuRede und Antwort stehen. Ich will klar sagen, was ichmeine, nämlich die beim Bundesfreiwilligendienst inkeiner Weise gewährleistete Arbeitsmarktneutralität.Tatsache ist, dass in den neuen Bundesländern der Anteilder über 27-Jährigen, die am Bundesfreiwilligendienstteilnehmen, weit über 25 Prozent liegt, in Thüringen bei79 Prozent der Teilnehmer. Die Frage, warum der Bun-desfreiwilligendienst an den Jugendlichen vorbeigeht,
ist berechtigt, aber es geht nicht nur darum. Man musssich doch auch die Frage stellen, ob dieser hohe Anteilnicht etwas mit der besonderen Situation von Langzeit-arbeitslosen in diesen Regionen zu tun hat.Ihnen müssen doch beispielsweise Informationendarüber vorliegen, dass es bereits kommerzielle Arbeits-vermittler gibt, die gegen Entgelt Plätze im Bundesfrei-willigendienst vermitteln. Das muss doch in Ihrem Hausbekannt sein. Mir liegt eine Information des JobcentersOsnabrück vor, dass beispielsweise ein Arbeitsloser mitSanktionen belegt wird, wenn er den Vorgaben einesBufdi-Vertrags nicht in vollem Umfang nachkommt, soals handele es sich um einen Job im ersten Arbeitsmarkt.Das müssen Sie doch wissen, Frau Ministerin.
Wir fordern eine klare Analyse, und ich hoffe, Sie gebensie uns.
Sie haben kein einziges Wort verloren – wenn ich esnicht überhört habe, aber ich glaube, es war so – zumThema Kampf gegen den Rechtsextremismus.
Ich will noch einmal daran erinnern, dass wir – die Frak-tionen der CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke, Bünd-nis 90/Die Grünen – im Dezember in großer Überein-stimmung einen Entschließungsantrag eingebrachthaben; lassen wir die 2 Millionen Euro beiseite, die Sievom Parlament aufgedrückt bekommen haben, um beidiesem Titel nicht zu kürzen. Ich will zwei Sätze darauszitieren:Wir sind entschlossen, sowohl die politisch-gesell-schaftliche Auseinandersetzung mit Rechtsextremis-ten und ihren Verbündeten vertieft fortzusetzen …Weiter heißt es dann:Wir müssen gerade jetzt alle demokratischen Grup-pen stärken, die sich gegen Rechtsextremismus,Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus engagie-ren. Wir werden prüfen, wo dem Hindernisse entge-genstehen.Dass Sie keine Verpflichtungsermächtigung eingestellthaben und daher 2014 und in den Folgejahren ein Ab-bruch droht,
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Rolf Schwanitz
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ist das größte Hindernis. Im Zuge der parlamentarischenBeratungen dieses Haushalts müssen wir das beseitigen.
Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, dass wir dieGemeinsamkeit, die wir im Dezember hatten, bei diesemThema abermals finden – es gibt genügend andereThemen, über die wir uns streiten können –, und lassenSie uns eine Verpflichtungsermächtigung einstellen, dieeinen möglichen Abbruch verhindert. Das sind wir die-sem Thema schuldig.Herzlichen Dank.
Miriam Gruß hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir beraten zwar heute über den Einzelplan 17,das heißt, den konkreten Einzelplan für das nächste Jahr,aber lassen Sie mich die Debatte in einen größeren Zu-sammenhang einordnen. Worüber reden wir? Wir redenüber die Situation von Familien in Deutschland im Jahr2012. Vergleichen wir einmal die Situation von Familienim Jahr 2012 mit der Situation von Familien unter rot-grüner Regierung. Wie steht Deutschland da? Dank die-ser schwarz-gelben Regierung haben wir die niedrigsteArbeitslosenquote seit 21 Jahren. Das ist die Situationvon Familien im Jahr 2012.
Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosenquote inganz Europa. Auch das ist die Situation junger Men-schen in Deutschland im Jahr 2012 unter Schwarz-Gelb.
Es ist mitnichten der Fall, dass wir in den letzten dreiJahren untätig gewesen wären. Wir haben viel auf denWeg gebracht, was die Situation von Familien nicht nurverbessert, sondern in Zukunft stabil halten wird.Ich will etwas zum Kitaausbau sagen. Ja, es ist wahr,die 580 Millionen Euro kamen im Zusammenhang mitden Verhandlungen zum Fiskalpakt. Wenn es aber nurbei den 4 Milliarden Euro geblieben wäre, die wir alsBund in den Jahren, in denen sich Deutschland in einerder ärgsten Finanzkrisen befand, die es in den letztenJahren erlebt hat, für den Kitaausbau, für den der Bundgar nicht zuständig ist, ausgeben, dann wäre auch daseine starke Summe gewesen, die wir den Familien vomBund zur Verfügung gestellt hätten.
Mitnichten ist es ein Kinkerlitzchen, wie Sie es teil-weise bezeichnen, was wir für die sprachliche Förderungmachen. Dafür sind wir eigentlich auch nicht zuständig,sondern die Länder. Dazu gehören auch Länder, in denenSie – man muss sagen: leider – regieren. Wie viele jungeMenschenkinder erreichen wir damit? Wir erreichen mitder „Offensive Frühe Chancen“ 360 000 Kinder. Auchdas ist eine starke Summe, mit der die Situation von klei-nen Kindern in Deutschland verbessert wird. Wir, dieschwarz-gelbe Bundesregierung, geben ihnen Zukunft.
Stichwort „Familienhebammen“. Sie bemängelten,dass keine Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsminis-ter zustande gekommen ist. Darf ich noch einmal daranerinnern: Wie viele Jahre war Ulla Schmidt, wohl-gemerkt von der SPD, Gesundheitsministerin, und wieviele Initiativen zu Familienhebammen wurden in denelf Jahren zuwege gebracht? Null. Zero. Gar nichts.Nada. Von Ihnen kam gar nichts. Deswegen lassen wiruns von Ihnen nichts vorwerfen. Wir arbeiten bei diesemThema zwar nicht mit dem Gesundheitsminister zusam-men, aber das Familienministerium stellt Geld zurVerfügung. Das ist eine starke Investition. Das lassen wiruns nicht kleinreden.
Ich will noch einmal darauf zurückkommen: Es gibtMenschen in unserem Land, die ungewollt kinderlos ge-blieben sind. Wir haben gesagt, dass wir vonseiten desBundes Mittel für bestimmte Programme zur Verfügungstellen. Die Länder müssen aber dabei mitmachen. FrauDörner, Sie beschweren sich hier, aber ich kenne die Ini-tiative aus Baden-Württemberg nicht, hier mitzumachen.Ich kenne auch nicht die Initiative aus NRW, hier mitzu-machen. Es sind nicht Ihre Länder, die sich hier beteili-gen.
Machen Sie hier kein Schwarzer-Peter-Spiel. Wir stellenMittel von unserer Seite zur Verfügung. Machen Sie mitIhren Ländern mit und stellen sich nicht hier hin und be-haupten, wir würden nichts machen.
Das lasse ich nicht gelten. Das lasse ich nicht zu.Insgesamt befinden wir uns – das will ich zum Ab-schluss sagen – in einer Situation, in der es um genera-tionengerechte Familienpolitik gehen muss. Das heißt,wir müssen darauf achten, wie der Haushalt in einigenJahren aussieht. Wir wollen den Kindern keine Schul-denberge hinterlassen. Darum ist es auch ein starkes Si-gnal für die Familien in Deutschland, dass wir sagen:Wir halten die Vorgaben der Schuldenbremse noch frü-her als vorgeschrieben ein und investieren trotzdem klugin die Familien. Auch das lassen wir uns nicht kleinre-den. Wir stellen einen Haushalt auf, der in die Zukunft
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23153
Miriam Gruß
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gerichtet ist. Deswegen wird mir auch in diesem Zusam-menhang für die Familien in Deutschland nicht bange.
Diana Golze hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Werte Frau Ministerin, wir reden heutenicht nur über den Haushalt des Jahres 2013. Wir redenauch über die letzte Chance der Koalitionsfraktionen,das umzusetzen und in den Haushalt einzustellen, wasSie im Koalitionsvertrag zugesagt und den Menschen inunserem Land versprochen haben. Weil ich nicht weiß,ob sich alle von CDU, CSU und FDP daran erinnern,was sie unterschrieben haben – bei den Balgereien, diesich in den letzten Jahren abgespielt haben, weiß mannicht, ob Sie sich noch daran erinnern wollen –, will ichSie im Rahmen des Familienetats auf einige Versprechenaufmerksam machen und Sie daran erinnern.Familienbewusste Arbeitszeit – ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag –:Wir wollen familien- und kinderfreundliche Rah-menbedingungen durch eine familienfreundlicheKultur und Infrastruktur sowie eine familienge-rechte Arbeitswelt schaffen, die eine Entscheidungfür Kinder durch echte Wahlfreiheit ermöglicht.Familienbewusste Arbeitszeit? Bis auf zum Scheiternverurteilte Versuche mit Appellcharakter, die Unterneh-men zu irgendwelchen Selbstverpflichtungen zu animie-ren, ist mir hier nichts bekannt. Eine echte Wahlfreiheitwollen Sie ja anscheinend mit dem Betreuungsgeld her-stellen. Da kann ich nur sagen: Für mich sieht Wahlfrei-heit anders aus. Wir können uns morgen in der Anhö-rung darüber verständigen, wie man Wahlfreiheittatsächlich herstellt.
– Es geht um echte Wahlfreiheit. Sie können sich schonnicht mehr daran erinnern.
Wir werden uns morgen in der Anhörung damit befas-sen, ob das Betreuungsgeld wirklich dazu führt, dass hierechte Wahlfreiheit für Familien hergestellt wird, um sichfür Kinder entscheiden zu können.Die Ministerin hat eben eine sehr wichtige Zahl ge-nannt. Für das Jahr 2013 sind für das Betreuungsgeld300 Millionen Euro eingestellt. Bitte merken Sie sich dieZahl; wir brauchen sie gleich noch einmal.Ich komme jetzt nämlich zum Elterngeld. Ich zitierewieder:Wir wollen eine Weiterentwicklung, Flexibilitätund Entbürokratisierung des Elterngeldes … DiePartnermonate sollen gestärkt und ein Teileltern-geld bis zu 28 Monaten eingeführt werden.
Wenn ich nachschaue, dann sehe ich, dass von einerAufstockung der Vätermonate gar keine Rede mehr ist.Deshalb ist in diesem Haushalt auch nichts dazu zu fin-den. Stattdessen wurde der Begünstigtenkreis durch dieAnrechnung auf Hartz-IV-Leistungen sogar noch ver-kleinert. Das sind Einsparungen in Höhe von 300 Millio-nen Euro. Man erinnere sich jetzt! Gerade bei den Fami-lien, die das Geld am dringendsten bräuchten, wurde esgespart, um es jetzt für ein Betreuungsgeld auszugeben,das höchstwahrscheinlich in ganz andere Hände gelan-gen wird.
Ich kann dem nichts Positives abgewinnen.
Nächstes Beispiel: der Unterhaltsvorschuss. Ich zi-tiere wieder:Wir werden das Unterhaltsvorschussgesetz dahin-gehend ändern, dass der Unterhaltsvorschuss entbü-rokratisiert und bis zur Vollendung des vierzehntenLebensjahres eines Kindes gewährt wird.Auch hier ist nichts passiert. Nach wie vor wird dieserVorschuss nur bis zur Vollendung des 12. Lebensjahresgezahlt und auf 72 Monate begrenzt. Was aber tue ich,wenn mein Kind 13 Jahre alt ist und mein ehemaligerGatte bzw. Lebenspartner nicht mehr bezahlt? Was ist,wenn er auch nach den 72 Monaten noch immer nichtzahlt? Damit habe ich noch kein Schulbuch und keineJacke für mein Kind gekauft. Hier besteht also nach wievor dringender Handlungsbedarf.
Die Liste lässt sich leider fortsetzen: Für die Alleiner-ziehenden haben Sie im Koalitionsvertrag ein Maßnah-menpaket versprochen. Auf dieses Paket warten die Al-leinerziehenden leider noch immer, dabei sind gerade siebesonders von Armut betroffen und besonders auf dieVereinbarkeit von Familie und Beruf angewiesen, zumBeispiel durch die Schaffung von Kitaplätzen. Deshalbmöchte ich auf dieses Thema auch noch einmal zu spre-chen kommen.Die Mittel für den Kitaausbau sind zu ungefähr90 Prozent vergeben, aber es fehlen nach wie vor160 000 Plätze. Ich frage Sie, Frau Ministerin: WelcheLänder sind denn noch im Energiesparmodus? Ich habeschon mehrfach schriftliche Anfragen dazu gestellt, aberich bekomme von Ihrem Ministerium keine Antwortdazu.
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Diana Golze
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Die zusätzlichen Mittel in Höhe von 580 MillionenEuro – das ist schon angesprochen worden – waren nichtder Einsicht geschuldet, dass mehr Mittel des Bundesgebraucht werden, um die Plätze zu schaffen, sondern esging darum, den Ländern den Fiskalpakt und die Zustim-mung zum Fiskalpakt schmackhaft zu machen – Kita-plätzchen sozusagen. Das ist aber nicht die Lösung desProblems, dass wir hier nach wie vor nicht genug Plätzehaben.Das Zehn-Punkte-Programm, das Sie angesprochenhaben, Frau Ministerin, erinnert mehr an einen Stich-punktzettel. Wo ist denn die konkrete Umsetzung? Wosind denn zum Beispiel die Maßnahmen zur Absiche-rung der Kinderbetreuung durch eine ausreichende An-zahl an qualifiziertem Personal? Im Sommer sind tolleVorschläge dazu durch die Reihen gegangen: Mankönnte ja die Schlecker-Verkäuferinnen qualifizieren,man könnte ja Langzeiterwerbslose weiterbilden.
Frau Ministerin, Sie sagen hier in diesem Zusammen-hang, der Bund habe alles ihm Mögliche getan. Da wirdmir angst und bange.
Einen letzten Punkt möchte ich noch ganz kurz an-sprechen. Es geht um die Kinderarmut. Das Wort kommtim Koalitionsvertrag einmal vor. Ich kann hier keineVerbesserung erkennen. Der Kinderzuschlag ist nicht er-höht worden. Das Verfassungsgericht hat zwar festge-stellt, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind, dochnach wie vor ist der Kinderregelsatz nicht bedarfsgerechtberechnet worden.Ich sage hier: Kinder sind auch keine kleinen Er-werbslosen. Sie haben im SGB II und damit im Etat derArbeitsministerin nichts zu suchen, sondern in IhremMinisterium müssen Mittel für sie bereitgestellt werden.Es wäre Ihre Aufgabe, sich für die Rechte der Kindereinzusetzen, aber Sie nehmen diese Aufgabe nicht an.
Deshalb kann ich nur zusammenfassen: Auch mit die-sem Haushalt wird deutlich: Versprochen – gebrochen.Es wird Zeit für das Ende der schwarz-gelben Regie-rungskoalition.Danke schön.
Der Kollege Ulrich Schneider hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Einzelplan 17 – Familie, Senioren,Frauen und Jugend – ist ein guter Spiegel des rückwärts-gewandten Gesellschaftsbildes der Koalition insgesamtund insbesondere von Ihnen, Frau Ministerin Schröder.
Es mangelt an innovativen Projekten für junge Men-schen und Familien. Anstatt den Bundesfreiwilligen-dienst – Sie haben ihn vorhin erwähnt – modern auszu-richten, versuchen Sie, den Zivildienst unter anderemNamen zu bewahren, und Frauen wollen Sie mit150 Euro Betreuungsgeld in der Tasche an den Herd, inschlecht bezahlte Jobs und in die Altersarmut schicken.Gut, dass dies der letzte Einzelplan 17 ist, der von Ihnen,Frau Schröder, aufgestellt wird.
Ich will drei Punkte herausgreifen, um dies zu ver-deutlichen:Punkt eins: die Jugendarbeitslosigkeit. Auf nationalersowie auf europäischer Ebene gibt es derzeit eineGruppe, die besonders von der Politik in den Fokus ge-nommen werden muss. Das sind die jungen Menschen.Mit der weltweit höchsten Jugendarbeitslosenquote insüdeuropäischen Ländern wie Spanien und Griechenlandlaufen wir Gefahr, dass eine ganze Generation in Europaverloren geht. Das wird dramatische Auswirkungen aufalle Gesellschaften in Europa haben. Deshalb müssenwir auch und gerade in Deutschland umsteuern und dieJugend stärken.
Der Kinder- und Jugendplan sollte umfassend aufge-stockt werden; denn er ermöglicht Jugendverbands-arbeit, internationale Jugendbegegnungen und gibt Hil-festellungen für junge Menschen, die ihren Weg in eineigenständiges Leben suchen.Der zweite Punkt ist die Jugendpartizipation. JungeMenschen brauchen Möglichkeiten, sich selbst auszu-probieren, unterschiedliche Wege einzuschlagen undsich selbst zu organisieren. Die Bundesregierung gehtmit ihrem Ansatz der eigenständigen Jugendpolitik nichtweit genug. Die Umsetzung einer umfassenden Jugend-beteiligung muss endlich, auch vor dem Hintergrund desdemografischen Wandels, in den Vordergrund gestelltwerden; denn Jugendpolitik ohne Jugendliche zu ma-chen, wie Sie es tun, das ist wie Apfelkuchen ohne Äpfelzu backen – und ein solcher Kuchen schmeckt uns nicht.
Dritter Punkt: die Engagementpolitik. Für uns ist nachwie vor nicht ersichtlich, nach welcher Gesamtstrategiedie Bundesregierung bürgerschaftliches Engagementfördert. Die einzelnen Programme laufen häufig parallel,mit ähnlicher oder gleicher Ausrichtung. Es ist unklar,welche Kriterien der Förderung zugrunde liegen undwelche Zielsetzung mit einem Programm verfolgt wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23155
Ulrich Schneider
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Hier ein Programm, dort ein Projektchen: Eine Verzah-nung der Einzelprojekte gibt es kaum.Das beste Beispiel hierfür sind aus meiner Sicht dieMehrgenerationenhäuser. Auf der einen Seite fördert dieBundesregierung das Programm „Mehrgenerationenhäu-ser II“, unter anderem bei den Schwerpunkten „freiwilli-ges Engagement“ und „Alter und Pflege“. Auf der ande-ren Seite gibt es aber keinerlei Konzept, wie diesesProgramm mit den örtlichen Pflegestützpunkten, dieebenfalls Engagement und Pflege koordinieren, verzahntwerden kann. Das ist keine Gesamtstrategie. Das istkopflos.
Ein weiteres Beispiel sind die Freiwilligendienste,insbesondere der Bundesfreiwilligendienst. Der vonSchwarz-Gelb überstürzt eingeführte Bundesfreiwilli-gendienst kann seine Herkunft aus dem verpflichtendenZivildienst nicht verleugnen. Wer vertraut denn hier aufden Staat, Frau Ministerin, wie Sie es vorhin gesagt ha-ben? Sie jubeln doch den staatlich organisierten Diensthoch, dem es an Selbstbestimmung fehlt. Der aktuelleHaushaltsentwurf zeigt, dass die Möglichkeiten, denstaatlich gesteuerten Bundesfreiwilligendienst endlich indie Hand freier Träger zu überführen, von der Bundesre-gierung und von Ihnen, Frau Ministerin, nicht genutztwerden. Ganz im Gegenteil: Die Weiterfinanzierung derBildungszentren und die Überlegungen zu deren Umbauund Renovierung führen in die völlig falsche Richtung.Statt die Bildungsgutscheine und die Bildungszentrenendlich abzuschaffen, soll hier weiter investiert werden.Das ist so, als wenn die Bundeswehr all die Kasernen re-novieren und weiterbetreiben würde, die sie im Zusam-menhang mit der Aussetzung der Wehrpflicht schließenwill.
Mit dem Einzelplan 17 tun Sie zu wenig für die Ju-gend, zu wenig für Frauen, zu wenig für ehrenamtlichEngagierte und Freiwilligendienstleistende; aber Sie ste-cken Millionen, 2014 sogar Milliarden in ein ungerech-tes und überflüssiges Betreuungsgeld. Zukunftsge-wandte Haushaltspolitik sieht anders aus. Das werdenwir mit dem Haushalt 2014 zeigen.Danke schön.
Norbert Geis hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich glaube, dass die Leistung der Bundesregie-rung bzw. des Familienministeriums mit der Frau Minis-terin an der Spitze für die Unterstützung der Erziehungs-leistung der Eltern als exzellent bezeichnet werdenmuss. Das gilt zum Beispiel für das Elterngeld. Darankann man nicht herumkritteln. Das Elterngeld ist eineErfolgsgeschichte. Die Einbeziehung der Väter in dieLeistung des Elterngeldes ist natürlich auch eine Er-folgsgeschichte; rund 20 Prozent der Väter nehmen dieseLeistung in Anspruch. Das muss gesagt werden.Den Gedanken, auch die Großeltern einzubeziehen,finde ich exzellent. Wir wissen, dass die Kinder im ers-ten Jahr, wenn Vater und Mutter nicht aus dem Berufsle-ben ausscheiden können, sehr oft bei den Großelternbleiben. Deswegen ist es richtig und auch gerecht, dassauch die Großeltern in die Leistungen des Elterngeldeseinbezogen werden können.
Im zweiten und dritten Lebensjahr der Kinder wirddie Erziehungsleistung der Eltern durch die Kita oderdemnächst auch durch das Betreuungsgeld unterstützt.Die Philosophie ist ja, dass hier eine Unterstützung derEltern erfolgt, entweder in Form einer Sachleistung, alsodurch die Kita, oder in Form einer Geldleistung, alsodurch das Betreuungsgeld. Die Diskussion über das Be-treuungsgeld entbehrt einiger Grundsätze. Wir müssendoch davon ausgehen, dass es beim Betreuungsgeld umnichts anderes geht als um eine Unterstützung der Erzie-hungsleistung der Eltern in Form einer Geldleistung. Dieandere Form der Unterstützung wird durch die Kita ge-leistet.Natürlich werden sich die Eltern fragen, warum dieUnterstützung ihrer Erziehungsleistung in Form einerGeldleistung mit 150 Euro so gering ausfällt. Im Ver-gleich dazu ist die Unterstützungsleistung durch dieKita, die wir begrüßen, gewaltig. Hier muss wirklich ge-sagt werden: Von dem, was die Bundesregierung und dieKoalition in dieser Frage geleistet haben, können sichdie Länder wirklich eine Scheibe abschneiden.
Wenn die Anzahl der Kitaplätze jetzt immer nochnicht ausreicht, dann liegt das nicht an der Bundesregie-rung und nicht an der Koalition, sondern an dem Versa-gen der Länder. Ich kann mit Stolz sagen, dass die Bay-ern mir gemeldet haben, dass sie ihr Soll zum 1. August2013 voll erfüllen werden. Das müsste in anderen Län-dern auch endlich einmal der Fall sein.
Der Vorwurf an die Ministerin und an die Bundesregie-rung ist in diesem Fall falsch. Wir müssen ihn ganz ent-schieden zurückweisen.Die SPD und auch die Grünen halten das Betreuungs-geld für verfassungswidrig. Das kann ich überhauptnicht nachvollziehen.
Sie haben einen völlig falschen Ausgangspunkt. Siemüssen davon ausgehen, dass hier eine Unterstützungder Erziehungsleistung in doppelter Form erbracht wird:zum einen in Form einer Sachleistung und zum anderenin Form einer Geldleistung.
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23156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Norbert Geis
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Die Eltern können zwischen Sachleistung und Geldleis-tung wählen. Was soll daran verfassungswidrig sein? Ichkann das beim besten Willen nicht nachvollziehen. Dasist einfach ein Hirngespinst. Das müssen wir entschiedenzurückweisen.
Dies gilt auch für die Überlegung, das Betreuungs-geld sei eine Sonderleistung. Was ist daran eine Sonder-leistung? Genauso gut könnte ich sagen, dass die Kitaeine Sonderleistung ist.
Es handelt sich um eine Leistung des Staates als Unter-stützung für die Erziehungsarbeit der Eltern – um nichtsanderes geht es –, und diese Leistung wird in zwei For-men angeboten. Die Eltern können wählen, sie habenWahlfreiheit. Was ist daran verfassungswidrig? Manmuss schon weit ausholen, um zu diesem Ergebnis zukommen.
– Ja, ja, das kommt daher, dass Sie es nicht richtig durch-dacht haben.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur ungewollten Kin-derlosigkeit sagen. Frau Ministerin, man kann über dieTechnisierung der Fortpflanzung ethisch unterschiedli-cher Meinung sein, aber in diesem Zusammenhang er-gibt sich ein weiteres Problem: Wir erbringen zu Recht,auch angesichts der Geburtenrate, Leistungen bei unge-wollter Kinderlosigkeit, aber wir müssen bedenken, dasses in Deutschland nach wie vor – ich kann Ihnen dasnicht ersparen – 120 000 bis 130 000 Abtreibungen imJahr gibt. Das ist ein Widerspruch, dem wir uns stellenmüssen. Wir müssen uns überlegen, wie wir das in Zu-kunft verbessern können.Wir haben im Jahr 2011 663 000 Geburten gehabt. ImVerhältnis dazu haben aber viel zu viele Abtreibungen,Tötungen von Kindern, stattgefunden. Das geht so nicht!
– Sie können mir das nicht ausreden.
Es ist genau so, wie ich es sage. Sie können es nur nichtertragen.
Aber Sie müssen es ertragen. Das ist der Skandal, unddem müssen wir uns stellen.
Deswegen, verehrte Damen und Herren, verehrteMinisterin, müssen wir uns wieder einmal Gedanken da-rüber machen, ob wir nicht das alte Instrument der Bun-desstiftung „Mutter und Kind“, gegründet 1993, wiederhervorholen. Wir haben diese Stiftung jährlich mit92 Millionen Euro bestückt, und das seit 20 Jahren. Ichmeine, man müsste sich einmal Gedanken darüber ma-chen, ob man die Mittel für die Bundesstiftung „Mutterund Kind“ nicht verstärkt. Ich glaube, dass der Bedarfvorhanden ist, gerade auch angesichts der Abtreibungs-zahlen.
Noch ein Wort zu dem Bundesprogramm „Frühe Hil-fen“. Ich halte es für sehr wichtig, Signale aufzunehmen:Wo werden Kinder misshandelt? Wo bestehen Sorgen,dass Kinder nicht gut heranwachsen oder dass die Ge-sundheit von Kindern gefährdet ist? Den Einsatz dieserfrühen Hilfen halte ich für sehr wichtig. Dies ist natür-lich eine Sache, bei der die Länder mit herangezogenwerden müssen. Wir sind ein föderaler Staat, HerrSchwanitz. Da teilen sich die Aufgaben zwischen Bund,Ländern und Gemeinden auf.
Bayern hat bereits sehr früh für diese frühen Hilfen ge-sorgt. Es gibt das Instrument KoKi, das sehr bekannt istund sehr viel Hilfe leistet.
Zum Schluss noch ein Wort zur Jugendpolitik. Diesist schon erwähnt worden. Wir sind in einer exzellentenSituation: Wir haben eine Arbeitslosigkeit von 5 Pro-zent. In Bayern sind es nur 2,5 Prozent. Wir haben eineexzellente Situation in den Universitäten. Wir haben2,2 Millionen Studierende in den Universitäten. Auchdas haben wir nie zuvor gehabt. Aber wir müssen trotz-dem darauf achten, dass Jugendliche aus sozial schwä-cheren Familien und aus Familien mit Migrationshinter-grund nicht abgehängt werden. Wir brauchen angesichtsder Tatsache, dass wir eine so geringe Geburtenquotehaben, alle Jugendlichen. Wir dürfen nicht zulassen, dassirgendein Jugendlicher, ohne dass wir nicht alle Anstren-gungen unternehmen, außen vor bleibt und dass er kei-nen vernünftigen Beruf ergreifen kann. Das muss unsereAufgabe auch für die Zukunft sein.Danke schön.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die KolleginCaren Marks.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23157
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das warmal wieder
eine legendäre Geis-Vorstellung. Mit Herrn Geis geht esmit Volldampf zurück in die familienpolitische Vergan-genheit. Genau das wollen die Menschen in diesem Landnicht; das sage ich Ihnen.
Die Bundeskanzlerin hat in den letzten Monaten ei-nen sogenannten Bürgerdialog durchgeführt mit demZiel, über Deutschlands Zukunft zu diskutieren. Dabeihat sie sicherlich oft gehört, wo Familien, Frauen, Män-nern, jungen und älteren Menschen der Schuh drücktund was sie von der Bundesregierung erwarten. Dochwas dürfen die Menschen denn nun wirklich von dieserBundesregierung erwarten? Der Lackmustest dafür, wieernst die Kanzlerin und ihr gesamtes Kabinett es mitdem gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch wirklichmeinen, ist auch dieser Bundeshaushalt. Aber eines vor-weg: Ein Gestaltungsanspruch ist in dem vorliegendenHaushaltsentwurf beim besten Willen nicht zu erkennen,und schon gar nicht im Etat des Bundesfamilienministe-riums.
Ob die Kanzlerin und ihre Ministerin den Bürgerin-nen und Bürgern wirklich zugehört haben, darf zu Rechtbezweifelt werden;
denn sonst wäre das Betreuungsgeld niemals in denHaushaltsentwurf gelangt. Schließlich lehnen mehr alszwei Drittel der Menschen das Betreuungsgeld aus wirk-lich guten Gründen ab.
In der Zeit von heute richten viele wirklich namhafteWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen öffent-lichen Appell an die Regierung, auf das unsinnigeBetreuungsgeld zu verzichten. Keiner, wirklich keineraußer Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen vonSchwarz-Gelb, will zurück in die Vergangenheit.
Es ist absurd, wenn nicht gar grotesk, dass das Betreu-ungsgeld im nächsten Jahr im Etat des Bundesfamilien-ministeriums den mit Abstand – ich betone: den mitAbstand – größten aufwachsenden Posten ausmachensoll. Nach wie vor ist und bleibt völlig unklar, wie diesesunsinnige Vorhaben gegenfinanziert werden soll. SagenSie uns doch endlich, Frau Ministerin, welche Leistun-gen für Familien, welche Leistungen für junge und ältereMenschen Sie zu kürzen vorhaben, um diese Fernhalte-prämie zu bezahlen. Legen Sie die Karten endlich aufden Tisch! Die Menschen haben es verdient.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bei so gutwie allen politischen Vorhaben ist diese Familienmi-nisterin als Möchtegerntiger gestartet und als Bettvorle-ger gelandet. Vollmundigen Ankündigungen sind keineTaten gefolgt.
– Da fühlt sich aber einer sehr getroffen.
Wichtige Gesetzesvorhaben liegen auf Eis. Was ist zumBeispiel mit der wirklich großspurig angekündigteneigenständigen Jugendpolitik oder mit der „Allianz fürJugend“? Im Kinder- und Jugendplan ist nicht erkenn-bar, dass die Bundesregierung das Thema Jugendpolitikernst nimmt. Die Verbände brauchen definitiv mehrGeld, als eingeplant ist. Ihnen fehlen beispielsweise dieMittel, die sie brauchen, um die Tariferhöhung für ihreBeschäftigten nachzuvollziehen. Eine solide finanzielleAusstattung sieht definitiv anders aus, Frau Ministerin.Ab 2013 spitzt sich die Lage weiter dramatisch zu.Dem Kinder- und Jugendplan drohen herbe Einschnitte.Die derzeit noch vorhandenen Mittel aus dem Europäi-schen Sozialfonds brechen in den kommenden Jahrenweg. Wenn die Bundesregierung nicht schnell gegen-steuert – das ist allerdings nicht in Sicht –, ist die wich-tige Infrastruktur für junge Menschen gefährdet. Deswe-gen, Frau Schröder, appelliere ich und appelliert diegesamte SPD-Fraktion an Sie: Der Kinder- und Jugend-plan bildet als Förderinstrument das Rückgrat derJugendverbandsarbeit in Deutschland. Geben Sie dieserwirklich wichtigen Arbeit endlich eine Perspektive! Las-sen Sie die Jugendverbände, die tagtäglich das gesell-schaftliche Engagement von jungen Menschen fördern,nicht länger im Regen stehen!
Auch ansonsten gab es nur große Ankündigungen,zum Beispiel beim Unterhaltsvorschuss und beim Kin-derzuschlag; bis heute ist hier aber nichts passiert. BeideInstrumente unterstützen insbesondere Alleinerziehendeund Geringverdienende mit Kindern. Auch diesen Men-schen haben Sie, Frau Ministerin, viel versprochen. AberSie haben kein Versprechen gehalten.
Nun zur Gleichstellungspolitik.
Seit Januar 2010 liegt der Ministerin das Sachverständi-gengutachten vor. Seit 2011 gibt es den Ersten Gleich-
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Caren Marks
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stellungsbericht des Bundesministeriums für Familie,Senioren, Frauen und Jugend. Was ist mit den vielenwirklich guten Empfehlungen passiert? Nichts.
Gleichstellungspolitik findet bei dieser Bundesregie-rung, findet bei Ihnen, Frau Schröder, nicht statt.
Diese Bundesregierung lässt die Frauen im Stich.Beim Thema Entgeltgleichheit wird das besonders deut-lich. Keinerlei gesetzliche Initiativen sind in Sicht. ReineShowveranstaltungen sind geplant, alles nur für dieOptik. So, meine Kolleginnen und Kollegen vonSchwarz-Gelb, wird Lohngleichheit für Frauen undMänner niemals herzustellen sein; das sage ich Ihnen.
Wir alle wissen: Eine Schwalbe macht noch keinenSommer – und eine Bundeskanzlerin noch keine Gleich-stellungspolitik.
Auch Frau Merkel kämpft nicht für die Gleichstellungvon Frauen und Männern. Sie kämpft lediglich für ihrenpersönlichen Machterhalt. So lehnt sie zum Beispiel eineverbindliche gesetzliche Quote für Frauen in Aufsichts-räten und Vorständen ab.
Frau Schröder, Sie doktern seit Jahren an einer merkwür-digen Flexi-Quote herum, doch selbst diese findet in deneigenen Reihen keine ausreichende Unterstützung, erstrecht nicht von der Kanzlerin,
die sich auch bei diesem Thema wegduckt.Die SPD hingegen hat Lösungen parat: einen Gesetz-entwurf für eine Quotenregelung und einen für die Her-stellung von Entgeltgleichheit. Beide sind bereits in derparlamentarischen Beratung. Meine Kolleginnen undKollegen von der Regierungskoalition, Sie müssen nurzustimmen. Dann kommen wir gleichstellungspolitischvoran. Wenn wir generell vorankommen wollen, dannzukünftig bitte ohne Haushaltsentwürfe von Schwarz-Gelb.Vielen Dank.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ichdie Haushaltsdebatte zum Einzelplan 17 verfolge, kannich schon verstehen, dass sich die Opposition darüber är-gert, was wir tatsächlich schon alles auf den Weg ge-bracht haben.
Es ist eine eindrucksvolle Bilanz, die sich in Zeitenknapper Haushaltsmittel meiner Ansicht nach durchaussehen lassen kann. Ich darf kurz noch einmal rekapitulie-ren: Stichworte sind Kinderschutz und Familienhebam-men, Hilfe für ehemalige Heimkinder in West und Ost,die Leistungen zur Unterstützung bei ungewollter Kin-derlosigkeit. Ganz wichtig nach meinem Dafürhaltensind die Investitionen in das bundesweite Service-programm „Anschwung für frühe Chancen“ mit4 000 Schwerpunktkitas, um Sprache und Integration zufördern. Das sind Maßnahmen, die ein modernes Fami-lienbild zeichnen und eine Gesellschaft auf den Wegdahin bringen.Die Jugendpolitik zum Beispiel haben wir auch imZusammenhang mit dem Zivildienst zu betrachten. Dasist meiner Ansicht nach heute noch gar nicht berücksich-tigt worden. Wir haben den Zivildienst umgebaut. Vieledachten, das sei das Ende des Abendlandes. Tatsächlichist es ein Erfolgsmodell.
Durch den Umbau ist das bürgerschaftliche Engage-ment in dieser Gesellschaft gestärkt worden. Das giltnicht nur für junge Männer, die den Wehrdienst verwei-gern, sondern eben auch für junge Frauen. Damit ist erzu einer Initiative für eine lebendige Gesellschaft gewor-den. Das wird hier gerne verschwiegen. Ich verstehe,warum; denn es ist ein Erfolgsmodell, das Schwarz-Gelbhier vorzuzeigen hat.
Wir gehen aber weiter. Die familienpolitischen Leis-tungen werden evaluiert. Wir als FDP haben das immereingefordert. Jetzt liegt eine erste Akzeptanzanalyse vor.Dadurch wird uns deutlich, was den Familien wichtig ist,was sie tatsächlich als Leistungen erkennen und zuschätzen wissen. Das Elterngeld ist ein Erfolgsmodell.Gerade auch die Tatsache, dass sich immer mehr Väterin den ersten Monaten um ihre Kinder kümmern, ist eingutes Zeichen für eine moderne Gesellschaft.Wir fördern damit auch den frühen Wiedereinstiegvon Eltern, insbesondere der Mütter, in den Berufspro-zess, und dies aus einem sehr guten Grund. Es gehtdarum, aufzuzeigen, dass das Aufziehen von Kindernnicht bedeutet, dass man aus dem Beruf herausgeht unddamit keine Altersvorsorge aufbauen kann, sondern dassbeides zusammen möglich wird und insbesondere dieAltersversorgung für Frauen eine Selbstverständlichkeitwird. Das wird beim Thema Elterngeld gerne vergessen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23159
Sibylle Laurischk
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Wir haben bei der Akzeptanzanalyse auch feststellenmüssen, dass das Ehegattensplitting nicht so sehr ge-schätzt wird wie beispielsweise die Mitversicherung derKinder in der gesetzlichen Krankenkasse. Die Familiensehen die Leistungen durchaus unterschiedlich. So kannman durchaus darüber nachdenken, inwieweit etwa einFamiliensplitting eine Alternative ist, um Kinder in derFamilie stärker zu fördern.In diesem Zusammenhang sehe ich auch den Unter-haltsvorschuss. Wir sind hier im Gesetzgebungsverfah-ren. Wenn Sie von der Opposition die Initiative vermis-sen, dann bin ich zuversichtlich, dass Sie, wenn Sie inden Landesregierungen bei der Mitfinanzierung gefor-dert sind, uns gut zur Seite stehen und uns in dieser Ini-tiative unterstützen werden.
Ein weiteres integratives Instrument ist das Hilfetele-fon zur Hilfe für Frauen, die in einer Gewaltsituationsind. Es ist ein Instrument gerade für Frauen, die ausverschiedensten Gründen in der deutschen Sprache nichtsicher sind. Sie werden an diesem Telefon auch in ihrerMuttersprache Hilfe finden. Das ist ein anspruchsvollesProjekt, das umgesetzt wird.Abschließend komme ich zum Thema Frauen in Füh-rungspositionen. Was die Gleichstellung in den Ministe-rien angeht, habe ich etwas festgestellt, von dem Rot-Grün nur träumen konnte: Wir haben mittlerweile in dreiMinisterien – im Bundesjustizministerium, im Bundes-wirtschaftsministerium und im Auswärtigen Amt – be-amtete Staatssekretärinnen. Das trägt eine liberale Hand-schrift.
Die FDP hat mit dem Thema Frauen in Führungsposi-tionen ernst gemacht. Das ist nach meinem Dafürhaltenein gutes Zeichen.
Als letzter Redner zu diesem Einzelplan hat nun der
Kollege Andreas Mattfeldt von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte FrauMinisterin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kolle-gen! Mit einem Blick auf die Opposition kann ich nursagen: „Es ist leicht, ein Werk zu kritisieren. Aber es istschwer, es zu würdigen.“ Das ist ein Zitat eines französi-schen Philosophen, das genau Ihre Haltung trifft, liebeKolleginnen und Kollegen der Opposition. Denn derHaushaltsentwurf und die vorliegenden Fakten sprecheneine andere Sprache, als Sie es uns und den Bürgernheute vorgaukeln wollen.
Die Bilanz, die die Ministerin heute vorgelegt hat, istvorbildlich und kann gewürdigt werden.
Das Familienministerium mit Frau Dr. Schröder ander Spitze hat einen guten und ausgewogenen Entwurfvorgelegt, der eben nicht nur Randgruppen – manchmalhabe ich den Eindruck, Sie kümmern sich nur um Rand-gruppen, während wir die gesamte Menschheit inDeutschland berücksichtigen wollen –,
sondern alle Menschen in den Mittelpunkt des politi-schen Handelns stellt.
Dabei hat man sich – das begrüße ich als Haushältersehr – im Ministerium bei jeder Haushaltsstelle vor al-lem gegenüber der jüngeren Generation verantwortungs-bewusst gezeigt und die im Grundgesetz verankerteSchuldenbremse im Blick gehabt. Denn naturgemäß gibtes gerade im Haushalt des Familienministeriums zahlrei-che zusätzliche Wünsche von der Opposition, aber auchvon der Regierungskoalition, die man auch als Haushäl-ter nur allzu gerne erfüllen möchte. Doch wenn wir alleehrlich zu uns selbst sind, so wissen wir doch nur allzugut, dass wir uns zukünftig nicht mehr alles, was unswünschenswert und sinnvoll erscheint, werden leistenkönnen.
Gerade die Verschuldungskrise in zahlreichen Euro-Mitgliedstaaten zeigt uns, dass es verantwortungsbe-wusster ist, einmal mehr Ausgabenwünsche abzulehnen,als neue Projekte einzuführen, die man nicht dauerhaftfinanzieren kann.
– Dazu kommen wir gleich. – Doch kommen wir zu denFakten. Während Sie als Opposition uns vorwerfen, eswürde zu stark gekürzt, und die Mittel würden falscheingesetzt, sieht die Wirklichkeit anders aus.
Denn de facto wurde seit der Amtsübernahme von FrauMinisterin Schröder der Etat gerade für familienpoliti-sche Leistungen angehoben.Während der erste Haushalt von Ministerin Schrödervor drei Jahren noch eine Höhe von 6,543 MilliardenEuro aufwies, reden wir in diesem Jahr von einem An-satz in Höhe von 7,127 Milliarden Euro. Das entsprichteiner Aufstockung um über eine halbe Milliarde Euro.
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Andreas Mattfeldt
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Vor diesem Hintergrund kann uns wohl kaum der Vor-wurf gemacht werden, wir würden nicht genügend Mit-tel für Familien, Frauen, Senioren und Jugend bereitstel-len.
Der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politikliegt darin, dass wir bewusst die einzelne Familie in ei-ner häufig finanziell nicht ganz einfachen Zeit, nämlichder Familiengründung, direkt wirtschaftlich stärken. Siehingegen machen sich immer dort stark, wo große Ver-bände oder Sozialinstitute Forderungen nach Mehraus-gaben oder neuen Ausgaben stellen, die nur allzu häufigin unzähligen Personaleinstellungen der Hilfeindustrieenden, von denen die große Mehrheit der Menschen inunserem Land keinen Vorteil hat.
Auch wenn ich als Haushaltspolitiker nicht unbedingt– das ist bekannt – ein Verfechter des Betreuungsgeldesbin, so kann ich Ihre Argumente und vor allen DingenIhre Tonalität gegen die Einführung des Betreuungsgel-des nicht nachvollziehen.
Gerade Sie als Opposition wollen doch immer – IhreHaushaltsanträge des vergangenen Jahres haben das nurallzu sehr verdeutlich – mehr und zusätzliche kostspie-lige Sozialleistungen einführen als nur ein Betreuungs-geld.Apropos Sozialleistungen: Gerade Sie verstehen sichhäufig als verlängerter Arm der Sozialverbände. Viel-leicht sollten Sie sich einmal vor Augen führen, dass dieSozialindustrie in Deutschland – diese Zahl sollten wiruns auf der Zunge zergehen lassen – ungefähr 115 Mil-liarden Euro im Jahr, nahezu ausnahmslos steuerfinan-ziert, umsetzt. Für diese Tatsache trägt ein Großteil IhrerFraktionen, meine Damen und Herren auf den Opposi-tionsbänken, die Verantwortung. Gerade weil ich Angsthabe, Frau Marks, dass wir bei diesen Summen irgend-wann für die wirklich Bedürftigen keine finanziellenSpielräume mehr haben, spreche ich dieses Thema an.Angesichts dieser Dimension sind die Kosten für das Be-treuungsgeld doch sehr überschaubar.
Ich bin enttäuscht, wie Sie diejenigen Eltern geradezudiffamieren und beschimpfen, die ihre unter dreijährigenKinder zu Hause betreuen wollen und nicht in eineKrippe geben. Mit Ihrer Kampfansage und Ihrer Kampa-gne gegen das Betreuungsgeld verunglimpfen Sie Eltern,indem Sie von Herdprämie sprechen und das frauen-feindliche Bild vom Heimchen am Herd bemühen. Beinahezu allen anderen Gegebenheiten wittern Sie überallDiskriminierung. Nein, wie Sie Eltern darstellen, dieeine andere Auffassung als Sie vertreten, ist Diskrimi-nierung pur.
Zu Recht hat Familienministerin Schröder die Gelderzur Umsetzung der Qualifizierungsoffensive von102 Millionen auf 122 Millionen Euro angehoben. Diemit diesen Geldern finanzierte Sprachförderung für un-sere Kleinsten hat sich als äußerst erfolgreich erwiesen.Die Erfahrungen in den geförderten Kindergärten sinddurch die Bank positiv.Vor uns liegen nun die parlamentarischen Beratungenüber den Haushalt 2013. Dabei werde ich mich zusam-men mit den Koalitionsfraktionen dafür einsetzen, dassdie Mittel für das Deutsch-Französische Jugendwerk imHaushalt 2013 erhöht werden. Wir feiern im kommen-den Jahr 50 Jahre Ratifizierung des Élysée-Vertrags, undwir sollten uns bewusst sein, dass seit der Gründung1963 die Mittel für das Jugendwerk nicht erhöht wurden.Als Kind eines Franzosen sage ich, dass gerade diedeutsch-französische Freundschaft der Erfolgsfaktor fürein starkes Europa ist. Deshalb werde ich mich dafürstarkmachen, dass nicht nur wir, sondern auch die Fran-zosen den Beitrag für das Jugendwerk um jeweils 1 Mil-lion Euro anheben.Ich freue mich auf die anstehenden Haushaltsberatun-gen und auf kontroverse Diskussionen. Ich kann Sie alsOpposition genauso wie in den vergangenen Jahren nurdazu auffordern, konstruktiv am Haushalt mitzuarbeiten.Wir sind gerne dazu bereit.Danke.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegennicht vor.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Justiz, Einzelplan 07.Als erster Rednerin erteile ich das Wort der Bundes-justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die CDU/CSU-FDP-Koalition weist nach drei Jah-ren eine überzeugende rechtspolitische Bilanz auf. DieBehauptung, in der Rechtspolitik sei die Koalition in al-len Punkten zerstritten, kann klar mit Fakten widerlegtwerden.
Drei Viertel des Koalitionsvertrags betreffend dieRechtspolitik sind bereits nach drei Jahren umgesetzt.Wir liegen damit voll im Zeitplan.
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Das Bundesministerium der Justiz hat mit dem imVergleich zu allen anderen Ressorts kleinsten Haushalt– dankenswerterweise gibt es einen Aufwuchs – einegute Bilanz bei einer Vielzahl sensibler und rechtspoli-tisch wichtiger Vorhaben vorzuweisen.Wir haben nicht nur Korrekturen der Gesetzgebungfrüherer Regierungen auf den Weg gebracht, sondernauch neue Akzente gesetzt. Elf Jahre nach 9/11 hat eskein Weiter-so bei der Sicherheitsgesetzgebung gegeben.Nicht Verschärfungen waren unsere Messlatte; im Ge-genteil – das TBEG zeigt es –: Wir haben konstruktivgemeinsam für mehr rechtsstaatlich notwendige Korrek-turen und das Auslaufenlassen von Maßnahmen, dienicht mehr gebraucht werden, gerungen und haben nichtpauschal Maßnahmen verlängert oder ein Strafmaß an-gehoben.
Den Rechtsstaat und die Freiheitsrechte der Bürgerin-nen und Bürger haben wir gestärkt. Wir haben den§ 160 a Strafprozessordnung wieder korrigiert und aufein richtiges Maß gebracht, um das Mandantengeheim-nis angemessen zu schützen. Wir haben die Kronzeugen-regelung der Vorgängerregierung auf ein rechtsstaatlichvertretbares Maß reduziert, und wir haben die Pressefrei-heit gestärkt und das Einfallstor für strafrechtliche Er-mittlungen gegen Journalisten wegen des Vorwurfs derBeihilfe zu Straftaten geschlossen.
Wir haben den Rechtsschutz für die Bürgerinnen undBürger gemeinsam ausgebaut. Zehn Jahre lang ist ver-sucht worden, gegen überlange Gerichtsverfahren vorzu-gehen. Uns ist es gemeinsam gelungen, die Rechte derBürger zu stärken, und zwar auf richtige Art und Weise,genauso wie es uns gelungen ist, überschäumende Ten-denzen der Reformen unter Rot-Grün im Verfahrensrechtmit der Änderung im Berufungsrecht zurückzunehmen.Mit der Mediation – das war eine intensive Beratung mitunterschiedlichen Interessen – sind letztendlich die Mög-lichkeiten der Streitbeilegung hervorragend und erfolg-reich ergänzt worden.
Natürlich haben wir nach dem Koalitionsvertrag – dasgehört zu dieser Bilanz – auch im Strafrecht Veränderun-gen vorgenommen. Wir haben den § 113 StGB vorsich-tig geändert
und auch im Jugendgerichtsgesetz Änderungen vorge-nommen. Das haben wir gemeinsam getan. Es gibt un-terschiedliche Schwerpunktsetzungen, wie es in einerKoalition mit drei Partnern selbstverständlich ist. Wirhaben ein Ergebnis vorzuweisen, in dem sich alle wie-derfinden können. Wir haben die klare Marschroute,dass der Rechtsstaat und die Grund- und Freiheitsrechteuns bei dem, was wir gemeinsam machen, prägen.
Natürlich ist für uns der Opferschutz ganz entschei-dend. Um ihn zu verbessern, haben wir ein Gesetzge-bungsverfahren eingeleitet. Die Beratungen dazu sindweit fortgeschritten. Ich sage an dieser Stelle: Ich hoffe,dass wir uns über die Frage der Hemmung der Verjäh-rungsfristen zügig verständigen können; denn es ist einwichtiges gemeinsames Projekt als Ergebnis des rundenTisches, der sich mit dem Missbrauch in Institutionenkirchlicher und anderer Träger befasst hat. Es gab guteErgebnisse.Ich hoffe, dass noch in diesem Jahr die Länder dieausgestreckte Hand des Bundes bei der Einführung desHilfesystems ergreifen; denn wir als Bund sind bereit,50 Millionen Euro auf den Tisch zu legen. Dieses Ange-bot hat der Finanzminister gemacht. Die Einführungmuss aber gemeinsam durch Bund und Länder erfolgen.Ich hoffe, dass wir am Ende der intensiven Gesprächemit den Ländern die Ergebnisse des runden Tisches um-setzen können.Das Bundesministerium der Justiz hat unbürokratischund schnell reagiert, als es um Hilfen für die Opfer unddie Angehörigen der NSU-Mordserie ging. Wir habenunseren Härtefallfonds – der Ansatz beträgt 1 MillionEuro – im Rahmen der dafür geltenden Richtlinien ver-wandt. Wir unterstützen als einziges Ressort sehr tatkräf-tig auch die Beauftragte Frau John, die eine unheimlichengagierte Arbeit leistet. Bis heute sind über 600 000 Euroabgeflossen. Bis zum Jahresende werden wir die 1 MillionEuro für die Opfer dieser Mordserie und der Anschlägeausgegeben haben. Genau dafür haben wir diesen Härte-fallfonds.Ich bedanke mich an dieser Stelle bei denjenigen, dieauch in den letzten Jahren immer dafür eingetreten sind,dass der Härtefallfonds für Opfer extremistischer Tatenin dieser Höhe ausgestattet wurde. Wir alle hoffen, dasswir im nächsten Jahr nicht in diesem Umfang Gelderbrauchen werden.Natürlich beschäftigen uns intensiv die digitale Ent-wicklung, ein veränderter Umgang mit Daten, neue Ge-schäftsmodelle und auch ein anderes Verhalten, was kri-minelle Machenschaften angeht. Es sei in Erinnerunggerufen, dass wir die in der letzten Legislaturperiode ge-troffenen gesetzlichen Sperrregelungen – das hat manuns zu Beginn dieser Legislaturperiode nicht zugetraut –gemeinsam aufgehoben haben. Wir haben im Sinne derVerbraucher Kostenfallen im Internet durch die Einfüh-rung der sogenannten Buttonlösung erfolgreich be-kämpft.Meine Damen und Herren, eines ist doch klar: dassdas Urheberrecht angesichts der digitalen Entwicklungund der unterschiedlichen Möglichkeiten der Nutzungneu justiert werden muss. Dass man das nicht mit einemFederstrich erreichen kann, ist angesichts dieser Heraus-forderung selbstverständlich. Wir haben im Kabinett,wie im Koalitionsvertrag ausdrücklich vereinbart, dieEinführung eines Leistungsschutzrechts für Pressever-lage beschlossen. Wir können das demnächst hier im
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Parlament beraten. Wir werden, gerade was die verwais-ten Werke angeht, aber auch im Hinblick auf einen län-geren Schutz für audiovisuelle Werke, demnächst Ge-setzentwürfe vorlegen.Lassen Sie mich einen Blick auf den Bereich desBGB werfen. Das, was wir in der Rechtspolitik machen,berührt alle Bürgerinnen und Bürger in ihren Lebensbe-reichen. Wir haben mit Blick auf Anreize zu Sanierun-gen zwecks Förderung des Umweltschutzes ein Miet-rechtsänderungsgesetz vorgelegt. Wir haben auch in derschwierigen Frage, wie das Sorgerecht für nichtverheira-tete Eltern ausgerichtet werden muss, einen Kabinettsbe-schluss über einen Gesetzentwurf gefasst, durch den dieRechte der Väter gestärkt werden und mit dem sehr wohlauch die Anliegen der Mütter in den Blick genommenwerden. Nach bisherigen Reaktionen ist ein ganz guterKompromiss gelungen. Natürlich werden wir, auch mitExperten, intensiv darüber beraten.
Das alles kommt aus einem Ministerium, das, wie ge-sagt, im Vergleich zu den Etats der anderen Ministerienden kleinsten Haushalt hat. Ich glaube, das zeigt, mitwelchem Ehrgeiz, mit welcher Ergebnisorientierung,wie effektiv in dieser Koalition gearbeitet wird. An alleBeteiligten richte ich schon heute meinen Dank für dieUnterstützung, für den bisher geleisteten Beitrag zurUmsetzung des Koalitionsvertrages. Ich freue mich aufdie Beratungen über den Haushalt im Einzelnen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war schonstarker Tobak, Frau Ministerin,
sich hier hinzustellen und zu sagen: Wir sind uns in derRechtspolitik so einig, wir arbeiten so toll zusammen. –Ich muss sagen: Respekt vor so einer Vorstellung. IhreWirkung hat nur nicht lange gehalten. Sie hätten nur ein-mal beobachten müssen, wie die Kolleginnen und Kolle-gen aus der CDU/CSU-Fraktion bei dem einen oder an-deren Thema nicht nur betreten nach unten geschaut undjeglichen Applaus verweigert, sondern sogar den Kopfgeschüttelt haben.
Also, ganz so weit kann es mit der Harmonie bei Ihnennicht bestellt sein.Noch beeindruckender fand ich Ihre Aufzählungenvon Erfolgen und Leistungen. Ich möchte einmal einpaar Themen ansprechen, zu denen ich eben nicht so vielgehört habe. Es würde mich schon einmal interessieren,wie es da weitergeht. Frau Ministerin, Sie haben insbe-sondere zu Zeiten, als Sie in der Opposition waren, im-mer lauthals erklärt, wie sehr Sie sich für die Gleichstel-lung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Eheeinsetzen wollen, dass es da vorangehen muss. Dazuhabe ich heute kein Wort gehört. Ich kann mir vorstellen,dass Ihnen dieses Thema ziemlich peinlich ist. Es wirdnämlich Woche für Woche geklagt, und vom Bundesver-fassungsgericht bekommen die Kläger recht – Woche fürWoche. Sie ersparen es den Betroffenen nicht, jedes Malden Weg zum Verfassungsgericht gehen zu müssen.
Ich kann nur sagen: Lassen Sie den Worten aus Oppo-sitionszeiten endlich Taten folgen. Lassen Sie dieseGleichstellung endlich Wirklichkeit werden. Unsere Un-terstützung in dieser Frage hätten Sie. Aber ich weiß,dass es mit der Harmonie innerhalb der Koalition in die-ser Frage nicht so weit her ist.
Gegen die Hardliner konnten Sie sich bisher nicht durch-setzen.Ich will ein Thema ansprechen, das Sie nur kurz ge-streift haben: Das ist die Neuregelung des Sorgerechtsbei nichtverheirateten Eltern. Das Urteil liegt seit fastzwei Jahren vor, in dem uns das Verfassungsgericht auf-gibt, das Sorgerecht neu zu regeln. Ich sage Ihnen ganzklar: Dieser Entwurf, den Sie eben so gelobt haben, istabsolut untauglich, und ich will Ihnen auch sagen,wieso: Das Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Eltern wirdweiter betrieben. Sie schlagen vor, dass der Vater, wenner das Sorgerecht will, einen Antrag stellen muss. Wenndie Mutter dies nicht will, muss sie widersprechen. An-trag und Widerspruch werden also in dem Gesetz gere-gelt. Der Mutter wird auch noch aufgegeben, innerhalbvon sechs Wochen zu widersprechen. Wenn sie das nichtrechtzeitig oder nicht begründet genug macht – das istdas Unglaubliche an diesem Entwurf –, dann kann dasFamiliengericht nach Aktenlage, ohne Vater und Muttereinmal gesehen zu haben, über das Sorgerecht entschei-den. Wie kann man auf so eine Idee und auf so einenVorschlag kommen, eine Entscheidung über das Sorge-recht nach Aktenlage treffen zu lassen?
Alle Experten sagen Ihnen das. Deswegen: Treten Siediesen Entwurf in die Tonne! So etwas kann man nichtmachen. Sie haben von dem Recht der Väter geredet,und Sie haben vom Recht der Mütter geredet. Aber daswiderspricht dem Recht der Kinder. Das geht am Kin-deswohl absolut vorbei.
Lassen Sie uns über unseren Vorschlag reden. Der istnämlich ausgewogen. Er besagt: Wenn Vater und Mutter
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Christine Lambrecht
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sich trotz Beratung durch das Jugendamt und trotz Un-terstützung nicht einigen können, erfolgt automatisch einAntrag auf Entscheidung an das Familiengericht. Daswäre der richtige Weg, aber ganz bestimmt nicht eineEntscheidung nach Aktenlage.Sie haben den sexuellen Missbrauch von Kindern undeinen Entwurf, der angeblich die Verjährungsvorschrif-ten regeln soll, angesprochen, aber Sie haben kein Wortdarüber verloren, dass Sie keine Vorschläge dafür haben,wie im Bereich des Strafrechts an die Verjährungsvor-schriften heranzugehen ist. Wenn der runde Tisch eindeutliches Ergebnis hatte, dann war es das, dass die Op-fer die Verjährungsfristen im strafrechtlichen Bereich– zu Recht – für viel zu kurz halten.Diese Menschen haben ein Trauma erlitten, sie habenUnglaubliches durchgemacht. Sie können nicht inner-halb kurzer Fristen zum Gericht gehen und ihre Peinigeranzeigen. Deswegen müssen wir ihnen mehr Zeit geben.Deswegen muss da mehr Spielraum sein. Und deswegenkann ich Sie nur auffordern, endlich diesen Widerstandaufzugeben und mit uns – von uns liegt ein Vorschlagauf dem Tisch – über die Verlängerung der Verjährungs-fristen zu reden. Es wird Zeit; die Opfer haben das ver-dient.
Ich möchte noch ein Thema ansprechen, zu dem ichvon Ihnen als Ministerin nichts gehört habe – auch vonder Möchtegern-Datenschutzpartei war dazu nicht so argviel zu hören –: das Melderecht. Hier hatten Sie einenVorschlag nicht nur unterstützt, sondern sogar mitbetrie-ben, bei dem die datenschutzfreundliche Einwilligungs-lösung bei der Weitergabe von Daten mal schnell durcheine inakzeptable Widerspruchslösung ausgetauschtwurde. Das ist völlig inakzeptabel, und es ist zulastender Bürgerinnen und Bürger.
Kurz nachdem das Ganze bekannt wurde, ließ uns dieKanzlerin über ihren Sprecher Seibert erklären, manhoffe, dass an diesem Gesetzentwurf noch etwas geän-dert werde. Da hatte es die zweite und die dritte Lesungschon gegeben, und die Kanzlerin hofft, dass noch etwasgeändert wird. Ich frage: Wo? Im Bundesrat? Im Ver-mittlungsausschuss?
Ich kann Ihnen garantieren, dass wir kommen. Hier kön-nen Sie sich auf die SPD verlassen. Das wird auf jedenFall geändert.
Das, was Sie verbockt haben, werden wir im Bundesratin jedem Fall korrigieren.Ein Thema möchte ich auf jeden Fall noch anspre-chen, und das ist das Thema Transparenz. Kein Wortzum Thema Korruptionsbekämpfung, kein Wort zumThema Lobbyistenregister, und damit meine ich nichteine Liste von all den Unternehmen, die Sie von der FDPunterstützen. Wir haben ja in diesem Zusammenhangüber einen Glücksspielautomaten-Hersteller in den letz-ten Tagen wieder etwas erfahren.Es geht darum, durch mehr Transparenz Akzeptanzfür politische Entscheidungen zu bekommen. Es ist einuntragbarer Zustand, dass wir es in Deutschland seit Jah-ren nicht hinbekommen, ein Gesetz zur Bekämpfungvon Abgeordnetenbestechung und -bestechlichkeit vor-zulegen. Das ist an Peinlichkeit kaum noch zu überbie-ten.
Im Sommer haben Ihre Fraktionsvorsitzenden von dergesammelten deutschen Wirtschaft wieder ein Schreibenbekommen, in dem Sie aufgefordert wurden, endlich et-was zu machen. Ich kann Ihnen nur sagen: Lassen Sieuns endlich über den Vorschlag reden, den wir gemachthaben. Aber dann bitte sachlich und nicht so, wie vomVorsitzenden des Rechtsausschusses beim Empfang desDAV geschehen. Da hat Herr Kauder nämlich erklärt:Wenn der Gesetzentwurf, den die SPD vorgelegt hat,Wirklichkeit werden würde, dann dürfte er in Zukunftbei solchen Empfängen nicht mehr ein Glas, zwei, dreioder zehn Gläser Sekt trinken, ohne sich strafbar zu ma-chen.
Ich kann Ihnen sagen: Von zehn Gläsern Sekt würde ichbei einem solchen Empfang sowieso abraten.
Aber ich würde vor allen Dingen zur Sachlichkeit raten.Es geht nämlich nicht um das Gläschen Sekt, sondern esgeht bewusst um Bestechung und Bestechlichkeit. Diehaben nichts mit dem freien Mandat zu tun. Vielmehrmüssen wir dagegen etwas tun, damit wir zeigen: So et-was darf auch in unseren Reihen nicht straffrei sein.
– Nein, ist es nicht. Bestechung bzw. Bestechlichkeitvon Abgeordneten sind nicht strafbewehrt. Das wissenSie so gut wie ich; darüber brauchen wir jetzt auch garkeinen Disput zu führen.Wozu wir allerdings die Ministerin in diesem Sommergehört haben, war nicht zu den relevanten Themen, unddas war auch heute so. Einen Vorschlag haben Sie unsallerdings heute verschwiegen, nämlich zu der Frage:Wie geht es mit dem Ankauf von Daten über Steuerhin-terzieher weiter? Da haben Sie sich im Sommer zu Wortgemeldet, heute hier nicht. Ihr Beitrag bestand nichtetwa darin, dass Sie es als Justizministerin begrüßt hät-ten, dass Kriminelle, nämlich Steuerhinterzieher, ver-folgt werden. Nein, Sie wollen diejenigen, die darüberaufklären wollen, in Zukunft bestrafen.
Das ist Ihr Vorschlag. Zu solchen Themen melden Siesich zu Wort. Aber als es ums Meldegesetz oder auch
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ums Wahlrecht ging: Wo war da das Wort der Ministerinzu hören? Auch als es um ein verfassungswidriges Wahl-recht ging, das hier durchgeboxt wurde, war von ihrnichts zu hören.Deswegen: Anstatt Harmonie und wechselseitige Un-terstützung kann man nur eines attestieren: Chaos undjeder gegen jeden.
Wir können nur eines, nämlich den Menschen die Zuver-sicht geben: Es hat bald ein Ende.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt Herr Kollege
Dr. Günter Krings.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Haushaltsdebatten zeichnen sich eigentlich da-durch aus, jedenfalls im Bereich der Rechtspolitik, dassman sachlich über die Themen spricht. Ich will das auchgern tun, auch wenn es mir nach dem Beitrag meinerVorrednerin etwas schwerer fällt.Ich will gleich einen Punkt, weil Sie darauf mehrfachhingewiesen haben, aufgreifen. Natürlich gibt es auch ineiner Koalition Streit in der Sache, gerade bei diesen sowichtigen und manchmal auch schwierigen Themen derRechtspolitik, der Justierung zwischen Freiheit und Si-cherheit. Ich finde es richtig und notwendig, dass dieserStreit geführt wird, wenn er denn in der Sache geführtwird.Ich will Ihnen sagen, was im Bereich der Rechtspoli-tik für mich nach den Erfahrungen der letzten beidenKoalitionen der entscheidende Unterschied zwischenSPD und FDP ist. Als die Große Koalition 2005 begrün-det wurde, gab es von der Fraktionsspitze der SPD – daswar sicherlich keiner der hier Anwesenden – den drin-genden Wunsch, den Rechtsausschuss deutlich zu ver-kleinern; denn man hätte in der SPD nicht ausreichendviele Juristen, die dort mitarbeiten wollten. Das ist ebendas Problem: Wir müssen ernsthafte Diskussionen in derSache führen. Wir jedenfalls sind bereit, die Themenaufzugreifen, und es sind auch genügend Kolleginnenund Kollegen in beiden Koalitionsfraktionen engagiertbei der Sache. Das macht diese Koalition aus. Ein ent-sprechendes Ansinnen gab es von der FDP zu Beginndieser Wahlperiode nicht, meine Damen und Herren.
Ich würde jetzt gern eine grundsätzliche Bemerkungan den Anfang stellen. Der moderne Staat kennt zweiHandlungsformen: das Recht und das Geld. In einerHaushaltsdebatte geht es natürlich vornehmlich umsGeld. Die Frau Ministerin hat schon darauf hingewiesen:Da liegen wir in der Justiz sehr günstig; nicht nur, dassder Justizetat nur rund 0,2 Prozent des gesamten Bun-deshaushalts ausmacht, er erzielt auch eine Deckungs-quote von über 80 Prozent. Das heißt, der einzelne Bun-desbürger zahlt etwas mehr als 1 Euro für die Justiz aufBundesebene.Für die Rechtspolitik aber steht natürlich das Hand-lungsinstrument des Gesetzes im Vordergrund. Insofernwill ich gleich einige Bemerkungen zur Leistungsbilanzder Rechtspolitik bei der Gesetzgebung machen, zu-nächst aber die Gelegenheit nutzen, zumindest in diesemTeil der Haushaltsdebatte klarzustellen, dass nicht alleAufgaben des Staates mit Geld zu lösen sind.
Gerade angesichts der Finanz- und Schuldenkrise, in derwir uns befinden, ist es aus meiner Sicht entscheidend,nicht einseitig auf die Macht des Geldes zu setzen; viel-mehr muss der Staat in vielen Bereichen zum Gestal-tungsmittel des Rechts zurückfinden.Das Primat des Rechts, meine Damen und Herren, giltnatürlich für die nationale wie für die europäischeEbene. Allerdings kann es keine wechselseitige Kom-pensation von Rechtsstaatlichkeit zwischen den beidenEbenen geben. Ich will es etwas konkreter sagen: Wennuns die Auslegung europäischen Rechts in manchen EU-Institutionen, auch in Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion, mitunter als übertrieben nachlässig erscheint,wäre es kein Lösungsmittel, dies dadurch zu kompensie-ren, dass wir umgekehrt unser nationales Verfassungs-recht übertrieben streng auslegten. Auch aus diesemGrunde freue ich mich über die gestrige Entscheidungdes Verfassungsgerichts, das genau dieser Versuchungwiderstanden hat, der Versuchung, das deutsche Verfas-sungsrecht zu überziehen und übertrieben streng auszu-legen, um dadurch vielleicht Dinge zu kompensieren, dieeinem in der Auslegung europäischen Rechts nichtgefallen.Gerade angesichts der Finanz- und Schuldenkrisebleibt natürlich einiges zu tun. Auf europäischer Ebenebrauchen wir einen verbindlichen wie durchsetzungs-starken Rechtsrahmen. Aber wir haben auf nationalerEbene in dieser Wahlperiode bereits einiges erreicht. Dasgilt auch für die Rechtspolitik. So haben wir im Justiz-bereich – es ist schon einige Monate her – das Restruktu-rierungsgesetz eingebracht und es hier verabschiedet.Mit diesem Gesetz wird es künftig möglich sein, dieSchieflage einer systemrelevanten Bank zu bewältigen,ohne dabei die Stabilität des ganzen Finanzsystems zugefährden. Dadurch wird sichergestellt, dass Eigen- undFremdkapitalgeber die Kosten einer Insolvenzbewälti-gung so weit wie möglich selbst tragen und eben nichtdie Allgemeinheit. Ich halte das für eines der wichtigstenGesetze dieser Wahlperiode aus der Rechtspolitik, dasgerade bei der Bekämpfung der Ursachen der Finanz-marktkrise eine wichtige Rolle spielen kann.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23165
Dr. Günter Krings
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Ich will es im Übrigen der Opposition nicht übelneh-men, wenn sie sich nicht daran versucht, die Erfolge derRechtspolitik darzustellen; das ist unsere Aufgabe, dasübernehme ich gerne. Angesichts eines Anteils des Jus-tizhaushalts am Bundeshaushalt von nur 0,2 Prozent darfman schon einmal darauf hinweisen, dass fast 10 Prozentder Gesetze, die eingebracht worden sind, aus dem Jus-tizbereich kommen, Frau Ministerin; der Anteil an denverabschiedeten, im Bundesgesetzblatt verkündetenGesetzen liegt in dieser Wahlperiode sogar bei deutlichüber 10 Prozent.
Ich will darauf hinweisen, dass wir im Strafrecht ei-nige notwendige Anpassungen vorgenommen haben, umunsere Mitbürger wirksam vor neuen Gefahren zu schüt-zen und Täter abzuschrecken. Zum einen erwähne ich§ 113 Strafgesetzbuch: die besondere strafrechtlicheÄchtung von Angriffen auf Polizisten und Vollstre-ckungsbeamte. Das sind die Personen, meine Damenund Herren, die für unsere Freiheit, unsere Gesundheit,unseren Rechtsstaat tagtäglich ihren Kopf hinhalten. Siehaben auch deshalb einen besonderen strafrechtlichenSchutz, einen starken strafrechtlichen Schutz verdient.
Leider hat dieses wichtige Anliegen gerade am ver-gangenen Wochenende noch einmal traurige Aktualitäterlangt: bei den Vorfällen in Mannheim, wo es am Randeeines Kurdenfestivals zu Ausschreitungen gekommenist, bei denen 80 Polizisten mit Eisenstangen, Ziegel-steinen und Wurfgeschossen teilweise schwer verletztwurden.
Wenn der SPD-Innenminister von Baden-Württembergjetzt weitere gesetzliche Konsequenzen fordert, kann ichdas verstehen. Dann wäre es aber sinnvoll, wenn dieserSPD-Innenminister erst einmal mit der SPD-Bundes-tagsfraktion Rücksprache nähme und ihr erklärte, wiesich die Situation von Polizisten in Gefahrenlagengestaltet. Da reicht das Strafrecht allein nicht; aber es istein wichtiger Baustein, um den Polizisten ein klares Si-gnal zu geben, dass der Staat, der sie in solche Einsätzeschickt, hinter ihnen steht.
Wir haben im Jugendstrafrecht den Warnschussarresteingeführt und damit ein wichtiges Instrument in denInstrumentenkasten von Jugendrichtern gelegt. Das wirdnicht in jedem Falle das richtige Instrument sein, ist abereine wichtige Ergänzung dieses Instrumentenkastens;denn wir brauchen dort ein flexibles, kreativ ausgestalte-tes Sanktionssystem.
Statt mit folgenloser Empörung darauf zu reagieren,wenn jugendliche Gewalttäter loslegen, haben wir kon-kret gehandelt. Wir haben damit ein Instrument geschaf-fen, das jedenfalls im Einzelfall kriminelle Karrierenfrüher und wirksamer stoppen kann.
Die Zahlen beweisen die Notwendigkeit, weiter andiesem Thema dranzubleiben. Wir konnten zwar in denletzten Jahren erfreulicherweise einen gewissen Rück-gang der gewalttätigen Jugendkriminalität verzeichnen,mussten aber zwischen 1993 und 2008 eine Verdopplungder Taten feststellen. Monat für Monat werden inDeutschland 2 700 Menschen Opfer von jugendlicherGewaltkriminalität. Wir müssen dieses Thema weiterhinernst nehmen.
Am 29. August hat das Bundeskabinett einen Gesetz-entwurf zum Verbot der gewerblichen Sterbehilfe be-schlossen. Ich bedauere gemeinsam mit wahrscheinlichsehr vielen hier im Haus, dass die öffentliche Debatteüber dieses Gesetz in den letzten Wochen zum Teil haar-scharf an den Realitäten vorbei geführt wurde. Mit die-sem Gesetz wird Sterbehilfe nicht legalisiert, sondernpönalisiert.
Niemand in Deutschland darf es künftig zum Geschäfts-modell machen und sich daran bereichern, Menschenmit schwerer Krankheit vom Leben zum Tod zu beför-dern.
Viele in meiner Fraktion und auch ich wären gernenoch einen Schritt weitergegangen, aber die Frage ist, obman immer bis an das Ende des Weges gehen muss oderob man sich auf einen vernünftigen Kompromiss ein-lässt, auch wenn vielleicht noch mehr denkbar ist. Fürmich ist auch denkbar, die geschäftsmäßige Sterbehilfezu verbieten. Wichtig ist, dass jedenfalls die gewerbs-mäßige Sterbehilfe verboten wird. Die Regelung diesesStraftatbestands ist ein wichtiger Fortschritt zumSchutze des Lebens an seinem Ende, also in einer Phase,in der der Mensch besonders verletzlich ist. Dabei mussklar sein: Engste Angehörige können sich im Sinne die-ser Norm nicht strafbar machen; Ärzte und Pfleger hin-gegen können nicht unter den Begriff der engsten Ange-hörigen fallen.Ich möchte mit ein paar Stichworten das ThemaBeschneidung ansprechen. Ich bedanke mich bei sehrvielen Kollegen hier im Haus, die mitgearbeitet bzw.dem Antrag, den wir im Juli beschlossen haben, zuge-stimmt haben. Das ist ja ein nicht ganz einfaches Thema.Wir werden den Gesetzentwurf in den nächsten Wochenhier im Bundestag debattieren. Ich halte die Aufregung
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Dr. Günter Krings
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über das Urteil eines einzelnen Landgerichts, das in die-sem Sommer ergangen ist, für übertrieben. Trotzdemkann man diejenigen verstehen, die Rechtsklarheit wol-len, beispielsweise jüdische und muslimische Mitbürger,aber auch Ärzte, die diese Eingriffe vornehmen. Insofernist es wichtig, schnell Rechtsklarheit herbeizuführen. Ichpersönlich meine, dass wir die Legalität solcher Ein-griffe weniger mit der Religionsausübung als eher mitdem Elternrecht begründen sollten.
Ich bin der Auffassung, dass wir im Interesse des Kin-deswohls strenge Anforderungen an die Durchführungdieses Eingriffs stellen müssen. Darüber wird in dennächsten Wochen noch im Einzelnen zu debattieren sein.Zum Zivilrecht. Lassen Sie mich kurz das ThemaMietrecht ansprechen. Mit der Reform des Mietrechtshelfen wir Vermietern, die mit ein oder zwei Eigentums-wohnungen ihren Lebensabend mit finanzieren wollen.Ich kenne solche Fälle aus meinem Wahlkreis: Miet-nomaden bzw. Mietbetrüger gefährden so die Altersver-sorgung, die auf diese Weise sichergestellt werden soll.Wenn wir über Armut im Alter sprechen, müssen wirauch über dieses Phänomen sprechen und mit dem Miet-recht helfen.
Wir tun das mit einem sehr behutsamen Eingriff indas Prozessrecht und eben nicht bei den Mieterschutz-vorschriften des BGB. Zugleich erleichtern wir die ener-getische Sanierung von Mietraum zum nachhaltigenNutzen von Mietern und Vermietern. Wer wie die Oppo-sition sonntags nach einer noch schnelleren Energie-wende ruft, handelt nicht sehr glaubwürdig, wenn ermontags sagt, wenn es darum geht, das auch in derRechtspolitik umzusetzen: Nein, das geht uns jetzt dochzu weit; das wollen wir nicht. – Das ist alles andere alskonsequentes Handeln. Wer die Energiewende will, dermuss solchen Regelungen zustimmen.
– Wenn Sie genau zugehört hätten, dann hätten Siegemerkt, dass ich nicht nur von Mietnomaden, sondernauch von der energetischen Sanierung von Wohnraumgesprochen habe. Das sind zwei Elemente des Gesetzes.Ich kann Ihnen das gerne im Einzelnen noch einmalerklären, Herr Montag, falls Sie das noch nicht so ganzverstanden haben sollten.Ich will zu einigen den Verbraucher schützenden Vor-schriften im Bereich Fluggastdatenrechte, Schlichtungim Luftverkehr, Zivilprozessrecht und Kfz-Haftpflicht-versicherung, da wir unmittelbar vor der ersten Lesungstehen, angesichts der Zeit keine Einzelheiten vortragen.Ich will zum Schluss sagen: Auch wenn die Justiz,wie wir gerade an den Zahlen gesehen haben, preiswertist, darf sie doch nicht billig werden. Gerade deshalb istmir das intensive Ringen um die Inhalte der Rechtspoli-tik wichtig. Wir streiten in der Sache, sowohl innerhalbder Koalition als auch gern mit der Opposition.
Auch in dieser Haushaltsdebatte ist es die Entscheidungder Opposition, ob Sie mit uns in der Sache argumentie-ren oder lieber parteipolitische Polemik pflegen wollen.Ich bin auf die nächsten Reden deshalb sehr gespannt.Danke schön.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-
lege Steffen Bockhahn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Herr Dr. Krings, ich bin verwirrt: Siehatten gesagt, Sie wollten sachlich sein, und dann habenSie diese Rede gehalten. Das war ein bisschen schwierig.Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen.Erster Punkt. Sie loben den Warnschussarrest, obwohlalle Fachleute dagegen sind. Es gab keinen Warnschuss-arrest, und trotzdem ging die Zahl der Straftaten vonJugendlichen zurück. Wo ist denn da die Sachlichkeit beiIhnen?
Zweiter Punkt. Sie loben schon wieder Ihre Miet-rechtsänderung zum Nachteil der Mieterinnen und Mie-ter. Sie bauen das Thema Mietnomaden – über die vielauf Kabel eins und Vox berichtet wird, aber das ist nichtseriös – zu einem Popanz auf. Seriös ist, zuzugeben, dasswir keine sehr konkreten Zahlen haben, aber Schätzun-gen gehen davon aus, dass lediglich 0,02 Prozent allerMietverhältnisse von diesem Phänomen betroffen sind.Wenn das für Sie der zentrale Punkt der Justizpolitik inDeutschland ist, dann setzen Sie die falschen Schwer-punkte, Herr Krings.
Ich möchte tatsächlich etwas ganz Sachliches und fürviele von Ihnen Überraschendes, nämlich etwas Loben-des, sagen:
– Ja. – Wir haben im letzten Jahr den Antrag gestellt,dass das Bundesministerium der Justiz seine eigene NS-Vergangenheit kritisch und vernünftig aufarbeiten soll.Er ist aus irgendeinem Grunde abgelehnt worden; daskönnte vielleicht mit dem Antragsteller zu tun gehabthaben. Aber vernünftigerweise hat sich das Ministerium
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Steffen Bockhahn
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doch entschieden, dieses Thema anzufassen, und es wirddieses Thema weiter bearbeiten. Deswegen freue ichmich, dass wir hoffentlich bald eine Untersuchung überdie NS-Verstrickung von Personal des Bundesjustiz-ministeriums, insbesondere von Personal der 50er- und60er-Jahre, haben werden. Das ist überfällig und drin-gend erforderlich.Da auch Minister Friedrich schon anwesend ist: Ichwünsche mir, dass auch das Innenministerium diesesThema endlich anfasst.
Kommen wir zur grandiosen Bilanz und zum einheit-lichen Handeln der Bundesregierung und der sie tragen-den Fraktionen! Es sind grandiose Gesetzesinitiativen,die tatsächlich notwendig gewesen wären. Man könntedie Vorschläge der Ministerin durchaus begrüßen, näm-lich beispielsweise die sprachliche Gleichstellung vonLebenspartnerschaften und Ehen in Gesetzestexten.Betroffen davon sind rund 40 Einzelregelungen, vomMietrecht bis zur Insolvenzordnung, in denen nach demWort „Ehegatte“ der Zusatz „oder Lebenspartner“ einge-fügt werden soll. Hier haben wir wieder das Problem,dass natürlich der besondere Schutz der Ehe für Siewichtiger ist als die Anerkennung der realen Lebensver-hältnisse in der Bundesrepublik Deutschland. Da sindSie als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet.
Ein weiterer Punkt. Sie haben – das kann ich durchausnachvollziehen – sich dafür starkgemacht, dass derAnkauf von Steuer-CDs verboten wird. Das kann mandurchaus richtig finden; denn es ist natürlich schwierig,wenn der Staat mit Kriminellen oder HalbkriminellenGeschäfte macht. Ich darf Ihnen aber etwas anderes vor-schlagen: Lassen Sie uns doch zu einem Steuerrechtkommen, bei dem Besserverdienende und Konzernenicht so viele Steuerschlupflöcher haben, wie es heuteder Fall ist. Dann gäbe es nämlich eine klare Steuer-erklärung und klare Sachverhalte. Das wäre ein Schritt.
Ein zweiter Schritt wäre: Lassen Sie uns die Zahlender Steuerfahnder und der Betriebsprüfer bei denFinanzämtern erhöhen. Die finanzieren sich im Übrigenselbst. Dann kämen wir zu einer Anwendung derGesetze, die es nicht mehr notwendig machen würde,Steuer-CDs anzukaufen. Ich wünsche mir vor allem,dass der Ehrgeiz, mit dem teilweise Bagatelldelikte ver-folgt werden, auch bei einem ernsthaften Straftatbestand,der Steuerhinterziehung, insbesondere bei Großverdie-nern und bei Großvermögenden, spürbar würde unddiese hart bestraft werden. Davon sind wir meilenweitentfernt. Das ist falsch.
Kommen wir zur Vorratsdatenspeicherung. Ich habejetzt viel davon gehört, wie wichtig Ihnen die Bürger-rechte, insbesondere die Freiheitsrechte, sind. Bei derVorratsdatenspeicherung sieht es aber anders aus. Wo-rüber Sie sich streiten, ist, wie stark Sie die Freiheits-rechte beschneiden wollen; das ist der einzige Streit, denSie führen. Beschneiden wollen Sie sie allemal. Sie wol-len für 99,9 Prozent aller Kommunikationsverbindungenerst einmal speichern, ohne dass es dafür einen Grundgibt. Tatsächlich müssen wir eine EU-Vorgabe erfüllen.Das tun Sie aber auch nicht, weil Sie sich permanentdarüber streiten, wie stark Sie in die Freiheitsrechte ein-greifen wollen. Darüber können Sie sich nicht einigen.Deswegen legen Sie keine vernünftige Lösung vor. Faktist aber, dass Sie die EU-Richtlinie bisher nicht wirklichumsetzen. Ich kann Ihnen empfehlen: Gucken Sie sichan, was Irland macht. Irland zog gegen diese Richtlinievor den Europäischen Gerichtshof. Das sollten Sie auchmachen.
Das wäre tatsächlich ein konsequenter Einsatz für dieVerteidigung der Freiheitsrechte der Bürgerinnen undBürger in der Bundesrepublik Deutschland. Aus meinerSicht wäre es dann auch seriös, wenn Sie Mittel fürStrafzahlungen an die Europäische Union schon einmalin den Haushalt einstellten. Es wäre konsequenter Bür-gerrechtsschutz, wenn Sie sagten: Wir setzen dieseRichtlinie der Europäischen Union nicht um, weil sie indie Rechte der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepu-blik Deutschland eingreift. – Das wäre vernünftig.
Schließlich darf ich Ihnen sagen, dass es noch ganzgroßen Nachholbedarf beim Entschädigungsfonds fürdie Opfer terroristischer oder extremistischer Straftatengibt. Ja, hier muss einiges getan werden. Hierzu ließesich noch ganz viel sagen. Fakt ist aber: Es ist auch einpolitisch sensibles Signal, wenn Sie jetzt schon wieder indiesem Fonds kürzen wollen. Ich denke, dass diese Kür-zung nicht vorgenommen werden sollte. Lassen Sie denEtatposten bei 1 Million Euro. Ich fürchte, dass wir nochjede Menge berechtigte Anträge dazubekommen wer-den.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Jerzy Montag.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieAgenda rechtspolitischer Debatten wird in der Regeldurch Gesetzesvorlagen aus dem Bundesjustizministe-rium bestimmt, manchmal allerdings auch durch Urteileder unabhängigen Justiz. Herr Kollege Dr. Krings, des-wegen will auch ich einige Worte zu dem Beschnei-dungsurteil eines Richters vom Landgericht Köln sagen.Ich bin der Überzeugung, dass die mediale Auseinan-dersetzung mit diesem Urteil in einem grotesk verzerrtenMissverhältnis zu der Bedeutung dieses Urteils steht.
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Jerzy Montag
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Bis jetzt gibt es in Deutschland zum Glück keine einzigestrafrechtliche Verurteilung wegen einer Beschneidung.Bei diesem Urteil, das zwar auf Freispruch lautet, han-delt es sich um die rechtliche Meinungsäußerung eineseinzelnen Richters von 80 000 Richtern.Mir persönlich wäre es am liebsten – ich sage das, ob-wohl ich den Antrag des Bundestages mitgetragen habe –,wenn wir zu keiner gesetzlichen Regelung dieses Tatbe-standes kommen würden, weil ich entgegen der Auffas-sung dieses einzelnen Richters der Überzeugung bin,dass die Rechtslage geklärt ist.
Wir werden eine Vorlage bekommen, über die wir in dennächsten Wochen und Monaten diskutieren müssen.Dazu will ich heute aber gar nichts sagen.Wozu ich heute etwas sagen will, ist der Ton der De-batte. Ich muss sagen: Er macht mir wirklich Sorgen,weil ich in dieser Debatte allzu oft eine überhebliche undgehässige Attitüde feststelle, und zwar auf beiden Seiten.Aber insbesondere bei denen, die die Beschneidung un-ter Strafe stellen wollen, höre ich gehässige und über-hebliche Formulierungen. Ich bin religiös nicht gebun-den; aber mir missfällt die antireligiöse Überheblichkeit,die sich in dieser Debatte nur ganz schlecht als Aufklä-rung tarnt.
Ich höre antiislamische und antijudaische Assoziationen,die sich leider – das sage ich ganz bewusst – hinter Ar-gumenten für das Kindeswohl nur schlecht verstecken.Ich glaube, dass wir aufpassen müssen, dass dieses Giftin der gesellschaftlichen Debatte aus unserer Debatte imBundestag in den nächsten Monaten herausgehaltenwird. Es wird wirklich sehr viel davon abhängen, wiewir hier im Parlament über dieses Thema reden werden.
Die Bedeutung der Rechtspolitik liegt im Schutz derGrund- und Bürgerrechte, im Schutz der Demokratieund im Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Die Bedeutungder Rechtspolitik steht im umgekehrten Verhältnis zu derGröße des Haushalts. Die Zahlen sind genannt worden:unter 2 Promille des Gesamthaushalts, Deckungsquoteüber 80 Prozent, Personalkosten von 75 Prozent. DieBundesjustiz kostet pro Kopf der Bevölkerung und Jahrin saldo nur 36 Cent. Deswegen halte ich es nicht füreine Verfehlung des Themas, wenn wir heute nicht sosehr über Geld, sondern über die Bilanz der Ministerinreden, die sich in vielen öffentlichen Äußerungen sehrwohl als Jeanne d’Arc der Bürgerrechte profiliert hat.Diese Profilierung hat niemand mehr befeuert als derwerte Koalitionspartner, der die Ministerin als „personi-fizierte Schutzlücke im deutschen Sicherheitssystem“und als „Schützerin von Pädophilen und Terroristen“ be-zeichnet hat.
Das war vor einem Jahr. Vor einigen Tagen haben Kolle-gen der FDP-Fraktion – ohne Namensnennung – dieMinisterin als sture und halsstarrige Fundamentalistinbezeichnet.
Frau Ministerin, ich muss sagen: Da, wo dies richtigist, bekommen Sie unsere Zustimmung. Zur Vorratsda-tenspeicherung zum Beispiel habe ich eine ganz andereAuffassung als mein Vorredner. Wir Grünen meinen,dass Sie hier die richtige Position einnehmen.
Ich finde, auch hinsichtlich der Sicherungsverwahrungist Ihre Position die richtige. Ihr Einsatz für Rechtsstaat-lichkeit stößt aber an Grenzen, die von Ihrer Partei gezo-gen werden. Die FDP steht im Zweifel nicht für Rechts-staatlichkeit, sondern für Klientelpolitik, und das färbtauch auf die Politik des Bundesjustizministeriums ab.
Ich könnte in diesem Zusammenhang etwas zum ThemaKorruption sagen. Ich könnte das auch am Beispiel Ur-heberrecht erklären. Dafür fehlt mir aber die Zeit.Zum Schluss will ich aber noch einen Satz zu demBock sagen, den Sie geschossen haben, als Sie gesagt ha-ben, dass Sie den Datenankauf zur Bekämpfung der Steu-erhinterziehung für strafbar erklären wollen: 150 Milliar-den Euro hinterzogenes Geld liegen in der Schweiz. Diedeutschen Banken und die Schweizer Banken wissendas. Sie sind Mittäter bei dieser grandiosen Hinterzie-hung. Ich persönlich halte es für eine Pflicht, dass dieseBeweismittel aufgekauft werden, um diese Steuerhinter-ziehungen zu verfolgen und zu bestrafen. Ich sage Ihnen:Es sind nicht die kleinen, armen Leute, die Steuerhinter-ziehung begehen und ihr Geld in der Schweiz parken,sondern das ist ein nicht ganz unerheblicher Teil der Rei-chen. Dass Sie diese Reichen vor einer konsequentenStrafverfolgung schützen wollen, das entlarvt die Politikder FDP.
Ich habe zum Schluss eine Bitte an Sie: Legen Siediesen Gesetzentwurf bitte rechtzeitig vor, möglichst imnächsten Frühjahr!
Herr Kollege Montag.
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Ich möchte diesen Gesetzentwurf im Wahlkampf an
jedem Stand bei mir haben, um den Leuten zeigen zu
können, was die FDP unter Rechtsstaatlichkeit versteht.
Das wird uns im Wahlkampf sehr helfen.
Ich bitte Sie sehr um diesen Gesetzentwurf.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich muss gestehen: Es gibt immer wieder lange Pas-sagen, bei denen ich Ihnen, Herr Montag, ausgesprochengerne zuhöre. Mit dem, was Sie am Anfang Ihrer Redezu der Debatte über das Beschneidungsurteil des Land-gerichts Köln gesagt haben, haben Sie mir zutiefst ausdem Herzen gesprochen, nicht, weil ich die Konsequenzdes Landgerichts Köln in irgendeiner Weise teile, son-dern weil ich finde, dass eine Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts – dazu kam es aus prozessualenGründen nicht – die bessere Lösung gewesen wäre.Man muss es ernst nehmen, wenn in einer Gesell-schaft, in der religiöse Menschen zunehmend in eineMinderheitenposition kommen, die Mehrheit die Reli-gionsfreiheit – das ist immerhin ein vorbehaltlos ge-währtes Grundrecht – im öffentlichen Diskurs als eineArt Grundrecht zweiter Ordnung diskreditiert. Manmuss es ernst nehmen, wenn sich viele Menschen ange-griffen fühlen, weil Religion ein sehr wichtiger Bestand-teil ihrer Identität ist. Meiner Meinung nach wird dasvon einer mittlerweile areligiösen Mehrheit – ich willnicht sagen: Mehrheitsgesellschaft – nicht mehr in demMaße respektiert, wie das noch vor 10, 20 oder 30 Jahrender Fall gewesen ist. Insofern wird es darauf ankommen,in diesem Land die Religionsfreiheit, die für alle Reli-gionen gilt, genauso wie die Freiheit, nicht zu glauben,weiter aktiv zu schützen und diesen Teil der menschli-chen Identität sehr ernst zu nehmen.
Einem Liberalen sagt man manchmal – diese Erfah-rung mache ich immer wieder –: Na ja, liberale Rechts-politiker gibt es mittlerweile doch auch bei den Grünenoder bei der SPD.
– Über die Linke höre ich das nicht so oft. Das liegt viel-leicht an meinem falschen Umgang.
Aber ich höre immer wieder, dass es den einen oder an-deren liberalen Innen- und Rechtspolitiker bei den Grü-nen und der SPD gibt. Dann ist meine stetige Antwort:Ja, die gibt es. Sie leiden aber unter dem Schicksal ewi-ger Opposition. Immer dann, wenn ihre Parteien in denLändern an die Macht kommen, zum Beispiel in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen, wo plötzlichrot-grüne Regierungen die Verantwortung tragen – dasgilt auch für die Zeit, in der Rot-Grün im Bund Verant-wortung trug –, verschwindet diese Innen- und Rechts-politik in bemerkenswerter Weise von der Oberfläche.Dann ist schlicht nichts mehr davon zu sehen.
Herr Montag, man müsste eigentlich sagen: Gehen Siedoch einmal in das eine oder andere Bundesland! Predi-gen Sie zum Beispiel in Baden-Württemberg das, wasSie hier zu Fragen der Sicherungsverwahrung so lauthalsverkünden. Sie schaffen es leider nicht einmal, Ihre eige-nen Landesregierungen auch nur im Ansatz von Ihrer ei-genen Politik zu überzeugen. Das sollte Ihnen zu denkengeben.
An einem Tag, an dem wir noch das gestrige Urteildes Bundesverfassungsgerichts im Ohr haben, solltenwir vielleicht – um dessen Etat geht es ja heute auch –noch etwas zum Bundesverfassungsgericht sagen. DieseInstitution genießt in Deutschland ein Ansehen wiekeine andere. Ob das aus rein demokratietheoretischerSicht eine gute oder schlechte Botschaft ist, müsste mannoch einmal genauer beleuchten; denn immerhin ist die-ses Haus das direkt gewählte Verfassungsorgan. Als An-hänger des Bundesverfassungsgerichts, der auch dort ge-arbeitet hat und diese Institution über alles schätzt,glaube ich, dass das Bundesverfassungsgericht zum Ge-lingen der Bundesrepublik Deutschland als ein Rechts-staat Unermessliches geleistet hat, wie auch gestern wie-der.Wir diskutieren hier heute auch – Herr Bockhahn hates gesagt – über Fragen der Historisierung der frühenBundesrepublik. Umso wichtiger scheint es mir, dieLeistung des Bundesverfassungsgerichts gerade in derfrühen Bundesrepublik etwas mehr ans Tageslicht zubringen. Es gibt eine Resolution des Rechtshistorikerta-ges und anderer Historiker. Sie stellen fest, dass sich derGeheimdienst Gedanken darüber macht, wie seine Ge-schichte in der frühen Bundesrepublik ausgesehen hat,dass sich das Bundesjustizministerium mittlerweile invorbildlicher Art und Weise Gedanken darüber macht,und sie weisen darauf hin, dass es an der Zeit wäre, dasswir eine Historisierung der frühen Entscheidungen desBundesverfassungsgerichts etwas stärker befördern soll-ten, gerade weil das Bundesverfassungsgericht nicht voneiner Kontinuität aus der NS-Zeit geprägt ist. Wir könn-ten viel darüber lernen, wie sich diese Bundesrepublikgerade zu Beginn innerlich immer stärker als ein demo-kratischer Rechtsstaat gefestigt hat.
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Dr. Stefan Ruppert
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Ich glaube, das Ansehen des Bundesverfassungsge-richts würde durch die Einführung einer Mutwillensge-bühr nicht befördert; das ist meine persönliche Meinung.
Dieses Gericht trägt sicherlich eine hohe Arbeitslast– das sollten wir respektieren –; aber auf Dauer würdeeine solche Gebühr nicht zu mehr Ansehen der Institu-tion führen. Der Bürger hat ein sehr feines Gespür für soetwas. Dabei geht es nicht um den einzelnen konkretenGeldbetrag. Gerade der Umstand, dass dort jeder Rechtsuchen kann und Recht bekommt, trägt zum Ansehenbei. Schon heute gibt es Instrumente, um denjenigen, diegrundlos oder querulatorisch immer wieder kommen, zusagen: Das geht so nicht.Ich finde es gut, dass die Ministerin heute gezeigt hat,dass diese Koalition gerade in der Rechtspolitik für Si-cherheit und Freiheit in Deutschland wesentlich mehrgetan hat als alle Vorgängerkoalitionen. Ich finde, dieseDualität von Sicherheit und Freiheit kommt in der christ-lich-liberalen Koalition besonders gut zum Ausdruck.Deswegen bin ich überzeugt, dass wir wiedergewähltwerden.Ein letzter Satz zu Günter Krings: Ob es eine guteNachricht ist, dass man mit sehr wenig Geld sehr vieleGesetze macht, darüber muss ich als Liberaler einmalnachdenken. Einstweilen finde ich, dass wir hervorra-gend zusammenarbeiten. Das liegt an allen Teilen dieserKoalition.Ich wünsche Ihnen mehr Durchsetzungskraft bei libe-raler Rechtspolitik vor Ort in Ihren Ländern.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Burkhard Lischka.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauMinisterin, Sie haben hier die große Einigkeit vonSchwarz-Gelb in der Rechtspolitik ausgiebig beschwo-ren. Ich gebe Ihnen einen Tipp – das können Sie viel-leicht heute Abend machen –: Geben Sie einmal beiGoogle die drei Begriffe „Rechtspolitik“, „Koalition“und „Streit“ ein. Wissen Sie, wie viele Treffer Sie da er-halten? 863 000. Ich finde, das sagt viel über den Zu-stand dieser Koalition gerade in der Rechtspolitik aus.
Es gibt keinen Tag, an dem Sie sich nicht genüsslich aufoffener Bühne streiten.Ich lese Ihnen einmal ein paar Überschriften aus Zei-tungen aus der Sommerpause vor. Ich stelle mir immerdie Frage, ob Sie sich da gar nicht sehen und sich aus derFerne streiten. Was haben Sie da gemacht? „Homo-Ehespaltet Schwarz-Gelb“ titelte das Handelsblatt vor eini-gen Tagen. „Koalition verheddert sich im Urheberrecht“,schreibt die Financial Times Deutschland. „Streit in derKoalition über Sterbehilfe“ ist eine Überschrift aus derFAZ. „CSU-Mann beschimpft Leutheusser als ‚Sicher-heitsrisiko‘“ können wir im Stern lesen. „Mietrechtsre-form – Aigner stellt sich gegen FDP“ usw. Ich könntedies stundenlang fortsetzen. Das ist ja nicht das Urteilder Opposition über Ihre Arbeit, sondern das Urteil derMedien und der veröffentlichten Meinung. Der Tages-spiegel meint schließlich zur Arbeit der Bundesjustizmi-nisterin unter der passenden Überschrift „Ministerin fürWiedervorlage“ – ich zitiere –:Betrachtet man ihre … Agenda, dann fällt vor allemeines auf: Die Ministerin verhindert Gesetze eher,als dass sie an rechtlichen Lösungen interessiert zusein scheint. … Doch auch auf diesem Feld ist eineHandschrift … nicht zu erkennen.Dazu muss ich als Oppositionspolitiker nicht mehr vielsagen. Ich finde, das Urteil über Ihre Amtszeit ist ge-sprochen: Es waren verlorene Jahre – Jahre ohne Im-pulse, ohne klare Linie und ohne bleibenden Wert.
Frau Ministerin, es mag sein, dass Sie, wenn Sie einesTages nach der Bilanz Ihrer Amtszeit gefragt werden,stolz darauf verweisen, dass Sie das eine oder andere un-sinnige Vorhaben der Union verhindert haben. An dereinen oder anderen Stelle mag das in der Tat durchausvernünftig gewesen sein. Aber für eine erfolgreicheRechtspolitik ist das doch ein bisschen wenig, weil wirin diesem Land wirklich Probleme haben, die gelöstwerden müssen; denn gerade die Rechtspolitik ist dafürda, drängende gesellschaftliche Konflikte zu befrieden,die widerstreitenden Interessen zu einem vernünftigenAusgleich zu bringen und gute Rahmenbedingungen zuschaffen.Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen:Nehmen wir das Thema Urheberrecht. Schwarz-Gelb hatvor drei Jahren im Koalitionsvertrag vereinbart – zuRecht, wie ich finde –, das Urheberrecht den neuenGegebenheiten des digitalen Zeitalters anzupassen, einmodernes Urheberrecht zu schaffen, das sich auf derHöhe der Zeit befindet. Wir alle wissen, dass das drin-gend notwendig ist; denn das Internet, die Digitalisie-rung mit ihren neuen Möglichkeiten, aber auch mit ihrenGefahren durchdringt jeden Lebensbereich und ist füruns alle zum Alltag geworden. Die Digitalisierung hatunser Leben verändert, und sie wird unser Leben weiterverändern.Wir Nutzer haben neue Möglichkeiten, uns zu infor-mieren, uns zu unterhalten und miteinander zu kommu-nizieren. Auch Künstler, Kreative und Schriftstellerhaben neue Möglichkeiten. Aber für sie gibt es ebenauch neue Gefahren, nämlich dass man sich einfach ihrerIdeen und ihrer Kreativität bedient, ohne dass sie einenangemessenen Ausgleich dafür bekommen. Das ist nichtnur für die Betroffenen – Künstler, Musiker, Wissen-
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Burkhard Lischka
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schaftler – von existenzieller Bedeutung, sondern das istauch für unseren Wirtschaftsstandort von existenziellerBedeutung; denn die Kreativindustrie ist inzwischen ei-ner der wichtigsten Wirtschaftszweige hier in Deutsch-land, und zwar mit 1 Million Menschen, die dort be-schäftigt sind, und einer Bruttowertschöpfung, die mitder der Automobilindustrie vergleichbar ist. Auch dieKreativindustrie befindet sich in einem globalen Wett-bewerb und ist schon deshalb darauf angewiesen, dasssie hier in Deutschland gute Rahmenbedingungen hat.Deshalb ist es so wichtig, auch das Urheberrecht zumodernisieren.
Aber was ist in den letzten drei Jahren seit Abschlussdes Koalitionsvertrages passiert? Einfache Antwort: garnichts. Im Gegenteil, Frau Ministerin: Sie haben vor we-nigen Wochen angekündigt, so wörtlich, dass der großeWurf im Bereich des Urheberrechts in dieser Legislatur-periode nicht zu erwarten sei. Das haben Sie gerade hierwiederholt; Sie haben gemeint, das sei alles so schwie-rig. Prompt hat Ihnen Staatsminister Neumann von derUnion Versagen vorgeworfen. Wir sind doch wieder mit-ten in dem Theaterstück, das Sie seit drei Jahren hieraufführen: ankündigen, streiten, wieder streiten, dannblockieren, dann Stillstand, und dann passiert überhauptnichts. Das führt nur dazu, dass gesellschaftliche Kon-flikte nicht gelöst werden, sondern sich – im Gegenteil –verschärfen, wie im Bereich des Urheberrechts. Das istkeine erfolgreiche Rechtspolitik, sondern schlicht undeinfach ein Trauerspiel.
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!Sehr geehrte Kollegen! Wenn die heutige Debatte aufjeden Fall einen Sinn hat, dann den, dass der Erkenntnis-gewinn bei der Opposition deutlich gestiegen ist. Mandarf nicht allen Schlagzeilen in der Zeitung glauben. Siehaben deutlich unter Beweis gestellt bekommen, dassder Zustand der Rechtspolitik der christlich-liberalenKoalition weitaus besser ist, als man bei der Lektüremancher Schlagzeile vielleicht vorschnell meinenmöchte.
Es ist deutlich darauf hingewiesen worden: Wir habenschon Wegweisendes vorangebracht. Wir werden auchin den kommenden Monaten und Jahren noch Entschei-dendes voranbringen.
Lieber Herr Kollege Lischka, was Ihr Google-Suchmaschinen-Beispiel anbetrifft, möchte ich IhrenErkenntnisgewinn weiter steigern. Auch ich habe dorteben einige Begriffe eingegeben. Jetzt möchte ich Siefragen: Was glauben Sie, wie viele Treffer man wohl be-kommt, wenn man dort die Begriffe SPD und Unfähig-keit eingibt?
Man erhält 3,3 Millionen Treffer.
Das Ganze wird noch getoppt, wenn man „SPD“ und„Streit“ eingibt. Was glauben Sie, wie viele Treffer manerzielt? – Es sind 9 Millionen Treffer.
Lieber Herr Kollege Lischka, wenn ich Sie persönlichansprechen darf: Was glauben Sie, welcher Treffer zuerstangezeigt wird, wenn man die drei Begriffe SPD,Rechtspolitik und Streit eingibt? – Ihr werter Name.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so viel zumThema Google-Suchmaschine.Der geringe Etat des Bundesjustizministeriums inHöhe von 484 Millionen Euro darf nicht darüber hin-wegtäuschen, dass wir es im Bereich der Justizpolitikmit schwer zu beantwortenden Rechtsfragen zu tunhaben und oftmals Grundlegendes im Hinblick auf un-sere Gesellschaft und unser gesellschaftliches Zusam-menleben regeln müssen. Gerade in den letzten Monatenwurden wir mit vielen Gerichtsurteilen konfrontiert, diedie öffentliche Diskussion sehr stark bestimmt haben,die insbesondere die politische Diskussion und letztenEndes auch das Handeln des Gesetzgebers geprägt habenund noch prägen werden. Wir als Bundestag haben dieAufgabe, diese rechtlichen Vorgaben in den kommendenMonaten aufzugreifen und die offenen Fragen einerLösung zuzuführen.Mein Blick geht dabei zunächst einmal nach Brüssel.Es geht um die Schaffung eines Gemeinsamen Europäi-schen Kaufrechts. Ich bin sehr froh, dass wir uns alsBundestag sehr frühzeitig mit diesem Thema auseinan-dergesetzt und dazu fraktionsübergreifend eine kritischeStellungnahme verabschiedet haben.Aus meiner Sicht gibt es an diesem Vorschlag zweientscheidende Kritikpunkte: Der erste Kritikpunkt lau-tet, dass dieser Vorschlag in vielen Bereichen nicht zumehr Rechtssicherheit für Unternehmen und Verbrau-cher führt, sondern eher die Rechtsunsicherheit erhöht.Dies liegt vor allem daran, dass darin eine Vielzahl vagerFormulierungen und sehr viele unbestimmte Rechts-begriffe gebraucht werden, dass zum Beispiel eine allge-meine Schadenersatzpflicht bei Verstößen gegen denGrundsatz von Treu und Glauben oder allgemeineKooperationspflichten eingeführt werden sollen. Da-rüber hinaus fehlt in dem Entwurf die Nennung der insti-tutionellen Voraussetzungen für eine konsistente Recht-sprechung. Es kann nur die Aufgabe der Gerichte in den27 Mitgliedsländern sein, dies zu gewährleisten. DieVoraussetzungen dafür sind in diesem Vorschlag bislang
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Stephan Mayer
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nicht erwähnt. Der EuGH ist dazu aufgrund seiner Aus-stattung und seiner Ausrichtung nicht in der Lage.Zweitens muss man sehen: Der große Kritikpunktlautet nicht – das war auch in den Gesprächen, die ichmit Unternehmern geführt habe, so –, die Probleme beimbilateralen Handel innerhalb der Europäischen Unionseien darin begründet, dass es unterschiedliches mate-rielles Recht gibt. Der große Kritikpunkt lautet vor al-lem, dass es erhebliche Schwierigkeiten bei der schnel-len gerichtlichen Durchsetzung von Ansprüchen imAusland gibt.Wie gewissen Hinweisen zu entnehmen ist, werden inZukunft die konkreten Verhandlungen über die einzelnenInhalte dieses Vorschlags beginnen. Ich begrüße es daheraußerordentlich, dass der Rechtsausschuss des Bundes-tages eine entsprechende Initiative gestartet hat, am5. November dieses Jahres eine rechtspolitische Konfe-renz zu diesem Thema durchführen wird und sich dabeiauch mit Vertretern anderer Parlamente abstimmen undaustauschen wird. Meine Erwartung ist, dass dieBundesregierung bei ihren Verhandlungen im Rat, sehrverehrte Frau Justizministerin, die fraktionsübergrei-fende Stellungnahme des Bundestages berücksichtigtund mit einfließen lässt.
Darüber hinaus hat uns das Urteil des Bundesver-fassungsgerichts vom Mai letzten Jahres zum ThemaSicherungsverwahrung sehr beschäftigt. Ich persönlichbin der Auffassung, dass dieses Urteil mit dem jetzt zudiesem Thema vorliegenden Gesetzentwurf gut umge-setzt wird. Aber ich möchte nicht verhehlen, dass wir,was den vorliegenden Gesetzentwurf angeht, durchausVerbesserungsbedarf sehen.Erstens ist das Institut der nachträglichen Therapie-unterbringung noch in den Gesetzentwurf aufzunehmen.
Auch wenn es nur um eine geringe Anzahl von Fällengeht: Es gibt diese Ausnahmefälle, und in diesen Aus-nahmefällen ist das Institut der nachträglichen Therapie-unterbringung erforderlich.Zweitens geht es um Fragen der Abgrenzung zwi-schen den neu zu treffenden Regelungen und dem psych-iatrischen Maßregelvollzug. Es bestünde, wenn derGesetzentwurf so bliebe, wie er jetzt vorliegt, die großeGefahr, dass in Einzelfällen – wenn auch nicht in vielenFällen – therapieunfähige, teilweise auch therapie-unwillige, aber hochgefährliche Straftäter in den psych-iatrischen Maßregelvollzug überstellt werden, obwohlsie nicht psychisch krank sind.Zwei weitere Urteile haben in den letzten Monaten zueiner sehr intensiven öffentlichen Diskussion geführt.Ich meine zum einen die Entscheidung des Oberlandes-gerichtes Koblenz vom 29. Dezember letzten Jahres. Esging dabei um einen möglichen sexuellen Missbraucheiner Schutzbefohlenen. Die Entscheidung hat zum Er-gebnis gehabt, dass nicht immer ein Obhutsverhältniszwischen einem Lehrer und einer minderjährigen Schü-lerin im Sinne von § 174 StGB anzunehmen ist. Ausmeiner Sicht besteht hier eine offenkundige Schutzlücke.Ich bin auch der Auffassung, dass es nicht ausreicht,dass die Landesjustizminister eine Arbeitsgruppe gebil-det haben, um möglichen Schutzlücken auf die Spur zukommen. Meines Erachtens ist eine schnellstmöglicheSchließung der vorhandenen Schutzlücke erforderlich.Es gibt eine zweite Entscheidung zu diesem Thema, dieder Bundesgerichtshof am 25. April dieses Jahres gefällthat; darin geht es um einen ähnlich gelagerten Fall.Im Bereich des Zivilrechts beschäftigt uns derzeitsehr stark das Mietrecht; das ist schon erwähnt worden.Ich persönlich bin wirklich der Überzeugung, dass mitder anstehenden Mietrechtsnovellierung die große Mög-lichkeit besteht, zusätzliche Potenziale im Bereich desKlimaschutzes zu heben. Wir haben in Deutschland20 Millionen Mietwohnungen. Gerade angesichts deranstehenden und sich im Vollzug befindlichen Ener-giewende ist es ein ganz wichtiger Ansatzpunkt, diesesPotenzial im Bereich der energetischen Sanierung zunutzen. Deswegen ist es richtig, hier entsprechendeVorgaben zu machen, um Maßnahmen zur energetischenSanierung zu erleichtern. Dies kommt – es ist mir wich-tig, das zu betonen – nicht nur den Vermietern, der Um-welt und dem Klima zugute, sondern auch den Mietern,indem sie geringere Betriebskosten zu zahlen haben.
Ich bin auch der Überzeugung, dass es richtig ist, diePosition der Vermieter im Kampf gegen Mietnomadenzu stärken. Lieber Herr Kollege Bockhahn, diesesMietnomadentum ist für viele Vermieter ein Ungetüm.Sie persönlich sind davon vielleicht noch nicht tangiertworden. Aber es gibt Tausende von Vermietern inDeutschland, die damit sehr leidvolle Erfahrungen ge-macht haben, bei denen sich Mietforderungen über Mo-nate, teilweise über Jahre hinweg angehäuft haben, diesie aber nicht geltend machen konnten. Herr KollegeBockhahn, Sie wissen wahrscheinlich auch nicht, wiehoch die normale Rentabilität einer Mietwohnung ist.Sie liegt nicht im zweistelligen Prozentbereich, sondernbei 1 oder 2 Prozent. Wenn Sie als Vermieter einer über-schaubaren Anzahl von Mietwohnungen einen oder zweisolcher Mieter haben, dann schlägt es durchaus insKontor, wenn Sie Mietforderungen von über 1 000 Eurohaben, die Sie nicht eintreiben können. Deswegen ist esrichtig, dass wir als Gesetzgeber in diesem Bereich tätigwerden.
Genauso müssen wir uns aber auch einem Bereich zu-wenden, der sich in manchen Ballungszentren verstärktbemerkbar macht, nämlich dem rasanten Anstieg desMietzinses, des Mietpreises. Ich möchte schon der Er-wartung Ausdruck verleihen, dass wir uns in dem jetztanstehenden parlamentarischen Verfahren diesem wich-tigen Thema zuwenden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23173
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Herr Kollege Mayer, Sie sind zwar am Ende Ihrer
Redezeit, aber der Kollege Bockhahn von der Linken
möchte gern eine Zwischenfrage stellen.
Diese Gelegenheit gebe ich ihm natürlich sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Mayer. – Zum einen
möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich als Mitglied
des Aufsichtsrats eines der größten ostdeutschen
Wohnungsunternehmen mit dieser Problematik sehr
wohl vertraut bin.
Zum anderen möchte ich Ihnen sagen: Sie haben die
Zahlen, die ich vorhin eingefordert habe, auch jetzt nicht
geliefert. Sie haben einen Erfahrungsbericht abgeliefert;
aber ich traue Ihnen zu, dass Sie Ihre Entscheidung auf
der Basis von fundierten Fakten treffen. Deswegen
möchte ich Sie fragen: Wie hoch ist der Anteil so-
genannter Mietnomaden im deutschen Mietwohnungs-
wesen?
Herr Kollege Bockhahn, zunächst einmal möchte ich
aufgrund der vorgenommenen Einlassung schon meine
Verwunderung zum Ausdruck bringen, dass Sie, wenn
Sie schon eine besondere Expertise haben und sogar
Aufsichtsratsmitglied eines Wohnungsunternehmens
sind, diese Position vertreten.
Was die konkreten Zahlen anbelangt: Es gibt das ge-
flügelte Wort „Trau keiner Statistik, die du nicht selbst
gefälscht hast“. Ich bin der festen Überzeugung, dass es
hier kein verlässliches und auch kein belastbares Zahlen-
material gibt, da viele Vermieter den Weg zum Gericht
gar nicht mehr gehen, weil sie entweder schon von
Freunden oder Bekannten gehört haben, dass das ver-
geblich ist, dass man dem schlechten Geld nur gutes hin-
terherwirft, oder weil sie selbst schon die Erfahrung ge-
macht haben, dass es zwecklos ist, sich hier wie ein
Detektiv auf die Pirsch zu begeben und möglicherweise
irgendwann einmal ein paar Euro von einem säumigen
Schuldner einzutreiben. Deswegen ist dieser Ansatz, hier
konkretes Zahlenmaterial einzufordern, vom Grundsatz
her verfehlt.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie in Ihrer Auf-
sichtsratstätigkeit auch schon diverse Male mit dem Phä-
nomen des Mietnomadentums konfrontiert wurden. In-
soweit greifen wir, glaube ich, auch aufgrund der
Erfahrungen, die uns von vielen Bürgerinnen und Bür-
gern angetragen werden, ein vorhandenes gesellschaftli-
ches Problem auf. Dieses Problem werden wir jetzt wie
viele andere Probleme im Bereich der Rechtspolitik sehr
stringent und letzten Endes erfolgreich in der christlich-
liberalen Koalition lösen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jens Petermann von
der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Justiz gilt gemeinhin als ein sehr trockenes Thema. Dassdem nicht immer so ist, zeigt die heute doch lebendigeHaushaltsdebatte. In dieser Debatte sollten wir uns mitder Frage befassen, ob die geplanten Gelder ausreichen,ob es Einsparmöglichkeiten gibt oder umverteilt werdenmuss.Nach meinem Verständnis muss es dabei um die Stär-kung der Justiz und die Garantie der Rechtsschutzmög-lichkeiten für die Bevölkerung gehen. Ob das immerauch Ziel des FDP-geführten Justizministeriums ist, be-zweifle ich, Frau Ministerin. Lassen Sie mich das anzwei Beispielen erläutern.Mit dem Referentenentwurf zur Änderung des Pro-zesskostenhilfe- und Beratungshilferechts verfolgten Sieoffensichtlich das Ziel, Einsparungen bei den Ausgabenfür Prozesskosten- und Beratungshilfe zu erzielen. DieseHilfe nehmen Menschen in Anspruch, die mit ihremkärglichen Einkommen kaum über die Runden kommenund sich die Kosten eines Gerichtsverfahrens nicht leis-ten können. Es sind vor allem Bezieherinnen und Bezie-her von Leistungen nach dem SGB II betroffen. Durchdie unsägliche, handwerklich schlechte Hartz-IV-Ge-setzgebung, aber auch die mangelhafte personelle Aus-stattung und Kompetenz der leistungserbringenden Job-center – der Name ist übrigens eine Farce, weil die Leutedort keine Jobs, sondern nur ein Bürokratiemonster vor-finden – werden rechtswidrige Bescheide am Fließbandproduziert.Ich kann Ihnen aus meiner langjährigen Erfahrung alsSozialrichter bestätigen, dass über die Hälfte der Klagengegen Hartz-IV-Bescheide erfolgreich ist. Wenn die oh-nehin zum Leben zu wenigen 374 Euro noch gekürztwerden, benötigen die Betroffenen für eine anwaltlicheVertretung Prozesskostenhilfe.
Selbst 5 Euro mehr im Portemonnaie sind für sie vielGeld. Allein am Sozialgericht Berlin sind 2011 über30 000 Klagen eingegangen, und trotz steigender Klage-zahlen sind die Erfolgsquoten nicht gesunken.Um dieses strukturelle Problem zu lösen, brauchenwir nicht weniger Prozesskostenhilfe, sondern bessereRegeln, mehr qualifiziertes Personal in den Jobcenternund hier und da sicherlich auch mehr Richterstellen. Lei-der werden die Länder vom Bund alleingelassen. Sie
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Jens Petermann
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verfolgen aber eine andere Zielrichtung: je weniger Pro-zesskostenhilfe, desto weniger Klagen und Verfahrenvor den Sozialgerichten und desto weniger Personalbe-darf bei den überlasteten Gerichten. Da spielen wir nichtmit.Zweites Beispiel – auch davon war schon die Rede –ist die Einführung einer Querulantengebühr beim Bun-desverfassungsgericht. Dazu habe ich aber gerade zurKenntnis nehmen dürfen – darüber sind wir sehr froh –,dass Sie dies genauso ablehnen wie wir.Die Verabschiedung verfassungsrechtlich bedenkli-cher Gesetze ist ja in der Koalition ein Dauerthema. Da-von ist heute schon gesprochen worden. Sie sorgen sofür einen übervollen Terminkalender bei den Richterin-nen und Richtern in Karlsruhe. Lange Verfahrenslaufzei-ten sind damit vorprogrammiert. Auch deshalb forderndie Verfassungsrichter eine Querulantengebühr von biszu 5 000 Euro. Nebenbei bemerkt ist diese Forderungnicht ganz einleuchtend, da bereits nach geltendemRecht eine Missbrauchsgebühr bei sinnlosen Beschwer-den verhängt werden kann.Dennoch bleibt den Bürgerinnen und Bürgern zurWahrnehmung ihrer elementaren Bürgerrechte oft nurder Gang nach Karlsruhe übrig. Man sollte darum durch-aus über die Schaffung eines dritten Senats beim Bun-desverfassungsgericht nachdenken.
Eine personell und materiell gut ausgestattete Justizmuss letztlich im Rechtsstaat genauso selbstverständlichsein wie eine Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz.Die Einführung der Selbstverwaltung der Justiz ist auchnach Auffassung aller Richterverbände längst überfällig;denn nur die Richterinnen und Richter sowie die Staats-anwältinnen und Staatsanwälte, also die Praktiker vorOrt, wissen, welche Ressourcen für eine ordnungsge-mäße Aufgabenerledigung erforderlich sind. Dazu hörtman aus Ihrem Haus leider noch nicht einmal leise Töne.Dass die Gerichtsbarkeit nicht Ihr Steckenpferd ist,zeigen Sie auch bei der längst überfälligen Änderung des§ 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung. Mit dieserNorm, die Sie in der letzten Legislaturperiode von denharten Oppositionsbänken aus noch heftig kritisiert ha-ben, Frau Ministerin, erlauben Sie dem Verteidigungsmi-nister, sich in die Besetzung des Wehrdisziplinarsenatsbeim Bundesverwaltungsgericht einzumischen. Wenndie Bundesregierung auf die Geschäftsverteilung einesoberen Bundesgerichts Einfluss nimmt, so ist dies nichtnur in meinen Augen ein eklatanter Verstoß gegen dasGebot der Gewaltenteilung. Sie haben sich leider nichteinmal dafür eingesetzt, dass der von meiner Fraktioneingebrachte Entwurf eines Gesetzes, das dies ändernsoll, im Rechtsausschuss behandelt wird.An anderer Stelle hingegen sind Sie, Frau Ministerin,und meine Fraktion sich anscheinend näher als Sie Ihremeigenen Haushaltsentwurf. Immer wieder fordern Sievöllig zu Recht zivilgesellschaftliches Engagement ge-gen rechts. Wir begrüßen, dass Sie für 2012 unseremVorschlag gefolgt sind und 50 000 Euro für die Öffent-lichkeitsarbeit zur Aufklärung über den Härtefallfondsfür Opfer von extremistischen Übergriffen in den Haus-halt einstellten. Wie lässt sich das aber damit vereinba-ren, dass Sie im nächsten Haushalt eine Kürzung bei denHärteleistungen – es handelt sich fast um eine Halbie-rung – planen? Offensichtlich war Ihre Aufklärungsar-beit nicht erfolgreich. Hier müssen Sie ansetzen.Dass die Regierung das Problem gewaltbereiter undgewaltausübender Rechtsextremisten trotz NSU-Skandalnicht im Griff hat, zeigen die weiterhin sehr hohen ak-tuellen Opferzahlen. Die Opfer gibt es. Allerdings wis-sen immer noch zu wenige von ihnen, dass sie Entschä-digungsleistungen bekommen können. An dieser Stellezu sparen, ist unredlich. Deshalb: Stellen Sie weiterhin1 Million Euro für alle Härteleistungen ein, und verbes-sern Sie die Informationsarbeit!Frau Ministerin, nutzen Sie die Zielgerade dieser Le-gislaturperiode, um vielleicht doch noch den einen oderanderen Beitrag zur Stärkung des Rechtsstaates zu leis-ten! Sie haben demnächst dazu Gelegenheit, wenn meineFraktion den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung derGewaltenteilung und der Selbstverwaltung der Justizvorlegt.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Hönlinger von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Frau Ministerin! „Das Bundesjustizministe-rium: Hüter des Rechtsstaates – Motor der Rechtspoli-tik“. So ambitioniert betitelt das Bundesjustizministe-rium seine Internetseite. Ziehen wir nach drei JahrenRegierungszeit Bilanz, so stellen wir fest: Der Motorwar in Bewegung. Er hat auch Geräusche von sich gege-ben. Aber nach vorne bewegt hat er sich nicht.
Jüngstes Beispiel ist der Entwurf eines Gesetzes zurBereinigung des Rechts der Lebenspartner. Änderungenwaren hier längst fällig. Sie, meine Damen und Herrenvon der Regierungsbank, hatten die Chance, echte Fort-schritte bei der Gleichstellung von Ehe und Lebenspart-nerschaft zu bewirken. Wir stellen fest: Sie haben dieChance vertan. Eine echte Gleichstellung haben Sienicht geschaffen. Was fehlt Ihrem Entwurf? An zentralePunkte wagen Sie sich nicht heran. Das sind das Ehe-gattensplitting und das volle Adoptionsrecht für Homo-sexuelle. Von der Öffnung der Ehe für gleichgeschlecht-liche Paare sind Sie noch meilenweit entfernt. Das zeigt:Ihre Rechts- und Gesellschaftspolitik ist realitätsfern.Sie haben nicht den Mut, den Entwicklungen in der Ge-sellschaft mit modernen Gesetzen Rechnung zu tragen.Sie betreiben hier ein Stück Realitätsverweigerung.
Selbst wenn Sie eine kleine Vorwärtsbewegung an-deuten, dann kommt der Koalitionspartner – diesmal in
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Ingrid Hönlinger
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Person von Gerda Hasselfeldt, ihres Zeichens Landes-gruppenchefin – und erklärt, die Zukunft liege „in Fami-lie, Kindern und Ehe und nicht in homosexuellen Le-benspartnerschaften“. Damit tritt sie mit beiden Beinenauf die Bremse.Als Rechtspolitikerin sage ich Ihnen an dieser Stelle:Wenn Menschen Verantwortung füreinander überneh-men, dann ist das ein hohes gesellschaftliches Gut. Dannkommt es auch nicht darauf an, ob die Partner verschie-den- oder gleichgeschlechtlich sind. Solche verantwor-tungsvollen Lebenspartnerschaften haben es verdient,gleich behandelt zu werden, und zwar sowohl rechtlichals auch steuerlich.
Das zweite Motto des Bundesjustizministeriums lau-tet, das Justizministerium sei der Hüter des Rechtsstaats.Eine der tragenden Säulen unseres Rechtsstaats ist dieJustiz. Für eine funktionierende Justiz brauchen wir aus-reichend Richterstellen und die erforderlichen Sachmit-tel. Dies ist im aktuellen Haushaltsplan berücksichtigt. Zueinem ausgewogenen Rechtsstaat gehört aber auch, dassder Zugang zur Justiz jeder Bürgerin und jedem Bürgeroffensteht. Wer sich einen Anwalt oder ein Gerichtsver-fahren finanziell nicht leisten kann, muss staatliche Hilfein Anspruch nehmen können. Wir gewährleisten das mitProzesskostenhilfe und mit Beratungshilfe. Doch wiesieht hier die Realität aus? Alle Lebenshaltungskostensteigen. Und was ist der Plan der Bundesregierung? Siewill die Prozesskostenhilfe und die Beratungshilfe ein-schränken und damit den Zugang zum Recht für ärmereEinkommensschichten erschweren. Verdeutlichen möchteich das an drei Beispielen.Erstens. Die Rechtsuchenden, deren Einkommen überden Sozialleistungen liegt, sollen mehr Geld für rechtli-chen Beistand bezahlen. Wer also wenig Einkommenhat, wird sich dann noch genauer überlegen, ob er dasGeld für den Schulausflug seiner Kinder ausgibt oder füreinen Prozess einsetzt. Das schreckt Rechtsuchende vondem Gang zum Gericht ab.
Zweitens. Das Gericht soll eine einmal bewilligteProzesskostenhilfe aufheben können, soweit ein Antragauf Beweiserhebung keine hinreichende Aussicht aufErfolg bietet. Das verstößt gegen den Grundsatz der vor-weggenommenen Beweiswürdigung im Zivilprozess,und das verschlechtert die Prozesschancen zulasten derfinanziell schlechter gestellten Partei erheblich.
Drittens. Bisher hat ein Ehegatte, der im Scheidungs-verfahren Prozesskostenhilfe erhält, das Recht auf einenAnwalt, wenn sein Partner oder seine Partnerin anwalt-lich vertreten ist. Dieses Recht soll eingeschränkt wer-den. Ein Anwalt muss dann nur noch über Prozesskos-tenhilfe beigeordnet werden, wenn die Schwierigkeit derSach- oder Rechtslage dies erfordert. Die Beiordnungwird also nicht mehr automatisch bewilligt, wenn auchdie Gegenpartei einen Anwalt hat. Das schränkt die Ver-teidigungsmöglichkeiten von Menschen mit geringemEinkommen deutlich ein. Das verschiebt die erfolgreicheRechtsverfolgung zugunsten des finanziell Besserge-stellten.Rechte, meine Damen und Herren, sind nur dann wir-kungsvoll, wenn die Bürgerinnen und Bürger diese auchdurchsetzen können. Mit diesem Gesetz zur Prozesskos-ten- und Beratungshilfe schaffen Sie eine Zweiklassen-justiz. Dieses Gesetz behütet nicht den Rechtsstaat, die-ses Gesetz beschädigt den Rechtsstaat.
Wir Grünen werden einem Gesetzentwurf, der im Rechts-bereich die Schere zwischen Arm und Reich noch weiteraufmacht, nicht zustimmen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Patrick Sensburg
von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Frau Ministerin! Ich möchte zu An-fang der Rede auf die Zahlen des Einzelplans 07 zu spre-chen kommen. Es gibt einzelne Punkte, die sicherlichnoch erwähnenswert sind. Insbesondere zwei Ansätzemöchte ich kurz in die Debatte einbringen, damit wir siein den kommenden Wochen diskutieren können.Es handelt sich tatsächlich um den kleinsten Einzel-plan des Bundeshaushalts. Er macht 0,16 Prozent desGesamtetats aus. Günter Krings hat es eben in seinerRede erwähnt. Aber zugleich stellen wir fest, dass derEtat mit einer Steigerung von 10,8 Prozent prozentualdie größte Steigerung aller Einzeletats erfährt. Daherwerden wir in den nächsten Wochen genau hinschauen,was die Gründe dafür sind. Die Gründe liegen sicherlichin den Personalkosten, aber das ist auch bei anderenHaushalten so, beispielsweise dem des Innenministe-riums. Wir müssen schauen, ob dieser Ansatz gerechtfer-tigt ist und, wenn dies so ist, ob wir inhaltlich eine inten-sivere Fokussierung auf bestimmte Themen, auf die ichgleich noch zu sprechen kommen werde, vornehmenkönnen. Wir werden die hohe Steigerung dieses Einzel-etats von 10,8 Prozent in den nächsten Wochen sicher-lich zum Gegenstand der parlamentarischen Debatte ma-chen.Ein weiterer Punkt, der von mir in den letzten Jahrenimmer wieder angesprochen worden ist, ist die hoheFlexibilisierungsquote des Etats des Bundesjustizminis-teriums. Gegenwärtig liegt diese Quote bei 67 Prozent.Das ist die höchste Quote eines Einzeletats. Die anderen
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Dr. Patrick Sensburg
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Ministerien liegen deutlich darunter. Beispielsweise hatdas Umweltministerium eine Flexibilisierungsquote von15 Prozent. Das Verteidigungsministerium hat eine Fle-xibilisierungsquote von gerade einmal 6 Prozent. Aushaushalterischer Sicht, aber auch aus Gründen der parla-mentarischen Kontrolle der Einzeletats wünsche ich mir,dass die Flexibilisierungsquote des Einzelplans 07 deut-lich niedriger angesetzt wird. Wir können sicherlich ineinen Dialog eintreten, Frau Ministerin. Ich stelle mireine Flexibilisierung von 30 Prozent vor. Das ist aus-reichend. Dann müssen die einzelnen Maßnahmen klarbestimmt sein.Bezüglich der inhaltlichen Debatte verstehe ich dieOpposition heute nicht. Bisher haben zehn Redner ge-sprochen, und viele Redner haben über die einzelnenMaßnahmen, über die einzelnen Initiativen des Bundes-justizministeriums gesprochen.
Die Justizministerin hat die einzelnen Maßnahmen dar-gelegt. Unser Sprecher Günter Krings hat die einzelnenMaßnahmen dargelegt. Sie haben diskutiert. Dennochwurde von einzelnen Rednern der Opposition immerwieder gesagt, es sei nichts passiert. Frau KolleginHönlinger, Sie haben gerade noch von dem Motor ge-sprochen, der sich nicht von der Stelle bewegt. Damit einFahrzeug sich bewegt, braucht es auch Räder, braucht esauch eine Karosserie. Genau das stellt die Regierungsko-alition dar: ein vollständiges fahrendes Fahrzeug, nichtallein einen Motor. Wir haben mit der Justizministerineinen ganz starken Motor. Aber wir haben auch schnei-dige Räder, und wir haben auch eine schneidige Karosse.Wäre der Kollege Ernst jetzt hier, könnte er Ihnen das imDetail darlegen.
Dass die Arbeit der Regierungskoalition in der Justiz-politik funktioniert, das sehen wir an vielen Maßnah-men. Dass wir in der Koalition diskutieren, das ist gut;denn es gibt natürlich immer wieder offene Baustellen.Das ist doch richtig. Ich werde Ihnen gleich einmalaufzeigen, was Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, im Bereich der Rechtspolitik leisten. Dasswir die offenen Baustellen aktiv angehen, das ist gut so.Es gibt noch Baustellen, und auf die komme ich nunebenfalls zu sprechen.Zunächst zum Bereich Vorratsdatenspeicherung;
Sie haben diesen Bereich in einzelnen Reden schon an-gesprochen. Da haben wir eine große Baustelle, auf derwir arbeiten müssen. Ich glaube, es ist nicht der richtigeWeg, die Auffassung zu vertreten – der Kollege Bockhahnhat den Sitzungssaal anscheinend schon verlassen –, wirkämen durch Klagen weiter. Wir haben vielmehr von derEuropäischen Union die Aufgabe bekommen, die Vor-ratsdatenspeicherung richtlinienkonform umzusetzen.
Inzwischen haben wir nicht nur den Umsetzungsterminversäumt – er war im März 2009, nicht im März 2013 –,sondern wir sind auch noch der Mahnung der Kommis-sion, bis April 2012 ein Gesetz zu haben, nicht nachge-kommen. Wir müssen also jetzt im Dialog einen Fort-schritt erzielen, und wir, die Koalition, werden das auchschaffen.
– Da bin ich mir ziemlich sicher.Es gibt die Möglichkeit einer richtlinienkonformenUmsetzung, durch die auch die Vorschläge des Bundes-verfassungsgerichts, die ja in seinem Urteil enthaltensind, berücksichtigt werden. Eine Lösung besteht mögli-cherweise in einem Short Freeze. Hierdurch werden imGrunde alle Aspekte der EU-Richtlinie, aber auch alleAspekte des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt.Darüber werden wir in den nächsten Wochen diskutie-ren, sodass dieser Haushaltsentwurf auch in seinerGesamtheit ausgereift ist. Sonst müsste man einen An-satz für mögliche Strafzahlungen berücksichtigen. DieKommission hat uns nämlich Strafzahlungen in Höhevon 300 000 Euro pro Tag angedroht. Wir müssen alsoeinen Vorschlag machen. Sie, meine Damen und Herrenvon der Opposition, werden sehen: Wir werden einensolchen Vorschlag vorlegen. Ich bin gespannt, wie wirnächstes Jahr diskutieren.Ein weiteres Thema, das wir angehen müssen, ist dasScharia-Recht. Wir haben es letztes Jahr in der Haus-haltsdebatte diskutiert. Wir haben gesagt: Das Phänomender Scharia-Richter wollen wir beleuchten. Bevor wireine Debatte führen, müssen wir dieses Phänomen ersteinmal konkreter betrachten. Deswegen haben wir imEinzelplan 07 dieses Haushalts eine entsprechendePosition geschaffen. Sechs Stellen zwischen A 13 undB 3 sind für den Bereich internationales und Scharia-Recht vorgesehen. Meine dringende Bitte an das Justiz-ministerium lautet, mit der Besetzung dieser Stellenzügig voranzugehen, sodass wir noch dieses Jahr Ergeb-nisse bekommen. Denn erst aufgrund dieser Ergebnissekönnen wir eine fundierte Debatte führen. Das unter-scheidet unsere von Ihrer Rechtspolitik: Wir führen ersteine fundierte Recherche durch und kommen zu Ergeb-nissen, ohne vorher mit populistischen Forderungen andie Öffentlichkeit zu gehen.
Die Umsetzung von Europarecht wird immer wichti-ger. Dass uns dies auch überfraktionell gut gelingt, hatdie Umsetzung der Mediationsrichtlinie gezeigt. DieBundesjustizministerin hat dies bereits angesprochen.Das ist eine gute Arbeit über die Fraktionsgrenzenhinweg mit allen Fraktionen. Hier wird die spannendeFrage sein, ob wir die Mittel im Etat auch dafür nutzenkönnen, um das Thema Mediation beispielsweise durchInformation und Aufklärung darüber, welche gutenMöglichkeiten das Mediationsgesetz bietet, weiter anzu-schieben. Ich glaube, hier haben wir gute Ansätze, umdas Thema noch intensiver zu bearbeiten. Ich könnte mir
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Dr. Patrick Sensburg
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vorstellen, dass im Rahmen der parlamentarischenDebatte in dieser Frage noch einzelne Aspekte einge-bracht werden können.Sie sehen, das Thema Europa prägt unsere Arbeit derRechtspolitik. Ich würde mir wünschen, dass die Rechts-politik des Deutschen Bundestages noch stärker auf dieentscheidenden Fragen, die uns aus Europa vorgegebenwerden, eingeht. Ich nenne hier beispielsweise dieThemen Staatsanleihen, Beteiligungsrechte, Fiskalpaktund ESM. Hier würde ich mir wünschen, dass dieRechtspolitik ihre Ansichten noch intensiver einbringenkann. Hier würde ich mir zum Beispiel wünschen, dassdie Frau Justizministerin auch einmal in den Unteraus-schuss Europarecht kommt, um mit uns ihre Überlegun-gen zu diskutieren. Ich weiß, dass Sie hier ganz dezi-dierte und richtige Ansichten haben. Ich glaube, das istein guter Ansatz, und ich bin mir sicher, dass wir interes-sante Erkenntnisse haben werden, um die Themenrechtspolitisch und nicht nur finanzpolitisch noch inten-siver zu beleuchten.
– Ja, Herr Kollege, es kommt auch etwas.Sie haben im Kaufrecht gesehen, dass wir hier über-fraktionell eine ganz starke Position eingenommenhaben, die über Deutschland hinaus in Europa wahrge-nommen wird. Von daher freue ich mich darüber, dassder Kollege Mayer dieses Thema schon angesprochenhat. Mit der Subsidiaritätsrüge, die wir erhoben haben,werden wir aber keinen Schlusspunkt haben. Hier wer-den wir eine weitere Diskussion über die Frage haben,wie es im europäischen Prozess weitergehen muss.Insbesondere im Bereich digitaler Kaufverträge sehe ichnoch eine intensive Diskussion vor uns; denn diesen Be-reich hat der Entwurf aus Europa im Grunde noch nichthinreichend berücksichtigt. Hier haben wir die Türaufgestoßen, um auch als nationales Parlament in einereuropäischen Diskussion politischen Einfluss zu neh-men. Das ist eine gute Richtung, die wir als DeutscherBundestag mit unserer intensiven Betrachtung der Inte-grationsverantwortung einnehmen. Ich kann hier nur alleFraktionen auffordern, dabei mitzumachen. Das nächsteThema wird kommen. Ich könnte mir vorstellen, dasswir beim Thema Sammelklagen zwar unterschiedlicheAnsichten haben, dass wir aber die Fragen der Integra-tionsverantwortung und der Subsidiarität definitiv inten-siv wahrnehmen müssen.Meine Damen und Herren, in den letzten SekundenRedezeit, die ich noch habe, möchte ich kurz auf dieOpposition eingehen. Sie haben die ganze Zeit gesagt:Es kommt nichts aus der Regierung. – Was kommt dennaus der Opposition?
Ich habe mir die Mühe gemacht und recherchiert. DieSPD hat 12 eigene Initiativen gehabt: 9 innenpolitischeund 2 von der CDU abgekupferte. Es war nicht viel da.Die Grünen haben einen guten Antrag vom KollegenMontag zum Thema Funkzellenüberwachung. Beidiesem Thema bin ich ganz anderer Meinung, aber derAntrag ist zumindest inhaltlich juristisch fundiert.Meine Damen und Herren von der Linken, sowohl aufIhrer Internetseite als auch im Rechtsausschuss gibt esim Bereich der Rechtspolitik – nicht der Innenpolitik –nichts.
Eine Ausnahme ist das Thema der Bekämpfung desRechtsextremismus. Das ist bei Ihnen sehr löblich, aberim Bereich der Rechtspolitik weisen Sie eine glatte Nullauf. Das mag an verschiedenen Gründen liegen. Ichwürde mir wünschen, dass Sie erst einmal als Oppositiontätig werden. Sie schreien immer, Sie möchten an dieRegierung. Sie können nicht einmal Opposition. Ichwürde inhaltlich arbeiten, dann würden Sie auch intensi-ver wahrgenommen.
Meine Damen und Herren, die Justizpolitik der Koali-tion bemisst sich an dem Grundsatz: eine starke Anwalt-schaft, Gerichte und Staatsanwaltschaften stärken, damitdie Bürger nicht nur in Europa in einem Raum der Frei-heit, der Sicherheit und des Rechts leben, sondern auchin Deutschland.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Ingo Egloff von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wenn man den Kollegen Sensburg eben gehörthat, dann könnte man denken, dass wichtige Themen,mit denen wir uns zu befassen haben, das europäischeKaufrecht und das Scharia-Recht sind. Der KollegeMayer hat vorher irgendwelche OLG-Entscheidungenzitiert. Ich habe das Gefühl, Sie machen hier ein biss-chen Nebel, damit Sie nicht über das reden müssen, wor-über Sie sich in Ihrer Koalition streiten.
Dankenswerterweise haben Sie ja darauf hingewie-sen: Bei der Vorratsdatenspeicherung wird es eine Lö-sung geben. Darauf werden wir jetzt warten. Ich meine,seit 2009 hatten Sie Zeit, als Koalition eine Lösung hin-zukriegen. Sie sagen, Sie werden das jetzt beschleunigttun. Dann müssen Sie sich aber ziemlich beeilen, wennSie das bis zum Ende der Legislaturperiode noch hin-kriegen wollen, Herr Kollege Sensburg.Mein Kollege Lischka hat ja schon auf die Bilanz derJustizministerin hingewiesen; die ist nicht besonderstoll. Da sind viele Ankündigungen gewesen, und amEnde ist nicht viel herausgekommen. Teilweise ist
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Ingo Egloff
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Klientelpolitik gemacht worden. Das ist das Ergebnis,das wir bisher festzustellen haben.Ich werde mich jetzt hier einmal einigen Punkten zu-wenden. Nehmen wir das Thema Mietrechtsänderung.Zwei Jahre lang angekündigt, einen Referentenentwurfnoch einmal geändert, jetzt sind wir in der Diskussion,
und nun ist ja die Frage, was am Ende dabei herauskom-men wird. Herr Mayer hat dankenswerterweise auf einenPunkt hingewiesen, der in Ihrem Gesetzentwurf fehlt,nämlich die Frage: Wie ist das denn mit der sozialenAusgestaltung des Mietrechts?
Ich hoffe, dass es kommt, dass Sie sich endlich auch indieser Frage einmal auf den Weg machen, zu gucken,was Sie gegen die Spaltung der Städte und gegen dieVertreibung von Mietern aus angestammten Vierteln tunkönnen.
Da müssen Sie sich nämlich der Frage der Mieterhöhun-gen zuwenden, da müssen Sie sich der Frage zuwenden,wie Sie ortsübliche Vergleichsmieten ausrechnen wollenund wie Sie bei Neuvermietungen die Mieterhöhungenbegrenzen wollen, wenn Sie die Ergebnisse nicht habenwollen, die wir in den Städten zu verzeichnen haben.Dazu findet sich in Ihrem Gesetzentwurf bisher über-haupt nichts.Zur Frage Mietnomaden. Also, das ist ein bisschen sowie mit dem Scheinriesen bei Jim Knopf.
Das Problem wird immer winziger, je mehr man sichihm zuwendet.
Herr Mayer sagte auf die Frage des Kollegen von derLinken, er wisse gar nicht, wie viele Fälle das sind. Sieändern das Mietrecht für alle Mieter auf der Basisirgendeiner Annahme, und Sie wissen gar nicht, wieviele Fälle das sind. Wenn Sie sich die Mühe machenwürden, mit den Wohnungsbaugesellschaften zu reden,dann würden Sie feststellen, dass die Ihnen sagen: Dasist überhaupt nicht das Problem.
Wissen Sie, den privaten Vermietern würden Sie wahr-scheinlich einen Gefallen tun, wenn Sie ihnen eineBroschüre gäben, in der steht, wie sie sich erkundigenkönnen. Damit wäre ihnen wahrscheinlich bessergedient als mit den Gesetzesänderungen, die Sie hiermachen, mit denen Sie den Mietern Rechte abschneiden,und zwar allen Mietern und in einer Art und Weise, diemit dem Rechtssystem eigentlich nicht zu vereinbarenist.
Kündigung wegen Nichtzahlung der Kaution ohneAbmahnung, Räumungstitel wegen Mietverzugs ohneEntscheidung in der Hauptsache, möglicherweise ohnedass die Rechtmäßigkeit der Mietkürzung festgestelltworden ist. Sie regeln etwas, wo es nichts zu regeln gibt,und beschädigen dabei ohne Not das Äquivalenzprinzipdes Vertragsrechts, meine Damen und Herren, und Sieschränken Mieterrechte in einer nicht hinnehmbarenWeise ein.Meinen Sie bei der energetischen Gebäudesanierungtatsächlich, dass das, was Sie hier im Mietrecht gemachthaben, dazu beitragen wird, dass auch nur ein Haus mehrenergetisch saniert wird als in der Vergangenheit? Sieblenden auch da die soziale Frage völlig aus, wie das mitder Umlage ist, und behelfen sich damit, dass Sie sagen:Na ja, das wird sich schon irgendwie wieder einspielendadurch, dass es diese Energieeinsparung gibt. – Sie wis-sen selber, wenn Sie mit Experten reden, dass dieseRechnung so nicht aufgeht und dass Sie sich auch hierder sozialen Frage zuwenden müssen, der Frage desUmlegens dieser Investitionen. Gleichzeitig kürzen Sieauch das Mietminderungsrecht in einer Art und Weise,die überhaupt nicht gerechtfertigt ist. Die Vermieter sa-gen, diese drei Monate bringen im Prinzip überhauptnichts. Sie machen eine neue Baustelle für Anwälte undGerichte auf, weil es Streit darüber geben wird: Was istdenn energetische Gebäudesanierung, was ist normaleModernisierung? Also, an der Stelle müssen Sie nocheinmal erheblich nachbessern.
Meine Damen und Herren, zur Frage der Steuer-CDsist hier schon eine Menge gesagt worden. Ich finde eseigentlich traurig, dass die Bundesjustizministerin, dieeigentlich sozusagen auch die Hüterin des Rechtsstaatsin der Öffentlichkeit sein soll, sagt, sie möchte mit demTatbestand der Datenhehlerei gegen diejenigen vorge-hen, die den deutschen Staat in die Situation versetzen,Steuerstraftäter zu stellen. Ich finde, es ist ein Unding,dass die Justizministerin in dieser Art und Weise agierthat, meine Damen und Herren.Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege Alexander Funk von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In unseraller Interesse werde ich die Lautstärke jetzt erst einmaletwas zurückdrehen.
– Einfach besser zuhören, Kollege.Es wird wohl zu keiner Zeit eine Haushaltsdebatte ge-ben, in der die Redner nicht darauf verweisen, dass es sichbeim Justizetat um den kleinsten Etat aller Ministerienhandele, gleichwohl aber um einen der wichtigsten. Die-ser Versuchung widerstehe ich heute. Immerhin: Selbstdieser Einzelplan nähert sich nunmehr der 600-Millionen-Euro-Grenze; aber was man früher als beachtlicheSumme betrachtet haben mag, hat angesichts der Hun-derten von Milliarden Euro, um die es bei der sogenann-ten Rettung des Euro geht, für viele in der Tat nur nochden Charakter der berühmt-berüchtigten Peanuts. Den-noch sollte man auch diesen Etat nicht einfach parlamen-tarisch durchwinken; denn selbst er bietet einerseits aus-reichend Kritikpunkte und andererseits Ansätze zumverstärkten Sparen. Einige wenige Aspekte will ich he-rausgreifen.Ein emotional geladenes Thema ist die Umsetzungder EU-Richtlinie zur sogenannten Vorratsdatenspeiche-rung. Ich verzichte darauf, die Argumente von Gegnernund Befürwortern der Richtlinie aufzuführen oder gar zubewerten. Kollege Professor Dr. Patrick Sensburg hatbereits völlig zu Recht auf die schwierigen juristischenEinschätzungen hingewiesen. Ich will an dieser Stellenur darauf hinweisen, dass die wahrscheinliche Verurtei-lung Deutschlands durch den EuGH in dieser Frage dendeutschen Steuerzahler täglich 315 000 Euro kostenkann. Auch ein Pauschalbetrag, wenn er denn fälligwird, dürfte empfindlich hoch sein. Ich kann als Haus-hälter nicht nachvollziehen, dass eine derartige Strafan-drohung die Justizministerin nicht zu aktivem Handelnveranlasst.Die Befassung mit dem Deutschen Patent- und Mar-kenamt
darf in keiner Rede zum Justizetat fehlen. Das gilt auch fürdiese Rede, wenngleich meine Äußerungen durchaus – –
– Wie bitte? – Das gilt auch für diese Rede, wenngleichmeine Äußerungen durchaus kein Selbstzweck sind, wieSie gleich hören werden. Aus München erreichen unsAlarmsignale; denn die Erledigungszahlen sanken dras-tisch, von 31 900 in 2010 auf 25 520 im vergangenenJahr. Für die Wirtschaft eines Blaupausenlands wieDeutschland hätte eine solche Entwicklung katastro-phale Folgen, wenn sie denn anhielte. Inzwischen hatsich aber herausgestellt, dass es sich bei diesem Rück-gang wohl um einen einmaligen Sondereffekt handelt,der durch die ElSA-Einführung und die damit verbun-dene Anpassung des Statistiksystems zahlreiche Patent-prüfer gebunden hatte. Der Etatentwurf der Regierungsieht ohnehin die Verlängerung von 201 kw-Stellen bis2016 vor. Wir werden sorgfältig beobachten müssen, obder Patentstau abgebaut wird oder ob es nicht noch zu-sätzlicher Stellen bedarf. Momentan erscheint mir dasnicht erforderlich.Bereits in der ersten Legislaturperiode des DeutschenBundestages wurde Anfang der 50er-Jahre des vergan-genen Jahrhunderts der Bürokratieabbau gefordert. DerRuf verhallte ungehört. Mit der Umsetzung des Gesetzesüber elektronische Handelsregister und Genossen-schaftsregister sowie das Unternehmensregister, kurzEHUG, war unser Land 2007 um ein weiteres Stück Bü-rokratie reicher. Verstöße gegen die im EHUG gefor-derte Offenlegungspflicht werden vom Bundesamt fürJustiz mit Ordnungsgeldverfahren und Strafen zwischen2 500 und 25 000 Euro geahndet, und das nicht zuknapp. Bei der ursprünglichen Stellenausbringung hatteman eine Zahl von jährlich 100 000 Fällen geschätzt; tat-sächlich sind es 145 000 Fälle. Die Fallzahlen im Be-reich der Ordnungsgeldandrohung liegen mit 19 Prozentfast doppelt so hoch wie ursprünglich angenommen, undes werden nicht in 2,5 Prozent dieser Fälle Ordnungsgel-der festgesetzt, sondern in 30 Prozent der Fälle. Diesezunächst nicht absehbare Entwicklung lässt nach meinerÜberzeugung eine Ablehnung des durchaus signifikan-ten Stellenzuwachses beim Bundesamt für Justiz nichtzu.Dass gespart werden muss, ist uns allen klar, ebensowie die Tatsache, dass sehr häufig an der falschen Stellegespart wird. Ich nehme hier als Beispiel die IRZ-Stif-tung. Als vor einem Jahr noch Euphorie aufgrund des so-genannten oder vermeintlichen arabischen Frühlingsherrschte, waren wir uns im Haushaltsausschuss einig,dass die Deutsche Stiftung für internationale rechtlicheZusammenarbeit mit ausreichenden Mitteln auszustattenist, damit sie den Demokratisierungsprozess in Nord-afrika begleiten kann. Inzwischen ist die Aufstockungder Gelder fast komplett zurückgenommen worden, unddamit werde ich mich nicht zufriedengeben.
Die Projekte laufen gut und leisten einen wesentli-chen Beitrag zur Entwicklung der teils jungen Demokra-tien. Selbst das Ministerium spricht von einer vielver-sprechenden Zusammenarbeit und dem Wunsch etwaTunesiens oder Ägyptens, die erfolgreiche Arbeit fortzu-setzen. Es war der ausdrückliche und parteiübergrei-fende Wunsch des Haushaltsausschusses, die Arbeit derIRZ-Stiftung in Nordafrika zu fördern. Wir werden unsdeshalb engagiert dafür einsetzen, dass die Mittel wiederum 364 000 Euro aufgestockt werden, die im vorliegen-den Haushaltsentwurf gestrichen wurden.Unter die nationalsozialistische VergangenheitDeutschlands will und darf niemand einen Strich ziehen.Der NS-Staat hat millionenfach morden lassen. Zu die-sem NS-Staat gehörte auch das Reichsministerium derJustiz. Es ist daher zu begrüßen, dass die Bundesjustiz-ministerin nun die braune Geschichte ihres Hauses auf-
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Alexander Funk
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arbeiten lassen will – recht spät zwar, aber immerhin. Er-örtert werden muss nach meiner Überzeugung aber nochdie Frage, wer in welcher Weise die Aufarbeitung vor-nimmt. Mit rund 1 Million Euro will die Ministerin bis2015 per Verpflichtungserklärung eine Expertenkom-mission finanzieren, die sich der schwierigen Aufgabeannehmen soll. Wenn auch jeder der Persönlichkeiten,die bisher genannt wurden, die entsprechende Expertisebescheinigt werden muss, sollte meines Erachtensgeprüft werden, ob wir wirklich eine neue Expertenkom-mission benötigen. Denkbar wäre durchaus, einenFörderpreis auszuschreiben und sich des Themas ge-meinsam mit deutschen Universitäten anzunehmen. DieBeauftragung eines kompetenten Verlags wäre – nachentsprechender Ausschreibung – eine weitere Alterna-tive. Ich bin mir sicher, dass die wissenschaftliche Quali-tät der Ausarbeitung nicht leiden würde, wenn eine derAlternativen nach entsprechender Prüfung gewählt wer-den würde.Die wenigen Punkte, die ich aufgegriffen habe, zei-gen, dass auch ein sogenannter kleiner Einzelplan sorg-fältigst geprüft werden muss. Es ist Aufgabe der Opposi-tion, die Regierung zu kontrollieren, das heißt aber imUmkehrschluss keinesfalls, dass Abgeordnete der Koali-tion dem Etatentwurf der Regierung kritiklos zustimmenmüssen. Ich jedenfalls werde in Gesprächen in den kom-menden Wochen die angeführten und weitere Punkteaufgreifen und bitte um engagierte Unterstützung meinerKollegen.
Der Kollege Petermann hat nun das Wort zu einer
Kurzintervention.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte kurz et-
was richtigstellen. Herr Kollege Sensburg, es ist in Ord-
nung, dass man als einer der letzten Redner etwas ab-
räumt. Ehe Sie aber bestimmte Ergebnisse googeln,
sollten Sie sich vielleicht mit dem Kollegen Mayer da-
rüber verständigen, wie das richtig funktioniert. Er hat
das vorhin ja gut hingekriegt.
Ich habe gerade eben mit meinem Büro kommuni-
ziert. Aus meiner Fraktion kamen in dieser Legislaturpe-
riode mindestens 14 parlamentarische Initiativen zum
Bereich Rechtspolitik. Das zur Richtigstellung. Über die
Details können wir uns später noch unterhalten.
Möchten Sie antworten? – Bitte schön.
Herr Kollege Petermann, auch ich habe recherchiert.
Ein Großteil dieser Initiativen sind innenpolitischer Art
oder sie sind angehängt an folgende Initiativen, die wir
eingebracht haben: Gerichtsstand für besondere Aus-
landsverwendung der Bundeswehr – Ablehnung durch
die Linke. Warnschussarrest, Erweiterung der jugendge-
richtlichen Handlungsmöglichkeiten – Ablehnung durch
die Linke. Sicherungsverwahrung – Ablehnung durch
die Linke.
Stärkung der Täterverantwortung – Ablehnung durch die
Linke. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte – Ab-
lehnung durch die Linke.
Ich könnte die Liste noch fortführen. Wenn Sie Ableh-
nung als Initiative bezeichnen, dann haben Sie recht.
Liefern Sie selbst, leisten Sie selbst, und melden Sie sich
dann wieder!
Danke schön.
Jetzt hat das Wort der Kollege Ewald Schurer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Manchmaltreibt die Debattenkultur seltsame Blüten: Das sind sodie kleineren Scharmützel.Lassen Sie mich auf die eigentliche Materie zurück-kommen. Es ist ein guter Brauch, dass die Hauptbericht-erstatter der Frau Ministerin und ihrem Haus über allepolitischen Inhalte hinweg herzlich danken – das macheich aus Überzeugung – für die umfängliche und rechtzei-tige Bereitstellung und Erarbeitung aller Unterlagen, diewir Berichterstatter benötigen.
Wir haben morgen in aller Frühe bei Ihnen im Hause ei-nen Termin zu einem Gespräch zwischen den Bericht-erstattern, das ich leiten werde, um die genannten Zahlenzu beraten. In aller Kürze: Das ist das verdiente Lob fürdie Arbeit jenseits der inhaltlichen Divergenzen, die hierausgetragen werden. Das soll und muss auch so sein.Der Haushalt steht in der Tat strukturell gesehen ins-gesamt in Kontinuität zu früheren. Die Einnahmen sindmit 484 Millionen Euro noch einmal deutlich höher an-gesetzt, weil die wesentlichen Träger, die Geld bringen– das Deutsche Patent- und Markenamt aufgrund seinesLeistungsbildes und das Bundesamt für Justiz –, im
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Ewald Schurer
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nächsten Haushalt mit 313 Millionen Euro respektive128 Millionen Euro dafür sorgen, dass wir eine De-ckungsquote von 81 Prozent bei den Ausgaben haben.Das ist enorm. Es liegt aber an Art und Umfang der Tä-tigkeit dieses Ministeriums, das für das Rechtsgefügeder Gesellschaft jenseits der relativ überschaubarenWerte eine hohe Funktionalität und Bedeutung hat. –Das ist das eine.Es wurden einige Fragen gestellt, die ich kurz beant-worten will.Natürlich sind Flexibilisierungen im Umfang von68 Prozent ein hoher Wert. Das hat aber auch mit derTatsache zu tun, dass es sich hier vor allem um einenVerwaltungsetat handelt. Man kann natürlich auch da-rüber diskutieren, inwieweit das relativiert werden kann,werter Kollege.Wichtig ist, geschätzter Herr Kollege Funk, dass wirHaushälter, aber auch das BMF uns darauf verständigthaben, die bisher traditionell sehr hohen Ausgaberestezurückzuführen – das wird in diesem Haushalt gemacht –,um dem Grundsatz von Haushaltswahrheit und Haus-haltsklarheit mehr zu entsprechen und um die Leistun-gen, die jeweils erbracht werden, im Haushalt direkterabbilden zu können.Natürlich ist es richtig – das wurde ja auch angespro-chen –, dass sich die Erhöhung der Ausgaben aufgrundvon Tarifanpassungen bei einem kleinen und übersichtli-chen Haushalt prozentual anders auswirkt als bei einemMilliardenhaushalt. Das ist im Wesentlichen, Herr Kol-lege Sensburg, die Antwort darauf, wieso es hier zu einerAusgabenerhöhung kommt. In diesem feinen und klei-nen Haushalt schlagen diese Tarifanpassungen, die ich– wie wohl alle – für notwendig halte, überdurchschnitt-lich zu Buche.Lassen Sie mich noch ein Thema ansprechen, werteKolleginnen und Kollegen, das mich sehr bewegt. Wirreden ja morgen darüber; und da möchte ich auch aufSie, Frau Ministerin, noch einmal zukommen. Sie habenin Ihren Ausführungen gesagt, der Titel 681 01 „Härte-leistungen für Opfer extremistischer Übergriffe“ beimBundesamt für Justiz wurde in diesem Jahr aufgrund derschrecklichen Tatsache der brutalen Morde dieser NSU-Terrorgruppe genutzt. Schrecklich war besonders, dasswir lange Zeit nicht wussten, welche dramatischenDinge sich politisch in den Ämtern ereignet und abge-spielt haben. Sie machen nun etwas, was ich nicht nurvon der Symbolik, sondern von der ganzen Entwicklungin dieser Gesellschaft nicht für richtig halte: Sie wollen,weil, wie Sie sagten, der NSU-Vorgang eine einmaligeSache war – hoffen wir, dass es zu solch brutalen Wie-derholungen nicht mehr kommt; aber die latente Gefahrist da –, den Haushaltsansatz von 1 Million Euro auf500 000 Euro kürzen. Das ist politisch gesehen ein extremfalsches Zeichen.
Ich möchte Sie bitten – das werde ich auch morgen bean-tragen –, bei dem Ansatz von 1 Million Euro zu bleiben.Machen wir uns nichts vor: Draußen im Lande, im Un-tergrund radikalisieren sich die Rechtsextremen, die Na-zis, tagtäglich. Sie rüsten auf mit einer brutalen, schreck-lichen und menschenverachtenden Logistik. Deswegensollten wir noch einmal konsensual darüber reden – dasempfehle ich –, ob wir nicht ein besseres Zeichen setzen,wenn wir den Ansatz wieder auf 1 Million Euro erhöhen.
Herr Kollege.
Ein letzter Satz. – Lassen Sie uns darüber reden, wie
wir auf neuen und unbürokratischen Wegen die Entschä-
digungsleistungen besser an die vielen Opfer bringen,
die es leider in dieser Gesellschaft gibt.
Herzlichen Dank.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichsund kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums des Inneren, Einzelplan 06.Das Wort hat der Bundesminister Hans-PeterFriedrich.Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Gut 5,8 Milliarden Euro im Bundes-haushalt des Innenministeriums und auch in diesem Jahrwieder mehr als zwei Drittel für den Bereich der innerenSicherheit: Das ist auch dringend notwendig; denn dieBedrohungslage für Europa insgesamt, aber auch für un-ser Land ist nach wie vor angespannt.Der islamistische Terror hat uns in den Fokus genom-men, und wir sollten uns darüber im Klaren sein, dasswir täglich mit Anschlägen in Deutschland oder aufdeutsche Einrichtungen oder Personen im Ausland rech-nen müssen. Deswegen ist es richtig, dass wir uns da-rüber verständigen, dass Wachsamkeit der Preis der Frei-heit und der inneren Sicherheit ist. Diese Wachsamkeitmuss immer wieder gezeigt und gestärkt werden.Neben der Bedrohung aus dem Ausland gibt es aberauch noch ein neues Phänomen, das die Sicherheits-kräfte vor besondere Herausforderungen stellt, nämlichdas Phänomen des sogenannten Homegrown Terrorism,
des hausgemachten Terrorismus, des Wachsens von Ter-roristen im eigenen Land. Dieses Problem haben dieVereinigten Staaten, alle unsere europäischen Partnerund wir in Deutschland. Der Anschlag vom 2. März
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Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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2011 in Frankfurt durch einen solchen „hausgemachtenTerroristen“, aber auch die Anschlagsversuche der soge-nannten Kofferbomber und der Sauerland-Gruppe bele-gen, dass wir ein solches Problem haben. Sie alle habenvielleicht das Drohvideo des Herrn Cuspert gesehen oderdavon gehört, das in der letzten Woche bekannt wurde –auch in der Öffentlichkeit. Ich glaube, das alles macht esnotwendig, dass wir uns mit diesem Phänomen in beson-derer Weise auseinandersetzen.Die besondere Herausforderung für die Sicherheits-kräfte ist, dass kein großer Kreis, sondern nur ein kleinessoziales Umfeld beurteilen kann, was in den Menschen,die sich selbst radikalisieren, überhaupt vorgeht. Deswe-gen habe ich im Rahmen der Sicherheitspartnerschaftauch Eltern, die das Schicksal erleiden mussten, einKind dadurch zu verlieren, dass es sich einer radikalenterroristischen Gruppierung angeschlossen hat und zumBeispiel nach Pakistan ausgereist ist, eingeladen undmich mit ihnen getroffen.Ich habe einer Mutter gegenübergesessen, die geschil-dert hat, wie ihr Kind vor ihren Augen verloren ging. Siesagte: Ich wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte.Das hat mich dazu veranlasst, noch in derselben Wochebeim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eineHotline zu schalten, sodass Eltern und Angehörige dieMöglichkeit haben, sich beraten zu lassen, wenn sie mer-ken, dass ihr Kind oder Verwandter in einer solchen Si-tuation ist.
Jetzt geht es natürlich darum, dass wir diese Hotlinebekannt machen. Dafür haben wir eine Plakataktion vor-bereitet, die in den letzten zwei Wochen auch in den Me-dien Thema war;
sie war dadurch sehr erfolgreich; denn die entsprechendeNummer ist bekannt geworden.
Ich kann Ihnen sagen, dass die Zahl der hilfesuchendenEltern oder Verwandten, die angerufen haben, enorm an-gestiegen ist. Insofern kann man bei dieser Plakataktionnach dem Start im Internet schon jetzt von einem großenErfolg sprechen.Meine Damen und Herren, die Sicherheitsarchitekturmuss insgesamt gut aufgestellt werden und auch in derZukunft gestärkt werden. Das bedeutet, dass wir alleSäulen der Sicherheitsarchitektur stärken müssen.Ich beginne mit dem Bereich, der in den letzten Wo-chen in den Medien verstärkt vorkam, nämlich dem Ver-fassungsschutzverbund.Wir sind dabei, das Bundesamt für Verfassungsschutzzu reformieren und werden folgende wesentliche Moder-nisierungsmaßnahmen umsetzen:Erstens – das ist ganz wichtig –: Wir werden im Bun-desamt für Verfassungsschutz bestimmte Aufgaben prio-risieren. So wird es seine Arbeit auf den Bereich der ge-waltgeneigten Organisationen und auf besondersgefährliche verfassungsfeindliche Tendenzen konzen-trieren. Das halte ich für richtig; denn wir brauchen auchfreie Kapazitäten für neue Aufgaben.Als Zweites müssen wir die Analysefähigkeit desBundesamtes für Verfassungsschutz und des Verfas-sungsschutzverbundes insgesamt verbessern. Analysefä-higkeit verbessern heißt, dass wir die Erkenntnisse, diedie verschiedenen Behörden haben, auch allen zur Ver-fügung stellen müssen. Das ist ein wichtiger Punkt; denndie Konzeption für die Sicherheitsarchitektur in Deutsch-land muss lauten: arbeitsteiliges Herangehen der einzel-nen Behörden, Kooperation dieser Behörden und Ver-netzung der Behörden. Arbeitsteiligkeit, Kooperation,Vernetzung! Jede Behörde handelt in ihrem Bereich,nach ihren rechtlichen Grundlagen, nach ihren Möglich-keiten, Spezialisierungen und Fähigkeiten; aber dannmuss alles zusammenfließen.Es gibt hierfür ein sehr erfolgreiches Beispiel, das Ge-meinsame Terrorismusabwehrzentrum gegen den Isla-mismus, in dem alle Behörden von Bund und Ländern,BKA, LKÄ, BND, MAD, zusammenarbeiten und Infor-mationen austauschen, und zwar täglich, und dabei sehrerfolgreich sind.
Nach dem Auftauchen der Terrorfälle im vergangenenNovember – am 14. November haben wir den ganzenUmfang zur Kenntnis nehmen müssen – habe ich bereitsam 16. Dezember, also einen Monat später, ein Gemein-sames Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus aufden Weg gebracht, und zwar in Meckenheim bei Bonn,wo täglich Vertreter des Verfassungsschutzes, der Krimi-nalpolizei und des MAD in all diesen wichtigen Fragenzusammenarbeiten. Auch dieses Zentrum lässt sich er-folgreich an.Ich habe entschieden, dass wir für alle Phänomenbe-reiche, denen sich der Verfassungsschutz widmet, jetztein solches Abwehrzentrum als gemeinsames Sicher-heitszentrum gründen. Wir werden also in allen Phäno-menbereichen diese Plattform zur Kooperation und Zu-sammenarbeit auf den Weg bringen. Die Vorarbeitenfinden derzeit bereits statt.Dritter Punkt beim Verfassungsschutzverbund ist dieZusammenarbeit mit den Ländern. Wir haben auf derEbene der Innenminister Einigkeit darüber erzielt, dasswir den Informationsfluss verbessern wollen.
Die Innenminister der Länder haben in einem Papier ge-sagt: Jawohl, die Zentralstellenfunktion des Bundesam-tes für Verfassungsschutz muss gestärkt werden. WasStärkung der Zentralstellenfunktion heißt, werden wirmit den Innenministern der Länder im Einzelnen nochausdiskutieren.
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Für mich ist ganz klar, dass diese Stärkung der Zentral-stellenfunktion auch eine Koordinierungsmöglichkeitdurch das Bundesamt für Verfassungsschutz bedeutet.Selbstverständlich müssen wir in der Lage sein, wennwir sehen, dass mehrere Länder an einem Phänomen, aneinem Fall arbeiten, eine Koordinierung dieses Falls her-beizuführen. Ich halte das für notwendig. Das ist eine derwesentlichen Lehren aus den Erkenntnissen im FalleNSU.
Schließlich geht es darum, Transparenz herzustellen,auch gegenüber der Öffentlichkeit und dem Parlament.Ich komme zur zweiten Säule, der Bundespolizei: Wirhaben dort die Reformen umgesetzt. Die Neuorganisa-tion ist abgeschlossen. Das Parlament hat eine Evaluie-rung verlangt, die ebenfalls abgeschlossen wird. Sie wirdaber keine gravierenden Veränderungen, sondern nachdem, was sich momentan abzeichnet, Nachjustierungennach sich ziehen. Wichtig ist auch hier: Arbeitsteilung,Kooperation, Vernetzung.Wir müssen einerseits eine Zusammenarbeit mit demBKA auf den Weg bringen. Deswegen haben wir schonseit dem letzten Jahr eine gemeinsame Arbeitsgruppe,um die IT-Fähigkeiten von Bundespolizei und BKA zuvernetzen. Wir wollen aber auch dort, wo das möglichist, eine gemeinsame Ausbildung herbeiführen. Auchdas ist ein wichtiger Punkt.Andererseits müssen wir für Arbeitsteilung, Koopera-tion und Vernetzung, also für ein engeres Zusammenwir-ken zwischen dem Präsidium in Potsdam und den Direk-tionen sorgen. Ich glaube, auch das ist ein richtigerAnsatzpunkt. Es geht um Impulse, die von oben nach un-ten und von unten nach oben gegeben werden.
Beim BKA sind wir dabei, insbesondere den Mit-telansatz für den Bereich der Informations- und Kommu-nikationstechnologie zu verstärken. Ich glaube, auch dasist ein entscheidender Punkt.Wir sind insbesondere dabei – auch das zeigt dieserHaushaltsentwurf –, den Kampf gegen den Rechtsextre-mismus zu verstärken: insgesamt 25 Millionen Euromehr für diesen Bereich, und zwar nicht nur für den Be-reich der Sicherheitsbehörden, sondern zum Beispielauch zur Stärkung der gesellschaftlichen Strukturen, zurStärkung der Abwehrfähigkeit gesellschaftlicher Struk-turen, indem wir den Bereich „Zusammenhalt durchTeilhabe“ ausweiten.
Ich will ganz kurz ein Wort zum NPD-Verbot sagen.Wir befinden uns in einer Phase, in der wir Materialsammeln und bewerten. Die Zusammenstellung werdenwir Ende dieses Monats fertig haben. Im Oktober/No-vember werden wir dann Gelegenheit haben, uns überdie Möglichkeiten eines solchen NPD-Verbots Gedan-ken zu machen und darüber zu diskutieren. Auch das istein wichtiger Punkt, über den wir in den nächsten Wo-chen bzw. Monaten entscheiden müssen.Ich möchte noch ein ganz aktuelles Thema anspre-chen, nämlich die Aufnahme von Flüchtlingen. Wir ha-ben in Syrien eine angespannte Lage. Bisher hat sich derUNHCR darauf beschränkt, für Hilfe vor Ort zu sorgen.Wir beteiligen uns in großem Umfang daran. Das gilt fürdie Bundesregierung insgesamt. So hilft dort das THWden Flüchtlingen. Wenn es zu einem Hilfsappell desUNHCR an die Weltgemeinschaft kommen sollte, dannwird sich die Europäische Union insgesamt verständi-gen.
Ich habe mit den Innenministern der Länder vereinbart,dass Deutschland dann sofort handelt und auch bereitsein wird, entsprechende Hilfsmaßnahmen zu überneh-men.
Im Übrigen – lassen Sie mich auch das sagen – habeich mit den Länderinnenministern schon im vergangenenJahr vereinbart, dass wir dreimal 300 Flüchtlinge– Flüchtlinge aus den Flüchtlingslagern in Nordafrikaund irakische Flüchtlinge, die sich in der Türkei befin-den – aufnehmen. Die ersten 195 sind bereits angekom-men. Weitere 100 werden im Oktober kommen. Ichdenke, auch das zeigt, dass wir als BundesrepublikDeutschland unserer humanitären Verpflichtung nach-kommen.
Ein Thema, das viel erfreulicher ist, ist der Sport. DieOlympischen Spiele und die Paralympics liegen hinteruns. Sie wurden mit einer grandiosen Vorstellung unse-rer englischen Freunde beendet und sind auch für diedeutschen Athletinnen und Athleten, wie ich meine, sehrerfolgreich verlaufen.
Für uns ist es ein weiterer Ansporn, dafür zu sorgen, dassdas Geld, das wir im Haushalt für die Förderung desLeistungssports vorsehen, effizient ausgegeben wird. Ichdenke, dass wir allen Grund haben, auf den Beitrag, dender Bund dazu leistet, stolz zu sein. Wir als Regierung,Sie als Parlament, der Sportausschuss und der Haus-haltsausschuss, tragen dazu bei, dass sich unsere Sportle-rinnen und Sportler so positiv präsentieren können.
Meine Damen und Herren, eine wesentliche Aufgabedes Bundesinnenministeriums, die unmittelbar vor unsliegt, ist die Ausarbeitung der Demografiestrategie. Wirwerden am 4. Oktober 2012 einen großen Demografie-gipfel in Berlin durchführen, einen Kongress, bei demwir die einzelnen Arbeitsgruppen auf den Weg bringen.
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Für die spezielle Arbeitsgruppe „Zukunft des öffentli-chen Dienstes“ ist das Innenministerium zuständig. In-zwischen haben die Menschen im ganzen Land – wennSie mit Unternehmen sprechen, dann bekommen Sie dieBestätigung – begriffen, wie wichtig eine gut funktionie-rende Verwaltung für einen gut funktionierenden Staatist. Auch die Wirtschaft kann nur erfolgreich sein, wenndie Verwaltung funktioniert. Deswegen bedanke ichmich dafür, dass es vonseiten der Haushälter große Be-reitschaft gibt, auf weitere Stellenreduzierungen zu ver-zichten. Wir sind mittlerweile an einem Limit. Die Auf-gabenbewältigung durch den öffentlichen Dienst wäredurch weitere Stellenreduzierungen gefährdet. Dafüralso ganz herzlichen Dank.Im Übrigen sind wir dabei, Effizienzressourcen zu he-ben, wo immer es geht. Das E-Government-Gesetz, dasden elektronischen Zugang zu den Ministerien schafft,ist unterwegs und wird demnächst in das Kabinett einge-bracht. Modernisierung der Verwaltung ist also auch ei-nes der wichtigen Themen des Innenministeriums. Einweiteres wichtiges Thema ist Effizienzsteigerung, dersinnvolle Einsatz aller Mittel.Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen bei den Haushalts-beratungen, die vor uns liegen.Danke schön.
Für die SPD-Fraktion spricht Christine Lambrecht.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat Zeitengegeben, da waren die Innenminister in den bundesdeut-schen Regierungen herausragende Persönlichkeiten, un-abhängig davon, wie man zu ihrem Handeln stand.
Ich nenne als Beispiele nur Namen wie Genscher, Schilyund Schäuble.
Für diese Innenpolitiker war es Berufung, Innenministerzu sein.Heute haben wir es mit Ihnen zu tun, Herr Friedrich,mit einem Innenminister, dem man anmerkt, dass er die-ses Amt nie angestrebt hat. Dass er es bekleiden muss,ist das Ergebnis einer Kabinettsrochade der Kanzlerin,als wieder einmal ein Minister zurücktreten musste.Nach dem erlösenden Rücktritt von Guttenberg musstede Maizière nachrücken, und Sie mussten dann diese Lü-cke schließen. Seitdem stellt sich alle Welt die Frage, obfehlender Wille oder ob fehlende Eignung der Grund da-für ist, dass Sie dieses Amt so unglücklich führen. Wahr-scheinlich ist es von beidem etwas.
Dabei sind die Herausforderungen in der Innenpolitikso groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Eher zufällig istzutage getreten, dass wir es über ein Jahrzehnt lang inunserem Land mit einer rechtsterroristischen Gruppe zutun hatten, die mindestens zehn Menschen ermordet hat.Dabei sind eklatante Mängel in der Sicherheitsstrukturunseres Landes offenbar geworden. Am Dienstag muss-ten wir erleben, dass Akten des MAD über den Rechts-terroristen Mundlos, deren Existenz lange geleugnetwurde, bekannt wurden. Die Sicherheitsbehörden, insbe-sondere der Verfassungsschutz, haben bei der Beobach-tung des Nationalsozialistischen Untergrunds derartkrass versagt, dass das Vertrauen der Bürger völlig ver-loren gegangen ist.
Deshalb brauchen wir Veränderungen und Verbesserun-gen in der Sicherheitsarchitektur.Ein „Weiter so!“ darf und wird es für den Verfas-sungsschutz nicht geben. Was es aber auch nicht gebendarf und was wir auch nicht brauchen, ist die Auflösungaller Landesverfassungsschutzämter zugunsten einerSuperbehörde des Bundes, wie sie von der Bundesjustiz-ministerin vorgeschlagen wurde.
– Ich kann mir vorstellen, dass Sie das nicht gerne hören.Dieser Vorschlag ist ja auch ordentlich zerpflückt wor-den.
Was wir auch nicht brauchen, ist eine Aufteilung derAufgaben: hier der Bund, der für die gewaltbereiten Ex-tremisten zuständig ist, und dort die Länder, die für denRest zuständig sind, wie vom Innenminister vorgeschla-gen.Sie haben gerade gesagt, Sie seien in guten Gesprä-chen mit den Landesinnenministern. Das hat sich bei derVorlage Ihres Vorschlags aber ganz anders angehört.Damals sind Sie im Minutentakt von den eigenen Leutenangegangen worden, und Sie mussten aufgrund der Kri-tik, die geäußert wurde, ganz schnell zurückrudern. Esist schön, zu hören, dass Sie das jetzt sogar als Erfolgsehen. Aber wenigstens ist das Ergebnis richtig: weg vondieser Aufteilung. Eine Aufteilung wäre der falscheWeg.Das Kernproblem des Innenministeriums und der ihmunterstehenden Behörden ist, dass die Dimension, dieder Rechtsextremismus in diesem Land hat, völlig unter-schätzt wird. Das wird jetzt auch bei der Frage des NPD-Verbotsverfahrens wieder deutlich. Immer wieder wer-den Bedenken vorgetragen. Da wird keine klare Kantegezeigt, und es wird kein klarer Wille artikuliert, ein sol-
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ches Verbotsverfahren tatsächlich anzustreben. Wer dieNPD verbieten will, darf nicht das Scheitern schon imMund führen, bevor die Beweise gegen die NPD aus-gewertet sind. Derjenige muss da schon anders heran-gehen.
Es wird Zeit, dass dem Treiben dieser rechtsextremis-tischen, antidemokratischen und rassistischen Partei einEnde gesetzt wird, zumal der Steuerzahler sie auch nochmitfinanzieren muss. Das führt völlig zu Recht zu einergroßen Aufregung, und es wird gefragt, warum so etwasnoch akzeptiert wird.Da Sie als zuständiger Innenminister in dieser Fragekeine klare Linie haben, muss das NPD-Verbotsverfah-ren zur Chefsache erklärt werden. Deswegen sollte FrauMerkel endlich klipp und klar ihren Willen erklären, einsolches Verbotsverfahren anzustrengen. Das wäre end-lich erforderlich und nicht diese Herumeierei in dieserFrage.
Während Sie beim NPD-Verbotsverfahren sehr zöger-lich, sehr zaudernd agieren, handeln Sie völlig anders,wenn es darum geht, Menschen bei den Sicherheitsorga-nen hinauszuwerfen. Wir haben es erlebt. Bei der Entlas-sung des Präsidenten der Bundespolizei und seiner bei-den Stellvertreter waren Sie keineswegs zögerlich.
Das haben die Betroffenen über die Presse erfahren. Mitdieser Sache ist man nicht zurückhaltend umgegangen.Was Sie da mit Spitzenbeamten gemacht haben, HerrFriedrich, war stillos und unentschuldbar.
Worin der Grund für diese ehrlose Entlassung liegt,wissen wir bis heute nicht; er liegt weiterhin im Dun-keln. Sie sind bis heute eine Antwort schuldig geblieben.Bis jetzt haben Sie im Innenausschuss dazu noch nichtRede und Antwort gestanden. Es war Ihnen vielleicht amDienstag zeitlich nicht möglich, im Ausschuss anwesendzu sein.
Aber hier und heute wäre es endgültig an der Zeit gewe-sen, die tatsächlichen Gründe dafür offenzulegen. Dashaben Sie auch heute wieder versäumt. Ich sage Ihnen:Das ist ein ganz schlechter Stil.
In der Innenpolitik mangelt es aber nicht nur an derklaren Kante des Ministers, sondern auch die Koalitionist nicht gerade entsprechend gut aufgestellt. Ich möchtediesbezüglich einige Themen ansprechen. Da geht eszum Beispiel um eine ganz grundlegende Frage für unse-ren demokratischen Staat, nämlich um die Frage: Wiegehen wir mit gleichen, freien und geheimen Wahlenum, und wie regeln wir diese? Dazu haben Sie entgegenallen Warnungen, die Ihnen gegenüber geäußert wurden,einen Vorschlag vorgelegt. Dieser Vorschlag ist vomBundesverfassungsgericht zerrissen worden.
– Frau Piltz, ich kann mir vorstellen, dass Sie das nichtgerne hören. In Bezug auf das Meldewesen werden Siegenauso reagieren. Ich kann Ihnen aber nicht ersparen,Ihnen zu sagen, dass Sie einen Schrottvorschlag vorge-legt haben, der vom Bundesverfassungsgericht zerrissenworden ist.
Es ist auch im Interesse der Demokratie, den Punkt an-zusprechen, dass Sie nicht in der Lage sind, so etwasdurchzuziehen.
Ich glaube, dass das schmerzt, aber es ist wahr.
Deswegen muss man das immer wieder ansprechen.Es ist gut, dass mittlerweile die Blockadehaltung auf-gebrochen worden ist und dass Sie nicht mehr daraufbestehen, das alleine machen zu wollen. Sie habengelernt. Alleine können Sie es nicht machen. Deswegendürfen jetzt auch die Oppositionsfraktionen mitarbeiten.Das wird dazu führen, dass wir, wenn es hoffentlich zumBruch dieser Chaostruppe bzw. Chaosregierung kommt,ein wirksames und gültiges Wahlrecht haben.
Insofern: Wir sind bereit. Wir machen mit.
Die Liste des Versagens der Bundesregierung undauch der Innenpolitiker der Koalition könnte ich nochlange fortsetzen. Ich könnte zum Beispiel über denBeschäftigtendatenschutz reden. Ich frage mich immer:Wo sind da eigentlich die Möchtegerndatenschützer vonder FDP? Sie kümmern sich nämlich nicht darum, wiemit den Daten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerumgegangen wird. Nein, hier wird das Tor weit geöffnet,um Unternehmern bzw. Arbeitgebern zu ermöglichen,diese Daten auszuwerten.Ich könnte – das werde ich jetzt tun – auch noch dasMeldegesetz erwähnen.
Auch hieran war die Möchtegerndatenschutzpartei FDPbeteiligt. Sie haben aber Mist auf den Weg gebracht.
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23186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Christine Lambrecht
(C)
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Am Ende des Tages, als der Gesetzentwurf in zweiterund dritter Lesung beschlossen wurde –
Frau Kollegin.
–, musste die Kanzlerin über ihren Sprecher verlaut-
baren lassen, sie hoffe, dass dieses Gesetz an anderer
Stelle im Interesse des Datenschutzes verändert wird.
Die Kanzlerin ließ also ausrichten, sie hoffe, dass die
SPD diese Aufgabe im Bundesrat übernimmt. Ich kann
Ihnen sagen: Sie können sich auf die SPD verlassen.
Frau Kollegin. Ihre Redezeit ist inzwischen weit über-
schritten.
Ich komme zum Schluss.
Man muss sich fragen: Sind es bei Ihnen fehlende
Ambitionen, oder ist es die fehlende Eignung? Ich würde
sagen: Bei Ihnen als Innenpolitiker ist es eine Mischung
aus beidem.
Frau Kollegin.
Es wird Zeit, dass diese Koalition beendet wird.
Vielen Dank.
Hartfrid Wolff hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-tion.
Hartfrid Wolff (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Sit-zung des NSU-Untersuchungsausschusses, aus der ichgerade komme, hat einmal mehr deutlich gemacht:Einige unserer Behörden haben den Schuss offensicht-lich noch nicht gehört.
In den Geheimdiensten ist das Ausmaß der öffentlichenVerunsicherung noch nicht wirklich voll angekommen.Die IMK-Beschlüsse der Länder waren nicht einmal einAnfang der Reformbereitschaft.Wir reden von einem Vertrauensverlust in rechtsstaat-liche Abläufe in Behörden: Weshalb wurden welcheAkten gelöscht? Welche Informationsflüsse gab es? Wirreden aber auch von einem Vertrauensverlust in dieFähigkeiten der Sicherheitsbehörden: Wie konnte esmöglich sein, dass die Naziterroristen 13 Jahre im Unter-grund lebten?Dass wir dies transparent im Untersuchungsausschussaufarbeiten bzw. aufarbeiten können, zeigt, dass Rechts-staat und Demokratie funktionieren. Um aber in dieZukunft wirken zu können, brauchen wir eine deutlichbessere Kontrolle. Die Dienste müssen enger an dieLeine genommen werden. Das Parlamentarische Kon-trollgremium des Deutschen Bundestages muss erheb-lich gestärkt werden. Wir brauchen jederzeit Zugang zuallen Vorgängen, volle Akteneinsicht und einen ständi-gen Sonderermittler des Kontrollgremiums, der mit sei-nem Stab den Abgeordneten in ihrem Auftrag zuarbeitet.Dem immensen Vertrauensverlust der Sicherheits-behörden und insbesondere des Verfassungsschutzes inBund und Ländern muss zunächst einmal durch einegründliche Revision der Behörden selbst und der Struk-turen der Zusammenarbeit entgegengetreten werden. Eskann nicht sein, dass der Verfassungsschutz so wie bis-her – miefig, angestaubt und geheimnistuerisch – weiter-machen will. Bisher bestätigt er die bestehenden Vorur-teile leider viel zu häufig selbst.Der Verfassungsschutz muss mit einem aktivenSicherheitsauftrag ausgestattet werden. So kann derDienst zu einer transparenten Ideenschmiede, zu einemThink Tank für Demokratie und Rechtsstaat weiterent-wickelt werden. Das heißt, wir brauchen rechtsstaat-liche Standards in ganz Deutschland für den Einsatzvon V-Leuten, die zeitnahe Zusammenführung derErkenntnisse, neue Richtlinien zur Aufbewahrung undLöschung von Akten sowie eine bessere Ausbildung fürMitarbeiter der Dienste mit einer zentralen Abschluss-prüfung nach drei Jahren.Wie notwendig diese Reformen sind, zeigt auch dieaktuelle Diskussion über die Mundlos-Akten. Was istdenn das für ein Umgang mit Akten in unseren Sicher-heitsbehörden? Was ist das für eine Haltung gegenüberdem Parlament? Was ist das für eine Kooperation undfür ein Informationsmanagement zwischen den Behör-den, zwischen Bund und Ländern? Das ist ungenügend.Nachsitzen!
Mehr Kontrolle, mehr Zusammenarbeit, effektiveStrukturen und ein rechtsstaatliches Selbstverständniskönnen wieder Vertrauen schaffen. Nur so kann es mei-nes Erachtens gelingen. Aber was für die Dienste gilt,muss auch in puncto Struktur und Zusammenarbeit füralle Sicherheitsbehörden gelten. Der Abbau von Doppel-strukturen ist nötig. Das betrifft auch die Polizeibehör-
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Hartfrid Wolff
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den in Deutschland, in Teilen die Staatsanwaltschaft undauch den Zoll. Hier wünsche ich mir deutlich mehr Mutzum Wohle und zur Sicherheit der Bürgerinnen undBürger.Auch beim MAD ist zu fragen, ob seine Aufgabennicht im Wesentlichen vom Bundesamt für Verfassungs-schutz wahrgenommen werden können. Brauchen die inden vergangenen 25 Jahren in der Zahl um mehr als dreiViertel geschrumpften Streitkräfte wirklich noch eineneigenen Geheimdienst? Die Forderung nach Abbau derDoppelstrukturen und einer Verbesserung der Zusam-menarbeit muss auch den MAD einschließen bis hin zurÜbertragung der Aufgaben.Dass grundlegende Reformen gelingen können, hatdie Koalition aus CDU/CSU und FDP auf einem anderenGebiet bereits zeigen können und gezeigt. Der Para-digmenwechsel in der Zuwanderungspolitik ist eineErfolgsgeschichte.
Dringend benötigte Fachkräfte und Hochqualifiziertekommen dank dieser Koalition deutlich besser und ein-facher nach Deutschland.
Wir erleichtern mit der Visa-Warndatei den für einweltoffenes Industrieland wie Deutschland wichtigeninternationalen Reiseverkehr. Wir haben den Einstieg ineine dauerhafte, bundesgesetzliche Bleiberechtsregelunggeschaffen. Wir haben ein eigenständiges Wiederkehr-und Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangs-verheiratungen geschaffen und den eigenständigenStraftatbestand Zwangsheirat eingeführt.
Das ist aktiver Opferschutz und ein klarer Appell, unserefreiheitliche Werteordnung zu achten.
Wir in der Koalition verbinden wirksame Integration mitder aktiven Steuerung von Zuwanderung, mit ökonomi-scher Vernunft und Fairness, mit Offenheit und Klarheit,mit Fördern und Fordern.Reformen können gelingen. Wir brauchen gerade inder Sicherheitsarchitektur mehr, viel mehr Reformen.Die FDP wird dies in der Koalition mit der CDU/CSUaktiv einbringen.
Steffen Bockhahn hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Zum Geschäftsbereich des Innen-ministeriums gehört, auch wenn der Innenministerschnell darüber weggegangen ist, der Beauftragte derBundesregierung für die Neuen Bundesländer. Er istsogar anwesend. Es ist Herr Dr. Christoph Bergner. Dassage ich für diejenigen unter Ihnen, die das nicht mehrauf dem Zettel haben.
– Ja, das kann man schon einmal vergessen; so ist es.Das ist das Problem.Ich habe einmal nachgesehen, was er alles macht. Sohabe ich auf der Website des Beauftragten der Bundes-regierung für die Neuen Bundesländer Folgendes gele-sen – ich zitiere –:Ostdeutschland als Land der ChancenIn Ostdeutschland haben sich in den letzten JahrenPotenziale und Stärken gebildet. Aus diesen erge-ben sich vielfältige Chancen für die Menschen inOstdeutschland und für die weitere Entwicklung.Meine Damen und Herren, ich will gar nicht bestreiten,dass sich da einiges entwickelt hat. Aber so, wie das hiersteht, klingt es – mit Verlaub – ein bisschen so, als ob imOsten der Republik die Menschen die ganze Zeit aufdem Baum gesessen hätten, und Sie hätten uns den Wegnach unten gezeigt und uns das Feuer gebracht. Soschafft man aber die deutsche Einheit wirklich nicht.
Aber es geht noch weiter:Es haben sich Zukunftsbranchen etabliert, wie zumBeispiel die Solarindustrie …Zur Solarindustrie: Herr Dr. Bergner, in Ihrem Nachbar-wahlkreis gehen gerade massenhaft Arbeitsplätze flöten,weil die Solarbranche in die Knie geht.
Ich habe vom Ostbeauftragten der BundesrepublikDeutschland dazu noch kein Wort gehört. Als ob dasnoch nicht schlimm genug wäre, frage ich mich natür-lich: Was tun Sie eigentlich für die Menschen bei Ihnenin der Region? Das, was da kommt, ist ein bisschen sehrwenig.
Wenn wir uns die Zahlen im Konkreten anschauen,dann müssen wir feststellen: Das in Ostdeutschlanderreichte Bruttoinlandsprodukt je Einwohnerin und Ein-wohner betrug im vergangenen Jahr nur 67,1 Prozent desNiveaus in Westdeutschland. Der Wert hat sich lautInstitut für Wirtschaftsforschung Halle, IWH, seit 2008kaum verändert. Wir müssen also attestieren: Der Auf-holprozess ist ins Stocken geraten. Es gibt keine auf-holende Entwicklung mehr. Die Bundesregierung tut
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Steffen Bockhahn
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offensichtlich nichts, was sinnvoll ist, um die Anglei-chung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und Westweiter zu befördern.Investitionen in Milliardenhöhe wären notwendig.Das sieht inzwischen auch die SPD so, wie in den letztenTagen deutlich wurde. Ich hoffe, dass wir gemeinsamdaran arbeiten, damit es dazu kommt. Es fehlt an sehrvielem. Es fehlt an Führungszentralen im Osten und anProduktionseinheiten, und wir brauchen im Osten auchstarke Kerne über die kleinteilige Wirtschaft hinaus.Wir haben auch in anderen Bereichen erlebt, dassHoffnungsträger verloren gehen. Das betrifft die Werf-ten, die Automobilindustrie und die Ernährungsindus-trie. Viele sind inzwischen längst nicht mehr das, was siemal waren, nämlich ein Hoffnungsstreifen.Obwohl seit der Wiedervereinigung Deutschlandsüber 1 Million Menschen den Osten verlassen haben, istdie Arbeitslosigkeit immer noch doppelt so hoch wie inden alten Bundesländern.
Auch dagegen macht die Bundesregierung vergleichs-weise wenig.Stattdessen setzt die Bundesregierung auf Entsolidari-sierung, und das wird dann auch noch fleißig befeuert.Es geht nicht nur gegen den Solidarpakt, sondern auchgegen sehr viel anderes. Um das ganz klar zu sagen: Na-türlich ist es eine Fehlentwicklung, wenn westdeutscheKommunen, die auch hochverschuldet sind, Kredite auf-nehmen müssen, um etwas zu tun, damit ostdeutscheKommunen oder Länder ihren Infrastrukturnachteil aus-gleichen können. Das war aber auch nie Ziel der Übung.Wenn die Bundesregierung selber nichts tut, dann ist sieaber dafür verantwortlich, das notwendige Geld zur Ver-fügung zu stellen. Das wäre tatsächlich deutsche Einheit.Was Sie betreiben, ist eine Entsolidarisierung, und dashilft weder links noch rechts der Elbe.
Um aber auch damit aufzuräumen, dass nur Geld vomWesten in den Osten fließen würde, möchte ich IhnenFolgendes mitteilen: Die Sparerinnen und Sparer im Os-ten, die durchschnittlich deutlich weniger haben als dieim Westen, tun trotzdem jede Menge für die wirtschaftli-che Entwicklung im Westen. Das mag Sie jetzt überra-schen. Ich erkläre Ihnen, warum das so ist.Der Ostdeutsche Sparkassenverband teilt immer undimmer wieder mit, dass ihm die Möglichkeiten fehlen,das Geld der Sparerinnen und Sparer der ostdeutschenSparkassen im Osten anzulegen. Das hat einen relativeinfachen Grund: Es gibt niemanden, der die nötigen Si-cherheiten aufweist, um Kredite zu bekommen und zuinvestieren.Aber statt dass die Bundesregierung auf die Ideekommt, ein Bürgschaftsprogramm für Eigenkapital oderÄhnliches aufzulegen, passiert gar nichts. Also legen dieostdeutschen Sparkassen ihr Geld im Westen an. Ichhabe nichts dagegen, dass auch dort etwas getan wird,um Arbeitsplätze zu schaffen. Schön wäre aber, wennwir auch etwas für den Osten und den Aufbau Ost tunkönnten. Das ist nämlich nach wie vor zwingend not-wendig.Über die Frage der Rentenungerechtigkeit mag mankaum noch reden. Ich bin froh, dass Frau von der Leyenund andere das inzwischen offensichtlich ebenfalls ge-merkt haben. Schade ist aber, dass die Bundesregierunginzwischen öffentlich erklärt hat, ihr Versprechen ausdem Koalitionsvertrag zu brechen und die Rentenanglei-chung Ost nicht umzusetzen.
Aber lassen Sie mich noch etwas anderes ansprechen,nämlich die Sportförderung. Wir sind alle sehr über-rascht, dass die Erfolge bei den Olympischen Spielendieses Jahr nicht ganz so groß waren, wie das mal ge-dacht war, und dass es immer schwieriger wird, alles sohinzubekommen, wie man es sich vorstellt. Es gibt aucheinen Erfahrungsvorsprung Ost; das darf ich Ihnen sa-gen.Man kann beispielsweise dafür sorgen, dass Kinderund Jugendliche die Möglichkeit haben, Sport – wennsie es wollen auch Leistungssport – zu betreiben. Das istallerdings immer weniger möglich, weil es an unheim-lich viel Geld gebunden ist.
– Darauf habe ich gewartet, dass Sie auf das Dopingsys-tem anspielen, Herr Kollege.
Erstens könnte man jetzt unterstellen, dass es vor derWende schlechte Verlierer gab.
Zweitens ist man im Westen nur durch Zähneputzen zuolympischen Titeln gekommen.
Vor allen Dingen gilt – das ist der eigentlich entschei-dende Punkt –: Wer so etwas unterstellt, der vergisst,dass auch nach 1990 viele Medaillen gewonnen wurden,weil andere Fördersysteme funktioniert haben.Ich will Ihnen vorschlagen, dass wir dazu kommen– ich verstehe nicht, warum Sie sich dagegen wehren –,dass Kinder und Jugendliche Sport machen können,wenn sie es wollen, und dass dies nicht vom Geldbeutelder Eltern abhängig ist. Ich möchte, dass wir ein Sport-fördersystem bekommen, das auf breite Sichtungen aus-gelegt ist.
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Steffen Bockhahn
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– Erst einmal gar nichts, aber Sie haben etwas anderesunterstellt, Herr Wieland. Hören Sie mir bis zum Endezu! – Wir brauchen, wie gesagt, ein Sportfördersystem,das auf breite Sichtungen und Unterstützung all derjeni-gen ausgelegt ist, die tatsächlich Leistungssport betrei-ben wollen. Dafür brauchen wir ein bisschen Zeit, aberwir haben auch eine Chance, bei den Olympischen Spie-len wieder erfolgreich zu sein, und wenn es gut läuft,ohne Doping.
Eine Kurzintervention des Kollegen Bergner.
Herr Kollege Bockhahn, ich habe mich bei Ihren letz-
ten Ausführungen angesichts der polemischen Qualität
gefragt, ob sich tatsächlich eine Erwiderung lohnt.
Sie haben die Aufmerksamkeit auf einen Bereich be-
schränkt, der tatsächlich im Bundesinnenministerium
ressortiert und mit dem meine Person betraut ist, näm-
lich die neuen Bundesländer. Mir ist dabei aufgefallen,
dass Sie zwar kräftig Polemik betrieben haben, aber
viele der Aktivitäten, die im zurückliegenden Jahr gelau-
fen sind, offenbar nicht wahrgenommen haben.
Es ist Ihnen offenbar entgangen, dass wir uns im Dia-
log mit der Solarindustrie befinden und dass ich selbst
Gespräche mit dem Cluster Solarvalley geführt habe.
Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Zukunft
der Solarenergie nicht in der Erhöhung oder der Beibe-
haltung einer bestimmten Einspeisevergütung, sondern
in Innovationen und internationalen Verflechtungen
liegt; darauf setzen wir. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Sie haben das Gutachten des
IWH angesprochen. Wir haben im Innenausschuss über
dieses Gutachten sehr intensiv diskutiert. Wenn wir am
26. September im Kabinett den Bericht zum Stand der
deutschen Einheit verabschieden – über diesen wird an-
schließend hier im Deutschen Bundestag diskutiert –,
werden Sie bemerken, dass die Konvergenzlücke in der
Wirtschaftskraft ein zentrales Thema ist, mit dem wir
uns auseinandersetzen, und dass es nicht mehr ganz so
simpel ist, die verbliebene Konvergenzlücke mit mehr
Geld zu schließen. Vielmehr stoßen wir hier an struktu-
relle Grenzen, die zum Beispiel etwas mit der Betriebs-
größe in den neuen Bundesländern zu tun haben.
Zum dritten und letzten gewichtigen Punkt, den Sie
genannt haben, zur Rentenangleichung. Ich empfehle Ih-
nen, sich hier nicht so leichtfertig der Polemik hinzuge-
ben. Die Situation ist kompliziert, da es keine Lösung
gibt, die einen breiten Konsens darstellt und dem Um-
stand Rechnung trägt, dass es im Moment bei einem
niedrigeren Rentenwert im Osten eine Aufwertung der
Beitragszahlungen gibt. Sie haben sich ein sehr billiges
Modell überlegt. Danach sollen durch Steuermittel eine
Nachzahlung und eine Angleichung erreicht werden. Ich
kann Ihnen nur sagen: Eine solche Lösung erfüllt noch
nicht einmal die primitivsten Voraussetzungen für inner-
deutsche Gerechtigkeit.
Herr Kollege Bergner!
Ich lade Sie herzlich ein, über die Themen, die Sie
hier geruht haben polemisch vorzutragen, anlässlich des
Berichts zum Stand der deutschen Einheit – dann hof-
fentlich mit mehr Sachlichkeit – erneut zu diskutieren.
Herr Bockhahn, bitte, zur Erwiderung.
Herr Kollege Dr. Bergner, wenn der Vorschlag derLinken tatsächlich so billig ist, dann dürfte es wohl keinProblem sein, ihn umzusetzen.
Das ist der erste Punkt.Der zweite Punkt ist: Die Schwierigkeit besteht darin,dass Sie seit drei Jahren offensichtlich nichts unternom-men haben, um eine Lösung dieses Problems zu finden.Das ist Fakt. Sie nehmen in Kauf, dass noch heute je-mand, der im Osten anfängt zu arbeiten, damit rechnenmuss, später weniger Rente zu bekommen, nur weil erim Osten und nicht im Westen gearbeitet hat.
Die Rentenungerechtigkeit ist durch die von Ihnen vor-gesehene Angleichung erst in 160 Jahren beseitigt. Daskann doch nicht wahr sein, Herr Dr. Bergner! Sie wissendas auch. Das kleinzureden, ist nichts anderes als Igno-ranz gegenüber den tatsächlich bestehenden Problemen.Dritter Punkt. Sie sind mit keinem Wort auf das ein-gegangen, was ich Ihnen vorgeschlagen habe. Sie solltensich beispielsweise Gedanken darüber machen, wie sichdie Investitionsmöglichkeiten im Osten verbessern las-sen. Wo ist denn Ihre Initiative?
– Nein, das hat er eben nicht gesagt. Er hat gesagt, manrede darüber. Er hat aber keinen einzigen konkreten Vor-schlag gemacht.Ich habe Ihnen den Vorschlag gemacht – Sie habenihn als polemisch bezeichnet, seine Sinnhaftigkeit abernicht widerlegt –, über die KfW Bürgschaftsprogrammeaufzulegen und so die Eigenkapitalquote zu erhöhen, da-mit Sparkassen und andere Finanzinstitute Kredite ver-geben können und die Produktivitätsentwicklung gutverläuft.Letzter Punkt, die Solarwirtschaft. Auch hier machenSie, Herr Dr. Bergner, es sich einfach – nicht ich –, in-
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Steffen Bockhahn
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dem Sie sagen: Wir brauchen mehr Produktivität undInnovationen. – Aber was mit den Menschen passiert,die gerade auf die Straße gesetzt worden sind, scheintSie nicht zu interessieren; denn auch dazu haben Sie keinWort gesagt.
Wolfgang Wieland hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Danke schön. – Ich musste erst einmal – in diesem FallWasser – schlucken, weil mir wieder klar geworden ist,für was alles der Bundesinnenminister zuständig ist: So-larenergie in Bitterfeld, Doping im Sport, Rentenanglei-chung. Das alles sind wichtige Themen. Ich muss michfast entschuldigen, dass ich jetzt wieder zum Kernthemabzw. zum Markenkern des Bundesministeriums des In-nern zurückkomme.
Liebe Kollegin Lambrecht, an einer Stelle muss ichIhnen widersprechen. Unsere Sehnsucht nach dem In-nenminister Hans-Dietrich Genscher – Spitzname JerryCotton seinerzeit –, unsere Sehnsucht nach WolfgangSchäuble mit dem Dauerbrenner „Bundeswehreinsatz imInneren“ und der angeblich drohenden atomaren An-schlagskatastrophe bei uns gleich morgen – gleichzeitigsollte man bis dahin noch fröhlich sein – oder gar unsereSehnsucht nach dem roten Sheriff Otto Schily ist ausge-sprochen unausgeprägt, Herr Kollege Uhl – im Gegen-teil.
Wir haben immer gesagt: Einen Innenminister, dernach eigenen Worten den Stahl in der Stimme nicht auf-legen kann, den mögen wir deswegen eher. – Dieses dis-kursive „Mögen wir“ wird jedoch gefolgt von einemgroßen Aber. Was nutzt denn die moderate Umgangs-form, wenn er im Sommer sein zweites Gesicht zeigtund in einer Art Enthauptungsschlag gleich die gesamteSpitze der Bundespolizei in die Wüste schickt?
Bis heute – da hat Frau Lambrecht doch völlig recht –hat er kein Wort der Erklärung gegenüber den Parlamen-tariern abgegeben, obwohl auf Anregung des Parla-mentspräsidenten extra eine Obleuteunterrichtung in derSommerpause angesetzt wurde. Wenn Sie, lieber HerrKollege Krings, sagen, er habe von zu Guttenberg ge-lernt, der seinerzeit gesagt hat, weshalb er Schneiderhanund den Staatssekretär herausgeworfen hat, dannschließe ich daraus, dass wir offenbar in Zukunft wiederauf Feudalismus machen und zu Entlassungen kein Wortsagen. Der Innenminister hat offenbar vergessen, dass erhier nicht wegen der Ereignisse in Kunduz sitzt, sondernaufgrund eines Plagiats einer Doktorarbeit. Deswegensind Sie Innenminister geworden. Sie müssen erklären,Sie können erklären, und Sie sollten erklären.
Hinzu kommt noch Folgendes: Wir werden nichtrechtzeitig und wahrheitsgemäß unterrichtet, wie sichdie Ausbildung der Polizei in Weißrussland abgespielthat. Man entschuldigt sich nur. Bei Saudi-Arabien war esdas Gleiche. Auch darüber wurden wir nicht unterrichtet,wir wurden sogar falsch unterrichtet. Dann entschuldigteman sich. Gleichzeitig lässt dieser Innenminister eineSchmuddelkampagne gegen den PolizeipräsidentenSeeger über Monate laufen, ohne ein Dementi abzuge-ben oder zu erklären, dass an den Vorwürfen nichts dranist. Das alles war schäbig.
Hinzu kommen die Neubesetzungen. Wir haben ge-sagt, auch ich persönlich, dass wir diese Personen nichtvorab disqualifizieren werden. Der neue Verfassungs-schutzchef, Herr Maaßen, soll nicht Chef der Heilsarmeewerden. Dafür wäre er eine Fehlbesetzung, ohne jedeFrage. Wir haben uns auch nicht in die Kritik an demneuen Vizepräsidenten Schubert eingeklinkt. Das habenwir ausdrücklich nicht gemacht, weil wir gesagt haben,dass alle die Chance bekommen sollen, sich wenigstens100 Tage im Amt zu bewähren. Aber wenn Sie die ge-samten Spitzenpositionen im Bereich der inneren Sicher-heit mit Personen aus Ihrem engeren Leitungsstab beset-zen – ich will das böse Wort vom Küchenkabinett nichtsagen –, dann erwecken Sie den Verdacht, dass IhnenSubordination wichtiger ist als Bestenauslese oder dieRekrutierung gestandener Persönlichkeiten. Diesen Vor-wurf muss sich der Innenminister machen lassen.
Es sind alles interne Besetzungen, niemand kommtvon außen, zum Beispiel aus den Ländern, der Wissen-schaft oder woher auch immer. Das Personal ist ganz engbei Ihnen angebunden. In Zukunft haften Sie dann auchpersönlich für alles, was schiefläuft, weil Ihre Leute aufdiesen Posten sitzen.
Es gibt eine Menge zu tun. Bei der Bundespolizei fin-den wir eine Baustelle nach der anderen. Wir kennen dieBurn-out-Quote, wir wissen um die Unsicherheit der Be-amten und ihrer Familien, die sich fragen, wo sie einge-setzt werden sollen. Wir wissen, wie umstritten die Aus-landseinsätze sind und wie wenig Klarheit da besteht. Dagibt es furchtbar viel zu tun. Diese Baustellen müssenangegangen werden.Noch schlimmer sieht es allerdings bei dem aus, waswir im Zusammenhang mit dem NSU erlebt haben. Ichkomme gerade aus einer Sitzung des Untersuchungsaus-schusses. Ich sitze Stunde um Stunde in diesem Aus-schuss. Deswegen erlauben Sie mir, Frau Präsidentin, ei-
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Wolfgang Wieland
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nen völlig unparlamentarischen Ausdruck. Wir habentatsächlich den Eindruck: Egal was wir untersuchen, woman hinfasst: Sch…
– Ja. – Vorgestern waren es vorenthaltene Akten desMAD. Dazu wurde gesagt: Na, ihr hättet es ja wissenmüssen. – Dass es ein solches Protokoll gibt, den Ver-such einer Anwerbung von Mundlos, wussten wir nicht,und man hat es uns nicht gesagt. Heute haben wir erneutvon einer Schredderung bzw. Verflüchtigung einerDesignerakte, so wurde es gesagt
– na ja, man lernt es: virtuelle Akten, Designerakten –,beim Bundesamt gehört. Man legt also eine Designer-akte an, und lässt sie dann wieder verschwinden. Wirsollen glauben, dass der Inhalt dieser Akte zu uns geflos-sen ist. Man kann nicht prüfen, Kollege Danckert; mansoll immer glauben. Wie in der Kirche sollen wir hier imParlament der Exekutive glauben und vertrauen. Aberdieses Vertrauen ist nicht mehr da. Auch die Länder lie-fern nicht zu.Ich weiß, im Föderalismus kann man das alles nichtmachen, was sie wollten; deswegen mussten sie da eineBauchlandung machen. Das ist gar keine Frage.
Herr Kollege.
Ja, ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Aber
wichtiger als eine organisatorische Veränderung ist eine
Veränderung der Mentalität, des Denkens. Das gegensei-
tige Abschotten muss aufhören, die Blockade unter-
einander, die Blockade zu Parlamentariern, die Blockade
zwischen Verfassungsschutz und Polizei.
Herr Kollege!
Das alles ist ein System der Abkapselung, ein System
des Schmorens im eigenen Saft. Diese Behörden müssen
durchgeschüttelt und neu aufgestellt werden und völlig
andere Arbeitsstrukturen bekommen.
Vielen Dank.
Jetzt hat Hans-Peter Uhl das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Frau Lambrecht und Herr Wieland, ich gehegleich auf Sie ein. Aber lassen Sie mich zunächst einmal– wir führen ja eine Haushaltsdebatte – eine an den Zah-len orientierte Feststellung machen.Der Haushalt des Bundesministeriums des Innernsteht mit 5 Milliarden Euro gut da. 4 Milliarden Euro da-von fließen in den Bereich innere Sicherheit. Wenn mansich den Zuwachs dieses Etats genauer anschaut, dannsieht man, dass dieser Zuwachs vor allem dem Personalzukommt. Wir haben endlich das Versprechen wahrge-macht, dass wir das Weihnachtsgeld wieder voll auszah-len. Außerdem haben wir die Tariferhöhungen, die sichin den nächsten Jahren in Höhe von insgesamt 5 Prozentniederschlagen, umgesetzt. Das ist der Hauptgrund da-für, dass dieser Etat vor allem im Personalbereichwächst.Wir haben erhebliche Konsolidierungsbemühungenzu verzeichnen. Wir haben dennoch neue Projekte ange-fangen und werden sie anfangen. Dabei geht es einmalum das Thema Visa-Warndatei. Wir setzen hier eine sehrkostspielige Datenabgleichsmaschinerie, wenn Sie sowollen, in Gang; dies kostet viel Geld. Was wir auch tun,ist, dass wir nächstes Jahr das Nationale Waffenregistereinführen. Das kostet ebenfalls sehr viel Geld, und dasist gut so, weil das ein Mehr an Sicherheit in diesemLande organisiert.
Der mehrfach angesprochene Rechtsextremismusmuss natürlich von uns allen massiv bekämpft werden.Ich möchte zunächst kurz auf Sie, Frau Lambrecht, ein-gehen, da Sie den Kampf gegen den Rechtsextremismusauf einen Antrag beim Bundesverfassungsgericht aufVerbot der NPD reduzieren. Meine Damen und Herren,das ist so banal und so einfältig, wie es nur sein kann.Ich empfehle Ihnen, ein Buch zu lesen, das gerade inder Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine sehr gute Re-zension bekommen hat. Aus diesem Buch geht hervor,dass der Rechtsextremismus in diesem Lande leider im-mer noch vorhanden ist, vielleicht sogar in Teilen desLandes wächst, aber mit Sicherheit nicht in der NPD,und dass er gerade von den Kameradschaften im Rechts-extremismus, die sehr gefährlich sind, ausgeht, dass dieNPD als eine Altherrenorganisation ohne jede Bedeu-tung angesehen wird. Das heißt, wenn wir gemeinsam– das tun wir ja hoffentlich – über alle Parteigrenzen hin-weg den Rechtsextremismus bekämpfen wollen, be-kämpfen wir ihn doch bitte da, wo er virulent wird, unddas ist vor allem in den Kameradschaften der Fall.Wir sollten bitte auch aus dem vergangenen NPD-Verbotsverfahren lernen, bei dem wir im gemeinsamenSchulterschluss von Bundestag, Bundesrat und Bundes-regierung nach Karlsruhe marschiert sind, dort gemein-sam in den Abgrund gestürzt sind und eine völlige Bla-mage erlebt haben. Wenn Sie sich die Wahlergebnissedieser entsetzlichen Partei anschauen, dann sehen Sie,dass diese vor dem gescheiterten Verbotsverfahren im-
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Dr. Hans-Peter Uhl
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mer bei Ergebnissen von etwas über 0 Prozent herumge-krebst ist.
Die Ergebnisse sind nach dem Verbotsverfahren auf1 bis 2 Prozent gestiegen. Wir können auf diese Weisezu einer Popularität beitragen, die keiner von uns will.
Wir haben ein Strukturproblem in diesem Land:16 Länder und den Bund mit 16 Landeskriminalämternund 16 Verfassungsschutzämtern und das Ganze beimBund noch einmal. Alles in allem sind das fast 40 Behör-den. Jede arbeitet vor sich hin, jede will ihre Erfolge ha-ben und sie einzeln verkaufen. Da sind Kräfte am Werk,die für die Sicherheit in diesem Land nicht gut sind. Dashaben wir bei den Morden des NSU gesehen.Daraus müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen. Ichempfehle wirklich, die Ergebnisse der Kommission ab-zuwarten und die Erfahrungen dieser Kommission mitden Erfahrungen aus den Untersuchungsausschüssen zu-sammenzutragen und alle Innenminister des Bundes undder Länder an einem Tisch zu versammeln, um zu sagen:Wir wollen das in Zukunft besser machen. Wir wollenunser Wissen zusammentragen.Der Herr Innenminister hat dies schon hervorragendgetan. Er hat dargestellt, wie er die gemeinsame Rechts-extremismusdatei und das Gemeinsame Abwehrzentrumgegen Rechtsextremismus sofort gegründet hat. Das wa-ren erste Sofortmaßnahmen. Das war das Wichtigste aufdiesem Gebiet, was zu tun war. Wir werden da und dortnoch nachbessern.Frau Lambrecht, wir sollten diesen ersten Versuchnicht belächeln. Ihre Rede habe ich als sehr unangenehmempfunden. Die giftige, gallige Art, wie Sie den Innen-minister persönlich angreifen, passt überhaupt nicht indie Landschaft.
Mit Verlaub, Frau Kollegin, wir empfinden es als wohl-tuend, dass Sie nicht im Innenausschuss sind.
Ihre Kollegen von der SPD verhalten sich völlig anders.Wir haben ein kameradschaftliches, sachliches Mit-einander; da kann man unterschiedlicher Meinung sein.Aber so, wie Sie sich hier geriert haben, benimmt sichkeiner Ihrer Kollegen aus der SPD-Fraktion. Also, lassenSie das doch. Wem wollen Sie imponieren mit solchenReden? Müssen Sie auf der Liste irgendwie günstig auf-gestellt werden, oder was ist Ihr Anliegen? Ich weiß esnicht.
Meine Damen und Herren, wir sollten gemeinsam dieStrukturen verbessern. Dazu gehört, dass die Innen-minister der Länder sich wirklich noch einmal Gedankendarüber machen, ob es nicht vielleicht doch eine guteIdee des Bundesinnenministers war, in den Behörden derLänder einen Vertreter des Bundes zu haben, um denmenschlichen Kontakt ganzjährig aufrechtzuerhalten.Das ist kein Kommissar aus Berlin, sondern das ist dasBindeglied zwischen einer Landessicherheitsbehördeund einer Bundessicherheitsbehörde. Ich halte die Ideefür nicht schlecht. Wir sollten darüber noch einmal nach-denken.Wichtig aber sind das Abwehrzentrum und die ge-meinsame Datei. In diese wird eingespeist, sodass jederweiß, was der andere weiß. Wir müssen alles überRechtsextremismus wissen. Es kann so nicht weiterge-hen, dass zehn Jahre später in der einen Behörde Kopienvon Akten gefunden werden, die in der anderen Behördegeschreddert wurden.Meine Damen und Herren, vielleicht noch ein Satzzum Schreddern. Es sind die gleichen Kräfte, die jetztdiesem Staat gegenüber Vorwürfe machen, nichts er-kannt zu haben, die vehement das ganze Jahr über for-dern, es müsse geschreddert werden, und zwar sofort,wenn fünf Jahre um sind. Hier wird vieles falsch ge-macht und vieles überzogen. Wir müssen die Akten ge-rade im Bereich des politischen Extremismus für einelängere Zeit aufbewahren, um darauf zurückkommen zukönnen, was früher einmal festgestellt worden ist. Beidem Herrn Mundlos hätte es allen Behörden gutgetan,wenn man die Akten von 1995 in den drei Landesbehör-den und beim Bund länger aufbewahrt hätte.Herr Wieland, ich habe kaum noch Redezeit, aber ichwürde gern noch etwas zu Ihnen sagen. Sie haben keineSchonfrist von 100 Tagen verdient, Sie sind ein alterHase. Deswegen sollten Sie bei der Behandlung desThemas Neustrukturierung und personeller Neubeginnbei der Bundespolizei sich nicht so verhalten.
Ein Minister hat für alles, was in seinem Ministeriumpassiert, die Verantwortung zu übernehmen, egal ob erdavon wusste oder nicht. Damit einher geht das Rechtdes gleichen Ministers, wenn er kein Vertrauen zu denführenden politischen Beamten hat, diese politischenBeamten ohne jede Begründung zu entlassen. Das einegehört denknotwendig und logisch zum anderen.
Und Sie sollten hier am Rednerpult nicht so tun, als hätteer ein Versäumnis begangen,
wenn er ihnen keine Begründung geliefert hat. Er musskeine Begründung liefern. Das ist gut so.
Jetzt wäre noch viel zu sagen zu den Themen Migra-tion, Integration, dazu, was wir hier in den letzten Jahren
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23193
Dr. Hans-Peter Uhl
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getan haben und weiter tun werden. Es wäre noch vielmehr zu sagen zum Thema innere Sicherheit in Bezugauf IT-Sicherheit. Das wird die große Baustelle dernächsten Jahre werden; die wird auch viel Geld kosten.Auch hier hat der Innenminister schon die ersten Wei-chen gestellt und wird Weiteres tun.
Herr Kollege.
Ich bin gleich fertig. – Vielleicht werden wir doch
noch ein IT-Sicherheitsgesetz brauchen, zumindest für
die kritischen Infrastrukturen in diesem Land.
Darüber reden Sie dann beim nächsten Mal.
Darüber reden wir beim nächsten Mal; alles klar.
Die Kollegin Gabriele Fograscher hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wenn man sich den Einzelplan 06 des Bundesin-nenministeriums anschaut, so findet man dort keineneuen Schwerpunkte, keine Ziele, keine Perspektivenund keine Akzente, die der Minister setzt. Er schreibt imWesentlichen den Haushalt der vergangenen Jahre fort.Der Haushalt ist Ausdruck der Leidenschaftslosigkeitund der Ideenlosigkeit, mit denen der Bundesinnen-minister sein Amt führt.Herr Minister, Sie sind zuständig für Integration. InIhrem Koalitionsvertrag steht, dass Sie den vertrauens-vollen Dialog zwischen Staat und Gesellschaft, insbe-sondere mit den Migranten, fortsetzen wollen. Aber ge-rade Sie verspielen das Vertrauen.Bereits an Ihrem ersten Amtstag brüskieren Sie die is-lamischen Verbände und die Menschen muslimischenGlaubens in Deutschland, indem Sie erklären, der Islamgehöre nicht zu Deutschland. Die Herausgabe der Studie„Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ durchIhr Haus und die verzerrte und falsche Darstellung derErgebnisse hat weiteres Vertrauen verspielt.Sie starten eine Kampagne – Sie haben selber darübergesprochen –, die auf eine Beratungshotline hinweist.Das Ziel ist ja richtig. Aber wie Sie es machen, empörteben junge Muslime; sie fühlen sich kriminalisiert undunter Generalverdacht gestellt. Die Verbände sind em-pört; mehrere Verbände haben jetzt auch die Mitarbeit inder Sicherheitspartnerschaft gekündigt.
Die Integrationskurse waren und sind ein Erfolg. LautInformation Ihres Ministeriums geht die Zahl der Teil-nehmer an den Integrationskursen aber zurück. Jetztwäre der Zeitpunkt, die Qualität der Kurse zu verbes-sern, die Lehrerhonorare anzuheben und mehr differen-zierte Angebote zu machen. Was planen Sie in diesemBereich?Herr Minister, was haben Sie mit der Bundespolizeivor? Es reicht nicht, die gesamte Führungsspitze derBundespolizei auszutauschen, noch dazu in der Art undWeise, wie dies geschah – stillos. Wir erwarten, dass Siedas Parlament, die gut 40 000 Bundespolizeiangehörigenund die Öffentlichkeit über die Aufgaben, die Perspekti-ven und die künftige Struktur aufklären, und vor allem,dass Sie die Arbeitsbedingungen bei der Bundespolizeiverbessern.
Die Gelegenheit, das zu tun, haben Sie in dieser Wocheim Innenausschuss nicht genutzt.Im November 2011 wurde das Versagen der Sicher-heitsbehörden bei der Aufklärung der rechtsterroristi-schen Morde des sogenannten NationalsozialistischenUntergrunds offenbar. Daraufhin schufen Sie ein Wirr-warr an Kommissionen, die entweder nie tätig werdendurften oder nur sehr schleppend arbeiten. Die wirklicheAufklärungsarbeit leistet bislang nur der Parlamentari-sche Untersuchungsausschuss.Bekämpfung des Rechtsextremismus: Dazu gehörtfür uns das NPD-Verbot. Aber es gehört für uns vor allenDingen die Stärkung der Zivilgesellschaft dazu.
Außerdem gehört für uns nach wie vor dazu, dass dieExtremismusklausel von Ministerin Schröder fällt.
Eine Reform des Verfassungsschutzes des Bundesund der Länder ist mehr als überfällig. Sie aber kündigenVeränderungen im Alleingang an, provozieren mit IhrenVorschlägen Widerstand bei den Bundesländern undmüssen zurückrudern. Herr Wolff, nach Ihren markigenForderungen zu dieser Reform warten wir jetzt erst ein-mal auf die Taten.
Herr Friedrich, was Sie sich beim Melderecht geleis-tet haben, ist wirklich ein starkes Stück. Wer bestimmt
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23194 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Gabriele Fograscher
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bei Ihnen eigentlich die Politik? Da ändert die Regie-rungskoalition mit Formulierungshilfe aus Ihrem Minis-terium mal schnell den vorgelegten Entwurf ins Gegen-teil. Sie als zuständiger Minister verteidigen dieseÄnderungen noch, als sich Frau Aigner, CSU, und Mi-nisterpräsident Seehofer, CSU, schon längst zu denschärfsten Kritikern dieses Gesetzes aufgeschwungenhatten. Und dann versucht man, dieses politische Desas-ter, das die Bürgerrechts- und Datenschutzpartei FDPmit beschlossen hat, als Versagen der Opposition zu ver-kaufen. Jetzt brauchen Sie also die SPD-geführten Bun-desländer im Bundesrat, um dieses Gesetz zu ändern.Herr Friedrich, auch Ihre sportpolitischen Aktivitätensind nicht olympiareif. Die Olympischen und Paralympi-schen Spiele in London waren ein großartiges sportli-ches Ereignis. Die deutschen Athletinnen und Athletenhaben tolle sportliche Leistungen erbracht. Dafür habensie Dank und Respekt verdient.
Sie, Herr Minister, befinden sich mit den völlig utopi-schen Zielvereinbarungen, die Sie mit dem DOSB ge-troffen haben, auf Abwegen. Auch die Geheimniskräme-rei um diese Zielvereinbarungen ist einfach nur peinlich.Wir wollen, dass Deutschland im Sport weiterhin erfolg-reich ist, und dafür brauchen wir Verbesserungen bei derSportförderung und vor allem Transparenz.
„NADA fehlen 1,3 Millionen“, so eine Schlagzeile imGeneral-Anzeiger. Sie streichen den Bundeszuschuss fürdie NADA, und die finanzielle Rettung ist gut drei Mo-nate vor Beginn des neuen Haushaltsjahrs nicht in Sicht.Wenn Ihre Appelle an die Bundesländer, die Wirtschaftund den Sport weiterhin wirkungslos verhallen, wird dieNADA vor allem bei Dopingkontrollen sparen müssen.Was für ein verheerendes Signal!
Herr Minister, die Bilanz Ihrer bisherigen Tätigkeitals Bundesinnenminister ist mehr als dürftig. KommenSie endlich in Ihrem Amt an, und stellen Sie sich endlichden innenpolitischen Herausforderungen!
Florian Toncar hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Bevor ich zur Sache selbst komme, möchte ich imRahmen dieser Debatte an unseren Kollegen JürgenHerrmann erinnern, der sich in den letzten Jahren ge-meinsam mit uns um den Haushalt des Bundesinnen-ministeriums gekümmert hat. Mir fällt es immer nochschwer, zu begreifen, dass er heute und auch sonst beiuns im Haushaltsausschuss nicht mehr da ist. Ich glaube,das sollten wir heute sagen; denn er hat den Einzel-plan 06 mitgestaltet und mitgeprägt. Da spreche ich,glaube ich, für alle hier.Wir haben in den letzten Jahren einen Schwerpunktim Bereich der inneren Sicherheit setzen können, ob-wohl der Haushalt insgesamt konsolidiert werdenmusste. Neben dem Bereich der Bildungspolitik ist dasder Bereich, der von Einsparungen nun wirklich weitge-hend ausgenommen wurde. Das ist meines Erachtensrichtig. Gerade wir Liberalen betonen immer wieder– ich meine, zu Recht –, dass eine gute Ausstattung un-serer Sicherheitsbehörden wichtiger ist, als sich immerwieder neue Gesetze, neue Überwachungsmöglichkei-ten, neue Grundrechtseingriffe auszudenken. Dafür ste-hen wir.
Der Einzelplan 06 ist in den letzten Jahren kontinuier-lich gewachsen; er ist jetzt bei fast 6 Milliarden Euro an-gekommen. Die Mittel werden weit überwiegend fürPersonal eingesetzt, für die Menschen, die sich in denverschiedenen Sicherheitsbehörden des Bundes für un-sere Sicherheit einsetzen. Die größte ist die Bundespoli-zei, aber es gibt natürlich viele weitere. Wir bedankenuns bei den Menschen, die sich jeden Tag im Vollzugs-dienst, aber auch in anderen Funktionen in ihren Behör-den dafür einsetzen, dass wir in Deutschland sicher le-ben können. Wir bekennen uns zur Arbeit unsererPolizei.
Man kann natürlich nicht das Blaue vom Himmel ver-sprechen – die finanziellen Ressourcen sind begrenzt –,aber wir Haushaltspolitiker haben in den letzten Jahrenimmer wieder versucht, im Rahmen des Möglichen dieLage der Polizisten zu verbessern, beispielsweise indemwir Stellen angehoben haben, um den Beförderungsstauabzubauen, auch indem wir Regelungen geschaffen ha-ben, die es ermöglichen, dass unsere Sicherheitsbehör-den Auszubildende übernehmen können, wenn dieseihre Ausbildung abgeschlossen haben. Denn wir wissen:In vier oder fünf Jahren wird es viel schwieriger sein; dawerden wir vielleicht Probleme haben, genügend gutejunge Menschen zu finden, die sich in diese Laufbahnbegeben wollen. Das überbrücken wir. Wir haben – ohneganz große Sprünge machen zu können – an den ver-schiedenen Stellen für Entlastung gesorgt, weil wir hin-ter unseren Polizisten stehen.Es wird in den nächsten Jahren darum gehen, die IT-Ausstattung zu verbessern, um unsere Behörden auf denneuesten Stand zu bringen. Grundsätzlich sind wir wohl-wollend, wenn es darum geht, die Sicherheitsbehördengut auszustatten. Aber gerade als Haushälter erwartenwir dann schon, dass es keine Doppelstrukturen gibt,dass die Sicherheitsbehörden ideal aufeinander abge-stimmt arbeiten, dass nicht zwei dasselbe machen, weiljeder für sich den Aufgabenbereich reklamiert. Darauf
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Florian Toncar
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achten wir in allen Bereichen und stellen fest: Hier gibtes noch viel zu tun.Lassen Sie mich als aktuelles Beispiel den BereichLuftfrachtsicherheit anführen. Die Wichtigkeit der Auf-gabe ist völlig unbestritten; wir müssen Luftfracht sichermachen, und zwar im Rahmen eines europäischen Kon-zepts. Aber es kann meines Erachtens nicht sein, dassidentische oder sehr ähnliche Aufgaben in mehreren Be-hörden wahrgenommen werden oder dass identischeoder ähnliche Geräte von mehreren Behörden, mögli-cherweise direkt hintereinander geschaltet, eingesetztwerden. Darauf haben wir in der Vergangenheit geachtet,und wir werden auch in Zukunft darauf achten.
Mein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte, istdas Thema Digitalfunk. Das ist ja ein Dauerbrenner.Herr Minister Friedrich, ich weiß, dass das eine Erblastist, die Sie managen müssen. Es geht um eine Behörden-struktur, die schon unter Otto Schily angelegt war unddie sich als nicht besonders leistungsstark erwiesen hat.Ich weiß auch, dass dies im Grunde genommen eineBund-Länder-Aufgabe ist.Über einige Themen mache ich mir Sorgen. Ich habedie Befürchtung, dass es zu erheblichen Mehrkosten füh-ren kann, wenn wir sie nicht angehen. Meine Befürch-tung betrifft insbesondere das Thema Leistungsfähigkeit.Im Zusammenhang mit dem Digitalfunk ist das ThemaObjektversorgung zu nennen. Dabei geht es um eineneue Funktechnologie, die gewährleistet, dass Funk auchin Tunnels oder in Gebäuden verwendet werden kann.Wenn wir das nicht gewährleisten können, dann bedeutetdas, dass wir Digital- und Analogfunk nebeneinanderbenutzen müssen, was ziemlich katastrophal wäre.Das Gleiche droht auch in anderen Situationen. Beisogenannten Großlagen, etwa bei Großdemonstrationenoder größeren Katastrophen, ergeben sich beispielsweiseLeistungsprobleme, wenn man zu viele Geräte am Netzhat. Ich will darauf hinweisen, dass das im Bund-Län-der-Verhältnis angesprochen werden muss. Wir habenbeim Digitalfunk genug unangenehme Überraschungen,sowohl bei den Kosten als auch bei der Leistungsfähig-keit, erlebt. Ich möchte Sie sehr darum bitten, dass Siegemeinsam mit den Kollegen in den Ländern eine prag-matische Lösung finden. Gleichzeitig muss man dieWarnungen der Experten ernst nehmen.Das sind die wichtigsten haushalterischen Themen.Ansonsten ist festzustellen: Wir arbeiten gut zusammen.Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Petra Pau hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor zehn Monaten, am 4. November 2011, wurde ein in-nenpolitischer Super-GAU publik. Ein Nazitrio namensNationalsozialistischer Untergrund war mehr als zehnJahre lang mordend und raubend durch die Bundesrepu-blik Deutschland gezogen – unerkannt und unbehelligt.Neun Menschen, acht türkischer Herkunft und einer mitgriechischen Wurzeln, wurden regelrecht hingerichtet.Außerdem erschossen sie eine Polizistin. So lautet dieoffiziell erzählte Geschichte. Man muss allerdings vieleFragezeichen übersehen, um dieser Version arglos zufolgen.Seit einem halben Jahr versuchen wir im Untersu-chungsausschuss, Licht ins Dunkel zu bringen. Ichmöchte hier ausdrücklich anmerken: bisher konstruktiv,fraktionsübergreifend und ohne jegliches parteipoliti-sches Gezänk.
Das finde ich – und ich sehe: auch Sie – politisch ange-messen, und wir sind es den Opfern schuldig.Nach allen bisherigen Untersuchungen gibt es mehrFragen als Antworten. Es wimmelt nur so von Unge-reimtheiten. Auch meine zentrale Frage ist bisher unge-klärt: Warum wurde die rechtsextreme Gefahr so lange,so gründlich und so tödlich unterschätzt? Und warumnoch immer? Eine Annahme erhärtet sich allerdings: ImZentrum des Sicherheitsversagens agierten das Bundes-amt und die Landesämter für Verfassungsschutz. Sie ha-ben – vorsichtig formuliert – im besten Fall die polizeili-chen Ermittlungen nicht befördert.
Ich fürchte, jetzt endet die ganz große Übereinstim-mung; denn die Linke bleibt dabei: Die Verfassungs-schutzämter sind aufzulösen.
Nun stellt sich die Frage: Wie soll das gehen? Ichglaube, die unsägliche V-Leute-Praxis kann erstens so-fort eingestellt werden. Der zweite Schritt wäre die Ent-ziehung der Geheimdienstbefugnisse und der dritte dieUmwandlung zu einer kompetenten Politikberatung.Nun reden wir hier nicht nur über Innenpolitik, son-dern auch über den Bundeshaushalt. Dazu wird es einJahressteuergesetz 2013 geben. Mit ihm würden aller-dings die Versagerämter für Verfassungsschutz durchden Bundestag noch geadelt und befördert. Versteckt indiesem Gesetz steht, dass der Verfassungsschutz künftigals finaler TÜV über die Gemeinnützigkeit von Vereinenund Initiativen entscheiden soll. Ämter, unfähig, Mordevon Nazis zu verhindern, sollen nun über Nutz undFromm gesellschaftlichen Engagements richten. Ichfinde, das hat perverse Züge.
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Petra Pau
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Zivile Courage gegen Rechtsextremismus, Rassismusund Antisemitismus würde damit weiter verstaatlicht,verordnet, vor allem aber unter geheimdienstliche Will-kür gepresst, ebenso übrigens soziales Engagement undder Kampf um den Frieden. Ich finde, das ist wider denGeist der Verfassung.Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ichSie: Folgen Sie dem offenen Brief, den zahlreiche Initia-tiven im Juni an den Bundestag gerichtet haben, darunterder BUND, der Republikanische Anwältinnen- und An-wälteverein, das Netzwerk Friedenskooperative undviele, viele mehr. Kehren Sie in dieser Frage ein und vorallen Dingen um.Danke schön.
Josef Winkler hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bilanz des letzten Jahres und der gesam-
ten bisherigen Legislatur im Bereich der Innenpolitik
fällt ziemlich dürftig aus. Wir erleben einen sehr über-
forderten Innenminister, der fast ausschließlich damit
beschäftigt ist, die Folgen des Grabenkampfes in dieser
unheilbar zerstrittenen Koalition zu verwalten. Gucken
Sie sich die Beispiele einmal an:
Vorratsdatenspeicherung. Statt eines gemeinsamen
Vorgehens der Bundesregierung gegen die fragwürdige
Richtlinie aus Brüssel läuft die Regierung im Zickzack.
Statt sich für die Aufhebung dieser Unsinnsrichtlinie
einzusetzen, erleben wir eine Never-ending Story, einen
Dauerstreit zwischen Justiz- und Innenministerium.
– Liebe Frau Piltz, man muss sich auch irgendwann ein-
mal in der Regierungskoalition durchsetzen und nicht
immer nur freundlich gucken.
Schauen wir uns ein anderes Thema an, den Beschäf-
tigtendatenschutz. Ich bin einmal gespannt, was Sie
gleich dazu sagen werden, Frau Piltz. Die Diskussion
über den Beschäftigtendatenschutz läuft seit über zwei
Jahren. Kommt nun ein besserer Schutz, oder kommt er
nicht? Sie haben einen Entwurf vorgelegt, der nieman-
dem nützt. Ich kann nur sagen: Das ist peinlich. Das sage
ich vor allem in Richtung FDP, weil ich von der CDU/
CSU hier eh nichts erwartet habe.
Wie sieht es mit der Stiftung Datenschutz aus? Das
war ein leeres Versprechen.
Wann kommt sie denn? Kommt sie noch in dieser Wahl-
periode, oder sollen wir das machen, wenn Sie gar nicht
mehr im Parlament sind, Frau Piltz?
Also bitte schön: Antworten Sie darauf mal; Sie reden ja
gleich noch.
Was bleibt denn dann, wenn man all diese Einzelbei-
spiele zusammenzieht? Der Bundesinnenminister ver-
passt es, sein Haus modern aufzustellen.
Gucken Sie sich zum Beispiel einmal die Netzpolitik
an. Herr Uhl, von wegen, bei der IT geht es voran! Die
Mittel für die Abteilung wurden gekürzt. Wenn es um
Netzpolitik geht, fragt der Innenminister: Was geht mich
das an? Ich habe mit Hochseefischerei nichts zu tun.
Insofern findet Netzpolitik im Innenministerium über-
haupt nicht statt. – Kollege Grindel, der Datenschutzstab
ist ja wohl reichlich improvisiert eingerichtet worden.
Das ist doch keine überzeugende Ansage, die der Innen-
minister hier für dieses Thema macht.
Zum Thema Flüchtlingspolitik. Mir kommen ja fast
Tränen der Rührung, wenn hier schon bei 195 aufge-
nommenen Flüchtlingen die herausragende Leistung der
Bundesrepublik Deutschland gewürdigt wird, auch wenn
es insgesamt dreimal 300 werden sollen. Also bitte
schön! Wir reden hier über eine Situation, in der Hun-
derttausende in Syrien auf der Flucht sind und Zehntau-
sende in den umliegenden Ländern Aufnahme gefunden
haben. Man muss auch nicht warten, bis der UNHCR
den Notstand ausruft, sondern man kann auf europäi-
scher Ebene schon jetzt darüber diskutieren, wann man
welche Maßnahme ergreift
und wann man über das Resettlement-Verfahren wie
viele Menschen aus Solidarität in Europa aufnehmen
will.
Es gibt also überhaupt keinen Grund für Jubel über
die gelungene Flüchtlingspolitik, sondern hier ist noch
reichlich nachzuarbeiten.
Danke schön.
Der Kollege Helmut Brandt hat das Wort für dieCDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lieber Josef Winkler, ich glaube, diese Koali-tion braucht sich gerade von den Grünen und auch vonder SPD nicht sagen zu lassen, wie man gut zusammen-arbeitet.
Der „Basta“-Kanzler, der bei euch ja so beliebt war, undder Innenminister Schily sind beredte Beispiele dafür,wie man nicht miteinander umgeht.
Solche Umgangsformen wollen wir uns auch nicht ange-wöhnen.
In der Debatte heute ist eigentlich nur wenig zumHaushalt selbst gesagt worden. Einige haben sich darinverstanden, unseren Innenminister in einer nach meinerAnsicht – hier teile ich die Auffassung von Hans-PeterUhl – unmöglichen Art und Weise anzugehen, die durchnichts gerechtfertigt werden kann.Zu Beginn möchte ich dem Kollegen Florian Toncardafür danken, dass er an unseren verstorbenen KollegenJürgen Herrmann erinnert hat. Das wollte ich auch tun,und das will ich auch jetzt noch tun, obwohl er es schongetan hat; denn eines ist ganz klar: Jürgen Herrmann warmaßgeblich an der Aufstellung dieses Haushalts betei-ligt. Der Haushalt trägt seine Handschrift.Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der in-neren Sicherheit wird nicht gespart. Hier ist schon mehr-fach die Rede von den schrecklichen Mordtaten desNSU gewesen. Wir nehmen zur Kenntnis, dass eine zu-nehmende Gefahr durch Extremisten jedweder Richtungbei uns besteht.Freiheit ohne Sicherheit – das möchte ich auch ganzklar sagen – ist für uns keine Alternative. Wer ernsthaftbezweifelt, dass dies so ist, dem ist offensichtlich nichtbewusst, wie viel Lebensqualität derjenige einbüßt, dersich in seinem Land nicht mehr sicher fühlt.Die Bedrohungen und Gefahren, denen wir ausgesetztsind, sind vielfältig. Ebenso vielfältig sind auch die Auf-gaben unserer Behörden.Die Neonazi-Szene organisiert sich neu und geriertsich zunehmend gewaltbereit. Die NPD, von der mehr-fach die Rede war, verliert zwar an Mitgliedern, dafürnimmt aber die Zahl der Mitglieder in informell organi-sierten Kameradschaften zu. Das macht diese Szenenicht ungefährlicher, sondern – im Gegenteil – das er-höht die Gefahr, die von dieser Szene ausgeht.
Damit sollten wir uns primär beschäftigen.
Mit dem inzwischen eingerichteten GemeinsamenAbwehrzentrum gegen Rechtsextremismus und der Ver-bunddatei haben wir eine Grundlage dafür geschaffen,einen reibungslosen Informationsfluss zwischen den ein-zelnen Behörden auf Landes- und Bundesebene herzu-stellen. Das ist notwendig, um Gefahren von rechts früh-zeitig erkennen zu können; denn eines dürfte doch klarsein: Eine solche Mordserie wie in den letzten zehn Jah-ren durch den NSU – Frau Pau, Sie haben das insoweitrichtig dargestellt – darf sich niemals wiederholen.An dieser Stelle richte ich allerdings auch einen ein-dringlichen Appell an uns alle: Im Zusammenhang mitdieser Mordserie wurde verschiedentlich und sehr vor-schnell der Vorwurf laut, bestimmte Behörden unseresLandes seien auf dem rechten Auge blind. Es wurde so-gar suggeriert, man sympathisiere mit rechtem Gedan-kengut. Abgesehen davon, dass dieser Vorwurf niebelegt wurde, warne ich davor, mit solchen Unterstellun-gen unsere Behörden zu schwächen und damit zugleichunsere Sicherheit zu gefährden.
Ich bin ganz im Gegenteil davon überzeugt, dass dieMitarbeiter all unserer Sicherheitsbehörden tagtäglichihr Bestes geben, um von den Bürgern unseres Landesjedweden Schaden, ob von rechts oder von links, obdurch Naturkatastrophen oder durch menschliches Ver-sagen, abzuwenden. Ihnen gilt tatsächlich unser Dank.
Daneben müssen wir einer frühzeitigen Präventionvon Straftaten besondere Bedeutung beimessen. Bil-dung, politische Aufklärung und Integration sind ein gu-ter Schutz vor der Rekrutierung durch Extremisten. Esist uns deshalb wichtig, dass die Bundeszentrale für poli-tische Bildung gut ausgestattet ist. Sie leistet im Zusam-menhang mit politischer Aufklärung schon lange guteArbeit.Ebenso wichtig und notwendig ist für uns aber auchdie Integration der hier lebenden Menschen mit Migra-tionshintergrund. Um hier ein deutliches Zeichen zusetzen, haben wir den Mittelansatz für Integrationsmaß-nahmen trotz leicht rückläufiger Zahlen bei den Integra-tionskursen nicht gekürzt. Mit Bedacht arbeitet das Bun-desamt für Migration und Flüchtlinge derzeit daran, eineEmpfehlung zu entwickeln, wie das frei werdende Geldim Bereich der Integration sinnvoll angelegt werdenkann. Diese wollen wir auch umsetzen.Wir sehen im Internet Bewegungen, die auf einegroße Entschlossenheit der Islamisten, einen Anschlagzu verüben, schließen lassen. Es besteht kein Zweifel da-ran, dass unser Land im Visier von Islamisten ist. Nochvor kurzem – der Innenminister hat das vorhin zu Recht
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Helmut Brandt
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gesagt – hörten wir, wie der Salafist Denis Cuspert in ei-nem Video offen mit dem Dschihad gegen unser Landgedroht hat. Überhaupt ist das Internet zunehmend einTummelplatz für Kriminelle. Die modernen Informa-tions- und Kommunikationstechnologien bieten in im-mer größerem Umfang Gelegenheit, Straftaten zu bege-hen. Dies erfordert nicht nur unsere Wachsamkeit unddie Wachsamkeit der Sicherheitsbehörden, sondern wirmüssen uns auch auf diese neuen Technologien und Vor-gehensweisen einstellen. Den Kampf gegen die soge-nannte Cyberkriminalität müssen wir nicht nur aufneh-men, sondern wir müssen auch bemüht sein, den Täternimmer einen Schritt voraus zu sein.Um ihren Aufgaben gerecht zu werden, müssen un-sere Behörden natürlich auch mit hinreichend Personalund Sachmitteln ausgestattet sein. Die Ausgaben für Per-sonal machen, auch bedingt durch Tarif- und Besol-dungserhöhungen sowie durch die Wiedergewährungdes Weihnachtsgeldes, mehr als die Hälfte der Gesamt-ausgaben im Einzelplan aus. Hinzu kommt der Verzicht– das ist wichtig – auf pauschale Stelleneinsparungen inden nächsten Jahren, wie das in der Vergangenheit derFall war. Wenn dieser Ausgabenposten auf den erstenBlick hoch erscheint, muss man darauf hinweisen, dasszu einem guten Vollzug eben auch eine ausreichendeZahl von Mitarbeitern in Sicherheitsbehörden gehört, diemotiviert sind, die gerne ihren Dienst tun und denen be-rufliche Perspektiven offenstehen. Auch dies muss imHaushalt seine Berücksichtigung finden. Gerade mitBlick auf den demografischen Faktor müssen wir daraufachten, dass der öffentliche Dienst attraktiv bleibt undqualifizierter Nachwuchs angeworben werden kann.Nicht nur durch den Terror, nicht nur durch die Ge-fahren von rechts und links sind wir bedroht, sondern na-türlich auch durch Naturkatastrophen infolge des Klima-wandels; alle wissen, wovon ich rede. Zu Recht sind wirstolz auf die Einrichtung des Technischen Hilfswerks,
insbesondere auch auf die Einsatzbereitschaft und dieEinsatzqualität der hauptamtlichen wie der ehrenamtli-chen Helfer. Feststellen müssen wir aber auch, dass in-folge der Aussetzung der Wehrpflicht keine Zivildienst-leistenden mehr zur Verfügung stehen. Ich denke aber,dass gerade die jungen Leute, die beim TechnischenHilfswerk ihren Dienst getan haben, die dort die Vorzügedes Technischen Hilfswerks kennengelernt haben underfahren haben, welch gute Ausbildung dort gebotenwird, später freiwillig dabeigeblieben sind. Wir alle soll-ten auch in Zukunft im politischen Raum, im öffentli-chen Raum dafür werben, beim Technischen Hilfswerkehrenamtlich tätig zu werden.
Ich komme zum Schluss. Wir gehören zu den sichers-ten Ländern der Welt; das ist unbestritten. Wir wollen al-les tun – auch mit diesem Haushalt –, damit dies sobleibt. Ich appelliere ausdrücklich an die Länder, mit ei-nem größeren Miteinander der Verfassungsschutzbehör-den daran mitzuwirken, dass dies auch in Zukunft sobleibt. Denn das ist nicht das Ende des Föderalismus,sondern es schützt unser föderales System.Besten Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Danckert für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Als Hauptberichterstatter für den Einzelplan 06 ist esmir ebenfalls ein Anliegen – Kollege Brandt und Kol-lege Toncar haben es eben schon getan –, hier ein Wortder Erinnerung an den verstorbenen Kollegen JürgenHerrmann zu sagen. Ich kann für mich sagen: Ich warmit ihm freundschaftlich verbunden. Wir sind uns imLaufe der Legislaturperiode immer nähergekommen.Wir haben gemeinsame Pläne Richtung London gehabt.Nichts hat mich in den letzten Monaten oder Jahren sobetroffen gemacht wie der Tod dieses 49-jährigen Kolle-gen, den wir alle sehr geschätzt haben. Wir haben gutmit ihm zusammengearbeitet. Wir waren nicht immer ei-ner Meinung, aber das muss auch nicht sein. Insofernfehlt mir ein sehr guter Kollege.Herr Bundesminister, Sie wissen, ich bin in meinerWortwahl eigentlich immer sehr zurückhaltend, aber ei-nige Anmerkungen muss ich hier machen. Gut, ich sehe,dass der Mittelansatz des Haushalts erhöht worden ist.Im Wesentlichen liegt dies an Tariferhöhungen – das ha-ben wir schon gehört – und daran, dass das Weihnachts-geld wieder gezahlt wird. 47 Millionen Euro sind für dieBundestagswahl im nächsten Jahr vorgesehen. Aber esgibt kein wirkliches Konzept.Eine Frage ist von Peter Uhl schon angesprochenworden. Diese Frage ist bisher nicht geklärt worden. Wirwissen seit Jahren, dass wir die IT-Technik verbessernmüssen. Da ist überhaupt nichts passiert. Das ist ein gro-ßes Sicherheitsproblem. Es geht um das Thema Sicher-heitstechnik und Bundespolizei. Was sehen wir denn da?Ich weiß nicht, ob du das mitbekommen hast, Peter Uhl.Die Mittel für die IT-Technik bei der Bundespolizei sindum 2,5 Millionen Euro gekürzt worden. Was ist denn dasfür ein Signal? Wir müssen uns in den Haushaltsberatun-gen unbedingt Gedanken darüber machen, ob das so pas-sieren darf.
Bei der Bundespolizei haben wir zehn Jahre alteTechnik. Die Mitarbeiter dort behelfen sich, indem siedas eine Gerät ausschlachten und die Teile in ein anderesGerät einbauen. Das ist doch kein Zustand. Wir sind indem Bereich inzwischen sozusagen rückschrittlich. Wirbeide – ich glaube, so viel darf ich sagen – waren uns ei-gentlich einig, dass bei dem Thema Verbesserung derIT-Technik in den nächsten Jahren ein riesiges Problemauf uns zukommt, nicht nur im nächsten Haushaltsjahr,
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Dr. Peter Danckert
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sondern in den nächsten zehn Jahren. Natürlich bin ichmir darüber im Klaren, dass das nicht mit 10 MillionenEuro getan ist, wahrscheinlich auch nicht mit 10 Milliar-den Euro, aber wir müssen das leisten, damit wir nichtden Anschluss verlieren. Das ist eine unmittelbare Frageder Sicherheit.
Das ist so. Wer sich mit dem Thema beschäftigt, derwird mir in diesem Punkt recht geben.Herr Kollege Friedrich, auch ich kann Ihnen nicht er-sparen, auf das hinzuweisen, was hier schon von meinerKollegin Christine Lambrecht angesprochen worden ist.Die Personalentscheidungen der letzten Monate undJahre, die von Ihnen zu verantworten sind, sind schlichteine Katastrophe. Nicht alles geht auf Ihre Kappe, abervieles. Christine Lambrecht hat gefragt – Sie sind unsbisher eine Antwort schuldig geblieben –, weshalb ei-gentlich der letztlich von Ihrer Partei, von Ihrem Vorgän-ger eingesetzte Präsident der Bundespolizei entlassenworden ist. Die Antwort auf diese Frage ist in der Öf-fentlichkeit nicht bekannt. Ich kann sie nicht beantwor-ten. Woran lag das also?Jürgen Herrmann – ich muss ihn jetzt zum zweitenMal erwähnen – und ich haben Herrn Seeger als den Prä-sidenten der Bundespolizei persönlich gebeten, in einemBerichterstattergespräch offen zu reden, uns die Zahlenzu nennen und uns die Defizite zu benennen. Das hat erzum großen Entsetzen des Staatssekretärs und der Abtei-lungsleiter aus Ihrem Hause getan. Was war die Folge?In dem Moment war Herr Seeger für Sie gestorben.
Das ist eine sehr unfaire Art, mit den Bitten der Parla-mentarier umzugehen: Wir haben den Leiter der größtennachgeordneten Behörde gebeten, uns reinen Wein ein-zuschenken, und Sie sägen ihn ab.
Weil da ein sehr unangenehmer Diadochenkampf ent-standen ist, haben Sie wahrscheinlich die beiden anderenauch gleich noch abgesägt. Aber so geht das nicht!Nun zu der Reform, die Sie in diesem Zusammenhanggelobt haben. Ich würde Sie bitten, einmal das zu lesen,was die große, die überwiegende Zahl der Mitarbeiterdazu sagt. Da brauchen Sie sich nicht nur auf die GdP zustützen. Dort ist inzwischen eine ganz schlimme Situa-tion eingetreten: höchste Unzufriedenheit, ein Riesen-krankenstand, der natürlich auch damit zusammenhängt.Insofern würde ich sagen: Loben Sie die Reform, dievon Herrn Schäuble begonnen worden ist, nicht zu sehr,sondern gucken Sie, dass auch die Mitarbeiter, die sozu-sagen das Gerüst für die Sicherheit sind, zufrieden undgesund sind. Da ist noch ziemlich viel zu tun. An derStelle können Sie keineswegs damit zufrieden sein.
Was die Sicherheit angeht, möchte ich Sie – vielleichthaben Sie sie schon gelesen – auf die Studie von Allens-bach hinweisen, die gestern erschienen ist. Im Bereichder IT-Technik herrscht bei den Managern der großenUnternehmen in Deutschland mit mehr als 50 MillionenEuro Umsatz zu über 50 Prozent totale Unzufriedenheitin Bezug auf die Sicherheit. Jeder von ihnen ist inseinem Betrieb schon einmal durch Sabotage oderSpionage angezapft worden. Das kann doch in Deutsch-land nicht der Standard sein. Da müssen wir doch etwastun. Wir können doch im Bereich der Sicherheit, der IT-Technik nicht sparen, sondern wir müssen uns bemühen,die Ausgaben dort zu erhöhen. Ich bitte Sie an dieserStelle darum, ernsthaft darüber nachzudenken.
Beim Thema Sparen fällt mir noch das StichwortTHW ein. Ich meine, auch das ist ein wichtiger Bereich.Und was haben Sie da gemacht? Sie haben die Mittel um1,8 Millionen Euro gekürzt. Was einem die Freunde vomTHW, das von Stephan Mayer geführt wird, in Gesprä-chen sagen, ist desaströs. Sie haben hier im Parlamentleider kein Rederecht. Stephan Mayer als Boss dieserEinrichtung dürfte sich nicht allein darauf verlassen,dass Christine Lambrecht hier etwas sagt, sondern aucher müsste jetzt einmal den Mund aufmachen und sagen:So geht das nicht! – Die Haushaltsberatungen, die uns inden nächsten Wochen erwarten, müssen ein deutlichesSignal aussenden, dass wir den Worten im Bereich derSicherheit auch Taten folgen lassen. Da haben wir nocheine Menge zu tun.
Zum Sport ist schon einiges gesagt worden. HerrFriedrich, eines sollten Sie in Zukunft abstellen: Ichweiß nicht, ob das mit den Zielvereinbarungen bei denOlympischen Spielen wirklich sinnvoll war. Die Zahlenhaben belegt, dass darüber spekuliert wurde, was anGoldmedaillen erreicht werden sollte. Aber das ist ein-fach eine andere Situation. Das bringt nichts.
Herr Kollege!
Ich bitte Sie darum, dass Sie, wenn Sie wieder auf das
Instrument der Zielvereinbarung zurückkommen, nicht
so lange warten, dass das Parlament erst aufgrund einer
Gerichtsentscheidung die nötigen Informationen be-
kommt, diese allerdings auch noch sehr vage. Ich bitte
Sie an dieser Stelle um Transparenz und auch darum,
dass zumindest die Mitglieder des Haushaltsausschusses
und des Sportausschusses informiert werden; denn sonst
ist das keine angemessene Sache.
Herr Kollege!
Metadaten/Kopzeile:
23200 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
(C)
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Ich würde dann beim nächsten Mal sehr viel deutli-
cher mit Ihnen reden. Verbessern Sie also die Situation!
Beim nächsten Mal.
Ich bin fertig, Frau Göring-Eckardt. Ich wünsche Ih-
nen alles Gute, übrigens auch für Ihre Kandidatur.
Denn ich schätze die Kollegin sehr. Aber mehr möchte
ich dazu nicht sagen. Vielleicht schreibe ich Ihnen noch
etwas.
Auch ich möchte jetzt nichts dazu sagen.
Herzlichen Dank für die geringe Redezeitverlänge-
rung. Ich mache das beim nächsten Mal wieder gut.
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich lasse das mit den guten Wünschen; ich will Ih-nen ja nicht schaden.
Wir führen heute eine Haushaltsdebatte. Daher habeich ein passendes Zitat herausgesucht. Schon Senecawusste: „Sparsamkeit allein ist schon eine große Einnah-mequelle.“ Da wir über den Haushalt diskutieren, machtes vielleicht Sinn, darüber nachzudenken. Diese Wahr-heit ist heute wie vor 2 000 Jahren richtig. Sie ist auchder Leitfaden dieser christlich-liberalen Koalition imHinblick auf den Haushalt.Das scheint allerdings nicht bei allen der Fall zu sein.Für Sie, Frau Lambrecht, gilt das nicht. Sparsamkeit warheute nicht Ihre Devise. Sie haben uns mit zwei Redenbeglückt. In diesen Reden haben Sie uns teilweise das-selbe erzählt. Ich habe dabei festgestellt, dass Sie nichtimmer in der Lage sind, Innen- und Rechtspolitik von-einander zu trennen. Das mag populistisch sein, ist abernicht richtig. Ich finde es übrigens witzig, dass Sie demInnenminister vorwerfen, er sei nicht im Innenausschuss.Sie sind nie im Innenausschuss; das hat der KollegeHans-Peter Uhl schon gesagt.
Damit es aber gar nicht erst heißt, dass wir uns dauerndstreiten: Sie sind nicht da; aber ich finde, Sie habenrecht. Vielen Dank!
Viele von Ihnen haben sich über das Melderecht aus-gelassen. Das kann ich verstehen; das würde auch ich anIhrer Stelle tun. Aber eines ist klar: In allen Bundeslän-dern besteht ein Melderecht fort, das sehr viel schlechterist als das, das wir zusammen auf den Weg gebrachthaben.
Keine SPD-geführte Landesregierung hat bisher denVersuch unternommen, die Bürgerinnen und Bürger imLand für über zwei Jahre vor diesem gruseligen Melde-recht zu schützen.
Dazu würde ich gerne einmal eine Initiative von Ihnenerleben. Aber dazu sagen Sie nichts. Denn Sie wissengenau, dass Sie das in den Ländern, in denen Sie Verant-wortung tragen, nicht hinbekommen.Ich kann mich übrigens gut an die Reform des Bun-desdatenschutzgesetzes, an die Regelung zum Opt-in-Verfahren, erinnern. Da war die SPD nicht so gut aufge-stellt; das muss ich Ihnen sagen. Dazu hätte ich damalsgerne etwas von Ihnen gehört; aber so ist das Leben.
Wir machen eine solide Finanzpolitik. Es ist schonvon vielen gesagt worden: Im Bereich der Innenpolitikist es immer wichtig, die richtige Balance zwischenFreiheit und Sicherheit zu finden. Mit dem, was wir vor-legen, schaffen wir das.
– Wolfgang, ich höre dir gar nicht zu;
du kannst es lassen. Du kannst mich gerne etwas fragen.Aber ich habe nicht so viel Zeit wie du.Beim Datenschutzbeauftragten haben wir nicht ge-kürzt; das ist doch schon einmal eine gute Aussage.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23201
Gisela Piltz
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Wir hätten ihm gerne mehr Geld zur Verfügung gestellt.In der Vergangenheit haben wir das auch getan.Auch mir fallen ein paar Stellen ein, an denen manGeld einsparen könnte. Zum Thema Luftsicherheit istvom Kollegen Toncar schon vieles gesagt worden; er hatrecht, wenn er darauf hinweist, dass es keinen Sinnmacht, ein Gerät mit einem Zollstempel und ein Gerätmit einem Bundespolizeistempel hintereinander aufzu-stellen.Ich finde es allerdings interessant, dass im Haushalt8 Millionen Euro für sogenannte Körperscanner vorge-sehen sind, obwohl der entsprechende Feldversuch inHamburg ergeben hat, dass sie nicht wirklich effektivsind. Vielleicht können die Haushälter an dieser Stelle,bei diesen 8 Millionen Euro, noch etwas bewegen.
Ich würde mich darüber freuen, weil das gut und imSinne der Bürgerrechte wäre. Da würden Sie etwasGutes tun.
Ich komme zum Schluss. Josef Winkler ist ja leidernicht mehr hier; er hat sich entschuldigt. Da er vorhinnach der Stiftung Datenschutz gefragt hat, möchte ichsagen: Wenn er in der letzten Debatte vor der Sommer-pause zugehört hätte, wüsste er, dass wir sie jetzt instal-lieren.Interessant finde ich, was man lesen kann, wenn mansich die Koalitionsverträge der wunderbaren rot-grünenKoalitionen in manchen Bundesländern anschaut.
Im rot-grünen Koalitionsvertrag für Nordrhein-West-falen steht zum Beispiel die wunderbare Aussage: Wirarbeiten mit allen Beteiligten zusammen, um den Daten-schutz zu verbessern, und führen zu diesem Thema eineKonferenz durch. – Das ist immer toll. Wenn man selbernicht weiß, was zu tun ist, veranstaltet man eine Konfe-renz. Das Allerschönste ist, dass im NRW-Koalitions-vertrag steht: Diese Konferenz berät uns dann bei derErstellung eines NRW-Gütesiegels.
Ich finde, das ist wirklich der Burner. Hier haben Sie im-mer wieder betont, dass Sie uns, was die Stiftung Daten-schutz angeht, nicht unterstützen werden. Und in NRW?Denken Sie einmal darüber nach. Willkommen in derWirklichkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganzzum Schluss: Es ist hier viel zum Sport gesagt worden.Wir haben tolle Spiele in London erlebt. Der KollegeDanckert hat aus meiner Sicht recht: Wir müssen unsüberlegen, wie wir mit den Zielvereinbarungen und derSportförderung umgehen. So, wie es jetzt ist, kann esnicht bleiben. Spitzensport ist wichtig als Vorbild für denBreitensport, aber so kann es nicht weitergehen. Wirwerden im Sportausschuss darüber reden müssen. Wirfordern mehr Transparenz.
Frau Kollegin.
Ja, ich bin jetzt fertig. Vielen Dank, Frau Präsiden-
tin. – Ihnen allen noch einen schönen Abend.
Stefanie Vogelsang hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Minister! Meine Damen und Herren! Es istfür mich eine schwierige Situation, heute an dieser Stellezu sprechen. Eigentlich müsste hier Jürgen Herrmann alsder zuständige Berichterstatter im Haushaltsausschussfür den Einzelplan 06 stehen. Wir im Haushaltsaus-schuss und sicherlich nicht nur wir werden sein Anden-ken in Ehren halten. Ich habe heute einmal mehr ge-merkt, was für große Schuhe er hinterlassen hat. Ichwerde mich bemühen, meine Arbeit in seinem Sinnefortzuführen.Ich möchte Ihnen an dieser Stelle auch für den großenVertrauensvorschuss von heute Morgen, für die Wahl insVertrauensgremium, ganz herzlich danken. Auch hierwerde ich mich sehr darum bemühen, dem Vertrauens-vorschuss gerecht zu werden.Ich habe die Debatte sehr intensiv verfolgt. Wennman neu für einen Einzelplan zuständig ist, wie ich dasbin, dann schaut man auch einmal in die Protokolle derletzten Diskussionen: Was waren die Themen auch derOpposition bei der letzten Beratung?
– Ja, da kann man was lernen. Vor allen Dingen ist es so:Wenn man den Reden in diesem Jahr besonders intensivzuhört, kann man lernen, dass sich an den Reden garnichts verändert hat.
Das waren ja die gleichen Reden, speziell von Ihnen, diewir in diesem Jahr und im letzten Jahr gehört haben.Am Anfang habe ich von Ihnen gehört, dass Sie demMinister Einfallslosigkeit bei der Haushaltsplanaufstel-lung vorwerfen.
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23202 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012
Stefanie Vogelsang
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Ich glaube, für eine gute Arbeit in einem Ministeriummit 18 Oberbehörden, die es zu leiten gilt, ist es auch einBestandteil von Qualität, auf Kontinuität und auf verste-tigende Ansätze zu setzen. In Ihrer Kritik hätten Sie viel-leicht etwas einfallsreicher sein können.
5,8 Milliarden Euro im Haushalt, knapp 4 MilliardenEuro für Sicherheitspolitik, der größte Batzen in diesemHaushalt entfällt auf den Bereich Personal. Bei den Be-hörden, Herr Minister, die Ihnen unterstellt sind, ist dasverständlich. Wir reden nicht vom Verkehrsministerium,von Infrastrukturprojekten, wir reden nicht vom Sozial-ministerium, von großen Batzen als Rentenzuschuss,sondern wir reden über das Innenministerium.Es ist schon eindrucksvoll, wenn man sich anschaut,welche Behörden zu Ihrem Ressort gehören und für wel-che Bereiche Verantwortung getragen wird. Daruntergibt es Exoten, wie zum Beispiel das Bundesamt fürKartografie und Geodäsie – das war heute noch gar nichtGesprächsthema –: klein, aber fein. Darunter sind auchsolche Ämter wie zum Beispiel die Bundespolizei.Wir haben spätestens seit 1989 in allen Haushalts-reden, die wir geführt haben, gerade zum Innenressort,immer wieder argumentiert: Wir müssen Aufgabenkritiküben. Wir müssen uns auf die Kernaufgaben konzentrie-ren. Wir müssen Personal einsparen. – Hatten wir noch1989 für etwas über 200 Bundesbürger 1 Mitarbeiter beiBundesbehörden, kommen heute knapp 330 Einwohne-rinnen und Einwohner der Bundesrepublik Deutschlandauf 1 Mitarbeiter.Wir müssen uns, glaube ich, fragen: Wie wollen wirin Deutschland zusammenleben? Wie wollen wir auch inZukunft gemeinsam leben? Wie ist unsere Verwaltungaufgestellt? Deswegen begrüße ich ausdrücklich und mitganz viel persönlicher Begeisterung den Beschluss desBundeskabinetts und den Ihrer Vorlage, dass wir aufPersonaleinsparungen im Haushalt 2013 ff. verzichten.Es gab den im Sommer 2010 in Meseberg getroffenenBeschluss der Bundesregierung. Die Vorgabe der Bun-desregierung war, noch einmal 10 000 Stellen im Be-reich der Bundesbehörden einzusparen. Wenn ich esrichtig überblicke, kommen wir Ende dieses Jahres aufknapp 11 000 Stellen. Wir haben also das Einsparvolu-men, was wir uns gemeinsam aufgegeben haben, mehrals erfüllt.Ich glaube, dass die Zeiten der Konsolidierung desBundeshaushalts, lieber Staatssekretär Kampeter, durchStelleneinsparungen im öffentlichen Dienst vorbei sind.Ich glaube, dass es richtig und wichtig ist, neue Akzentezu setzen und deutlich zu machen, wie wir unsere Be-hörde entwickeln und wie wir arbeiten wollen.Wenn man dann wie ich neu in diesem Bereich ist undzum Beispiel die Besoldungsstruktur bei den 41 000 Kol-leginnen und Kollegen der Bundespolizei sieht, dann er-schrickt man ein Stück weit. Dass Sie die Personalstel-lenaufwertungen und Neubewertungen der Aufgabenvorgenommen haben, begrüßen wir sehr. Wir sehen aberauch, dass wir die passenden Stellen dafür noch brau-chen.Ich glaube, dass der Weg, den Sie im Bereich derBundespolizei eingeschlagen haben, sehr geehrterMinister, vorbildlich und sehr richtig ist. Ich glaube aberauch, dass Sie die Unterstützung des Haushaltsausschus-ses brauchen, um diesen Weg tatkräftig weiterzugehenund ihm für die nächsten Jahre auch eine Perspektivefolgen lassen zu können. Dazu will ich gerne meinenklitzekleinen Beitrag leisten.Der zweite Punkt, den ich heute ansprechen möchte,ist schon mehrfach angesprochen worden, und zwar vonIhnen, Frau Kollegin Piltz, aber auch von der SPD. Da-bei geht es um das Meldegesetz. Ich war 2004, als dasMelderechtsrahmengesetz der rot-grünen Bundesregie-rung über diese Republik kam, gerade zuständige Dezer-nentin der Meldeämter in Berlin, und zwar in Neukölln.
In den ersten Monaten habe ich gedacht, es sei alles inOrdnung und keine Schwierigkeit. Unter dem StichwortEntbürokratisierung haben Sie kleine Feinheiten in dasneue Melderechtsrahmengesetz hineingeschrieben, diezum Beispiel beinhalteten, dass sich unter Ihrer privatenAdresse irgendein Krimineller ohne Ihr Wissen einfachanmelden kann. Wenn dann die Einsatztruppe der Polizeidiesen Kriminellen bei Ihnen zu Hause stellen möchte,steht auf einmal morgens um 3 Uhr die Polizei bei Ihnenam Bett. Das waren die Konsequenzen des Melderechts-rahmengesetzes von Rot-Grün.
Wir alle, aber vor allem die Opposition, haben unskeinen Gefallen damit getan, dass wir so populistischskandiert haben: Das ist ein 51-Sekunden-Gesetz. Wirhaben an diesem Gesetz mehrere Jahre gearbeitet.
Frau Kollegin.
Dass Daten zu kaufen sind, ist nicht erst seit Rot-
Grün, sondern schon sehr viel länger die Regel in unse-
rer Bundesrepublik Deutschland.
Frau Kollegin.
Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Ich möchte gernevon Ihnen wissen, wie Sie die Blockadehaltung der Län-der gegen dieses Meldegesetz Ihren Städten erklären.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2012 23203
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Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 14. September 2012,
9 Uhr, ein.
Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonne-
nen Einsichten.
Die Sitzung ist geschlossen.