Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich und wünsche Ihnen einen guten Tag und unsgute und konstruktive Beratungen.Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich zweinachträgliche Geburtstagsglückwünsche vortragen. DieKollegin Dr. Lukrezia Jochimsen feierte am 1. Märzihren 70. Geburtstag und der Kollege Ottmar Schreineram 21. Februar seinen 60. Im Namen des ganzen Hausesgratuliere ich zu diesen runden Geburtstagen nachträg-lich herzlich und wünsche Ihnen alles Gute.
Die Kollegin Elke Hoff hat ihr Amt als Schriftführe-rin niedergelegt – was ich natürlich sehr bedauere. AlsNachfolger schlägt die Fraktion der FDP den KollegenChristian Ahrendt vor. Können wir uns darauf einigen? –Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der KollegeChristian Ahrendt damit zum Schriftführer gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:RedeZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, KaiBoris Gehring, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENNeue Chancen und Perspektiven für Kinder und Jugendli-che in Deutschland– Drucksache 16/817 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
FinanzausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, SibylleLaurischk, Miriam Gruß, weiterer AbgeorFraktion der FDPFrauenpolitik – Gesellschaftlicher Erfolgsfa– Drucksache 16/832 –zung, den 9. März 2006.00 UhrÜberweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder,Dr. Lothar Bisky, Diana Golze, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der LINKENGleichstellungsgebot des Grundgesetzes auf dem Arbeits-markt durchsetzen– Drucksache 16/833 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förde-rung von Wachstum und Beschäftigung– Drucksache 16/753 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologietextAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung desBetriebsprämiendurchführungsgesetzes– Drucksache 16/858 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Finanzausschussschuss für Wirtschaft und Technologieschuss für Umwelt, Naturschutz undktorsicherheite Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:dneter und derktorAusAusReaZP 5 AktuellDie Zukunft der Rente
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Präsident Dr. Norbert LammertZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Schneider
, Klaus Ernst, Katja Kipping, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der LINKEN1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage für die Ren-tenanpassung herausnehmen– Drucksache 16/826 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und SozialesZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, UlrikeHöfken, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENRecht auf Girokonto auf Guthabenbasis gesetzlich veran-kern– Drucksache 16/818 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-MichaelGoldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Jens Ackermann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPVerbraucherschutz in der Marktwirtschaft durch mün-dige und aufgeklärte Verbraucher sicherstellen– Drucksache 16/825 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-MichaelGoldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund PeterGeisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPKeine Wettbewerbsverzerrungen für Landwirte durch dieUmsetzung der EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztierenin nationales Recht– Drucksache 16/590 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei,Jürgen Trittin, Marieluise Beck , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENAbrüstung der taktischen Atomwaffen vorantreiben – US-Atomwaffen aus Deutschland und Europa vollständig ab-ziehen– Drucksache 16/819 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin,Winfried Nachtwei, Volker Beck , weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENNuklearen Dammbruch verhindern – Indien an das Re-gime zur nuklearen Abrüstung, Rüstungskontrolle undNichtweiterverbreitung heranführen– Drucksache 16/834 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-weit erforderlich – abgewichen werden.Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungs-punkte 6 – hierbei handelt es sich um das Gesetz zurVereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung –und 7 – Kinderbetreuung – abzusetzen und stattdessenan dieser Stelle die Tagesordnungspunkte 8 – Wahlen inBelarus – und 11 – GmbH-Gründungen – zu beraten.Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus-schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der in der 17. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demAusschuss für Tourismus zur Mitbera-tung überwiesen werden.Beratung des Antrags der Abgeordneten WinfriedHermann, Peter Hettlich, Cornelia Behm, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNENDen Schutz der Anwohner vor Fluglärm wirk-sam verbessern– Drucksache 16/551 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für TourismusDer in der 19. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Haushaltsausschuss gemäߧ 96 GO überwiesen werden.Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur steuerlichen Förderung vonWachstum und Beschäftigung– Drucksache 16/643 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOSind Sie mit diesen gerade vorgetragenen Vereinba-rungen einverstanden? – Das ist offenkundig der Fall.Dann ist das so beschlossen.Bevor wir nun in die Tagesordnung eintreten, müssenwir einen Geschäftsordnungsantrag behandeln. DieFraktionen der CDU/CSU und SPD haben fristgerechtbeantragt, die heutige Tagesordnung um vier Anträge zu
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Präsident Dr. Norbert Lammerterweitern. Es handelt sich hierbei um vier Anträge imZusammenhang mit der geplanten Föderalismus-reform, die in der 19. Sitzung am 16. Februar an dieAusschüsse überwiesen wurden. Die Fraktionen derCDU/CSU und SPD beantragen, diese vier Anträge aufdie heutige Tagesordnung aufzusetzen und sodann inAbänderung unseres früheren Überweisungsbeschlussesfederführend an den Rechtsausschuss zu überweisen. –Ich hoffe, dass die Debattenlage damit hinreichend ge-klärt ist.Ich erteile das Wort zur Geschäftsordnung zunächstdem Kollegen Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir werden morgen hier im Haus die erste Lesungdes Gesetzentwurfs zur Reform des Bundesstaatesdurchführen. Bei dem Thema „Reform des Bundesstaa-tes“ stellen sich ganz viele Einzelfragen. Diese Einzel-fragen machen aber nicht das Thema „Reform des Föde-ralismus“ aus. Die Reform des Föderalismus erhebt denAnspruch, insbesondere die Gesetzgebung im Bundes-staat besser zu machen, den Staat zu verbessern, zureorganisieren, effizienter zu gestalten.
Das ist der Anspruch. Man kann kontrovers darüber dis-kutieren, ob der Gesetzentwurf diesem Anspruch gerechtwird.
– Genau so ist es. – Weil dieses eine politische Themagleichzeitig mit einer Vielzahl von Einzelfragen verbun-den ist, stellen sich an die parlamentarische Behandlungbesondere Anforderungen. Man muss diesem Thema inganz besonderer Weise gerecht werden.
Wenn Sie sich mit diesem Thema parlamentarisch nuroberflächlich befassen wollen, ist das Ihre Sache. Wirnehmen es ernst.
Darum wollen wir es adäquat behandeln.
Dieses Thema stellt besondere Ansprüche an uns. WennSie ihnen nicht genügen, dann ist das bedauerlich. Aberdas kann uns nicht daran hindern, den parlamentarischenAnsprüchen, die das Thema stellt, gerecht zu werden.
Nun gibt es zwei Varianten: Die erste Variante – ihrscheinen Sie zuzuneigen – besteht darin, zu versuchen,dieses Thema nur von seinen Einzelaspekten her zu er-fassen.
– Das scheint Sie ja sehr zu erregen. Aber vielleicht hö-ren Sie mir erst einmal zu. Dann können Sie Ihre Mei-nung sagen. Das wäre doch eine Möglichkeit, mit unse-rer Geschäftsordnung umzugehen.Praktisch jeder Ausschuss ist mit diesem Thema be-fasst: unter anderem der Umweltausschuss, der Finanz-ausschuss und der Rechtsausschuss. Alle Ausschüssebeschäftigen sich mit einem Einzelaspekt der Föderalis-musreform.
Das ist die von Ihnen bevorzugte Form der Behandlungdieses Themas.
Sie würde dazu führen, dass jeder Ausschuss den Einzel-aspekt betrachtet, der ihn betrifft. Aber das Gesamtanlie-gen dieser Reform würde nicht erfasst. Bei diesemThema handelt es sich allerdings um ein Gesamtanliegendes Staates, nicht aber um ein Einzelanliegen, das zuvertreten ist.
Darum schlagen wir vor – das ist die zweite Variante –,eine Beratung durchzuführen, die beides gewährleistet:dass das Thema in seiner Gesamtheit erfasst wird unddass sich alle Fachausschüsse mit dem Aspekt beschäfti-gen, der sie betrifft. Das ist dadurch zu realisieren, dassdas Gesamtthema an einen Ausschuss, den Rechtsaus-schuss, zur federführenden Beratung überwiesen wird.Alle Fachausschüsse bleiben weiterhin mitberatend zu-ständig. Selbstverständlich werden in diesem Rahmenalle ihre Rechte gewahrt. Wir können und wollen da-durch kein einziges Minderheitenrecht beschneiden.
Selbstverständlich werden auch Sachverständigenan-hörungen stattfinden. Wir wollen und – wenn Sie das be-ruhigt – wir können auch keine Minderheitenrechte be-schneiden. Darum werden wir ein Verfahren durchführen,
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Dr. Norbert Röttgendas nach meiner Prognose in einer mehrtägigen Sach-verständigenanhörung münden wird und in dessenRahmen sowohl das Gesamtanliegen betrachtet wird alsauch alle Möglichkeiten, auch alle zeitlichen Möglich-keiten, bestehen werden, jeden Einzelaspekt strukturiertzu beraten.
In dieser Weise werden wir beiden Anliegen gerecht:sowohl den Gesamtzusammenhang als auch die Detailszu betrachten. Beides muss in einem ordnungsgemäßenGesetzgebungsverfahren bewertet werden. Das wollenwir tun. Ich denke, das ist das einzig zielführende Ver-fahren.
Sie müssen Ihre Oppositionsrolle natürlich selbst ge-stalten. Aber ein reiner Oppositionsgestus, der davonlebt, dass man etwas nicht so macht, wie es die anderenmachen wollen, obwohl das in der Sache geboten wäre,ist wirklich nicht überzeugend.
Überlegen Sie sich das noch einmal.Vielen Dank.
Bevor ich dem Kollegen van Essen für die FDP-Frak-
tion das Wort erteile, möchte ich dafür werben, das Aus-
maß der Zwischenrufe auf ein Volumen zu reduzieren,
das es noch erlaubt, die erkennbar unterschiedlichen
Positionen der Fraktionen durch ihre jeweiligen Spre-
cher überhaupt hörbar zu machen.
Nun hat der Kollege van Essen für die FDP-Fraktion
das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion hat Anfangdieser Woche mit großer Mehrheit beschlossen, die Fö-deralismusreform zu unterstützen.
Mit gleicher Klarheit fordern wir im Deutschen Bundes-tag aber auch, dass dieses Paket nicht bloß „durchge-wunken“ wird.
Genau das zu tun, ist allerdings die Absicht der Koali-tion. Sie wollen eine Massenanhörung im nur für Ver-fassungsfragen zuständigen Rechtsausschuss durchfüh-ren.
Das zeigt, dass Sie die notwendige Diskussion scheuen,die sich beispielsweise in den Bereichen Bildung, Um-welt und Strafvollzug angedeutet hat.
Ich weiß, dass ich nicht nur für meine Fraktion spre-che – die anderen Oppositionsfraktionen werden sichgleich ähnlich äußern –, sondern auch für viele Fachkol-legen in der Koalition.
Denn eines ist völlig klar: Die von Ihnen geplante Mas-senanhörung, an der auch der Bundesrat beteiligt wer-den soll, hätte zur Folge, dass die einzelnen Kollegenkaum noch die Möglichkeit hätten, Fragen zu stellen.Auch wenn Sie hier so großzügig verkünden, dass dafürmehrere Tage vorgesehen sind, ist das kein Angebot, mitdem sich das Parlament zufrieden geben kann.
Nein, was Sie hier praktizieren, ist schlicht die Arroganzder Macht!
Wir sind in dieses Parlament gewählt, die Anregun-gen – die ja in vielfältiger Form gekommen sind – zu be-rücksichtigen. Ich beispielsweise bin Berichterstatter imBereich des Strafvollzugs. Es muss uns doch nachdenk-lich machen, dass alle Organisationen, die mit demStrafvollzug zu tun haben – die Kirchen, der Richter-bund, die Gewerkschaften und viele andere Organisatio-nen –, uns auffordern, es anders zu regeln. Nehmen wirdie Anregungen aus der Öffentlichkeit doch ernst undführen wir geordnete Beratungen durch! Das ist derWunsch unserer Fraktion und, wie ich weiß, auch der deranderen Oppositionsfraktionen.
Wir werden das deshalb nicht mitmachen.Vielen Dank.
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Das Wort hat nun der Kollege Olaf Scholz für die
SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir führen hier eine etwas komische Debatte.
Komisch wird eine Debatte dann, wenn Opposition zur
Attitüde wird. Ich glaube, man sollte durch inhaltliche
Beiträge Unterstützung leisten und nicht einfach dage-
gen sein, nur weil man das an dieser Stelle schön ma-
chen kann.
Ich glaube im Übrigen, dass es notwendig ist, nicht
mit Unterstellungen zu arbeiten. Deswegen will ich et-
was darüber sagen, wie es sein wird, wenn heute so be-
schlossen wird, wie wir das vorschlagen: Natürlich wird
auch dann jeder Sachverständige und jede Sachverstän-
dige, die sonst in den Ausschüssen gehört würden, ge-
hört werden.
Wir werden genauso lange über die Fragen diskutieren,
wie wenn das einzeln in den Ausschüssen verhandelt
würde, und jeder Abgeordnete wird die Möglichkeit ha-
ben, die Fragen zu stellen, die er stellen will. Niemand
wird in Bezug auf Zeit oder Inhalt beschnitten werden.
Man fragt sich schon, warum Sie etwas dagegen ha-
ben, dass in einer auch für die Öffentlichkeit nachvoll-
ziehbaren Weise über die Föderalismusreform diskutiert
wird.
Denn dafür haben wir als Parlament ja ebenfalls Verant-
wortung: dass man nachvollziehen kann, was stattfindet.
Dafür ist es besser, wenn nacheinander und im Zusam-
menhang über diese Fragestellung diskutiert wird statt in
vielen Ausschüssen und für die Öffentlichkeit kaum be-
merkbar.
Ich glaube deshalb, dass wir der Debatte und der Ent-
scheidung einen Gefallen tun, wenn wir Platz einräumen
für eine lange, sorgfältige und intensive Diskussion im
Rechtsausschuss – in Zusammenarbeit mit allen einzel-
nen Fachausschüssen in diesem Deutschen Bundestag.
Ich habe am Anfang kurz etwas über die Attitüde ge-
sagt. Ich will dazu ergänzen: Eigentlich finde ich das
Ganze schade. Denn die Grünen haben der Föderalis-
musreform schon einmal zugestimmt.
– Doch!
Auch die FDP hat gesagt, sie will die Reform unterstüt-
zen. Dieser konstruktive Geist sollte Sie bei der ganzen
Debatte begleiten!
Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Enkelmann für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Röttgen, Ihre Rede hatte den Charme einer einge-sprungenen Sitzpirouette. Wie Sie das zurückgenommenhaben, was Sie hier einmal mehrheitlich beschlossen ha-ben, das verdient schon Respekt, Herr Kollege!
Die große Koalition ist Gift für die parlamentarischeDemokratie; das beweist genau der Vorgang, über denwir gerade beraten.
Wir haben vor drei Wochen mehrere Anträge, die im Zu-sammenhang mit der Föderalismusreform stehen, in die-sem Haus beraten und sie gemeinsam an die zuständigenFachausschüsse überwiesen – was sinnvoll war, was ver-nünftig war und was bisher als Verfahren üblich war.
Was ist in den Ausschüssen passiert? Im Umweltaus-schuss zum Beispiel hat man sich bereits über den Fort-gang des Verfahrens verständigt. Herr Scholz, dort istgestern beschlossen worden, dass eine öffentliche Anhö-rung stattfinden wird.
So weit zum Umgang mit der Öffentlichkeit. Ich würdegerne wissen, wie Sie mit diesem Beschluss des Aus-schusses umgehen wollen.
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Dr. Dagmar EnkelmannDer Bildungsausschuss ist etwas anders verfahren;das gebe ich gerne zu. Hier hat sich die Mehrheit gewei-gert, dem Auftrag des Parlaments zu folgen, nämlich dieAnträge, die in den Ausschuss überwiesen worden sind,dort auch ordentlich zu beraten.Jetzt wollen Sie die Federführung des Rechtsaus-schusses. Das heißt, die Fachpolitiker sollen in einer sowichtigen Debatte wie der über den Umbau bzw. dieNeuorganisation des Staatswesens de facto entmachtetwerden;
denn wir alle wissen sehr wohl, dass nach der Geschäfts-ordnung eine eigenständige Anhörung in den Fachaus-schüssen dann nicht mehr möglich ist. Das heißt, wir allesind auf das Wohlwollen der Koalition angewiesen, imRechtsausschuss gegebenenfalls auch Fachpolitiker an-zuhören. Ich denke, das kann es nicht sein.
Spannenderweise geht es ja gerade um die Politikfel-der – das konnten wir den Medien in den letzten Tagenentnehmen –, die innerhalb der Koalitionsfraktionennoch strittig sind. Wollen Sie die Federführung also zurDisziplinierung der Abtrünnigen in Ihren eigenen Rei-hen nutzen?
Ich denke, das ist ein unglaublicher Vorgang in diesemHohen Hause. Herr von Essen, mir war genau das Glei-che eingefallen wie Ihnen: Das strotzt nur so von Arro-ganz der Macht.
Kraft Ihrer Wassersuppe werden Sie das Zurückholender Anträge und die Überweisung in den federführendenAusschuss heute natürlich mit Mehrheit beschließen. Siesollten davon ausgehen, dass wir das nicht auf sich beru-hen lassen werden. Wir werden gegebenenfalls rechtli-che Schritte prüfen.
Ich denke, die Opposition sollte sich nicht wie ein lästi-ges Übel in diesem Parlament behandeln lassen.
Zum Schluss der Geschäftsordnungsdebatte erhält der
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! UnsereFraktion will eine Föderalismusreform, eine Reform,durch die die Wirrnisse zwischen dem Bund und denLändern aufgelöst und eigenständige Gesetzgebungs-spielräume für die verschiedenen staatlichen Ebenen er-reicht werden.Von der Bundesratsbank wurde uns vollmundig ge-sagt, diese Reform solle die Mutter aller Reformen sein.Wir haben den Verdacht, dass das, was morgen hier de-battiert werden soll, die Mutter allen Murkses werdenkönnte. Deshalb sind wir in großer Sorge und meinenwir, dass wir eine vernünftige Debatte in diesem Parla-ment brauchen.
Wenn die große Koalition für eine Sache in der Ge-schichte gut sein könnte, dann für eine Föderalismusre-form aus einem Guss. Sie legen aber nicht mehr vor alsden Belagerungskompromiss von Bundestag und Bun-desrat aus der letzten Wahlperiode. Zu Recht fürchtenSie hier die Kritik Ihrer eigenen Fachpolitiker.
Wir schreiben nun Parlamentsgeschichte, weil Sie dieRechte der Opposition und die Rechte des Parlamentsinsgesamt mit diesem Beschluss heute hier mit Füßentreten.
Nach unserer Geschäftsordnung ist eindeutig vorgese-hen, dass selbst mitberatende Ausschüsse Anhörungendurchführen können. Sie haben in der letzten Sitzungs-woche gepennt, als wir Anträge in den Bildungs- und inden Umweltausschuss überwiesen haben, damit wir dorteigenständige Anhörungsrechte haben. Sie scheuendiese Anhörungen, weil Sie die Argumente der Fachpo-litik scheuen; denn Sie wissen, dass Sie in der Fachdis-kussion keine guten Argumente haben.
Die Vorsitzende des Umweltausschusses, die Kolle-gin Petra Bierwirth, sagte auf die Frage, ob sie die Auf-fassung der Umweltverbände teile, die kritisiert hätten,dass die Chance auf ein modernes übersichtliches Um-weltrecht leichtfertig vertan worden sei:Ja, diese Einschätzung teilen wir Umweltpolitikerder SPD-Bundestagsfraktion ebenso.Kein Wunder, dass Sie nicht wollen, dass die gesternbeschlossene Anhörung des Umweltausschusses stattfin-det, Sie befürchten nämlich ein Desaster für den umwelt-politischen Teil der Föderalismusreform.
Am 23. Januar 2006 verkündete der „Lautsprecher“der SPD-Bildungspolitik, Jörg Tauss, in einer Pressemit-teilung, er wolle Expertengespräche und eine umfangrei-
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Volker Beck
che Anhörung im Bildungsausschuss des DeutschenBundestages durchsetzen. Wo ist denn der „Lautspre-cher“ Jörg Tauss heute? Wo versteckt er sich denn? –Heute sitzt er ganz hinten. Ansonsten sitzt er immervorne und ist darauf auch sehr stolz.
Als wir nach der Debatte in der letzten Sitzungswo-che diese Vorschläge überwiesen haben, sagte der SPD-Bildungspolitiker Thomas Oppermann zu dem, was Sieim Bildungsausschuss nicht diskutieren wollen:Art. 104 b des Grundgesetzes in der neuen Fassunglässt Finanzhilfen des Bundes an die Länder nichtmehr zu: gerade auf einem Gebiet, auf demDeutschland einen finanziellen und gestalterischenKraftakt vor sich hat und deshalb alle verfügbarenKräfte und Ressourcen mobilisieren müsste, er-scheint ein Finanzhilfe- und Kooperationsverbotwenig plausibel.
Sie sehen, dass über die neuen Zuständigkeiten fürBildung, Wissenschaft und Forschung im Grundgesetznoch sehr intensiv beraten werden muss.Genau diese Beratungen wollen wir durchsetzen. Ha-ben Sie keine Angst! Wir machen erst eine Anhörung imBildungsausschuss und im Umweltausschuss. Danachkönnen Sie alles in einer dreitägigen oder auch 14-tägi-gen Anhörung im Rechtsausschuss zusammenführen.Diese Anhörungen verschlagen doch nichts. Aber Siewollen Ihre eigenen Fachpolitiker zu Zaungästen dieserVeranstaltung machen, weil Sie sich selber bei Ihrer Re-form unsicher sind.
Ihr Verhalten ist unsouverän und unparlamentarisch.Ich bitte Sie wirklich, sich das noch einmal zu überlegen.Gerade weil diese Reform so wichtig ist, können wir esuns nicht leisten, statt wie erhofft den Anteil der zustim-mungspflichtigen Gesetze um 35 oder 40 Prozentpunktezu verringern, am Ende nur eine Reduktion um 10 Pro-zentpunkte und eine Rechtszersplitterung im ganzenLande als Ergebnis zu erhalten. Deshalb müssen wir hiersorgfältig beraten.Ich sage Ihnen: Die Menschen im Lande wollen dieRechtszersplitterung mit der doppelten Rückausnahme-regelung, die Sie sich ausgedacht haben, nicht. Vielmehrwollen sie klare Zuständigkeiten. Gerade da Sie auchimmer an die Wirtschaft denken, meine Damen und Her-ren von der Union, überlegen Sie sich einmal Folgendes:Ein Wirtschaftsunternehmer schaut sich die Regelungenim Umweltgesetzbuch an und hält sich an diese Bestim-mungen. Im Ergebnis hat er dann mit Zitronen gehan-delt, weil sein Bundesland von diesen Regelungen ab-weichen durfte und davon im Bundesgesetz nichts stand.
Solche Regelungen machen die Menschen verrückt.Einen solchen Murks können wir uns nicht leisten.Durch eine sorgfältige Beratung können wir vielleichteine klügere und mehrheitsfähige Lösung finden. Des-halb lassen Sie uns die Kompetenz des ganzen Hausesfür diese große Staatsreform nutzen, um eine großeMurksreform zu vermeiden!
Wir kommen nun zur Abstimmung, und zwar zu-nächst über den Antrag auf Erweiterung der Tagesord-nung. Wer für die Aufsetzung der Anträge auf denDrucksachen 16/674, 16/654, 16/648 und 16/647 auf dieheutige Tagesordnung stimmt, den bitte ich um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Dann ist der Aufsetzungsantrag mit der Mehrheitder Koalition gegen die Stimmen der Opposition ange-nommen.Wer für die Überweisungsvorschläge der Fraktionender CDU/CSU und SPD stimmt, wobei die Federführungbeim Rechtsausschuss liegen soll, die bisherigen feder-führenden Ausschüsse mitberaten sollen und im Übrigendie Überweisungsbeschlüsse vom 16. Februar 2006 un-verändert fortbestehen sollen, den bitte ich um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Auch dies ist mit der gleichen Mehrheit so be-schlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 sowie denZusatzpunkt 1 auf:3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht über die Lebenssituation junger Men-schen und die Leistungen der Kinder- und Ju-gendhilfe in Deutschland– Zwölfter Kinder- und Jugendbericht –undStellungnahme der Bundesregierung– Drucksache 15/6014 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten EkinDeligöz, Kai Boris Gehring, Grietje Bettin, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNENNeue Chancen und Perspektiven für Kinderund Jugendliche in Deutschland– Drucksache 16/817 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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Präsident Dr. Norbert LammertZur Unterrichtung durch die Bundesregierung liegtein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen.Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejeni-gen, die nun anderen Verpflichtungen nachkommenmüssen, möglichst zügig den Plenarsaal zu verlassen.
Ich darf darum bitten, dass wichtige Staatsgespräche, diesich aber offenkundig nicht auf diesen Tagesordnungs-punkt beziehen, außerhalb des Plenarsaals geführt wer-den.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst für die Bundesregierung der BundesministerinUrsula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! DerZwölfte Kinder- und Jugendbericht stellt ganz klar fest:Auf den richtigen Anfang kommt es an. Für die Zu-kunftsfähigkeit unserer Gesellschaft gibt es keinewichtigere Aufgabe als die zugewandte, verlässliche undkompetente Unterstützung aller Kinder, die in diese Ge-sellschaft hineinwachsen. Jedes Kind braucht seineChancen, damit es seine Fähigkeiten entfalten kann, undzwar von Anfang an. Denn es sind in Wahrheit auch dieChancen für das ganze Land.
Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag mit der Vor-lage des Kinder- und Jugendberichts die Situation derKinder und Jugendlichen in unserem Land regelmäßig inden Mittelpunkt der parlamentarischen Debatte stellt.Bildung, Erziehung und Zuwendung müssen Kindern al-ler Altersstufen zugänglich sein. Dieser Kernbotschaftdes Kinder- und Jugendberichts kann ich voll zustim-men. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir aber nochbesser werden. Denn in keinem vergleichbaren Land istder Einfluss der Herkunft auf die Bildungschancen sogroß wie in Deutschland.Wir haben zu lange die Augen vor den Tatsachen ver-schlossen. Einerseits leisten junge Eltern einen enormenpersönlichen, privaten Einsatz für Erziehung, Bildungund Zuwendung für ihre Kinder. Andererseits wollenund müssen diese jungen Eltern in wirtschaftlichen Um-bruchzeiten gemeinsam das Familieneinkommen erar-beiten. Verglichen mit der Situation in anderen Ländernhaben diese Eltern in Deutschland relativ wenig Unter-stützung in der Infrastruktur rund um Kinder und Fami-lie erhalten.Im Ergebnis sehen wir, dass bei unseren europäischenNachbarn mehr Kinder geboren werden, die Vereinbar-keit von Beruf und Familie besser gelingt, die Kinderim Bildungsvergleich besser abschneiden – also mehr in-nere Ressourcen für die Zukunft mit auf den Lebenswegbekommen – und die Familienarmut geringer ist. DerZwölfte Kinder- und Jugendbericht mahnt dies an undfordert notwendige Veränderungen.Die Bundesregierung unterstützt die grundlegendeRichtung des Zwölften Kinder- und Jugendberichts.
Viele Forderungen, die insbesondere in die Verantwor-tung des Bundes fallen, finden sich als konkrete politi-sche Verpflichtung im Koalitionsvertrag.Eltern brauchen eine ökonomische Perspektive. Dortsetzt auch der Kinder- und Jugendbericht mit seiner For-derung an, Eltern finanziell in die Lage zu versetzen,Kinder im ersten Lebensjahr in der Familie zu erziehen.Er stellt Folgendes fest:Die derzeitige Höhe des Erziehungsgeldes scheintwenig geeignet, jungen Familien einen Ausgleichgegenüber dem vorgeburtlichen Einkommen zu bie-ten.Unsere Antwort auf diese Forderung des Kinder- undJugendberichts ist das Elterngeld. Mit dem Elterngeldsignalisieren wir ganz klar: Es ist dem Staat nicht gleich-gültig, wenn sich junge Menschen für ein Kind entschei-den. Heute ist es in der überwiegenden Zahl der Fälle so,dass, wenn ein Kind geboren wird, die Familie wächst,aber das Einkommen wegbricht. Das Elterngeld mildertdies in Zukunft ab.
Außerdem bringt es Anerkennung. Der Staat honoriertdie Erziehungsleistung der Eltern und unterstützt sie mitdem Elterngeld, sich Zeit für das Neugeborene zu neh-men. Das Elterngeld berücksichtigt aber auch die Wahl-freiheit der Lebensentwürfe.
Ich will es ganz klar sagen: Das Elterngeld zwingt nie-manden in ein bestimmtes Familienmodell. Es ist einkluger und effektiver Beitrag, Eltern Zeit zu ermögli-chen, in die Rolle des Vaters oder in die der Mutter hi-neinzuwachsen, und zwar ohne finanziellen Druck. Daszeigen uns die Erfahrungen aus anderen Ländern.Unser Latein darf aber nicht am Ende sein, wenn dieKinder ein, zwei Jahre alt sind. Wir wissen aus der Säug-lingsforschung, dass Kinder andere Kinder brauchen,wenn sie sich gut entwickeln sollen. Wenn es die großeGeschwisterschar nicht mehr gibt, wenn es nicht mehrselbstverständlich zehn, 15 Gleichaltrige in derselbenStraße gibt, dann müssen wir eben andere Möglichkeitenschaffen, damit Kinder Beziehungserfahrungen sam-meln. Sie sollen mit und durch andere Kinder lernen, mitihnen die Welt entdecken und Kontakt zu anderen Er-wachsenen aufnehmen. Eine frühe Förderung sorgt fürBildung im Sinne einer Entdeckermentalität im Alltag.Eltern werden durch gute Betreuungsangebote dabeiunterstützt, Familie und Beruf zu vereinbaren. Wir wis-sen aus Untersuchungen, dass 52 Prozent der Eltern mitKindern unter sechs Jahren erwerbstätig sein möchten,
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1627
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyenbevorzugt der Vater in Vollzeit, die Mutter in Teilzeit.Doch nur 6 Prozent gelingt es – das ist die Krux –, ihrenWunsch umzusetzen. Eine vor zwei Tagen veröffent-lichte Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass es El-tern vor allem wichtig ist, ihre Kinder nicht nur gut be-treut, sondern auch gefördert zu wissen. Gerade unterdem Aspekt der Qualitätsstandards halten sie den flä-chendeckenden Ausbau einer bedarfsgerechten Kinder-betreuung für vordringlich.Die große Koalition steht daher zu dem gesetzlichverankerten Ausbau der Betreuungsangebote für unterdreijährige Kinder.
Dies ist als Pflichtaufgabe der Kommunen definiert undgesetzlich verankert. Für die Umsetzung tragen Bund,Länder und Kommunen gemeinsam Verantwortung. Ichbetone deshalb, dass die Bundesregierung die den Kom-munen zugesicherten 1,5 Milliarden Euro für den Aus-bau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige ab 2005bereitgestellt hat. Das ist ein starkes Wort.
Ich werde in Kürze dem Parlament den ersten Berichtüber den Stand des Ausbaus der Tagesbetreuung für un-ter Dreijährige vorlegen. Ich begrüße es sehr, dass imKinder- und Jugendbericht die Tagespflege und die Be-treuung in Einrichtungen gleichgestellt werden. Das ent-spricht den Bedürfnissen der Eltern; denn Eltern wollenselbst wählen, wie ihre Kinder betreut werden. Geradewenn es um die Jüngsten geht, wählen sie oft eine fami-liennahe Tagesbetreuung. Das Bundesfamilienministe-rium unterstützt die Qualifizierung in der Tagespflege.In wenigen Wochen werde ich das Onlinehandbuch „Ta-gespflege“ vorstellen, das sich an die verantwortlichenAkteure vor Ort richtet und Bausteine zum Ausbau derKindertagespflege bereithält. Zudem wird die geradeverabschiedete verbesserte Absetzbarkeit der Kinderbe-treuungskosten ganz klar mehr Angebote und mehrQualität in die Tagespflege bringen.
Die meisten Eltern sind in der Lage, ihre Kinder gutzu versorgen, gut zu erziehen und ihnen liebevolle Zu-wendung zu geben. Doch wenn Eltern völlig überfordertsind und mit ihren Kindern in eine Spirale von Isolation,Gewalt, Vernachlässigung und Verwahrlosung geraten,dann müssen wir früher hinschauen und rechtzeitig dafürsorgen, dass Hilfe in den Familienalltag kommt. DerKinder- und Jugendbericht bestätigt, dass es richtig ist,diesen Weg zu gehen. Deshalb entwickeln wir in dennächsten Monaten auf der Grundlage von Erfahrungenaus Kommunen und Bundesländern, aber auch aus demAusland Modellprojekte für soziale Frühwarnsysteme.Das Ziel ist, dabei vor allem die Grenzen zwischen Ge-sundheitssystem und Jugendhilfe zu überwinden. Wirhaben hier lange wenig getan. Es ist nun an der Zeit,auch hier den ganzheitlichen Aspekt von Anfang des Le-bens des Kindes an ins Auge zu fassen.Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht mahnt außer-dem an, dass zu viele Jugendliche heute keine echtenZukunftsperspektiven haben, vor allem keine Chanceauf dem Arbeitsmarkt sehen. Sie kennen sicherlich dieZahlen: 9 Prozent der Schülerinnen und Schüler verlas-sen die Schule ohne Abschluss. Jede fünfte Berufsaus-bildung wird abgebrochen, weil die Jugendlichen nichtgut vorbereitet sind. 15 Prozent der Jugendlichen zwi-schen 20 und 29 Jahren haben gar keine Berufsausbil-dung. Ich denke, diese Zahlen verweisen auf eine derHauptursachen der Jugendarbeitslosigkeit. Ich stimmedeshalb der Aussage im Kinder- und Jugendbericht zu,dass alle Jugendlichen zumindest die Chance habenmüssen, gleichberechtigt an Bildung teilzunehmen.Wir müssen natürlich in den Schulen anfangen. Aberauch vonseiten des Bundes können wir Wege aufzeigen,zum Beispiel wenn es darum geht, Jugendliche zurück indie Schulen zu bringen und ihnen eine zweite Chance zugeben. In einem bundesweiten Modellprojekt in Zusam-menarbeit mit freien Trägern, Jugendämtern und Schu-len erproben wir Wege zur Reintegration so genannterharter Schulverweigerer in die Schulen und begleitensie bis zum Schulabschluss. Hinzu kommen die vomBundesjugendministerium geförderten Kompetenz-agenturen, die die berufliche Integration von benachtei-ligten Jugendlichen durch passgenaue Angebote verbes-sern. Dass dies funktioniert, lässt sich eindrucksvollbelegen. Von den Jugendlichen, die von Kompetenz-agenturen betreut wurden, ist fast jeder Zweite in Aus-bildung oder Arbeit und jeweils jeder Vierte in ein För-derangebot oder in eine weiterführende Schule vermitteltworden. Das ist eine gute Bilanz.Schließlich erhebt der Kinder- und Jugendberichtauch die Forderung nach einer besseren Infrastruktur fürFamilien im Interesse der Kinder und Jugendlichen. Ichgreife die Anregung der Kommission, Familienzentreneinzurichten, gern auf, möchte sie aber noch erweiternund Mehrgenerationenhäuser schaffen. Denn warum be-ziehen wir in die Angebote für Familien, Kinder und Ju-gendliche nicht auch ältere Menschen ein? Ältere Men-schen sind heute so gesund, so gut ausgebildet und sokompetent wie nie zuvor. Paradoxerweise haben wirkaum Nachfrage nach ihren Kompetenzen. Mehrgenera-tionenhäuser bieten die Chance dafür.Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht macht unsdarauf aufmerksam, dass noch viel zu tun ist, wenn wirunseren Kindern Voraussetzungen geben wollen, dass sieChancen haben, ihre vielfältigen Fähigkeiten und Ta-lente zu entwickeln. Sie werden in Zukunft viel Verant-wortung tragen müssen und es geht um unsere gemein-same Zukunft.Ich danke Ihnen.
Für die FDP-Fraktion erhält nun die Kollegin MiriamGruß das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich, dass wirheute an so prominenter Stelle eine Drucksache von434 Seiten behandeln, in der es ausschließlich um Kin-der und Jugendliche in Deutschland geht. Die FDP-Frak-tion begrüßt den Zwölften Kinder- und Jugendberichtund dankt der Sachverständigenkommission für ihre in-tensive Arbeit.
In vielen Punkten entsprechen die Empfehlungen derExperten denen der FDP. Das ist die gute Nachricht. DieFDP wird die Forderungen des Berichts konstruktiv un-terstützen, die die Bedürfnisse und Wünsche der Kinderund Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen.
Denn darum muss es uns allen gemeinsam gehen: dieAnliegen der Kinder und Jugendlichen in Deutschlandernst zu nehmen und ihnen eine möglichst behütete, sor-genfreie und glückliche Kindheit zu ermöglichen.
Die Bundesregierung hat offenbar ein anderes Verständ-nis von Kindeswohl. Wie sonst ist es zu erklären, dasssie mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um3 Prozentpunkte Familien und damit auch Kinder zu-sätzlich belasten will?
Kinder brauchen Eltern, die ihnen ein intaktes und be-schütztes Zuhause bieten. Aber Eltern brauchen auch dieMittel, um ihre Kinder versorgen zu können. Diese Mög-lichkeit wird ihnen von der jetzigen Bundesregierungverbaut. Vom „Abenteuer Kinder“ ist in dem Kinder-und Jugendbericht die Rede. Laut Duden ist ein Aben-teuer ein „riskantes Unternehmen“, eine „gefahrvolleSituation, die jemand mit Wagemut zu bestehen hat“. Ichkann gut verstehen, dass junge Menschen es heutzutageals ein Abenteuer empfinden, sich für Kinder zu ent-scheiden. Die Menschen fragen sich: Wie kann ich michauf ein Kind freuen, wenn ich nicht weiß, wie es mitmeinem Arbeitsplatz weitergeht? Wie soll ich meinenKindern eine sorglose Kindheit bieten, wenn alles immerteurer wird? Kann ich mir ein Kind überhaupt leisten?Diese Fragen und Zweifel haben Sie zu verantworten,verehrte Damen und Herren der Bundesregierung.
Ist es das, was Sie den Menschen suggerieren wollen?Wollen Sie den Menschen suggerieren, dass Kindernichts anderes sind als ein Risiko, ein Experiment odergar eine Gefahr? Durch die Mehrwertsteuererhöhung ho-len Sie sich jeden zusätzlichen Cent zurück, den Sie denFamilien durch das Elterngeld oder die steuerliche Ab-setzbarkeit von Kinderbetreuungskosten gewährenwollen.
Und das nennen Sie Familienförderung?Sie legen Familien noch mehr Steine in den Weg, alsohnehin schon überwunden werden müssen. Familiensowie allein erziehende Mütter und Väter haben es heutein Deutschland schon schwer genug. Es ist doch ein Un-ding, sie noch stärker durch eine unsoziale und familien-feindliche Erhöhung der Mehrwertsteuer zu belasten.Wir Liberale wollen jungen Menschen in Deutschlanddie Ängste und Sorgen nehmen.
Wir wollen ihnen die Freiheit bieten, sich für Kinder zuentscheiden.Wilhelm von Humboldt hat gesagt:So wichtig und auf das ganze Leben einwirkendauch der Einfluss der Erziehung sein mag, so sinddoch noch immer wichtiger die Umstände, welcheden Menschen durch das ganze Leben begleiten.Wo also nicht alles zusammenstimmt, da vermagdiese Erziehung allein nicht durchzudringen.Es ist Aufgabe der Politik, die bestmöglichen Umständefür Familien zu gewährleisten. In diesem Punkt ist Hum-boldt ganz aktuell. Das haben auch die Autoren des Kin-der- und Jugendberichts verstanden: Wichtig ist das Zu-sammenspiel aller an Bildung, Betreuung und ErziehungBeteiligten. Kinder und Familie müssen als ein JointVenture gelten.
Grundlage dafür ist ein neuer, umfassender Bildungs-begriff, den die Kommission definiert. Bildung wirdverstanden als das Erlernen der Fähigkeit, sich in derGesellschaft zurechtzufinden. Das Kind wird nun als einSubjekt gesehen, mit einer eigenen Persönlichkeit, mitindividuellen Talenten und Kompetenzen. Der Vorsit-zende der Kommission, Professor Rauschenbach, hat da-für ein schönes Bild gefunden: Bildungsprozesse sindBausteine, die Menschen dazu befähigen, zum „Archi-tekturbüro ihrer eigenen Lebensplanung“ zu werden.Der Bericht fokussiert die Trias Bildung, Betreuungund Erziehung. Gleichzeitig wird uns in Deutschlandaber in genau diesen Bereichen attestiert, dass wir hiereinen „unübersehbaren Nachholbedarf“ haben. Washeißt das? Das heißt:Erstens. Die familiäre Herkunft ist in Deutschlandentscheidend für die Bildungsbiografie eines Kindes.Zweitens. Die Bedürfnisse der Kinder sind mit denLebensentwürfen der Frauen und Männer schwer verein-bar.Drittens. Ganz Deutschland braucht dringend ein gu-tes Betreuungsangebot für unter Dreijährige. Gleichzei-
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Miriam Grußtig herrschen hier „unübersehbar schwierige fiskalischeRahmenbedingungen“.
Viertens. Die pädagogische Qualität in Tageseinrich-tungen wird bemängelt und der erhebliche Reformbedarfin der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher wirdangemahnt.Fünftens. Es fehlt in Deutschland an einer gründli-chen Qualitätssicherung und Evaluation im Bildungsbe-reich.
Es kann doch nicht sein, dass Selbstbräunungscremes,Kartoffelpüree und Digitalkameras permanent auf ihreQualität und Verträglichkeit überprüft werden, nicht aberdie Einrichtungen, denen wir unsere Kinder anvertrauen.
Es gibt einzelne Stichproben und einzelne Studien, zumBeispiel die von Professor Tietze, übrigens Mitautor desKinder- und Jugendberichts, aus dem Jahre 1998, die ge-zeigt haben, dass nur 30 Prozent der Kindergärten einegute Qualität aufweisen. Das heißt, wir Eltern könnengemäß dieser Studie unsere Kinder guten Gewissens nurjedem dritten Kindergarten anvertrauen.Wer gleiche Startchancen für Kinder fordert, der mussauch etwas dafür tun,
dass öffentliche Angebote in ausreichendem Maß und ineiner geprüften Qualität zur Verfügung stehen. Elternmüssen sich darauf verlassen können, dass ihre Kindergut aufgehoben sind.Kinder sind in einem hohen Maß von einer fürsorg-lichen, beschützenden und emotional sicheren Umge-bung abhängig. Dieser Aufgabe und Verantwortungmüssen sich Eltern und Bindungspersonen jederzeit be-wusst sein. Leider ist dies nicht immer der Fall. Immermehr Eltern sind mit dem Spagat zwischen den hohenAnsprüchen, die Kinder zu Recht stellen, und der Exis-tenzsicherung der Familie überfordert. Die schrecklicheWahrheit der vergangenen Woche hat uns dies wiedereinmal deutlich vor Augen geführt: Am 27. Februar be-richtet dpa: Mutter gesteht Kindstötung – Leiche lagmonatelang in Kühltruhe. – Einen Tag später vermeldetdie Agentur: Neunjähriger Stiefsohn erwürgt. – Heutegenau vor einer Woche schreibt die Presseagentur AFP:„Totes Baby in Papiersortieranlage in Nordfriesland ent-deckt“. Am vergangenen Freitag mussten wir über einverwahrlostes Kind in Hamburg lesen: Vater pflegt Waf-fensammlung statt achtjährigen Sohn. – Meine Damenund Herren, das ist die traurige Realität von Kindern inDeutschland aus der vergangenen Woche.Allen klugen Empfehlungen des Zwölften Kinder-und Jugendberichts gebührt Anerkennung und eine fun-dierte Debatte über ihre Umsetzung, aber gegen diesebittere Wirklichkeit bleiben sie blass.
Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem Redenund Ratschläge nicht mehr weiterhelfen. Wenn Meldun-gen wie diese beinahe alltäglich werden, ist es an derZeit, zu handeln.Ich habe es vorhin schon gesagt: Kinder sind auf dieFürsorge, die Verantwortung und die Pflege der Erwach-senen besonders angewiesen. Sie sind das schwächsteGlied in unserer Gesellschaft und gleichzeitig unsere Zu-kunft. Dem Entwurf für eine EU-Verfassung und ver-schiedenen Landesverfassungen ist der Schutz von Kin-dern eigene Passagen wert, nicht aber unseremGrundgesetz. Auch der Nationale Aktionsplan „Für einkindergerechtes Deutschland“ weist in die folgendeRichtung: Die Bedeutsamkeit von Kindern für unsereGesellschaft gebietet es, ihren Schutz im Grundgesetzausdrücklich zu verankern. Wir müssen den besonderenSchutz von Kindern explizit in das Grundgesetz aufneh-men.Wir brauchen keine Politik der besten Absichten. Waswir brauchen, ist eine Politik der besten Ergebnisse fürKinder und Familien.
Deshalb bitte ich Sie, Frau von der Leyen: ErschwerenSie Familien nicht das Leben durch eine schädigendeMehrwertsteuererhöhung! Bauen Sie nicht noch höhereHürden für junge Menschen auf, die mutig sind und das„Abenteuer Kind“ wagen wollen! Sorgen Sie dafür, dassKinder nicht die Leidtragenden der Finanzknappheit öf-fentlicher Kassen sind!
Räumen Sie dem Schutz von Kindern und ihren Rechtenden Status ein, den sie verdienen! Unsere Gesellschafthat ohne Kinder keine Zukunft. Sie sind unser wunder-barster Reichtum. Lassen Sie uns dies endlich zur Ma-xime unseres Handelns machen!
Frau Kollegin Gruß, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulieren
möchte – verbunden mit allen guten Wünschen für die
weitere parlamentarische Arbeit.
Das Wort hat nun die Kollegin Kerstin Griese für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Der Zwölfte Kin-der- und Jugendbericht: Das sind über 350 Seiten einesstarken Plädoyers für mehr Chancen für Kinder und Ju-gendliche. Das ist zugleich ein Appell an die Politik undan die Gesellschaft insgesamt, die Verantwortung für dieZukunft von Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen.
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Kerstin Griese
– Auch ich gratuliere noch einmal der Kollegin Gruß.Wenn ich das von dieser Stelle aus kollektiv mache, gehtes vielleicht schneller.
Ich danke den Mitgliedern der Kommission, die denZwölften Kinder- und Jugendbericht erstellt hat, und ih-rem Vorsitzenden Professor Rauschenbach – sie alle hö-ren uns, wie ich glaube, jetzt zu – auch im Namen derSPD-Fraktion ganz herzlich für ihre Arbeit und das guteWerk, das sie erstellt haben. Sie haben uns damit vielewichtige Daten und Argumente an die Hand gegeben.Vielen Dank.
Ich danke Ihnen auch für den kommunikativen Pro-zess, in dem dieser Bericht entstanden ist. Es handeltsich nämlich nicht um einen Bericht, der im stillen Käm-merlein geschrieben wurde, sondern um einen, der mitgesellschaftlichen Gruppen, Verbänden, Fachleuten undauch bei uns im Jugendausschuss im Januar 2005 sehrintensiv und sehr spannend diskutiert wurde. Auch des-halb, weil bei der Erstellung dieses Berichtes enge Kom-munikation mit der Politik gepflegt wurde, konnte vie-les, was Sie dort entwickelt haben, in die Tagespolitikeinfließen und angedacht werden. Die frühere SPD-Re-gierung hat schon vor Jahren damit begonnen, mehr inBildung und Betreuung zu investieren, um Kindern frü-her bzw. mehr Chancen zu geben.
Ich bin sehr froh und danke Ihnen, Frau Ministerin vonder Leyen, dass sich dieser Ansatz wie ein roter Fadendurch unsere gemeinsamen Vereinbarungen für die Kin-der-, Jugend- und Familienpolitik für die nächsten Jahrezieht und dass Sie auch in diesem Punkt an die PolitikIhrer Vorgängerin Renate Schmidt anknüpfen.Ich will etwas zu den Hauptbotschaften des Kinder-und Jugendberichtes sagen und dazu, wo nach Auffas-sung der SPD Schwerpunkte gesetzt werden müssen:Erstens. Der Bericht macht ganz klar: Wir müssen dieSpirale von Armut und mangelnden Bildungschancendurchbrechen. Besonders Kinder und Jugendliche, die insozialen Brennpunkten leben oder einen Migrationshin-tergrund haben, haben weniger Bildungschancen; dasheißt zugleich, auch immer weniger Zukunftschancen.Der Bericht sagt, nicht alle Kinder haben die gleichenZugänge zu einer guten Entwicklung. Es gibt immernoch viel zu viele Kinder, die ohne ein gesundes Früh-stück aus dem Haus gehen und zu Hause kein Buch vor-gelesen bekommen, sondern eher Fastfood und Fern-sehen in der Freizeit konsumieren. Das sindAlltagsrealitäten. Da müssen wir noch stärker auf demaufbauen, womit wir begonnen haben, noch stärker ver-netzte Angebote in den Stadtteilen machen, früher be-ginnen, Kinder zu fördern, sowie stärker die Eltern ein-beziehen und unterstützen.
Auch das steht in dem Bericht. Es geht also in der Kin-der- und Jugendpolitik um die soziale Integration undum bessere Teilhabemöglichkeiten für Kinder. DasMotto „Auf den Anfang kommt es an“, das wir als SPDals Überschrift gewählt haben und das auch jetzt dieKinder-, Jugend- und Familienpolitik weiter durchzieht,verlangt ein Handeln nach der Devise: Je früher man El-tern unterstützt, Familien begleitet und Kinder fördert,desto positiver. Der Vorschlag des Berichtes, mehr ver-netzte Angebote, so genannte Häuser für Familien, zuschaffen, verdient unseres Erachtens besondere Beach-tung. Mit der Förderung von Mehrgenerationenhäu-sern – Frau Ministerin hat es schon gesagt – und von Fa-milien- bzw. Eltern-Kind-Zentren greifen wir diese Ideeauf. Das ist wichtig für die Entwicklung in den Stadttei-len.Die zweite wichtige Botschaft lautet: Wir müssen diegesellschaftliche Verantwortung für Bildung, Betreuungund Erziehung stärken. Auch da bin ich stolz auf das,was die frühere SPD-Regierung schon begonnen hat. Icherinnere an das 4-Milliarden-Euro-Programm für mehrGanztagsschulen – in NRW gibt es jetzt schon1 000 offene Ganztagsgrundschulen; das ist ein Er-folgsprojekt –
und an das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das den Aus-bau der Betreuung für die unter Dreijährigen vorsieht.Ich will in dem Zusammenhang auch den Erzieherinnenund Erziehern danken. Ich weiß, dass sie immer viel kri-tisiert und beschimpft werden, obwohl sie eine wirklichschwere Arbeit für wenig Geld machen. Wir sollten ei-gentlich dafür sorgen, dass sie mehr Chancen auf Weiter-bildung erhalten, und so neue Wege aufzeigen, statt im-mer nur zu sagen, die Erzieherinnen und Erzieher inDeutschland seien alle schlecht.
Sie sind es nicht. Sie leisten eine wichtige Arbeit. Zu-gleich müssen ihnen aber mehr Möglichkeiten für Wei-terbildung eröffnet werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der zur Botschaft von dergesellschaftlichen Verantwortung für den Ausbau vonBildung und Betreuung gehört, ist der Rechtsanspruchauf einen Kindergartenplatz. Die große Koalition hatdeutlich gesagt, dass dieser Rechtsanspruch auf einenKitaplatz ab dem zweiten Lebensjahr kommen wird,wenn der Ausbau in den Kommunen nicht zügig genugvorangeht. Dazu stehen wir und das werden wir durch-ziehen.
Die dritte wichtige Botschaft lautet: Wir brauchen ei-nen umfassenderen Begriff von Bildung. Diesen Punktbehandelt der Bericht sehr deutlich und ausführlich. Bil-dung findet viel früher statt und in viel mehr Kontexten,
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Kerstin Grieseals man noch vor einigen Jahren dachte. Bildung findetnicht nur in der Familie statt, sondern auch in der Nach-barschaft, im Kindergarten, in der Freizeit und in denMedien. Bildung ist eben nicht nur mit Schule gleichzu-setzen, sondern bedeutet, dass Kinder vielfältige Kom-petenzen entwickeln. Da betont der Kinder- und Jugend-bericht ganz ausdrücklich die frühkindliche Bildung undempfiehlt deshalb auch, mehr Möglichkeiten zu schaf-fen, damit Kinder schon ab dem zweiten Lebensjahr,also nach dem ersten Geburtstag, einen Kindergarten be-suchen können. Unter dem schönen Motto „Kinder brau-chen mehr als Windeln“ weist der Kinder- und Jugend-bericht darauf hin, dass der Kontakt zu Gleichaltrigen alsErgänzung zur Erziehung in der Familie wichtig ist.
Die vierte wichtige Botschaft des Berichtes: Wirbrauchen eine nachhaltige Familienpolitik, um Kinderund Jugendliche zu stärken. Dazu gehört der Ausbau derBetreuung. Der Bericht weist aber auch noch einmalsehr deutlich darauf hin, dass wir etwas tun müssen, umim ersten Lebensjahr des Kindes die Eltern finanziell zuunterstützen. Deshalb ist der Weg der großen Koalition,das Elterngeld einzuführen, richtig.
Ich wundere mich immer über den nordrhein-westfä-lischen Ministerpräsidenten, der einerseits das Eltern-geld ablehnt und gleichzeitig im eigenen Land massiveKürzungen bei Kindertageseinrichtungen, bei der Fami-lienbildung und bei der Jugendförderung vornimmt.Wenn das Jahr 2006 zum Jahr des Kindes ausgerufenwird, gleichzeitig aber 75 Millionen Euro bei den Kin-dergärten gekürzt und stattdessen Polizeipferde undLandwirtschaftskammern unterstützt werden, dann emp-fehle ich die Lektüre des Kinder- und Jugendberichtes.Das müsste eigentlich zu einem Umdenken führen.
In dieser Woche will ich auch eine Anmerkung zu ei-nem Thema machen, das heute früh schon auf der Tages-ordnung stand, nämlich die Reform unserer Verfassung.Ich denke, wir sollten bei dieser Reform darauf achten,dass wir handlungsfähig bleiben und uns nicht den Wegverbauen, notwendige Schritte für die Verbesserung derChancen von Kindern und Jugendlichen zu tun. Vielevon uns haben die Umsetzung des 4-Milliarden-Euro-Programms für mehr Ganztagsschulen begleitet. Daswar ein außerordentlich wichtiger Schritt. Es war sehrschwierig, das im Föderalismus umzusetzen; aber es warnicht unmöglich. Wir sollten uns solche Möglichkeitenerhalten; denn Deutschland ist eines der letzten LänderEuropas, die noch eine Halbtagsschule haben. Wenn wirhier den Anschluss an die europäische Entwicklungschaffen wollen, müssen wir in der Kinder- und Jugend-hilfe, in der Bildungspolitik und bei den Investitionenfür Kinder und Jugendliche bundesweite Standards set-zen können.
Noch ein Satz zur aktuellen Diskussion über dieGebührenfreiheit von Kindertageseinrichtungen, diewir alle zu Recht, wie ich finde, immer wieder fordern:Ja, auch die SPD will langfristig die Gebührenfreiheit.Unser erster Schritt ist der Ausbau der Betreuungsmög-lichkeiten. Das ist immer noch nötig, auch angesichts derregionalen Unterschiede. Wir wollen, dass alle Kinder inden Kindergarten gehen können und vor der Schule diedeutsche Sprache richtig lernen können. Das ist ganzwichtig.
Ich weise auf ein Beispiel hin, wie das positiv umge-setzt werden kann. Rheinland-Pfalz hat das Programm„Zukunftschance Kinder: Bildung von Anfang an“ um-gesetzt. Dort ist seit dem 1. Januar dieses Jahres dasletzte Kindergartenjahr gebührenfrei. Gleichzeitig wer-den die Kindergärten schon für Zweijährige geöffnet unddamit auch in der Fläche erhalten. Da hat Kurt Beck, wieich finde, eine gute Tat vollbracht und ein sinnvollesProgramm vorgeschlagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Erich Kästner hateinmal gesagt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“Das Beispiel in Rheinland-Pfalz zeigt: Man kann es tun,wenn man will. Man kann mehr investieren für Kinderund Jugendliche. Man kann die Prioritäten richtig setzen,wie uns das auch der Kinder- und Jugendbericht vor-schlägt.Ich finde, dass wir auf der Bundesebene in der großenKoalition auf einem guten Weg sind, diese Priorität inder Kinder- und Jugendpolitik gut zu setzen.
Unser roter Faden ist, dass Kinder eine gute Zukunfts-chance haben. Das ist unsere Politik für mehr Chancenfür Kinder. Denn nur eine kinderfreundliche Gesell-schaft hat eine gute Zukunft. In diesem Sinne hoffe ich,dass wir daran gemeinsam weiterarbeiten.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Zum wievielten Mal stehenbzw. sitzen wir heute eigentlich im Deutschen Bundes-tag und beklagen gravierende Mängel im deutschen
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Diana GolzeBildungs- und Betreuungssystem? Diejenigen unter Ih-nen mit mehr Sternchen vor dem Namen im Kürschnerals ich dürften sich an das eine oder andere Mal noch er-innern.Nun haben wir es mit der etwas außergewöhnlichenSituation zu tun, dass der Bericht durch die abgewählterot-grüne Bundesregierung in Auftrag gegeben und dievorliegende Stellungnahme ebenfalls durch die Vorgän-gerregierung vorgelegt wurde. Ich freue mich daher sehr,dass Frau Ministerin von der Leyen zahlreiche Einschät-zungen und Empfehlungen des Berichts teilt.Welches sind die wichtigsten Feststellungen und For-derungen des Zwölften Kinder- und Jugendberichts undwelche Schlussfolgerungen sollten wir daraus ableiten?Die Berichtskommission und die Stellung nehmendeBundesregierung sind sich darüber einig, dass es gravie-rende Mängel im öffentlichen Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungsangebot gibt, und konstatieren überein-stimmend einen großen Nachholbedarf. Ich begrüße be-sonders das von der Bundesregierung in diesem Zusam-menhang abgelegte Bekenntnis zu einem öffentlichverantworteten System von Bildung, Betreuung und Er-ziehung sowie zur Verantwortung von Politik für dieSchaffung guter Rahmenbedingungen für das Heran-wachsen der jungen Generation. Ich sehe in diesem Be-kenntnis der Bundesregierung einen Anlass für einenPolitikwechsel, mit dem die Interessen von Kindern undJugendlichen wirklich in den Mittelpunkt gestellt wer-den und all jenen eine Absage erteilt wird, die Kinder-und Jugendpolitik für Luxus halten.Mit einem Lächeln aufgenommen habe ich das Be-dauern der Bundesregierung darüber, dass sich die Be-richtskommission nur unzureichend mit dem abge-stimmten System in der DDR von Bildung, Betreuungund Erziehung vom frühen Kindesalter bis zur Ausbil-dung als Teil deutscher Entwicklung auseinander gesetzthat. Ich zitiere aus der Stellungnahme der Bundesregie-rung:Der Bericht beansprucht, die bisherige Situation inDeutschland zu erfassen, und wird dem durch dieim Schwerpunkt eingenommene westliche Perspek-tive nicht gerecht.Ich hoffe, die jetzige Bundesregierung schließt sichschon allein aufgrund der Herkunft der Vorsitzenden vonzwei der drei regierungsbildenden Parteien dem Stand-punkt an, dass die Erfahrungen des Bildungs-, Erzie-hungs- und Betreuungssystems der DDR zur Verbesse-rung der jetzigen Situation beitragen können.
Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht steht unterdem Leitgedanken „Bildung, Betreuung und Erziehungvor und neben der Schule“. Bereits die kleine Abwand-lung im Titel des Berichts – es sollte ja „vor und in derSchule“ heißen – zeigt, dass die Berichtskommission er-kannt hat, dass sich das Leben von Kindern und Jugend-lichen an unterschiedlichen Orten abspielt und auf viel-fältige Weise geprägt wird. Die Verfasser des Berichtsziehen eine analytische Grenze am Ende des Besuchs derallgemeinbildenden Schule. Diese Einschränkung darfaber nicht den Blick auf eine ganzheitliche Analyse dergesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Auf-wachsen von Kindern und Jugendlichen verstellen.
Zu diesen Rahmenbedingungen gehören auch die im-mer stärker um sich greifende Prekarisierung und Verun-sicherung auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.Diese haben ebenso Auswirkungen auf die Lebensweltvon Kindern und Jugendlichen wie die Tatsache, dassFamilien nach dem althergebrachten Bild „verdienenderVater, erziehende Mutter“ längst nicht mehr die domi-nante Lebensweise sind, in die Kinder hineingeborenwerden. Immer öfter erleben Kinder und JugendlicheBrüche und Veränderungen von familiären Situationen.Welche Folgen hat dies nun für die Entwicklung vonKindern und Jugendlichen? Familie und Schule habenihren monopolartigen Anspruch auf die Organisierungund Umsetzung von Bildung, Betreuung und Erziehungverloren. Kinder und Jugendliche verbringen einen gro-ßen Teil ihrer Zeit an anderen Bildungsorten und in an-deren organisatorischen Zusammenhängen. Musik- undKunstschulen, selbst organisierte Jugendgruppen odereinfach lose Gruppen von Gleichaltrigen spielen eineimmer stärker werdende Rolle. Die Berichtskommissionunterstreicht zu Recht, dass diesen Lernwelten eine grö-ßere Bedeutung zukommt.In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf zweiPunkte aufmerksam machen, die man auch nachlesenkann.Erstens. Bereits 1973 stellte die Bund-Länder-Kom-mission für Bildungsplanung in ihrem Bildungsgesamt-plan fest:Das Bildungswesen umfasst nach neuem Verständ-nis nicht nur Schule, Hochschule und beruflicheBildung, sondern auch die Elementarerziehung,eine systematisierte Weiterbildung und die außer-schulische Jugendbildung.Sie setzte sich deshalb folgendes Ziel:Verbesserte Koordinierung der Arbeit öffentlicherund freier Träger und verstärkte Kooperation deraußerschulischen Jugendbildung mit dem übrigenBildungswesen.Diese Forderung findet sich nun auch im Zwölften Kin-der- und Jugendbericht wieder. Hier wird großer Wertauf die Förderung der Zusammenarbeit von Schule, Fa-milie und Jugendhilfe gelegt.Zweitens. Nun haben wir es aber gleichzeitig mit derSituation zu tun, dass wir uns morgen in diesem Saal mitder geplanten Föderalismusreform beschäftigen. Be-standteil dieses Reformvorhabens ist die teilweise Zer-schlagung dieser Trias. Denn zumindest auf der Bundes-ebene wird der Einfluss auf Bildungsstandards undBildungschancen aus der Hand gegeben. Nur auf dieVernunft der Kultusministerkonferenz zu setzen, wie esder Brandenburger Staatskanzleichef Clemens Appelvon der SPD gestern in der „Märkischen Allgemeinen
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Diana GolzeZeitung“ verlautbart hat, ist mir, ehrlich gesagt, zu ris-kant.
Ich fordere vor allem die SPD-Mitglieder im Bundes-tag und Bundesrat auf, diese „größte Kröte“ – ZitatAppel – nicht zu schlucken.
Ich warne in diesem Zusammenhang auch davor, dasKinder- und Jugendrecht aus der Bundeshand zu geben.Sparzwänge und das Deckmäntelchen Bürokratieabbaukönnten in vielen Bundesländern schnell zu einge-schränkten Handlungsmöglichkeiten der Jugendämterführen. Dies darf im Interesse der Kinder und Jugendli-chen nicht geschehen.
Nach meiner Auffassung und der meiner Fraktionmuss die Bundesregierung ihrer Verantwortung für denchancengerechten Zugang zu allen Lernwelten nach-kommen.Stichwort „chancengerechter Zugang“: Ein realisti-scher Blick offenbart, dass sich die Chancen vieler Kin-der und Jugendlicher auf einen gelungenen Start in einselbst bestimmtes Leben in den letzten Jahren massivverschlechtert haben. Die Kinder- und Jugendarmutsteigt konstant. Im Kinder- und Jugendbericht wird dieSituation in angemessener Weise und mit zutreffendenBefunden geschildert. Seit den 90er-Jahren des 20. Jahr-hunderts steigt die Armutsquote unter Kindern und Ju-gendlichen. Die Verschärfung der Sozialgesetze hat imJahr 2005 zu einer erheblichen Verschärfung geführt.Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband errechnetefür Mitte 2005, dass sich bundesweit fast jedes siebenteKind unter 15 Jahren im Sozialgeldbezug befand.Im Osten Deutschlands ist das Armutsrisiko nochgrößer. In einer Schulklasse mit 28 Kindern leben durch-schnittlich sieben unterhalb der Armutsgrenze. Einebenso hohes Armutsrisiko haben Kinder nicht deut-scher Eltern oder von Alleinerziehenden.Armut umfasst aber nicht nur einen Mangel an finan-ziellen Ressourcen, sondern auch an sonstigen materiel-len und immateriellen Gütern, Einschränkungen in so-zialen und kulturellen Belangen, einen erschwertenZugang zu allgemeiner Infrastruktur und wirkt sich nichtzuletzt auch auf den gesundheitlichen Zustand aus. DieBundesregierung weist in ihrer Stellungnahme zwar aufdie Gefahr von „Armuts-Bildungs-Spiralen“ hin, legtaber kein Konzept gegen diese insgesamt beunruhigendeEntwicklung vor.Schon 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung
stellte der Philosoph Konfuzius fest:Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keineStandesunterschiede machen.Diese Weisheit sollte Grundlage für die künftige Kinder,Jugend- und Bildungspolitik der Bundesregierung sein.
Für den Fall, dass Ihnen dieses Zitat zu alt oder zuweit hergeholt erscheint, hier eines aus der jüngsten Ge-schichte: Die Regierungserklärung der Bundeskanzlerinstand unter dem Leitgedanken „Mehr Freiheit wagen“.Lassen Sie mich dazu den polnischen Friedensnobel-preisträger Lech Walesa zitieren:Der Mensch ist nicht frei, wenn er einen leerenGeldbeutel hat.
Deshalb finden Sie in unserem Entschließungsantragzum Kinder- und Jugendbericht unter anderem die For-derung nach Anhebung des Kindergeldes auf 250 Euroals einen ersten Schritt in Richtung einer sozialenGrundsicherung für alle Kinder.Mit einer weiteren Forderung, und zwar der nach demelternbeitragsfreien Zugang zu öffentlichen Kindertages-einrichtungen für alle Kinder, schließen wir uns einerEmpfehlung der Berichtskommission an.Wie im Bericht festgehalten wird, darf frühkindlicheBildung nicht nur als Vorbereitungszeit für die Schulegesehen werden. Die frühkindliche Betreuung muss da-rüber hinaus qualitativ verbessert werden. Die Ausbil-dungsstandards für Erzieherinnen und Erzieher müssenden künftigen Ansprüchen besser genügen. Ihre Ausbil-dung muss ein praxisorientiertes Hochschulstudium wer-den.
Ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher müssen außer-dem kontinuierlich weitergebildet werden.Ich betone es noch einmal: Wir fordern den elternbei-tragsfreien Zugang zu öffentlichen Kindertageseinrich-tungen für alle Kinder. Damit verknüpfen wir die Forde-rung nach der Ausweitung des Rechtsanspruchs aufeinen Kinderbetreuungsplatz ab der Geburt. DieseAnsprüche sind als Rechte der Kinder und unabhängigvom sozialen Status der Eltern zu gestalten. Im Berichtwird dieser Rechtsanspruch für zweijährige Kinder ab2008 und ab 2010 für alle Kinder mit der Geburt gefor-dert.Die Bundesregierung hält diese Forderung für ver-früht. Wie verträgt sich diese Einschätzung aber mit demin ihrer Stellungnahme erklärten Ziel – ich zitiere –,„Deutschland bis zum Jahr 2010 zu einem der kinder-und familienfreundlichsten Länder Europas zu ma-chen“? Das Tagesbetreuungsausbaugesetz, in dem biszum Jahr 2010 230 000 neue Betreuungsplätze verspro-chen werden, reicht für die Umsetzung dieses Ziels nichtaus –
schon allein deshalb nicht, weil die versprochene Entlas-tung der Länder und Kommunen in Höhe von jährlich2,5 Milliarden Euro durch die Zusammenführung vonArbeitslosen- und Sozialhilfe im Jahr 2005 nicht so
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Diana Golzeeingetreten ist. Also können Länder und Kommunen da-von auch nicht 1,5 Milliarden Euro für den Ausbau derKinderbetreuung für unter Dreijährige verwenden. Bei-spiel Land Brandenburg: Allein in diesem Bundeslandstehen die Landkreise als Träger der kommunalen Kin-dertageseinrichtungen in diesem Jahr nach Aussage desLandkreistages mit 300 Millionen Euro in der Kreide.Das ist so viel wie noch nie.Wenn sich also die Bundesregierung 2010 mit demPrädikat „kinder- und familienfreundliches Land“schmücken will, muss sie nicht nur die Rechtsansprücheausweiten und die Qualität der Betreuung verbessern,sondern auch Länder und Kommunen verlässlich in dieLage versetzen, diese Ansprüche umzusetzen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, die im ZwölftenKinder- und Jugendbericht benannten Probleme dürfennicht weggeredet werden. Der Bericht ist kein Anlass fürSonntagsreden, sondern für einen politischen Kurswech-sel im Sinne der Kinder und Jugendlichen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wirbrauchen, ist doch tatsächlich eine grundsätzliche Neu-ausrichtung der Kinder- und Jugendpolitik, und zwar inallen Bereichen.
– Ja, ich komme gleich noch zur CDU/CSU-Fraktion.Gehen Sie doch lieber in Deckung, bevor Sie jetzt schonZwischenrufe machen!
Die Vertreter der CDU/CSU wissen ja, dass zuvör-derst die Bundesländer, also im Augenblick mit Mehr-heit CDU- bzw. CSU-Ministerpräsidenten, für die Kin-der- und Jugendpolitik zuständig sind.
In diesem Land haben wir diesbezüglich ein Defizit. Indiesem Land merkt man immer noch, aus welchenSchichten, aus welchen Familien Kinder kommen. Bil-dung, Lebens-, Teilhabe- und Berufschancen hängen im-mer noch vom Geldbeutel der Eltern ab. Ob ein Kind ge-sund ist oder ob es chronische Erkrankungen hat, hängtin diesem Land überproportional vom Geldbeutel der El-tern ab. Genau deshalb brauchen wir eine systematischeVeränderung der Kinder- und Jugendpolitik, nicht nurauf Bundesebene, sondern vor allem in den Ländern.
Ich will Ihnen sagen, um was es an der Stelle geht: Esgeht um ein kindgerechtes und gesundes Lebensum-feld. Dabei geht es nicht allein um die Punkte, die hierschon angesprochen worden sind; dabei geht es natürlichauch zum Beispiel um Umweltfragen. Auch REACH,die Chemikalienrichtlinie der EU, wäre in diesem Zu-sammenhang zu nennen. Das müsste man auch unterdem Gesichtspunkt angehen: Welcher Belastung sind ei-gentlich Kinder ausgesetzt? Um ein weiteres Beispiel zunennen: Wann wird die Schadstoffbelastung in den Städ-ten nicht nur auf Höhe der Nasen der Erwachsenen,sondern auch auf Höhe von Nasen der zwei- oder drei-jährigen Kinder, also direkt am Auspuff des Autos, ge-messen? Auch das ist damit gemeint, wenn wir sagen,das Lebensumfeld muss verändert werden.
Wir brauchen eine gute und gesunde Schule, einenguten und gesunden Kindergarten, wobei Sport, die rich-tige Ernährung und Verlässlichkeit dazu gehören. Wirbrauchen ferner eine kinderfreundliche Stadtplanung. Essollte nicht so sein, dass man Eintritt zahlen muss, damitsich ein Kind in der Freizeit körperlich bewegen kann.Ebenfalls brauchen wir neue Bedingungen für das Lebenmit Kindern im Rahmen der Arbeitswelt. Schließlich be-nötigen wir auch noch Folgendes: Die öffentlichenHaushalte müssen daraufhin auf den Prüfstand gestelltwerden, ob Ausgaben für Kinder wirklich in den Mittel-punkt gestellt werden oder ob an alten Subventionen undPrivilegien festgehalten wird.
– Gut, dass ein Zwischenruf von der FDP gekommen ist.Das Folgende wollte ich nämlich noch zu der Rede vonFrau Gruß, einer meiner Vorrednerinnen, sagen – ichwollte es nicht als Zwischenruf machen, weil es ihreerste Rede war –: Ihre Rede war schön und hörte sich gutan. Sie waren für Joint-Venture-Projekte; Sie wollten,dass wir endlich Geld in Kinder investieren. Aber IhreRede ist doch, noch bevor Sie sie gehalten haben, wieein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Wo ist dennder FDP-Antrag? Sie wollten ihn hier einbringen, aberIhre Finanzer haben ihn zurückgezogen, weil die in ihmenthaltenen Vorschläge zu viel Geld kosten. So stelltman Kinder nicht in den Mittelpunkt seiner Politik. Dasist eben eine zentrale Gerechtigkeitsfrage.
Wenn Sie, Frau von der Leyen, sagen – auch im Kin-der- und Jugendbericht steht das –, wir haben einen un-übersehbaren Nachholbedarf, kann ich Ihnen nur ent-gegnen: Dieser Nachholbedarf ist auch ein Stück weitdas Ergebnis – wie in Italien oder Spanien – einer kon-
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Renate Künastservativen Familienpolitik. Wir könnten längst weitersein.
Das hat ja hier keiner vergessen: Im Jahre 2004 habendie CDU- bzw. CSU-regierten Länder nahezu hasserfülltgegen das Tagesbetreuungsausbaugesetz gestimmt, weilsie behauptet haben, wir wollten die Frauen aus den Fa-milien herausdrängen.
Ich sage Ihnen: Die jungen Frauen wollen beides, Er-werbstätigkeit und Kinder. Aber Sie müssen sie auch las-sen und ihnen tatsächlich eine Wahlfreiheit geben; da-rum geht es.
Sie, Frau von der Leyen, wollen jetzt etwas ändernund setzen dabei auf Geld. Das allein genügt nicht. Denndas Modell, das Sie vorgeschlagen haben, ist ein Glücks-fall für die Steuerberater. Sie und auch diejenigen, dieheute schon über Privilegien verfügen, bekommen Privi-legien eingeräumt.
– Stellen Sie eine Zwischenfrage; davon haben wir beidemehr.
Wenn Sie sich das Modell genauer ansehen, stellen Siefest, dass diejenigen, die heute über wenig Einkommenverfügen, viel weniger bei den Steuern werden absetzenkönnen. Ich sage Ihnen dagegen: Uns muss jedes Kindgleich viel wert sein; das Kind derer, die schon Geld ha-ben, darf uns nicht mehr wert sein.
Frau Kollegin Künast, die Bestellung von Zwischen-
fragen ist zwar in der Geschäftsordnung nicht ausdrück-
lich vorgesehen, aber immer wieder beliebt. Und prompt
hat sich die Kollegin Lenke auch zu einer solchen Zwi-
schenfrage bereit gefunden. Stimmen Sie dem Begehren
zu?
Bitte.
Frau Künast, ich stimme mit Ihrer Kritik überein, dass
das vermurkste Modell der Kinderbetreuungskosten der
großen Koalition den Steuerberatern viel zu tun gibt. Ich
sage Ihnen aber auch: Sie haben in der letzten Legisla-
turperiode dafür gesorgt, dass die ersten 1 500 Euro gar
nicht absetzbar sind. Das ist der größte Murks gewesen,
der jetzt von der großen Koalition zu einem kleineren
Murks umgewandelt wird. Daher frage ich Sie: Waren
Sie mit dem Modell Ihrer rot-grünen Koalition so einver-
standen, dass Sie dafür in der letzten Legislaturperiode
die Hand gehoben haben?
Die FDP ist sehr koalitions- und kompromisserfahren,daher kann ich Ihnen Ihren Einwand als Koalitionskom-promiss zurückgeben. Ich freue mich jedoch, dass auchdie FDP vorwärts will.
Vielleicht können wir – wir haben uns mit einem Antragfestgelegt – jetzt gemeinsam über für die Zukunft wich-tige Fragen reden. Der Rechtsanspruch auf einen Kin-dergartenplatz war schon immer grüne Position. Wirbrauchen einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung.Dabei geht es um eine zentrale Infrastruktur. Vielleichtkönnen Sie dabei mitmachen und Ihren Antrag entspre-chend gestalten.
Wer heute Kinder haben will, braucht Infrastruktur,Geld und Zeit. Deshalb reicht es nicht, Frau von derLeyen, nur davon zu reden, dass es auf den Anfang an-komme. Sie müssen darüber hinaus auch für die Struktu-ren sorgen. Schöne Worte reichen hier nicht aus. WerfenSie sich bei der Verfassungsreform in die Bresche! Eskann doch nicht sein, dass Sie hier sagen, auf den An-fang kommt es an, und den Bund bei der Verfassungs-reform aus dem gesamten Themenkomplex „Kinder undBildung“ herauskatapultieren und ihm nicht einmal mehrdie Möglichkeit einräumen, Kindern in armen Bundes-ländern mit Finanzmitteln hilfreich unter die Arme zugreifen. Es ist doch nötig, verschuldeten Bundesländerndabei zu helfen, die Infrastruktur, beispielsweise Ganz-tagsschulen, auszubauen. Ich sage Ihnen: Wir müssenjetzt etwas tun und nicht erst im Jahr 2010.
Wir wollen den Rechtsanspruch auf Kinderbetreu-ung ab dem ersten Lebensjahr. Frau von der Leyen, Siehaben ehrgeizige Ziele für das Jahr 2010, aber wir habenjetzt schon März 2006. Wenn Sie darauf warten, dass dieLänder etwas aufbauen, werden zwei, drei Jahre verge-hen und Sie haben bis dahin vielleicht ein Gesetz verab-schiedet, aber im Vergleich mit anderen Ländern liegenwir noch weiter zurück. Deshalb müssen wir jetzt sprin-gen. Auf den Anfang kommt es an. Das gilt nicht nur fürdie Kinder, sondern auch für die CDU/CSU und dieseRegierung.
Wir wollen Kinder in den Mittelpunkt unserer Politikstellen. Wir wollen deshalb die Infrastruktur für sie aus-bauen. Unsere Idee ist ein Kinderbetreuungsgeld. DieEltern sollen einen Pauschalbetrag bekommen, der denKosten für den tatsächlich in Anspruch genommenenBetreuungsplatz entspricht. Auch hier kommt es daraufan, mutig anzufangen. Den benötigten Betrag wollen wirdurch die Senkung des Ehegattensplittings gegenfinan-zieren. Wir wollen wirklich Geld für die Betreuung und
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Renate KünastFörderung der Kinder und nicht für die Ehe ausgeben.Ich gratuliere jedem, der eine gute Ehe führt, aber dieEhe an sich geht uns nichts an, uns gehen die Kinder et-was an.
Ich möchte Herrn Kauder zitieren – gerade war ernoch hier, doch jetzt ist er weg.
– Ach, da ist er ja. – Er hat vor kurzem gesagt: Die Re-alität hat sich verändert und die CDU/CSU ändert sichauch. Ich möchte Ihnen dazu sagen: Schon in den 70er-und 80er-Jahren wollten die Frauen beides, Kinder undBeruf. Realität ist darüber hinaus auch – und das schonseit Jahrzehnten –, dass Kinder aus armen Familien we-niger gute Chancen haben und unsere Unterstützungbrauchen. Die Gesellschaft und die Wirtschaft brauchengut ausgebildete Kinder. Geben Sie sich einen Ruck!Herr Kauder, auf den Anfang kommt es an. BeginnenSie jetzt! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Es gehtnicht darum, dass die Eltern Belege für die Steuerberatererhalten, es geht vielmehr darum, dass die Kinder inDeutschland eine gute Kinderbetreuung erhalten.
Nun erhält der Kollege Thomas Dörflinger für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast,dafür, dass Sie sich in den letzten sieben Jahren nicht zu-vorderst mit Kinder-, Jugend- und Familienpolitik be-fasst haben,
können Sie nichts. Aber in Ihrer Rede hat man das an dereinen oder anderen Stelle gemerkt.
Ich will mit Blick auf das, was wir am morgigen Tagunter dem Stichwort Föderalismusreform miteinanderberaten, zunächst einmal festhalten, dass das Kinder-und Jugendhilfegesetz ein Bundesgesetz ist und bleibt.Daran ändert sich auch nichts. Das, was wir am morgi-gen Tag miteinander beraten, erklärt sich insbesonderevor dem Hintergrund, dass wir die Finanzbeziehungenzwischen dem Bund und den Ländern entflechten wollenund keine neuen Tatbestände schaffen wollen, durch diesich die Finanzbeziehungen verflechten.Ich habe mir Ihren Vorschlag angesehen, meine Da-men und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen, ein Kin-derbetreuungsgeld einzuführen, das sich aus dem bishe-rigen Ehegattensplitting speist. Es ist nicht unbedingt einBeitrag zur Vereinfachung der Finanzbeziehungen, wennSie den Familien, die aus dem Ehegattensplitting pro-fitieren, das Geld wegnehmen und es ihnen anschließendüber das Kinderbetreuungsgeld wiedergeben,
damit sie dann die Kindertagesstätte bezahlen können.Wo liegt da der Vereinfachungseffekt bei den Finanzbe-ziehungen? Das erschließt sich mir nicht.
Ich will zunächst einmal im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an die Expertenkommission, die denZwölften Kinder- und Jugendbericht für die Bundes-regierung erstellt hat, ein herzliches Wort des Dankes sa-gen.
Insbesondere im Analyseteil liefert dieser Bericht wert-volle Erkenntnisse. Ich sage dazu: Wenn man diesenAnalyseteil aufmerksam liest und die Titelgeschichte des„Spiegel“ aus dieser Woche daneben legt, dann wirdman nicht nur als Politiker, sondern auch als Eltern ander einen oder anderen Stelle nachdenklich
und stellt sich die Frage, ob wir es ein Stück weit ver-lernt haben, richtig mit Kindern umzugehen, wie es der„Spiegel“ in seiner Titelgeschichte beschreibt.Wir stellen fest, dass die Zahl der Eltern, die mit ihrerErziehungsaufgabe überfordert sind, tendenziell steigt.Das provoziert die Frage: Wie gehen wir als Staat mitunserem Nachwuchs um und wie schaffen wir die Rah-menbedingungen dafür, dass sich Eltern besser als in derVergangenheit der Aufgabe widmen können, ihre Kinderso zu erziehen, dass sie verantwortungsbewusste Staats-bürgerinnen und Staatsbürger werden?Lassen Sie mich auf einige Empfehlungen der Kom-mission zur Bildung, Betreuung und Erziehung in derfrühen Kindheit eingehen. Die Kommission fordert, diePolitik müsse die Rahmenbedingungen dafür schaffen,dass Eltern in der Lage sind, ihren Erziehungsaufgabenim Interesse ihrer Kinder nachzukommen, insbesonderein den frühen Lebensstadien der Kinder. Ich sage: DieBundesregierung tut dies ausweislich des Koalitionsver-trages dadurch, dass wir das Elterngeld einführen – wirsind auf dem besten Wege dorthin –, dass wir uns inten-siv Gedanken darüber machen, was wir leisten können,um die Erziehungskompetenz von Eltern zu stärken– weniger im Sinne von Sanktionsmechanismen als eherim Sinne von Anreizmechanismen, im Sinne von Best-Practice-Systemen –, und dass wir als Gesetzgeber dafürsorgen – wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben inden letzten Tagen dazu einen Vorschlag gemacht –, dassdie Fälle von Kindesmisshandlungen in unterschiedli-chen Lebensstadien der Kinder, die uns wohl alle glei-chermaßen schockiert haben, zukünftig der Vergangen-heit angehören. Hier ist der Gesetzgeber in der Pflicht.Ich füge ausdrücklich hinzu: Die Einführung von Sank-
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Thomas Dörflingertionen im Rahmen des Strafgesetzbuches ist eine Mög-lichkeit. Aber es ist weder die einzige noch die einzigzielführende. Es braucht einen ganzen Strauß von Mög-lichkeiten, um Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zustärken.
Wenn im Bericht darauf hingewiesen wird, dass Er-ziehung auch eine Frage der materiellen Rahmenbedin-gungen für Eltern ist, dann geht es nicht nur um dasElterngeld und die Abzugsfähigkeit der Kinderbetreu-ungskosten von der Steuer, sondern dann heißt das auch– darauf kann am heutigen Tage vor dem Hintergrundder gestern im Finanzausschuss stattgefundenen Anhö-rung hingewiesen werden –, dass das Gesetz zur steuerli-chen Förderung von Wachstum und Beschäftigung ander einen oder anderen Stelle gezielt darauf ausgerichtetist, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Elternund Familien im Sinne von mehr Jobs für Eltern zu ver-bessern, sodass die finanziellen Rahmenbedingungen fürFamilien in der Zukunft stimmen.Ich sehe allerdings den Teil des Kommissionsberich-tes, der die politischen Forderungen enthält, an der ei-nen oder anderen Stelle kritisch.Wir befinden uns in der nachgerade klassischen Situa-tion der Spannungsbeziehungen zwischen Bund und Län-dern in den Handlungsfeldern Bildung und Erziehung.Wir sollten uns alle miteinander darauf kaprizieren, dassim Deutschen Bundestag in Berlin Entschließungs-anträge mit wohlfeilen Forderungen, deren Ausführendein den Bundesländern oder Kommunen sitzen, ein füralle Mal der Vergangenheit angehören. Auch dazu leistetder morgige Tag unter dem Stichwort Föderalismus-reform einen Beitrag. Es soll gelten: Wer bestellt, be-zahlt. Auch in dieser Frage müssen klare Zuständigkei-ten und klare Finanzbeziehungen herrschen.Mit Blick auf das eine oder andere, was ich in diesemZusammenhang höre – Entschließungsanträge werdendem Hohen Hause sicherlich noch vorgelegt –, sage ich:Es wäre schön, wenn sich alle Fraktionen in diesem Ho-hem Hause an diese Maxime halten würden und wir das,was wir an politischen Forderungen erheben, zunächsteinmal im eigenen Zuständigkeitsbereich zu verwirkli-chen suchen und nicht anderen vor die Haustür legen.
Lassen Sie mich mit Blick auf die Forderung derKommission nach einer Verstärkung von Ganztagsange-boten, die unsere ausdrückliche Unterstützung findet, ei-nen letzten Punkt ansprechen. Ich will auf einen Teilas-pekt hinweisen, den die Kommission in ihrem Berichtantippt und der mir als Baden-Württemberger sehr wich-tig ist. Der Ausbau der Ganztagsbetreuungseinrich-tungen in den Bereichen Schule und Kindergarten voll-zieht sich in einem Spannungsfeld zwischen dem, wasaus bildungspolitischen und erziehungspolitischenGesichtspunkten notwendig ist, und dem, was an ehren-amtlichen Strukturen in den Ländern, in den Kommu-nen bereits besteht. Ich denke etwa an das, was Ehren-amtliche in der Jugendarbeit der Vereine und Verbändeleisten, was gleichzeitig ein wesentlicher Beitrag zur pä-dagogischen Qualifikation von Jugendlichen und Kin-dern ist.
Deswegen stehen wir in der Pflicht, die Konzeptionder Ganztagsbetreuung in den Bereichen Schule undKindergarten bzw. Kindertagesstätte mit bestehendenehrenamtlichen Strukturen in unseren Städten und Ge-meinden abzustimmen. Wir müssen der Frage nachge-hen, ob das an dem einen oder anderen Punkt eventuellintelligent miteinander verknüpft werden kann. Ich ratedazu, einen Blick nach Baden-Württemberg zu werfen,beispielsweise in meinen Wahlkreis, nach Bonndorf.Dort hat man sich dieser Frage erfolgreich gewidmet undein Projekt auf den Weg gebracht, das als wegweisendgelten könnte und dieser Maxime entspricht.
In diesem Sinne freue ich mich auf interessante Bera-tungen im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen undJugend zumZwölften Kinder- und Jugendbericht derBundesregierung.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Ekin Deligöz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Diese Debatte hat vor allem eines gezeigt, nämlich dasssich in diesem Land in den vergangenen sieben Jahrenrichtig viel verändert hat.
Der besondere Stellenwert der Förderung der Bildungvon Kindern und Jugendlichen ist erkannt worden. Erwurde nicht nur von den Parteien und Verbänden er-kannt, sondern auch von den Eltern und Familien, vonden Lehrerinnen und Erzieherinnen und sogar von derCDU und der CSU. Herr Dörflinger, Sie können hiernoch so oft sagen, dass man sich an alten, traditionellenWerten orientieren sollte. Selbst Frau Stewens und HerrKoch reden davon. Das sollten Sie einmal zur Kenntnisnehmen.
In diesem Land hat sich noch etwas bewegt. Die Sichtauf Kinder und auf die Kindheit hat sich verändert. Kin-der sind vom ersten Tag an Persönlichkeiten. Sie sindRechtssubjekte, sie haben eigene Rechte. Sie entwickelnfrühzeitig Kompetenzen, sie wollen lernen. Unsere
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Ekin DeligözAufgabe ist es, sie dabei zu fördern, indem wir die richti-gen Rahmenbedingungen schaffen.Im Rahmen dieser Debatte höre ich von allen Seitenübereinstimmend, dass dieser Kinder- und Jugendbe-richt, der genau das in den Mittelpunkt stellt, begrüßtwird. Das ist gut; in unserem Antrag sagen wir das aus-drücklich. Wir wissen, dass heute eigentlich niemand ge-gen bessere Förderung und Bildung sein kann. Dass wirdieses Projekt gemeinsam anpacken müssen, liegt aufder Hand. Das ist klar und übrigens nicht nur Aufgabeder Politik.Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Was tun wirdafür, dass die Empfehlungen aus dem Bericht auch tat-sächlich umgesetzt werden? In Sonntagsreden den Kom-missionsvorsitzenden Professor Rauschenbach zu zitie-ren, ist gut. Aber das reicht nicht aus.
Für die Realisierung brauchen wir klare politische Kon-zepte, die meiner Meinung nach zwei Punkte beinhaltenmüssen: Erstens. Man muss Verantwortung übernehmen;in dieser Verantwortung steht auch der Bund.Zweitens. Wir müssen auch in fiskalischer Hinsichteine ganz klare Priorität zugunsten unserer Kinder set-zen. Wir müssen dabei die Kinder in den Mittelpunkt rü-cken, statt ideologische Debatten zu führen.
Wir Grüne beachten beide Aspekte, auch die Verant-wortung des Bundes. Er muss und kann – das ist imÜbrigen auch seine Aufgabe – im Kinder- und Jugend-hilfegesetz einen Rechtsanspruch auf einen Betreu-ungsplatz für unter Dreijährige verankern. Das ist dereinzig mögliche Weg, um zeitnah und verbindlich dasnotwendige Betreuungsangebot für Kinder dieser Alters-klasse zu schaffen.Der Bund sollte sich auch aus der Finanzierung dieserMaßnahme nicht heraushalten, sondern sich daran betei-ligen. Mit dem TAG haben wir den ersten Schritt indiese Richtung gemacht. Weitere Schritte müssen nunfolgen. Mit dem Kinderbetreuungsgeld schlagen wirGrüne Ihnen ein Konzept vor, mit dem wir dafür sorgenkönnen, dass das Geld genau dort ankommt, wo es ge-braucht wird: bei der Inanspruchnahme von Betreuungs-einrichtungen. Dadurch stärken wir die Nachfragekom-petenz und die Beteiligung der Eltern und lassen dieKommunen bei der Mammutaufgabe des Ausbaus derKinderbetreuung und -erziehung nicht allein.
Die Kinder in den Mittelpunkt stellen – das und nichtsanderes hat für uns Priorität. In den Reihen der großenKoalition heißt es, man wolle sich irgendwann, womög-lich im Jahre 2010, Gedanken über die Einführung einesRechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz machen.Das ist uns zu wenig. Sie wollen sich offenkundig nichtfestlegen. Vielleicht fürchten Sie auch Differenzen mitIhren Landesfürsten. Nichtsdestotrotz, das ist zu unver-bindlich und zu spät. Sie lassen die Betroffenen, dieMütter und Väter, im Stich. Das ist eine Politik, die anden tatsächlichen Erfordernissen im Alltag der Men-schen komplett vorbeigeht.
Zur Prioritätensetzung möchte ich Ihnen noch etwassagen: Seitens der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen heißt es völlig zu Recht, dass man in der fal-schen Reihenfolge vorgeht, wenn man zuerst das Eltern-geld einführt und sich danach Gedanken über denAusbau der Infrastruktur macht. Man muss genauumgekehrt vorgehen. Lassen Sie uns heute damit anfan-gen, unseren Kleinen die bestmögliche Förderung zu er-möglichen, damit sie einmal die Größten in unseremLande werden.Danke.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marlene
Rupprecht, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dervorliegende Zwölfte Kinder- und Jugendbericht zumThema „Bildung, Betreuung und Erziehung vor und ne-ben der Schule“ ist angesichts der gesellschaftlichen undpolitischen Diskussion über Bildung sehr wichtig. Herz-lichen Dank, dass Sie diesen Bericht vorgelegt haben!Dies können wir zum Anlass nehmen, um über diesesThema statt in den Abend- und Spätabendstunden amheutigen Vormittag zu diskutieren. Ich danke den Frak-tionen, dass sie die Bedeutung des Berichts verstandenhaben und dieses Thema an den Anfang unserer heutigenTagesordnung gesetzt haben.
Unsere Fraktionen und, wie ich an den Redebeiträgengemerkt habe, das gesamte Parlament werden die Anre-gungen und Forderungen des Berichts aufgreifen und so-weit wie möglich umsetzen. Ich sage „soweit wie mög-lich“, weil wir in unserem föderalen Staat nicht auf allenEbenen das Zugriffs- und Wirkungsrecht haben. Deshalbist eines dringend notwendig: die Kooperation allerEbenen im Interesse der Kinder.Ich danke den Kommissionsmitgliedern nicht nur fürihre umfangreiche Arbeit, sondern auch dafür, dass siedie Trias Bildung, Betreuung und Erziehung durchgän-gig dargestellt haben. Sie haben ihren Blick nicht aufden Bildungsbegriff verengt, sondern zur Kenntnis ge-nommen, dass Bildung nur stattfinden kann, wenn alledrei Elemente berücksichtigt werden.Ein weiterer wichtiger Punkt dieses Berichts ist, dassman weggeht von der Diskussion über Bildungssystemeund hin zu einer Diskussion über Bildungsprozesse imLebenslauf von Kindern und Jugendlichen. Das ist wirk-lich ein Paradigmenwechsel.
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Marlene Rupprecht
Anders als in vielen anderen Berichten wird in diesemBericht endlich aus Kindersicht dargestellt, was Kinderbrauchen und wie die Prozesse bei uns laufen müssen,damit Kinder die Welt annehmen können und in ihr herz-lich willkommen sind; darauf kommt es nämlich an. Dasist die besondere Leistung des vorliegenden Berichts.
Ich finde es toll, dass Sie in Ihrem Bericht weggehenvon dem ewigen Gejammer über Kinder und Kinder alswissbegierig, selbstständig, eigenverantwortlich, lernfä-hig und lernwillig darstellen. Kinder kommen als Per-sönlichkeiten auf dieser Welt an.
Auf die Schule komme ich noch zu sprechen.Es ist also ein Prozess, in dem sich diese kleinen Per-sönlichkeiten mit der Welt auseinander setzen und siesich aneignen. In diesem erweiterten Bildungsbegriff istBildung verknüpft mit vielen Lernwelten und Bildungs-orten, mit vielen Gelegenheiten und Inhalten. Dies müs-sen wir berücksichtigen und entsprechend reagieren, da-mit wir Kindern die Vielfalt bieten, die sie brauchen, umsich zu entwickeln.Ich will jetzt nicht auf die fiskalischen und materiel-len Rahmenbedingungen eingehen – dies wurde von denKolleginnen und Kollegen schon ausführlich darge-stellt –, sondern als Kinderbeauftragte meiner Fraktionaus der Sicht der Kinder einige Punkte herausgreifen.Wenn ein Kind auf dieser Welt ankommt, muss manihm vermitteln: Herzlich willkommen!
Wir wissen aber, dass es Familien gibt, die zwar zumZeitpunkt der Geburt noch gern Eltern sind, aber spätes-tens dann, wenn die ersten Probleme auftreten, an ihreGrenzen kommen und sich sagen: Wir sind als Elternvielleicht nicht so optimal. Wir würden es gern sein, wis-sen uns aber nicht zu helfen. – Hier – wo notwendig,auch bereits während der Schwangerschaft – muss dieBegleitung und Betreuung einsetzen, damit Kinder die-ses „Herzlich willkommen!“ tatsächlich erfahren. Wirmüssen die Familien unterstützen, damit Kinder diesenherzlichen Empfang bekommen.
Was wir nicht brauchen können, ist Strafe oder Druck.Druck haben die Eltern schon selber, wenn ihr Kind dieNacht durchschreit, sie vom Gefühl her eigentlich nichtmehr können und es an die Wand klatschen möchten,was man natürlich nicht tut. Es ist ein Gefühl der Hilflo-sigkeit, wenn ein kleiner Wurm schreit und schreit undman nicht damit fertig wird. Wenn das den ganzen Tagso geht und man bereits übermüdet ist, braucht manHilfe und nicht noch den Druck, vor Gericht gezerrt zuwerden. Diese Menschen brauchen Unterstützung.
Deswegen haben wir frühe Hilfen für Familien vor-gesehen. Das kann nicht ein Einzelner leisten; das mussimmer ein Konzert von Sozialarbeitern, Ärzten, und demsozialen Umfeld sein. Wir haben schon viele Hilfsange-bote. Sie richten sich aber überwiegend an die Mittel-schicht; sie fragt diese Leistungen auch ab. Aber nurganz wenige derer, die verzweifelt sind, finden den Wegzum Stadtteilzentrum, zur Krabbelgruppe. Solche Men-schen brauchen aufsuchende Hilfe. Daran mangelt esuns noch. Ich denke, wir müssen die Familien in dieLage versetzen, ihren Kindern so viel Stabilität zugeben, dass sie loslassen können, dass die Kinder inKrabbelgruppen, in Gruppen mit Gleichaltrigen, in denKindergarten gehen. Es ist notwendig, dass die Kinderneben den Schwierigkeiten, aber auch der Geborgenheitund Stabilität, die sie in der Familie erfahren, sehen, dasses auch eine Welt außerhalb der Familie gibt. Trotz sei-nes Wächteramts kann der Staat aber nicht ersetzen, wasdie Familie ist, nämlich die Insel, auf die man sich zu-rückziehen kann und auf der man Kraft tankt, um wiederhinauszugehen. Der Staat kann und darf die Familie hiernur unterstützen, damit sie diese Aufgabe wahrnehmenkann.Bezüglich der Erziehung in Kindertagesstätten undBetreuungseinrichtungen ist schon vieles über Qualifi-zierung und Fortbildung gesagt worden. Natürlich habenwir hoch qualifizierte und gut ausgebildete Erzieherin-nen. Aufgrund der wertvollen Menschen, die sie zu be-treuen haben, ist aber darüber nachzudenken, ob die Be-zahlung auch ihrer Leistung gerecht wird.Damit komme ich zum Bereich Schule, in dem ich20 Jahre lang gearbeitet habe. Ich weiß, dass das Deut-sche Jugendinstitut Untersuchungen durchgeführt undherausgefunden hat, dass nur noch ein Drittel der Kindergerne in die Schule geht. Ich frage mich, wo die anderenzwei Drittel geblieben sind, die einmal lernwillig undwissbegierig waren.
– Oh doch, das gibt es. – Die Schule muss also endlichumsteuern.Im Kinder- und Jugendhilfegesetz steht die Verpflich-tung der Kooperation aller am Kind Beteiligten. Ich fragemich, warum dies nach 15 Jahren Kinder- und Jugendhil-fegesetz immer noch nicht geschieht. Ich verstehe dasnicht. Die kommunale Jugendhilfeplanung schließtein, dass sich alle am Kind Beteiligten – die Schule, inspäteren Jahren die Arbeitsagentur, die Polizei, die Ju-gendverbände und die Jugendgruppen – gleichberechtigtals Partner mit einbringen sollen. Die Schule darf keindominantes Element in diesem Konzert sein. Die Schulemuss sich zurücknehmen und vielleicht auch zu einemneuen Denken finden. Die anderen müssen mehr Selbst-bewusstsein im Umgang entwickeln.Diese Kooperation würde dazu beitragen, dass dieWelt und das Leben in die Schule hineinkommen. Viel-leicht ginge das Burn-out-Syndrom bei denen, die mitKindern umgehen, nämlich den Lehrern, zurück, wennsie endlich mitbekämen, dass Erzieher – und nicht nurWissensvermittler – zu sein eine ganz schöne Aufgabeist, weil man sehr viel zurückbekommt, wenn man etwasgibt. Ich glaube, dies muss in der Ausbildung verankert
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und täglich gelebt werden. Hierfür brauchen wir die Un-terstützung der Kinder in der Schule, aber auch derer, dieunterrichten.Das Ganze funktioniert aber nur, wenn man die Kin-der in der Familie, in der Kindertagesstätte und in derSchule endlich als Heranwachsende ernst nimmt und be-teiligt, und zwar nicht durch eine Mini-Playback-Showin der Politik, indem man sie einmal am Jugendparla-ment teilnehmen lässt und ihnen ansonsten sagt: Du bistruhig. Beteiligen heißt, sie ernst zu nehmen und ihnen zusagen, wo sie sich beteiligen können.
Es gibt Dinge, an denen auch ich mich nicht beteiligenkann. Da ist die Möglichkeit meiner Beteiligung schlichtund ergreifend begrenzt. Auch das gehört zum Ernstneh-men. Ich denke, wenn man die Kinder in diesem Bereichwirklich ernst nimmt, dann wird Schule auch anders ge-staltet werden, dann werden sie nämlich als Teil derSchule angesehen und nicht nur als ein Element, in dasWissen hineingetrichtert wird.Ich habe schon gesagt, dass das ein langer Weg ist.Nach 15 Jahren Kinder- und Jugendhilfegesetz stehenwir trotzdem manchmal noch am Anfang. Manche Kom-munalpolitiker glauben immer noch, das sei eine freiwil-lige Leistung und keine Pflichtleistung.
– Ja, es ist leider so.Ich möchte Ihnen deshalb die Schlussfolgerungen indem Bericht gerne kurz vorlesen:Es wird auf allen föderalen Ebenen …– hier haben wir wieder den Föderalismus –und unter Einbeziehung aller wichtigen gesell-schaftlichen Akteure … erheblicher Anstrengungenbedürfen, um gemäß diesen Leitlinien ein Bil-dungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot auf-und auszubauen, so umzugestalten, dass seine Ef-fektivität erhöht wird und dass Kinder und Jugend-liche auf dem Weg des Erwachsenwerdens mit demWissen und Können, mit den Fähigkeiten und Fer-tigkeiten, mit den personalen und sozialen Kompe-tenzen ausgestattet werden, die sie brauchen, damitsie unter den absehbaren Bedingungen künftigerGesellschaften über eine ausreichende Kompetenzzur eigenständigen Lebensführung verfügen.Es wird noch ein weiter Weg sein, bis diese Anforde-rungen erfüllt werden. Ich hoffe, dass alle Beteiligten, obBundestag, ob Landtage, ob Kommunalpolitiker, an ei-nem Strang ziehen und dies im Sinne der Kinder und un-seres Landes gemeinsam umsetzen. Denn die Kindersind nicht nur unsere Zukunft, sondern auch unsere Ge-genwart.Danke schön.
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort der
Kollege Johannes Singhammer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Kinder sind Leben. Kinder sind Liebe. Kinder sinddas Kostbarste und Wichtigste, das unser Land hat. Kin-der wachsen in einer intakten Familie am besten auf.
Der Bericht befasst sich mit der Situation der Kinder.Besorgniserregend ist die Entwicklung der Anzahl derKinder generell. Die Zahl der Kinder in Deutschlandnimmt immer weiter ab. Sind im Jahr 1965 – damals inbeiden Teilen Deutschlands – noch 1,3 Millionen Babysgeboren worden, so haben im letzten Jahr – der Präsidentdes Statistischen Bundesamtes hat vor wenigen Tagendie Zahlen für 2005 bekannt gegeben – nur noch680 000 Kinder das Licht der Welt erblickt. Von den680 000 Kindern hatten 80 000 Kinder nicht die deut-sche Staatsangehörigkeit. Vor kurzem wurde in einerdeutschen Zeitung die Frage gestellt: Was geht denDeutschen eher aus: die Kinder oder das Erdöl? DieFrage ist auch gleich beantwortet worden: die Kinder.In dem Zwölften Kinder- und Jugendbericht wird da-von gesprochen, dass die Kinder des Jahres 2006 und derdarauf folgenden Jahre in einer völlig anderen Gesell-schaft, nämlich in einer alternden Gesellschaft, aufwach-sen, und zwar mit allen ökonomischen, aber auch emo-tionalen Konsequenzen für Kinder. Der „Spiegel“ hat inseinem Leitartikel, aus dem vom Kollegen Dörflingerschon zitiert worden ist, festgestellt – ich zitiere –:Abnehmende Geburtenraten führen zur Vereinze-lung der Kinder in unserer Gesellschaft. Nicht nurdie finanzielle Zukunftssicherung ist davon betrof-fen – ohne Familie verlernt die Gesellschaftschlichtweg die Liebe.Wenn wir aus dem Teufelskreis des Zerfalls familiärerund damit gesellschaftlicher Strukturen in unserem Landherauskommen wollen, dann brauchen wir in Deutsch-land zunächst eines: wieder mehr Kinder. Für diese Kin-der benötigen wir dann optimale Bildung, Betreuungund Erziehung.
Für uns ist die intakte Familie durch nichts zu erset-zen. Wer Familien und Eltern unterstützt, die sich fürKinder entschieden haben, der hilft auch den Kindern.Mit dieser klaren Haltung unterscheiden wir uns von derLinken. Die Linke fordert in ihrem Antrag:... Kinder- und Jugendpolitik darf nicht faktisch derFamilienpolitik nachgeordnet werden.Ich warne davor, einen Gegensatz zwischen Familienund ihren Kindern zu konstruieren. Wer die Familie un-ter dem Deckmäntelchen von Kinderinteressen durchstaatliche Organisationen zurückdrängen oder gar erset-
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Johannes Singhammerzen will, wird auf unseren entschiedenen Widerstandstoßen.
Die Familie ist kein Hort der Unterdrückung oderTriebverleugnung,
sondern der richtige Ort, um Kinder aufwachsen zu las-sen. Wir wollen Elternhaus, Bildung und Betreuung mit-einander verzahnen, sodass Familie und Beruf miteinan-der vereinbar sind, also die Möglichkeit des Lebens mitKindern mit der des Broterwerbs.Ich will noch auf einige Punkte des Kinder- und Ju-gendberichts eingehen. Wir wollen – das ist unser Anlie-gen –, dass vor allem die frühkindliche Entwicklung,insbesondere die Sprachkompetenz, verbessert wird.Deshalb halten wir die Einführung von Sprach- undEntwicklungstests vor der Einschulung für wichtig. Ins-besondere die mangelnden Sprachkenntnisse von Fami-lie mit ausländischem Hintergrund müssen uns besorgtstimmen. Denn wem es in der Schule an Sprachkompe-tenz fehlt, der läuft Gefahr, seinen Abschluss nicht zuschaffen, keinen Ausbildungsplatz zu erhalten und keineMöglichkeit einer beruflichen Karriere eröffnet zu be-kommen. 19,2 Prozent der ausländischen Jugendlichenschaffen keinen Hauptschulabschluss, 40 Prozent stehenohne berufliche Qualifikation da. Diese Zahlen gebenAnlass zur Sorge.Hinsichtlich der Empfehlungen zur Bildung, Betreu-ung und Erziehung im Schulalter liegt unser Hauptanlie-gen bei der Umsetzung eines umfassenden Bildungskon-zepts im Zusammenspiel von Schule, außerschulischenBildungsorten und Elternhaus. Ich möchte ausdrücklichdenen danken, die in dem Bericht erwähnt sind. Ichmöchte insbesondere den Sportvereinen danken, die eingroßes Engagement einbringen,
um Kinder und Jugendliche nicht nur zu betreuen, son-dern auch zu ertüchtigen.Ich hoffe, dass es uns gelingt, die Medienkompetenzzu verstärken. Der Bericht stellt fest – damit wurde einwichtiger Punkt angesprochen –, dass in den letzten Jah-ren bei den etwas älteren Kindern die Dauer des tägli-chen Fernsehkonsums um über eine Stunde zugenom-men hat. Damit sind die Medien zunehmend zu einemweiteren Erziehungsberechtigten geworden – mit allenProblemen, die damit verbunden sind. Ich danke insbe-sondere dem Ministerium und der Ministerin, dass imBericht der Bundesregierung auf alle diese Themen ein-gegangen worden ist und entsprechende Konzepte vor-gestellt worden sind.Manche in unserem Land empfinden Kinder als Be-lastung. Ein Thermalbadbetreiber in Bad Wörishofenlässt Kinder nur noch an bestimmten Tagen und zu be-stimmten Uhrzeiten in sein Bad. Die Begründung: Dieanderen, hauptsächlich älteren Badegäste fühlten sichdurch den Kinderlärm belästigt. Meine sehr verehrtenDamen und Herren, wir wollen keine kinderfreien Zonenin unserem Land.
Wir wollen, dass sich die Kinder willkommen und Elternmit Kindern wohl fühlen, und zwar überall in unseremLand und zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Jürgen Kucharczyk für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DerZwölfte Kinder- und Jugendbericht stellt klar: In unse-rem Land besteht ein deutlicher Nachholbedarf bei Bil-dungs-, Betreuungs- und Erziehungsangeboten. Zu langeund zu einseitig waren die Familie vorrangig für die Be-treuung und Erziehung der Kinder und die Schule für dieBildung verantwortlich. Vor allem durch das Alleiner-nährermodell ließ sich die Halbtagsschule als Regel-schule einigermaßen problemlos realisieren. Nur sokonnten auch die frühkindliche Betreuung und Versor-gung der Kinder privat möglich werden.Heute stellen wir fest: Das Alleinernährermodell istim Laufe der Jahrzehnte brüchig geworden und nichtmehr tragfähig. Unverkennbar haben sich die Rahmen-bedingungen für diesen deutschen Weg folgenreich ver-ändert. So ist die Zahl der Familien – das heißt: Elternmit mindestens einem Kind unter 18 Jahren – seit 1970um rund ein Drittel zurückgegangen. Im selben Zeitraumist aber die Zahl derjenigen, die Eltern sein könnten, ummehr als 10 Prozent gestiegen. Haushalte ohne Kinderziehen schrittweise mit Mehrgenerationenhaushaltengleich. Das heißt im Klartext: Keine andere Lebensformhatte in den letzten Jahrzehnten einen so starken Bedeu-tungsverlust zu verzeichnen wie die Familie bzw. die El-tern-Kind-Gemeinschaften.Vor diesem Hintergrund gilt es Folgendes zu hinter-fragen: Warum kann das unserer Gesellschaft zum Ver-hängnis werden? Ist es richtig, dass der Kindermangeleine Gesellschaft von Egoisten schafft, wie der neueTitel des „Spiegel“ aussagt?Fakt ist – das wissen wir, auch ohne das neue, aber si-cherlich sehr lesenswerte Buch von Schirrmacher zukennen –, dass die Vermittlung von Werten ganz ohneFamilie nicht funktionieren kann. Fakt ist auch, dass un-sere Gesellschaft nicht dabei zuschauen darf, wie derEgoismus über den Gemeinsinn, die Solidarität siegt.Aus diesem Grund ist es logisch, dass wir handeln müs-sen. Wir kommen nicht umhin, eine Infrastruktur fürFamilien zu schaffen, zum Beispiel durch Angebote zurStärkung der elterlichen Erziehungskompetenz. Weiterhin
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1642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
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Jürgen Kucharczykist es unerlässlich, eine bedarfsgerechte und gebühren-freie Kinderbetreuung sicherzustellen. Bildungspro-zesse müssen unter dem Motto „Bildung ist mehr alsSchule, Schule ist mehr als Bildung“ gestaltet werden.Im Zwölften Kinder- und Jugendbericht wird die Situa-tion erkannt und analysiert und werden die notwendigenHandlungsschwerpunkte benannt. Es wird darauf ge-drungen, dass dieses Jahrzehnt zum Jahrzehnt der Kin-der und ihrer Familien werden muss.
Daher ist der Ansatz der jetzigen Koalition richtig, dieRahmenbedingungen für unsere Kinder und Enkelkinderin den Bereichen Betreuung, Erziehung und Bildung zuverbessern und die Angebote auszubauen.Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht macht unsaber auch deutlich, wo die Defizite in unserer Gesell-schaft liegen. Nicht nur die PISA-Studie verteiltschlechte Noten an das deutsche Schulsystem. Vielmehrhat kürzlich auch der UN-Sonderbeauftragte für dasRecht auf Bildung die fehlende Chancengleichheit unddas verschenkte Bildungspotenzial deutlich kritisiert.Die Kommission führt in ihrem Bericht ein erweitertesBildungsverständnis unter Einbeziehung vieler Bil-dungsorte und Lernwelten an. Ich sage: Richtig, dieSchule muss zu einem Ort vielfältiger Anregungen wer-den.
Die Schule in Deutschland muss sich ändern. Nur durchdie Verknüpfung unterschiedlicher Bildungsorte undLernwelten kann uns die Erfüllung der Zielvorgabe einerumfassenden Förderung gelingen. Angefangen von derFamilie über außerschulische Angebote der Kinder- undJugendhilfe, Initiativen der Wirtschaft bis hin zu Schulenmüssen dabei alle beteiligten Akteure ihre vorhandenenRessourcen zur Verfügung stellen.Auch in dem vorliegenden Bericht finden wir gutePraxisbeispiele, die zeigen, wie es gehen kann. So wer-den in Rostock den Schülern nachmittags Kurse für Ke-ramik, Jazzdance oder kreatives Schreiben angeboten.Ich bin mir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, dasssich in Ihren Wahlkreisen bereits die eine oder andereForm der verknüpften Bildungsförderung bewährt. Häu-fig nimmt hierbei der Sportbereich eine Vorreiterrolleein. Und das ist auch gut so. Unsere Aufgabe ist, dieFördernetzwerke auszubauen und institutionell abzu-sichern. Wir müssen das Sozialisations- und Hilfenetz soknüpfen und flechten, dass keine Kinder und Jugendli-chen durchfallen.
Das Ziel, unseren Kindern und Jugendlichen Chan-cengleichheit, die bestmögliche Bildung und damit Zu-kunft zu geben, muss dabei der Motor unserer täglichenpolitischen Arbeit sein. Eines müssen wir alle dabei be-greifen: Betreuung, Erziehung und Bildung müssen sichan den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder und dürfensich nicht an den Grenzen der Institutionen orientieren.Auch wir müssen festgefahrene Denkmuster über Bordwerfen und uns auf das Wagnis des Neuen einlassen. Nurso können starre Strukturen überwunden, überkommeneTraditionen aufgehoben und nicht mehr zeitgemäßeKonzepte und Organisationsformen verabschiedet wer-den. Für mich wird eines durch den vorliegenden Berichtganz deutlich: Das Handeln nach dem Gießkannenprin-zip oder der Einsatz von manchen Feuerwehrtöpfen warund ist der falsche Weg. Ineffektive und kurzfristigeMaßnahmen bringen uns nicht weiter.
Eine nachhaltige Kinder- und Jugendpolitik zu betrei-ben, gelingt uns nur dann, wenn wir diese als gesamtge-sellschaftliche Querschnittspolitik erkennen, die fürdas Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen wichtigist. Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Parameter be-nennen. Geschlechterpolitisch muss die einseitige Bin-dung der Frauen an Haushalt und Kindererziehung über-wunden werden. Familienpolitisch muss die Balancevon Beruf und Familie noch weiter verbessert werden.Arbeitsmarktpolitisch muss jedem Jugendlichen der Zu-gang zu Ausbildung und Beruf ermöglicht werden.
Sozialpolitisch muss der inakzeptable Teufelskreis ausEinkommensarmut, Kinderarmut und Bildungsarmutdurchbrochen werden. Bildungspolitisch müssen die bis-lang ungenutzten Lern- und Bildungspotenziale vor undneben der herkömmlichen Halbtagsschule verstärkt ein-bezogen und besser ausgeschöpft werden. Kinder- undjugendpolitisch müssen Kinder und Jugendliche ein be-darfs- und sachgerechtes Angebot an Lern-, Bildungs-und Entfaltungsmöglichkeiten erhalten, das sie auf ihreberufliche und private Zukunft angemessen vorbereitet.Umso erstaunlicher und ärgerlicher ist, wie das LandNordrhein-Westfalen zurzeit diese Querschnittsauf-gabe versteht, nämlich als Einschnittspolitik.
Einen schwarz-gelben Kahlschlag in der Kinder- und Ju-gendpolitik, der Eltern verunsichert, Kommunen inZwangslagen und Jugendverbände auf die Barrikadenbringt, nenne ich unsozial und nicht zukunftsgerecht.Die Landesregierung in Düsseldorf ist nicht auf derHöhe der Zeit. Familienminister Laschet sollte lieberden Zwölften Kinder- und Jugendbericht aufmerksam le-sen. Dann wird auch er erkennen, dass seine Vorschlägekeine langfristige Perspektive für unser Land sein kön-nen.
Wir müssen in den nächsten Jahren die notwendigenEntwicklungen konsequent vorantreiben.
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Jürgen KucharczykGut ist, dass wir dabei auf die erfolgreiche Kinder- undJugendpolitik der Vorgängerregierung bauen können. Siehat mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz den Grund-stein für eine gute und bedarfsgerechte Kinderbetreuungfür die unter Dreijährigen gelegt. Das Ganztagsschulpro-gramm sorgt für gleiche Zukunftschancen für jedesKind. Unter dem Dach der „Allianz für Familie“ hat diealte Bundesregierung Initiativen gebündelt, damit einegute Balance von Familie und Beruf gelingen kann. Esgibt noch etliche Punkte, die ich hier nennen könnte.Die neue Bundesregierung setzt den erfolgreich ein-geschlagenen Weg fort. Die Anträge des Bündnisses 90/Die Grünen und der Linkspartei bestätigen dies. DerAusbau einer quantitativ und qualitativ hochwertigenKinderbetreuung wird vorangebracht. Von der Regelungzur steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungs-kosten profitieren vor allem
Alleinerziehende und Geringverdiener. Wir werden un-ser langfristiges Ziel, die Gebührenfreiheit von Kinder-betreuungsplätzen, intensiv weiter verfolgen. Dies kön-nen wir jedoch nur im Zusammenspiel mit Ländern undKommunen erreichen. Bringen wir gemeinsam die not-wendigen Maßnahmen und Prozesse auf den Weg! Las-sen wir uns dabei von dem Nationalen Aktionsplan „Fürein kindergerechtes Deutschland“ und von den Empfeh-lungen des Zwölften Kinder- und Jugendberichts leiten!Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 15/6014 und 16/817 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Der Entschließungsantrag auf der Drucksache 16/827soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf derDrucksache 15/6014 überwiesen werden. – Damit sindSie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatz-punkte 2 und 3 auf:4 Beratung des Antrags der Abgeordneten IrmingardSchewe-Gerigk, Renate Künast, MatthiasBerninger, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENGleichstellung auf dem Arbeitsmarkt verwirk-lichen – Innovationshemmnis Männerdomi-nanz beenden– Drucksache 16/712 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten InaLenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPFrauenpolitik – Gesellschaftlicher Erfolgsfak-tor– Drucksache 16/832 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten KarinBinder, Dr. Lothar Bisky, Diana Golze, weitererAbgeordneter und der Fraktion der LINKENGleichstellungsgebot des Grundgesetzes aufdem Arbeitsmarkt durchsetzen– Drucksache 16/833 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesInterfraktionell wurde verabredet, darüber eineinhalbStunden zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kol-legin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Internationale Frauentag ist nach wie vor hochak-tuell. So feierte ihn gestern sogar die größte Boulevard-zeitung mit einer blanke-Busen-freien Ausgabe undohne Telefonsexanzeigen. Selbst „Bild“ wollte gesterneine Frau sein.Aber weg vom Boulevard. Der 8. März bietet in derTat einen guten Anlass, um über den Stand der Gleichbe-rechtigung zu sprechen. Da gibt es viel Licht, aber auchviel Schatten. Auf der einen Seite haben junge Frauen inallen Altersstufen und Schulformen bessere Abschlüsseals Männer, mehr junge Frauen als Männer legen dasAbitur ab, Frauen bilden die Mehrheit der Studierenden;aber auf der anderen Seite spiegeln sich diese hervorra-genden Qualifikationen der Frauen im Arbeitslebennicht wider. Nehmen wir zum Beispiel die Bezahlung.Hier spielt das weibliche Geschlecht immer noch eineentscheidende, nämlich negative Rolle. Frauen verdie-nen in Deutschland durchschnittlich 23 Prozent wenigerals Männer.
Größer ist der Lohnunterschied EU-weit nur noch inEstland und in der Slowakei, Frau Kollegin Lenke.
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Irmingard Schewe-GerigkDass im 21. Jahrhundert ein Rechtsberater fast1 000 Euro mehr verdient als eine Rechtsberaterin, istein Armutszeugnis für unsere Demokratie.
Was die Anzahl von Frauen in Führungspositionenbetrifft, gehört Deutschland ebenfalls zu den Schluss-lichtern im Vergleich mit anderen Industrienationen.Führungspositionen in großen deutschen Unternehmensind gerade einmal zu 4 Prozent mit Frauen besetzt. Dasist einfach zu wenig für eine moderne Wirtschaftsnation.
Das, was mich wütend macht – leider ist Frau von derLeyen nicht da –, ist, dass Frau von der Leyen hier im-mer nur ein Vereinbarkeitsproblem sieht. Sie wünschtsich – ich zitiere aus ihrer Pressemitteilung – „dass künf-tig deutlich mehr Frauen mit Kindern der Sprung insTopmanagement gelingt“. Wohl wahr, allerdings scheintmir diese Ansicht doch das eigentliche Problem auszu-blenden; denn in den 30 DAX-Unternehmen finden wirnahezu keine Frau unter den 200 Vorstandsmitgliedern,weder mit Kindern noch ohne Kinder. Eine oder aucheinmal zwei Frauen werden als großer Erfolg gefeiert.So werden 70 Prozent aller Betriebe ausschließlich vonMännern geführt. Frauen gelangen in Deutschland ge-rade einmal in die Vorzimmer der Macht. Die Männer-dominanz in den Spitzenpositionen ist nicht nur ein Ge-rechtigkeitsproblem, sondern sie stellt auch – ich schauezur FDP – den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landesinfrage.
Wieso kann sich eigentlich nur die deutsche Wirt-schaft leisten, auf die Potenziale und Fähigkeiten vonFrauen, vor allem was Entscheidungspositionen angeht,zu verzichten? Warum werden Frauen erst hoch qualifi-ziert, ohne dass sie danach adäquate Arbeitsplätze fin-den? In anderen Ländern weiß man, dass eine große An-zahl erwerbstätiger Frauen auch zu vielen neuen Jobs,zum Beispiel im Dienstleistungsbereich, führt. Das sollteeigentlich den Wirtschaftsminister und die Frauenminis-terin auf den Plan rufen. Vom Wirtschaftsminister habenwir nichts gehört. Die Frauenministerin ist ganz gelas-sen. Sie sagt: Frauen rücken doch auf; jede Vierte istschon in einer Führungsposition. Sie verschweigt aller-dings, dass sie sich auf eine Studie bezieht, in der auchKleinstbetriebe untersucht wurden. Nach dieser Studiegilt die Filialleiterin einer chemischen Reinigung mit ei-ner Angestellten als Führungskraft. So kann Frau sichdie Welt wirklich schönreden.
Ministerin von der Leyen, die sich für Frauen nurdann zuständig fühlt, sofern sie Mütter sind, sagt aberauch: Eine Kanzlerin reicht; wir brauchen keine Gleich-stellungsgesetze. Sie hält sie sogar für kontraproduktiv.Dabei sollte ihr das Beispiel Norwegen zu denken ge-ben. 2003 hat Norwegen versucht, mit einer freiwilligenVereinbarung mehr Frauen in Aufsichtsräte von Aktien-gesellschaften zu bringen. Das war ein Flop – ebensowie die freiwillige Vereinbarung in Deutschland mit denSpitzenverbänden und der Bundesregierung. Nun gibt esseit Januar in Norwegen ein Gesetz, das vorsieht, dassder Frauenanteil bis Ende 2007 bei 40 Prozent liegenmuss; anderenfalls droht die Auflösung der Aufsichts-räte. So viel Mut würde ich uns auch einmal wünschen.
– Sehr gut, jetzt klatscht sogar die SPD. Das ist toll.Dabei ist eines interessant: Dieses Gesetz wurde nichtvon einer Feministin eingebracht, sondern vom konser-vativen Wirtschaftsminister Gabrielsen, der kritisierte,dass zu viel Wissenspotenzial und Innovation verlorenginge, wenn Frauen ausgeschlossen werden.Im Übrigen ist der Minister zutiefst davon überzeugt,dass viele der internationalen Firmenskandale der letztenJahre nicht passiert wären, wenn in den Aufsichtsrätenstatt der – jetzt zitiere ich den Minister – „Raffgier derMänner in den 50ern vielfältigere Interessen dominierthätten“.
– Ja, das kann man eigentlich gar nicht mehr kommen-tieren. – In der Tat stellt auch in Deutschland die Män-nerdominanz in den Führungsetagen ein unglaublichesInnovationshemmnis dar.
Ich wage die Behauptung, dass es einen Zusammen-hang zwischen der schlechten wirtschaftlichen Entwick-lung, der hohen Arbeitslosigkeit und der Männerdomi-nanz in den Spitzengremien der Wirtschaft gibt. Bei derFrage, warum Frauen trotz bester Qualifikation nicht indie Toppositionen kommen, stößt man auf sehr provoka-tive Thesen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.Die erste These ist: Männer haben Angst vor mächti-gen Frauen. Salman Rushdie geht sogar so weit, dieAngst islamischer Männer vor der weiblichen Sexualitätals eine Ursache für den Terrorismus anzusehen.Zweite These. Männer wollen unter sich bleiben.Gleichberechtigte Frauen sind da eher Fremdkörper oderauch Spielverderberinnen. VW mit seinem reinen Män-nervorstand ist eigentlich das beste Beispiel dafür. Wasda vor einigen Monaten öffentlich wurde, war sicherlichnur die Spitze des Eisberges.
Nach gelungenen Abschlüssen gönnten sich die Herrensexuelle Dienstleistungen auf Firmenkosten. Klar, dawürden Vorstandsfrauen nur stören. Herr Hartz hatte beiseinen Vorschlägen zur Arbeitsmarktreform die Halbie-rung der Zahl der Arbeitslosen angekündigt. Das ist ihmnicht gelungen. Um den Erhalt der Arbeitsplätze in der
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Irmingard Schewe-GerigkSexindustrie hat er sich aber offensichtlich verdient ge-macht.
Die Sammelklage der sechs US-Managerinnen gegeneine zum Allianzkonzern gehörende Bank wegen syste-matischer Diskriminierung zeigt den richtigen Weg auf:Frauen brauchen Rechte. Darum ist es dringend notwen-dig, dass das Antidiskriminierungsgesetz schleunigstverabschiedet wird.
Aber das reicht nicht aus. Es gibt nicht die eine Maß-nahme oder das eine Gesetz, wodurch die Gleichstellungauf dem Arbeitsmarkt erreicht werden kann. Hier müs-sen viele Maßnahmen zusammenwirken. Aus dem um-fangreichen Forderungskatalog unseres Antrages stelleich Ihnen einige wesentliche Forderungen vor:Die Bundesregierung muss aufgrund der Analysen,die sie ja teilt, endlich ein Programm zur Gleichstellungvon Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt aufle-gen. Wir brauchen endlich gesetzliche Regelungen zurUmsetzung der Chancengleichheit in der Wirtschaft.Aber daneben wollen wir auch Anreize geben. Die öf-fentliche Auftragsvergabe soll daran gekoppelt werden,dass Unternehmen Maßnahmen zur Gleichstellung er-greifen. Ein gutes Vorbild für Frauenförderung in derWirtschaft sind die USA. Auch dort hat nicht der Gleich-heitssatz der Verfassung die Frauen vorangebracht. Eswaren vielmehr zum einen die zur Ausführung der Ver-fassung verabschiedeten Anreizsysteme und zum ande-ren der Mut, auch vor gesetzlichen Regelungen undSanktionen nicht zurückzuschrecken.Aber zurück zu Deutschland. Damit Frauen endlichden gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit erhalten,müssen alle Tarifverträge untersucht und neu bewertetwerden.
Die Tarifverträge für den öffentlichen Dienst solltenhierbei ein erster Ansatzpunkt sein.
Das Ehegattensplitting hat sich vielfach als Hinder-nis für Ehefrauen erwiesen, eine Erwerbstätigkeit aufzu-nehmen. Da sagt der Ehemann: Das lohnt sich eigentlichgar nicht. Ich bekomme doch 9 000 Euro Steuervergüns-tigung.
Wir wollen daher eine Individualbesteuerung, damitFrauen auf ihrer Gehaltsabrechnung sehen, was sie wirk-lich verdienen.Viele erwerbslose Frauen werden durch die Hartz-IV-Regelungen nach wie vor benachteiligt. Auch diesist nicht neu. Das haben wir als Grüne schon währendunserer Regierungszeit immer wieder mahnend ange-merkt. Diese Frauen haben aufgrund der Anrechnungdes Partnereinkommens nicht nur keine Einnahmen,sondern auch keinen Anspruch auf Fördermaßnahmender Arbeitsagentur. An dieser Stelle muss eine Klarstel-lung im SGB II vorgenommen werden.Die Bundesregierung muss diese Maßnahmen zügigumsetzen. Es ist wirklich schade, dass die Ministerinnicht hier ist. Ich hätte sie gern selbst angesprochen. DieMinisterin sollte die Frauenfrage nicht auf die Frage derVereinbarkeit von Familie und Beruf reduzieren; denn esgeht um viel mehr. Es geht um eine grundlegende Ver-änderung der Geschlechterverhältnisse und damit umdie Veränderung eines wesentlichen Grundprinzips unse-rer Gesellschaft. Die Frauen haben einen langen Verän-derungsprozess hinter sich. Nun sind die Männer amZug. Die gesetzlichen Voraussetzungen – ich nenne nurdie Elternzeit – haben wir unter Rot-Grün geschaffen.Inzwischen gibt es auch viele verbal aufgeschlosseneMänner, aber den Worten müssen jetzt auch Taten fol-gen.
Sowohl die Linke als auch die FDP haben Anträge indie Debatte eingebracht. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der Linksfraktion, ich freue mich darüber, dassunser Antrag Sie so inspiriert hat. Viele Analysen undForderungen sind wortwörtlich mit denen unseres An-trags identisch.Was von der FDP kommt, finde ich immer sehr über-raschend. Sie stehen wie so oft vor einem Problem. Siesehen zwar die Diskriminierung der Frauen, meinenaber, dass Leistung allein reicht, um sich durchzusetzen.
– Natürlich, so steht es in Ihrem Antrag! – Ich habe vor-hin gesagt – Sie haben es gehört –, wie qualifiziert dieFrauen sind. Demnach müssten sie an der Spitze sein.Das ist aber nicht so. Sie scheuen gesetzliche Regelun-gen wie die Teufelin das Weihwasser. Diesen Wider-spruch versuchen Sie zu verdecken, indem Sie sagen,dass die Regelungsdichte am Arbeitsmarkt abgebautwerden müsste. Von Ihnen wird immer wieder behaup-tet, eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes würde aus-reichen.
Ich stelle Ihnen einmal die Frage: Wie soll sich denneine Frau in einem völlig ungesicherten Arbeitsverhält-nis beispielsweise für ein Kind entscheiden?
Sie sehen, Frau Kollegin Lenke: Ideologie hilft hiernicht weiter.
Ich hätte mich gern mit den Vorstellungen der großenKoalition auseinander gesetzt. Aber offensichtlich sehen
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1646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
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Irmingard Schewe-GerigkSie, verehrte Kollegen und Kolleginnen der CDU/CSUund der SPD, überhaupt keinen Handlungsbedarf.
Ich finde, das sollten die Frauen in diesem Land wissen.Sie sollten wissen, dass von Ihnen keine Vorschläge ge-macht werden und dass Ihres Erachtens keine Regelun-gen notwendig sind, um die desaströse Situation vonFrauen, die sehr gut ausgebildet sind, dann aber nicht aufentsprechende Arbeitsplätze kommen, zu verbessern.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ichhätte von Ihnen wirklich mehr erwartet. Ich finde schon,dass das ein Armutszeugnis ist. Vielleicht wird die De-batte in den Ausschüssen das Ganze noch etwas mehraufhellen.Da sich die Union vollauf damit beschäftigt, untergroßen Querelen ihr Familienbild zu entstauben, seheich ein, dass von da nichts zu erwarten ist, wobei eineMinisterin, die einen kompletten Teil ihres ja nicht son-derlich großen Ressorts einfach vernachlässigt, im bes-ten Fall als ignorant zu bezeichnen wäre.
Meine Damen und Herren, wir brauchen in diesemLand deutlich mehr Anstrengungen, um Antworten aufdie Geschlechterfrage im 21. Jahrhundert zu finden.Ich danke Ihnen.
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe, er-
teile ich das Wort zur Geschäftsordnung. Herr Beck,
bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei die-
ser Debatte über die Frauenpolitik ist merkwürdiger-
weise die Frauenministerin nicht anwesend. Ich bean-
trage namens der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen die Herbeizitierung der Frauenministerin. Ich
finde, es zeugt von Respektlosigkeit gegenüber dem Par-
lament, dass sie draußen Interviews gibt, während hier
eine Debatte zu einem wichtigen Bereich ihres Ressorts
stattfindet.
Wird zu diesem Antrag das Wort gewünscht? – Das
ist nicht der Fall. Dann lasse ich darüber abstimmen.
Wer tritt dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen bei? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Wir sind uns hier nicht einig. Deshalb wiederhole ich die
Abstimmung.
Wer dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen beitreten will, den bitte ich um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Mehrheit
stimmt eindeutig für den Antrag. Damit ist die Ministe-
rin herbeizuzitieren.
Die Sitzung ist unterbrochen, bis die Ministerin ein-
trifft.
Wir setzen die Debatte fort.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich zu ihren
Plätzen zu begeben, und gebe das Wort der Kollegin
Dr. Eva Möllring, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen er-freut uns heute mit einer besonders kämpferischen Zeile,die irgendwie nostalgische Erinnerungen an ihre frühenJahre weckt. Sie heißt: „Innovationshemmnis Männer-dominanz beenden.“Als ich Ihre Fraktion vorhin bei dem Beitrag IhrerKollegin gesehen habe, konnte ich feststellen, dass siegerade einmal zwei Männer bei dieser Debatte aufzuwei-sen hatte.
Jetzt, Herr Beck, nachdem es um Sieg oder Niederlagebei der Abstimmung ging, sind natürlich – ganz zufäl-lig – mehr Männer Ihrer Fraktion im Saal anwesend.
– Ich provoziere überhaupt nicht, Herr Beck. Ich geheauf die Fakten ein, die Sie selber geschaffen haben.
Ob Sie aber Ihre Innovationskraft nun gerade dadurchbeweisen, indem Sie heute gesetzliche Gleichstellungs-regelungen für die Privatwirtschaft fordern, wage ich zubezweifeln. Denn Ihre Forderung stammt aus demKoalitionsvertrag von 1998.
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Dr. Eva Möllring
Diese haben Sie heute aufgewärmt. Im Laufe der siebenFolgejahre haben Sie dann 2001 diese Forderung in einefreiwillige Vereinbarung umgewandelt.
Seitdem ruht still der See.Kämpferisch Extremforderungen zu stellen ist einfa-cher in der Opposition. Aber dieses Problem ist zu ernst,als dass man es durch martialische Forderungen noch insLächerliche ziehen sollte.
Verschiedene Studien belegen auch für das Jahr 2005,dass Frauen im Erwerbsleben ein deutlich geringeresEinkommen und weniger Chancen haben als Männer.Es muss uns alle aufschrecken, wenn Frauen, die Voll-zeit arbeiten, in Westdeutschland durchschnittlich23 Prozent – dies ist der Spitzenwert – weniger verdie-nen als Männer. Als Gesetzgeber sind wir allein schonaufgrund der Maßgabe unseres Grundgesetzes, aberauch aus innerem Gerechtigkeitsempfinden aufgerufen,die Ursachen für diesen Befund festzustellen und gegen-zusteuern.Die Problematik hat ja Geschichte. Man muss derEhrlichkeit halber darauf hinweisen, dass in den letztenJahren viele Maßnahmen und Initiativen gestartet wur-den, um hier voranzukommen. Das hat dazu geführt,dass sich der Abstand zwischen dem Einkommen vonFrauen und demjenigen von Männern um einige Pro-zentpunkte verringert hat, aber eben nicht in dem Maße,dass wir uns zufrieden zurücklehnen könnten. Manch ei-ner sagt vielleicht auch heute noch – oder er denkt es –:Muss das denn überhaupt sein? Meine Frau ist ganz zu-frieden, ohne groß Geld zu verdienen, und das könnendoch auch andere sein.Was es bedeutet, auf Unterhalt angewiesen zu sein,keine vernünftige eigene Rente zu erwarten und in derArbeitswelt an untergeordneter Stelle hängen zu bleiben,kann man wohl nur beurteilen, wenn man es persönlicherlebt. Wenige protestieren laut; aber viele Frauen erle-ben es. Deswegen setzen wir als CDU/CSU uns dafürein, hier im Sinne der Frauen Fortschritte zu machen.Wir haben das im Koalitionsvertrag in mehreren Kapi-teln festgelegt.
Dazu gehört: Wir brauchen heute – und morgen nochviel mehr – gut ausgebildete Frauen auf dem Arbeits-markt als Fachkräfte. Nur die Nutzung von männlicherund weiblicher Qualifikation wird uns optimal nachvorne bringen. Deshalb werden wir uns dafür einsetzen,dass Frauen die gleichen Chancen und Rechte auf demArbeitsmarkt erhalten wie Männer.Die Frage ist nun: Was sind die Ursachen für dieseeklatanten Einkommensunterschiede und wie kannman dem am besten entgegenwirken? Neben vielen ein-zelnen Gründen springen besonders zwei ins Auge:Erstens, die Konzentration der jungen Frauen auf Be-rufe, die geringes Ansehen haben und in denen eineschlechtere Bezahlung erfolgt als in anderen, oder, an-ders gesagt, die schlechte Bezahlung in Berufen, die vorallem von Frauen gewählt werden. Da brauchen wir dengezielten Einsatz der Tarifparteien.Der Girls’ Day war ein Anfang und ist wohl die be-kannteste von zahlreichen Maßnahmen, um Frauen fürlukrativere Berufe in anderen Feldern zu öffnen. DiesesZiel müssen wir konsequent weiterverfolgen, währendwir gleichzeitig Jungen für all das fit machen sollten,was nicht so in ihrem Blickfeld liegt. Da sind sich wohlalle Parteien einig.Zweitens. Der entscheidende Grund für das geringereEinkommen der Frauen ist zweifellos die Familien-arbeit. Andersherum gesagt: Männer verdienen mehr alsFrauen, weil sie eben meist keine Familienarbeit leisten.Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass Frauen oftaus dem Beruf aussteigen, sondern nur, dass sie sichnicht in gleicher Weise beruflich fortentwickeln könnenwie ihre männlichen Kollegen. Bis zum 30. Lebensjahrsind Frauen nämlich zu 43 Prozent an Führungspositio-nen beteiligt. Danach bricht der Anteil auf 30 Prozentein und sinkt kontinuierlich auf 20 Prozent ab. Bei zweiDritteln der Frauen in Führungspositionen leben keineKinder unter 18 Jahren im Haushalt. Nur 9 Prozent die-ser Frauen haben überhaupt mehrere Kinder.Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt: DiesesProblem werden wir nur überwinden, wenn wir unsereDenkschemata völlig ausplündern und umstellen. Das istkein Spruch; denn das ist das Schwierigste an der ganzenSache. Das Wichtigste ist, erst einmal zu erkennen, dassdie Vereinbarkeit von Familie und Beruf uns alle angehtund der Konflikt von uns allen zu lösen ist und nicht spe-ziell allein von der Frau, die gerade betroffen ist.
Dazu muss erst einmal zugelassen sein, dass man amArbeitsplatz das Thema Familie überhaupt offen anspre-chen kann. Bislang ist das ja ein Tabu. Zugelassen sindFotos auf dem Schreibtisch und die Erwähnung guterSchulabschlüsse der Kinder. Aber die Änderung der Ar-beitszeit, um zu Hause Kindergeburtstag zu feiern, giltals albern und unprofessionell.Das liegt auch nicht zuletzt daran, dass Väter diesenTeil des Lebens oft von sich weisen. Die Empörung da-rüber, dass Väter gegen gutes Entgelt ganze zwei Mo-nate ihres Lebens ihr Kind erziehen könnten, zeigt deut-lich, dass Familienarbeit ein erschreckend geringesAnsehen hat.
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1648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
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Dr. Eva MöllringDeshalb müssen wir jetzt diejenigen Väter stärken undunterstützen, die bereit sind, sich partnerschaftlich undfamilienbewusst zu entwickeln. Wir werden ohne aktiveVäter nicht weiterkommen. Davon bin ich überzeugt.
Wir machen also mit dem Elterngeld einen mutigen,doppelten Schritt nach vorn, indem wir Anreize fürFrauen und gleichzeitig für Männer schaffen, sich fürKinder und Beruf zu entscheiden. Die Kinderbetreu-ungsmöglichkeiten in Deutschland müssen erweitertwerden. Es gibt jetzt hoffnungsvolle Modelle flexiblerBetreuung, die wir auf allen politischen Ebenen positivbegleiten und stärken müssen. Das ist einfacher gesagtals getan. Ich war lange Jahre in der Kommunalpolitikund weiß, was das in Bezug auf die Räte und Kreistagebedeutet.Als Nächstes werden wir ein anteiliges Steuersystemeinführen, das wir im Koalitionsvertrag vorgesehen ha-ben. Damit soll erreicht werden, dass auch verheirateteFrauen Berufstätigkeit nicht als unattraktiv empfinden.Übrigens, Frau Schewe-Gerigk, die Elternzeit istnicht von Rot-Grün, sondern unter einer CDU-geführtenRegierung eingeführt worden. Das möchte ich nur in Er-innerung rufen.
Fort- und Weiterbildung ist nach meiner Überzeu-gung ein ganz wichtiger Schlüssel. Deswegen möchteich den unter Nr. 7 des Antrages der Grünen formulier-ten Vorschlag gern aufgreifen, dem ich durchaus zustim-men kann. Er ist aber etwas zu kurz gegriffen. Der För-deranspruch muss vielmehr für alle Frauen gelten, diekeinen Arbeitsplatz haben und gleichwohl keine Leis-tungen der BA beziehen. Darauf könnten wir uns eini-gen.Vor allem ist es notwendig, immer wieder auf Be-triebe und Unternehmen zuzugehen, damit sie alle Mög-lichkeiten schaffen, mit denen sie die besonderen Quali-täten von Frauen erkennen und fördern und gleichzeitigFamilienarbeit anerkennen können. Viele Betriebe habenja schon hervorragende Initiativen gestartet, die ich hiergar nicht aufzählen kann. Diese müssen wir weiter tra-gen. Ich glaube, es ist ein guter und erfolgreicher Weg,wenn Frauen in Betrieben, zum Beispiel durch Coa-ching, persönlich gefördert werden und wenn der Be-trieb davon überzeugt ist, dass das eine gute Sache ist.Daneben erwarte ich von der Offensive „Familien-freundliche Arbeitswelt“, die wir beschlossen haben, zu-sätzliche Impulse. Ich könnte mir zum Beispiel auchvorstellen, dass ein Unternehmen anbieten könnte, beiVerzicht auf einen Dienstwagen eine Haushaltshilfe zuengagieren. So viel zu den Denkschemata.
Statt Verpflichtungen und Sanktionen, die die Frauenwomöglich noch Arbeitsplätze kosten, brauchen wirEinsichten und zahlreiche unterschiedliche Strategien,um voranzukommen. Die Frauen laufen nicht mit Trans-parenten und Flüstertüten durch die Straßen. Sie ent-scheiden sich leise: Jede Dritte arbeitet in einem Betrieb,der Frauen ausdrücklich fördert – oder die Frauen ver-zichten eben auf Kinder.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKollegen und Kolleginnen! „Weiblich, qualifiziert, be-nachteiligt“ – so lautete der Titel einer überregionalenTageszeitung, der die Situation von Frauen auf dem Ar-beitsmarkt treffend beschreibt. Art. 3 Abs. 2 Grundge-setz verpflichtet den Staat, die tatsächliche Durchsetzungder Gleichberechtigung zu fördern und aktiv auf die Be-seitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Die hoheArbeitslosigkeit – über 5 Millionen Menschen sind ar-beitslos – hat die strukturell schlechte Situation vonFrauen auf dem Arbeitsmarkt verstärkt. Mit den rot-grü-nen Hartz-Gesetzen ist das klassische Modell des männ-lichen Familienernährers und einer von ihm finanziellabhängigen Ehefrau oder Partnerin verfestigt worden,und zwar mit tatkräftiger Unterstützung der Grünen.
Besonders Frauen aus den neuen Bundesländern empfin-den das als starke Diskriminierung. Immer wenn ich indie neuen Bundesländer komme, gibt man mir es alsAuftrag mit auf den Weg, dies im Bundestag anzuspre-chen.Nun haben die Grünen heute einen Antrag mit demTitel „Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt verwirkli-chen“ eingebracht, und das nach sieben Jahren Regie-rungstätigkeit. Sie hatten doch Gelegenheit, in der rot-grünen Koalition Politik zugunsten von Frauen zu ge-stalten.
Stattdessen ist in Ihrer Regierungszeit die Arbeitslosig-keit gestiegen, auch die Arbeitslosigkeit von Frauen.
– Diese Zahlen können Sie doch nicht in Abrede stellen.
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Ina LenkeWenn Sie jetzt in Ihrem Antrag wieder die Keule ei-nes Gleichstellungsgesetzes für die Wirtschaft herausho-len,
wenn Sie wieder Ihre Idee der Bevorzugung von Unter-nehmen bei öffentlichen Aufträgen als Forderung an dieRegierung richten, dann sage ich Ihnen: Mit diesen altenRezepten, Herr Beck, wird der Arbeitsmarkt nicht ge-sunden.
Dieser Meinung sind wir. Wir haben andere Rezepte.
Auf demselben Holzweg ist die große Koalition. Siewird die Mehrwertsteuer erhöhen und die Konjunkturabwürgen. Auch die Konzepte der CDU/CSU, die daskonservative Familienbild
des allein verdienenden Ehemannes pflegt, tragen nichtdazu bei, Frauen zu ermutigen, ihre berufliche Qualifika-tion auf dem Arbeitsmarkt anzubieten.
Herr Dr. Kues, Sie mögen vielleicht ein anderes Fa-milienbild haben, aber einer Pressemitteilung der JungenGruppe der CDU/CSU-Fraktion konnte ich entnehmen,dass man dort dafür ist, das traditionelle Familienbildweiter zu pflegen. Deshalb führe ich das hier aus. WennSie eine Einzelmeinung in der CDU/CSU vertreten,dann sollten Sie als Staatssekretär dafür sorgen, dass esin Ihrer Fraktion besser wird.
Wir alle wissen, dass Frauen durch Familienpflichtenim Wettbewerb um einen Arbeitsplatz besonders be-nachteiligt sind. Allein der Verdacht, die Bewerberinkönnte Mutter werden, reicht aus, um einen Job nicht zubekommen. Diese Diskriminierung auf dem Arbeits-markt – darüber sind wir uns Gott sei Dank über alleFraktionsgrenzen hinweg einig – kann nur durch verläss-liche Angebote für eine bedarfsgerechte hochwertigeKinderbetreuung beseitigt werden.Ich komme noch einmal auf Sachsen-Anhalt zurück,das wir letzte Woche besucht haben. In Sachsen-Anhalthat die Regierung, an der die FDP beteiligt ist, etwasganz Besonderes geleistet. Dort gibt es einen Rechtsan-spruch für berufstätige Alleinerziehende und berufstä-tige Eltern auf Kinderbetreuung vor der Einschulung vonbis zu zehn Stunden täglich. Das finde ich sehr vorbild-lich.
– Ihren Einwurf kann ich aus Zeitgründen nicht weiterbeachten. Stellen Sie eine Frage, dann können wir unsdarüber unterhalten.Auch die Arbeitgeber sind nicht ganz unschuldig.Viele Arbeitgeber haben bei Bewerbungen von Männernund Frauen nicht die Qualifikation als Erstes im Auge,sondern treffen die Auswahl nach Geschlecht.
Das ist nicht in Ordnung. Noch heute werden junge Vä-ter, wenn sie Elternzeit in Anspruch nehmen, nicht ernstgenommen. Eine Kollegin von der CDU hat gerade denParadigmenwechsel bei den Vätern angesprochen. Die-ser Paradigmenwechsel hat bei den jungen Vätern be-reits stattgefunden. Ihn müssen wir politisch unterstüt-zen.Deshalb erwartet die FDP von Ihnen als Bundes-ministerin, Frau von der Leyen, ein umfassendes undnachhaltiges Konzept zur Unterstützung berufstätigerMütter und Väter. Unsere Forderung an Sie ist – wieschon seinerzeit an die Familienministerin der rot-grü-nen Koalition –: Wir wollen keine leeren Schlagworte!Das Elterngeld, das Sie versprechen und über das Sielandauf, landab diskutieren, ist bisher nur eine leereHülle.
Auf Nachfrage der FDP musste die Bundesregierung– Sie können gern die Antwort der Bundesregierungnachlesen – kleinlaut einräumen, dass sie beim Eltern-geld bisher kein Konzept, sondern nur Eckpunkte hat.
Auch jetzt noch fehlt es in den Firmen und im öffentli-chen Dienst an Einsicht, dass zum Beispiel GenderMainstreaming Teil einer modernen Personalpolitikund Innovations- und Erfolgsfaktor einer Organisationist. Dass die traditionelle Frauenförderung vom GenderMainstreaming abgelöst wurde, ist in der Wirtschaft wiein der Politik bei den Führungsebenen noch nicht ange-kommen.
Die Wirtschaft handelt meines Erachtens sehr kurzsich-tig, wenn sie Frauen vor der Tür stehen lässt.Die Bertelsmann-Stiftung hat diese Woche eine Stu-die veröffentlicht, die deutlich aufzeigt, dass deutscheUnternehmen das Leistungs- und Kreativpotenzial vonFrauen noch nicht erkannt haben. Durch die demografi-sche Entwicklung unserer Gesellschaft – das wissenwir – werden die Unternehmen die Nase vorn haben, diejetzt Männer und Frauen einstellen.
Wir Liberale bringen heute einen Antrag ein, in demdie Bundesregierung unter anderem aufgefordert wird,Fehlanreize im Steuer- und Transfersystem, wie zumBeispiel die Steuerklasse V, zu beseitigen, Schwächen in
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Ina Lenkeder Arbeitsvermittlung und in der Arbeitsmarktpolitik zubeheben, die hohe Regulierungsdichte am Arbeitsmarktabzubauen und die Existenzgründungsförderung fürFrauen konsequent fortzusetzen und im Rahmen beste-hender Programme zielgruppengerecht auszugestalten.Wer Existenzgründerinnen besucht, der hört stets dieKlage, dass Sparkassen und Banken keine Kredite gebenwollen. Dabei wird gerade dort das Hohelied auf Exis-tenzgründungsförderung für Frauen gesungen. Insoferngibt es also eine große Diskrepanz.Wir wollen, dass die Bundesregierung zusammen mitden Ländern in den Schulen und im Berufsbildungssys-tem unternehmerisches Denken bei Mädchen und Frauenstärker fördert. Die Berufswahl von jungen Frauen sollin den Fokus gestellt werden. Wir brauchen mehr Frauenin männerdominierten Tätigkeiten. Denn diese sind bes-ser vergütet. Über 55 Prozent aller erwerbstätigenFrauen arbeiten in nur 20 Berufen. Das sollte uns zu den-ken geben. Deshalb sollten wir im Bundestag auch dieEigenverantwortung und Eigeninitiative von Frauen an-sprechen. Ich finde, dass das sehr wichtig ist. Wir solltenFrauen nicht immer nur beschützen, sondern wir solltensie auffordern, in ihrem eigenen Bereich Stellung zu be-ziehen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
In einer liberalen Bürgergesellschaft brauchen wir
Menschen, die bereit zu Veränderungen sind. Frauenpo-
litik muss vorangetrieben werden im Bewusstsein, dass
Frauen mehrheitlich besser qualifiziert sind und dass sie
neue Perspektiven, Wissen und Erfahrungen in die Ge-
sellschaft einbringen. „Weiblich, qualifiziert, benachtei-
ligt“ darf es nicht länger geben. Chancengleichheit muss
endlich selbstverständlich werden. Aber nicht nur das.
„Weiblich, qualifiziert, benachteiligt“ kann sich unsere
Gesellschaft nicht mehr leisten.
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-nen! Frau Lenke, Sie haben gerade in Ihrer Rede dieWirtschaft heftig dafür kritisiert, wie sie auf Frauenreagiert.
Aber ich entdecke in Ihrem Antrag leider keine einzigeLösung für dieses Problem. An dieser Stelle wird derFreiheitsbegriff für mich leider auch ein Begriff der Be-liebigkeit.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, „Tun Sie mehr da-für, dass Frauen ihren Wunsch nach einer besseren Ver-einbarkeit von Familie und Beruf verwirklichen kön-nen!“. Das war ein Appell beim 150-jährigen Jubiläumder IHK in meinem Wahlreis am letzten Freitag. DieserAppell kam nicht etwa von Renate Schmidt oder AliceSchwarzer, sondern von Ludwig Georg Braun, dem Vor-sitzenden des Industrie- und Handelskammertagesselbst. Er wandte sich dabei an ein Auditorium, das zu95 Prozent aus Männern bestand. Das war völlig neu.Denn das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“stand vor sechs Jahren nicht zur Debatte, als Herr Braunan gleicher Stelle über Innovation und Zukunft sprach.Ist das schon gleichstellungspolitischer Fortschritt? Istdas unser frauenpolitischer Erfolg?Eines ist sicher: Die SPD und allen voran die Ministe-rinnen Christine Bergmann und Renate Schmidt habendas Thema Gleichstellungspolitik immer wieder bei denWirtschaftsverbänden und Unternehmen in den Vorder-grund gestellt.
– Ja, das darf man ruhig einmal wohlwollend zur Kennt-nis nehmen. – Mit beiden Frauen und der SPD-geführtenRegierung verbinden wir heute wesentliche gleichstel-lungspolitische Fortschritte.Ich nenne nur das Gender-Mainstreaming-Prinzip alsdurchgängiges Prinzip, das Gleichstellungsgesetz fürden öffentlichen Dienst, das Gleichstellungsgesetz fürdie Soldatinnen, die Reform der Elternzeit und – das istganz wichtig – den Ausbau der Infrastruktur, das heißt,mehr Ganztagsschulen und mehr Betreuung für unterDreijährige. Das alles sind wichtige Schritte hin zumZiel der Gleichstellung der Geschlechter.Nach fast 100 Jahren Internationalem Frauentag undnach fast 60 Jahren Grundgesetz und Art. 3 würde ichmir jetzt allerdings noch schnellere Fortschritte wün-schen. Denn es gilt immer noch – das haben wir in denReden gerade gehört –: Gerade auf dem Arbeitsmarktwerden traditionelle Rollenbilder verfestigt. Anders lässtsich nicht erklären, warum Frauen, die noch nie so gutausgebildet waren wie heute, keine entsprechenden Kar-rierechancen haben, warum Frauen selbst dann ein ge-ringeres Gehalt erhalten, wenn sie im gleichen Büro ar-beiten wie ihre männlichen Kollegen und die gleicheTätigkeit ausüben, warum Frauen nach einer Familien-phase oder Kündigung länger arbeitslos sind als Männer,warum Frauen mehrheitlich in geringfügiger Beschäfti-gung zu finden sind und die Frauenerwerbsquote weitunter der Männererwerbsquote liegt.Diese Analyse wird von ganz vielen unterschiedli-chen Untersuchungen mit Daten belegt. Darum ist esvielleicht auch zu erklären – das sage ich der MinisterinFrau von der Leyen –, dass die „Zweite Bilanz der
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Christel HummeVereinbarung der Bundesregierung mit den Spitzenver-bänden der Deutschen Wirtschaft zur Förderung derChancengleichheit von Frauen und Männern in der Pri-vatwirtschaft“ – so lautet der lange Titel – ohne großenPaukenschlag in der Presse veröffentlicht wurde. Die Bi-lanz bestätigt, die so genannte freiwillige Vereinbarungwar nicht wirkungsvoll.
– Das darf man ruhig feststellen. Die Frauen werden esfeststellen.2004 waren in den 100 größten Unternehmen neben685 Männern nur vier Frauen in Vorstandspositionen.Eine Steigerung der Anzahl von Frauen in Spitzenpositi-onen um durchschnittlich 2 Prozent innerhalb von vierJahren ist wirklich kein Ruhmesblatt. Bei diesem Schne-ckentempo würde es noch ein weiteres halbes Jahrhun-dert dauern, bis in Führungspositionen Geschlechterpro-porz hergestellt ist. Auf weitere 50 Jahre Trippelschritte– das sage ich Ihnen ganz deutlich – können und wollenwir Frauen nicht warten.
Wenn die freiwilligen Vereinbarungen nicht zu einemErfolg führen, muss ein Gleichstellungsgesetz her.
Ich betone an dieser Stelle ganz bewusst, dass das dieForderung der SPD-Frauenpolitikerinnen war und ist.Das ist gar keine Frage.Norwegen – Frau Schewe-Gerigk hat das vorhin ge-sagt – macht es uns vor: Seit Beginn dieses Jahres ist ge-setzlich geregelt, dass im Vorstand von Aktiengesell-schaften mindestens 40 Prozent Frauen vertreten seinmüssen. Eine zweijährige Phase der freiwilligen Selbst-verpflichtung hatte zuvor nicht zu dem angestrebten Er-folg geführt.Wir Frauen – auch das sage ich an dieser Stelle – ha-ben auf das Antidiskriminierungsgesetz und die damitverbundene Gleichstellungsstelle gehofft. Beides hätteden Frauen geholfen, ihre Rechte besser durchzusetzen.Aber die gleichen Männer aus den Wirtschaftsverbän-den, die an die Unternehmer appellieren, mehr dafür zutun, dass Frauen Familie und Beruf vereinbaren können,bekämpfen das Antidiskriminierungsgesetz. Es sei zubürokratisch und wettbewerbsfeindlich. Das legt dieVermutung nahe, dass die Chancengleichheit von Frauenund Männern zwar in Sonntagsreden als innovativesThema angekommen ist, in der Realität aber noch nicht.Deshalb appelliere ich an Herrn Braun und die Wirt-schaftsverbände: Machen Sie sich die Erkenntnis zu Ei-gen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nichtnur ein Problem der Frauen ist. Tatsächliche Gleichstel-lung bedeutet, dass Männer und Frauen gleichermaßenund gleichberechtigt am Arbeitsmarkt vertreten seinmüssen.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschungfordert neben familiengerechten Arbeitsbedingungenbessere Möglichkeiten der Kinderbetreuung zur Ver-besserung der Karrierechancen von Frauen. Der Ausbauvon Kinderbetreuung bleibt auf unserer Agenda. Dafürstellen wir den Kommunen jährlich 1,5 Milliarden Eurozur Verfügung.
– Frau Lenke, hören Sie weiter zu, es wird noch span-nender. Wenn wir traditionelles Rollenverhalten aufbre-chen wollen, brauchen wir zusätzliche Instrumente. ImKoalitionsvertrag haben wir uns tatsächlich – das ist vor-hin schon erwähnt worden – auf das Elterngeld festge-legt. Bei einer 67-prozentigen Lohnersatzleistung bis zueiner maximalen Höhe von 1 800 Euro wird es den Vä-tern zukünftig schwer fallen, nach der Geburt eines Kin-des zu sagen: „Schatz, bleib du doch zu Hause. Bei mei-nem hohen Einkommen lohnt sich Elternzeit nicht.“
Frau Humme, die Kollegin Lenke würde gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Nein, das möchte ich jetzt nicht – gleich!
Vielen jungen Männern kommt diese Regelung sogar
entgegen. Sie möchten nach der Geburt ihres Kindes
kein Feierabend- und Wochenendpapi sein, sondern sich
mehr und stärker der Erziehungsarbeit widmen. Darum
ist es mir – bis zum heutigen Tag – überaus unverständ-
lich, dass ein Aufschrei durch den Blätterwald und durch
manche männliche Politikerwelt ging, weil mindestens
zwei Monate der Elternzeit den Vätern vorbehalten sein
sollen, ähnlich, wie es uns Schweden und Island erfolg-
reich vormachen. Haben wir etwa die Männer erwischt,
die sich ihr eigenes Lebensmodell geschaffen haben, die
Hausfrau im Rücken, von der sie gerne als Familienma-
nagerin schwärmen, während sie selbst erfolgreich im
modernen Ambiente leben und arbeiten? Rasten sie aus,
wenn ihr eigener Lebensentwurf infrage gestellt ist?
Frau Kollegin Humme, würden Sie jetzt eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Lenke zulassen?
Vielleicht kann ich diesen Gedanken noch zu Endeführen. – Ich glaube, es würde eine wesentliche Ände-rung unseres Politikverhaltens bedeuten, wenn wir nichtnur Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt ergreifen, son-dern gleichzeitig auch das Ziel verfolgen würden – dasist, soweit ich Sie, Frau Lenke, kenne, unser gemeinsa-mes Ziel –, Rollenverhalten infrage zu stellen und zu
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Christel Hummeverändern. Gerade das Elterngeld soll, indem auch dieVäter in den Blick genommen werden, dazu ermuntern,neue Rollenkonzepte zu leben.Ich weiß, dass Herr Braun bei der IHK-Veranstaltunggenau diese Rollenveränderung nicht unbedingt im Blickhatte. Ich glaube, ihm sind zwei Erkenntnisse wichtig:erstens, dass die Wirtschaft aufgrund des zu erwartendenFachkräftemangels nicht auf das Know-how von Frauenverzichten kann, und zweitens, dass eine Gesellschaftohne Kinder schrumpft, was auch ein schrumpfendesWirtschaftswachstum zur Folge hätte.Egal, aus welcher Perspektive wir dieses Thema be-trachten: Die Förderung der Gleichstellung auf demArbeitsmarkt ist unverzichtbar. Ich teile ausdrücklichdie Auffassung, dass es im Interesse der Gleichstellungeine richtige Forderung ist, die Männerdominanz im Ar-beitsleben zu brechen. Aber das geht meiner Ansichtnach nur, wenn wir auch die Frauendominanz bei der Fa-milien- und Erziehungsarbeit brechen. Daran auch inZukunft zu arbeiten, das wird unsere Aufgabe in der gro-ßen Koalition sein.Danke schön.
Frau Lenke, bitte.
Frau Humme, die Frage, die ich Ihnen stellen möchte,
ist wirklich keine rhetorische Frage, sondern sehr ernst
gemeint:
Es geht um das Erziehungsgeld, das normalerweise
zwölf Monate lang bezogen werden kann.
Diese zwölf Monate können die Eltern frei untereinander
aufteilen. Auch wir wollen, dass der Bezug des Eltern-
geldes zwischen Vätern und Müttern frei aufgeteilt wer-
den kann.
Ich kenne zwar nur die Umrisse der von Ihnen ange-
dachten Regelung des Elterngeldes, aber bislang kann
ich eine nur zehnmonatige Alimentierung erkennen.
Denn heutzutage nehmen nur 5 Prozent der Männer Er-
ziehungsurlaub.
Das bedeutet, dass in den nächsten Jahren statt zwölf nur
zehn Monate genommen werden. Meine Frage lautet
nun: Wollen Sie die Frauen bestrafen, die sich in ihrer
Partnerschaft nicht durchsetzen können, dass ihr Mann
zwei Monate zu Hause bleibt? Denn diese Familien be-
kommen nicht zwölf Monate Elterngeld, sondern nur
zehn Monate. Das finde ich persönlich nicht in Ordnung
und an Ihrem Konzept nicht gut.
– Natürlich. Das hat Frau von der Leyen doch schon in
jeder Zeitung kommuniziert.
Frau Lenke, ich gebe zu, dass ich diese Frage viel-
leicht von Herrn Dörflinger oder Herrn Singhammer er-
wartet hätte, nicht aber von Ihnen.
Wenn ich die „Süddeutsche Zeitung“ von heute lese,
wundere ich mich, dass Sie als Frauenpolitikerin Ihrer
Fraktion unsere Forderung, die Väter stärker in die Fa-
milienarbeit einzubeziehen und zu diesem Zweck ein
Modell zu kopieren, das in Schweden und Island bereits
hervorragend funktioniert, nicht unterstützen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Schweden oder Is-
land schon einmal jemand – erst recht nicht eine Frau –
eine solche Frage gestellt hat.
Schönen Dank.
Ich gebe das Wort der Kollegin Karin Binder, Die
Linke.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine Damen undHerren! Im Jahre 1910 hat die deutsche Sozialistin undFeministin Clara Zetkin den Grundstein für den gestri-gen Internationalen Frauentag gelegt. Es ging ihr und ih-ren Mitstreiterinnen darum, Frauenrecht als Menschen-recht durchzusetzen. Die Frauenrechtsbewegung hat seitdieser Zeit einige Erfolge und damit auch einen großengesellschaftlichen Fortschritt erzielt. Trotzdem gibt esnoch viel zu tun.
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Karin Binder
Die Gleichberechtigung von Frauen ist in vielen Be-reichen noch lange nicht verwirklicht. Die aktuellenBerichte der Europäischen Kommission, der Bundes-regierung und der Hans-Böckler-Stiftung liefern sehr an-schauliches, ausführliches und detailliertes Datenmate-rial und ernüchternde Ergebnisse. Sie belegen eines sehrdeutlich: Frauen sind im Erwerbsleben nach wie vormassiv benachteiligt. Frauen verdienen im Durchschnittcirca 20 Prozent weniger als Männer. Deutschland stehtdamit in der EU an drittletzter Stelle. Die EuropäischeKommission stellte fest, dass die geschlechtsspezifischeLohndifferenz in Deutschland im Gegensatz zu der inanderen europäischen Staaten nicht kleiner, sondern grö-ßer wird. Wenn diese Tendenz anhält, dann bringen wires bald zur roten Laterne in der EU.Nach dem WSI-Frauendatenreport der Hans-Böckler-Stiftung verdienen Frauen in Westdeutschland allein auf-grund ihres Geschlechts bis zu einem Drittel weniger. ImOsten fällt der Unterschied etwas geringer aus, aber dasist keine wirklich gute Nachricht; denn dort verdienenauch die Männer einfach weniger.Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier besteht eindeu-tig Handlungsbedarf.
Es ist nicht damit getan, dass wir § 612 Abs. 3 insBürgerliche Gesetzbuch geschrieben haben, der die un-terschiedliche Bezahlung von Frauen und Männern ver-bietet. Wir brauchen zudem verbindliche Verfahrensvor-schriften, zum Beispiel ein Entgeltgleichheitsgesetz wiein Schweden. Dort müssen Arbeitgeber, die mehr alszehn Beschäftigte haben, Entgeltunterschiede identifi-zieren und sie müssen einen Aktionsplan für die Anglei-chung der Arbeitsentgelte aufstellen.Wir fordern deshalb dringend die Einführung einesGleichstellungsgesetzes für die Privatwirtschaft.
Freiwillige Regelungen reichen nachweislich nicht aus.Nun komme ich zur Erwerbsbeteiligung. In Deutsch-land arbeiten generell weniger Frauen als Männer in so-zialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis-sen. Wenn Frauen eine Erwerbstätigkeit aufnehmen,dann ist das immer häufiger nur eine Teilzeitstelle odergar ein Minijob. Über zwei Drittel der ausschließlich ge-ringfügig Beschäftigten sind weiblich. Der Anteil derFrauen, die weniger als 15 Stunden wöchentlich arbeiten,hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt. Solange wirdem nicht entgegenwirken, ist vielen Frauen eine eigen-ständige Existenzsicherung schlicht und ergreifend nichtmöglich. Das heißt in der Konsequenz, sie sind finanziellwieder verstärkt von ihrem Partner oder von staatlicherUnterstützung abhängig. Dieses staatlich geförderte Er-nährermodell ist kulturell und sozialpolitisch ein Reliktaus dem 19. Jahrhundert.
Abgesehen davon geht es auch gesellschaftspolitisch anden Anforderungen des 21. Jahrhunderts vorbei. DerMann geht arbeiten, sofern er überhaupt Arbeit hat, dieFrau ist wieder für Familie und Hausarbeit zuständig undverdient dazu – in Lohnsteuerklasse V.Das Ehegattensplitting ist ein gravierendes frauen-feindliches Element in unserem Steuerrecht. Unser Steu-errecht muss deshalb dringend geändert und gegendertwerden,
wenn der Staat seinem Auftrag nach Art. 3 Abs. 2Grundgesetz nachkommen will, der dem Staat vorgibt,die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigungvon Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseiti-gung bestehender Nachteile hinzuwirken.Wir müssen in diesem Land endlich anfangen, die be-zahlte und die unbezahlte Arbeit umzuverteilen: zwi-schen Arbeitsplatzbesitzerinnen/Arbeitsplatzbesitzern undErwerbslosen,
aber auch – geschlechtergerecht – zwischen Frauen undMännern; Arbeit ist schließlich mehr als genug vorhan-den. Aber dazu ist ein gesamtgesellschaftliches Umden-ken bei der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung nötigund die Abkehr vom Ernährermodell zwingend.Wir müssen dafür sorgen, dass Frauen – und selbst-verständlich auch Männer – von ihrem Einkommen le-ben können. Dazu brauchen wir neue Arbeitsplatz- undArbeitszeitmodelle und dazu ist die Ausweitung des öf-fentlichen Beschäftigungssektors dringend erforderlich.
Wir brauchen existenzsichernde, sozialversicherungs-pflichtige Arbeitsplätze und einen staatlich festgelegtenMindestlohn statt 1-Euro-Jobs, Minijobs und Niedrig-lohntarife.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen dieVereinbarkeit von Familie und Beruf dringend – unddas nicht nur auf dem Papier. In Deutschland gibt es auchheute noch viele Ecken – speziell im Westen –, wo dieVereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienpflichtenschlicht unmöglich ist. Wissen Sie, wie die Betreuungssi-tuation in Baden-Württemberg aussieht? Für Kinder un-ter drei Jahren gibt es so gut wie keine Betreuungsange-bote.
Auf 1 000 Kinder kommen circa 13 Betreuungsplätze.Wie soll da eine junge Mutter ihre gute Qualifikation er-halten? Die Halbwertszeit für Wissen ist heute extremkurz. Wenn sie drei Jahre zu Hause bleibt, gilt ihr Fach-wissen eventuell schon als überholt.Dank unserer hohen Mobilität und Flexibilität in derArbeitswelt wohnt Oma heute leider nicht mehr um dieEcke, nein, sie wohnt am anderen Ende von Deutsch-land; denn die jungen Menschen müssen ihr sozialesUmfeld für die Chance auf einen Arbeitsplatz häufig
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Karin Binderverlassen. Da greifen nicht mehr die gewohnten Struktu-ren von Familie und Freundeskreis.Kinderbetreuung, aber auch andere Leistungen müs-sen heute erkauft werden. Dies geht jedoch nur, wenndas Geld dafür auch da ist. Wenn das Geld dafür fehlt,helfen auch keine Steuerbegünstigungen. Dann hat Fraudie Wahl: Entweder sie bleibt ganz zu Hause und küm-mert sich um Kinder, Küche und den Gemüsegarten odersie hat nebenher noch einen so genannten 400-Euro-Job,damit wenigstens noch ein kleines Zubrot ins Hauskommt.Aus diesem Grund fordern wir einen Rechtsanspruchauf ganztägige Betreuung für alle Kinder von Geburt anund ein flächendeckendes, qualifiziertes und kosten-freies Betreuungsangebot für Kinder und Jugendlichevon null bis 14 Jahren.
Solange es in der Bundesrepublik keine ausreichendeKinderbetreuung gibt und solange in der Regel Frauendiesen Mangel auffangen müssen, kann keine Rede vonGeschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit aufdem Arbeitsmarkt sein.Damit bin ich beim Thema Arbeitszeit, das mich seitmehreren Wochen besonders beschäftigt. Wie Sie wis-sen, sollen Beschäftigte im öffentlichen Dienst wiederlänger arbeiten. Dabei geht es nicht nur um 18 MinutenMehrarbeit am Tag, sondern es geht auch um ZigtausendArbeitsplätze im Land – bis zu 250 000 –, die abgebautwerden sollen.
Damit geht es auch um einen erneuten Angriff auf dieGleichstellung von Männern und Frauen.Die Erhöhung der Arbeitszeit – noch dazu ohneLohnausgleich, wie es die Arbeitgeber fordern – bedeu-tet für die Beschäftigten nicht nur Einkommenseinbußenund niedrigere Stundenlöhne, längere Arbeitszeiten sor-gen auch für weniger Freizeit, weniger Zeit für Familie,weniger Zeit für Kinder, weniger Zeit für Angehörige,weniger Zeit für das soziale Umfeld und persönliche Be-ziehungen
und auch weniger Zeit für das wichtige und oft gefor-derte bürgerschaftliche Engagement.In der Regel werden die Männer diese Arbeitszeitver-längerung auf sich nehmen. Das zwingt aber die in Teil-zeit arbeitenden Frauen meist, ihre Erwerbstätigkeit wei-ter zu reduzieren, da sie in der Regel die sozialeHauptverantwortung im privaten Bereich tragen und dortdie Hauptarbeit leisten. Dies hat für die Frauen wie-derum Einkommensverluste und, was noch schwererwiegt, weitere Einbußen bei der Altersrente zur Folge.Sie, die öffentliche Hand als Arbeitgeber, führen un-sere Gesellschaft zurück in eine vermeintlich vergan-gene Zeit und zementieren längst überholte Rollenvertei-lungen der Geschlechter. Einmal abgesehen davon, dassein Zurück zur 40-Stunden-Woche angesichts der Er-werbslosenzahlen in Deutschland schlicht und ergrei-fend rückschrittlich und kontraproduktiv ist: LängereWochenarbeitszeiten ohne Lohnausgleich sind aus frau-enpolitischer Sicht und unter dem Aspekt der Geschlech-tergerechtigkeit ein kompletter Unsinn und der völligfalsche Weg.
Deshalb sollten nicht nur meine Fraktion und ich, son-dern wir alle die Streikenden in ihrem Bemühen um dieBeibehaltung der bisherigen Arbeitszeit unterstützen.
Unser Staat muss laut Verfassung die tatsächlicheDurchsetzung der Gleichberechtigung fördern und dafürsorgen, bestehende Nachteile zu beseitigen. Dazu musser gegebenenfalls gesetzliche Regelungen abschaffenoder zumindest ändern, wenn sich herausstellt, dass siein ihrer Wirkung Frauen benachteiligen.Damit komme ich zum Schluss auf Hartz IV zu spre-chen. Durch die Bedarfsgemeinschaft à la Hartz IV unddie Anrechnung des Partnereinkommens werden über-wiegend Frauen vom Bezug staatlicher Leistungen aus-geschlossen. Sie werden finanziell in die Abhängigkeitihres Partners gedrängt. Außerdem verlieren sie Renten-ansprüche und das Recht auf Vermittlung und Weiterbil-dung durch die Bundesagentur. Auch damit wird dasüberkommene Ernährermodell und die ganz konkreteBenachteiligung von Frauen zementiert.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz. – Das Konstrukt der Bedarfsge-
meinschaft ist unsozial, ungerecht und frauenfeindlich
und muss schleunigst abgeschafft werden.
Es muss durch den Individualanspruch auf eine existenz-
sichernde Grundsicherung für Frauen und Männer er-
setzt werden.
Ich danke.
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede hier. Dazu gra-
tuliere ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses und wün-
sche Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit.
Als Nächstes hat das Wort die Kollegin Rita
Pawelski, CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Frau Schewe-Gerigk – – Wo ist siejetzt?
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Rita Pawelski
– Ich sehe, sie kommt gerade. Setzen Sie sich wieder hinund hören Sie zu. – Als ich Ihren Antrag gelesen habe,habe ich gedacht: Donnerwetter, die Grünen haben aberMut! Gerade einmal gut 100 Tage aus der Regierungs-verantwortung und in der Opposition verfassen sie einenAntrag, in dem Deutschland als eine frauenpolitischeWüste dargestellt wird.
Da muss man sich schon fragen: Was haben denn dieGrünen sieben Jahre lang in der Regierungsverantwor-tung getan? Eine Ihrer Kolleginnen war doch sogarStaatssekretärin im Frauenministerium.
Ich erinnere mich an viele Reden von Ihnen, FrauSchewe-Gerigk, die Sie im Ausschuss und auch hier ge-halten haben. Auf unsere Fragen, ob man nicht mehr ma-chen könne, haben Sie immer wieder versichert: Alles istin bester Ordnung, wir haben alles im Griff, es ist wun-derbar.Geschmunzelt habe ich über Ihren klassenkämpferi-schen Ausdruck „Innovationshemmnis Männerdomi-nanz beseitigen“.
Ich hatte schon den Eindruck, als hätten die Frauen beiden Grünen die „Fischer-Ära“ noch nicht ganz verarbei-tet. Dass Sie unter der Dominanz von Herrn Fischer ge-litten haben, glaube ich Ihnen schon.
Wir sind auf dem Wege zur Gleichstellung von Mannund Frau schon viele Schritte vorangekommen. Aberganz ehrlich: Wir sind noch lange nicht am Ziel. Esstimmt: Noch immer sind Frauen in den Führungsetagenvon Unternehmen unterrepräsentiert. Der Frauenanteilin Managerpositionen beträgt bei uns nur 28 Prozent,in Litauen 41 Prozent, in Irland 39 Prozent und in Lett-land 38 Prozent. In den 200 DAX-30-Vorständen ist nureine einzige Frau vertreten.
Das ist nicht gut; das muss man so deutlich sagen.
Ich habe nicht immer den Eindruck, dass in den Vorstän-den der DAX-30-Unternehmen alles in Ordnung ist unddort die besten Männer vertreten sind. Vielleicht wäredort mit einem höheren Frauenanteil mehr los. Hiermuss noch etwas getan werden. Dass Frauen auf Füh-rungsebenen mehr können, beweisen wir doch im Bun-destag mit unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Diese Frau ist top. Sie zeigt den Regierungschefs in Eu-ropa, wo es langgeht. Frauen können es also.
Leider muss ich auch sagen: Es stimmt, dass Frauennoch immer geringere Einkommen als ihre männlichenKollegen haben. Von gleichem Lohn für gleiche Arbeitkann leider keine Rede sein. Weibliche Angestellte improduzierenden Gewerbe, im Handel, im Kredit- undVersicherungswesen verdienten im Jahr 2004 durch-schnittlich 2 672 Euro, männliche Angestellte dagegenbei gleicher Arbeit 29 Prozent mehr.Das ist auch in technischen Berufen so. Der Brutto-jahresverdienst einer Technikerin zum Beispiel beträgtim Durchschnitt 31 400 Euro, der eines Technikers45 400 Euro. Das ist nicht in Ordnung, zumal Frauenheute höhere und bessere Schulabschlüsse als Männererreichen. Der Frauenanteil bei den Abiturienten lag2004 bei 56 Prozent; 49 Prozent der Studienanfängerund Absolventen waren weiblich.Ich frage mich deshalb, warum Frauen ihre Qualifika-tionen nicht in Führungspositionen und ein angemesse-nes Gehalt umsetzen können. Warum gelingt uns dasnicht? Dafür gibt es mehrere Gründe. Das Karrierehin-dernis Nummer eins sind Vorurteile. Viele karriere-und familieorientierte Frauen werden im Job oft mitüberholten gesellschaftlichen Rollenbildern konfrontiert.Ihr Verhalten wird mit ganz anderen Augen gesehen alsdas der männlichen Kollegen. Ein Familienfoto auf sei-nem Schreibtisch: Er ist ein solider, treu sorgender Ehe-mann. Ein Familienfoto auf ihrem Schreibtisch: Ihre Fa-milie kommt vor dem Beruf. Er geht mit dem Chef zumEssen: Er macht Karriere. Sie geht mit dem Chef zumEssen: Sie haben wohl was miteinander. Bei ihm gibt esNachwuchs: Grund für eine Lohnerhöhung. Bei ihr gibtes Nachwuchs: Sie fällt aus – die Firma zahlt.Ein weiteres Karrierehindernis ist die Studien- undBerufswahl. Weibliche Studenten sind in zukunftsträch-tigen technischen und naturwissenschaftlichen Studien-gängen deutlich unterrepräsentiert. Man trifft sie vor al-lem in den Sprach-, Kultur- und Geisteswissenschaftensowie in gesundheitlichen und medizinischen Studien-gängen.54 Prozent – also mehr als die Hälfte – der weiblichenAuszubildenden wählen lediglich zehn der 360 aner-kannten Ausbildungsberufe. Trotz Girls’ Day, Beratung,Flyern und Hinweisen geht immer noch über die Hälfteder jungen Frauen in zehn Ausbildungsberufe. Das sindBerufe wie Büro- und Einzelhandelskauffrau, Friseurin,Arzthelferin, Verkäuferin und Hotelfachfrau, die alsfrauentypische Berufe angesehen werden. Eigentlichwollen wir das doch nicht. Warum aber machen das diejungen Frauen immer noch so, obwohl sie wissen, dassdas oft eine Sackgasse für ihre Karriere ist?Das dritte und wohl größte Hindernis sind dieSchwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie und
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Rita PawelskiBeruf. Das bestätigen auch Studien: 2003 waren nur60 Prozent der Frauen mit Kindern unter zwölf Jahrenerwerbstätig. Bei den kinderlosen Frauen waren es79,5 Prozent. Das ist ein gravierender Unterschied.Frauen wollen aber beides: Sie wollen Beruf und Familievereinbaren.Familie darf kein Karrierehemmnis sein. Mütter brin-gen viele wichtige Kompetenzen mit, um die Produktivi-tät von Unternehmen zu steigern. Sie sind gut organisiert,führungsstark und beherrschen das Zeitmanagement her-vorragend. Sie sind ein Gewinn für Unternehmen.
Das müssen die Unternehmen auch langsam anerkennen.Unsere Familienministerin Ursula von der Leyenengagiert sich in vorbildlicher Weise, um Hindernisseabzubauen. Sie kämpft für Chancengleichheit und Chan-cengerechtigkeit und sensibilisiert Unternehmen für denErfolgsfaktor Frau. Mit ihr sind wir auf dem richtigenWeg.
Denn eines muss klar sein: Wir müssen die Benachteili-gungen von Frauen im Erwerbsleben beseitigen.
Aber dazu brauchen wir meines Erachtens keine neuengesetzlichen Keulen. Die von den Grünen erhobene For-derung, öffentliche Aufträge nur an Unternehmen zuvergeben, die sich für Gleichberechtigung einsetzen,hilft nicht weiter.
Gesetze haben wir genug. Es gibt schon so viele Vor-schriften und Gesetze. Was wir brauchen, sind Tatenund Leute, die die Gesetze endlich umsetzen. Wir brau-chen mehr Frauen, die den Mut haben, in Männerdomä-nen einzudringen, und wir brauchen mehr Männer, dieden Mut haben, in Frauendomänen einzubrechen. Dortsind sie herzlich willkommen.
Wir brauchen mehr Männer, die sich auch der Kinderer-ziehung und Kinderbetreuung widmen.
Sie fordern, den Tarifvertrag für den öffentlichenDienst im Bereich des Bundes geschlechtsneutral anzu-passen. Sehr geehrte Damen und Herren von den Grü-nen, warum haben Sie das in Ihrer Regierungszeit nichtgetan? Ich sage noch einmal: Wir haben ein Gleichstel-lungsgesetz – das haben Sie mit verabschiedet – sowieGleichstellungsbeauftragte in Bund, Ländern und Kom-munen. Alle Gesetze werden heutzutage durchgegen-dert. Was fehlt, was wir brauchen, sind Vorgesetzte, diedarauf achten, dass die bestehenden Gesetze eingehaltenwerden.
Völlig kontraproduktiv ist der Vorschlag, Unterneh-men zu bestrafen, die nicht für Chancengleichheit sor-gen. Welche Sanktionen wollen Sie hier eigentlich ver-hängen? Was ist mit Firmen, in denen körperlichschwere und gefährliche Arbeit vor allem von Männernverrichtet wird, zum Beispiel im Straßenbau? Frauenwollen hier gar nicht arbeiten. Aber gerade Straßenbau-firmen leben von öffentlichen Aufträgen. Daher ist IhrVorschlag nicht in Ordnung. Sie haben außerdem Nor-wegen als Beispiel genannt. Dazu kann ich nur sagen:Wir werden das Ganze sehr genau beobachten.Wir brauchen aber kein neues Gesetz zur Herstellungder Chancengleichheit von Frauen und Männern in derPrivatwirtschaft. Ein solches Gesetz hat schon Exbun-deskanzler Gerhard Schröder nicht gewollt. Er hat dasvon Ihnen geforderte Gesetz 2001 beerdigt mit der Be-gründung: „Nicht für jedes gesellschaftliche Problemmuss ein Gesetz gemacht werden.“ Sie, meine Damenund Herren von den Grünen, waren damals Regierungs-partner. Statt eines Gesetzes gab es eine freiwillige Ver-einbarung zwischen der Bundesregierung und den Spit-zenverbänden der deutschen Wirtschaft. Sie habenjahrelang Zeit gehabt, bei jedem Firmenbesuch und injedem Gespräch mit Unternehmern auf diese Vereinba-rung hinzuweisen.Wir wissen, dass die erzielten Erfolge verbesserungs-fähig sind. Wir sind sicherlich nicht zufrieden. Aber wirhaben etwas erreicht, und zwar auch aufgrund Ihrer Ar-beit. Daher verstehe ich gar nicht, warum Sie das alles sowegwischen.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Haßelmann zulassen?
Nein. Meine Redezeit ist leider gleich zu Ende. Frau
Haßelmann, bitte stellen Sie Ihre Frage anschließend.
Es gibt eine Zunahme bei der Zahl der weiblichen
Führungskräfte um 2 Prozent. Das ist sicherlich nicht ge-
nug. Kluge Chefs brauchen keine gesetzliche Gänge-
lung; denn sie erkennen das Potenzial gut ausgebildeter
und hoch motivierter Frauen und werben rechtzeitig um
sie. Schon allein mit Blick auf den demografischen Wan-
del müssen sie es tun; denn sonst bleiben ihre Unterneh-
men nicht wettbewerbsfähig. Es gibt bereits positive
Beispiele, wenn auch nicht genug. Wir brauchen jeden-
falls mehr kluge Chefs.
Auch bei den Existenzgründungen berufen Sie sich
auf etwas, was wir eigentlich schon haben. Es gibt be-
reits Existenzgründerinnenzentren und Beratungsstellen
für Frauen in fast jeder großen Stadt.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
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Ja. – Bei den Industrie- und Handelskammern sowie
bei den Handwerkskammern gibt es gute Beratungsstel-
len, für die sicherlich noch mehr Werbung gemacht wer-
den müsste.
Wir sind auf einem guten Weg. Wir wollen keine
neuen Gesetze, sondern, dass die bestehenden Gesetze
eingehalten werden.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Britta Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kolle-
gin, schade, dass Sie meine Zwischenfrage nicht zuge-
lassen haben. Dabei wäre das doch gar nicht auf Ihre Re-
dezeit angerechnet worden. Ich nutze deshalb die
Gelegenheit, eine Kurzintervention bzw. eine Kurzmit-
teilung zu machen.
Wir haben von Ihnen erfahren, was Sie alles nicht
wollen, nämlich eine klare Aussage dazu, dass das Anti-
diskriminierungsgesetz eigentlich keinen Beitrag zur
Gleichstellung leistet, und eine Antwort auf die Frage,
wie wir es hinbekommen, dass die Wirtschaft ihren Bei-
trag zur Gleichstellung leistet. Zuletzt haben Sie gesagt,
es gebe keine Notwendigkeit, gesetzliche Regelungen zu
beschließen. Ich habe Ihren Koalitionsvertrag anders
verstanden. Aber ich gehöre Gott sei Dank nicht zu den-
jenigen, die mit Ihnen darüber zu verhandeln haben.
Mein Eindruck ist jedenfalls, dass sich SPD und Union
über den Bereich der Gleichstellung eigentlich verstän-
digen wollen.
Da Sie Ihre Redezeit ausschließlich dazu genutzt ha-
ben, zu sagen, was Sie alles nicht wollen, interessiert
mich nun, was die Union vorschlägt, damit wir bei den
Themen „Frauenförderung“ und „Gleichstellung“ voran-
kommen. Damit haben Sie deutlich unter Beweis ge-
stellt, dass Sie keine Antworten zu geben haben.
Frau Kollegin Pawelski.
Verehrte Frau Kollegin, zuerst einmal muss ich sagen:
Sie haben nicht richtig zugehört;
denn ich habe sehr wohl gesagt, was wir wollen. Ich
habe gesagt: Wir haben so viele Gesetze, dass sie mittler-
weile ganze Bibliotheken füllen. Wir wollen, dass diese
Gesetze endlich von den Behörden und den Unterneh-
men umgesetzt werden. Sie waren sieben Jahre in der
Regierungsverantwortung. Sie hätten jahrelang Zeit ge-
habt, bei jedem Besuch in einer Behörde oder in einem
Unternehmen darauf hinzuweisen, dass die Chancen-
gleichheit für Frauen durchgesetzt werden soll. Sie hät-
ten ständig die Vereinbarung vom Juli 2001, die der
damalige Bundeskanzler mit den Unternehmen ge-
schlossen hat, in der Tasche haben müssen, hätten sie je-
dem Unternehmen zeigen und sagen müssen: Das haben
Ihre Funktionäre unterschrieben. Bitte, richten Sie sich
danach! – Das haben Sie nicht ausreichend getan. Die
Folge davon ist Ihr Antrag.
Das Wort hat die Kollegin Renate Gradistanac von
der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der gestrige 95. Frauentag ist der erste Frauen-tag in Deutschland mit einer Frau an der Spitze der Re-gierung, Frau Bundeskanzlerin Merkel.
Schade, dass sie nicht da ist. Ich freue mich aber, dassunser Vizekanzler die ganze Zeit so aufmerksam zuhört.Herzlichen Dank!
Frauen kämpfen noch immer gegen Vorurteile undtraditionelle Frauenbilder in den Köpfen von Männern.Aber auch viele Frauen haben ein konservatives Rollen-bild. Konservative Männer und Frauen erschweren denAnstieg der Zahl weiblicher Vorbilder. Wir brauchenmehr Frauen, an denen sich Frauen orientieren können.Wir heißt es so schön? Eine Schwalbe macht noch kei-nen Sommer.Wo sind denn Frauen in Gremien oder an derSpitze von Organisationen gleichberechtigt vertreten?Nicht im Deutschen Bundestag. Von 33 CDU-Abgeord-neten aus Baden-Württemberg sind gerade einmal zweiFrauen. Bei der SPD sind von 23 Abgeordneten zehnFrauen.
Nicht beim DIHK. Bei der Spitzenorganisation der In-dustrie- und Handelskammern ist nicht eine Frau im Vor-stand. Nicht beim Handwerk. Im Präsidium des ZDH isteine Frau vertreten. Nicht bei den Arbeitgeberverbän-den. Unter den 89 Mitgliedern im BDA-Vorstand befin-den sich vier Frauen. Nicht bei den Banken. Vorstanddes Bundesverbandes Deutscher Banken: Fehlanzeige.Vorstand des Bundesverbands Öffentlicher Banken:Fehlanzeige. Vorstand der Deutschen Bundesbank: Fehl-anzeige. Im Vorstand der KfW-Bankengruppe sitzt eineFrau, Ingrid Matthäus-Maier.
Übrigens auch nicht bei den Gewerkschaften. Keine Frauist Vorsitzende einer der acht DGB-Gewerkschaften. Von
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Renate Gradistanacden 13 Mitgliedern im Bundesvorstand des DGB sindzwei Frauen.Da, wo Macht und Geld verteilt werden – das ist einalter Hut; umso trauriger –, muss frau schon ganz genauhinschauen, um überhaupt eine Frau zu finden und umFortschritte zu erkennen. In den obersten Leitungsebe-nen von Betrieben und im Topmanagement findetGleichstellung leider nur Schritt für Schritt statt. Wir kri-tisieren das, wir bedauern das und wir hoffen, dass sichdie Schritte ein bisschen beschleunigen.
Der Antrag der Grünen stößt bei mir auf viel Sym-pathie.
Mir gefällt die Überschrift „Gleichstellung auf dem Ar-beitsmarkt verwirklichen – Innovationshemmnis Män-nerdominanz beenden“. Ich finde das toll. Diese Über-schrift provoziert – ich merke das –, aber ich finde auch,dass es eine unerträgliche Provokation ist, dass Frauen inDeutschland im Durchschnitt immer noch 23 Prozentweniger verdienen als Männer. Darüber sollten wir unsaufregen.
Im Antrag der Grünen wird darauf hingewiesen, dass dieUnterschiede nicht durch strukturelle Differenzen zu er-klären sind, sondern allein durch die Diskriminierungaufgrund des Geschlechts.Ich erwarte von den Tarifpartnern, dass sie sich end-lich einmal mit dem Thema Gleichstellungspolitik be-schäftigen. Sie sollten dieses Thema nicht nebenbei be-handeln wie in der Vergangenheit, sondern entschlossenund prioritär. Hierbei sind die Arbeitgeberseite und dieGewerkschaftsvertreter gefordert. Ich denke an die Her-ren Hundt, Sommer, Braun und wie sie alle heißen. Glei-cher Lohn für gleichwertige Arbeit! Wie lange sollen gutund bestausgebildete Frauen aller EinkommensstufenLohndiskriminierung eigentlich noch hinnehmen?Das rot-grüne Antidiskriminierungsgesetz war inder letzten Legislaturperiode – leider, leider! – nichtdurchsetzbar.
– Es war nicht durchsetzbar, und wir wissen, warum. –Dieses Gesetz bietet gute Möglichkeiten. Die gefordertenationale Stelle – mein Wunsch ist, dass sie beim Minis-terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ange-siedelt wird – halte ich für ein hilfreiches Instrument, umbestehende Diskriminierung abzubauen. Voraussetzunghierfür sind allerdings die Unabhängigkeit dieser Stelleund eine ausreichende finanzielle und personelle Aus-stattung.Ich will, dass wir den Diskriminierungsschutz sowohlim Zivilrecht als auch im Arbeits- und Sozialrecht fürFrauen jeden Alters, für Migrantinnen, für Lesben undfür Frauen mit Behinderungen umsetzen. Gerade Frauenmit Behinderungen erzielen – das zeigt der Zweite Ar-muts- und Reichtumsbericht – deutlich niedrigere Ein-kommen als Männer mit Behinderungen.Ich bedauere – das ist meine persönliche Meinung –,dass es während der rot-grünen Regierungszeit nicht ge-lungen ist, ein Gleichstellungsgesetz für die Privat-wirtschaft durchzusetzen.
Die Bilanz der freiwilligen Vereinbarung von Spitzen-verbänden der Wirtschaft und der Bundesregierung istwahrlich kein Grund zum Jubeln. Es gibt Bewegungbeim Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf. WirSPD-Frauen wollen aber nicht nur Familienförderung,sondern auch eine gezielte Frauenförderung.
Auffallend ist – das haben wir mittlerweile schonmehrmals gehört –, dass kleine Betriebe häufiger vonFrauen geführt werden und dass große Betriebe eher vonMännern geführt werden. Weibliche Führungskräftesind überwiegend in Betrieben des Gesundheitswesens,des Sozialwesens, im Groß- und Einzelhandel sowie inden Bereichen Gastronomie und Kosmetik anzutreffen.Deshalb ist die EU-Dienstleistungsrichtlinie für unsFrauen von großer Bedeutung. Der Kompromiss, denwir maßgeblich der SPD-Europaabgeordneten EvelyneGebhardt zu verdanken haben, bietet eine gute Arbeits-grundlage für EU-Kommission und Rat. Ich plädiere da-für, die Dienstleistungsrichtlinie vom Gender-Kompe-tenz-Zentrum evaluieren zu lassen.Die Gleichstellung der Geschlechter ist im Rahmender Lissabonstrategie ein Instrument für Wachstum undBeschäftigung. Mehr Arbeitsplätze für Frauen ist einesder Ziele, deren Erreichung ich von dieser Bundesregie-rung erwarte. Mit „mehr Arbeitsplätze“ meine ich Ar-beitsplätze für Frauen mit existenzsichernden Löhnen.Wir in Deutschland können den Wettbewerb nur ge-winnen, wenn die Kinderbetreuung uneingeschränktgesichert ist. Väter und Mütter müssen darauf bauenkönnen, dass die Infrastruktur in jedem Kindesalter ver-lässlich ist. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz unddem Ganztagsschulprogramm haben wir in der letztenLegislaturperiode eine gute Grundlage gelegt.
– Ich warte darauf, dass mehr klatschen. –
Mit der Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten unddem zukünftigen Elterngeld gehen wir diesen Weg wei-ter.Die Dienstleistungsverbände in Baden-Württemberghaben in einem Positionspapier zur dortigen Landtags-wahl zu Recht einen Betreuungsplatz für jedes Kind biszum Schulalter und bedarfsgerechte Öffnungszeiten von
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Renate GradistanacBetreuungseinrichtungen gefordert, und zwar – das istfür berufstätige Menschen wichtig – ganzjährig und über16 Uhr hinaus.Letztes Thema. Deutschland ist bereits Fußballwelt-meister; das gilt jedenfalls für die Frauenmannschaft.
Jetzt wollen wir einmal schauen, was die Männer sokönnen! Klaus Wowereit und Theo Zwanziger sindSchirmherren der Kampagne „Abpfiff – Schluss mitZwangsprostitution“, die der Deutsche Frauenrat anläss-lich der Fußballweltmeisterschaft gestartet hat. Frauen-handel und Zwangsprostitution sind kriminell undverletzen die Menschenwürde. Von den Männern, die zuProstituierten gehen – wir wissen, dass das sehr vielesind –, wünsche ich mir, dass sie bei Verdacht auf Zwangund Gewalt Meldung erstatten. Es wird eine Telefon-nummer geben, an die sie sich anonym wenden können.Den Frauen, die legal und selbstbestimmt der Prostitu-tion nachgehen, wünsche ich gute Geschäfte.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, letzter Satz. – Ich hoffe, dass wir in Kürze weitere
gesetzliche Verbesserungen für Prostituierte erreichen
werden.
Ich wünsche der Bundeskanzlerin und der Ministerin
Ursula von der Leyen viel Freude und Erfolg bei der
Gleichstellungspolitik.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauMinisterin, es freut mich, dass Sie den Weg zu uns nochgefunden haben. Einer frauenpolitischen Diskussion zu-zuhören, ist für eine Ministerin, gerade wenn sie frischim Amt ist, sicherlich wichtig und richtig. Ich bin sicher,dass Sie uns in Zukunft bei frauenpolitischen Diskussio-nen ganz besonders begleiten.
Mit dem Thema Männerdominanz ist ein Tag nachdem Internationalen Frauentag, gewissermaßen am „Dayafter“, hier im Deutschen Bundestag ein interessantesThema aufgesetzt worden. Die Männerdominanz ist inFamilien und Communities hier lebender Migrantinnenund Migranten präsent. Gerade auf dieses Themamöchte ich Ihr besonderes Augenmerk lenken.Uns ist es noch nicht gelungen, Frauen und Mäd-chen mit Migrationshintergrund in unsere westlicheund freiheitlich orientierte Gesellschaft zu integrieren.Tagtäglich ist die Diskriminierung von Frauen und Mäd-chen in der patriarchialen Gesellschaft, in der sie auf-wachsen, präsent.
Das große Potenzial auch von Migrantinnen für unsereWirtschaft und für unser Wirtschaftsleben gilt es zu er-schließen. Ohne Wenn und Aber muss die Schulpflichtzur Bildungschance werden. Das ist eine Aufgabe, derwir uns verstärkt annehmen müssen.
Nur so erhält eine offene Zuwanderungspolitik auch ihreinnere Bestätigung.Wichtigste Instrumente zur Vorbereitung auf die Teil-nahme am Arbeitsmarkt sind hierbei die verbindlicheund verbindende Deutschpflicht in der Schule und aufden Schulhöfen sowie die obligatorische Teilnahme amSport- und Biologieunterricht und an den für eine Grup-penbildung wichtigen Klassen- oder Wandertagsfahrten.
Eine von den Familien diktierte Ausgrenzung der Mäd-chen im Kindes- und jugendlichen Alter darf es nicht ge-ben.
Die Bereitschaft von Migrantinnen, selbstständig oderals Unternehmerinnen tätig zu werden, ist besonders zufördern. Frauen mit Migrationshintergrund, die zweiSprachen sprechen, können als Mittlerinnen fungieren.Ihnen kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie Inte-gration authentisch vorleben, auch mit der Selbststän-digkeit und Selbstbestimmtheit ihres Lebens, losgelöstvon der Dominanz von Vätern, Brüdern oder Cousins.Soziale Gettos müssen aufgebrochen und Parallelwel-ten geöffnet werden. Gleichberechtigung der Geschlech-ter muss als Wertgerüst Europas und der westlichen Weltvorgelebt und mit den hier lebenden Migranten entwi-ckelt werden.In Anbetracht des Gender Mainstreaming müssen wiruns auch die Situation von Männern vor Augen führen.Gerade Männern mit Migrationshintergrund wird einRollenbild abverlangt, das sie in Deutschland nur nochschwer erfüllen können. Hierbei ist es wichtig, dassschon früh eine Erziehung hin zur westlichen, europäi-schen Lebenswelt stattfinden kann. Außerdem ist eswichtig, dass gerade Mütter in Familien mit Migrations-hintergrund die deutsche Sprache lernen, damit sie ih-ren Söhnen die deutsche Gesellschaft erklären können.Hier gibt es ja interessante Modelle. Ich denke nur an dieBeispiele, die uns gestern die Integrationsbeauftragtevorgetragen hat.Meine Damen und Herren, Frauenpolitik ist ein Fak-tor, der für eine erfolgreiche Gesellschaft wichtig ist. DieEinbindung von gut ausgebildeten Frauen und Männernmit Migrationshintergrund in die deutsche Arbeitswelt
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Sibylle Laurischkstellt auch eine Möglichkeit dar, unserem demografi-schen Defizit auf wirtschaftlichem Gebiet zu begegnen.Frau Humme, Sie haben ja Aussagen des Präsidentendes Deutschen Industrie- und Handelskammertages zi-tiert. Dazu möchte ich nur ergänzen: Er ist ein Liberaler.
Insofern, denke ich, war Ihre Bemerkung, mit dem Libe-ralismus sei eine Politik der Beliebigkeit verbunden,schlichtweg falsch; denn der Liberalismus ist eineEmanzipationsbewegung.
Somit können wir auf eine lange Tradition in diesemPolitikbereich verweisen.
Frau Kollegin, Sie müssten nun Ihre Rede beenden.
Mein letzter Satz. – Durch die besondere Förderung
von Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund
können wir ein positives Beispiel geben für Gleichbe-
rechtigung im doppelten Sinne: Gleichberechtigung zwi-
schen den Geschlechtern und zwischen den unterschied-
lichen in Deutschland lebenden Ethnien.
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-
Becker, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Das vor uns liegende Jahrhundert ist dasJahrhundert der Frauen. Das ist die Prognose des Zu-kunftsforschers Matthias Horx. Mit diesem Satz leitetauch die Europäische Akademie für Frauen in Politikund Wirtschaft ihre neue Studie über Mütter in Füh-rungspositionen ein. Nicht nur in Bezug auf die demo-grafische Entwicklung, sondern auch mit Blick auf dieaktuellen ökonomischen Herausforderungen werdenFrauen die entscheidende Rolle für die Zukunftsfähig-keit unseres Landes spielen.In der Analyse sind wir uns einig: Inzwischen errei-chen in Deutschland mehr Frauen als Männer die Allge-meine Hochschulreife; bei den Studienanfängern ist dieBilanz noch ausgeglichen; auf dem Arbeitsmarkt wirddann aber eine Gleichstellung von Frauen und Männernbei weitem noch nicht erreicht. Vor allem in den ein-flussreichen und einträglichen Positionen sinkt der An-teil der Frauen hierzulande immer noch dramatisch abund sie erzielen regelmäßig nur etwa 77 Prozent der Ge-hälter ihrer männlichen Kollegen, auch wenn es sich umabsolut vergleichbare Positionen und Tätigkeiten han-delt.
Das hat viele Ursachen, unter anderem auch dieBerufswahl von Frauen, die sich vielfach für so ge-nannte frauentypische Berufe entscheiden. Das ist mei-ner Ansicht nach – dieser Gedanke findet sich ja auch inden Anträgen der Opposition – ein Missstand. Wir müs-sen Mädchen und Frauen ermuntern, sich nicht durcheinseitige Rollenbilder vom Einstieg in interessante undlukrative Berufe abhalten zu lassen.
Hierzu steht allerdings ein Punkt im Antrag der FDPim Widerspruch: Sie begründen nämlich dort die Forde-rung nach Abschaffung von Hemmnissen zur Schaffungneuer Arbeitsplätze vor allem im Dienstleistungssektordamit, dass hier in der Regel besonders gute Beschäfti-gungsmöglichkeiten für Frauen bestünden. Damit legenSie Frauen ja wieder auf einen frauentypischen Bereichfest, in dem sie wieder nicht den Einfluss haben undnicht das Geld verdienen können wie in anderen Positio-nen, die zukunftsträchtiger sind. Diese Forderung hilftuns deshalb, auch wenn sie in anderen Zusammenhän-gen durchaus berechtigt ist, bei dem Punkt, um den eshier geht, nämlich der Chancengleichheit auf dem Ar-beitsmarkt, nicht wirklich weiter.
Mir liegt folgender Punkt besonders am Herzen, wo-bei dieser nicht die einzige Ursache für die Problemedarstellt: Schwierigkeiten bereitet vielen jungen Frauenvor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.Das führt dazu, dass die Frauen, die trotz aller Hinder-nisse berufliche Karriere machen, mehr und mehr aufKinder verzichten. Frauen, die es in Führungspositionenschaffen, sind häufiger kinderlos als Männer in ver-gleichbaren Positionen. Bei den Akademikerinnen liegtder Anteil derjenigen, die sich komplett gegen Kinderentscheiden, mittlerweile bei bis zu 40 Prozent. MehrereKinder sind in diesem Fall sogar noch seltener. Dasmacht uns an anderer Stelle, bei der demografischenEntwicklung in der Bundesrepublik mit all ihren negati-ven Auswirkungen auf die wirtschaftliche und gesell-schaftliche Innovationsfähigkeit unseres Landes, ganzerhebliche Sorgen.Wenn sich eine qualifizierte Frau für Kinder entschei-det, dann führen alte gesellschaftliche Leitbilder, das tra-ditionelle Rollendenken, männliche Vorurteile und Seil-schaften, vor allem aber die praktischen Probleme beider Vereinbarkeit von Kindererziehung und Karriere im-mer noch dazu, dass auch begabte junge Mütter aufge-ben und sich länger, als sie es selbst wünschen, und mitgroßen Nachteilen bezüglich ihrer Chancen auf eine wei-tere Karriere auf dem Arbeitsmarkt aus dem Berufslebenzurückziehen.Ich möchte hier aber auch nicht unerwähnt lassen,dass sich viele Eltern sehr gerne um ihre Kinder küm-mern und dafür die Berufstätigkeit bewusst ganz oderteilweise zurückstellen. Ich habe das selber so gemacht.
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Elisabeth Winkelmeier-BeckerIch war als Mutter von drei Kindern jahrelang als Rich-terin teilzeitbeschäftigt und ich bin nicht bereit, mich da-für in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, auch wenn dasdie Nachteile, die damit verbunden sind, nicht gerechtermacht.
Fakt ist, dass zu wenige Frauen in Fach- und Füh-rungspositionen, ein zahlenmäßig zu kleiner qualifizier-ter weiblicher Nachwuchs in manchen Disziplinen undzu wenige positive weibliche Vorbilder für die nachkom-mende Generation vorhanden sind. Diese Benachteili-gung von Frauen stellt eine Vergeudung von Ressourcenund einen Verzicht auf wichtiges Innovationspotenzialdar.Die eingangs genannte Studie der EAF zeigt, wie sehrfamilienbezogene und berufliche Kompetenzen sichpositiv verstärken. Für Unternehmen wertvolle Verhal-tensweisen wie Gelassenheit, Organisationsfähigkeit undPragmatismus werden durch den Alltag mit Kinderndeutlich verstärkt und ausgeprägt. Müttern oder auchpraktizierenden Vätern fällt es nachweislich leichter,Konflikte zu lösen, Arbeiten zu delegieren, Wichtigesvon Unwichtigem zu unterscheiden und sich die Zeitsinnvoll einzuteilen; es bleibt einem ja auch nichts ande-res übrig. In dieser Hinsicht verschwenden wir wertvol-les Know-how, wenn wir es nicht schaffen, diese Frauen,soweit sie dazu bereit sind, in den Arbeitsprozess zu-rückzuholen.
Die Union hat früh erkannt, dass Deutschland es sichnicht länger leisten darf, Frauen zu hoch qualifiziertenFachkräften auszubilden und sie dann auf einen Arbeits-markt zu entlassen, der sie – im Gegensatz zu den männ-lichen Kollegen – praktisch dazu zwingt, sich zwischenKindern und Karriere zu entscheiden. Unsere Gesell-schaft braucht Frauen in beiden Rollen: auf dem Arbeits-markt als qualifizierte Fach- und Führungskräfte und alsengagierte Mütter.
Mit unserem Antrag „Tatsächliche Gleichberechti-gung durchsetzen – Zehn Jahre Novellierung des Art. 3Abs. 2 des Grundgesetzes“ haben wir bereits in der ver-gangenen Wahlperiode gefordert, die Gleichstellungspo-litik als zentrales Element der Gesellschafts- und derWirtschaftspolitik zu begreifen und die Freiheit derWahl zwischen Beruf und Familie durch geeigneteMaßnahmen zu fördern. Diesen Antrag haben Sie, liebeKollegen und Kolleginnen von den Grünen, damals ab-gelehnt.Inzwischen ist die Union in der Regierungsverant-wortung. Gemeinsam mit der SPD haben wir uns imKoalitionsvertrag dazu verpflichtet, uns für gleiche Kar-rierechancen und den gleichberechtigten Zugang zu Füh-rungspositionen in Wirtschaft, Wissenschaft und For-schung für Frauen und Männer einzusetzen. Gleichzeitighaben wir umfangreiche familienpolitische Maßnah-men festgeschrieben, die die Vereinbarkeit von Familieund Beruf für Mütter und Väter erleichtern sollen.
Nach nur 100 Tagen im Amt hat die Koalition es be-reits geschafft, die Familien- und damit auch die Gleich-stellungspolitik ganz oben auf die politische Agenda zusetzen.
Familien werden nun die Möglichkeit erhalten, Kinder-betreuungskosten in deutlich größerem Umfang vonder Steuer abzusetzen. Dies erleichtert die Vereinbarkeitvon Beruf und Familie und davon profitieren vor allemFrauen, die nach einer Kinderphase in den Beruf zurück-kehren wollen.
Wir brauchen aber auch ein Umdenken bei den Ar-beitgebern, vor allem in deren eigenem Interesse. Siemüssen erkennen, dass die demografische Entwicklungund der absehbare Fachkräftemangel es unverzichtbarmachen, dass Frauen entsprechend ihrer Qualifikationberuflich tätig sein können. Das schließt ein, dass zumBeispiel durch flexible Arbeitszeiten, durch Verständnisfür die Belange von berufstätigen Müttern und durch un-komplizierte praktische Hilfe ein familienfreundlichesUmfeld geschaffen wird.In diesem Zusammenhang ist auch die Ausgestaltungdes geplanten Elterngeldes wichtig, bei der die Zahlun-gen für die letzten Monate, nach jetziger Planung für denelften und zwölften Monat, davon abhängen sollen, dassbeide Eltern mindestens für zwei Monate die Kinder-erziehung übernehmen. Bislang wird das Risiko, dassein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin wegen Kin-dererziehung zumindest vorübergehend aus dem Berufausscheidet, vor allem den Frauen zugeschrieben. Diesstellt tatsächlich ein Hindernis bei der Einstellung, aberauch bei der Auswahl für Qualifizierungsmaßnahmendar.Wenn in Zukunft mehr Väter als bislang aufgrund desAnreizes, den diese Regelung setzt, für einige Zeit fürdie Kindererziehung aus dem Beruf ausscheiden – dieserhoffen wir vor allem im Interesse der Kinder und auchder Väter selbst, denen wir diese schöne und spannendePhase nicht vorenthalten wollen –,
dann wird sich auch hier ein Ausgleich zwischen denGeschlechtern einstellen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,wir haben doch alle erkannt, wie vordringlich wichtig esist, dass Frauen gleichberechtigt in den Arbeitsmarkt in-tegriert werden.
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Elisabeth Winkelmeier-Becker– Die Opposition ist in diesem Saal gut verteilt. – Wirsind als Gesetzgeber nach Art. 3 Abs. 2 des Grundgeset-zes verpflichtet, hierzu die notwendigen Voraussetzun-gen zu schaffen. Das wird die Union ganz nachdrücklichauch weiterhin tun.Die Erfahrung hat aber auch gezeigt, dass Chancen-gleichheit letztlich nur in geringem Maße per Gesetzverordnet werden kann. Denn vieles beruht auf den dochfreiwilligen Entscheidungen der Mädchen und Frauen,um die es geht. Wichtige Änderungen in den Rahmenbe-dingungen sind auf den Weg gebracht. Darüber hinaussind gesetzliche Sanktionen und Eingriffe in die Privat-autonomie meiner Ansicht nach nicht wirklich zielfüh-rend.Wir müssen ein Umdenken in der Gesellschaft und inder Arbeitswelt erreichen. Konzepte wie der Girls’ Dayoder das von der Bundesregierung unterstützte Mento-ringprojekt TWIN sind die richtigen Ansätze. Auf die-sem Weg müssen wir weitergehen, damit jede Frau inDeutschland die Chance erhält, sich nach ihren Neigun-gen und Fähigkeiten in diese Gesellschaft einzubringenund sie zu bereichern.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Wir gratulieren Ihnen herzlich und wünschen
für die weitere Arbeit alles Gute.
Als nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Sönke
Rix von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Wo ich herkomme, sagt man zu dieser Tageszeit,wie auch zu jeder anderen Tageszeit: Moin.Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung derGleichberechtigung von Frauen und Männern …So steht es im Grundgesetz: „Der Staat fördert …“ Erfordert sie nicht und setzt sie nicht tatsächlich durch; erfördert sie. Das ist auch gut so.Gleichberechtigung kann nicht befohlen werden. Sie– das sage ich an die Adresse der Grünen – beschreibendas ja auch in Ihrem Antrag. Ich zitiere:Denn Gleichberechtigung ergibt sich nicht automa-tisch, sondern muss gesellschaftlich, politisch und– ich füge ein: erst dann –gesetzlich begleitet und gestaltet werden.Die Gleichstellung betrifft Männer und Frauen.
Also kann auch die Überwindung der noch bestehenden„Männerdominanz“ nur gemeinsam mit den Männerngelingen, mit der gleichzeitigen Erkenntnis, dass einBeitrag beider Geschlechter in Familie und Beruf undsomit für die Gesellschaft erforderlich ist.
Hier steht die Kuh auf dem Eis. Wir brauchen einUmdenken in den Köpfen aller Beteiligten. Ich habenichts dagegen, wenn ein jeder nach seiner Fasson seinFamilienleben gestaltet. Das ist gut und auch richtig so;so soll man es machen. Wer aber einen anderen Lebens-entwurf hat, als Einzelperson oder auch als Familie,muss die Möglichkeit haben, diesen auch zu leben.
Der Mann geht zur Jagd und die Frau sitzt in derHöhle und passt auf die Kinder auf; das ist schon langekeine zeitgemäße Rollenverteilung mehr. Wenn wir die-ses traditionelle Rollenmodell überwinden, haben wirnebenbei auch das von Ihnen zitierte „Innovations-hemmnis Männerdominanz“ überwunden. Dies ist imÜbrigen ein sehr fragwürdiger Ausdruck. Er macht näm-lich deutlich, was nicht zum Erfolg führen kann: ein Ge-geneinander aller Beteiligten.
Nun weiß ich ja, dass Sie mit diesem Titel nur provozie-ren wollen. Aber zu viel Provokation kann dazu führen,dass nur noch über den Titel geredet wird. Das wollenwir alle gemeinsam nicht.
Wir alle wollen das Gleiche, nämlich eine Versteti-gung unseres gemeinsamen Ziels: die Gleichberechti-gung von Mann und Frau. Der gestrige InternationaleFrauentag hat noch einmal verstärkt ein Augenmerk aufdie Situation der Frauen in unserer Gesellschaft gerich-tet. Dabei wird deutlich, dass es noch viel zu tun gibt,auch für uns Männer, wie ich an dieser Stelle sagenmuss.
Wir müssen es gemeinsam schaffen, die politischen Rah-menbedingungen so zu verändern, dass die Väter nichtmehr in dem üblichen Rollenverständnis verharren müs-sen.Wo wollen wir hin? Wir wollen dahin kommen, dasses für Arbeitgeber nicht mehr selbstverständlich ist, dassnach der Geburt eines Kindes automatisch die Mutter zuHause bleibt. Wir wollen dahin kommen, dass der Vatersein Recht auf Teilzeit oder Elternzeit in Anspruchnimmt.
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Sönke RixWir wollen dahin kommen, dass der Arbeitgeber und dieArbeitgeberin sich nicht mehr auf der sicheren Seitewähnen, wenn sie vorwiegend Männer einstellen.
Diesen Weg wollen wir alle hier im Haus – so hoffe ichzumindest – gemeinsam beschreiten.Die vorliegenden Anträge zielen zwar zum Teil in dierichtige Richtung. Aber wir haben mit unserer Familien-politik bereits die Weichen in die richtige Richtung ge-stellt. Mit dem Elterngeld sind wir zum Beispiel denrichtigen Weg gegangen, Vätern das Zu-Hause-Bleibenschmackhaft zu machen. Es gibt sie, die Väter, die denNachmittag mit dem Kinderwagen auf dem Spielplatzverbringen wollen. Viele können sich dies zurzeit abereinfach nicht leisten. Da haben wir angesetzt. Mit unse-ren Bemühungen um eine verstärkte Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf wird vielen Männern – gerade auchmeiner Generation – geholfen, dem Willen auch Tatenfolgen zu lassen.
Zum Schluss möchte ich einen Absatz aus dem An-trag der Grünen zumindest teilweise geraderücken. Ichzitiere:Gleichzeitig beschränken Geschlechterklischeesauch Jungen in ihrer Berufswahl, die öffentlicheDiskussion um Männer in Erzieherberufen spiegeltdie individuellen und gesellschaftlichen Nachteilewider.
Dazu muss ich als staatlich anerkannter Erzieher sagen:
Ich konnte weder eine öffentliche Diskussion um meineBerufswahl noch irgendwelche gesellschaftlichen Nach-teile feststellen.
Insofern möchte ich alle ermutigen, sich nicht auf dieRollenfestschreibungen in der Berufswelt einzulassen.Es gibt keine klassischen Männer- und Frauenberufemehr.
Ich füge hinzu: Es gibt hoffentlich auch keine klassischeRollenverteilung innerhalb der Familie mehr.Danke schön.
Herr Kollege Rix, das war Ihre erste Rede hier. Wir
gratulieren herzlich und wünschen Ihnen alles Gute.
Zum Abschluss der Debatte gebe ich das Wort der
Kollegin Angelika Graf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Frauen in Deutschland: Riesenfortschritte und hoheHürden auf dem Lebensweg“ betitelte die Zeitschrift„Böckler Impuls“ in ihrer letzten Ausgabe einen Berichtüber den Stand der Gleichstellung in Deutschland. Dieheutige Gleichstellungsdebatte bietet die Möglichkeit,über beides zu sprechen. Alle Vorrednerinnen habendeutlich gemacht, dass in den letzten Jahrzehnten vielpassiert ist, dass wir aber mit dem Erreichten noch nichtzufrieden sein können. Auch die Männer haben das indieser Debatte unterstrichen. Ich erinnere an das, wasKollege Sönke Rix gesagt hat, nämlich dass auch dieMänner mit dem Erreichten nicht zufrieden sind.Ich möchte die jetzige Debatte zum Anlass nehmen,das Bild etwas abzurunden, das heute gezeichnet wordenist, und auf zwei Gruppen von Frauen aufmerksam ma-chen, die den „Riesenfortschritten“ noch etwas hinterherhinken: Das sind auf der einen Seite die älteren Arbeit-nehmerinnen und auf der anderen Seite die Migrantin-nen. Beide Gruppen haben ihre spezifischen Schwierig-keiten mit unserem Arbeitsmarkt. Sie bedürfen, zum Teilim doppelten Sinne, der Integration.Ältere Arbeitnehmerinnen – das sind Frauen etwain meinem Alter, also solche, die kurz nach dem Kriegbzw. noch im Krieg geboren wurden. Ihre Erwerbsquotelag 2004 in den alten Bundesländern bei den 56- bis 59-Jährigen bei 59,6 Prozent, bei den 60- bis 64-Jährigennur noch bei 21,1 Prozent. Die Quoten bei den Männernliegen in beiden Fällen um etwa 20 Prozent höher. DieFrauen dieser Generation weisen zum großen Teil nochklassische Biografien auf: Schule, kein allzu hoher Bil-dungsabschluss mit der Begründung: „Die heiratet ja so-wieso“, Ausbildung oft in einem typischen Frauenberuf,schlechter Lohn für zum Teil schwere Arbeit, etwa alsVerkäuferin oder Friseurin, Heirat und Aufgabe des Be-rufs wegen der Kinder. Es folgt ein später Wiederein-stieg ins Berufsleben – wenn überhaupt –, oft unterhalbder Qualifikation, in Teilzeit und mit schlechter Bezah-lung oder in nicht angemeldeten bzw. prekären Jobs.Weiterbildung – meistens Fehlanzeige. Karriere machendiese Frauen selten. Ich habe Zweifel, ob das mit der Re-gulierungsdichte bei uns zusammenhängt, sehr verehrteFrau Lenke.Auf eine Rentenbeitragszeit von 45 Jahren bzw. einegeschlossene Rentenbiografie kann kaum eine dieserFrauen zurückblicken. Die Folge: niedrige eigene Ren-tenansprüche – fast ein Drittel weniger als die Männer –,wenig gesellschaftliche Anerkennung; denn die Defini-tion gesellschaftlicher Anerkennung erfolgt oft über denErfolg des Ehemannes. Symptomatisch für das Ganzeist: Es gibt kaum wissenschaftliche Untersuchungen, diesich mit der Lage der Frauen dieser Generation beschäf-tigen. Dabei ist das Alter eindeutig weiblich.
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Angelika Graf
Anmerkung am Rande: Wen wundert es, wenn unterdiesen Bedingungen und aufgrund dieser Eindrückeviele Töchter von Frauen dieser Generation, die viel bes-ser ausgebildet sind als ihre Mütter, erst Karriere machenwollen, bevor sie Kinder kriegen, bzw. Karriere undKinder als Gegensätze auffassen?Über die Notwendigkeit der Kinderbetreuung, das El-terngeld und andere familienpolitische Maßnahmen ha-ben wir heute schon ausführlich gesprochen. Ich denke,wir brauchen zusätzlich ein mit Sensibilität durchgeführ-tes Programm im Rahmen des Beschäftigungspaktesfür über 55-Jährige,
das der Situation dieser Frauen gerecht wird. Fernerbrauchen wir Forschungsprojekte. Vielleicht kann diedeutsche Wirtschaft ja ein solches starten. Es könntedenjenigen die Augen öffnen, die heute noch an den al-ten Rollenbildern festhalten.Wissenschaftlich etwas stärker erforscht ist die Situa-tion von Migrantinnen auf unserem Ausbildungs- undArbeitsmarkt. Auch Frau Laurischk ist ja darauf einge-gangen. Verständlich ist es schon, dass wir uns damitmehr beschäftigen, weil wir endlich begriffen haben,dass Integration eine der gesellschaftlich notwendigstenGegenwartsaufgaben überhaupt ist.
Der Newsletter der Arbeitsstelle „Interkulturelle Kon-flikte und gesellschaftliche Integration“, die vom Bun-desministerium für Bildung und Forschung gefördertwird, stellte im Februar 2006 fest, die Arbeitsmarktinte-gration der männlichen Zuwanderer sei in Deutschlandim internationalen Vergleich relativ gut – übrigens sinddie Zahlen trotzdem schlecht –, bei den weiblichen Zu-wanderern aus der Türkei sei sie jedoch extrem niedrigund liege, über alle Altersgruppen zwischen 15 und64 Jahren gemessen, nur bei 35 Prozent. Das sei unteranderem ein Resultat des lange Zeit eingeschränkten Ar-beitsmarktzugangs für Ehepartner.Schauen wir auf die jungen Menschen mit Migra-tionshintergrund – Herr Singhammer hat das Problemschon angesprochen –: 16 Prozent der türkischstämmi-gen Mädchen und 23 Prozent der Jungen verlassen dieSchule ohne Schulabschluss. Ich denke, das ist eine ge-sellschaftliche Katastrophe. Gleichzeitig machen nur11 Prozent der jungen Frauen türkischer HerkunftAbitur; bei den Männern sind es sogar noch weniger.Von allen türkischen Jugendlichen finden nur 29 Prozentder männlichen wie weiblichen Bewerber eine Lehr-stelle. Dazu kommt: Auch ein gutes Zeugnis beschert ei-ner jungen Türkin noch lange keinen Ausbildungsplatz.Zu groß sind die Vorbehalte der Arbeitgeber – auch dasist ein weites Feld für die IHK –, ihr Bruder oder Cousinhat trotz eines schlechteren Zeugnisses immer noch bes-sere Chancen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Gern. – Die Konsequenz: Auch diese junge Frau wird
sich – wie ihre Mutter – nicht in unsere Gesellschaft in-
tegrieren.
Das Fazit muss lauten: Ohne Gleichstellung keine In-
tegration und umgekehrt. Wir müssen die Chancen, die
die große Koalition bietet, nutzen, um diesen Kreislauf
zu durchbrechen.
Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/712 und 16/832 sowie 16/833 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Damit sind Sie ganz offensichtlich einver-standen. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 g sowiedie Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:19 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des patentrechtlichen Einspruchsverfah-rens und des Patentkostengesetzes– Drucksache 16/735 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologieb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demInternationalen Übereinkommen von 2001über die zivilrechtliche Haftung für Bunkeröl-verschmutzungsschäden– Drucksache 16/736 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Ölschadengesetzes und andererschifffahrtsrechtlicher Vorschriften– Drucksache 16/737 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen über das Recht der nicht-schifffahrtlichen Nutzung internationalerWasserläufe– Drucksache 16/738 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardte) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-tokoll vom 17. Juni 1999 über Wasser undGesundheit zu dem Übereinkommen von 1992zum Schutz und zur Nutzung grenzüber-schreitender Wasserläufe und internationalerSeen– Drucksache 16/739 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung von Vorschriften des Sozialen Entschädi-gungsrechts und des Gesetzes über einenAusgleich von Dienstbeschädigungen im Bei-trittsgebiet– Drucksache 16/754 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschussg) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzungVierter Sachstandsbericht zum Monitoring„Technikakzeptanz und Kontroversen überTechnik“Partizipative Verfahren der Technikfolgenab-schätzung und parlamentarische Politikbera-tung– Drucksache 15/5652 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuer-lichen Förderung von Wachstum und Beschäf-tigung– Drucksache 16/753 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Betriebsprämiendurchfüh-rungsgesetzes– Drucksache 16/858 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 i auf.Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 20 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines SiebentenGesetzes zur Änderung des Gemeindefinanz-reformgesetzes– Drucksache 16/635 –aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi-nanzausschusses
– Drucksache 16/835 –Berichterstattung:Abgeordnete Antje Tillmann
– Drucksache 16/852 –Berichterstattung:Abgeordnete Jochen-Konrad FrommeCarsten Schneider
Otto FrickeDr. Gesine LötzschAnja HajdukDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/835, den Gesetzentwurfanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-setzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-entwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen.
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Vizepräsidentin Katrin Göring-EckardtTagesordnungspunkt 20 b:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENErneute Überweisung von Vorlagen aus frühe-ren Wahlperioden– Drucksache 16/820 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Damit ist dieser Antrag mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses, zunächst zu Tagesordnungspunkt20 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 14 zu Petitionen– Drucksache 16/662 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 14 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 20 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 15 zu Petitionen– Drucksache 16/663 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 20 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 16 zu Petitionen– Drucksache 16/664 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 16 mit denStimmen der Koalition, von Bündnis 90/Die Grünen undFDP bei Gegenstimmen der Linksfraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 20 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 17 zu Petitionen– Drucksache 16/665 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen derKoalition gegen die Stimmen der Opposition angenom-men.Tagesordnungspunkt 20 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 18 zu Petitionen– Drucksache 16/666 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen dergroßen Koalition und der FDP gegen die Stimmen vonBündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion angenom-men.Tagesordnungspunkt 20 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 19 zu Petitionen– Drucksache 16/667 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Diese Sammelübersicht ist angenommen mit denStimmen der Koalition und der Linksfraktion gegen dieStimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP.Tagesordnungspunkt 20 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 20 zu Petitionen– Drucksache 16/668 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 20 ist angenommen mitden Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Grü-nen und Linksfraktion und Enthaltung der FDP.Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der LINKENDie Zukunft der RenteIch eröffne die Aussprache und gebe das Wort demKollegen Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir beschäftigen uns in dieser Aktuellen Stunde mit derZukunft der Rente. Auch die Debatte danach beschäftigtsich mit der Rente.
Ich gehe davon aus, dass wir uns in den nächsten Jahrennoch öfter mit diesem Thema beschäftigen müssen.Es gibt eine erschreckende Entwicklung der Eckrente.Man muss einmal erklären, was eine Eckrente ist.
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Dr. Gregor Gysi
Diese bekommt ein Durchschnittsverdiener nach45 Arbeitsjahren, also nach 45 Versicherungsjahren. DiePrognose ist von 1995 bis heute um über 300 Euro ge-sunken. Das ist eine dramatische Entwicklung.
Ich glaube, es war Herr Müntefering, der erklärt hat,dass die gesetzliche Rente allein in der Zukunft nichtmehr genügen wird. In der nächsten Debatte wird es da-rum gehen, dass keine Kürzung der Rente stattfindensoll, obwohl wir im letzten Jahr einen Rückgang bei denLöhnen zu verzeichnen hatten. Aber das, was man nichtkürzt, soll später angerechnet werden, wenn die Löhnewieder einmal steigen. Im Kern nutzt das, was gleich be-schlossen wird, den Rentnerinnen und Rentnern also fastnicht.In der Gesellschaft gibt es eine kulturelle Verände-rung. Es gab eine Zeit, in der sich die Union besondersstark für die Rentnerinnen und Rentner eingesetzt hat.Diese Zeit ist vorbei.
– Sie ist wirklich vorbei.
Sie nennen immer wieder den demografischen Faktor,der hierbei übrigens der unwichtigste Faktor ist. SeitTausenden von Jahren werden Menschen älter. Das istwirklich nicht neu. Das hätten Sie schon 1949 wissenkönnen. Ich sage Ihnen dazu: Die Produktivitätsentwick-lung ist viel entscheidender. Ich habe das hier schon ge-sagt und betone es noch einmal: Bei Daimler-Benzbrauchte man vor 20 Jahren vier Arbeitskräfte für etwas,für das man heute nur noch eine Arbeitskraft braucht; dieschafft dasselbe wie damals vier. Die Lohn- und Abga-benentwicklung hat da nicht mitgehalten. Damals warendie vier in der Lage, vier Rentnerinnen und Rentner zuversorgen; heute könnte es der eine alleine leisten. Da-rauf haben Sie keine Rücksicht genommen. Sie hängenausschließlich am demografischen Faktor, der in diesemZusammenhang aber unwichtig ist.
Jetzt nenne ich noch ein kulturelles Moment, das mirwichtig ist: Ältere Leute sind früher durch die Straßender Bundesrepublik gegangen und waren stolz darauf,dass sie dieses Land aufgebaut haben.
Heute müssen sie, wenn sie durch die Straßen gehen, er-klären, warum sie noch da sind.
Denn bei jeder Debatte sagen Sie: „Die Menschen wer-den älter. Das ist schön, aber …“ Die Begründung desAbers dauert dann 20 Minuten. Das diskreditiert ältereMenschen. Davon sollten Sie wegkommen!
Nun stellt man sich die Frage, ob es denn eine Lösungfür das Problem gibt. Ihre einzige Lösung ist immer:kürzen, kürzen, kürzen, und zwar überall, zum Beispielbei der Rente. Ich glaube, es gibt andere Wege, über diewir vielleicht einmal diskutieren müssten:
Ist es richtig, dass nur die abhängig Beschäftigten in diegesetzliche Rentenversicherung einzahlen, oder solltenwir nicht für die nächste Generation – ich spreche nichtüber die heute 50-Jährigen; auch ich weiß, dass das fürsie nicht hinzubekommen ist; aber irgendwann mussman anfangen – einen anderen Weg gehen und sagen:Alle, die mehr haben als ein bestimmtes Mindestein-kommen, werden verpflichtet, in die gesetzliche Renten-versicherung einzuzahlen,
egal ob sie von Mieten oder Zinsen leben, ob sie Rechts-anwälte, Abgeordnete oder abhängig Beschäftigte sind,was auch immer? Das wäre eine Bürgerversicherung.
– Ich weiß, dass sie dann Rentenansprüche haben. Dasist mir nicht völlig fremd.Das zweite, was wir machen müssen, ist die Aufgabeder Beitragsbemessungsgrenze. Wer ein hohes Einkom-men hat, muss von einem hohen Einkommen seine Bei-träge bezahlen. Dann steigt natürlich der Rentenan-spruch.
Ergo muss ich die Rentensteigerung abflachen. Das darfman bei einer solidarischen Rentenversicherung. Ichsage Ihnen, für diese Idee gewinnen Sie sogar Besserver-dienende, und zwar aus einem einzigen Grund: Bevorich Steuern bezahle – ich weiß nicht, ob Sie davon einenPanzer kaufen oder etwas für die Rente ausgeben –,zahle ich lieber in eine gesetzliche Rentenversicherungein, auch wenn ich weiß, ich müsste 130 Jahre alt wer-den – werde ich nicht –, um alles wieder herauszube-kommen. Dafür bezieht eine Frau länger Rente, als sieeingezahlt hat. Das geht in Ordnung. Das ist das Weseneiner solidarischen Rentenversicherung.
Dafür müssten Sie natürlich an die Besserverdienen-den herantreten. Das traut sich die SPD nicht, ge-schweige denn die Union. Das ist Ihre Feigheit. Das istdas Problem, mit dem wir es hier zu tun haben.
Deshalb kommen Sie nur auf Kürzungen.
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1668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
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Dr. Gregor GysiKommen wir zu den Unternehmen. Ich bin der Auf-fassung, dass die Bindung der Abgaben der Unterneh-men für Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversiche-rung an den Lohnfaktor auf Dauer nicht zu halten ist.Das machte zu Bismarcks Zeiten noch Sinn, weil damalsnoch 90 Prozent abhängig beschäftigt waren. Wir habeninzwischen eine andere Ökonomie und eine andere Zu-sammensetzung der Gruppe der Erwerbstätigen inDeutschland. Man muss berücksichtigen, dass sich dieTechnik entwickelt hat. Es gibt Unternehmen mit weni-gen Beschäftigen und einem hohen Gewinn und andere,die bei gleichem Gewinn deutlich mehr Beschäftigte ha-ben. Wie gleichen wir das aus? Das ist doch eine Frage,über die man einmal diskutieren kann.Wir haben die Idee entwickelt – die SPD hatte sie üb-rigens auch einmal; sie hat sie aber sterben lassen –, an-stelle der heutigen Lohnnebenkosten – wie man siefälschlicherweise nennt – eine Wertschöpfungsabgabeeinzuführen, die wir vom Ergebnis des Unternehmensabhängig machen.
Herr Kollege Gysi, die Redezeit in der Aktuellen
Stunde beträgt fünf Minuten.
Wir machen sie vom konkreten Ergebnis des Unter-
nehmens abhängig. Damit helfen wir den Unternehmen,
weil wir sie nicht unterfordern und nicht überfordern. Da
wollen Sie nicht ran. Sie wollen gar keine Reformen. Sie
wollen nur Kürzungen. Das ist viel zu wenig in Deutsch-
land.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Im Rahmen des nächsten Tagesordnungspunktes bringenwir einen Gesetzentwurf ein, um Rentenkürzungen zuverhindern. Mein Vorredner sprach gerade davon, unsfalle nichts anderes ein, als Kürzungen vorzunehmen.Herr Gysi, plumper kann man die Menschen nicht fürdumm verkaufen, als Sie das mit Ihrer demagogischenRede getan haben.
Wenden wir uns lieber den Fakten zu, um die es jetztgeht. Richtig ist: Die Finanzdecke der Rentenkasse ist sodünn wie nie zuvor. Das hängt insbesondere mit der pre-kären wirtschaftlichen Situation in diesem Land zusam-men. Seit Ende 2001 haben wir fast 1,2 Millionen ar-beitslose Menschen mehr. Im selben Zeitraum haben wir1,6 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gungsverhältnisse verloren. Dass sich das auf die Fi-nanzlage der Rentenversicherung auswirken muss, istvollkommen klar. Aufgrund der demografischen Ent-wicklung ist es längerfristig notwendig, das Niveau dergesetzlichen Rente kontinuierlich abzusenken. Das tunwir doch nicht, um die Menschen zu ärgern. Es ist viel-mehr notwendig und angesichts der demografischen Ent-wicklung alternativlos, wenn man verantwortungsvolleund nachhaltige Rentenpolitik machen will.
Die gesetzliche Rentenversicherung wird die wich-tigste Säule der Alterssicherung in Deutschland bleiben.Genauso klar ist, dass wir neben der gesetzlichen Renteein weiteres, kapitalgedecktes Standbein brauchen, dasswir mehr betriebliche Vorsorge und im engeren Sinneprivate Vorsorge brauchen. Das Entscheidende für dieVersorgung der Menschen im Alter ist die Kombinationaus gesetzlicher Rente und privater Vorsorge.Wenn wir uns wirklich mit den Zahlen beschäftigen,stellen wir fest, dass die allermeisten Menschen durch-aus privat vorsorgen. Bisher nimmt nur eine Minderheitdie staatliche Riester-Förderung in Anspruch. Das istwahr. Aber die allermeisten Menschen machen etwas.Wir tun gut daran, uns kritisch zu fragen, warum bishernicht mehr Menschen die staatliche Förderung für dieAltersvorsorge in Anspruch nehmen. Ich glaube, dassder Sozialbeirat den Finger in die richtige Wunde legt,wenn er darauf hinweist, dass bei einer Befragung74 Prozent der Befragten auf die Frage, warum sie bisherkeinen Riester-Vertrag abgeschlossen haben, sagten: Ichtraue dem Staat bzw. der Regierung nicht, weil sie dieGesetze zu oft ändert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Tendenzmüssen wir Schluss machen. Genau deswegen verfälltdie große Koalition jetzt nicht in hektische Betriebsam-keit. Vielmehr werden wir genau prüfen, welche Auswir-kungen die veränderten Rahmenbedingungen des Alters-einkünftegesetzes, die erst seit dem letzten Jahr gelten,haben.Wie wir sehen, sind wir auf dem richtigen Weg. Esgibt mittlerweile mehr Instrumente der staatlich geför-derten privaten Altersvorsorge. Wir werden uns diesesSystem genau ansehen und dann entscheiden, ob weitereKonsequenzen zu ziehen sind. Das werden wir abernicht hektisch jedes Jahr tun. Für diese Verlässlichkeit,die die Menschen zu Recht von uns erwarten, steht diegroße Koalition.
Wir haben ein umfangreiches Maßnahmenpaket vor-gelegt, um die Situation der gesetzlichen Rentenversi-cherung zu stabilisieren. Es gehört zur Ehrlichkeit, zu sa-gen, dass es angesichts der demografischen Entwicklungin unserem Land auf absehbare Zeit keinen großen Zu-wachs geben wird. Vielmehr geht es um eine Stabilisie-rung der gegenwärtigen Situation.Wir dürfen den Menschen keine haltlosen Verspre-chungen machen. Sie mögen uns als Opposition ja vielesvorwerfen wollen; aber niemand wird uns ernsthaft vor-werfen können, dass wir den Menschen, was die von uns
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1669
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Dr. Ralf Brauksiepein dieser Legislaturperiode zugrunde gelegten Annah-men zur Rentenentwicklung in den nächsten Jahren be-trifft, unhaltbare Versprechungen machen. Genau das tunwir nicht. Wir haben ein Maßnahmenpaket zur Stabilisie-rung der Situation in der gesetzlichen Rentenversiche-rung vorgelegt, das durchgerechnet ist und das auf realis-tischen Annahmen und Bausteinen beruht, die ineinandergreifen.Jeder weiß: Wir tun das nicht gerne, aber wir müssenim nächsten Jahr den Rentenversicherungsbeitrag erhö-hen, weil die Situation in der Rentenversicherung andersnicht zu stabilisieren ist. Wir nehmen in diesen Jahrenkeine Rentenkürzungen vor. Aber in der Tat müssen wirdie jetzt nicht durchgeführten Kürzungen, wenn sich diewirtschaftliche Entwicklung in unserem Land verbesserthat, nachholen.Wir werden das gesetzliche Renteneintrittsalter, wiejeder weiß, ab dem Jahr 2012 schrittweise erhöhen.Diese Maßnahme wird eine Wirkung entfalten, deren ge-samtes Ausmaß erst im Jahr 2029 eintreten wird. Aberauch dann wird noch nicht einmal die gestiegene Le-benserwartung voll kompensiert sein.Diese Maßnahmen gehen einher mit einem steigen-den Rentenversicherungsbeitrag – darauf habe ich hinge-wiesen – und mit einem moderat steigenden Bundeszu-schuss. Das bedeutet, dass wir alle drei Gruppen – dieBeitragszahler, die Steuerzahler und die Rentnerinnenund Rentner selbst – in die Finanzierung und Stabilisie-rung der gesetzlichen Rentenversicherung einbeziehenmüssen. Genau das tun wir.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines dürfen wir da-bei nicht übersehen: Es geht nicht darum, jedes Jahrpolitisch auszuhandeln, ob und in welcher Höhe es Ren-tensteigerungen geben wird. Es war ein politischer Be-schluss, keine Rentenkürzungen durchzuführen; das istwahr. Aber ob und in welcher Höhe es Rentensteigerun-gen geben wird, hängt auch von der zukünftigen wirt-schaftlichen Entwicklung ab. Das ist also keine Verhand-lungssache. Das betrifft vielmehr die Frage, ob wirwirtschaftlich wieder erfolgreicher sein werden. Dafürmüssen wir die notwendigen Rahmenbedingungenschaffen.
Herr Kollege, auch für Sie gilt eine Redezeit von fünf
Minuten.
Jawohl. – Zu diesem Zweck hat die Bundesregierung
ein Maßnahmenpaket vorgelegt. Alle wesentlichen Zah-
len und Prognosen wurden in der letzten Zeit nach oben
korrigiert. Es geht in unserem Land wirtschaftlich wie-
der aufwärts. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass
auch die Stabilisierung der Rentenversicherung fortge-
setzt werden kann.
Herr Kollege, gleich muss ich Ihnen das Mikrofon ab-
schalten.
Jawohl. – Sie können eine Politik gegen viele ma-
chen; aber Sie können keine Politik gegen Adam Riese
machen.
Sie haben fünf Minuten. Ich bitte Sie, jetzt zum Ende
zu kommen.
Wir machen eine solide Rentenpolitik.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zu Beginn meiner Rede möchte ich Sie, Herr MinisterMüntefering, ganz persönlich ansprechen. Wie ich heutegelesen habe, haben Sie gestern angesichts der im Ren-tenversicherungsbericht erkennbar gewordenen Versor-gungslücken folgende Aussage gemacht:Da kann man Verschiedenes versuchen: Balalaikaspielen oder Lotto spielen, Riester-Rente oder be-triebliche Versicherung machen …Herr Müntefering, ich denke, diese Äußerung lässt jedenRespekt und jede Achtung vor der künftigen Rentnerge-neration vermissen,
der Generation, die die höchsten Rentenbeiträge zu zah-len hat, aber die niedrigsten Rentenzahlungen bekommt.Es ist gerade nicht das Verschulden dieser Menschen,dass sie es in Zukunft mit einer Versorgungslücke zu tunhaben und nach einem harten Arbeitsleben von Altersar-mut bedroht sind. Das ist das Verschulden von Politikernwie dem amtierenden Bundesarbeitsminister, der es un-terlässt, in unserem Land die Voraussetzungen für dauer-haftes Wachstum, neue Arbeitsplätze und damit für neueBeitragszahler zu schaffen.
Herr Minister – Sie reden ja gleich nach mir –, ichfordere Sie in aller Sachlichkeit auf,
sich für diese Entgleisung öffentlich zu entschuldigen.
Herr Kollege Küster, sollen sich die Menschen auchnoch dankbar dafür zeigen, dass sie zukünftig bloß Lotto
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1670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
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Dr. Heinrich L. Kolboder Balalaika spielen sollen und nicht russisches Rou-lette? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!
Hier gibt es wirklich Handlungsbedarf. Nutzen Sie dieGelegenheit, dieses klarzustellen, Herr Minister!Im Übrigen ist es so, wie Herr Gysi gesagt hat: DieRente bzw. die Zukunft der Rente ist ein Dauerthema.Ich teile Ihre Einschätzung nicht, Herr Minister, dass dieStruktur der Rentenversicherung steht und so bleibenkann. Das ist eine Neuauflage des blümschen „Die Renteist sicher“.
Bis man davon sprechen kann, muss noch eine Reiheeinschneidender Änderungen ins Bundesgesetzblatt undnicht nur in Partei- und Koalitionspapiere.
Wichtig ist eine nüchterne, realistische Bestandsauf-nahme. Dazu leistet der gestern im Kabinett beschlos-sene Rentenversicherungsbericht keinen Beitrag; dasmuss man hier so deutlich sagen. Denn er verschleiertdie wahre Lage der Rentenversicherung ein weiteresMal. Der großen Koalition fehlt offensichtlich der Mut,unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Der Not ge-horchend, wird die künftige Entwicklung optimistischerdargestellt, als sie zu erwarten ist. Anders kann man dasnicht sagen; denn beim Wachstum, bei der Entwicklungder Beschäftigung und bei den Lohnsteigerungen liegenSie mit Ihren Erwartungen deutlich am oberen Rand desrealistischen Spektrums, Herr Müntefering.
Wer diese Zahlen mit den Istzahlen der letzten fünf, zehnJahre vergleicht, der muss feststellen, dass das, was Siehier vorgelegt haben, einfach nicht zusammenpasst.
– Wenn Sie es mir nicht glauben, Herr Brandner, dannlesen Sie, was der Sozialbeirat in seinem Gutachten zumRentenversicherungsbericht geschrieben hat; da steht ge-nau dies.Wenn sich Ihre Annahmen – wovon ich ausgehe – alszu optimistisch erweisen sollten, wird das ganz konkreteFolgen haben. Schauen Sie sich doch die Tabelle aufSeite 41 des Rentenversicherungsberichts an: Schon beider angenommenen unteren Variante der Einkommens-entwicklung – plus 1,5 Prozent, was deutlich mehr ist alsder Schnitt der letzten zehn Jahre – steigt laut Rentenver-sicherungsbericht der Beitrag schon im Jahr 2007 – nichterst irgendwann in der Zukunft – auf über 20 Prozent an.Damit wird wahrscheinlich, dass die Bundesregierungdas von ihr selbst formulierte Ziel der Beitragssatzstabi-lität verfehlt.Ohne eine grundlegende Änderung der Politik – ichwiederhole das erneut – wird es zu einer Beitragsanhe-bung auf über 20 Prozent noch vor Ende dieser Legisla-turperiode kommen müssen. Wenn man in dem Berichtzwischen den Zeilen liest, muss man auch feststellen,dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Reihe vonNullrunden kommen wird. Wir haben ja 2004, 2005 und2006 schon Nullrunden zu verzeichnen gehabt. Für 2007haben Sie eine weitere angekündigt. 2008 wird dann mithoher Wahrscheinlichkeit die fünfte Nullrunde in Fol-ge – und das bei steigenden Lebenshaltungskosten.
Deswegen ist es unverantwortlich, Herr Bundesminister,die Mehrwertsteuer zum 1. Januar 2007 um 3 Prozent-punkte zu erhöhen.
Die Rentner werden durch diese Maßnahme voll belastet;aber sie profitieren nicht von der Senkung der Lohnne-benkosten. Ich fordere Sie auf: Verzichten Sie auf dieseMehrwertsteuererhöhung! Damit werden nämlich auchVerfassungsrechte verletzt. So hat das Bundessozialge-richt klar gesagt: Es gehört zur Eigentumssicherung desRentenanspruchs, dass mittelfristig Rentenanpassungenvorgenommen werden, die einen Inflationsausgleich ge-währleisten.Das, was Sie eingeleitet haben, wird also nicht ausrei-chen und Handlungsbedarf gibt es an vielen Stellen. Zumeinem ersten Punkt möchte ich Sie, Herr Minister, bit-ten, jetzt Stellung zu nehmen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit undSoziales, Franz Müntefering.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Vorlage des Rentenversicherungsberichtsund des Alterssicherungsberichts bringt das Thema insLicht der Scheinwerfer. Das ist gut und auch nötig, weileine Debatte darüber dringend erforderlich ist. Es ist gut,dass wir heute darüber diskutieren, weil dann ein biss-chen klarer wird, wie die Zusammenhänge eigentlichsind.Es geht um die Zukunftsfähigkeit einer insgesamt äl-ter werdenden Gesellschaft. Das und nichts weniger istdas Thema. Darüber werden wir in den Gesamtzusam-menhängen zu sprechen haben. Dabei geht es um mehrals um die Statistik und um die Dinge, die Sie angespro-chen haben und auf die ich gleich gerne noch einmalkommen werde.Wir haben uns in unserem Bericht um Realismus be-müht und die Prognosen für die Entwicklung der Löhneund der Zahl der Beschäftigten im Vergleich zu dem,
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Bundesminister Franz Münteferingwas in den Berichten vergangener Jahre gestanden hat,gesenkt. Wir sind dabei sehr nahe an die Realität heran-gerückt. Das hat auch Konsequenzen gehabt. Der Beirathat ja auch deutlich gemacht, dass er uns zumindest imBereich der Lohnentwicklung voll zustimmt. Das ist einwichtiger Punkt.Auf was bereiten wir uns in Deutschland vor? Sagenwir, dass wir ein Niedriglohnland sind, oder sagen wir,dass wir ein Hochleistungs- und Hochlohnland bleibenwollen und dass wir davon ausgehen, dass die Arbeit-nehmer auch in Zukunft mehr in ihre Portemonnaies be-kommen, was mit einer entsprechenden Wirkung auf diesozialen Sicherungssysteme – auch auf das Rentensiche-rungssystem – verbunden ist? Das ist eine ganz wichtigeEntscheidung. Wir gehen davon aus, dass die Dinge, diewir aufgeschrieben und für unseren Bericht zur Grund-lage gemacht haben, realistisch sind.Zum Kapitel Analyse. Wir gehen in Deutschland imSchnitt mit 21 Jahren in den Beruf und mit 60,8 Jahrenheraus. Das sind gut 39 Lebensarbeitsjahre. Von den55-Jährigen und Älteren sind noch 42 Prozent berufstä-tig. 50 Prozent der Betriebe beschäftigen niemanden, derälter als 50 Jahre ist. Im Schnitt gehen 33,5 Prozent derMänner mit 65 Jahren in die Rente. Im Vergleich zu1960 leben wir sechs bis sieben Jahre länger. Alle, diesich damit beschäftigen, sagen: Bis zum Jahre 2030 le-ben wir noch einmal 2,5 Jahre länger. Das ist gut. Wirklopfen auf Holz und hoffen, dass wir dabei sind. Dasbedeutet aber natürlich auch, dass die Rente 2,5 Jahrelänger zu zahlen ist.Im Jahre 2050 werden 12 Prozent der Bevölkerungälter als 80 Jahre, 30 Prozent älter als 65 Jahre und16 Prozent unter 20 Jahre alt sein. Wenn man die ganzenZahlen nebeneinander legt, dann erkennt man, dass manreagieren und etwas tun muss. Man muss jetzt damit an-fangen; denn wenn ich von 2050 spreche, dann weiß ich,dass durch die Köpfe geht, dass das noch eine lange Zeithin ist. Nein, nein, diejenigen, die heute 21 Jahre altsind, sind dann gerade 65 Jahre alt. Wir kennen schon ei-nen großen Teil derjenigen. Unsere Enkelkinder undKinder werden davon, was wir jetzt tun oder nicht tun,betroffen sein. Nichts tun kann man nicht. Man musshandeln.Was tun wir also an dieser Stelle? Wir tun vor allenDingen zwei Dinge:Wir beginnen mit einer „Initiative 50 plus“. Sie ist an-gekündigt und wird im Verlauf dieses Jahres konkreti-siert. An dieser Stelle werden wir dann auch Dampf ma-chen. Wir müssen dafür sorgen, dass in dieserGesellschaft wieder begriffen wird: Leute, die 50,55 und 60 Jahre alt sind, können noch etwas und werdendringend gebraucht. Sie dürfen nicht beiseite geschobenwerden. Das ist ein Grundfehler in der ganzen gesell-schaftspolitischen Entwicklung in diesem Land.
Damit verbunden verändern wir den Korridor für denEintritt in die Rente um zwei Jahre. Bisher verlief er von60 bis 65 Jahre. Mit 60 Jahren konnten viele herein; siemussten einen Abschlag von 18 Prozent hinnehmen.Wer mit 65 Jahren ging, erhielt die Rente dann ohne Ab-schlag. Dieser Korridor von 60 bis 65 Jahre verschiebtsich bis zum Jahre 2029 auf 63 bis 67 Jahre. Um diesenVorgang geht es.Unten kommen die Menschen ja auch nicht mehr mit14 oder 15 Jahren in den Beruf, sondern im Schnitt mit21 Jahren. Zusätzlich werden wir noch 2,5 Jahre älter.Ich glaube, dass es verantwortbar und sinnvoll ist, das zutun, zumal wir sagen: Diejenigen, die 45 Lebensarbeits-jahre in die Rentenversicherung eingezahlt haben, wer-den unverändert mit 65 Jahren ihre ungekürzte Rente er-halten.
In diesem Jahr und im nächsten Jahr werden wir dieRente nicht kürzen, obwohl das eigentlich fällig gewe-sen wäre. Einige haben jetzt darüber gesprochen, wasder Vergleich zum Jahre 1995 bedeutet, und gefragt, wasdas Ergebnis ist. Es ist richtig: Die Renten sind etwa20 Prozent niedriger, als 1995 prognostiziert.
Allerdings sind auch die Löhne etwa 20 Prozent niedri-ger, als 1995 prognostiziert.
Ich will damit nur zeigen, dass das nicht eine Frage derStruktur der Rentenversicherung, sondern eine Frage derLohnentwicklung und der Prosperität des Landes insge-samt ist.
Das ist der Punkt, an dem wir uns bewegen und den manbegreifen muss.Diese Kürzungen, diese Dämpfungen, die wir nichtvornehmen, werden wir nicht vor 2010 nachholen. Aberdas ist nötig. Wenn wir das nicht tun, wird das die Gene-ration nach uns bezahlen.Wir alle miteinander müssen ehrlich sein: Es gibtarme Rentner und solche, denen es ganz gut geht. Es gibtarme Beschäftigte und solche, denen es ganz gut geht.Die Grenze verläuft in diesem Land nicht zwischenRentner und Nichtrentner, sondern sie verläuft zwischendenen, die genug Geld im Portemonnaie haben und de-nen es gut geht, und denen, die weniger Geld zur Verfü-gung haben und denen es weniger gut geht. So müssenwir bitte schön auch denken und so müssen wir auch inder Rentengesetzgebung die Strukturen festlegen.
Die Beiträge für die Rente werden sich im nächstenJahr auf 19,9 Prozent erhöhen. Wir zahlen allerdings ei-nen langsam wachsenden Betrag von 78 Milliarden Euroaus der Bundeskasse dazu. Das sei gesagt, damit das ei-nige endlich begreifen. Denn einige sagen, das würde
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Bundesminister Franz Münteferingnur über die Lohnnebenkosten finanziert. Das ist Un-sinn, das ist längst nicht mehr so. 78 Milliarden Eurovon den 260 Milliarden Euro des Bundeshaushaltes flie-ßen in diesem Jahr in die Rente oder sind rentennaheZahlungen, weil sonst die Rentenversicherungsbeiträgein diesem Jahr nicht bei 19,5 Prozent, sondern bei26 oder 27 Prozent lägen. Oder die Renten wären um einDrittel niedriger.
Wir haben schon einen vernünftigen Mix aus Renten-versicherungsbeiträgen und aus den Geldern, die überSteuern in die Bundeskasse fließen.Ich will noch zu dem Punkt kommen, den Sie freund-licherweise angesprochen haben. Ich habe gar nicht ver-mutet, dass Sie auf so etwas hereinfallen. Ich wiederholedas, was ich bereits gesagt habe: Die Struktur der gesetz-lichen Rentenversicherung steht. Sie wird auch in Zu-kunft der Kernbereich der Versicherung bleiben. Aberdie Rente muss um zusätzliche Maßnahmen ergänzt wer-den, zum Beispiel die Riester-Rente oder die betriebli-che Vorsorge. Bei der Riester-Rente gab es im letztenJahr ein Wachstum: Insgesamt 5,6 Millionen Menschenmachen mit. Betrieblich vorsparen tun inzwischen rund60 Prozent der Beschäftigten in der einen oder anderenForm.Was ich gesagt habe, ist Folgendes: Es hilft nicht,Lotto zu spielen, es hilft nicht, Balalaika zu spielen undzu hoffen, dass man so morgen oder übermorgen ausrei-chend Geld in der Tasche hat, sondern man muss jetztden Vertrag für eine Riester-Rente oder eine betrieblicheRente abschließen. Das ist eine vernünftige Vorsorge fürmorgen und für übermorgen. Deshalb ist das, was ich ge-sagt habe, richtig; das wissen Sie ganz genau.
Die Höhe und die Sicherheit der Renten werden da-von abhängen, wie die Wohlstandsentwicklung imLande insgesamt ist. Deshalb gehört zu einer komplettenDebatte über Rente und die Zukunftsfähigkeit der Rentedie Frage dazu: Was investieren wir in Bildung, Qualifi-zierung, Weiterbildung, Forschung und Technologie?Wenn unser Land im Jahre 2030 mindestens das gleicheWohlstandsniveau wie heute hat, wird es den Alten undden Jungen gut gehen. Es geht dann nur um die Vertei-lung von ein paar Prozentpunkten; darüber kann mandann streiten. Wenn Deutschland in Zukunft diesesNiveau aber nicht erreicht, werden wir weniger haben,egal was wir heute in der Rentenversicherung prozentualvorgeben. Wenn dann von 46 Prozent die Rede ist, fragtman sich: 46 Prozent von was? Was sind 100 Prozent?Wenn wir über die Rente sprechen, gehört zu derschlichten Wahrheit: Wir müssen im Land die Bereit-schaft wecken, zu verstehen, dass wir nur dann, wennwir in die Köpfe und die Herzen der jungen Menscheninvestieren, eine vernünftige Chance haben, langfristigeine auch für alle nach uns kommenden Generationensichere Rente zu haben. Das hängt ganz eng zusammen.Deshalb dürfen wir die Rente nicht nur als ein spezifi-sches Problem diskutieren, sondern wir müssen es mitder Bereitschaft verbinden, einen Teil dessen, was wirheute erwirtschaften, in die jungen Menschen zu inves-tieren. Um diesen entscheidenden Punkt geht es langfris-tig bei der Rentensicherung.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Menschen müssen sich auch in Zukunft darauf ver-lassen können, dass ihr Lebensunterhalt im Alter gesi-chert ist. Dazu braucht die Rentenversicherung ein stabi-les wirtschaftliches Fundament. Das setzt einen hohenBeschäftigungsstand, die Förderung von älteren Be-schäftigten und die von Frauen voraus.In den letzten Tagen wurde der Eindruck erweckt, alshabe die Rentenpolitik der vergangenen Jahre zur Folge,dass die Rentner und Rentnerinnen einseitig und massivvon der Entwicklung des Wohlstands abgekoppelt wor-den seien. In der „Bild“-Zeitung ist von einer„Schrumpfrente“ die Rede, weil die Voraussagen frühe-rer Rentenberichte nicht eingetroffen sind. Mit diesenÄngsten der Menschen machen Sie, meine Damen undHerren von der Linken, Politik.
Ich möchte dies versachlichen. Im Rentenversiche-rungsbericht 1995 wurde aufgrund der damaligen Pro-gnosen für das Jahr 2009 eine monatliche Eckrente von1 510 Euro vorausgesagt. Zehn Jahre später sind es nurnoch 1 180 Euro. Nach den gestrigen Aussagen vonMinister Müntefering läge der Beitrag nach der damali-gen Prognose heute bei über 26 Prozent. Wissen Sie,Herr Kollege Kolb, wer damals im Wirtschaftsministe-rium die Voraussagen erstellt hat?
Das war der damalige Parlamentarische StaatssekretärKolb 1995.
Wie ich sehe, tragen Sie das mit Fassung.
– Nein, die wirtschaftlichen Voraussagen wurden imWirtschaftsministerium erstellt.
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Irmingard Schewe-GerigkAber zu Ihrer Entschuldigung ist festzustellen: Da-mals wurde offensichtlich die Durchsetzungskraft derGewerkschaften unterschätzt.
Seitdem die Gewerkschaft 1999 mit Oskar Lafontaineihre Speerspitze im Bundestag verloren hat, geht dieLohnentwicklung rapide zurück und wir sind im europäi-schen Vergleich schon ganz unten angekommen. Dasschlägt systembedingt auf die Renten nieder.
– Wollen Sie mich etwas fragen? Ich verstehe Sieschlecht.Es ist in der Tat ein Problem, wenn die Voraussagenzur Rente immer wieder nach unten korrigiert werdenmüssen. Das droht auch dem Rentenversicherungsbe-richt 2005.Umso bemerkenswerter, Herr Minister Müntefering– so viel zur neuen Ehrlichkeit –, ist Ihre Einschätzungbei der Pressekonferenz, die ich auf „Phoenix“ verfolgthabe. Sie haben gesagt, die Rentenversicherung stehejetzt und es müsse in diesem Bereich nicht weiter nach-gesteuert werden. Eben haben Sie es anders dargestellt.Aber als ich die Pressekonferenz verfolgt habe, wurdeich an die Popularität Ihres Vor-Vorgängers NorbertBlüm erinnert.Wir wissen, dass die Niveausenkung der Renten vorallem die jüngere Generation betrifft. Sie überschätztihre Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherungund unterschätzt den Bedarf an ergänzender Vorsorge.Wenn jemand im Jahr 2030 auf 30 Beitragsjahre bei ei-nem durchschnittlichen Verdienst kommen muss, umeine Rente auf Sozialhilfeniveau zu bekommen, dannwird klar – ich finde, auch das erfordert die Ehrlichkeit,und ich stelle das als Grüne fest –: Die gesetzliche Ren-tenversicherung wird in der bestehenden Form denSchutz vor Armut für alle Bürgerinnen und Bürger nichtmehr zuverlässig gewährleisten können. Das gilt vor al-len Dingen für Personen ohne geschlossene Berufsbio-grafien.Das wird hier immer verschwiegen, aber man muss esden Menschen sagen. Wir Grüne werden uns dafür ein-setzen, dass die Sozialversicherungen zu Bürgerversi-cherungen weiterentwickelt werden. Für die Kranken-versicherung haben wir bereits einen Vorschlag gemacht.Inzwischen ist aber eine Debatte darüber entstanden, obeine Bürgerversicherung auch für die Rente erforderlichsein wird. Die Probleme in den einzelnen Zweigen derSozialversicherung sind unterschiedlicher Natur. In derAltersvorsorge ist ein solches Vorhaben eine langfristigeAngelegenheit, die auch verfassungsrechtliche und fis-kalische Probleme aufwirft.Ohne die von Rot-Grün eingeleiteten Reformen lägeder Beitragssatz heute schon viel höher.
Bezogen auf einen durchschnittlichen Lohn wäre das fürArbeitgeber wie auch für Arbeitnehmer und Arbeitneh-merinnen heute eine Mehrbelastung von 750 Euro imJahr, Herr Lafontaine.
Wollen Sie vielleicht den Menschen auch das einmal sa-gen?
– Das stimmt nicht.
Doch die Bundesregierung stellt die Weichen völligfalsch. Die konjunkturelle Entwicklung der vergangenenJahre hat deutlich gezeigt – in dieser Einschätzung lie-gen wir wieder nahe beieinander –: Die Finanzierung dersozialen Sicherung durch abhängig Beschäftigte verteu-ert den Faktor Arbeit und schadet der Beschäftigung.Was machen SPD und CDU/CSU? Sie gehen den ein-fachen Weg. Der Beitragssatz zur Rentenversicherungsoll 2007 auf 19,9 Prozent steigen. Die Beiträge fürLangzeitarbeitslose an die Rentenversicherung sollensinken. Der Haushalt soll auf Kosten der Beitragszahlerentlastet werden. Die Kosten für die Arbeitnehmer wer-den steigen. Das ist Gift für den Arbeitsmarkt.Die Koalition hofft auf Wachstum. Sie hofft darauf,dass auf diesem Weg Beschäftigung entsteht und derDruck auf die Sozialversicherung abnehmen wird. Dabeiist in den letzten Jahren die Zunahme der Beschäftigungmit einer Abnahme der sozialversicherungspflichtigenBeschäftigung einhergegangen. Dieses grundlegendeProblem muss gelöst werden. Aber dem weichen Sie,meine Damen und Herren von der SPD und CDU/CSU,aus.An die Adresse von Oskar Lafontaine gerichtet – ichverspüre gerade eine gewisse Kampfesfreude –: HörenSie doch mit Ihren volkswirtschaftlichen Vorträgen auf!Machen Sie als Linke konkrete Vorschläge zu politi-schen Alternativen bei der Rente! Vergessen Sie vor al-len Dingen nicht den berühmten Satz von Bill Clinton:„It’s the economy, stupid!“
Nächster Redner ist der Kollege Stefan Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Die Rentenpolitik in dieser Republikist – hier werden mir alle sicherlich beipflichten – eineDauerbaustelle. Wir haben auch in dieser Woche wiedereiniges gelesen und gehört. Es gab viel Kritik an der
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Stefan Müller
Bundesregierung, der großen Koalition und dem Systemder gesetzlichen Rentenversicherung sowie kritische An-merkungen zu dem, was in der Vergangenheit unterlas-sen oder getan worden ist. Aber selten habe ich in dieserWoche konstruktive Vorschläge gehört oder gelesen. Dieselbst ernannten Experten haben nicht erklärt, wie dasSystem der Rentenversicherung stabilisiert werden soll.Das bezieht sich nicht nur auf Abgeordnete dieses Hau-ses, sondern auch auf viele andere. Der Herr, den ichmeine, scheint in der Tat zu einer Allzweckwaffe gewor-den zu sein. Er hat aber offensichtlich das Problem,selbst in seiner eigenen Fraktion nicht in ausreichendemMaße Gehör zu finden. Ich wünsche mir jedenfalls, dassdiejenigen, die sich hier ständig kritisch zu Wort melden,einmal konstruktive Vorschläge machen und diese auchvertreten. Derjenige, der höhere Rentenversicherungs-beiträge fordert, sollte dann auch den Arbeitnehmernund den Unternehmern sagen, dass sie höhere Beiträgezahlen müssen.
Wer niedrigere Renten fordert, der sollte den Rentnernsagen, dass sie künftig mit weniger zurechtkommenmüssen.Der Rentenversicherungsbericht, der in dieser Wochevorgelegt worden ist, ist jedenfalls ehrlicher als vieles,was uns in der Vergangenheit beim Thema Rente präsen-tiert worden ist.
Der Rentenversicherungsbericht leidet natürlich unterdem Problem, das alle Prognosen haben, nämlich dassdie zukünftige Entwicklung von niemandem mit absolu-ter Sicherheit vorhergesagt werden kann. Ich weiß eszwar nicht, aber ich unterstelle, dass auch der amtierendeBundesarbeits- und -sozialminister über keine Glaskugelverfügt, in die er hineinschauen und mit deren Hilfe erdie zukünftige Entwicklung sicher vorhersagen kann. In-sofern ist es unredlich, hier Prognosen zu kritisieren;denn jeder weiß, dass Prognosen generell problematischsind.Der Rentenversicherungsbericht zeigt die Problemeauf, die das System der gesetzlichen Rentenversicherunghat. Das alles sind keine Neuigkeiten. Wenn wir ehrlichsind, müssen wir zugeben, dass wir um die Problemedieses Systems schon lange wissen. Die Deutschen wer-den – Gott sei Dank – immer älter, beginnen immer spä-ter, zu arbeiten, und hören immer früher auf. Demzu-folge beziehen die Deutschen immer länger Rente.Darauf ist das bestehende System nicht ausgerichtet, ge-nauso wenig wie darauf, dass in diesem Land immer we-niger Kinder geboren werden und dass es demzufolgeimmer weniger Beitragszahler gibt und dass 5 MillionenMenschen arbeitslos sind. Genau deswegen brauchenwir – das ist schon angesprochen worden – mehr wirt-schaftliche Dynamik und Beschäftigung sowie mehrBeitragszahler. Die Grundlagen für mehr wirtschaftlicheDynamik und Beschäftigung wird diese große Koalitionlegen, auch wenn Sie das nicht erwarten. Es wird selbst-verständlich eine Unternehmensteuerreform sowie eineInitiative für Entbürokratisierung und Deregulierung ge-ben. Zudem werden die Lohnzusatzkosten im nächstenJahr sinken. Das alles wird so eintreten.Das Thema der heutigen Aktuellen Stunde ist die Zu-kunft der Rente. Damit wird gleichzeitig die Frage nachder Zukunft des Generationenvertrages gestellt. Der Ge-nerationenvertrag war jahrelang ein Garant für Stabilitätund Solidarität zwischen den Generationen. Das solida-rische Prinzip sollte auch in Zukunft beibehalten wer-den. Aber Solidarität ist natürlich keine Einbahnstraße.Genau deswegen müssen wir uns die Frage stellen, wiewir es verhindern, dass sich die Generationen in Zukunftnicht gegenseitig überfordern. Auf der einen Seite sinddie Älteren, die um ihre erworbenen Ansprüche fürch-ten. Auf der anderen Seite sind die Jüngeren, die be-fürchten, von zwei Seiten in die Zange genommen zuwerden. Interessanterweise ist angesichts der vorge-schlagenen Maßnahmen, zum Beispiel der Rente ab 67,die emotionale Betroffenheit bei denjenigen am größten,die davon nicht mehr betroffen sein werden, währendsich diejenigen, die davon massiv betroffen sein werden,am wenigsten beschweren.Beide Seiten, Ältere wie Jüngere, bekommen von unsklare Signale. Die Älteren bekommen das klare Signal,dass die Renten in dieser Legislaturperiode nicht gekürztwerden. Gleichzeitig werden die Renten in Zukunft abernicht mehr in dem Maße steigen können, wie es die Lohn-entwicklung zuließe. Die Jüngeren bekommen das klareSignal, dass künftig die gesetzliche Rente nicht mehr aus-reichen wird, um im Alter den Lebensstandard aufrecht-zuerhalten, und dass deswegen mehr private Vorsorgebetrieben werden muss. Gleichzeitig haben aber die Jün-geren einen Anspruch darauf, dass wir Politiker ihnen diefinanziellen Spielräume ermöglichen, private Vorsorgezu betreiben. Ich bleibe dabei: Der Generationenvertragund die Solidarität unter den Generationen müssen erhal-ten bleiben. Allerdings dürfen die Belastungen, die da-raus resultieren, nicht nur einer Generation aufgebürdetwerden.
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider, Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Jedem hier im Haus ist doch bewusst, dass sich die vonFrau Schewe-Gerigk angesprochene Tageszeitung nichtgerade durch eine immer sachliche und differenzierteBerichterstattung auszeichnet. Aber immerhin – FrauSchewe-Gerigk, das werden doch auch Sie zugeben –sind die Zahlen in diesem Bericht korrekt wiedergege-ben. Die Kernaussage, dass die Bundesregierung in ih-rem aktuellen Rentenversicherungsbericht ihre Renten-
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Volker Schneider
prognose deutlich nach unten korrigiert hat, ist ebenfallsnicht zu beanstanden.
– Ich komme noch auf die Art und Weise, wie das darge-stellt worden ist. Gedulden Sie sich doch ein wenig!
Im Vergleich zu den Prognosen im Rentenversiche-rungsbericht 1995 kann – so dieses Blatt – ein so ge-nannter Eckrentner beim Renteneinstieg 2009 statt dortprognostizierter 1 510 Euro nach den aktuellen Schät-zungen nur noch eine Rente von 1 180 Euro erwarten.Das bedeutet – wohlgemerkt, darauf weist diese Zeitungnicht hin –, dass dies nur für zukünftige, nicht aber füraktuelle Rentenbezieher gilt. Das ist ein Minus von330 Euro oder 22 Prozent. Weil dieses Blatt so gerneversucht, Dinge – selbst auf die Gefahr der Verkürzunghin – auf den Punkt zu bringen und dafür auch gerne aufSlogans oder Schlagworte zurückgreift, liefert es auchgleich einen eingängigen Begriff für diesen Vorgang,nämlich den der Schrumpfrente.Die Empörung der Bundesregierung ließ nicht langeauf sich warten. Von Verunsicherungskampagnen undunsinnigem Vergleich ist die Rede. Auch die DeutscheRentenversicherung zeigt sich empört. Schließlich seienauch die zugrunde gelegten Bruttoentgelte 22 Prozenthinter der Prognose zurückgeblieben. Auch diese Aus-sage deckt sich mit den Zahlen der beiden angesproche-nen Berichte. An dieser Stelle lohnt es sich, einen Mo-ment innezuhalten und einige einfache Überlegungenanzustellen. Dass die Bruttoentgelte hinter den Erwar-tungen zurückgeblieben sind, ist nicht die Folge einerNaturkatastrophe.
Zum einen ist dies Konsequenz des geänderten Berech-nungsverfahrens, das ja gerade die Dämpfung des An-stiegs zum Ziel hatte, zum anderen ist der ausgebliebeneAnstieg schlicht Ausdruck der völlig verfehlten Politikder Lohnzurückhaltung, die dazu geführt hat, dass dieLöhne in unserem Land weit hinter der internationalenEntwicklung zurückgeblieben sind.
Ich wiederhole gerne, was unsere Fraktion, insbesondereOskar Lafontaine, hier mehrfach gesagt hat.
Während in anderen Industriestaaten in den letzten zehnJahren Lohnzuwächse von 20 Prozent und mehr erzieltwurden, sind in Deutschland die Löhne real um 0,9 Pro-zent zurückgegangen. Die Konsequenz ist schlicht: Wodie Lohnabhängigen nicht angemessen am Produktivi-tätsfortschritt beteiligt werden, erhalten auch die Rentnerkein Stück mehr von diesem Kuchen.
Anders gesagt: Hätten wir die prognostizierte Lohnent-wicklung von 22 Prozent plus gehabt, dann könntenRentner im Jahr 2009 auch 1 510 Euro Rente erwarten.
Aber die Bundesregierung sieht dies alles nicht ganzso tragisch und warnt vor Dramatisierungen. Dabei gibtsie selbst zu, dass es bis zum Jahr 2010 im WesentlichenNullrunden geben wird. Damit, wie vorausgesagt, imJahr 2011 die Rente endlich einmal wieder um 1,4 Pro-zent steigen soll, wird eine Steigerung der Bruttolöhneum 2 Prozent angenommen. Warum ausgerecht ab die-sem Jahr die Bruttolöhne wieder so viel stärker steigensollen, erklärt die Bundesregierung nicht. Sie nennt dieseSchätzung ambitioniert.
Möglicherweise geht sie davon aus, dass ab 2009 inDeutschland eine Alternative zum Neoliberalismus Re-gierungsverantwortung übernimmt. Dies würde auch er-klären, warum ausgerechnet im Jahr 2009 erstmals wie-der die Renten maßvoll um 0,2 Prozent steigen.
Eine Eckrente in Höhe von 1 180 Euro – so lautet diePrognose –, das hört sich gar nicht so schlecht an. Vielewerden aber erst gar nicht in den Genuss einer solchenRente kommen. Wie Gregor Gysi ausgeführt hat, heißtEckrente, dass jemand 45 Jahre lang in die Rentenkasseeingezahlt und stets durchschnittlich verdient hat. Der-zeit trifft das nur auf knapp 40 Prozent der westdeut-schen Männer und nur auf 3,7 Prozent der westdeut-schen Frauen zu. Außerdem arbeitet eh kaum jemand45 Jahre lang. Was die Lebensarbeitszeit angeht, ist dieTendenz insgesamt sinkend.
– Ich empfehle Ihnen einfach einmal, die entsprechen-den Statistiken zu lesen.Ergo: Künftige Rentner werden häufig mit einer ge-ringeren Rente starten müssen und sie werden sich auchauf eine Reihe von Nullrunden bis zum Jahr 2030 ein-stellen müssen.
– Ich verstehe Ihre Erregung nicht. Das ist doch Ihr poli-tischer Wille. Schließlich ist es das erklärte Ziel IhrerRentenpolitik, das Nettorentenniveau von derzeit 52,7 Pro-zent auf 43 Prozent im Jahr 2030 zu senken.
Wie wollen Sie das anders als mit Nullrunden erreichen?Abgesehen davon dass eine solche Absenkung zu-sätzliches Gift für die Binnenkonjunktur sein wird, be-deutet diese Entwicklung für die zukünftigen Rentnerin-nen und Rentner eine reale Rentenkürzung und für vielevon ihnen den direkten Weg in die Altersarmut. Für dieZukunft der Renten erwarten wir von der Fraktion Die
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Volker Schneider
Linke insoweit keine Erfolgsstory; vielen Betroffenendroht schlicht eine Katastrophe.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Schneider, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich
und wünsche Ihnen politisch und persönlich alles Gute.
Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Die Rentendebatten in die-sem Land waren im Wesentlichen immer von zwei Hal-tungen geprägt: Die Opposition hat versucht, den Rent-nerinnen und Rentnern Angst zu machen und Panik zuverbreiten; die Regierungen haben die Situation imGrunde meistens verharmlost oder die eigentlichen Pro-bleme nicht ansprechen wollen.
Insofern möchte ich hier dem Minister FranzMüntefering für seine klaren und wahren Ausführungendanken. Solche Ausführungen hätten gerade wir Jüngereuns in den letzten Jahrzehnten von den politisch Verant-wortlichen oft gewünscht.Ich will zu den Fakten kommen. Der 2. Armuts- undReichtumsbericht der Bundesregierung weist aus, dassdas relative Armutsrisiko für Lebensältere in Deutsch-land in den letzten Jahren gesunken ist. Rot-Grün hat mitder steuerfinanzierten Grundsicherung für Menschen abdem 65. Lebensjahr die verdeckte und verschämte Al-tersarmut erfolgreich und nachhaltig abgebaut. Die An-zahl der Sozialrentnerinnen und Sozialrentner, derenVersicherungsansprüche unterhalb der Existenzsiche-rungsgrenze liegen, hat nicht etwa zu-, sondern kontinu-ierlich abgenommen. Die durchschnittlichen gesetzli-chen Rentenbeträge sind in den letzten Jahren nichtgesunken, sondern sie sind – das gebe ich zu – aufgrundder Lohnentwicklung, aber auch aufgrund von Maßnah-men, die getroffen werden mussten, eher stagnierend.Die kontinuierlich länger werdende durchschnittlicheRentenbezugsdauer zeigt, dass alle Behauptungen, Ren-ten würden absolut gekürzt, absurd sind. Die in denneuen Bundesländern ausgezahlten Rentenbeträge sindaufgrund der längeren Versicherungszeiten höher als inden alten Bundesländern. Die Kollegin Schmidt wirddarauf gleich noch konkreter eingehen.Auch die höhere Beteiligung der Rentnerinnen undRentner an den Gesundheits- und Pflegekosten ist ange-sichts der Kostenentwicklung und Beitragsbelastungenmaßvoll und gerecht. Der Weg der Regierung Schröderder Agenda 2010 war in Bezug auf die Alterssicherungrichtig. Deswegen gehen wir ihn auch in der großen Ko-alition weiter.Wenn wir die heutigen Rentnerinnen und Rentner unddie zukünftigen nicht im Regen stehen lassen wollen,wenn wir den solidarischen Generationenvertrag sichernwollen, dann müssen wir ihn einerseits um demografi-sche Faktoren und andererseits um eine steuerfinanzierteGrundsicherung im Alter und um die Förderung privaterVorsorge sowie durch Betriebsrenten ergänzen.So wichtig und richtig das Vorziehen einer schrittwei-sen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ist:Die wahren Aufreger liegen doch eigentlich ganz woan-ders. Selbst Herr Lafontaine, dem heute keine demagogi-sche Plattitüde mehr zu peinlich ist, hat, als er noch So-zialdemokrat und Realpolitiker war, die Verlängerungder Lebensarbeitszeit gefordert. Als er Finanzministerwar, hat er allerdings den öffentlichen Dienst zur Be-scheidenheit aufgefordert. Diese Zeiten sind vorbei.
– Damals habe ich auch noch Bücher von OskarLafontaine gelesen.
Das lohnt sich heute weniger.Mich erstaunt, dass wir anstatt des Aufschreis empör-ter Interessengruppen, die die heutigen Besitzstände ver-teidigen, nicht die bohrenden Fragen und Proteste dererhören, die heute das System tragen und morgen eine ge-setzliche Rente beziehen werden, die mit jener von heutenicht einmal ansatzweise zu vergleichen ist. Wenn ein1968 geborener Arbeitnehmer im Jahr 2035 mit67 Jahren seinen Ruhestand antritt, wird das Nettoren-tenniveau angesichts der demografischen Entwicklungmaximal 52 Prozent – bisher sind es 67 Prozent – betra-gen, auch bei vollen 45 Beitragsjahren. Das Problemliegt also nicht im Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Esist klar, dass bei fortlaufend steigender Lebenserwartungdie Lebensarbeitszeit nicht stagnieren kann.Der Politik bleiben nur vier Handlungsoptionen: DieJüngeren werden noch stärker belastet. Das scheidet aus.Ich will bei dieser Gelegenheit noch einmal deutlich sa-gen, Frau Schewe-Gerigk: Für Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer sowie für Arbeitgeber steigt der Beitrags-satz für die Rentenversicherung in 2007 um 0,4 Prozent-punkte, aber der Beitragssatz für die Arbeitslosenversi-cherung sinkt um 1 Prozentpunkt. Das ist eine Senkungder Lohnnebenkosten.
Dann könnten die Renten gekürzt werden. Das trautsich aber niemand; ich glaube, auch zu Recht. Deswegengibt es trotz der sinkenden Nettoeinkommen keine Ren-tensenkung.
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Rolf StöckelDie Lebensarbeitszeit wird schrittweise verlängert.Das ist die Option, die wir wählen.Wir könnten auch den staatlichen Zuschuss – heute78 Milliarden Euro, jährliche Steigerungsrate 6 Prozent –weiter erhöhen. Dafür ist kein Geld da.Genau die 30- und 40-Jährigen sind es, die überwie-gend nur noch in befristeten Arbeitsverhältnissen unter-kommen und immer weniger Kinder haben. Sie sind an-gesichts der Erfahrungen mit der Politik im letztenJahrhundert bestenfalls desillusioniert. Dass sie keineKinder bekommen wollen, hat auch mit einer tief grei-fenden sozialen Verunsicherung zu tun, der wir gemein-sam entgegentreten müssen.Gerade betriebliche Renten könnten dem Anspruchneuer Flexibilität und unterbrochenen Arbeitsbiografienvon Arbeitnehmern Rechnung tragen. Die Ansprüchedürfen auch bei häufigem Betriebswechsel möglichstnicht mehr verfallen. Gleichermaßen wichtig erscheinteine Fortführung der Sozialversicherungsfreiheit für diebetriebliche Altersvorsorge, über die wir im Jahr 2008zu entscheiden haben. Wir müssten den Kreis der förder-berechtigten Personen bei der privaten Altersvorsorge,bei der Riesterrente, deutlich ausweiten. Wir müssen unsüberlegen, ob wir obligatorische Komponenten ein-bauen. Man muss im Grunde bereits als Schüler und Stu-dent anfangen, Altersvorsorge zu betreiben.
Herr Kollege Stöckel, ich muss Sie an Ihre Redezeit
erinnern.
Ja, ich komme zum Schluss; ich kürze meine Rede ab.
Nein, Sie müssen zum Schluss kommen. Es reicht
nicht, die Rede abzukürzen.
Angesichts der Herausforderungen, die der Rentenbe-
richt der Bundesregierung aufzeigt, gibt es keinen Grund
zur Panikmache. Aber es ist Zeit, zu handeln. Die Maß-
nahmen geben uns eine solide Basis und einen ausrei-
chenden Zeitkorridor, um die Weichen für eine gute, ge-
rechte und nachhaltige Alterssicherung zu stellen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kaumein Thema ist so angstbeladen wie die Rente. Denn dieMehrheit der Deutschen sorgt sich um die Alterssiche-rung. Es gibt eine aktuelle Emnid-Umfrage, die besagt,dass mehr als 50 Prozent der Deutschen ihr Leben imAlter mit Sorge sehen, und zwar egal ob sie alt oder jungsind. Zum Wesen der Angst gehört, dass sie nicht immerauf Fakten beruht – wie auch hier.Viele fürchten die Altersarmut. Keine Frage, es gibtAltersarmut in Deutschland, so bei Rentnerinnen imWesten mit einer Durchschnittsrente von 480 Euro. Faktist aber auch, dass das Versorgungsniveau der meistenRentner noch nie so hoch war wie heute.
So verfügt ein Durchschnittsehepaar über 2 159 Euronetto monatlich.In diesem Land sind vor allem jüngere Menschenarm: allein erziehende Frauen und schlecht ausgebildeteJugendliche. Hier wäre es an der Politik, aufzuklärenund Lösungen aufzuzeigen. Das könnte auch in einerDebatte wie heute erfolgen.
Aber einmal mehr missbrauchen Sie, die Vertreter derLinken, dieses Instrument. Ich erlebe inzwischen in jederAktuellen Stunde, dass Sie nicht informieren wollen,
sondern dass es Ihnen immer darum geht, zu polarisie-ren.
Leider stehen Sie damit nicht allein, sondern befindensich inzwischen in einer sehr unheilvollen Allianz mitanderen Oppositionsvertretern. Da werden Tiraden abge-lassen, statt Sachlichkeit an den Tag zu legen. Dabeihandelt es sich um ein Thema, das die ernsthafteste De-batte verdient,
nicht nur, weil es die Menschen bewegt, sondern auch,weil wir wissen, dass es bezüglich der Rente erheblicheProbleme gibt, die gelöst werden müssen. Sie werdenvon dieser Bundesregierung aufgezeigt, und zwar ehr-lich und schonungslos.Die Probleme haben viele Ursachen: die demografi-sche Entwicklung in unserem Land, die leider immernoch viel zu hohe Arbeitslosigkeit und die schlechtewirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre; schließ-lich sind die Alterseinkommen an die Arbeitsentgelte ge-koppelt. Es gab sicherlich auch politische Versäumnisse.Ich persönlich halte es für einen Fehler, dass 1998 derdemografische Faktor abgeschafft wurde, denn geradedurch ihn sollte die sich verändernde Altersstruktur auf-gefangen werden. All dies führt dazu, dass es keineRentenerhöhungen geben wird. Mithilfe des von der
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Gitta ConnemannBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs werdenwir aber auch Rentenkürzungen vermeiden. Im Übrigenlässt sich an diesen ernüchternden Zahlen kurzfristignichts ändern. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt denWeg aufzeigen, wie man die Probleme bewältigt.Die Probleme lassen sich nicht durch schrille Vertei-lungsdebatten lösen, wie Sie, die Vertreter der Linken,sie hier anzetteln. Sie handeln doch nach dem Prinzip„Nach mir die Sintflut“. Es wird aber keine zweite ArcheNoah geben, die uns rettet. Keine Hilfe kommt vonVolksvertretern, die dann, wenn sie Verantwortung über-nehmen könnten, nicht bereit sind, diese zu übernehmen.Ich denke nur an den ehemaligen Bundesfinanzminister,der die Brocken hinwarf, als er hätte handeln können.
Sie haben lange genug Blankoschecks verteilt. Ich erin-nere nur an die Rentner in der ehemaligen DDR. DerenAbsicherung wurde sträflich vernachlässigt, da keinerleiRücklagen angelegt wurden.
Ohne Wachstum werden wir alle diese Probleme nichtlösen können. Das betrifft auch schon die derzeitigenRentner, denn sie werden nur mehr bekommen, wennviele Menschen Arbeit haben, die Löhne steigen und dieWirtschaft wächst. Dieses Szenario ist nicht ausge-schlossen, aber es ist zurzeit auch nicht sehr realistisch.Das ist die Wahrheit. Zur Wahrheit gehört aber auch,dass in einer alternden Gesellschaft länger gearbeitetwerden muss.Wahrheit kann übrigens manchmal wehtun, das giltauch für Sie, meine Damen und Herren von der FDP. Sieschüren die Ängste vor der Rente mit 67. Westerwelleund Lafontaine, das ist für mich eine seltsame Koalition.
Aber wo sind Ihre Rezepte oder auch die Rezepte derGrünen? Ich höre immer nur ein Nein. Sie propagierenimmer höhere Renten bei immer kürzerer Lebensarbeits-zeit und sinkenden Beiträgen. Das kann nicht funktionie-ren.
Wer die Wahrheit nicht kennt, der ist ignorant. Werdie Wahrheit aber bewusst leugnet, der macht sich schul-dig.
Die Menschen in diesem Land wissen – anders als Sie –,dass etwas geschehen muss. Wir haben den Mut, es ih-nen zu sagen. Wir stellen uns dem Problem zum Wohlder Rentner, zum Wohl der Beitragszahler und zumWohl zukünftiger Generationen. Wir sind jetzt verant-wortlich für das, was in Zukunft passiert.Alle Beteiligten haben ein legitimes Interesse an einersicheren Rente, seien es die Frauen und Männer, die un-ser Land nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebauthaben, seien es die jungen Familien von heute. Deshalblegen wir ein Konzept vor, das die Lasten gleichmäßigverteilt: auf Rentner, Beitragszahler und Steuerzahler.Gerade die Rente mit 67 ist ein Muster für ein solchesLangfristprojekt; denn es geht um ein Gesetz, das end-gültig ab 2029 wirkt. Wir haben zweieinhalb JahrzehnteZeit, uns zu ändern. Das sollte reichen.Dazu gehört aber auch, das finanzielle Risiko im Al-ter durch ein Mischsystem aus gesetzlicher, betrieblicherund privater Vorsorge abzusichern. Wir werden diesenWeg gehen. Der beste Weg, die Zukunft vorauszusehen,ist, sie zu gestalten. Lassen Sie uns an dieser Stelle an-stelle von Ängsten Vorausdenken und Voraushandelnsetzen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Sehr geehrte Kollegin Connemann, ich möchte zunächstgrundsätzlich Ihrer Aussage zustimmen,
dass die Situation der Rentnerinnen und Rentner in derehemaligen DDR unter dem Gesichtspunkt der Absiche-rung einfach unerträglich geworden wäre.Ich möchte als Ostdeutsche noch auf einige wesentli-che Punkte eingehen. Als Abgeordnete aus Sachsen-An-halt kennt man natürlich die Rentensituation in denneuen Bundesländern sehr gut. Eigentlich müsste sie al-len bekannt sein. Die Abgeordneten der ehemaligen PDSmüssten das am besten wissen.
Ich möchte die Zahlen trotzdem wiederholen. Es sindehrliche Zahlen, die nicht einfach aus dem Hut gezaubertworden sind. Das sollte festgestellt und vor allen Dingenanerkannt werden.Bereits 1992 betrug der West-Ost-Transfer in derRentenversicherung 2,3 Milliarden Euro; 2004 waren esschon 13,1 Milliarden Euro. 123 Milliarden Euro sindvon der Rentenversicherung seit der Wiedervereinigungbis Ende 2004 in die neuen Länder geflossen.
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Silvia Schmidt
Der Rentenversicherungsbericht 2005 macht deutlich,dass die durchschnittliche gesetzliche Rente in denneuen Ländern mit 1 018 Euro bei Männern deutlichüber der vergleichbaren Westrente liegt, die nur973 Euro beträgt. Bei den Frauen ist die Differenz we-gen der unterschiedlichen Erwerbsbiografie sogar nochgrößer: In den neuen Ländern liegt die Rente durch-schnittlich bei 659 Euro, in den alten Bundesländern bei479 Euro.Selbstverständlich kann jetzt eingewandt werden,dass es in den alten Ländern zusätzlich Betriebsrentengibt. Die gab es in der DDR nicht. Dort gab es seit 1972die freiwillige Zusatzversicherung, in die diejenigen ein-zahlen konnten, die mindestens 600 Mark verdienten.Leider war auch mir das nicht vergönnt; denn Kranken-schwestern, Pflegedienste usw. haben nicht so viel ver-dient.Die gesetzliche Rente in den neuen Ländern ist nichtnur wegen der Erwerbsbiografie höher. Vielmehr ist dieRente bereits hochgerechnet worden. Auch dazu eineklare Zahlenaussage: Wer 1976 in der DDR 500 Markbrutto verdient hat, wird rentenrechtlich so behandelt, alshätte er 1 367 Mark verdient. 500 Mark brutto im Jahr1984 in der DDR werden rentenrechtlich wie1 644 Mark behandelt. Das kann jeder Einzelne bitte imSGB VI in der Anlage 10 nachlesen.Darüber hinaus hat man in den neuen Ländern mitt-lerweile einen Rentenwert von 88,1 Prozent erreicht.1990 lag er bei nur 40,3 Prozent.Ich sage hiermit nicht, dass jemand aus den neuenLändern vor Dank auf die Knie fallen muss; aber es istdoch eine beeindruckende solidarische Anstrengung undLeistung der gesamten Bundesrepublik, die Anerken-nung und Dank verdient, meine Damen und Herren.
In meinem Wahlkreis Mansfelder Land gibt es auchfür die Rentenempfänger Licht- und Schattenseiten. Be-reits 30 Prozent der Bevölkerung sind dort über 60 Jahrealt; so viel als Anmerkung zur Demografie. Wir habenim Mansfelder Land viele ehemalige Bergleute und Hüt-tenarbeiter, die eine Knappschaftsrente von 1 600 Eurobeziehen. Wenn in diesen Fällen auch noch die Frau be-rufstätig war – man muss sich einmal vergegenwärtigen,dass die Frauenerwerbsquote in der DDR höher war –,kann eine solche Familie auf ein Haushaltseinkommenvon 2 250 Euro kommen.Auch hat sich – das möchte ich betonen – die Lebens-erwartung in den neuen Ländern nach der Wiederverei-nigung deutlich erhöht. Zum Zeitpunkt der Vereinigunglag sie noch zweieinhalb Jahre unter dem Durchschnittder alten Länder; jetzt ist sie fast angeglichen. Damit– das sage ich gerade in Richtung der PDS-Abgeordne-ten oder der Linken, wie auch immer – erhöht sich auchdie Rentenbezugsdauer.Wie gesagt, die Renten in den neuen Ländern sindnoch höher. Aber das wird sich natürlich verändern. Ge-brochene Erwerbsbiografien gibt es auch in den altenBundesländern, nicht nur im Osten. Darum hat Rot-Gründie Grundsicherung im Alter eingeführt; das wurde hierschon thematisiert. Damit soll Altersarmut verhindertwerden.
In den alten Ländern – auch das ist vielleicht wichtigzu wissen – beziehen 270 000 Menschen im Alter vonüber 65 Jahren die Grundsicherung, in den neuen Län-dern sind es nur 25 000. Das sind gerade 8 Prozent, ob-wohl der Bevölkerungsanteil in den neuen Ländern18 Prozent beträgt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch Ar-beitslosengeld-II-Empfänger können und sollten eineRiester-Rente abschließen. Die Riester-Rente gewährtjenen Menschen, die sich ansonsten keine zusätzlichekapitalgedeckte Rente leisten könnten und eine solchesteuerlich nicht verwerten können, eine zusätzliche Al-tersvorsorge. 504 Euro im Jahr bekommt zum Beispieleine Arbeitslosengeld II beziehende Familie mit zweiKindern. Der Sockelbetrag beträgt 60 Euro im Jahr. Dassind 5 Euro im Monat. Die Gesamtsparleistung beträgtsomit 564 Euro im Jahr.
Frau Kollegin, auch Sie muss ich an Ihre Redezeit er-
innern.
Ich könnte jetzt noch auf viele andere Punkte einge-
hen.
Nein, das können Sie nicht, da Ihre Redezeit schon
überschritten ist.
Wir haben ein Zukunftsrepertoire. Das sollte man sich
durchaus einmal genau anschauen. Dann weiß man, dass
die Renten im Osten gesichert sind. Man sollte also
keine Ängste schüren.
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Marco Wanderwitz,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die PDS scheint es sich zum Ziel gesetzt zu ha-ben, in jeder Sitzungswoche eine Aktuelle Stunde mitmöglichst populistischem Inhalt zu platzieren –
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Marco Wanderwitzneben den demagogischen Ausfällen von Ihnen, HerrLafontaine, in den Tagen dazwischen, versteht sich.
Ich habe in der Aktuellen Stunde vor genau einemMonat, also am 9. Februar, zum gleichen Themenkom-plex gesagt, Ihnen, der Linken, gehe es nicht darum, sichan der wichtigen und seit Jahrzehnten überfälligen De-batte zu beteiligen,
wie unsere sozialen Sicherungssysteme reformiert wer-den könnten; Sie wollten vielmehr den sozialen Unfrie-den schüren.
Diesen Vorwurf kann ich heute leider nur wiederholenund will ihn konkret belegen. Das tue ich weniger für Sieals für unsere Zuhörer auf der Tribüne und für die Men-schen draußen im Land.Die Zukunft der Rente ist ein wichtiges Thema, vielzu wichtig, um damit politisch Schindluder zu treiben.
– Hören Sie einmal zumindest eine Minute zu! – Die Ge-sellschaft in unserem Land ist überaltert oder besser: Sieist unterjüngt. Der Altersquotient, das Verhältnis von ar-beitsfähigen Jüngeren zu Älteren im Rentenalter, die aufTransferleistungen angewiesen sind, entwickelt sich seitBeginn der 70er-Jahre ungünstig, weil seitdem zu wenigKinder geboren werden. Unsere sozialen Sicherungssys-teme in Form des umlagefinanzierten Generationenver-trages ohne individuelle Kapitalbildung sind dem nichtgewachsen. Es stehen schlicht zu wenige Junge zu vielenÄlteren gegenüber. Die Umlagemasse ist endlich.Diese Geburtenlücke können wir nachträglich nichtmehr schließen. Wir müssen also den gerechten Lasten-ausgleich zwischen den Generationen unter diesen Be-dingungen neu finden. Die wenigen Jungen werdenmehr für die Älteren leisten müssen als die Generationenvor ihnen. Dazu sind die jungen Menschen in unseremLand mehrheitlich bereit. Auch die übergroße Mehrheitder Älteren hat Verständnis für die Notwendigkeit ihrerstärkeren Beteiligung, also dafür, dass die Jüngeren nichtübermäßig belastet werden können. Die jungen Men-schen haben zumindest noch nicht zu wenige Kinder be-kommen.Das Gebot der Stunde für die Politik, für uns, muss esalso sein, alles dafür zu tun, dass zumindest künftig wie-der mehr Kinder in unserem Land geboren werden.
Hat aber die PDS Rezepte dafür, dass mehr für Kinderund Familien getan wird? Ich habe bisher noch nichtsdavon gehört. Sie kritisieren nur die Vorschläge anderer.Ich habe mir einmal Ihre Internetseite angeschaut.Unter der Überschrift „Stichworte von A-Z“ kann manunter dem Buchstaben F von feministischer Frauenar-beitsgemeinschaft bis AG Frieden und Sicherheitspolitikalles finden, nur zum Thema Familie findet sich nichts.
Unter Buchstabe K ist von „Karl-Liebknecht-Haus“ bis„Kontakt“ alles zu finden, aber zum Thema Kindernichts.In dem Programm der PDS ist unter „Reformalterna-tiven“ von „1. Demokratie“ bis „8. Ostdeutschland“ al-les zu finden, nur nichts zu Kindern und Familien. Wennman sich Ihre Reformalternativen genauer anschaut, ent-deckt man zehn Punkte, in denen beschrieben wird, wassozialistische Politik bedeutet. Aber man findet nichts zuKindern und Familien.Wie wir alle haben auch Sie Ihre Fraktion in Arbeits-kreise organisiert. Aber keiner Ihrer Arbeitskreisspre-cher ist – zumindest ausweislich Ihrer Homepage – fürKinder und Familien verantwortlich.
Der letzte Punkt. Auch Sie haben Mitglieder im Aus-schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Einerdavon nennt sich familienpolitischer Sprecher. Ich habemir angeschaut, ob es von ihm schon Initiativen gibt.
– Das tut weh; das ist mir klar. – Aber Initiativen liegennoch nicht vor. Genau das ist Ihr Problem: Sie habenkeine Rezepte, Sie äußern nur Kritik gegenüber anderen.
Sie haben die Familie und die demografische Situationoffensichtlich noch nicht als Politikfeld erkannt, zumin-dest nicht als eines zum Gestalten. Sie wollen die Men-schen in einer Gesellschaft, die sich demografischwandelt und die noch dazu in den Stürmen der Globali-sierung steht, verunsichern. Sie wollen in einem Momentspalten, in dem die Generationen in einem Land zusam-menstehen müssten.
– Auch diese Frage kann ich Ihnen gern beantworten.Mehr tun für die Zukunft unseres Landes, für Kinderund Familien heißt, das Institut der Ehe zu stärken,
anstatt anderweitige Formen des Zusammenlebens zuprivilegieren, die Vereinbarkeit von Kindern und Berufzu stärken, ohne die Wahlfreiheit und damit die Ent-scheidung für die Betreuung im Elternhaus zu unterbin-den, mehr in Bildung und Forschung zu investieren,Kindererziehungszeiten bei der Rente verstärkt zu be-rücksichtigen und damit den vergesellschafteten Kinder-nutzen wieder zu individualisieren sowie konsumtiveAusgaben nicht über Schulden zu finanzieren, da das die
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Marco WanderwitzSteuern von morgen sind, die die Generationen von mor-gen bezahlen müssen.Die Koalition ist auf dem Weg. Die Bundesregierungwird der Verantwortung für unser Land gerecht, ob Ih-nen das passt oder nicht.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nie-mand weiß, was in 20, 30 oder 50 Jahren sein wird. Des-halb lassen sich gerade mit dem Thema Rente sehr leichtExistenzängste schüren. Wen wundert es, dass ausge-rechnet die Linkspartei Seit’ an Seit’ mit der „Bild“-Zei-tung dieses Thema für sich entdeckt hat. Nach demMotto „Immer kräftig drauf“ wird die Stimmung imLande angeheizt.Davon wird die Rente allerdings kein Stück sicherer.Was wir brauchen, sind die richtigen Rahmenbedingun-gen. Gemeinsam mit den Grünen haben wir in den letz-ten beiden Legislaturperioden begonnen, die notwendi-gen Pflöcke für die Sicherung des solidarischenRentensystems einzuschlagen. In der großen Koalitionwerden wir diesen Weg fortsetzen. Wir werden nicht nurdie Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt zum Beispieldurch das 25-Milliarden-Euro-Wachstumspaket verbes-sern, sondern auch das Rentensystem selbst zukunftsfes-ter machen.Die Zeitungen schreiben heute, die große Koalitionwage mit den vorgelegten Altersvorsorgeberichten eineneue Ehrlichkeit. Dazu gehört erstens die schrittweiseHeraufsetzung des Rentenalters auf 67 bis zum Jahr2029. Selbstverständlich wird dies mit einer breit ange-legten Beschäftigungsoffensive für ältere Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer flankiert, solange die Chancenfür sie am Arbeitsmarkt dermaßen unbefriedigend sind.Beide Maßnahmen gehören zusammen; so ist das im Ko-alitionsvertrag festgeschrieben.Zu der neuen Ehrlichkeit, von der wir in den Medienlesen, gehört zweitens, dass wir den Menschen sagen,dass sie selbst vorsorgen müssen, wenn sie ihren Le-bensstandard im Alter halten wollen. Der Begriff derneuen Ehrlichkeit ist an dieser Stelle allerdings nichtganz zutreffend; denn bereits unser damaliger Rentenmi-nister Walter Riester hat die staatlich geförderte privateAltersvorsorge eingeführt. Sein Name ist mit ihr un-trennbar verbunden. Seit 2001 gibt es die zusätzliche ka-pitalgedeckte Altersvorsorge, quasi den „Walter fürs Al-ter“.
Über 5 Millionen Menschen nehmen sie in Anspruch.Herr Lafontaine hat vor ein paar Tagen auf einerAschermittwochveranstaltung behauptet, die Bundesre-gierung habe die Menschen mit der Riesterrente belogenund betrogen. Herr Lafontaine, ganz abgesehen davon,dass dies natürlich die Unwahrheit ist, profitieren geradediejenigen Menschen von dieser Vorsorgemöglichkeit,für die Sie sich angeblich stark machen wollen: Arbeits-lose, Geringverdiener, Familien und Frauen.
Sie erhalten bei der Riester-Rente proportional zum ein-gezahlten Betrag die höchsten staatlichen Zuschüsse. Ichnenne einmal ein Beispiel: Mit dem Einsatz von nur5 Euro im Monat kann eine Familie im Arbeitslosen-geldbezug mit drei Kindern heute eine Förderung von520 Euro im Jahr erzielen.Wir werden an dieser Stelle noch mehr machen, dieRiester-Rente noch attraktiver ausgestalten und die Kin-derzulage erhöhen. Ab 2008 würde meine Beispielfami-lie dann 1 054 Euro im Jahr erhalten, und das – ich wie-derhole es – mit einem Einsatz von nur 5 Euro imMonat.Trotz allem gibt es noch viele Menschen, die die Vor-teile der Riester-Rente nicht kennen oder diesbezüglichVorbehalte haben. Deshalb ist es ganz wichtig, zu infor-mieren. Die Bundesregierung wird deshalb unter ande-rem „Fit-in-Altersvorsorge“-Kurse an Volkshochschu-len unterstützen. Ich empfehle Ihnen, Herr Lafontaine:Nehmen Sie diese Angebote wahr! Gehen Sie zu denVolkshochschulen und lernen Sie etwas, damit Sie zu-künftig an dieser Stelle nicht mehr so viel Unwahres ver-breiten müssen!
Werfen wir einen Blick auf die Betriebsrenten! BisEnde 2001 stagnierten ihre Zahlen. Dann folgte ein re-gelrechter Boom. Knapp 16 Millionen Menschen habeninzwischen Betriebsrentenansprüche; das sind rund60 Prozent aller Beschäftigten. Diese positive Entwick-lung ist auf unsere Reformen zurückzuführen. Betriebs-renten in Deutschland sind nämlich keine reinen Good-willangelegenheiten der Arbeitgeber mehr. Wir habenfür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein weit rei-chendes Recht auf Betriebsrente geschaffen und durchSteuer- und Abgabenfreiheit die richtigen Anschubreizegesetzt.Wir schaffen die notwendigen volkswirtschaftlichenRahmenbedingungen. Wir machen die gesetzliche Rentezukunftsfest und fördern die private und betriebliche Al-tersvorsorge. Sie sehen: Wo andere auf „Bild“-Zeitungs-niveau schrumpfen, handelt die Koalition.
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Letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde ist die
Kollegin Elke Ferner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolle-ginnen! Die Überschrift dieser Aktuellen Stunde lautet:„Die Zukunft der Rente“. Daher macht es Sinn, in diePapiere hineinzuschauen, mit denen die Oppositionspar-teien in den Wahlkampf gezogen sind. Der Kollege Gysihat ja zu Beginn einige wunderschöne Sätze vorgetra-gen. Er hat in diesem Zusammenhang aber nicht erläu-tert, wie er die Berechnung der Wertschöpfungsabgabevornehmen will. Aber im Wahlprogramm der PDS stehtauch, dass Sie eine Grundrente in Höhe von 800 Euro füralle einführen möchten, und zwar unabhängig von derErwerbsbiografie.Ich habe mir die Mühe gemacht und nachgeschaut,wie viele Entgeltpunkte ich heute brauche, wenn ich eineRente von 800 Euro erhalten will. Das sind 30,6 Ent-geltpunkte. Nach dem, was der Kollege Gysi gesagt hat,bedeutet das, dass ich 30,6 Jahre Einkommen im Durch-schnitt aller Versicherten bekommen haben muss, um800 Euro Rente – nach heutigem Rentenwert – zu erhal-ten. Das heutige Durchschnittseinkommen beträgt2 500 Euro. Was Sie in Ihrem Wahlprogramm vorschla-gen, würde bedeuten, dass eine Kassiererin, die nachdem von der Gewerkschaft Verdi ausgehandelten Tarif-vertrag im sechsten Berufsjahr noch nicht einmal2 000 Euro brutto im Monat verdient, 38 Jahre Vollzeitarbeiten muss, um eine Rente in gleicher Höhe,800 Euro im Monat, zu bekommen.
– Ich glaube nicht, dass ein Bruttoeinkommen von1 986 Euro unterhalb des Mindestlohns anzusiedeln ist.Das ergibt sich immerhin aus dem Verdi-Tarifvertrag.
Insofern ist auch da ein bisschen Nachrechnen gefordert.Wenn die neue soziale Gerechtigkeit darin bestehensoll, dass jemand, egal wie lange er gearbeitet hat undwie viel er verdient hat, die gleiche Rente erhält wie eineKassiererin, die sich jeden Tag, sechs Tage in der Wo-che, an ihre Kasse stellt und 38 Jahre für diese Rente ar-beiten muss, muss ich sagen: Herzlichen Glückwunsch!
Die Leute werden schon beurteilen können, ob das sozialgerecht ist oder ob das nicht sozial gerecht ist.Ferner wollen Sie letztendlich die Beitragsbemes-sungsgrenze aufheben, ohne dass damit auch entspre-chende Rentenansprüche verbunden sind. Sie heben dasBeitragsäquivalenzprinzip von unten und von oben auf.Schließlich werden Sie bei einer Grundrente ankom-men, deren Höhe mit der heutigen Beitragsbezogenheitüberhaupt nichts mehr zu tun hat und bei der die Eigen-tumsgarantie – darauf bezieht sich ja die geltende Recht-sprechung des Bundesverfassungsgerichts – im Prinzipauch nicht mehr gewährleistet würde. Auch das führt si-cherlich zu einem hohen Verunsicherungspotenzial,zwar weniger für diejenigen, die heute Rente beziehen,dafür umso mehr für diejenigen, die heute arbeiten undin Zukunft Rente beziehen werden.Die FDP hat in ihrem Wahlprogramm gefordert, denBeitragssatz bei 19 Prozent festzuschreiben. Nun be-klagte Herr Kolb gerade, dass es keine Rentenanpassunggeben wird. Was würde passieren, wenn wir im Jahr2007 Ihrer Forderung nachkämen und den Rentenversi-cherungsbeitrag auf 19 Prozent festsetzten?
Der Rentenversicherungskasse würden 9 MilliardenEuro fehlen.Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine Möglich-keit ist, die Auszahlung um diesen Betrag zu kürzen,
was über den Daumen gepeilt eine Rentenkürzung um5 Prozent ausmachen würde.
Bei einer Rente von 1 000 Euro wären das 50 Euro imMonat bzw. 600 Euro im Jahr. Dazu sage ich: HerzlichenGlückwunsch! Das, was wir gleich debattieren, nämlichdie Festschreibung des Rentenwertes – es gibt keineRentenkürzung –,
ist immer noch besser als das, was Sie als FDP vorge-schlagen haben. Sie betonen ja immer, dass Sie denGrundsatz ernst nehmen, nach der Wahl zu tun, wovonSie vor der Wahl gesprochen haben. Das wäre also eineRentenkürzung.
Die zweite Möglichkeit ist die Erhöhung der Einnah-men der Rentenversicherung über den Bundeszuschuss.
Da frage ich mich natürlich: Wie wollen Sie das finan-zieren?
Das entspricht in etwa einem Mehrwertsteuersatzpunkt.In dieser Sache ist mehr Ehrlichkeit angesagt, Herr Kolb.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1683
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Elke FernerIhre aufgeregten Zwischenrufe machen deutlich, dassich den richtigen Nerv getroffen habe.
Wir brauchen in Zukunft – das wissen die jüngerenGenerationen – neben der gesetzlichen Rentenversiche-rung mehr betriebliche und private Altersvorsorge. DerUmfang der betrieblichen Altersvorsorge ist deutlich ge-stiegen und wird durch die getroffenen Maßnahmen beieinem Betriebswechsel besser ausgestaltet.Ich glaube, wir haben uns wenig vorzuwerfen, zumalSie am Rentenversicherungsbericht 1995 nicht unmaß-geblich beteiligt gewesen sind.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den
Zusatzpunkt 6 auf:
5 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab
1. Juli 2006
– Drucksache 16/794 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Schneider , Klaus Ernst, Katja
Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage
für die Rentenanpassung herausnehmen
– Drucksache 16/826 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Franz Thönnes.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Der Koalitionsvertrag aus dem letzten Jahr stellt eindeu-tig klar: Die gesetzliche Rentenversicherung ist undbleibt die tragende Säule der Altersversorgung. Klar istebenso, dass zur Sicherung des Lebensstandards im Al-ter auch eine ergänzende kapitalgedeckte Altersvorsorgegehört, entweder privat oder über die betriebliche Alters-vorsorge.Die Herausforderungen sind in der Aktuellen Stundedeutlich geworden. Es geht darum, die Kosten, die durchdie längere Lebenserwartung entstehen, gerecht auf dieGenerationen zu verteilen. Wir alle können uns über diehöhere Lebenserwartung freuen. Manchmal mag mandie Zahl bei einer Geburtstagsfeier nicht so gern wahrha-ben, aber zunächst einmal ist das Älterwerden schön. Fürdie Rentenversicherung hat es jedoch zur Folge, dass dieRentenbezugsdauer länger wird. Im Vergleich zu den60er-Jahren wird durchschnittlich sieben Jahre längerRente bezogen. Das ist eine finanzielle Herausforderung.Das ist aber auch eine Bewährungsprobe für denGenerationenvertrag; denn die ältere Generation solldie Gewissheit haben, dass die jüngere Generation fürsie sorgt. Schließlich hat sie durch die Schaffung der In-frastrukturen in Schulen und Hochschulen die Zukunft-schancen für die jüngere Generation aufgebaut. Ichglaube, daran muss man erinnern, wenn man dafür sor-gen möchte, dass der Generationenvertrag aufrechterhal-ten bleibt.Wir müssen über den demografischen Wandel spre-chen. Es ist bereits gesagt worden, dass die Zahl der älte-ren Menschen wächst. Jüngere kommen leider nichtmehr so zahlreich nach, wie das in den 60er-Jahren derFall war. Damals hat eine Frau im Durchschnitt zweiKindern das Leben geschenkt. Heute sind es nur1,3 Kinder. Es ist deswegen gut, dass diese Koalition indie Zukunft von Familien investiert, und zwar mit demAusbau des Angebots von Ganztagsbetreuung in denSchulen, mit Kinderkrippenplätzen und mit weiteren Er-leichterungen, um die Vereinbarkeit von Familie und Be-ruf zu ermöglichen. Das ist der richtige Weg.
Die aktuelle Beschäftigungssituation ist ebenfallseine Herausforderung, weil es darum geht, mit den er-heblichen Beitragsausfällen in unseren sozialen Siche-rungssystemen fertig zu werden. Es ist daher gut, in dieZukunft zu investieren, wie es mit den 25 MilliardenEuro geplant ist, die in Verkehr, also in Straße undSchiene, in Wissenschaft, in Forschung und Entwick-lung und ganz konkret in Arbeit, nämlich durch Steuer-erleichterungen bei der Modernisierung von Eigentums-wohnungen und Häusern und bei den persönlichenBedingungen zu Hause, investiert werden sollen.Diese Herausforderungen gilt es anzunehmen. Es gilt,in einem ausgewogenen Verhältnis dafür zu sorgen, dassJung und Alt zusammenbleiben, dass die Rentnerinnenund Rentner sowie die Beitragszahlerinnen und Bei-tragszahler ihren Beitrag leisten, und dass auch die Steu-erzahlerinnen und Steuerzahler hier gemeinsam Verant-wortung tragen. Das ist das Prinzip unseres solidarischenSystems und das wollen wir für die Zukunft bewahren.
Mit den Reformen der Vergangenheit wurde bereitsdarauf reagiert. Es ging darum, den Beitragssatz stabil zu
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Parl. Staatssekretär Franz Thönneshalten. Das haben wir erreicht: Er blieb vier Jahre langbei 19,5 Prozent. Wir nehmen nun eine behutsame An-hebung auf 19,9 Prozent vor. Das ist der Beitrag der Ar-beitnehmer und der Arbeitgeber. Gleichzeitig wird derArbeitslosenversicherungsbeitrag um 2 Prozent redu-ziert. Auch die Rentnerinnen und Rentner haben in derVergangenheit ihren Beitrag geleistet, durch die Über-nahme der Pflegeversicherung und durch die Verbeitra-gung der Zusatzrenten in der Krankenversicherung. Daswar ein entscheidender Beitrag. Für die Steuerzahlerin-nen und Steuerzahler gilt – daran wird erinnert werdendürfen –, dass mittlerweile gut ein Drittel der Rentenleis-tung, weil es sozialpolitisch so gewollt ist, aus demStaatshaushalt gezahlt wird, sodass die Beteiligung derdrei wesentlichen tragenden Säulen der Rentenfinanzie-rung gewährleistet ist.Für eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichenRentenversicherung ist es erforderlich, für mehr Be-schäftigung zu sorgen und die Arbeitslosigkeit abzu-bauen. Dazu dient das Investitionsprogramm, das auf derKabinettsklausur in Genshagen beschlossen wurde.Dazu dienen aber auch die Mittel, die in die aktive Ar-beitsmarktpolitik investiert werden, um Menschenschneller in Beschäftigung und Arbeit zu vermitteln.Für die Beitragszahlerinnen und -zahler müssen dieBeitragssätze bezahlbar bleiben. Wir müssen darauf ach-ten, dass die Lohnnebenkosten nicht zu hoch werden unddadurch Beschäftigung gefährdet wird. Das Signal andie Rentnerinnen und Rentner ist im Koalitionsvertragdeutlich gegeben: Es darf keine Rentenkürzungen geben.Rentnerinnen und Rentner leisten ihren Anteil zur soli-darischen Finanzierung der Rentenversicherung und zurKonsolidierung des Haushalts. Deswegen muss klarsein: Eine verlässliche Rentenhöhe ist für die Rentnerin-nen und Rentner zurzeit von ganz zentraler Bedeutung.
Allen in dieser Debatte ist bekannt, dass sich dieAnpassung der Renten seit 1957 an der Einkommens-entwicklung orientiert. Die Rentnerinnen und Rentnerhaben auf diese Weise in den vergangenen Jahren von ei-ner guten Einkommensentwicklung profitiert. Leider istes in der Vergangenheit aufgrund der ökonomischen Ent-wicklung, teilweise auch durch den Einkommensver-zicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und da-durch, dass Lohnzuschläge weggefallen sind, zu einerVerringerung der Einkommen gekommen. Die Rentne-rinnen und Rentner haben durch die Dämpfungsfakto-ren, die wir in die Rentenformel eingebaut haben, ihrenBeitrag geleistet.Vor dem Hintergrund der Jahre 2005 und 2004 – dieseJahre wird man bei der Rentenanpassung zugrundelegen – muss deutlich gesagt werden, dass die aktuellewirtschaftliche Situation nicht zufriedenstellend ist.Wir arbeiten an einer Verbesserung. Die hohe Arbeitslo-sigkeit, der Rückgang der sozialversicherungspflichtigenBeschäftigungsverhältnisse und der Verzicht auf Lohn-bestandteile spielen dabei eine Rolle. Es kann nicht aus-geschlossen werden, dass es zu einer Rentenkürzungkommt. Das wollen wir aber nicht. Mithilfe des von unseingebrachten Gesetzentwurfs wird das verhindert unddie Zusage im Koalitionsvertrag, dass es keine Renten-kürzungen geben wird, eingelöst. Damit unterstreichtdiese Koalition, dass sie sich an die Vereinbarungen hältund dass eine verlässliche Rentenpolitik ihrer Ansichtnach von zentraler Bedeutung für die älteren Menschenist.
Man könnte fragen: Warum wartet ihr nicht ab, bis dieendgültigen ökonomischen Daten vorliegen? Wir han-deln jetzt, damit sich die deutsche Rentenversicherungrechtzeitig auf die technische Umsetzung einstellenkann. Wir wollen gewährleisten, dass die Rentenwertenach dem 30. Juni 2006 weiterhin gelten. Die aktuelleEinkommenssituation im Vergleich der Jahre 2005 und2004 wird erst Ende März vorliegen. Die Rentenver-sicherungsträger brauchen aber jetzt unsere Entschei-dung, damit die Rentenzahlungen zum 1. Juli verlässlichumgesetzt werden können. Deswegen wollen wir dieendgültigen Daten nicht abwarten, sondern heute han-deln und damit eine Zusage einlösen.Was zugesagt worden ist, gilt. Wir sorgen dafür, dassder Rentenwert für die Zukunft gesichert ist. Die Ent-scheidungen der Koalition zielen zudem darauf ab, mehrBeschäftigungsverhältnisse zu schaffen und die Jugend-arbeitslosigkeit zu reduzieren. Auf diesem Weg verdeut-lichen wir, dass in dieser schwierigen Situation alle ver-suchen müssen, die Lasten gemeinsam zu tragen.An dieser Stelle muss man deutlich sagen, dass dieRentnerinnen und Rentner ein Stück weit Einkommens-sicherheit erhalten. Aber auch Nachfrage und Kaufkraftsind für die Konjunktur wichtig. Die Menschen, die inArbeit stehen, leisten ihren Beitrag für das solidarischeSystem über eine leichte Beitragssatzanpassung. DerBund beteiligt sich weiterhin in ganz wichtigen Berei-chen an der Sicherung der Renten, nämlich durch dieGewährung zusätzlicher Entgeltpunkte für die Erziehungvon Kindern. Hier trägt der Bund die Verantwortung.Die Unterstützung der Kindererziehung in den Fami-lien ist eine gemeinsame steuerliche Verantwortung;denn Kinder stellen die Zukunftssicherung der Rentendar.Andererseits muss man auch deutlich sagen: UnserRentensystem ist nur sicher, wenn wir in die Zukunft in-vestieren. Wir investieren in die Bereiche Schule, Aus-bildung und Hochschule und in neue Produkte, damitDeutschland auch morgen in dieser Welt wettbewerbsfä-hig ist. Diese Entscheidung gilt es zu fällen.
Wir dürfen die Saatkartoffeln, die wir heute ernten, nichtverfrühstücken. Sie müssen wieder investiert werden.Das ist die beste Sicherung für die Renten, auch für dieRenten, die wir in Zukunft denjenigen zahlen wollen, dieheute jung sind, die heute zur Schule gehen und sich an-schließend, wenn sie in Arbeit stehen, durch ihre Ren-tenversicherungsbeiträge am Generationenvertrag betei-ligen.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde das Handeln der Bundesregierung, bezogen auf
den vorliegenden Gesetzentwurf und die damit verbun-
dene Initiative, ein Stück weit scheinheilig. Oft ist es ja
so, dass die große Koalition nach dem Motto handelt: Es
gibt keine Lösung, also gibt es auch kein Problem. Das
ist beispielsweise bei der Krankenversicherung, der Pfle-
geversicherung oder den Arbeitsmarktreformen der Fall.
Hier versuchen Sie es einmal mit dem umgekehrten
Motto, Frau Connemann: Es gibt kein Problem, aber wir
lösen es trotzdem.
Man muss klipp und klar sagen, Herr Thönnes, dass
niemand davon ausgeht – das war auch im gestern vorge-
legten Rentenversicherungsbericht 2005 nicht der Fall –,
dass es in 2005 tatsächlich eine negative Lohnentwick-
lung gegeben hat, die eine solche Schutzregelung für
Rentner erforderlich machen würde. Deswegen denke
ich, dass es sich bei diesem Gesetz, mit dem vorgeblich
drohende Rentenkürzungen verhindert werden sollen,
eher um ein Täuschungs- und Ablenkungsmanöver han-
delt.
Hier wird die Festschreibung der dritten Nullrunde
für Renter in Folge sehr kunstvoll als Heldentat verkauft,
weil die Rentner angeblich von Kürzungen verschont
bleiben sollen.
Herr Thönnes, vielleicht soll damit eher ein Beleg für die
Aussage Ihres Ministers erbracht werden, es werde in
dieser Form keine Rentenkürzungen geben. Ich finde,
mit dieser Aussage sollten Sie und vor allem Ihr Minis-
ter sehr vorsichtig sein, weil Sie längst Ihre Unschuld
verloren haben.
– Ja, Herr Schaaf, das muss man so sagen.
Tatsache ist doch, dass dies die dritte Nullrunde in
Folge ist. Und wenn ich Ihnen das erläutern darf: Im ge-
nannten Zeitraum, also unter Ihrer Verantwortung, kam
es zur Verbeitragung der Direktversicherungen und Zu-
satzversorgungen. Der Krankenversicherungsbeitrag
wurde um 0,9 Prozentpunkte erhöht. Darüber hinaus
müssen die Rentner nun den vollen Beitrag zur Pflege-
versicherung zahlen. Das bedeutet, dass es entgegen den
vollmundigen Ankündigungen des damaligen Fraktions-
vorsitzenden Müntefering bereits zu faktischen Renten-
kürzungen gekommen ist.
– So ist es.
Am 1. Januar 2007 – das kann man gar nicht oft ge-
nug sagen; deswegen wiederhole ich es – wird die
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht. Gleichzei-
tig werden den Rentnern zwei weitere Nullrunden – dann
werden es also fünf in Folge sein – zugemutet.
Die Rentner sind davon in voller Höhe betroffen. Sie
können nicht darauf reagieren, sie profitieren nicht von
der Senkung der Lohnnebenkosten. Das, Herr Schaaf,
hat eine drastische Beschneidung der verfügbaren Ein-
kommen der Rentnerhaushalte zur Folge. Egal wie Ihre
Rhetorik dazu ausfällt, bedeutet das für die betroffenen
Menschen eine Rentenkürzung. So wird diese Steuerer-
höhung, die für die tägliche Lebensführung eine ein-
schneidende Maßnahme ist, tatsächlich empfunden.
Ich fordere Sie auf, auf die Mehrwertsteuererhöhung zu
verzichten; denn sie ist unsozial. Auch das Bundes-
sozialgericht wird auf Dauer nicht bereit sein, einer sol-
chen Abfolge von Nullrunden zuzustimmen.
Jetzt will ich zu dem, was Frau Kollegin Ferner, die
noch anwesend ist – dafür bedanke ich mich –, gesagt
hat, Stellung nehmen. Hätten Sie unser Programm rich-
tig gelesen bzw. richtig daraus zitiert, hätten Sie viel-
leicht festgestellt, dass es darin heißt, dass wir den Bei-
tragssatz langfristig bei 19 Prozent halten wollen. Ich
gebe Ihnen Recht: Kurzfristig gibt es immer nur drei
Stellschrauben: den Beitragssatz, das Rentenniveau und
den Bundeszuschuss. Aber mittel- und langfristig gese-
hen besteht sehr wohl die Chance, durch die gesamt-
wirtschaftliche Entwicklung, also eine florierende
Wirtschaft, und die damit einhergehende Erhöhung der
Zahl der Beitragszahler Beitragssenkungen zu erreichen.
An dieser Stelle, Frau Ferner, setzen wir an. Wir wol-
len durch Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Steu-
ersystem sowie durch Entbürokratisierung die Rahmen-
bedingungen dafür schaffen, dass unsere Wirtschaft
wieder wachsen kann, mehr Menschen in Arbeit kom-
men und mehr Rentenbeiträge gezahlt werden.
Dann kann auch das Beitragsniveau insgesamt gesenkt
werden; denn wenn man von einem solchen Szenario
ausgeht, werden auch die absoluten Einnahmen der Ren-
tenversicherung steigen. Das ist der Hintergrund, warum
wir das in unserem Programm niedergeschrieben haben.
– Ich freue mich, dass ich Ihnen unser Programm erklä-
ren durfte, Frau Ferner. Stellen Sie mir doch eine Zwi-
schenfrage.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der KolleginFerner?
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Nichts lieber als das.
– Ja, eben.
Herr Kollege Kolb, habe ich Sie richtig verstanden,
dass Sie Ihrer Logik zufolge – ich wiederhole: bessere
wirtschaftliche Rahmenbedingungen, höheres wirt-
schaftliches Wachstum, mehr sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigungsverhältnisse – die Annahmen des
Rentenversicherungsberichts, den das Kabinett gestern
beschlossen hat, nach oben korrigieren würden?
Bleiben Sie bitte lange stehen, Frau Kollegin Ferner.
Zunächst einmal muss man sagen: Papier ist geduldig.
Man kann viel in einen Bericht schreiben. Aber ob sich
das letztlich realisieren lässt, muss man abwarten.
Tatsache ist, dass führende Wirtschaftsforschungs-
institute – das Institut für Weltwirtschaft in Kiel, Deut-
sche Bank Research und andere – das Potenzialwachs-
tum unserer Volkswirtschaft, also das spannungsfreie
Wachstum, derzeit eher mit 1,25 bis 1,5 Prozent denn
mit den von Ihnen prognostizierten durchschnittlich
1,7 Prozent pro Jahr beziffern. Ihre Prognosen sind also
zu hoch. Dieses Potenzialwachstum lässt sich natürlich
steigern, Frau Kollegin Ferner; das ist ja nicht gottgege-
ben. In anderen Volkswirtschaften, beispielsweise in den
Vereinigten Staaten, bedeutet ein Wachstum von 2,5 Pro-
zent pro Jahr fast schon eine Wirtschaftskrise. Für uns
wäre ein Wachstum von jährlich 2,5 Prozent ein großer
Ausreißer nach oben.
Da wir jede Woche die Chance haben, Gesetze zu ver-
abschieden und Rahmenbedingungen zu verändern, for-
dere ich Sie auf: Lassen Sie uns doch gemeinsam dafür
sorgen, dass auf dem Arbeitsmarkt mehr Dynamik ent-
steht, als es in den letzten fünf Jahren der Fall war.
– Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben doch die ne-
gative Bilanz in diesem Bereich zu verantworten: Unter
Rot-Grün haben wir seit 2001 anderthalb Millionen so-
zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren.
Damit sind auch anderthalb Millionen Beitragszahler
verloren gegangen.
Wer es ernst meint mit der Sicherung der sozialen Si-
cherungssysteme, muss an genau diesem Punkt ansetzen.
Kurzfristig besteht immer nur die Möglichkeit, die Bei-
tragssätze erhöhen, wie Sie es zum 1. Januar 2007 wie-
der einmal werden tun müssen. Wahrscheinlich – ich
nehme Wetten darauf an – werden Sie dies danach sehr
schnell wiederholen müssen. Lassen Sie uns also die
Rahmenbedingungen ändern.
Dazu gehört auch, dass jetzt nicht kontraproduktiv ge-
handelt werden darf. Der Ausbau der privaten und der
betrieblichen Vorsorge ist wichtig. Deshalb darf die So-
zialabgabenfreiheit durch die Entgeltumwandlung
nicht ab 2008 beendet werden.
Das ist ein Fehlanreiz. Das hat auch der Sozialbeirat in
seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht fest-
gestellt. Es kann doch nicht sein, dass wir den Men-
schen, wenn wir um die Versorgungslücken wissen, auch
noch den Fehlanreiz geben, in diesem Bereich nichts
mehr zu tun. Ich fordere Sie im Namen meiner Fraktion
auf, mit uns gemeinsam die Fortgeltung der Sozialabga-
benfreiheit für die Jahre ab 2009 zu beschließen, damit
die aufgetretenen Versorgungslücken ausgeglichen wer-
den können.
Sie werden mit Ihrer Rentenpolitik des Tarnens und
Täuschens, die jetzt auch von Schwarz mitgetragen wird,
die Zukunft nicht gewinnen. Eine realistische Bestands-
aufnahme ist nötig.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus meiner Sicht ein
Scheinhandeln. Deswegen werden wir ihm nicht zustim-
men können.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Noch so viel Polemik und Nebelkerzen
können nicht davon ablenken, dass heute ein wirklichguter Tag für die Rentnerinnen und Rentner in unseremLand ist,
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Peter Weiß
und zwar, weil die Bundesregierung und die sie tragen-den Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD einenGesetzentwurf einbringen, wonach es selbst bei negati-ver Lohnentwicklung
zu keiner Rentenkürzung kommt.Herr Kolb, ob es eine negative Lohnentwicklung gibtoder nicht, wissen wir erst Ende März endgültig.
Deswegen ist das, was wir jetzt tun, vernünftig und rich-tig. Die Botschaft ist: Selbst wenn es eine negativeLohnentwicklung gegeben hat, kommt es zu keinerRentenkürzung. Das ist eine gute Botschaft für alleRentnerinnen und Rentner in diesem Land.
Gerade weil den Rentnerinnen und Rentnern in denvergangenen Jahren etliche Sonderopfer, die Herr Kolbaufgeführt hat, auferlegt worden sind, ist es richtig, dasswir diese Entscheidung gemeinsam treffen. Wenn Sieschon so reden, Herr Kolb,
wäre es schön, wenn die FDP dem zustimmen würde.Die große Koalition hat vereinbart: Mit uns gibt esnicht nur in diesem Jahr, sondern auch in den kommen-den Jahren keine Rentenkürzungen. Wir demonstrierenmit diesem Gesetzentwurf, dass auf die große KoalitionVerlass ist. Die Rentnerinnen und Rentner sind mit dergroßen Koalition auf der sicheren Seite.
Nun ist es durchaus möglich, dass es in den kommen-den Jahren noch einmal zu Nullrunden bei der Rentekommt.
Sie sollten aber einmal offen sagen, woran das liegt. DieRente folgt den Löhnen. Weder Angela Merkel nochFranz Müntefering noch die Koalitionsfraktionen undauch nicht die Opposition legen die Löhne in Deutsch-land fest.
Die Löhne werden von den Tarifpartnern frei ausgehan-delt; bei ihnen liegt die Verantwortung für die Lohnent-wicklung in diesem Land. Wenn die Lohnentwicklung soschwach ist wie in den vergangenen Jahren, führt das au-tomatisch dazu, dass auch die Rente nicht steigt. Deswe-gen ist die zentrale Stelle, an der sich entscheidet, obkünftig wieder Rentenerhöhungen möglich sind, die Ent-wicklung der Löhne in Deutschland. Das ist die Wahr-heit; das ist es, was man klar und deutlich sagen muss.
Wir, die große Koalition, wollen mit unserer Politikdafür sorgen, dass wieder mehr Wachstum undBeschäftigung in Deutschland möglich wird, damit dieLöhne und auch die Renten wieder steigen. Das ist un-sere Politik.
Die Rente ist natürlich – das hat die Aktuelle Stundegezeigt – ein schönes Thema für Polemik. Man kanneine Rede über die armen Rentnerinnen und Rentner hal-ten, die angeblich ihnen zustehende Zuwächse nicht er-halten. Man kann auch eine Rede über die armen jungenLeute halten, die die höchsten Rentenbeiträge der Ge-schichte zahlen müssen und dafür relativ wenig heraus-bekommen.
Solche Reden kann man halten. Der Punkt ist nur: Damitwird kein einziges rentenpolitisches Problem gelöst.
Unser Kurs ist und muss sein,
beim Thema Rente für Generationengerechtigkeit zusorgen, das heißt, für einen gerechten Ausgleich zwi-schen den Interessen der Älteren und der Jüngeren.
Für diesen gerechten Ausgleich kann man Adam Riesenicht außer Kraft setzen.
Die Rente hat zuerst einmal etwas mit Mathematik zutun. Wer Rentenpolitik ohne Mathematik betreibt, derhat die Rente verraten und verkauft. Das ist der Punkt.
Wir können in der Rentenversicherung natürlichnichts verschenken, was wir nicht eingenommen haben.Deswegen wird die große Koalition nicht irgendeinenbilligen Trick machen, Herr Kolb, sondern in Zeiten, indenen eine höhere Rente aufgrund steigender Löhnemöglich ist, die jetzt nicht vorgenommenen Kürzungennachholen; das ist der Nachholfaktor. Das halte ich fürdie Rentnerinnen und Rentner für gerecht und planbar.Die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land wissen:Mit dieser großen Koalition gibt es keine Rentenkürzun-gen, aber es gibt auch keine riesigen Sprünge nach oben,da die nicht eingetretenen Kürzungen irgendwann ein-mal ausgeglichen werden müssen.
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Peter Weiß
Das ist eine einfache mathematische Rechnung, HerrKolb. Die Rente hat etwas mit Mathematik zu tun undwer die Mathematik außer Kraft setzen will, der machtdie Rente kaputt. Das ist die Wahrheit.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
Ja.
Herr Kollege Weiß, ich weiß, dass auch Ihre Redezeit
begrenzt ist. Deswegen möchte ich Ihnen die Gelegen-
heit geben, noch einige Zeit dranzuhängen.
Danke schön.
Wenn man so redet wie Sie – Sie sagen, Sie wollen
eine generationengerechte Politik –, dann müsste man
eigentlich anders handeln. Dann dürfte man den Zeit-
raum für die Inanspruchnahme der Frühverrentung nicht
verlängern, wie Sie es beschlossen haben, weil das eine
Subvention der jetzigen Rentnergeneration zulasten
künftiger Rentnergenerationen ist.
Ich weiß nicht, wie Sie das sehen. Aber eigentlich
dürfte man dann auch nicht das vorliegende Gesetz be-
schließen. Denn das Grundprinzip der Umlagefinanzie-
rung eines sozialen Sicherungssystems besagt: Man
kann nicht mehr ausgeben, als eingenommen wird. Das
heißt, wenn sich die Einkommen der erwerbstätigen Ge-
neration aufgrund einer schlechten wirtschaftlichen Ent-
wicklung nicht positiv bewegen, können die Renten ei-
gentlich auch nicht steigen. Oder wie sehen Sie das?
Herr Kollege Kolb, ich bin doch erstaunt, dass Sie
nach Ihrer Rede, in der Sie sich über mehrere Nullrun-
den besorgt geäußert haben, in Ihrer Zwischenfrage of-
fensichtlich den wahren rentenpolitischen Kurs der FDP
erkennen lassen, nämlich dass Sie einer Rentenkürzung
das Wort reden. Sehe ich das richtig?
Ich habe soeben ausgeführt, dass es in der Rentenver-
sicherung nichts zu verschenken gibt. Einnahmen und
Ausgaben müssen zueinander passen. Die Mittel, die wir
dafür aufwenden, eine Rentenkürzung zu vermeiden,
müssen in besseren Zeiten ausgeglichen werden. Die
rentenpolitischen Maßnahmen der großen Koalition wer-
den auf Dauer dazu führen, dass der Rentenversiche-
rungsbeitrag der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
– vor allen Dingen der jungen Generation – nicht in dem
Maße ansteigt, wie er stiege, würden wir nicht gesetzlich
handeln.
Die Deutsche Rentenversicherung hat am Dienstag
dieser Woche zu einem Gespräch eingeladen – Sie waren
dabei – und das Szenario bis zum Jahr 2030 vorgestellt.
Das ist eine lange Zeit.
– Das ist noch die Antwort auf Ihre Frage.
Die Präsidentin hat mich gebeten, mich zu setzen.
Anhand dieses Szenarios kam zum Ausdruck, dasswir, wenn wir nicht so handeln würden, wie wir handeln,im Jahr 2030 bei einem Rentenversicherungsbeitrag inHöhe von 22,5 Prozent landen würden. Indem wir han-deln, halten wir den Rentenversicherungsbeitrag unter22 Prozent. Das ist eine gute Botschaft für die jüngereGeneration; denn sie weiß: Durch unser Handeln wirdder Anstieg des Rentenversicherungsbeitrages deutlichund klar begrenzt. Darum geht es.Nun muss man in einer solchen Debatte der Wahrheithalber dazusagen:
Wir müssen deutlich machen, worauf es wirklich an-kommt. In der deutschen Rentenpolitik hat es einengrundlegenden Wechsel dahin gehend gegeben, dass diegesetzliche Rente für die Zukunft nicht mehr die allei-nige Alterssicherung darstellt, sondern sie ist nur nochein wichtiger Teil dieser Alterssicherung. Deswegen istes wichtig, dass für jeden Arbeitnehmer in Deutschlandzusätzlich eine zweite und dritte Säule der Altersvor-sorge aufgebaut wird. Es ist gut, dass in dem Alterssi-cherungsbericht der Bundesregierung, der gestern vorge-legt worden ist, deutlich gemacht wird: Bei denBetriebsrenten in Deutschland geht es wieder aufwärts.Diese Entwicklung muss so weitergehen. Es ist auch gut,dass in dem Alterssicherungsbericht der Bundesregie-rung klar gemacht wird, dass die dritte Säule, nämlichdie private kapitalgedeckte Altersvorsorge, in Deutsch-land gestärkt wird und immer mehr Bürger fürs Alter zu-sätzlich vorsorgen.Die große Koalition wird die private kapitalgedeckteAltersvorsorge noch interessanter und attraktiver ma-chen, indem wir uns entschlossen haben, zum 1. Janu-ar 2007 auch den Bau eines Hauses oder den Erwerb ei-ner Wohnung in die Riester-Förderung aufzunehmen. Abdem Jahr 2008 wird der Förderbetrag, den der Staat proKind für die private Altersvorsorge bereitstellt, deutlicherhöht. Wir werden uns im kommenden Jahr darüber un-terhalten, ob wir nicht noch weitere Maßnahmen ergrei-fen müssen, damit die zweite und die dritte Säule derAltersversorgung gestärkt werden und das Gesamtver-
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sorgungsniveau – darauf kommt es an – der älteren Ge-neration in Zukunft ein Leben in Würde ermöglicht.
Ich will zum Schluss darauf hinweisen, dass KarlDoemens, der die Rentenpolitik der Regierung nicht im-mer lobt, in der gestrigen Ausgabe des „Handelsblatts“geschrieben hat: Schwarz-Rot ist in der Rentenpolitikauf dem richtigen Weg. – Gehen Sie diesen Weg mit uns.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider, Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es war hier eben die Rede davon, dass es keine Renten-kürzungen geben wird. Ich habe die Situation von vorzwei Wochen etwas anders in Erinnerung: Bundesminis-ter Müntefering ist als Sheriff von Nottingham durch dieLande gezogen und hat den eingeschüchterten Unterta-nen nichts anderes verkündet, als dass die meisten vonihnen zwei Jahre länger arbeitslos bleiben oder auf7,2 Prozent ihrer Renten verzichten müssen.
Was ist das anderes als eine Rentenkürzung?
Weil solche Ankündigungen in Zeiten von Wahlen– in drei Wochen werden bekanntlich in drei Bundeslän-dern neue Landesparlamente gewählt – denkbar schlechtankommen, erleben wir heute eine Fortsetzung dieserSoap auf unserer Staatsbühne. Der erste Diener desHauptdarstellers hat das grüne Wams von Robin Hoodangezogen und verkündet der staunenden Menge: Fürch-tet euch nicht! Wir werden verhindern, dass man euchauch nur einen Cent eurer Rente wegnimmt.Das ist zwar sehr löblich, aber diese Inszenierung hateinen kleinen Schönheitsfehler. Wo sind denn bitte dieRäuber, vor denen dieser Robin Hood die Untertanenschützen möchte? Eine Verringerung des Renteneck-werts aufgrund der maßgeblichen Lohnentwicklung se-hen selbst Sie, wenn ich die Begründung Ihres Antragesrichtig lese, als kaum wahrscheinlich an. Das hat in denletzten Wochen auch kein Experte ernsthaft ins Kalkülgezogen.
Woher der Kollege Stiegler seine andersartigen Informa-tionen bezieht, die er noch letzten Sonntag in der ARDverkündet hat, entzieht sich meiner Kenntnis.Am Dienstag – das ist ganz aktuell – hat Dr. Rischevon der Deutschen Rentenversicherung den Anstieg derBruttolöhne und -gehälter nur für die sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigten mit 0,1 Prozent beziffert.Ich betone: Die 1-Euro-Jobs sind in diese Zahl bereitseingerechnet.
Wie der Kollege Kolb frage ich mich, meine Damen undHerren von der Regierungskoalition: Was motiviert Sie,einen Gesetzentwurf einzubringen, der etwas verhindernsoll, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-keit so ohnehin nicht eintritt? Plagt da einige aus dervorhergehenden Regierungskoalition die Angst, bei ih-ren Reformen übersteuert zu haben? Oder setzen die„Spezialdemokraten“ Traditionen der RegierungSchröder fort?
Bundesminister Müntefering hat beim Vorziehen derErhöhung des Rentenalters gezeigt, wie es geht: Erstwird die Öffentlichkeit informiert und dann vollzieht esdie Fraktion zähneknirschend nach. Das ist wahrlicheine würdige Umsetzung des schröderschen Basta-Prin-zips.Da bietet es sich doch an, ein weiteres Merkmalschröderscher Politik zum Einsatz zu bringen: Schwä-chen der Politik werden durch ein gutes Marketing über-tüncht. Ganz im Sinne des orwellschen Neusprechs sagtman nicht: Liebe Rentnerinnen und Rentner, ihr erhaltet2006 keinen einzigen Cent mehr. Nein, das Vorhabenwird stattdessen so verkauft, dass man den Betroffenenverkündet: Wir verhindern, dass euch in diesem Jahrauch nur ein einziger Cent von eurer Rente weggenom-men wird. – So klingt das wirklich gleich viel besser.Kompliment an den leider nicht mehr anwesenden Vize-kanzler: Er ist der wahre und würdige Nachfolger desletzten „spezialdemokratischen“ Kanzlers.
Wie dem auch sei, die Fraktion Die Linke kann demGesetzentwurf über die Weitergeltung der aktuellenRentenwerte selbstverständlich zustimmen; es könnteschließlich doch irgendwie der schlimmste aller schlim-men Fälle eintreten und insofern stimmen wir Ihnen zu,dass eine verlässliche Rentenhöhe für die Rentenbezie-her gegenwärtig von größter Bedeutung ist.Damit wir das nun aber nicht in jedem Jahr wieder neubeschließen müssen und nicht jedes Jahr erneut die Ge-fahr entsteht, dass es aufgrund der Berechnung der Brut-tolöhne zu diesem Worst Case kommt, sollten wir abereines schleunigst beschließen, nämlich die 1-Euro-Jobsaus der Berechnungsgrundlage für die Rentenanpas-sung herauszunehmen und die Rentenanpassung auf derBasis der solchermaßen bereinigten Berechnungsgrund-lage durchzuführen. Nach den aktuellen Berechnungendes Statistischen Bundesamtes dämpfen die 1-Euro-Jobs
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(D)
Volker Schneider
die Entwicklung der Bruttodurchschnittsverdienste in2005 um 0,8 Prozent.1-Euro-Jobs sind keine Beschäftigungsverhältnisse.
Für sie wird kein Lohn gezahlt. 1-Euro-Jobs gehöreninsoweit weder in die Statistik der Bruttolöhne und -ge-hälter noch in die Beschäftigtenstatistik. Ihre Berück-sichtigung hat eine sachlich nicht zu rechtfertigendeMinderanpassung der Renten zur Folge.Das Kabinett hat gestern angekündigt, die 1-Euro-Jobs aus ihren längerfristigen Vorausberechnungen zurRentenentwicklung herausnehmen zu wollen. Wir freuenuns, dass sich die Bundesregierung insoweit unserer For-derung angeschlossen hat.
– Ich glaube, unser Antrag hat an einem Dienstag vorge-legen und Sie haben Ihr Vorhaben am Mittwoch verkün-det.
Nachdem Sie schon A gesagt haben, müssen Sie nurnoch B sagen und die 1-Euro-Jobs aus der Berechnungs-grundlage für die aktuelle Rentenanpassung herausneh-men. Die Fraktion Die Linke hofft auch in diesem Punktauf Ihre Lernfähigkeit.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Schneider, nachdem wir hier des Öfte-ren darüber diskutiert haben, ob die Fraktion Die Linkeals PDS bezeichnet werden darf, gehe ich davon aus,dass es ein Versprecher war, als Sie die Sozialdemokra-ten als „Spezialdemokraten“ bezeichnet haben.Ich gebe das Wort der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unter dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ set-zen sich die Grünen seit langem dafür ein, die Renten füralle Generationen zukunftstauglich zu machen. Wir ha-ben unter Rot-Grün für umfassende Rentenreformen ge-stritten, die kurz- und mittelfristig den Beitragssatz unddas Rentenniveau sichern.Ohne die unter grüner Regierungsbeteiligung be-schlossenen Rentengesetze läge der Beitragssatz zurRentenversicherung heute bereits bei über 22 Prozentder Löhne und Gehälter. In den letzten Jahren sind dieLöhne und Gehälter nur sehr moderat gestiegen. Dashatte auch Folgen für die Einnahmen der Rentner.Nach den Schätzungen der Regierung wäre es mög-lich gewesen, dass die Renten in diesem Jahr hätten ge-kürzt werden müssen. Wir erwarten Ende März den end-gültigen Bericht; aber ich denke, es ist auch wichtig,Vorsorge zu treffen. Zu einer Kürzung der Rentenkönnte es auch deshalb kommen, weil nach den beste-henden gesetzlichen Grundlagen die 1-Euro-Jobs in dieBerechnung der Löhne einbezogen werden müssen unddie Entwicklung der Renten bekanntlich grundsätzlichder Entwicklung der Löhne folgt. Das ist der wesentlicheGrund, den die Bundesregierung für den vorliegendenGesetzentwurf und ihr Anliegen, den bisherigen aktuel-len Rentenwert „freihändig“ zu stabilisieren, genannthat. Wir unterstützen diesen Gesetzentwurf, weil wir derAuffassung sind, dass die Rentnerinnen und Rentnernicht die Folgen der Einführung der 1-Euro-Jobs tragensollten. Wir dürfen sie nicht für unsere Arbeitsmarktpoli-tik verantwortlich machen.Herr Kollege Schneider, Sie haben gesagt, dass Siedie Ersten gewesen seien. Ausweislich des Stenografi-schen Berichts hatte ich aber schon im Januar dieses Jah-res vorgeschlagen, dass die 1-Euro-Jobs aus der Brutto-lohn- und -gehaltssumme herauszurechnen sind. DasArbeitsministerium hat uns damals die Auskunft gege-ben, dass das Europäische System der Volkswirtschaftli-chen Gesamtrechnungen die maßgebliche Rechengrößeder gesetzlichen Rentenversicherung sei und eine Ände-rung dieses Verfahrens nur per Gesetz möglich sei. Mitdem Rentenversicherungsbericht hat die Bundesregie-rung nun Eckpunkte beschlossen, aus denen hervorgeht,dass sie entsprechende gesetzgeberische Maßnahmeneinleiten wird. Wir unterstützen dieses Vorhaben. Inso-fern ist der Antrag der Linken obsolet.Wir sind allerdings der Meinung: Es macht keinenSinn, langfristig wirkende rentensichernde Gesetze zubeschließen, um dann ständig tagespolitisch eingreifenzu müssen. Vor diesem Hintergrund bewerten wir denRentenversicherungsbericht und die Eckpunkte der Bun-desregierung zur Stabilisierung der gesetzlichen Ren-tenversicherung als unzureichend. Der Arbeitsministerhat wesentliche Entwicklungen, die in den letzten Jahrenzu veränderten Rahmenbedingungen geführt haben,nicht aufgegriffen und demzufolge keine Vorschläge ge-macht. Das wurde deutlich, als wir gestern in der Regie-rungsbefragung nachgefragt haben. Ich nenne in diesemZusammenhang vor allem die sinkende Zahl der sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, undzwar trotz Zunahme der Beschäftigung, Herr KollegeKolb
– Sie sind also gegen die 400-Euro-Jobs –,
die fortwährende Tendenz bei Großunternehmen, ältereArbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Teilzeit oderAltersteilzeit nach dem Blockmodell zu schicken unddamit zulasten der Sozialversicherungen Betriebe zu ra-tionalisieren, neue Formen von Selbstständigkeit undprekären, unsteten Arbeitsverhältnissen, die nicht mit ei-
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Irmingard Schewe-Gerigkner ausreichenden sozialen Absicherung verbunden sind,und die insgesamt fehlende Arbeitsintegration von älte-ren Beschäftigten und nicht zuletzt von Frauen.Herr Staatssekretär Thönnes, auch die ablehnendeStellungnahme Ihres Ministeriums zu den Vorschlägender Europäischen Kommission, aus denen hervorgeht,wie Beschäftigte erworbene Ansprüche bei denBetriebsrenten verstetigen, das heißt in einen anderenBetrieb mitnehmen können, ist sehr enttäuschend. Ichfinde, moderne Arbeitsmärkte erfordern mobile Be-schäftigte. Daher macht es keinen Sinn, dass man dieseRentenansprüche erst dann mitnehmen kann, wenn manmindestens 30 ist und mindestens fünf Jahre eingezahlthat. Sie sollten darüber noch einmal nachdenken und dasdann ändern. Ich finde, die betriebliche Altersvorsorgesollte flexibler werden. Sie darf außerdem nicht als Fi-nanzierungsmasse der Arbeitgeber verwendet werdenund muss stärker vor Insolvenz geschützt werden. Dannkönnen Sie, Herr Staatssekretär Thönnes, mit mehr Be-rechtigung ein Gesamtrentenniveau ausweisen, wie esim Rentenversicherungsbericht vorgesehen ist.Die große Koalition hofft offenbar auf Wachstum.Den von mir gerade genannten Problemen weichen aberSPD und Union aus. Wir sind sehr gespannt, ob Sie mitder für Mitte des Jahres angekündigten Initiative„50 plus“ über die Maßnahmen hinausgehen werden, dieschon unter Rot-Grün beschlossen wurden. Bislang ha-ben wir von Ihnen nichts Ergänzendes gehört. Die Zeitder Werbung um Arbeitgeber ist aber nun vorbei. Siesollten jetzt Taten folgen lassen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch bei der heutigen rentenpolitischen Debatte handeltes sich um die übliche Gemengelage, die ich als gnaden-los bezeichne: gnadenlose Klientelpolitik und gnadenlo-ser Populismus.
Herr Kolb, Sie beklagen, dass diejenigen, die jetzt Leis-tungserbringer in der gesetzlichen Rentenversicherungsind, enorm belastet sind – obwohl sie in Zukunft längerarbeiten müssen, müssen sie ein geringeres Rentenni-veau verkraften und werden sie weniger Leistungen er-halten –, und fordern gleichzeitig, die Mehrwertsteuernicht zu erhöhen. Man kann sicherlich darüber streiten,ob eine Mehrwertsteuererhöhung richtig ist. Ich war an-derer Meinung als die Mehrheit. Wenn wir aber dieMehrwertsteuer nicht erhöhen, um die Lohnnebenkostenzu senken, dann belasten wir zusätzlich die jetzigenLeistungserbringer. Das ist ein Widerspruch in sich.
Gleichzeitig steht in Ihrem Programm, Sie wolltenden Beitragssatz zur Rentenversicherung auf 19 Prozentsenken. Das würde bedeuten, dass wir die zukünftigenGenerationen zusätzlich zu dem, was wir schon auf denWeg gebracht haben, belasten würden, weil sie zusätz-lich privat vorsorgen müssten.
Wir haben die private Vorsorge auf den Weg gebracht.Ich erinnere in dieser Debatte gerne daran, dass wir vonRot-Grün es waren, die gesagt haben, man müsse privatvorsorgen. Wir haben entsprechende Anreize geliefert.Sie haben die Betriebsrente erwähnt. Zu der Be-triebsrente ist zu sagen, dass wir die Sozialabgabenfrei-heit bis zum Jahre 2008 beschlossen haben.
Als wir das Gesetz damals beschlossen haben, haben wireine Anschubfinanzierung bezweckt,
um die Betriebsrenten in Deutschland üblicher zu ma-chen, als sie in diesem Lande waren. Zu solchen Maß-nahmen waren Sie, als Sie an der Regierung beteiligtwaren, nie in der Lage.
Man könnte durchaus diskutieren, ob man den Zeit-raum der Sozialabgabenfreiheit verlängert. Dann mussman allerdings ehrlicherweise auch sagen, dass die So-zialabgabenfreiheit dazu führt, dass die gesetzliche Ren-tenversicherung Mindereinnahmen hat. Wen trifft dasam Ende? Das trifft am Ende diejenigen, die keine pri-vate Altersvorsorge betreiben wollen oder können, unddiejenigen, die keine Betriebsrente haben, also diejeni-gen, die auf die Alterssicherung in der Form, die wir be-schlossen haben, angewiesen sind. Sie wird es treffen,wenn das Sicherungsniveau abgesenkt werden muss.Das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Daher: Über-prüfen Sie noch einmal Ihre Argumente.Ich will einige Sätze zu dem gnadenlosen Populismussagen, weil wir diesen Populismus in letzter Zeit öftererleben. Sie von der Linken wollen die Gut- und Besser-verdienenden, die Reichen und die Unternehmen in die-sem Lande zur Finanzierung der sozialen Sicherungssys-teme zusätzlich heranziehen. Nach den letzten 30 bis40 Reden, die ich von der Fraktion der Linken gehörthabe, sollen wir die Besserverdienenden für alles he-ranziehen: für Bildung, für die Finanzierung vonHartz IV, für die Rente usw. Würden wir Ihren Vorschlä-gen folgen, dann hätten wir die Hälfte der Besserverdie-nenden in diesem Lande schon enteignet.
Irgendwann ist auch das zu Ende. Ich bin schon derMeinung, dass man über Beitragsbemessungsgrenzen
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Anton Schaafrealistisch diskutieren kann, aber irgendwo hat allesseine Grenzen. So wie Sie von der FDP immer nach Pri-vatisierung rufen, so reden Sie von der Linken immervon Verstaatlichung. Ich glaube, beide Wege sind nichtzielgerichtet.
Herr Kollege Schaaf, es gibt eine Zwischenfrage des
Kollegen Schneider.
Nein. Danke.
Kurz zum vorliegenden Gesetzentwurf: Das, was wir
für dieses Jahr beschließen, ist eine Vorsichtsmaßnahme.
Das ist ohne Zweifel richtig. Die Botschaft an alle betei-
ligten Akteure im Zusammenhang mit der gesetzlichen
Rentenversicherung, insbesondere aber an die Rentne-
rinnen und Rentner, heißt: Der Rentenwert, der für die-
ses Jahr gilt, wird fortgeschrieben. Es wird also keine
Rentenkürzung geben.
Wenn hier gesagt wird, man könnte den Rentenwert
weiter fortschreiben, dann sage ich, dass bei uns ein biss-
chen Realismus in Sachen Rente eingekehrt ist. Das
kann man nicht von all denen sagen, die früher Renten-
versicherungsberichte verfasst haben. Das gebe ich zu.
Jetzt ist etwas Realismus eingekehrt. Wir beziehen uns
bei dem, was wir machen, nicht nur auf die Projektion
und wir rennen der Projektion nicht mit Gesetzen hinter-
her, weil wir feststellen, dass wir immer wieder nachbes-
sern müssen, sondern wir schreiben den Rentenwert vor
dem Hintergrund verlässlicher Daten, die erhoben wer-
den, fort. Ich halte das für absolut richtig. Wir sollten an
dieser gesunden Praxis nichts ändern.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass es in den
nächsten Jahren definitiv keine Rentenkürzungen geben
wird. Das ist nicht die freudigste Botschaft, die man sich
vorstellen kann. Wir alle könnten uns freudigere Bot-
schaften vorstellen. Aber ist es eine Botschaft, auf die
sich die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande defi-
nitiv verlassen können. Es ist schon eine Leistung, dass
man Aussagen für die Zukunft trifft, auf die sich die
nachfolgenden Generationen verlassen können. Es ist
eine gute Botschaft, weil diese Generationen über das hi-
naus, was wir jetzt machen, nicht zusätzlich belastet
werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Die Debatte in der heutigen Aktuellen Stunde und diejetzige über den Gesetzentwurf der Bundesregierung,der zum Ziel hat, dass die Renten in unserem Land nichtsinken, haben einen sehr bemerkenswerten Verlauf ge-nommen. Die Kollegen der FDP beklagen die Situation– das ist aus Sicht der Opposition vielleicht auch ver-ständlich –, dass es keine Rentenerhöhung gibt und da-rüber hinaus die Beitragssatzstabilität nicht so gewähr-leistet ist, wie es ihren Vorstellungen entspricht.
Die Linken, die ehemalige SED-PDS,
stellt die Situation so dar, als sei die Rente ein Füllhornfür die Menschen in Deutschland, ohne darauf hinzuwei-sen, dass die Rente einer wirtschaftlichen Grundlage be-darf.Ich glaube, das ist der Diskussion hier nicht würdig;denn die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschlandist insgesamt ein großer Erfolg.
Ich möchte unter anderem herausstellen: Die gesetzlicheRentenversicherung ist die beste Grundlage dafür, dassin Deutschland im Alter niemand in Armut leben muss.Das zeigen auch die Alters- und Armutsberichte. Durchunser System der gesetzlichen Rentenversicherung istAltersarmut in der Vergangenheit mit verhindert wor-den.
Ich bin überzeugt, dass diese Form der Armut durch diegemeinsame Politik von CDU/CSU und SPD auch in derZukunft verhindert werden kann.Dieser Gesetzentwurf zielt darauf ab, dass die Rentenim Jahr 2006 nicht gekürzt werden müssen, was auf-grund der Lohnentwicklung unter Umständen notwen-dig erscheinen könnte. Der Kollege Kolb hat dies be-zweifelt. Er hat behauptet, es handele sich nur um einVorschaltgesetz, für das es eigentlich gar keine Grund-lage gebe; schließlich wüssten wir gar nicht, wie sich dieLöhne entwickelt hätten. Ein Blick in die Statistik hättevielleicht für Aufklärung gesorgt. Dort wird nämlichdargelegt, dass die Bruttolöhne und -gehälter von 2004auf 2005 gesunken sind. Wohlgemerkt, die 1-Euro-Jobssind dabei mitgezählt. Trotzdem zeigt das sehr deutlichdie Tendenz aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklunghier in den vergangenen Jahren. Dem will unsere Bun-desregierung Rechnung tragen, indem sie dafür sorgt,dass die Rentnerinnen und Rentner zumindest an dieserAbwärtsspirale zukünftig nicht beteiligt sind.Die Löhne und Gehälter werden in Deutschland mög-licherweise – aus welchen Gründen auch immer – nichtsteigen. Wir haben bereits eine Sicherungsklausel in diegesetzliche Rentenversicherung eingebaut und werdenmit dem vorliegenden Gesetzentwurf quasi eine weitereeinbauen. Die Lohnentwicklung wird sich in Deutsch-land in der Zukunft nur verbessern, wenn wir insgesamtbessere wirtschaftliche Ergebnisse erzielen. Entschei-dend ist, dass die Wirtschaft in Deutschland in Gangkommt. Wir brauchen mehr sozialversicherungspflich-
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Max Straubingertige Beschäftigungsverhältnisse. Die erfolgreiche Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit ist die Grundlage dafür,dass die Löhne und Gehälter in Deutschland wieder stei-gen.Wir dürfen nicht der Forderung der Linken folgen, fürMindestlöhne in Höhe von 8 oder 9 Euro zu sorgen
und darüber hinaus anderweitig kräftige Lohnsteigerun-gen zu ermöglichen. Solche Forderungen sind für man-che wie Schalmeienklänge. Würde man dieser Forde-rung folgen, würde die Arbeitslosigkeit in Deutschlandnoch weiter steigen, weil die Wettbewerbsfähigkeit un-seres Wirtschaftsstandortes darunter leiden würde.
Genauso wie viele Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU, der SPD und der FDP bin ich der Auffas-sung, dass wir die wirtschaftlichen Rahmenbedingun-gen in unserem Land verbessern müssen.
Dies hat diese Bundesregierung aber bereits in die Wegegeleitet. Die Genshagener Beschlüsse sehen ein Investi-tionsprogramm in Höhe von 25 Milliarden Euro für dieseLegislaturperiode vor. Hinzu kommen verbesserte Ab-schreibungsbedingungen für die Betriebe, insbesonderefür den Mittelstand, und die Absetzbarkeit von Handwer-kerrechnungen für Privatpersonen. Ich bin überzeugt,dass dies Beschäftigungsimpulse im Handwerk setzenund kräftige Investitionen herbeiführen wird. Damit wer-den auch mehr Arbeitsplätze in unserem Land entstehen.
Diese Arbeitsplätze sind eine Grundlage dafür, dass wirin Deutschland zukünftig stabile Rentenverhältnisse ha-ben.
Natürlich ist es wichtig und entscheidend, dass wirzukünftig auch die private Altersvorsorge verstärkt för-dern. Ich möchte aber vorausschicken: Nicht erst seitEinführung der Riesterrente nutzen die Menschen inDeutschland die Möglichkeit zur privaten Altersvor-sorge. 80 Millionen oder 90 Millionen Lebensversiche-rungsverträge sind ein beredtes Beispiel dafür, dass dieMenschen in unserem Land die Zeichen der Zeit erkannthaben und wissen, dass sie für das Alter vorsorgen müs-sen. Das wurde auch von staatlicher Seite ständig geför-dert, und zwar mit vielen Regierungsbeschlüssen unterden jeweiligen Koalitionen, etwa mit der steuerlichenAbsetzbarkeit von Lebensversicherungsbeiträgen. Es istalso nicht so, dass man dies erst hätte neu erfinden müs-sen. Dies gilt es aber zu stärken, damit dies breiter zumTragen kommt.
5,6 Millionen Riester-Verträge sind angesichts des-sen, dass 40 Millionen Menschen dieses Instrument inAnspruch nehmen könnten, ein – ich sage es vielleichteinmal so – bescheidener Erfolg. Deshalb gilt es, dieseInitiative noch zu verstärken. Wir werden uns in derKoalition natürlich darüber zu unterhalten haben, ob inder Zukunft wirklich nur die Form der Rentenauszah-lung das entscheidende Modell sein kann oder ob nichtauch mietfreies Wohnen im Alter ein hohes Gut ist, viel-leicht ein gleichzustellendes Gut. Diese Form derRiester-Förderung könnte einen zusätzlichen Impuls da-für geben, dass Menschen Altersvorsorge betreiben.
Sie müssen bitte zum Schluss kommen, Herr Kollege.
Verehrte Damen und Herren, lassen Sie uns diese De-
batte in diesem Sinne gemeinsam aufnehmen, sie nicht
mit Parolen überfrachten, sondern in großer Sachlich-
keit, mit der nötigen Gelassenheit, aber vor allem ziel-
orientiert für die Menschen in unserem Land entspre-
chende Beschlüsse herbeiführen!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/794 und 16/826 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,habe ich einen Nachtrag zur Sitzung heute Vormittag zumachen. Es gab eine Geschäftsordnungsdebatte, bei derich nach der zweiten Abstimmung versäumt habe, imPräsidium das Einvernehmen mit einem der beidenSchriftführer herzustellen. Das tut mir Leid und dafürentschuldige ich mich.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENBelarus vor den Präsidentschaftswahlen 2006– Drucksache 16/816 –Interfraktionell ist dafür eine halbe Stunde Ausspra-che verabredet. – Dazu höre ich keinen Widerspruch.Dann ist so beschlossen.
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Vizepräsidentin Katrin Göring-EckardtIch eröffne die Aussprache und gebe das Wort demKollegen Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion.
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Belarus, Weißrussland, beginnt dort, wo dieSpurbreite der Eisenbahn 89 Millimeter breiter ist als imübrigen Europa. Dies ist allerdings leider nicht der ein-zige Unterschied. Im Unterschied zu allen Nachbarn, imUnterschied zu den europäischen Demokratien ist Bela-rus eine Diktatur, eine gut funktionierende Diktatur, einePräsidialdiktatur. Seit 1994 hat Präsident AlexanderLukaschenko Belarus fest im Griff. Diesen festen Grifferleben viele Menschen in Belarus als Würgegriff. Erverhindert das Entstehen einer Bürgergesellschaft. Erverhindert das lebendige Atmen der Demokratie. Die Ge-sellschaft in Belarus ist unter einem Eismantel aus Be-vormundung, staatlichem Terror, Demagogie, Desinfor-mation und nackter Angst begraben. Diese Angst lähmt.Die Menschen haben sich ins Private, ins Häusliche, insUnpolitische zurückgezogen. Der Präsident, die Staats-macht, die Staatssicherheit sind allgegenwärtig. Es gibtnur eine Wahrheit: Das ist die Wahrheit des Präsidenten.Es gibt nur einen Willen: Das ist der Wille des Präsiden-ten. Presse, Funk und Fernsehen sind staatlich undgleichgeschaltet. Es gibt so gut wie keine unabhängigeÖffentlichkeit, keine Gegenöffentlichkeit. AusländischeNachrichtensendungen werden gestört, den Menschenwerden neutrale Informationen vorenthalten. Über allemwacht als Schild und Schwert des Präsidenten der bela-russische KGB.Wer die Wirklichkeit eines real existierenden Sozia-lismus kennen lernen will, muss Belarus besichtigen. Esist ein großer Feldversuch mit 10 Millionen Menschen,die diesem System und einem diktatorischen Präsidentenausgeliefert sind. Fast alle Belarussen sind wirtschaftlichund existenziell vom Präsidenten und von seinem Wohl-wollen abhängig. Nahezu alle Unternehmen sind Staats-unternehmen und an der Spitze des Staates steht der Prä-sident. Präsident Lukaschenko sieht alles, weiß alles,regelt alles. Wer nicht spurt, wer Widerspruch in der Sa-che oder gegen seine Person riskiert, der riskiert Leibund Leben. Oppositionelle politische Widersacher undJournalisten verschwinden in Administrationshaft oderin der Verbannung – manche spurlos bis heute.Jenseits dieser politischen Pression gibt es in der Be-völkerung durchaus auch eine gewisse Zufriedenheit mitder gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Situa-tion. In der Abwägung zwischen sozialer Sicherheit aufder einen Seite und politischer Freiheit auf der anderenSeite würde wohl eine Mehrheit der Belarussen einer ge-wissen Sicherheit den Vorrang geben.Nun finden am 19. März Präsidentschaftswahlen inBelarus statt. Dazu heute diese gemeinsame Debatte imDeutschen Bundestag. Wir debattieren auf der Grund-lage eines gemeinsamen Antrags. Mit diesem Antragund mit dieser Debatte wollen wir die Menschen in Bela-rus ermutigen, sich frei und unabhängig zu entscheiden.Wir begrüßen, dass mehrere Kandidaten zur Wahl ste-hen:
so neben dem bisherigen Präsidenten ein gemeinsamerKandidat der demokratischen Kräfte, AlexanderMilinkewitsch. Alexander Milinkewitsch ist ein respek-tabler Kandidat. Er war im Februar dieses Jahres zu poli-tischen Gesprächen bei der Europäischen Union in Brüs-sel und dankenswerterweise hat ihn Angela Merkel hierin Berlin im Kanzleramt zum Gespräch empfangen.Mit unserem Antrag wollen wir die Menschen inBelarus ermutigen, sich selbst als Staatssouverän zu be-greifen, Angst abzulegen und sich von einer Diktatur zuemanzipieren. Wir erwarten, dass es zu freien, fairen undtransparenten Wahlen kommt. Wir fordern Chancen-gleichheit für alle Kandidaten, gleichen Zugang zur Öf-fentlichkeit sowie Fairness und Gewaltlosigkeit auch fürdie Tage nach der Wahl.
Es geht uns um die Menschen in Belarus. Sie sind unsnicht gleichgültig, wir nehmen Anteil an ihrem Schick-sal. Wir nehmen deshalb besonderen Anteil, weil diebelarussische Bevölkerung dramatisch unter den Folgendes Zweiten Weltkrieges zu leiden hatte. 1945 waren alleStädte zerstört, jeder vierte Einwohner getötet, mehr als8 000 Dörfer vernichtet. Wir nehmen auch deshalb be-sonders Anteil, weil Belarus bis heute unter den Folgender Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu leidenhat. Es gibt dankenswerterweise mehr als 800 privatedeutsche Initiativen, die mit Sachspenden, finanziellenMitteln und Kinderaustausch versuchen, das Leid unddie Not dort zu lindern. Die staatlichen und privaten Hil-fen aus Deutschland summieren sich auf über 300 Mil-lionen Euro. Mehr als 100 000 Kinder waren in denletzten Jahren zu einem Erholungsaufenthalt in Deutsch-land. Diese, meist privaten, Tschernobylinitiativen sindpraktizierte, gelebte Menschlichkeit.
Auch dies beweist: Die Menschen in Belarus sind unsnicht egal.Wir möchten, dass die Selbstisolierung von Belarusaufhört. Wahlen, die internationalen Standards entspre-chen, sind dazu eine wichtige Voraussetzung. Belarus istein europäisches Land mit einer europäischen Tradition,keine zwei Flugstunden von hier entfernt. Es ist in allerInteresse, dass Belarus zu einem wertvollen und geach-teten Teil der europäischen Völkerfamilie wird. Wirmöchten, ohne uns aufzudrängen, ohne uns einzumi-schen, daran mitwirken. Es wäre schön, liebe Freunde,wenn in Zukunft lediglich die Spurbreite der EisenbahnBelarus von seinen Nachbarn trennen würde.Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Michael Link von der FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Weltweit gibt esnoch zahlreiche Diktaturen, autoritäre und diktatorischeRegime. Vom Triumph der Demokratie kann zurzeit lei-der keine Rede sein. Regime wie Nordkorea, Simbabweund Syrien, um nur einige zu nennen, unterscheiden sichvon Belarus jedoch in einem Punkt: Sie alle sind weitweg. Das relativiert nicht unsere Betroffenheit und un-sere Sorge bezüglich dieser Regime; aber manchmal,seien wir ehrlich, relativiert es doch ein bisschen unsereunmittelbare Beschäftigung mit diesen Ländern. Belarusdagegen – Herr Grund hat es angesprochen; das ist einsehr wichtiger Punkt, den wir uns selten klar machen –ist gerade einmal gut eine Flugstunde Richtung Ostenentfernt. Deshalb sollten wir als Parlamentarier diesesThema weiterhin auf die Tagesordnung setzen; denn die-ses Nachbarland der Europäischen Union ist die letzteausgewachsene Diktatur auf europäischem Boden.In Belarus, gut eine Flugstunde entfernt, werden Jour-nalisten, Studenten und Oppositionelle verhaftet undkörperlich misshandelt. Freie Universitäten werden ge-schlossen und das Internet und der Postverkehr werdensystematisch gestört. Ein wortgewaltiger Alleinherrscherverbreitet dort eine Stimmung der Angst unter Menschenfreier Gesinnung.In Belarus, gut eine Flugstunde entfernt, herrscht– sagen wir auch das deutlich – noch so etwas wie kalterKrieg und gibt es noch so etwas wie einen eisernen Vor-hang. Wie sonst kann man die Grenze zwischen Polenund Weißrussland, zwischen der Europäischen Unionund Weißrussland, betrachten? Wer heute mit dem Zugüber die Grenze fährt und die Grenzkontrollen dort er-lebt, wer die öffentlichen Auseinandersetzungen zwi-schen Polen und Weißrussland in den Medien erlebt, derkann fast nur noch von kaltem Krieg sprechen. Das Pro-blem dabei ist: Es ist nicht noch kalter Krieg, sondern esist wieder kalter Krieg.Vergessen wir nicht: Weißrussland war Anfang der90er-Jahre schon weiter. Damals war es unter PräsidentSchuschkjewitsch auf dem Weg der Integration in dieeuroatlantischen Strukturen.
Es war bereits auf dem Weg, Mitglied des Europarateszu werden. Leider ist es das heute nicht mehr. Wir wis-sen alle, weshalb. Seit Präsident Lukaschenko das Re-gime umgebaut und das Land zu einem KGB-Staat spät-kommunistischer Prägung gemacht hat, regiert er dortnicht nur mit starken Worten – mit einer kruden rhetori-schen Mischung aus sozialistischen und manchmal sogarnationalsozialistischen Anleihen –, sondern vor allemmit harter Hand. Wer nicht pariert, wird mundtot ge-macht; in einigen Fällen in den letzten Jahren muss mansogar von politisch motiviertem Mord ausgehen.Mit unserem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU,SPD, Grünen und FDP wollen wir – Herr Grund hat eserwähnt – heute ein starkes Signal aussenden, dass derDeutsche Bundestag den Vorgängen in diesem Landnicht weiter zusehen möchte. Wir schließen uns den ent-sprechenden Initiativen des Europäischen Parlaments,des Europarats und der OSZE an und fordern für dieWahlen am 19. März eine faire Chance für alle Kandi-daten.
Es ist gut, dass wir in diesem Parlament über fast alleFraktionsgrenzen hinweg Einigkeit herstellen konnten.Es ist wichtig, dass dieses Signal deutlich wird.Ich würde mir wünschen, dass auch die PDS bereitwäre, ein entsprechendes Signal auszusenden. Da habeich allerdings manchmal meine Zweifel, wenn ich Aus-sagen in Zeitungen lese, die Ihnen nicht fern stehen. Inder „Jungen Welt“ vom 18. Februar heißt es zum Bei-spiel: „Umsturzhilfe Ost für Belarus“. Am 25. Februarkonnte man lesen: „EU-Propaganda gegen Belarus“.Ein Zitat vom 4. März: „Belarus ist nicht dieUkraine.“ – Stimmt so weit.Hier gibt es keine Oligarchen und keine Obdachlo-sen. Hier hat das soziale Sicherungssystem seineAutonomie gegenüber der Marktautonomie be-wahrt. Hier ist die Wirtschaftspolitik auf die Erhö-hung des allgemeinen Wohlstands ausgerichtet.Weil der Großteil der belarussischen Bevölkerungdas zu schätzen weiß, gibt es auch kaum einenZweifel über den Wahlausgang.Das ist gewagt, würde ich sagen.Ein Zitat aus einer Quelle, die Ihnen vielleicht nochnäher ist, nämlich von der Website „sozialisten.de“:Offensichtlich geht es den USA und der EU darum,einen eigenständigen Weg von Belarus nicht zuzu-lassen und dem Land die eigenen kapitaldominier-ten Werte aufzuzwingen.Ich bitte Sie einfach: Sorgen Sie hier für Klarheit undbekennen Sie sich dazu, in einem gemeinsamen Anlaufmit uns zusammen, über alle Fraktionsgrenzen hinweg,demokratische Wahlen in Belarus zu fordern!
Herr Grund hat das gesagt, was zum stärksten Kandi-daten der Opposition, Herrn Milinkewitsch, zu sagenist. Auch wir unterstützen ihn. Er hat eine mutige Politikgemacht und trotz aller Behinderungen – gestern wurdezum Beispiel sein stellvertretender Wahlkampfleiter ver-haftet – bisher einen guten Wahlkampf gemacht. Wirmöchten, Herr Staatsminister Erler, an dieser Stelle aberauch – das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt – dieDeutsche Botschaft in Minsk einmal ausdrücklich loben.Das, was die Deutsche Botschaft in Minsk seit vielenJahren mit dem Minskforum, übrigens gemeinsam mitder deutsch-belarussischen Gesellschaft, macht, ist vor-bildlich. Das verdient den Respekt dieses Parlaments.
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Michael Link
Viele Kollegen nehmen regelmäßig am Minskforumteil.Mein Kompliment und mein Dank gelten ausdrück-lich unseren Diplomaten, die dort seit vielen Jahren aufdiesem sehr schwierigen Posten ihren Dienst tun undohne die Deutschland heute bei weitem nicht so gut in-formiert dastehen würde.Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Belarus istheute eines der wichtigsten Felder, auf dem die Länderder EU gemeinsam handeln müssen. Wir müssen dabeiauch Polen und Litauen, zwei ganz wichtige Stimmen imeuropäischen Konzert, immer mit an Bord haben.Wenn Sie erlauben, Herr Staatsminister, möchte ichnoch eine Bitte an die Bundesregierung äußern. Belarusist auch ein entscheidendes Thema für die deutsch-russi-schen Beziehungen. Skeptiker sagen, solange diemanchmal offene, manchmal verdeckte UnterstützungRusslands für Lukaschenko unausgesprochen bestehenbleibt, so lange bleibt Belarus auch ein Modell russi-scher Möglichkeiten.
Herr Kollege Link, Sie könnten Ihre Redezeit weiter
verlängern, wenn Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dehm beantworten möchten.
Bitte schön.
Können Sie sich vorstellen, dass Ihr Werben um das
Überschreiten von Fraktionsgrenzen vielleicht wir-
kungsvoller ausfallen könnte, wenn Sie auf solche For-
mulierungen wie „Er stellt sich sozialistisch, ja sogar na-
tionalsozialistisch dar“ verzichten würden?
Ich würde gerne darauf verzichten. Aber leider hat
Lukaschenko vor einiger Zeit selbst gesagt, dass nicht
alles im Nationalsozialismus schlecht gewesen sei. So-
lange dieses Zitat im Raum steht, kann ich leider nichts
anderes sagen.
Mein Schlussappell. Das Verhältnis Belarus zu Russ-
land sollte zu einem wichtigen Thema der EU-Diploma-
tie gemacht werden. Es kann und muss gelingen, Russ-
land im Zuge weitsichtiger Diplomatie davon zu
überzeugen, dass die Fortsetzung des Regimes von
Lukaschenko nicht im wohlverstandenen Interesse Russ-
lands sein kann. Ich denke, dies ist ein wichtiges Feld für
die europäische Diplomatie.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass eine
Flugstunde östlich von uns die Menschen bald die demo-
kratischen Rechte haben werden, die für uns in Europa
schon selbstverständlich geworden sind!
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich bin sehr froh, dass es uns diesmal gelungen ist,einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen einzubringen.Es ist ja im Vorfeld von Wahlen nicht das erste Mal, dasswir einen gemeinsamen Antrag beschließen. Leider ha-ben wir es 2004 nicht geschafft, einen gemeinsamen An-trag zu formulieren; damals gab es zwei. Aber ich erin-nere mich sehr deutlich daran, dass die Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU und ich uns darüber einigwaren, dass es keinen inhaltlichen Widerspruch gab,sondern dass es im Vorfeld der Verabschiedung diesesAntrags sozusagen an der Feinabstimmung gemangelthat. Diesmal haben wir es aber geschafft.Ich glaube, es ist ein gutes Signal, dass in der Bundes-republik ein breites Engagement für Belarus, für dieMenschen, wie Kollege Grund gesagt hat, und für eineDemokratisierung vorhanden ist. An dem Umgang mitden Folgen der Katastrophe von Tschernobyl am26. April vor 20 Jahren lässt sich das sehr gut festma-chen. Seitdem gibt es überall Initiativen, die sich um dieOpfer dieser Katastrophe kümmern, die Unterstützungleisten, Hilfssendungen verschicken und Erholungs-urlaube für Kinder organisieren. Das wurde hier schongeschildert. Das verbindet die Deutschen ganz eng mitdiesem Land und seiner Bevölkerung. Darüber hinausgibt es eine historische Schuld, die wir gegenüber die-sem Volk haben und an die wir immer wieder erinnernmüssen. Das tut zum Beispiel auch die Botschaft inMinsk.Belarus ist uns also nicht nur geografisch und alsNachbar der Europäischen Union so nahe.
Deshalb richten wir eine so große Aufmerksamkeit aufdie politischen Vorgänge in diesem Land. Dies ist keineEinmischung in die inneren Angelegenheiten, sonderneine Aufforderung an die belarussische Administration,also an den Präsidenten und die Regierung, sich an daszu halten, wozu sie sich als Mitglied der OSZE ver-pflichtet haben. Dort haben sie sich zur Einhaltung derMenschenrechte, zu fairen und freien Wahlen, zur Pres-
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Uta Zapfsefreiheit und zu einer demokratischen Entwicklung ver-pflichtet.Wir haben jeden Grund, dies zu unterstützen. Das tunwir auch. Wir haben in Deutschland kurz nach der Sou-veränität Weißrusslands eine Parlamentariergruppegebildet. Das ist eine kleine Gruppe. Ich hoffe, sie erhältein bisschen mehr Zulauf. Ich werde bald die Vorsit-zende sein. Wir haben immer gearbeitet und Aktivitätenunternommen, auch wenn wir während der Zeit des vonLukaschenko handverlesenen Parlaments keinen direk-ten parlamentarischen Austausch hatten.Die OSZE hat eine Arbeitsgruppe zu Belarus einge-richtet. Ich bin die Vorsitzende dieser Arbeitsgruppe.Deshalb bin ich häufig in Belarus und rede mit den Men-schen, und zwar mit allen, auch mit Parlamentariern undVertretern der Administration. Ich halte dies für wichtig.Auch der Europarat und die EU beschäftigen sich mitBelarus.Sie finden in allen unseren Anträgen, die wir gemein-sam verabschiedet haben, einen Satz, den wir jetzt wie-der aufgenommen haben und der lautet:Die Durchführung freier und fairer Wahlen ist eineVoraussetzung dafür, dass Belarus den Weg zur De-mokratisierung einschlägt. Nur ein Land, das sichdemokratischen Grundsätzen verschreibt, hat sei-nen Platz in der europäischen Familie, kann die An-gebote zur Annäherung an die europäischen Struk-turen nutzen und wirtschaftliche, soziale undpolitische Vorteile daraus ziehen.Dies ist gewissermaßen das Versprechen, dass esdann, wenn freie und faire Wahlen stattfinden und damiteine Rückkehr zur Demokratie erfolgt, Benefits bzw. po-sitive Effekte für die belarussische Bevölkerung gebenwird. Man muss immer wieder betonen: Es geht unsnicht darum, den so genannten letzten Diktator Europaszu beschimpfen und sein Regime aus dem Amt zu jagen.
– Ich bin gar nicht dafür, ihn aus dem Amt zu jagen. Dasmüssen die Belarussen schon selber tun.
Uns geht es vielmehr um Demokratie, Menschen-rechte und freie Wahlen. Deshalb wollen wir uns für diezivile Gesellschaft in Belarus einsetzen. Im Zusam-menhang mit den Wahlen in 2004 hat die OSZE-Wahl-beobachtermission festgestellt, dass es eine ganz leben-dige, tüchtige, wunderbare zivile Gesellschaft gibt, diesich für eine Demokratisierung in Belarus einsetzt. Wirhaben dann erleben müssen, dass es nach diesen Wahleneine verstärkte Repression gerade gegenüber diesenGruppen gegeben hat.Ein wichtiger Bestandteil unserer Politik sollte essein, diese Zivilgesellschaft zu schützen und zu unter-stützen. Diese Zivilgesellschaft ist keine subversive Re-volution, wie Herr Lukaschenko befürchtet und in ziem-lich groben Worten an die Wand malt. Diese Menschenklagen vielmehr ihre Rechte ein, zu denen sich Belarusgegenüber der OSZE verpflichtet hat, und wir unterstüt-zen sie darin.
Deshalb kritisieren wir, dass im Moment die Wahl-kämpfe der anderen Kandidaten – Gott sei Dank gibt esimmerhin vier Kandidaten, zwei davon sehr demokra-tisch ausgerichtet – ständig gestört werden. Heute kamdie Tickermeldung, dass Viacorka, den viele von unspersönlich kennen und der der stellvertretende Wahl-kampfleiter von Milinkewitsch ist, zu 15 Tagen Haft ver-urteilt worden ist, weil er eine nicht genehmigte Wahl-kampfveranstaltung abgehalten hat.
Dies ist reine Willkür.
Das müssen wir laut sagen und kritisieren.Wir müssen ebenso kritisieren, dass die Zeitungenseit Jahren zunehmend unter Druck stehen. „NarodnajaWolja“ zum Beispiel hat, mit Fotos illustriert, gedruckt,dass der Kandidat Kozulin und ein Journalist zusammen-geschlagen worden sind und nun wegen Hooliganism,also wegen groben Benehmens, angeklagt werden sol-len. Diese Auflage ist völlig kassiert und ihr Nachdruckverhindert worden, einmal abgesehen davon, dass diefreie Presse sowieso an dem Erscheinen ihrer Druck-erzeugnisse gehindert wird.Ich glaube, wir sollten auch bei dieser Gelegenheitimmer wieder an die politischen Gefangenen erinnern– wir sind es ihnen schuldig –, an die Verschwundenen,aber auch an die, die jetzt wegen zum Teil ganz gering-fügiger Vergehen im Gefängnis sitzen. Ich denke hierbeian den Sozialdemokraten Statkevich: Er sitzt im Gefäng-nis, weil er nach den letzten Wahlen aus Protest gegendie Manipulationen an einer Demonstration teilgenom-men hat. Er ist zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wor-den; die Haft ist jetzt auf zweieinhalb Jahre verkürztworden.Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen!Bei uns würde man vielleicht eine kleine Geldstrafe be-kommen, wenn man polizeiliche Auflagen nicht einhält.Allerdings würde bei uns erst gar nicht verboten werden,dass die Menschen gegen etwas protestieren. Das ist ihrgutes Recht. Die Hintertürchen, die da immer aufgetanwerden, alle möglichen Gründe, die vorgeschoben wer-den, um irgendwelche demokratischen Aktionen zu ver-hindern, sind zum Teil schon hanebüchen.Dabei brauchte Herr Lukaschenko – Herr Grund hatdas gesagt – nicht so viel Angst zu haben, dass er seineMacht verliert. Alle Umfragen aus seriösen Quellen be-sagen zwar, dass die Opposition Zustimmung bekommtund einen gewissen Bekanntheitsgrad hat. Wenn es aberum die Frage geht, wen man wählen würde, dann tun dieMenschen genau das, was Herr Grund gesagt hat. Sie
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1698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
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Uta Zapfdenken sich: „Sicher ist sicher! Es geht uns im Verhältniszu anderen noch einigermaßen gut.“ Deshalb würdensich viele wieder für Lukaschenko entscheiden, sichernicht 75 Prozent – das war das letzte manipulierte Er-gebnis –, aber wahrscheinlich doch 50 Prozent. Ich habegerade ein Interview mit jemandem, der solche Umfra-gen macht, gelesen. Er sagte, dass Lukaschenko mit ei-nem Sieg im ersten Wahlgang rechnen könne.
Frau Zapf, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Ich würde aber gern, wenn
Sie erlauben, ein recht hysterisches Zitat von Herrn
Lukaschenko wiedergeben. Er hat nämlich gesagt, er
würde jeden Versuch, eine Revolution anzuzetteln, un-
terbinden, indem er all denen, die das versuchen, den
Hals umdrehe und sie zu Boden walze. Ich denke, das ist
Gewaltandrohung, nicht das, was die wahlkämpfenden
oppositionellen Kandidaten verkünden. Sie haben unsere
Unterstützung.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat Monika Knoche, Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Abgeordneter
Link, Sie hätten Ihre wertvolle Zeit nicht darauf verwen-
den müssen, Zitate aus Zeitungen zu suchen, um die Po-
sition der Linken zu erfahren. Sie hätten uns schlichtweg
zu den Gesprächen über einen gemeinsamen Antrag ein-
laden können.
Wir hätten Ihnen dort sehr gern die Position dargelegt.
Es besteht, meine sehr geehrten Herren und Damen,
kein Zweifel: Lukaschenko ist kein Demokrat; er ist ein
Autokrat. Es herrscht ein staatliches Diktat.
Frau Kollegin Knoche, es gibt eine Zwischenfrage
von Frau Zapf. Möchten Sie sie zulassen?
Wenn Sie gestatten, würde ich einfach weiterspre-
chen; vielleicht erübrigt sich dann Ihre Frage.
Bitte schön.
In Belarus ist kein Weg zu einer Demokratie zu erken-nen. Im Gegenteil: Meinungsfreiheit und politische Betä-tigung, die nicht regierungskonform ist, werden starkenRepressionen ausgesetzt. Das gilt auch für kommunisti-sche Kräfte in diesem Land. Es gibt also keinen Grund,diese diktatorischen Strukturen zu verteidigen.
Wer in Belarus Reformkräfte sucht, die das Land impostsowjetischen Prozess in ein demokratisches, nichtkapitalistisches System überführen wollen, wird kaumoffizielle Repräsentanten und Repräsentantinnen finden.Das ist zum Beispiel für aufgeklärte Linke eine traurigeTatsache. Dennoch: Lukaschenko hat sich zur Einhal-tung der OSZE-Standards verpflichtet. Daran ist derWahlverlauf zu messen. Es ist abzusehen: Das Wahl-ergebnis wird, obgleich eine Opposition antritt, zuguns-ten des Amtsinhabers ausfallen. Nun kann man darüberreden – wir hätten das gern mit den Antragstellendengetan –, wie der innergesellschaftliche Prozess in Weiß-russland hin zu einem demokratischen Gebilde gefördertwerden kann. Aber auf die spezifischen Kenntnisse derLinksfraktion haben Sie keinen Wert gelegt.
Wichtig ist, dass die Menschen in Weißrussland poli-tisch wach sind und beobachten, was aus den Transfor-mationsprozessen der ehemaligen Sowjetstaaten gewor-den ist. Das ist große Armut für viele und großerReichtum für wenige. In Ex-Jugoslawien herrscht heuteteilweise eine Mafiastruktur. Von Rechtsstaat kann vie-lerorts keine Rede sein.Natürlich beobachten die Menschen und wägen ab,welches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem sie bekä-men, würde der politische Begriff Demokratie realitermit Lissaboner Wirtschaftsordnung gleichgesetzt wer-den. Für welchen anderen Reformweg sich die Bevölke-rung entscheiden würde, wissen wir nicht, weil sie dazukeine Chance erhält.Wir sagen zu Ihrem interfraktionellen Antrag:Wenn Sie unser Petitum aufnehmen könnten, dass erstensausgeschlossen werden muss, dass die zutreffende Kritikan den Verhältnissen missbräuchlich verwendet wird, umstaatliche Souveränität aufzuweichen, dass zweitens dieUnterstützung der reformwilligen Kräfte zweckfrei er-folgt und keinesfalls – wie sie existieren – antisemitische,rassistische Kräfte in der Opposition unterstützt werden
und dass drittens demokratische Verhältnisse in Weiß-russland immer auch bedeuten, dass die dortige Bevöl-kerung ihren Weg als Europäerinnen und Europäer – dasbetone ich – selbst bestimmen kann, dann hätten Sie un-sere Unterstützung.
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Monika KnocheIch vermute allerdings, dass viel Sympathie für dasbesteht, was der Oppositionsführer Lebedko politischausführte, als er kürzlich in der „taz“ sagte, dass „für dieOrange Revolution Europa eine Strategie fehle. Heute istpolitischer Wille spürbar, eine Strategie und einen kon-kreten Aktionsplan zu erarbeiten.“ Ich sage: Die OrangeRevolution hat weder mehr Freiheit und Demokratienoch wirtschaftlichen Benefit für die breite Bevölkerunggebracht.Da meine Redezeit leider sehr begrenzt ist, möchteich mir zum Schluss nur noch einen Satz erlauben: Zumideologisch motivierten Support darf europäische Men-schenrechtspolitik nicht werden. Da wir genau das in derIntention Ihres Antrages nicht gewährleistet sehen, wer-den wir uns heute der Stimme enthalten.
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Uta
Zapf das Wort.
Ich möchte mich ganz energisch gegen zwei Unter-
stellungen verwahren, die die Kollegin Knoche in ihrer
Rede vorgetragen hat. Das eine ist die Unterstellung, wir
hätten kein Angebot an die Linke gemacht, diesen An-
trag mitzutragen. Er ist an alle Parteien gegangen und
die anderen Parteien, die ursprünglich nicht an der For-
mulierung beteiligt waren, nämlich FDP und Grüne, ha-
ben Rückmeldungen gegeben und mit uns über Inhalte
diskutiert. Anschließend haben wir eine gemeinsame
Formulierung gefunden. Von der Linkspartei ist in kei-
ner Weise, weder durch Anruf noch durch Mail, eine Re-
aktion erfolgt.
Deshalb weise ich Ihre Unterstellung, wir hätten Sie
nicht mit einbeziehen wollen, zurück und halte Ihre Be-
hauptung, Sie hätten gern mit uns über dieses und jenes
diskutiert, für reine Augenwischerei.
Darüber hinaus – das ist der zweite Punkt – haben Sie
durch Ihre Formulierungen unterstellt, dass wir die Op-
position unterstützen, um subversive und revolutionäre
Tendenzen zu schüren und damit dem zu dienen, was ich
in meiner Rede sogar ausdrücklich abgelehnt habe, näm-
lich Lukaschenko aus dem Amt zu fegen. Ich denke, die
demokratische Unterstützung einer Opposition ist legi-
tim. Das haben wir auch schon in der Vergangenheit ge-
macht. Dass Spanien und Portugal zum Beispiel den
Wechsel von der faschistischen Periode hin zu einer de-
mokratischen Regierung geschafft haben, war nicht zu-
letzt der demokratischen Unterstützung vieler Länder zu
verdanken.
Über die Frage, wie wir die Revolutionen, die jetzt
mithilfe verschiedener Farben gekennzeichnet werden,
einschätzen, sollten wir gesondert diskutieren. Meines
Erachtens war der Prozess in der Ukraine ein großer Sieg
einer demokratisch orientierten Bevölkerung, die sich
Wahlbetrug und Wahlmanipulation nicht mehr gefallen
lassen wollte.
Ich erteile das Wort zu einer weiteren Kurzinterven-
tion dem Kollegen Michael Link.
Frau Präsidentin, danke schön. – Ich will mich ganz
ausdrücklich den Worten von Frau Zapf anschließen.
Wir haben natürlich zunächst gemeinsam darüber ge-
sprochen – übrigens hatten Grüne und FDP zuerst einen
eigenen Antrag, dann haben CDU/CSU und SPD einen
entworfen –, wir haben verhandelt und wir haben uns
dann ganz bewusst dem Entwurf der Koalition ange-
schlossen, weil es hier nicht um Klein-Klein geht, son-
dern um die Sache.
Das muss einmal deutlich ausgesprochen werden. Leider
haben Sie heute die Chance verpasst, sich dem anzu-
schließen. Hierbei geht es nicht um links oder rechts,
hierbei geht es um demokratisch oder nicht demokra-
tisch.
Ich stelle fest, dass sich die PDS dem nicht anschließt.
Sie haben leider keine Stellung zu dem Zitat auf Ihrer
Homepage genommen:
Offensichtlich geht es … der EU darum, einen ei-
genständigen Weg von Belarus nicht zuzulassen
und dem Land die eigenen kapitaldominierten
Werte aufzuzwingen.
Welches Weltbild steht dahinter? Ein demokratisches?
Ich habe meine Zweifel daran.
Herr Kollege Link, ich möchte Sie, weil Sie die Frak-tion angesprochen haben, bitten, den korrekten Namender Fraktion zu verwenden, nämlich Die Linke und nichtPDS.
Frau Knoche, Sie wollen antworten.
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Also, diese Fraktion heißt Die Linke im Deutschen
Bundestag.
Sicherlich sind viele Vertreterinnen aus den neuen Bun-
desländern mit einer PDS-Geschichte hier. Aber es gibt,
wie Sie wissen, auch viele Linke aus ganz anderen So-
zialisationen, die sich zu dieser neuen Formation zusam-
mengefunden haben. Daher ist es ganz gut, von der Lin-
ken zu sprechen. Die Linke hat in der Tat, wie ich hier
vorgetragen habe, eine sehr differenzierte Position zu
Weißrussland
und die ist unmissverständlich zum Ausdruck gekom-
men. Deshalb wird es Ihnen auch im Nachgang nicht ge-
lingen, uns in der Frage zu Belarus ein zweifelhaftes De-
mokratieverständnis anzudichten.
Aber ich muss Ihnen sagen – Sie haben ja eine ge-
wichtige Gegenbemerkung gemacht –: In der Runde der
Parlamentarischen Geschäftsführer war eindeutig klar,
dass der Linksfraktion kein Antrag zugegangen war.
Darüber hinaus möchte ich Sie über folgende demokrati-
sche Gepflogenheiten in diesem Hause erinnern – ich bin
in meiner Vorzeit bei der Grünenfraktion eine Initiatorin
von vielen Gruppenanträgen, die fraktionsübergreifend
getragen wurden, gewesen –: Es ist gute Übung in die-
sem Hause, sich an die Abgeordneten zu wenden und,
bevor ein Antrag eine textliche Fassung hat, die Positio-
nen zu kennen bzw. sie zu eruieren und zu einem ge-
meinsamen Text zu kommen
und nicht nach dem Motto „Friss, Vogel, oder stirb!“ ei-
nen Antrag vorzulegen, zu dem dann gesagt wird:
Schließt euch an oder ihr seid draußen. Für diese billige
Feindbildprojektion möchten wir als Linke im Bundes-
tag nicht zur Verfügung stehen. Das sei hiermit eindeutig
gesagt.
Ich erteile das Wort der Kollegin Marieluise Beck,Bündnis 90/Die Grünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Erstens: Ich glaube, eigentlich haben die de-mokratischen Kräfte in diesem Haus keine Veranlas-sung, sich von demokratischen Revolutionen zu distan-zieren. Ich finde demokratische Revolutionenausnahmslos gut.
Zweitens möchte ich sagen: Wenn das, was aus denStiftungen, aus der OSZE und aus demokratischen Insti-tutionen an Unterstützung für die Opposition in Belaruskommt, hier als ideologisch motivierter Support be-zeichnet wird, dann, so glaube ich, ist doch sehr offen-sichtlich, dass die Kolleginnen und Kollegen von derLinksformation offensichtlich nicht zustimmen wollen.
Wenden wir uns wieder den demokratischen Kräftenin diesem Haus zu.
Es ist gut, dass wir uns in vielen Punkten einig sind.
Manche Erwartungen, die in dem vorliegenden Antragformuliert worden sind, wurden leider schon durch dieWirklichkeit widerlegt. Manches ist hier angesprochenworden. Wir haben formuliert, dass wir erwarten, dassdie Wahlkämpfe nicht behindert werden. Doch jetzt wis-sen wir, dass sie massiv behindert werden, dass die freiePresse in Belarus nicht nur nicht mehr verteilt, sondernauch gar nicht mehr gedruckt werden darf. Wir wissen,dass der Aufforderung, die Oppositionskandidaten unan-getastet zu lassen, nicht nachgekommen worden ist. DerOppositionskandidat Alexander Kozulin ist auf einerdieser ominösen Volksversammlungen zusammenge-schlagen worden.Es ist gut, wenn wir jetzt, im Vorfeld der Wahlen,nach Belarus schauen. Auch die Wahlbeobachtung istwichtig. Ich glaube aber, dass mindestens genauso wich-tig ist, was nach der Wahl passiert; denn die Opposi-tionsmitglieder haben zu Recht Angst, dass sichLukaschenko nach einem vermutlichen Wahlsieg nochsicherer fühlen wird, es weitere Verhaftungen und nochmehr Repressionen gegenüber allen zivilgesellschaftli-chen und demokratischen Bewegungen geben wird.Ich möchte die mutigen Vertreter der demokrati-schen Bewegung nennen. Stellvertretend für viele nenneich die politischen Gefangenen Valeri Levanowski,Sergej Skrebets, Nikola Statkevich – er ist schon genanntworden –, Michail Marinich und Pavel Severinets. Esgibt viele andere, die wir hier nicht nennen. Wir müssenin der Zeit nach den Wahlen, wenn sich Lukaschenkovielleicht sicher fühlt, ein Auge auf sie haben.
Viele mutige Menschen in der RADA, in der Kinder-und Jugendbewegung, von ZUBR, der demokratischenStudenten- und Jugendbewegung, der zivilen Initiative„Charta 97“ und des Helsinkikomitees sind darauf an-gewiesen, dass wir nach den Wahlen nach Belarusschauen.Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Was tutdem Regime Lukaschenko nach den Wahlen weh? Wir
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Marieluise Beck
sind uns hier im Hause einig, dass zum Beispiel dasNGO-Gesetz – genau wie in Russland wirkt es hier ver-heerend – weiterhin auf der Tagesordnung bleiben muss.Die Stiftungen müssen weiterhin tätig sein und diesemutigen Pflänzchen unterstützen.Es gibt – darüber wird zu sprechen sein – einen reich-haltigen Instrumentenkasten – von der ILO bis zur EU –,der angewandt werden muss, wenn die Verpflichtungen,denen sich Belarus selbst unterstellt hat – von gewerk-schaftlichen Rechten bis hin zu demokratischen Freihei-ten –, nachweisbar nicht eingehalten werden.Deutschland ist als starker Handelspartner in der Ver-pflichtung. Es gibt schon jetzt Visabeschränkungen. Estut weh, wenn Funktionäre nicht ins demokratische Aus-land reisen dürfen. Wir werden über all das zu sprechenhaben.Es wird auch – in diesem Punkt schließe ich mich Ih-nen, Herr Kollege Link, an – eine Frage an den, wie erjetzt heißt, strategischen Partner Russland zu stellen sein,nämlich wie lange Russland das System Lukaschenko,wenn auch mit geteilten Gefühlen, unterstützen wird.Diese Frage müssen wir Russland stellen, einem Land,das den Vorsitz in der G 8 inne hat und am 9. Mai denVorsitz im Europarat übernehmen wird. Das ist eine Ver-pflichtung, an die wir Russland erinnern sollten.
Ganz kurz möchte ich noch einen Punkt ansprechen,an dem es in diesem Haus vielleicht keine Einigkeit gibt.Demokratie braucht Freiheit und Diktatoren fürchtenFreiheit. Nichts ist besser, als wenn möglichst vielejunge Menschen, junge Akademiker, junge Wissen-schaftler, Schüler und Studenten, sehen, was Freiheit imAlltag bedeutet. So wie die Amerikaner im Nachkriegs-deutschland mit den Projekten „American Field Service“und „Youth for Understanding“ ein demokratisches Be-wusstsein stiften wollten – womit sie erfolgreichwaren –, müssen wir Möglichkeiten für den Kontaktmit Demokratien eröffnen. Das heißt, keine kleinmü-tige Abschottung durch eine restriktive Visapolitik, son-dern Möglichkeiten schaffen, um zu reisen oder in einemanderen Land zu studieren.
Ich schlage mich in meinem Wahlkreis gerade mit ver-sagten Visen für Studenten herum. Wir müssen Kontaktezwischen Wissenschaftlern ermöglichen, Stipendien an-bieten und Aupairmöglichkeiten bieten. Auch die Kos-ten in Höhe von 60 Euro für ein Visum, die mit demSchengenvisum entstehen, stellen faktisch eine Kontakt-sperre für ganz viele Menschen aus einem Land wieBelarus, wo 60 Euro unendlich viel Geld sind, dar.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich kenne diese Situation aus meinem vorherigen
Amt. Ich meine, dass wir Außenpolitiker unseren Kolle-
gen Innenpolitikern sagen sollten, dass neben dem be-
rechtigten Wunsch nach Sicherheit und Schutz vor unbe-
rechtigter Einreise auch die Notwendigkeit der Politik
der Öffnung besteht, um Demokratiebewegungen zu
stärken.
Wenn wir uns hierin vielleicht doch einig sind, dann
unterstützen wir Belarus weiterhin in diesem Sinne. Ich
denke, wir schaffen das auch ohne die Linke.
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor wenigen Tagen urteilte der ledige Präsident vonBelarus, Alexander Lukaschenko, über sich selbst wiefolgt: „Eine Frau, die mit mir hätte leben müssen, wärezu bemitleiden gewesen.“ Ich will diese Selbsteinschät-zung ergänzen und sagen: Das belarussische Volk, dasmit diesem Präsidenten leben muss, ist zu bemitleiden.
Es gibt in Europa wirklich keinen anderen Präsiden-ten, der sein eigenes Volk dermaßen knechtet, seineWürde verletzt und die Menschenrechte so mit Füßentritt wie Präsident Lukaschenko. Es ist gut, dass wir diein Belarus bevorstehende Präsidentschaftswahl heutezum Anlass nehmen, um auf die politische Lage und aufdie massiven Menschenrechtsverletzungen in dieserDiktatur hinzuweisen.Durch einige konkrete Beispiele, die manchmal plas-tischer als pauschale Urteile sind, möchte ich ein Schlag-licht auf die Unterdrückungsmechanismen und auf dieVerletzung der Menschenrechte in Belarus werfen: MitJuri Sacharenko, Viktor Gontschar, Anatoli Krassowskiund Dimitri Sawadski verschwanden vier Oppositionellevöllig spurlos; ihr Verbleiben ist bis heute absolut unge-klärt. Professor Juri Bandaschewski wurde im Juni 2001zu acht Jahren Gefängnis verurteilt; seine Verurteilungsteht offenbar allein im Zusammenhang mit kritischenÄußerungen zur Regierungspolitik. Im Mai letzten Jah-res wurden die Oppositionspolitiker Nikola Statkevichund Pavel Severinets zu zwei Jahren Arbeitslager verur-teilt – wegen der Demonstrationen nach den gefälschtenletzten Parlamentswahlen. Und erst im November letz-ten Jahres wurde die Studentin Tatiana Khoma wegen ei-ner so harmlosen Sache wie der Teilnahme an einem
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1702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
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Erika SteinbachStudentenkongress in Frankreich von der staatlichenUniversität verwiesen.Der heute vorliegende interfraktionelle Antrag hebtzu Recht positiv hervor, dass Beobachter der Präsident-schaftswahlen zugelassen sind. Sie dürfen aber nicht,wie es bei der letzten Parlamentswahl der Fall war, letzt-lich nur Feigenblätter für Wahlfälschungen und für dieUnterdrückung der Opposition sein.Schon heute, zehn Tage vor der Wahl am 19. März,lassen die Berichte, die uns aus Belarus erreichen, nurUngutes erahnen: Schülern und Studenten, die im Fe-bruar öffentliche Bekenntnisse gegen Lukaschenko undfür die Freiheit in diesem Lande abgelegt haben, drohender Verweis von den Universitäten und Verurteilungen.Unabhängigen Umfrageinstituten wird der Prozess we-gen angeblicher Wahlmanipulationen und wegen Staats-verschwörung gemacht. Ausländischen Journalistenwurde in der vergangenen Woche zum Teil die Einreiseverweigert; ein Journalist wurde sogar deportiert. Amletzten Donnerstag wurde der PräsidentschaftskandidatAlexander Kozulin von zivil gekleideter Miliz massivverprügelt und für acht Stunden in Haft genommen.Vorgestern – darauf ist schon hingewiesen worden –wurde der Vorsitzende der oppositionellen VereinigtenBürgerpartei im Anschluss an eine Wahlkampfveranstal-tung festgenommen und direkt zu 700 Dollar Strafeverurteilt – 700 Dollar sind in diesem Lande ein unbe-zahlbares Vermögen –, und das allein wegen der Durch-führung einer angeblich nicht zulässigen Veranstaltung.Erst gestern Nachmittag hat die Miliz den Vorsitzendender oppositionellen Belarussischen Volksfront, VincukViacorka, festgenommen. Vor wenigen Stunden ist er zu15 Tagen Haft verurteilt worden – wegen des Abhaltensunerlaubter Wahlkampfveranstaltungen. Liebe Freunde,mit Demokratie und Menschenrechten ist all das völligunvereinbar.
Wir in diesem Hause tun gut daran, die demokrati-schen Kräfte in Belarus zu unterstützen. Wir erwartenvon der dortigen Regierung, dafür zu sorgen, dass dieKandidaten, ihre Parteien und ihre Unterstützer bei ihrenWahlkämpfen und die Journalisten bei ihrer Bericht-erstattung in keiner Weise behindert werden. Wir erwar-ten nichts anderes als freie und gerechte Wahlen und ei-nen fairen Umgang mit den Wahlverlierern, wer auchimmer das sein mag.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/816 mit dem Titel „Bela-
rus vor den Präsidentschaftswahlen 2006“. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Antrag ist angenommen mit Zustimmung des gan-
zen Hauses bei Enthaltung der PDS.
– Der Linksfraktion, Entschuldigung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Dyckmans, Birgit Homburger,
Hartfrid Wolff , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
GmbH-Gründungen beschleunigen und ent-
bürokratisieren
– Drucksache 16/671 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Es ist verabredet, darüber eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdieser Diskussion über einen unserer Nachbarn im nahenAusland kommen wir wieder zurück nach Deutschlandund wenden uns den Problemen in unserem Land zu.Wir Liberalen reden nicht nur von Entbürokratisie-rung, sondern wir tun auch etwas dafür.
Anders als die Bundesregierung, die sich zwar auch denAbbau von Bürokratie auf die Fahne geschrieben hat,aber weder das angekündigte Programm zur Bürokratie-kostenmessung vorlegt, noch den Normenkontrollrateingesetzt hat, geht die FDP mit dem Ihnen heute vorlie-genden Antrag den eingeschlagenen Weg konsequentweiter, sich für Entbürokratisierung einzusetzen. Wie be-reits in der letzten Legislaturperiode zeigt unsere Frak-tion in fast jeder Sitzungswoche exemplarisch auf, wounnötige Bürokratie konkret abgebaut werden kann. DerAntrag, der Ihnen heute vorliegt, ist in dieser Wahl-periode bereits der sechste Antrag, den die FDP-Bundes-tagsfraktion zum Thema Bürokratieabbau vorgelegt hat,und ich darf Ihnen ankündigen und versichern, dass wirweiterhin Wege zur Entbürokratisierung aufzeigen wer-den.
Ich komme zu dem Antrag. Auch der FDP ist natür-lich nicht entgangen, dass die Regierungskoalition dasGmbH-Recht ändern will; das hat die Bundesjustiz-ministerin wiederholt angekündigt.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1703
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Mechthild DyckmansAber Ankündigungen allein reichen nicht.
Zum jetzigen Zeitpunkt liegen noch nicht einmal offi-zielle Eckpunkte vor.
Der Bürger muss sich bisher auf die wenigen, sehr gro-ben Zielvorgaben im Koalitionsvertrag verlassen.
Mit unserem heutigen Antrag sprechen wir von derFDP einen wichtigen Aspekt der Entbürokratisierung anund zeigen gleichzeitig, in welche Richtung eine Reformdes GmbH-Rechts gehen muss.
Wenn die GmbH mit ihrer über 100-jährigen Traditionim Wettbewerb der Rechtsformen bestehen und der eu-ropäischen Privatgesellschaft als Vorbild dienen soll,dann muss vor allem die Schwerfälligkeit des Grün-dungsvorgangs behoben werden: Die Gründung einerGmbH in Deutschland ist zu langwierig und zu kostspie-lig.
Während andere europäische Staaten die Möglichkeit ei-ner Blitz-GmbH – so Spanien –, einer Online-GmbH– Dänemark – oder ganz einfach allgemein die rascheund einfache Gründung von Gesellschaften propagieren,wie England mit der Limited, vergehen in Deutschlandvon der Beurkundung des Gesellschaftsvertrages bis zurEintragung in das Handelsregister mehrere Wochen.Hier setzt unser Antrag an.Mit der Streichung von § 8 Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Ge-setz kann der Gründungsvorgang vereinfacht und be-schleunigt werden, ohne dass wirklich notwendige undeffektive Kontrollmöglichkeiten des Staates beeinträch-tigt werden. In § 8 Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Gesetz wird fürdie Eintragung einer GmbH die Vorlage sämtlicher be-hördlicher Genehmigungsurkunden verlangt, wenn derUnternehmensgegenstand der GmbH nach anderenRechtsvorschriften einer solchen staatlichen Genehmi-gung bedarf. Hierdurch wird die Eintragung erheblichverzögert, da zunächst die Frage der Genehmigungsbe-dürftigkeit oder Genehmigungsfähigkeit beantwortetwerden muss.Einziger Sinn dieser Regelung ist, zu verhindern, dasseine juristische Person entsteht, der im Zeitpunkt derEintragung die wegen ihres Unternehmensgegenstandsnotwendige staatliche Genehmigung fehlt. Alle staatli-chen Behörden sind jedoch auch außerhalb dieses Para-grafen dazu verpflichtet, eine Tätigkeit, die ohne eineerforderliche Genehmigung betrieben wird, zu unterbin-den. Wird zum Beispiel eine zuvor erteilte Genehmigungnach der Eintragung in das Handelsregister widerrufen,dann hat dies weder auf die Eintragung noch auf den ein-getragenen Unternehmensgegenstand Einfluss.
Eine Löschung von Amts wegen ist grundsätzlich nichtgerechtfertigt und selbst eine zu Unrecht erfolgte Eintra-gung in das Handelsregister bleibt zunächst bestehen.
Die notwendige Genehmigung wird nachgefordert undim üblichen Genehmigungsverfahren notfalls mitZwangsgeldern erzwungen.Es gibt somit keinen Grund, an der Regelung des § 8Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Gesetz festzuhalten. Auch nach derStreichung dieser Vorschrift bleiben die Verantwortli-chen der GmbH ebenso wie die Fachbehörden verpflich-tet, alle notwendigen Genehmigungen einzuholen bzw.auf deren Einholung zu achten.Für den Existenzgründer ist jedoch wichtig, dass erseine wirtschaftliche Betätigung umgehend und unbüro-kratisch aufnehmen kann.
Hierfür ist es erforderlich, dass er die Vorteile, die ihmdie Rechtsform der GmbH bietet, möglichst schnell nut-zen kann, das heißt, dass die GmbH schnell entsteht.
Frau Dyckmans, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Abschließend möchte ich
noch klarstellen, dass wir mit diesem Antrag natürlich
nur einen Teilaspekt der GmbH-Reform aufzeigen. Das
geltende Recht ist an vielen Stellen reformbedürftig.
Wenn uns der Herr Staatssekretär sagen kann, wann
das Justizministerium einen entsprechenden Gesetzent-
wurf vorlegt, dann werden wir zu gegebener Zeit sicher-
lich noch darüber zu diskutieren haben.
Ich danke Ihnen.
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Gehb,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! So, wiesich die Marke VW Golf in der Automobilbranche mil-lionenfach als Erfolgsmodell für die gute Mittelklasseetabliert hat, so ist die GmbH seit ihrer Geburtsstunde imJahre 1892 zu dem bevorzugten Modell für unsere mit-telständischen Unternehmen geworden. In unseremLand gibt es über 1 Million Gesellschaften mit be-schränkter Haftung. Wie schön also, dass die GmbH rolltund rollt und rollt.
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1704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
(C)
(D)
Dr. Jürgen GehbDoch Vorsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, eswäre völlig verkehrt, sich selbstzufrieden auf den ver-meintlichen Lorbeeren auszuruhen.
Denn, Herr Benneter, Erfolgsmodelle bleiben nur dannerfolgreich, wenn sie den veränderten Wünschen undBedürfnissen von Zeit zu Zeit angepasst werden. Dabeistehen nicht nur die Wünsche der Kunden im Vorder-grund. Selbstverständlich spielen auch der Markt insge-samt und damit auch die Konkurrenten und deren attrak-tive oder auch nicht attraktive Angebote eine Rolle.Nun hat sich der Markt – um präzise zu sein: der eu-ropäische Markt – auch im Gesellschaftsrecht erheblichverändert. Lange lebten wir in Deutschland quasi abge-schottet in einer Art Paradies. Neben der GmbH alsGolf-Klasse gab es auch die gut etablierte Aktiengesell-schaft, wenn man so will: die S-Klasse von Mercedes.Attraktive Kleinwagen waren dagegen nicht im Angebotund entsprechenden Modellen aus dem Ausland war derZutritt auf den deutschen Markt nicht gestattet.Diese Zeiten gehören inzwischen der Vergangenheitan. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes– zuletzt die Inspire-Art-Entscheidung aus demJahre 2003 – hat dazu geführt, dass europäische Gesell-schaften hierzulande unter fremder Flagge operierendürfen. So stehen Firmengründern aus Deutschland allein der EU angebotenen Gesellschaftsformen zur Verfü-gung. Auf diese ausländischen Gesellschaftsformenwird in Deutschland rege zugegriffen. Wir als Gesetzge-ber müssen wissen, dass wir damit spätestens seit 2003innerhalb Europas in einem echten Wettbewerb stehen.Auch beim Verbraucher dürften die für ihn neuen KürzelLtd., S.L., Inc., IBC oder Corp. der Firmen für mancher-lei Verwirrung sorgen.Am bekanntesten und attraktivsten scheint dabei fürdeutsche Existenzgründer die britische Limited zu sein.Mittlerweile erfolgt fast jede fünfte Neugründung einerKapitalgesellschaft in unserem Land in der Form derLimited. Oder in absoluten Zahlen ausgedrückt: Mehrals 30 000 Limiteds haben sich in unserem Land inzwi-schen etabliert. Offensichtlich stellt aus der Sicht vielerExistenzgründer der mit einer GmbH-Gründung verbun-dene Zeit- und Kapitalaufwand eine Hürde dar,
die sie dazu veranlasst, nach anderen rechtlichen Ein-kleidungen ihrer Unternehmungen zu suchen. Allerdingszweifle nicht nur ich sehr daran, dass jeder auch wirklichweiß, auf was er sich einlässt, wenn er sein Geschäft inder Form der Limited gründet.
Dennoch müssen wir uns als Gesetzgeber fragen las-sen: Warum werden deutsche Rechtsformen mehr undmehr verschmäht? Warum gibt es bisher kein entspre-chendes Angebot in der Modellpalette unseres deutschenGesellschaftsrechts? Wollen wir ein Angebot offerierenund, wenn ja, in welcher Form? Die vorgeschlagene Än-derung – Frau Dyckmans, Sie haben es gesagt – war nurein Teilschritt. Damit allein kann man das Problem nichtlösen. Das ist ein sektoraler Begriff und würde zu kurzgreifen, wie Sie selbst eingeräumt haben.
Schnelligkeit und Unkompliziertheit sind das eine.Wir müssen uns neben vielen anderen Fragen auch dieFrage stellen, ob wir auf ein Mindestkapital bei der be-stehenden GmbH oder einer anderen, neuen Rechtsformverzichten wollen, und, wenn ja, wie dies durch andereInstrumente des Gläubigerschutzes aufgefangen werdenmuss.Nun ist mir der Hinweis sehr wichtig, dass wir nichtnur die Wünsche und Interessen einer bestimmtenGruppe von Existenzgründern im Auge haben dürfen– so berechtigt das ist –, sondern auch einer Antwort desGesetzgebers bedürfen. Es gibt auch ein paar Missständeund offene Punkte im bestehenden GmbH-Recht, dieebenso entschlossen und gründlich anzugehen sind. Las-sen Sie mich in diesem Kontext nur die Geschäftsführer-haftung und die so genannten Bestattungsfälle – komi-scher Ausdruck, aber so heißt das nun einmal –erwähnen, ohne dass ich jetzt darauf näher eingehenwill.Der Reformbedarf jedenfalls ist eindeutig vorhandenund in diesem Haus offenbar auch unstreitig. Nach mei-ner Überzeugung – diese Überzeugung wird von meinerFraktion geteilt – ist die Reform des GmbH-Rechts einesder wichtigsten Projekte in der Rechtspolitik. Manchmalhat man hier den Eindruck, die Reformen beschränkensich auf das Strafrecht.
Ich kann Ihnen deshalb hier und heute versichern,dass die CDU/CSU-Fraktion an dieser Diskussion enga-giert und sachkundig teilnehmen wird.
Schließlich haben wir in unserem Koalitionsvertrag alsZiel einer Novellierung des GmbH-Gesetzes die Erleich-terung und Beschleunigung der Gründung, die Steige-rung der Attraktivität als Unternehmensform und dieBekämpfung von Missbräuchen bei Insolvenzen aus-drücklich benannt.
Aber bei aller Reformnotwendigkeit und Reform-freude sollten wir eines nicht aus den Augen verlieren– das ist jedenfalls mir ein wichtiges Anliegen –: Diemillionenfach real existierende GmbH ist ein wohl ein-geführtes Markenprodukt, das als durch und durch solideRechtsform für den Mittelstand konzipiert worden ist.Die Entwicklung nach unten – das bekannte Schlagwortlautet „race to the bottom“ –, die sie in den letzten Jahr-zehnten genommen hat, hat der Rechtsform bereits er-heblich geschadet. Daher werbe ich sehr dafür, dass wirbei der Gesamtreform ständig im Auge behalten, vor al-
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Dr. Jürgen Gehblem die Solidität der GmbH aufrechtzuerhalten oder siewieder neu herzustellen.
Es wäre mehr als bitter, wenn das deutsche Marken- undErfolgsprodukt GmbH nach einer Reform in dieser Le-gislaturperiode dadurch abgewertet würde, dass mandiese Rechtsform nur noch als GmbH light wahrnimmt.
Wir müssen daher in unserer Diskussion ernsthaft derFrage nachgehen, ob alle Wünsche, Bedürfnisse und Re-formnotwendigkeiten in einer einzigen Rechtsform opti-mal zu befriedigen sind.Schließlich müssen sich auch Autobauer – um aufdiese Metapher zurückzukommen – immer wieder über-legen, mit welchen Produkten sie am Markt Erfolg ha-ben. Reicht ein Modell für alle Zielgruppen? Reicht esaus, den von mir bereits erwähnten Golf abzuspecken,um zusätzliche Kleinwagenkäufer zu gewinnen? Verliereich, wenn ich dies tue, dadurch vielleicht alte Golflieb-haber, für die der Golf dann nicht mehr der solide, starkeMittelklassewagen ist? Ist es dann vielleicht doch besser,zusätzlich einen Kleinwagen in die Angebotspalette mitaufzunehmen, damit die spezifische Nachfrage trenn-scharf und zielgenau bedient wird?
Es ist nicht nur für Autobauer bitter, wenn ein neuesProdukt weder Fisch noch Fleisch ist und dadurchschlicht und einfach vom Kunden verschmäht wird. Diessollte jedenfalls nicht das Ergebnis zu vieler und wo-möglich fauler Kompromisse innerhalb einer – ich be-tone: notwendigen – GmbH-Reform sein.Lassen Sie uns deshalb die Reform unseres Gesell-schaftsrechts zügig anpacken und mutige Schritte gehen.Orientieren wir uns am Mut des Gesetzgebers imJahr 1892. Damals wurde der bereits etablierten Aktien-gesellschaft eine Innovation namens GmbH zur Seite ge-stellt, die äußerst skeptisch beäugt wurde. Das Vorhabenwurde trotzdem zum größten Erfolg des deutschen Ge-sellschaftsrechts. Vielleicht wäre ja einem neuen Gesell-schaftsrechtstyp – freilich neben der zu reformierendenGmbH und unabhängig von seiner Etikettierung als„Kaufmanns-mbH“, „Unternehmensgründergesellschaft“oder wie auch immer – eine ähnliche Erfolgsgeschichtebeschieden wie der in die Jahre gekommenen GmbH.Wie Franz Beckenbauer sagen würde: „Schau’n mermal!“Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dieter Dehm, Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sie ahnen bereits: Wenn hier ein Vertreter der SED-Nachfolgeorganisation spricht, dann muss es um denKampf gegen den Staatsbürokratismus gehen.
– Warten Sie einen Moment! Sie werden vielleicht nocheinen Grund haben, das freundliche Lachen beizubehal-ten.Die Streichung von § 8 Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Gesetz,die die FDP fordert, kann tatsächlich Start-ups und Exis-tenzgründern den Papierkrieg erleichtern, und dies kon-kret über das hinaus, was der Koalitionsvertrag im Duk-tus sattsam bekannter Mittelstandssonntagsreden wolkigverkündigt. Ich habe in meinem Leben schon einigeGmbHs gegründet, die übrigens alle noch erfolgreich ar-beiten
– Sie sehen, das ist unsere Mittelstandsorientierung –,und weiß, welcher Irrsinn vor der Registereintragunglauert.Der Alltag der Klein- und Mittelverdiener in diesemunserem Land ist hoffnungslos überreguliert – das habeich übrigens auch festgestellt, lieber Reinhard Schultz,als ich Bundesvorsitzender der 43 000 sozialdemokrati-schen Unternehmer in Ihrer Partei war –, während überder Deutschen Bank, dem Allianzkonzern und BMW derblaue Himmel von Steuerfreiheit und Regelfreiheitstrahlt. Das ist die Wahrheit.
Der Gläubiger – gerade im Handwerk – muss bei jeg-licher GmbH-Novellierung künftig stärker geschütztwerden. Dabei sollte das gezeichnete Stammkapital fürGeschäftspartner transparenter werden. Möglicherweisemuss das Stammkapital auch sukzessive dem Umsatzangepasst werden. Es geht nicht an, Kollege Gehb, dassjemand mit einer Mindesteinlage von 25 000 Euro Ge-schäfte mit einem Umsatz von vielen Millionen tätigtund der Gläubiger regelmäßig und vorgezeichnet insLeere greifen muss.
– Sie kennen die Realität. In meinem Heimatort Eiterfeldist ein Handwerksunternehmen einem Generalunterneh-mer aufgesessen, dem er Fenster eingebaut hat. Wie Siewissen, kann man die Fenster dann nicht mehr zurückho-len. Das alles sind auch die Folgen von Intransparenz.Ich denke, an dieser Stelle sollte bei der Novellierungnachgearbeitet werden. Darin sollten wir uns in diesemHause einig sein.Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Siemachen es mir als dem Dachverbandsvorsitzenden derlinken Mittelstandsorganisation OWUS nicht eben leichtmit Ihrem Antrag. Im Feststellungsteil zitieren Sie mei-nes Erachtens zu oft die Stiftung Marktwirtschaft. Das
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Dr. Diether Dehmist eine Lobby der Konzerne und Großbanken im mittel-ständischen Tarnanzug.
Das Hauptproblem unserer Kleinunternehmen istnicht der überkommene GmbH-Eintragungsmarathon,den Sie verkürzen wollen, sondern es sind die man-gelnde Binnenkaufkraft und die Arbeitslosigkeit. DerFeind der Kleinunternehmen sind erst recht nicht die Ge-werkschaften, wie uns die Stiftung Marktwirtschaft unddie Arbeitgeberverbände einbläuen wollen. Der Gegnerunseres Handwerks ist vielmehr die politische Über-macht der Konzerne und der Großbanken. Deshalbunterstütze ich als linker Unternehmer den Streik vonVerdi; denn eine um 18 Minuten kürzere Arbeitszeitkann 250 000 Arbeitsplätze und damit die entsprechendeKaufkraft retten.
Ich bin außerdem für Mindestlöhne als Maßnahme zurErhöhung der Kaufkraft und gleichzeitig gegen eine Er-höhung der Mehrwertsteuer. Des Weiteren streite ich füreine aktive Mittelstandspolitik und den Gläubigerschutz,aber auch für die Entrümpelung starrer Regeln, welchedie Kleinunternehmen drangsalieren.Undogmatisch, wirtschaftskompetent und pragma-tisch, wie wir Linken von Haus aus sind,
nehmen wir uns also die Freiheit, sowohl für den Streikvon Verdi einzutreten als auch für den FDP-Antrag zuvotieren.
Das Wort erhält der Kollege Klaus Uwe Benneter,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-ginnen und Kollegen! Ich habe ebenfalls schon vieleGmbHs gegründet, allerdings nicht für mich. Herr Kol-lege Dehm, ich weiß, dass Sie sehr viele gegründet ha-ben. Ich hoffe, dass Sie nicht allzu viele zugrunde gerit-ten haben.
Ich weiß zwar, dass es bürokratische Hindernisse undÜberregulierung beim Gründungsvorgang gibt. Aberbei der Lösung der Probleme im Parlament isoliert vor-zugehen und ausschließlich den Schlussfolgerungen derStiftung Marktwirtschaft zu folgen, wie es die FDP tut,halte ich nicht für den richtigen Ansatz. Sie wissen ge-nau, dass wir längst dabei sind, eine gründliche und se-riöse Reform des GmbH-Rechtes zu machen. Wir habendas – Herr Dr. Gehb hat es schon dargelegt – im Koali-tionsvertrag festgelegt. Wir haben schon zum Ende derletzten Legislaturperiode den Entwurf eines Gesetzes zurHerabsetzung des Mindestkapitals eingebracht, um einesder größten Hindernisse, gerade was die Wettbewerbs-fähigkeit von kleinen Kapitalgesellschaften angeht, zubeseitigen und die GmbHs zu stärken. Dieser Gesetzent-wurf ist aber der Diskontinuität zum Opfer gefallen.Nun befindet sich der Entwurf eines Gesetzes in derRessortabstimmung – das werden Sie sicherlich wissen;der Stiftung Marktwirtschaft wird das jedenfalls nichtverborgen geblieben sein –, das dem Abbau von Über-regulierung dienen soll. Überregulierung ist aber nur daseine. Die Stiftung Marktwirtschaft spricht ständig voneinem Regelsumpf, den es auszutrocknen gelte. Das willich so nicht stehen lassen. Es gibt sehr wohl vernünftigestaatliche Genehmigungsvorschriften. Ich erinnere bei-spielsweise daran, dass jemand, der eine Makler-GmbHgründen will, nach § 34 c der Gewerbeordnung eine ent-sprechende Genehmigung benötigt. Diese Genehmigungist nicht Ausdruck von Überregulierung, sondern dientganz konkret dem Verbraucherschutz und letztlichauch dem Gläubigerschutz. Das sollten wir bei der an-stehenden Reform berücksichtigen.
Zur baden-württembergischen FDP scheint die Stif-tung Marktwirtschaft übrigens keinen direkten Zugangzu haben; denn Baden-Württemberg hat, wie ich mirhabe sagen lassen, im Bundesrat – wahrscheinlich we-gen des Wahlkampfes – einen Antrag im Zusammen-hang mit der Einführung des elektronischen Handels-registers eingebracht, der vorsieht, dass die IHKs alsVorprüfstelle bundesweit neu tätig werden sollen. Soviel zur Überregulierung im Gründungsstadium.
Wie gesagt, das muss daran liegen – anders ist es nichtzu erklären –, dass die Stiftung Marktwirtschaft auf diebaden-württembergische FDP keinen so direkten Zugriffhat wie offensichtlich auf die Kasseler FDP – auf dieFDP, Herr Kollege Gehb, auf sonst niemanden.Das Entfallen aller staatlichen Genehmigungen imGründungsvorgang muss man sich genau anschauen. Esgibt hier viele Schutzvorschriften für die Verbraucherund für die Gläubiger. Sie wissen, der Regierungsent-wurf beschäftigt sich gerade damit, den Gläubigerschutzzu verbessern und insbesondere die Haftung der Ge-schäftsführer stärker ins Auge zu fassen. Das betrifft diePhase, in der die GmbH schon zahlungsunfähig ist unddennoch luftige Geschäfte zum Schaden derer gemachtwerden, die sich von solchen GmbHs Geld abknöpfenlassen.Wir alle wissen, dass das Stammkapital einer GmbHlängst nicht mehr tatsächlich zur Haftung beiträgt. DieBanken und diejenigen, die sich sonst in Geldgeschäftenauskennen, begnügen sich nicht mit der Aussage etwaeines Herrn Dehm, er habe eine GmbH gegründet, undbetrachten diese Gründung nicht ohne weiteres als se-riöse Firma, der man Geld leihen kann, sondern sie ver-langen auch von Herrn Dehm die Grundbuchauszüge derihm persönlich gehörenden Grundstücke. Erst dann ge-
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Klaus Uwe Benneterben sie Geld, damit Herr Dehm seine Aktivitäten entfal-ten kann.Wir machen eine GmbH-Reform aus einem Guss. Wirschauen uns das genau an und prüfen auch die Frage derÜberregulierung. Wir schauen uns auch den § 8 an.
Sie können sicher sein, dass wir eine seriöse und gründ-liche Reform machen.
– Jetzt wollten Sie eine Zwischenfrage stellen.
Würden Sie die genehmigen?
Aber bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Benneter, Sie haben jetzt erzählt, wie
viele Augen Sie auf alle möglichen Dinge in diesem Be-
reich werfen wollen und was die anderen schlecht, zu
wenig oder zu viel machen. Sie sagen, Sie wollten etwas
tun. Kriege ich von Ihnen hier die Zusage, dass wir im
Parlament noch vor der Sommerpause einen Gesetzent-
wurf bekommen, und bekomme ich von Ihnen die Zu-
sage, dass zum Ende des Jahres ein Gesetz im Gesetz-
blatt steht?
Es ist ja einerseits schön, wenn man etwas kritisiert; an-
dererseits haben Sie aber bisher keine konkreten Zu-
sagen gemacht.
Fragen Sie erst einmal die Regierung!
Ich bin zwar nicht der Bundesjustizminister, ich höre
aber von dem zuständigen Parlamentarischen Staatssek-
retär, dass ich Ihnen zusagen kann, dass wir bis zur Som-
merpause einen Entwurf haben werden. Wenn wir den
bis zur Sommerpause hier im Parlament haben, dann
werden wir ihn auch bis Ende des Jahres beraten und
verabschiedet haben.
Sie können also Ihre Klientel von der Stiftung Markt-
wirtschaft trösten. Sagen Sie ihnen, dass wir einen Ent-
wurf einbringen.
Vielleicht können Sie bis dahin Ihr isoliertes Anliegen
zurückstellen.
Das ist eigentlich ein schönes Schlusswort.
Ja?
Danke schön.
Das Wort hat Matthias Berninger, Bündnis 90/DieGrünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich binzunächst einmal sehr froh über die Ankündigung, dasswir noch vor der Sommerpause einen Gesetzentwurf zurNovellierung des GmbH-Rechts bekommen. Ich halte esfür richtig, dass wir hier für Tempo sorgen. Ich halte esfür notwendig, dass im Jahr 2007 für die Unternehmerin-nen und Unternehmer, und zwar nicht nur für diejenigen,die neu gründen, sondern auch für solche, die schon tätigsind, was das GmbH-Recht angeht, für Klarheit gesorgtwird. Denn die Diskussion über die Novellierung desGmbH-Rechts, die schon zu Zeiten der rot-grünenKoalition begonnen hat, kann in der Tat langsam zumAbschluss kommen. Daher freue ich mich sehr über dieAnkündigung.
Ich will auch sehr deutlich sagen, dass wir das Anlie-gen der FDP-Fraktion unterstützen; denn die eine Frageist, ob sich ein Unternehmer an alle rechtlichen Regelnhalten muss, beispielsweise der gefürchtete Makler, unddie andere Frage ist, ob der Prozess einer Unterneh-mensgründung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag ver-schoben werden muss. Ich glaube, dass man im Ver-trauen darauf, dass sich die Unternehmerinnen undUnternehmer an die Regeln halten, den Gründungsvor-gang – nur darum geht es bei dem Antrag – durchaus be-schleunigen kann.Dass die FDP allerdings stolz darauf ist, jede Wocheeinen kleinen Antrag zum Bürokratieabbau zu präsen-tieren, trägt zum Bürokratieaufbau bei.
Es gibt beispielsweise die Möglichkeit – das wäre einKompromiss –, immer fünf Anträge zu bündeln, sodasswir hier schneller vorankommen können. So wichtig Bü-rokratieabbau ist: Man darf es letzten Endes nicht zu ei-ner Schauveranstaltung kommen lassen.
Ich hoffe, dass dieser Antrag ein Signal für den Re-gierungsentwurf ist, Herr Staatssekretär Hartenbach, das
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Matthias Berningerdann auch aufgegriffen wird; denn damit ist in der Tateine kleine, aber feine Beschleunigung des alten Käfersoder Golfs GmbH-Recht verbunden.Ich habe heute genau zugehört, um zu erfahren, wasin der großen Koalition so über die Frage, ob es aus-reicht, am GmbH-Recht Änderungen vorzunehmen, dis-kutiert wird. Der Kollege Gehb hat hier ein paar weitergehende Vorschläge gemacht – wir kennen uns aus Kas-sel –, die mir – das kommt ja nicht so oft vor – sehr sym-pathisch sind.
– Das ist mal festzuhalten. In Kassel wird das das Themades Wochenendes sein.Die Frage, welche Gesellschaftsform die richtige ist,beschäftigt uns schon sehr lange. Stellt man sich dieFrage, ob die Limited, die Limited Liability Partnershipoder andere aus dem Amerikanischen kommende Ge-sellschaftsformen als Wettbewerber die richtige Gesell-schaftsform sind, dann erkennt man, dass wir zu kurzspringen, wenn wir uns nur um die GmbH kümmern.Der Kollege Gehb hat völlig Recht, dass wir uns darüberhinaus viel stärker um die anderen Gesellschaftsformen,um die klassischen Personengesellschaften, kümmernmüssen.Das macht auch Sinn. Vergleichen wir einmal dieseDebatte um Gesellschaftsformen mit der Debatte um dasUnternehmenssteuerrecht. Da wollen wir eine Anglei-chung; wir wollen den Unternehmerinnen und Unterneh-mern möglichst viele Wahlfreiheiten offerieren. Esmacht Sinn, dass wir auch bei der Wahl der Gesell-schaftsform in diese Richtung gehen. Daher glaube ich,dass die Änderungen im BGB und im Handelsrecht, diedazu zu erfolgen haben – die Personengesellschaftenmüssen stärker als Unternehmensform mit beschränkterHaftung gelten –, der richtige Weg sind.
Wir werden hierzu konkrete Vorschläge unterbreiten.Man muss sagen: Es wachsen schon ein paar zartePflänzchen. Bayern, das im Bundesrat initiativ gewordenist, tritt für einen Kaufmann mit beschränkter Haftungein. Das ist fein. Die einzige Frage, die man beantwortenmuss, ist: Warum soll es nur einen Kaufmann mit be-schränkter Haftung geben? Es gibt auf dem ganzen boo-menden Markt industrienaher Dienstleistungen vieleneue Formen von Kooperation und viele neue Anforde-rungen auch an ein vernünftiges Gesellschaftsrecht. Wirwären richtig gut beraten, wenn wir der Limited oder an-deren ausländischen Gesellschaftsformen nicht hinter-herrennen würden; vielmehr sollten wir dafür sorgen,dass wir in Deutschland einfach das modernste Rechtund damit sehr viel Freiheit haben. Das sollte unser Zielsein. An der Erreichung dieses Ziels wollen wir Grünegerne mitarbeiten.
Das Wort hat zum Schluss der Debatte der Kollege
Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich halte die isolierte Perspektive, sämtliche Nach-weispflichten ersatzlos zu streichen und anonyme Ge-stalten mit möglicherweise nicht vorhandenem Kapital– sie haben nach anderen Geschäften eventuell Über-schuldung hinterlassen –, die sich strafbar gemacht ha-ben und ohne festen Wohnsitz sind, eine GmbH anmel-den zu lassen, für nicht besonders günstig. Insofern mussman sich genau überlegen, welche Nachweispflichtenzum Zeitpunkt der Eintragung erforderlich sind, welchemöglicherweise nachzureichen sind und auf welche manverzichten kann. Bestimmte Nachweise sind aber unver-zichtbar. Das gilt auch für diejenigen hinsichtlich derZulassung von besonderen Berufen.Was hat ein Gründer, der als Makler, Bauträger oderFinanzdienstleister tätig werden will, davon, wenn erChef einer eingetragenen GmbH ist, aber noch nicht tätigwerden darf, weil er noch keine Genehmigung nach§ 34 c Gewerbeordnung hat? Falls er tätig würde, machteer sich sogar strafbar. Man muss also den Zusammen-hang sehen. Selbst das formale Vorziehen eines Grün-dungsaktes nützt einem Gründer nichts, wenn er nicht tä-tig werden darf.Trotzdem bin ich für eine Straffung. Man muss dasGanze aber in eine GmbH-Reform einbetten, bei derauch andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Ichbin froh darüber, dass das Justizministerium angekündigthat, bereits Ende März/Anfang April einen Referenten-entwurf einzubringen. Das würde bedeuten, dass uns vorder Sommerpause tatsächlich ein Gesetzentwurf vor-liegt. Daran könnten wir uns alle fantasiereich abarbei-ten.Natürlich gibt es Herausforderungen von außen wiedie Limited. Ich sehe, dass es zwar eine große Zahl vonFirmen gibt, die als eine solche Gesellschaftsform ge-gründet worden sind. Spaß bereitet das aber all diesenFirmen nicht unbedingt; denn die Gründung muss inEngland erfolgen. Hier haben sie nur eine Zweignieder-lassung. Sie haben einen englischen Notar zu beschäfti-gen. Selbst Kleinstunternehmen haben jährlich Berichteabzuliefern, die gegen horrende Gebühren notariell be-stätigt werden müssen. Das heißt, sie haben am Anfangzwar nur geringe Kosten, aber laufend relativ hohe Kos-ten, und zwar in England, mit all den damit verbundenenProblemen. So lustig ist das alles für die überhaupt nicht.Das spricht sich auch zunehmend herum. Insofern seheich da die Konkurrenz nicht.Die Frage der Höhe des Eigenkapitals ist zu diskutie-ren. Da sind zwei Dinge zu beachten. Auf der einen Seitewollen wir die Eigenkapitalstärkung der Unternehmen– das ist ein großes Wort – und auf der anderen Seite sollhier jemand mit beschränkter Haftung tätig werden, dernur einen Euro auf der Bank hat. Das ist natürlich eineganz witzige Angelegenheit. Es ist schon dargestelltworden: Das läuft sich letztlich tot, weil die Haftung desUnternehmens selber dann so gut wie keine Rolle mehrspielt.
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Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Berninger zulassen?
Selbstverständlich. Den Berninger kann ich gut lei-
den.
– Ich komme nicht aus Kassel.
Bitte schön.
Herr Kollege Schultz, das beruht, wie Sie seit der
Biokraftstoffdebatte wissen, auf Gegenseitigkeit.
Weil Sie wieder diesen Habenichts angesprochen ha-
ben, der mit einem Euro in der Tasche etwas gründet,
frage ich Sie: Sind Sie mit mir der Meinung, dass die
Gründer von Google, die nicht mal einen Dollar in der
Tasche hatten, ihr Unternehmen in Deutschland mögli-
cherweise nicht gegründet hätten, sondern in den öffent-
lichen Dienst gegangen wären, weil in Deutschland das
Klima herrscht, dass man erst Geld braucht, bevor man
eine Idee in Arbeitsplätze umsetzen kann?
Herr Berninger, ich gebe Ihnen völlig Recht. Zu-
nächst einmal hängt der Kapitalbedarf natürlich auch
vom Unternehmensgegenstand ab. Wenn man kein
schweres Gerät braucht, sondern wenn es lediglich gilt,
pfiffige Ideen an einem Computer, den man noch aus der
Studentenzeit hat, zu verwirklichen, ist der Kapitalbe-
darf natürlich deutlich geringer als bei anderen Geschäf-
ten, bei denen man mit Kunden größere Gewerke durch
irgendeine Art von Haftung abzusichern hat. Die kann
durch das Gesellschaftskapital oder – wie am Beispiel
vom Kollegen Dehm dargestellt worden ist – durch das
persönliche Vermögen gegeben sein. Nur, je geringer das
haftende Kapital ist, umso mehr werden natürlich die
Gesellschafter persönlich in Haftung genommen. Die
Idee der Gesellschaft mit beschränkter Haftung hebt sich
dann auf. Im Grunde genommen haben wir in Wirklich-
keit haftungsmäßig dann die BGB-Gesellschaft, bei der
sozusagen jeder gesamtschuldnerisch haftet. Das ist
schon längst die Situation. Insofern muss man immer
schauen, wo man letztlich landet. Aber ich gebe Ihnen
Recht – da pflichte ich Ihnen voll bei –: Natürlich muss
nicht jeder 25 000 Euro haben, um eine Geschäftsidee zu
verwirklichen.
Nur, es gibt ein Spannungsverhältnis. Auf der einen
Seite haben Firmen einen bestimmten Eigenkapitalbe-
darf und auf der anderen Seite besteht die Versuchung,
es den Leuten leicht zu machen; dann besteht aber die
Gefahr, dass die als Gründer die Risiken häufig unter-
schätzen.
Ihren Hinweis auf die Unternehmensteuerreform,
Herr Berninger, finde ich wichtig. Wenn wir wirklich das
Ziel verfolgen, eine Unternehmensteuerreform im Gro-
ßen und Ganzen rechtsformneutral und finanzierungs-
neutral hinzubekommen, dann müssen wir natürlich
auch bei der Ausgestaltung des Unternehmensrechts, ob
bei der GmbH oder bei der Personengesellschaft,
schauen, wie das eigentlich passend zu machen ist. Das
hat ohne Frage Auswirkungen. Insofern könnte die
kleinste Gesellschaft oder eine ganz kleine Gesellschaft,
die sozusagen aus der Personengesellschaft hervorgeht,
dann aber in Grenzen bilanzierungspflichtig wäre, eine
Möglichkeit sein. Darüber denken wir – ich bin ja Fi-
nanzpolitiker – auch nach. Da müssen diejenigen, die
über das Gesellschaftsrecht nachdenken – deswegen
rede ich heute auch, obwohl ich mit euch sonst nichts zu
tun habe –, und diejenigen, die über das Steuerrecht
nachdenken, sehr eng zusammenrücken. Das werden wir
in den nächsten Monaten, in diesem Sommer auch tun.
Die Frage zum Kaufmann war eine Sachfrage, die ich
Ihnen gern beantworten will. Weil jeder, der ein Ge-
schäft betreibt, im Sinne des BGB Kaufmann ist, auch
wenn er Installateur ist,
ist der Begriff des Kaufmanns oder der Kaufmannsge-
sellschaft keine in dem Sinne berufsspezifische, sondern
eigentlich eine aus dem bürgerlichen Recht hergeleitete
Bezeichnung.
Nur am Rande: Weiterbildung im Parlament ist zulässig.
Tschüss!
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell ist verabredet, die Vorlage aufDrucksache 16/671 an die Ausschüsse zu überweisen,die in der Tagesordnung vorgesehen sind. – Sie sind of-fensichtlich damit einverstanden. Dann wird das so ge-schehen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatz-punkt 7 auf:9 Erste Beratung des von der Fraktion der LINKENeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Gesetzes über das Kreditwesen–Drucksache 16/731 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft undTechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales
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1710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
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Vizepräsidentin Katrin Göring-EckardtZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten BärbelHöhn, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weitererAbgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENRecht auf Girokonto auf Guthabenbasis ge-setzlich verankern– Drucksache 16/818 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendInterfraktionell ist verabredet, hierfür eine halbeStunde vorzusehen. – Dazu höre ich keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demKollegen Oskar Lafontaine.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten,
betrifft eine Minderheit der Gesellschaft. Es häufen sich
in letzter Zeit Berichte in der Presse, dass immer mehr
Menschen, die in Not geraten sind, von Banken abge-
wiesen werden, wenn sie ein Konto beantragen, bzw.
von Banken mitgeteilt bekommen, nachdem sie Pfän-
dungen erlitten haben, dass das Konto nicht weiter ge-
führt werde. Wir sehen darin – ich nehme an, dass be-
züglich dieses Punktes große Zustimmung hier im Hause
herrscht – eine Demütigung. Diese Demütigung der
Menschen, die davon betroffen sind, sollte auf dem Ge-
setzeswege abgestellt werden.
Man sollte sich einmal kurz vorstellen, wie sich eine
Rentnerin fühlt, der, nachdem sie, vielleicht aufgrund
falscher Entscheidungen, die sie getroffen hat, eine Pfän-
dung erlitten hat, das Konto gekündigt wird
und die, wenn sie dann versucht, bei einer anderen Bank
ein Konto zu eröffnen, abgewiesen wird.
Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, in der
auch die staatlichen Zahlungen nicht in bar ausgezahlt,
sondern per Überweisung geleistet werden. Es kommen
auch immer mehr Hartz-IV-Empfänger in eine solche Si-
tuation. Sie sind dann nicht in der Lage, ihre Geschäfte
und ihr Leben ordentlich zu regeln, weil ihnen der Zu-
gang zu einem Konto verwehrt wird. Hinzu kommt
noch, dass Zusatzkosten entstehen. Das heißt, gerade bei
denjenigen, die wirklich in Not sind, fallen dann bei den
simpelsten Bankgeschäften Zusatzkosten an. Wir glau-
ben, dass das ein unhaltbarer Zustand ist.
Seit zehn Jahren versuchen Sie, durch freiwillige
Selbstverpflichtungen der Kreditwirtschaft die Angele-
genheit im Interesse dieser Menschen zu regeln. Die
letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass diese freiwillige
Selbstverpflichtung nicht zu einem guten Ergebnis ge-
führt hat. Auch in Prozessen, die um diese Frage geführt
wurden, wurde festgestellt, dass für die betroffenen
Menschen kein Anspruch auf Eröffnung eines Kontos
besteht. Deshalb glauben wir, dass es jetzt an der Zeit ist,
die Kreditwirtschaft durch ein Gesetz zu verpflichten
– das ist unser Vorschlag –, solchen Kontoeröffnungen
zuzustimmen, auch dann, wenn die Antragsteller in Not
sind. Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit dieses Hau-
ses diesem Anliegen zustimmt, weil es unwürdig ist,
wenn Menschen, die auf die Bank geschickt werden,
dort mit der Erfahrung konfrontiert werden, dass sie ein-
fach abgewiesen werden.
Das Wort hat Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lafontaine,das Anliegen, das Sie haben, wird durchaus auch vonuns geteilt. Es ist nur die Frage, ob die von Ihnen bean-tragte Änderung des KWG und damit das Recht aufKontoeröffnung dem gerecht wird. Ich möchte nun ver-suchen, in einigen Punkten darzulegen, warum wir wei-terhin auf das bauen, was 1995 mit der Kreditwirtschaftvereinbart worden ist. Ihrer Schlussfolgerung, dass dasgescheitert sei, können wir nicht folgen.
Der bargeldlose Zahlungsverkehr ist in unsererheutigen modernen Gesellschaft eine wichtige Grund-lage für die Teilnahme am wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Leben. Daher muss auch einkommens-schwachen Haushalten der Zugang zum Girokontoermöglicht werden.
In dieser Einschätzung sind wir uns fachlich und auchfraktionsübergreifend in diesem Hause bisher einig ge-wesen. Uneinig sind wir uns allerdings sowohl bezüglichder Bewertung, wie weit das Girokonto heute tatsächlichverbreitet ist, als auch bezüglich der Frage, welche Kon-sequenzen daraus zu ziehen sind.Erstaunt hat mich schon, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von Bündnis 90/Die Grünen, dass Sie den Schulter-schluss mit der Fraktion Die Linke suchen. Gemeinsam– wenn auch in leicht unterschiedlichem Wortlaut – be-finden Sie, die im Jahre 1995 beschlossene Selbstver-pflichtung des Zentralen Kreditausschusses, ZKA, zum„Girokonto für jedermann“ funktioniere nicht. IhreSchlussfolgerung daraus ist ebenso nahe liegend wiefalsch: Der Staat soll es richten; anstelle der Selbstver-pflichtung soll eine gesetzliche Regelung sicherstellen,dass jeder Bürger ein Girokonto erhält – und behält.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1711
(C)
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Leo Dautzenberg
Dabei ist gerade das „Girokonto für jedermann“ ein Bei-spiel dafür, dass der Staat nicht alles regeln und schongar nicht alles besser regeln kann als die Wirtschaftsteil-nehmer im Rahmen einer bestimmten Selbstregulierung,auf die wir im Grunde weiterhin setzen.
Meine Damen und Herren, doch zunächst zur Analyseund Bewertung der heutigen Situation – rund zehn Jahrenach Einführung der Selbstverpflichtung zum „Giro-konto für jedermann“. Unisono stützen sich die Kollegenvon der Linken und auch vom Bündnis 90/Die Grünendabei auf Informationen der Arbeitsgemeinschaft derSchuldnerberatung der Verbände, wonach noch immer„hunderttausende Verbraucher“ in Deutschland vom bar-geldlosen Zahlungsverkehr ausgeschlossen seien, weilBanken ihnen die Eröffnung eines Girokontos verwei-gern würden.Meine Damen und Herren, damit wir uns nicht falschverstehen: Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktionkennt die jüngsten Berichte der Schuldnerberatungsstel-len und nimmt sie ernst. Unsere Kollegin Julia Klöcknerhat dazu bereits im Januar öffentlich Stellung bezogen.Aber ich rate dringend dazu, die Bewertung der heutigenSituation nicht ausschließlich diesen Stellen zu überlas-sen. Die Bundesregierung wird noch in diesem Jahr ei-nen ausführlichen Bericht zur Umsetzung der Empfeh-lung des Zentralen Kreditausschusses zum „Girokontofür jedermann“ vorlegen. Ein wichtiger Bestandteil die-ses Berichts werden verlässliche Zahlen darüber sein,wie vielen Haushalten tatsächlich ein Girokonto ver-wehrt worden ist und aus welchen Gründen.Verehrte Kollegen der Grünen, wenn Sie noch in derRegierung wären, würden Sie das wahrscheinlich ge-nauso sehen, weil auch Sie dann zur Kenntnis genom-men hätten, dass die Berichterstattung in einem zweijäh-rigen Zeitraum erfolgt.
Sie wissen sehr genau, dass dieser Bericht noch in die-sem Jahr vorgelegt wird.
Schließlich haben wir die Bundesregierung imJahre 2002 gemeinsam dazu aufgefordert, alle zweiJahre einen Bericht über die Umsetzung der Selbstver-pflichtung vorzulegen.Ich hätte mir gewünscht, dass wir diesen Bericht ge-meinsam abgewartet hätten, um ihn sachlich und kritischim Finanzausschuss zu diskutieren und daraus gemein-sam Konsequenzen zu ziehen. Stattdessen haben Sie mitIhren heute eingebrachten Anträgen eine ideologiege-triebene Debatte über das „Girokonto für jedermann“vom Zaun gebrochen, wie wir sie aus den vergangenenJahren in bestimmten Bereichen schon kennen.
Beim Stichwort „ideologiegetriebene Debatte“möchte ich gerne auch noch auf eine Zahl eingehen, dieim Gesetzentwurf der Linken, Herr Lafontaine, genanntwird. Um Ihre – nicht explizit ausgesprochene, aberdoch unterstellte – These der so genannten Diskriminie-rung sozial benachteiligter Menschen durch die Kredit-wirtschaft zu untermauern, führen Sie an, dass alleinebei der Bundesagentur für Arbeit über 100 000 Leis-tungsempfänger ohne Girokonto gemeldet seien. Ichzweifle diese Zahl nicht an. Ich möchte Sie nur bitten,diese nicht losgelöst zu betrachten und sie ins richtigeVerhältnis zu setzen.Es ist richtig, dass laut Bundesagentur für Arbeit imMai 2004 115 000 Leistungsempfänger – das sind2,74 Prozent – kein Konto angegeben haben. Über dieGründe dafür lässt sich allerdings trefflich streiten.Ebenso wahr ist auch, dass – diese Zahl bitte ich dazu insVerhältnis zu setzen – 4,102 Millionen Leistungsemp-fänger – das sind 97,25 Prozent – ihre Monatszahlungauf ein Konto erhalten haben. Nur 383 Leistungsemp-fänger haben ihre Zahlung als kostenfreie Zahlungs-anweisung zur Verrechnung der Postbank erhalten. Dietatsächliche Anzahl der Zahlungsempfänger, die ohne ei-genes Verschulden kein Konto erhalten haben, lag lautBundesagentur für Arbeit im Mai 2004 noch wesentlichunter der Zahl von 383.Dennoch, meine Damen und Herren, möchte ich nichtbestreiten, dass es auch zehn Jahre nach Einführung derSelbstverpflichtung des Zentralen Kreditausschussesmöglicherweise in der Fläche zum Teil noch oder wiederProbleme bei der Umsetzung gibt und Haushalte unver-schuldet kein Girokonto erhalten. Diesem Problem ver-schließen wir uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktionkeineswegs. Ein abschließendes Meinungsbild werdenwir uns dazu aber erst auf der Basis eines fundierten Be-richtes der Bundesregierung bilden, nicht auf der Grund-lage nur einer Zahl der Schuldnerberatungsstellen.
Ich schließe dabei keineswegs aus, dass wir mögli-cherweise zu dem Ergebnis kommen werden, dass dieSelbstverpflichtung des Zentralen Kreditausschussesan einigen Stellen durchaus der Nachbesserung bedarf.Ich bezweifle aber sehr stark, dass eine gesetzliche Re-gelung, wie sie von der Linken und Bündnis 90/Die Grü-nen gefordert wird, diejenigen Probleme beseitigenkönnte, die beim „Girokonto für jedermann“ heute nochbestehen mögen.Beim „Girokonto für jedermann“ stehen wir immer indem Konflikt zwischen Kontrahierungszwang und Zu-mutbarkeit für die Kreditinstitute. Diesen Konflikt wirdauch eine gesetzliche Regelung nicht lösen können.Denn auch ein Gesetz müsste Ausnahmen vorsehen, indenen die Verpflichtung eines Kreditinstituts zur Konto-führung unzumutbar sein kann. Der Zentrale Kreditaus-schuss nennt nachvollziehbare Gründe und gibt Bei-spiele für Unzumutbarkeit.
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Leo DautzenbergWelche Konsequenzen die Verankerung von Unzu-mutbarkeitsregelungen im Gesetz hätte, ist uns allenklar: Die Entscheidung von Streitfällen würde auf dieGerichte verlagert werden. Ich sehe nicht, dass dies imSinne der Bürger sein soll. Vielmehr sind wir der Über-zeugung, dass die heute praktizierte kostenlose und zeit-nahe Bearbeitung von Streitfällen durch außergerichtli-che Schlichtungsstellen sachgerechter und bürgernäherist.Nun monieren Sie, meine Damen und Herren Kolle-gen von den Grünen, dass die kostenlosen Schlichtungs-stellen den Betroffenen weitgehend unbekannt seien.Was Sie unter „weitgehend unbekannt“ verstehen, verra-ten Sie uns leider nicht. Ich kann Ihre Einschätzung we-der mit einer Zahl belegen noch könnte ich sie zum heu-tigen Zeitpunkt mit einer Zahl entkräften. Fest steht nur,dass die Kreditwirtschaft in den vergangenen Jahren ei-niges getan hat, um diese Kommunikationsprobleme zubeheben. Vielleicht muss in dieser Hinsicht noch mehrgetan werden. Wenn Sie die Zahlen von 1999 bis heutevergleichen, die von den verschiedenen Bankengruppenund gerade auch von den Banken des öffentlichen Sek-tors veröffentlicht werden, dann können Sie feststellen,dass sich die Zahl der Konten für jedermann teilweisebis auf das Dreifache erhöht hat. Man kann also nichtfolgern, dass sich die Selbstverpflichtung als nicht er-folgreich erwiesen hat.Meine Bitte ist daher: Lassen Sie uns den Bericht derBundesregierung abwarten und dann kritisch diskutie-ren! Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, ob und anwelchen Stellen die Selbstverpflichtung des ZentralenKreditausschusses noch verbessert werden muss, damitwir die Anzahl derjenigen Fälle minimieren, in denenHaushalten unverschuldet ein Girokonto verwehrt wird.Denn das war und bleibt unser gemeinsames Ziel: Ohneeigenes Verschulden soll keinem ein Girokonto verwehrtwerden.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Was die Grünen und die Linken heutehier vorlegen, ist billiger Populismus.
Nächste Woche erhalten wir sicherlich Ihre Anträge zumRecht auf Brötchen, Arbeit oder eine Haftpflichtversi-cherung.
Meine Kollegen von den Linken, Sie drücken damit Ihrtiefes Misstrauen gegenüber Wettbewerb und sozialerMarktwirtschaft aus.
Die Zahlen, die im Antrag der Fraktion der Linkengenannt werden, sind nicht verifizierbar. Dort ist vonüber 100 000 Leistungsempfängern ohne Girokontodie Rede. Woher stammt diese Zahl? Aus der Antwortder Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage aus demFebruar dieses Jahres können Sie sie sicherlich nicht ab-leiten. Die Antwort enthält im Kern die Aussage, dassdie Regierung keine Kenntnisse darüber hat.Ich zitiere aus Ihrer Anfrage:Welche Gruppen von Leistungsfällen ohne Giro-konto sind der Bundesregierung bekannt und wielassen sie sich quantifizieren?Ihre Begriffswahl ist an dieser Stelle entlarvend. Siesprechen nicht vom Menschen, sondern von Leistungs-fällen. Das ist sehr problematisch.
Die Bundesregierung antwortet Ihnen, nachdem sieeinige Zahlen aus der BA-Statistik genannt hat:Die Gleichsetzung dieser Zahlen im Hinblick aufEmpfängerinnen und Empfänger ohne Girokontoist nicht zulässig.Das sehe ich genauso.Man kann doch nicht den Schluss ziehen, dass Kinder-geldauszahlungen per Zahlungsanweisung oder Zahlungs-anweisungen zur Verrechnung in der Größenordnung von360 000 Fällen im Jahr nur deshalb durchgeführt wur-den, weil die betroffenen Empfänger gegen ihren Willenkein Girokonto erhalten. Noch ist es nicht so weit, dasswir in Deutschland verpflichtet werden, bei Zahlungs-empfängen zwingend ein Girokonto angeben zu müssen.Dass Sie dieses Stückchen Freiheit auch noch beschnei-den wollen, traue ich Ihnen zu.
Fakt ist: Jeder Bürger in diesem Land hat den Zugangzu einem Girokonto auf Guthabenbasis, unabhängig vonseiner Bonität.
Dies hat der Zentrale Kreditausschuss, also die Vertre-tung der Branche, zugesagt. Ein gut funktionierendesBeschwerdesystem der Branche jetzt durch einen gesetz-lichen Zwang zu ersetzen, sorgt gerade für die Bürokra-tie, die wir hoffentlich alle abbauen wollen.
Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Es gibt84 Millionen Girokonten in Deutschland. Die Zahl derKonten auf Guthabenbasis, also des Kontos für jeder-
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Frank Schäfflermann, ist zwischen 1999 und 2003 um 550 000 gestie-gen und liegt inzwischen bei über 1,1 Millionen. Es gabin 2004 – Herr Dautzenberg hat das angemerkt – bei Pri-vatbanken lediglich 134 Kundenbeschwerden zumKonto für jedermann.Was wollen Sie also? Warten Sie doch erst einmal denBericht der Bundesregierung ab – auch darauf ist schonhingewiesen worden –, der in diesem Jahr erscheinensoll. Dieser Bericht wird alle zwei Jahre vorgelegt. Ichhalte ihn für das richtige Instrument.Nur, eines verwundert mich – lassen Sie mich daszum Schluss sagen –: Ein Tag nach dem InternationalenFrauentag verwenden Sie von der Linken in Ihrem An-trag Formulierungen wie „Konto für jedermann“ odersprechen sich die Grünen für einen Forschungsauftragaus, im Rahmen dessen die Lebenssituation von kontolo-sen Bürgern – also nicht von Bürgern und Bürgerinnen,sondern nur von Bürgern – und deren Schwierigkeitenim Wirtschaftsgeschehen untersucht werden soll.
Dass Sie hiermit mehr als die Hälfte unserer Gesellschaftschlicht ignorieren und außen vor lassen,
verwundert mich und halte ich für unglaublich. Ich hatteinzwischen andere Vorstellungen davon, was Feministin-nen Ihrer Fraktionen bei der Formulierung von Anträgentatsächlich bewegen können. Die jetzige Vorgehens-weise enttäuscht mich zutiefst.Ich darf mich trotzdem für Ihre Aufmerksamkeit,liebe Kolleginnen und Kollegen, bedanken.
Das Wort hat die Kollegin Simone Violka von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, die meisten können es sich nicht vorstellen, wiees ist, ohne Konto leben zu müssen. Denn viele Dinge,die im Alltag anfallen, wie zum Beispiel Überweisungender Miete, der Kfz-Steuer usw., werden häufig über ei-nen Dauerauftrag allein von der Bank erledigt. Manmuss sich nicht darum kümmern, solange das Konto ge-deckt ist. Dennoch gibt es in Deutschland immer nochMenschen, die ohne eigenes Verschulden nicht in denGenuss dieser Vorteile kommen können, weil ihnen einKonto verwehrt wird.Wir führen nicht die erste Debatte zu diesem Thema.Ich möchte dieses Thema auch nicht so herunterspielen,wie es mein Vorredner getan hat, der ab und zu ein biss-chen ins Lächerliche abgewichen ist. Es ist durchaus so,dass hier Menschen – egal wie viele es sind – ein Pro-blem haben. Wir haben die Verpflichtung, uns mit die-sem Problem auseinander zu setzen.
Das Problem ist nicht neu. Genau aus diesem Grundekam es 1995 durch politischen und gesellschaftlichenDruck zur freiwilligen Selbstverpflichtung der deutschenKreditinstitute. Man verpflichtete sich, jedem, der eswünscht, zumindest ein Girokonto auf Guthabenbasiseinzurichten. Die Sparkassen sind in vielen Bundeslän-dern Vorreiter gewesen – sie sind es noch, aber leidernicht in allen –, weil viele die besondere Verpflichtung,ein so genanntes Girokonto für jedermann anzubieten, inihre Sparkassenverordnung aufgenommen haben. Ichmöchte mich an dieser Stelle ausdrücklich dafür bedan-ken, dass sich gerade diese Kreditinstitute, die in der Flä-che noch immer am stärksten vertreten sind, dieses Pro-blems schon frühzeitig angenommen haben.
Aber auch bei den anderen Kreditinstituten hat sichetwas getan. Bei aller Kritik, die so lange geäußert wer-den muss, bis ein akzeptabler Zustand erreicht ist, willich auf die positiven Entwicklungen hinweisen, vor al-lem deshalb, um denen, die sich bemüht haben, zu zei-gen, dass wir dies registrieren und honorieren. So hatsich zum Beispiel die Anzahl der Girokonten merklicherhöht. Bei drei Verbänden, die Zahlenmaterial gelieferthaben, hat sich die Zahl der Konten in den letzten sechsJahren von etwa 630 000 auf über 1 Million erhöht.Dennoch weist die Verbraucherzentrale darauf hin,dass es in Deutschland noch immer HunderttausendeVerbraucherinnen und Verbraucher gibt, die ohne eige-nes Verschulden kein Girokonto besitzen. Ich habe sehrlange gesucht; aber ich habe leider kein verlässlichesDatenmaterial zu dieser Aussage gefunden. Ich habe vielüber Stichproben und Hochrechnungen gefunden. Abermir persönlich genügt das nicht; denn ich möchte dieseZahl nicht einfach unkommentiert im Raum stehen las-sen. Ich gehe aber davon aus, dass es natürlich nochviele solche Fälle gibt und an einem weiteren Abbau ge-arbeitet werden muss, egal von wie vielen Fällen wirsprechen.Wir sollten ehrlich sein. Da ich im Antrag der Linkengelesen habe, dass bei der Bundesagentur für Arbeit über100 000 Leistungsempfänger ohne Girokonto gemeldetsind, habe ich mir einfach die Freiheit genommen, nach-zufragen, wie viele es denn wirklich sind. Ich habe hierdie aktuellen Zahlen vom Januar dieses Jahres: Bei derBundesagentur für Arbeit sind 161 438 Empfängerin-nen und Empfänger von Leistungen gemäß SGB III undSGB II ohne Girokonto gemeldet. Allerdings muss mansehen, dass davon nur 2 374 Personen ihre Zahlungs-anweisung gebührenfrei bekommen. Das heißt, diese ha-ben nachgewiesen, dass sie unverschuldet kein Kontobesitzen. Die Übrigen nehmen diese Gebühren hin, auswelchen Gründen auch immer.Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der mitgutem Grund anführen kann, er sei von den Gebühren
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Simone Violkabefreit, weil er – obwohl er nichts angestellt hat – keinGirokonto eröffnen kann, dies der Bundesagentur fürArbeit nicht anzeigt. Man sollte also genau hinschauen.Man kann nämlich niemanden zwingen, ein Konto zuführen oder anzugeben, warum er keines führt. Es gibtdurchaus Menschen, die einen guten Grund haben, dasnicht zu tun.Ich stimme zu, dass jeder Mensch, der das möchte,ein Konto erhalten soll. Allerdings gibt es tatsächlichFälle, wo es legitim ist, wenn jemandem ein solches An-liegen vonseiten des Kreditinstituts verwehrt wird. Wennein Kunde zum Beispiel die Leistungen des Kreditinsti-tutes durch Betrug, Geldwäsche oder anderes miss-braucht hat, wenn er falsche Angaben macht, wenn erMitarbeiter oder Kunden grob belästigt oder gar gefähr-det, dann kann nicht gesagt werden: Der muss aber einKonto bekommen. – Insoweit sollte es im Ermessen derSparkassen und der Banken liegen. Das ist bei den Spar-kassen schon heute der Fall, obwohl sie eine entspre-chende Verpflichtung abgegeben haben. Das ist auch gutso.
Man stelle sich vor, es kommt jemand, der negativaufgefallen ist, vielleicht nach verbüßter Haftstrafe indie gleiche Filiale, zu der Frau oder zu dem Mann, diebzw. den er bedroht hat, und sagt, er wolle gerne einKonto eröffnen, und die Kasse würde per Gesetz ge-zwungen, dem nachzukommen. Ich halte das für nichtnachvollziehbar. Man braucht weiterhin diese Freiheit.Allerdings sollten die Banken gute Gründe für dieAblehnung haben und diese dem Kunden schriftlich mit-teilen, damit sich dieser gegebenenfalls dagegen wehrenkann. Diesbezüglich haben sich in den letzten Jahren dieSchlichtungsstellen bewährt. Ich bin nicht unglücklichdarüber, dass die Zahl derer, die diese Leistung in An-spruch genommen haben, zugenommen hat, und zwarnicht weil es mehr Fälle gab, sondern weil es sich he-rumgesprochen hat, dass es solch eine Möglichkeit gibt.Das zeigt, dass die Akzeptanz dieser Stellen und dasWissen über ihre Existenz zunehmen. Natürlich ist hierdie Öffentlichkeitsarbeit, vor allem vonseiten der Kre-ditinstitute, noch verbesserungswürdig.Positiv ist in diesem Zusammenhang zu werten, dassder Bankenverband den Verbraucher- und Schuldnerbe-ratungsverbänden mehrfach angeboten hat, den Spitzen-verbänden der Kreditwirtschaft konkrete Fälle, in denendie Führung eines Kontos verwehrt wurde, zu melden,damit man diese Fälle gemeinsam zügig klären kann.Abschließend komme ich zu der Beurteilung, dasssich in den Jahren seit der Einführung der freiwilligenSelbstverpflichtung tatsächlich viel getan hat. Deswegensollte man – natürlich mit regelmäßiger Erfolgsüberprü-fung – weiter auf diese freiwillige Leistung bauen, aberkeine zusätzlichen Gesetze verabschieden, jedenfallsnicht in den vorliegenden Fassungen und zum heutigenZeitpunkt.
Wir haben 2004 den letzten Bericht der Bundesregierungzu dieser Frage bekommen. Alle zwei Jahre erscheintdieser Bericht. Jetzt haben wir 2006. Das heißt, wir wer-den den Bericht noch in diesem Jahr erhalten. Erst dannhaben wir aktuelles Material mit konkreten Zahlen, diewir brauchen, um das weitere Vorgehen abzustimmen.
Ich befürchte, dass bei einem solchen Gesetz, wie esjetzt verlangt wird, die Betroffenen zwar einen theoreti-schen Anspruch hätten, ihn aber im Zweifelsfall vor Ge-richt durchsetzen müssten. Ich glaube nicht, dass das imSinne der Verbraucherinnen und Verbraucher ist; dennwer sich heute schwer tut, seinen Fall vor die Schlich-tungsstelle zu bringen, der wird sich später mit Sicher-heit noch schwerer tun, vor ein Gericht zu ziehen, nochdazu, wenn dies mit erheblichen Kosten verbunden seinwird, auch wenn sie eventuell im Rahmen der Prozess-kostenbeihilfe übernommen würden. Ich glaube nicht,dass es im Einzelfall zu einer Verbesserung käme.Wir sollten einfach abwarten,
nicht ewig, aber bis zum Erscheinen des nächsten Be-richts, und die dann vorliegenden Erkenntnisse als Ar-beitsgrundlage für ein gemeinsames Vorgehen bei derFrage nutzen, wie wir diesen Menschen, die es nach wievor gibt und denen geholfen werden muss, in Zukunftordentlich helfen können. Es sollte aber nicht zu einerGesetzesflut, zu einer Regelungswut kommen, wo manhofft, dass man etwas tun kann, und letztendlich die Be-troffenen allein lässt, indem man sagt: Dann musst duhalt zum Anwalt gehen und dein Recht vor Gerichtdurchsetzen. – Ich glaube nicht, dass damit jemandemgeholfen ist.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schickvon Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaubenicht, dass es sinnvoll ist, von einer „ideologiegetriebe-nen“ Debatte zu sprechen und uns gegenseitig Populis-mus vorzuwerfen. Es ist eine Tatsache, dass diese Pro-blemlage besteht. Da die Zahlen uns kein eindeutigesBild liefern, wissen wir jedoch nicht, wie groß das Pro-blem ist. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir sotun, als gäbe es dieses Problem nicht.
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Dr. Gerhard SchickDie Verbraucherzentralen sagen uns, dass es immer nocheine große Rolle bei der Beratung spielt.Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Menschen,die schon einmal gescheitert und in finanzielle Schwie-rigkeiten geraten sind, nicht sofort dagegen wehren, son-dern eher geneigt sind, die Gebühren hinzunehmen, alsandere.
Das ist ganz normal. Dazu kommt: Oft haben wir überdiejenigen, die einmal gescheitert sind oder in Armut le-ben, keine genauen Zahlen. Das heißt aber nicht, dasswir in diesem Bereich nichts tun müssen. Das wäre einFehlschluss.
Der Anlass für diese Debatte besteht nicht darin, dasswir irgendetwas aus der Luft gegriffen hätten; vielmehrgab es eine Äußerung der Bundesjustizministerin, einerMinisterin der Regierung, die Sie mittragen. Sie sagte,dass eine gesetzliche Regelung geschaffen werden soll.Von daher haben wir einen Anlass für diese Debatte undich finde es merkwürdig, dass hier von Geduld gespro-chen wird.
Wenn etwas angekündigt wird, dann können wir auchdarüber reden. Die Bundesjustizministerin ist am24. Januar dieses Jahres entsprechend zitiert worden.
Warum ist es nötig, etwas zu tun? Diese Frage sollteman aus marktwirtschaftlicher Perspektive genau be-trachten. Wir fordern mehr Existenzgründungen undeine Kultur der zweiten Chance. Die Kultur der zwei-ten Chance muss aber auch die Sicherheit umfassen,dass Menschen, die einmal gescheitert sind, neu begin-nen können. Dafür ist es extrem wichtig, dass eineGrundlage vorhanden ist. Deshalb ist es auch richtig,dass Menschen ein Girokonto haben können.
Ein Girokonto zu besitzen, ist heute der Normalfall.Wir wissen, dass Menschen, die kein Girokonto haben,mehr Geld für den Zahlungsverkehr aufwenden müssenals Menschen, die ein Konto haben. Gerade den Men-schen also, die in Schwierigkeiten geraten sind, wird esim Zahlungsverkehr besonders schwer gemacht. Darinkann ja nicht die Kultur der zweiten Chance bestehen.Wir können nicht zulassen, dass Menschen, die schoneinmal in Schwierigkeiten geraten sind, noch eine wei-tere Last tragen müssen.
Ich möchte noch einmal auf die Selbstverpflichtungeingehen, die wir bereits seit zehn Jahren haben. Immernoch stellt sie ein Problem dar. Wir müssen uns dahernach besseren Alternativen umsehen. Das Oberlandesge-richt Bremen sagt, dass sie nicht ausreicht. Länder wieBelgien und Frankreich machen uns vor, dass auch eineunbürokratische Lösung möglich ist.Das Problem, dass die Menschen nicht wissen, anwen sie sich wenden sollen, weil ihnen die Schlichtungs-stelle nicht bekannt ist, kann durch eine klare gesetzlicheRegelung gelöst werden. Das Hin und Her über Zahlen– manche beziehen sich auf die Zahlen des Bankenver-bandes, andere auf die der Verbraucherschützer – kannman bei einer klaren gesetzlichen Regelung, die für alletransparent ist, vermeiden. Das übliche Problem beiSelbstverpflichtungen besteht darin, dass wir nicht wis-sen, was daraus wird, und wir Schritt für Schritt einfor-dern müssen. Das wäre nicht erforderlich, wenn es vonvornherein gesetzlich klar geregelt wäre.Aus grüner Perspektive ist der Gesetzentwurf der Lin-ken, der uns vorgelegt wurde, nicht ausreichend, weil esauch für die Kreditinstitute Kriterien geben muss, bei de-nen sie Nein sagen dürfen. Ein absoluter Rechtsanspruchist meines Erachtens nicht zielführend. Die Einschrän-kungen, die in der Selbstverpflichtung genannt sind,weisen in die richtige Richtung. Sie beziehen sich aufPersonen, die falsche Angaben in Bereichen machen, diefür das Vertragsverhältnis wichtig sind, beispielsweisewenn es um Geldwäsche geht. Deswegen haben wir dieBundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vor-zulegen. Darin kann man diese Regelungen der Selbst-verpflichtung aufgreifen. Wir brauchen eine eindeutigeRegelung, damit die jetzige unklare Situation im Inte-resse der betroffenen Menschen – das sind wirklich nichtdie Begünstigten in unserem Land – verbessert werdenkann.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/731 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Zusatzpunkt 7. Der Antrag der Fraktion des Bündnis-ses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/818 soll an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesenwerden. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Frak-tionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federfüh-rung beim Finanzausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss fürErnährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abstimmen. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-schlag ist mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen bei
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsZustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-nen abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der SPD – zur Erinne-rung: Federführung beim Finanzausschuss – abstimmen.Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-schlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegen-stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenangenommen.Damit liegt die Federführung beim Finanzausschuss.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowieZusatzpunkt 8 auf:10 Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeHöfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weitererAbgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENModerne Verbraucherpolitik fortführen undweiterentwickeln– Drucksache 16/684 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPVerbraucherschutz in der Marktwirtschaftdurch mündige und aufgeklärte Verbrauchersicherstellen– Drucksache 16/825 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Kollegin Bärbel Höhn vonBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben in den letzten Jahren erlebt, dass wir zu einer an-deren Verbraucherschutzpolitik gekommen sind. DieVerbraucherschutzpolitik hat eine vollkommen andereDimension bekommen. Das ist auch gut so. Es ist vielerreicht worden. Es wurde übrigens leider auch viel ver-hindert, insbesondere von den Bundesländern im Bun-desrat. Es gibt aber noch sehr viel zu tun. Deshalb habenwir diesen umfänglichen Antrag vorgelegt. Wir sagen:Moderner Verbraucherschutz kann nicht in sechs Jahrenumgesetzt werden; moderner Verbraucherschutz ist vielumfangreicher. Es gibt noch sehr viel zu tun. Deshalbsollten Sie uns beim modernen Verbraucherschutz unter-stützen!
Einzelne Erfolge, Herr Bleser, haben wir bereits er-reicht. Das sieht man schon, wenn man sich einmal dieZusammensetzung des Ausschusses betrachtet. Vor15 Jahren war der Agrarausschuss eine reine Männerdo-mäne. Jetzt, da der Verbraucherschutz ein stärkeres Ge-wicht bekommen hat, haben wir in diesem Ausschusszumindest eine gute Quotierung. Selbst bei der CDU/CSU hat der moderne Verbraucherschutz das schon be-wirkt.
Uns, Herr Bleser, geht es aber darum, dass er nochmehr wirken soll und in dieser neuen Legislaturperiodenicht zurückgeschraubt wird. Da haben wir schon Sorge.Denn das Erste, was der Bundesminister gemacht hat,ist, dass er den Namen seines Ministeriums geändert hatund den Verbraucherschutz von der ersten auf die letzteStelle degradiert hat. Das ist kontraproduktiv.Unsere Meinung ist, dass ein moderner Verbraucher-schutz an erster Stelle Verbraucherinformation bedeu-tet. Wenn ich mir ansehe, was der Bundesminister beimVerbraucherinformationsgesetz vorhat, dann muss ichsagen: Es enthält zwar ein Recht auf Information, aber esist durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Wenn Sie alleAusnahmen berücksichtigen – man darf nur die Behördefragen und nicht das Unternehmen, man darf nur zu Le-bensmitteln fragen und nicht zu Bedarfsgegenständenund Dienstleistungen und man muss Geschäfts- und Be-triebsgeheimnisse wahren –, dann wissen Sie, dassnichts dabei herauskommt. De facto gibt es so viele Aus-nahmen, dass am Ende vom Verbraucherinformationsge-setz nichts übrig bleibt. Das ist schade. Die Verbraucherhaben ein gutes Verbraucherinformationsgesetz nötig.
Der zweite Punkt ist, dass eine moderne Verbraucher-schutzpolitik auch Wahlfreiheit umfasst. Wahlfreiheitheißt zum Beispiel auf dem Gebiet der Gentechnik, dassbeachtet werden sollte, dass 75 Prozent der Bevölkerungin diesem Land gentechnikfreie Lebensmittel wollen.Aber was Sie in der Koalitionsvereinbarung festgelegthaben, wird dazu führen, dass diese Wahlfreiheit immermehr ausgehöhlt wird. Deshalb brauchen wir in einer
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Bärbel Höhnmodernen Verbraucherschutzpolitik eben auch mehr In-formationen und mehr Wahlfreiheit.Drittens. Eine moderne Verbraucherpolitik muss auchbedeuten, dass wir bei wirtschaftlichen Fragen mehrVerbraucherschutz erreichen. Ein Beispiel sind die ge-gen hohe Gasrechnungen protestierenden Kunden.Mittlerweile protestieren 500 000 Menschen gegen dieErhöhung der Gaspreise. Sie sagen: „Wir wollen wissen,wie sich die Kosten zusammensetzen. Warum sind diePreise so hoch? Wir können die Kosten nicht aufschlüs-seln.“ Wenn man berücksichtigt, dass die Kosten um25 Prozent, die Gewinne der Unternehmen, zum Bei-spiel von Eon um 85 Prozent gestiegen sind, muss mansagen: Diese Gewinne haben die armen Verbraucher mit-bezahlen müssen.
Gestern gab es eine Nullantwort des StaatssekretärsSchauerte auf die Frage, wie die Bundesregierung die500 000 Menschen, die in diesem Land zu hohe Gas-und Energiepreise zahlen, unterstützen will.Ein letzter Punkt für die letzten zehn Sekunden.Fahrgastrechte bei der Bahn. Jeder – auch Sie, HerrBleser, das sehe ich Ihrem Gesicht an – hat sich schoneinmal darüber geärgert, dass die Leistungen bei derBahn nicht ausreichend waren.
Deshalb geht es darum, die Rechte der Verbraucher, derFahrgäste zu stärken, und zwar auf Grundlage eines ver-brieften Rechts. Man muss einen Rechtsanspruch aufEntschädigung haben und darf nicht auf den Goodwillder Bahn angewiesen sein.Es gibt noch tausend Punkte – ich nenne nur Scoringund RFID –, bei denen es darum geht, den wirtschaftli-chen Verbraucherschutz, die Rechte der Verbraucherin-nen und Verbraucher zu stärken. Sie sind seit 100 Tagenan der Regierung. Wir sehen, dass eine moderne Ver-braucherpolitik anders aussieht. Strengen Sie sich alsoan und machen Sie eine gute Arbeit!Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Uda Heller von der CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Höhn, fast exakt vor einem Jahr ist vonder Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ein Ent-schließungsantrag zum Verbraucherpolitischen Bericht2004 der Bundesregierung vorgelegt worden, also zu ei-ner Zeit, in der Sie, meine sehr geehrten Damen undHerren von Bündnis 90/Die Grünen, regiert haben.Die in diesem Entschließungsantrag formuliertenZiele und Anforderungen an eine wirksame Verbrau-cherpolitik sind in Ihrem jetzigen Antrag wörtlich über-nommen worden. Nicht ein einziger Punkt im Forde-rungskatalog fehlt. Da frage ich mich natürlich: Washaben Sie denn eigentlich in dem verbleibenden halbenJahr bis zur Bundestagswahl, in dem Sie die Regierungs-verantwortung trugen, für den Verbraucherschutz er-reicht?
Was ist denn in diesem Zeitraum in Sachen Verbraucher-schutz tatsächlich bewegt worden, auf einem Terrain,das Sie als ureigenes grünes Claim für sich beanspru-chen?Eines ist richtig: Frau Kollegin Künast hat viele Ver-sprechungen gemacht. Es gab medienwirksame Insze-nierungen und richtig teure Kampagnen. Ich denke dazum Beispiel an die Kampagne „Echt gerecht. Cleverkaufen“, von der man nichts mehr hört. Diese Aktion hatin den Jahren 2004 und 2005 insgesamt über1,9 Millionen Euro gekostet. Das waren Ausgaben, dieden Steuerzahler belastet und dem Verbraucher schlicht-weg nichts gebracht haben.
Auch an die pressewirksamen Angriffe auf BahnchefMehdorn erinnern wir uns alle noch recht gut. Dem-gegenüber lassen wir zurzeit von einem Bund-Länder-Arbeitskreis prüfen, wie und in welchem Umfang wirden zivilrechtlichen Verbraucherschutz für Bahnkun-den konkret verbessern können.
– Es ist ein zu Recht angerissenes Thema. Das, was Siebetrieben haben, könnte man auch als Themenhoppingbezeichnen.
Aus Sicht des Verbrauchers muss der Verbraucher-schutz angepackt und vor allen Dingen verbessert wer-den. Die neue Bundesregierung hat ihn als einen festenBestandteil im Koalitionsvertrag verankert. Ich denke,das ist wichtig und nicht der Name.
Bundesminister Seehofer hat in den vergangenen Wo-chen und Monaten erfolgreich unter Beweis gestellt,dass er mit großem Geschick Krisen wie den Gammel-fleischskandal oder die Vogelgrippe bewältigen kann.Er handelte besonnen, schnell, effektiv und verantwor-tungsbewusst und ohne den Anspruch, in den MedienAlleinunterhalter zu sein.
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Uda Carmen Freia HellerEr hat die Kompetenzprobleme und den dringendenHandlungsbedarf, der sich aus den Seuchen wie im aku-ten Fall der Vogelgrippe ergeben hat, klar aufgezeigt.Hätte man das nicht auch schon bei früheren Seuchenwie den BSE-Skandalen so klar erkennen und in Angriffnehmen können?Auch in Fragen der Verbraucherpolitik sucht MinisterSeehofer den Dialog mit allen Akteuren, nicht die Kon-frontation.
Das zahlt sich aus, war aber in der Vergangenheit leidernicht der Fall. So ist es ihm gelungen, in den wenigenMonaten seiner Amtszeit einige wichtige Dinge auf denWeg zu bringen, zum Beispiel das Zehnpunkteprogrammals Konsequenz aus dem Gammelfleischskandal
und – ganz aktuell – den Entwurf des Verbraucherinfor-mationsgesetzes, welches schlank, effizient und ausge-wogen ist und – ganz wichtig – auch von der Wirtschaftakzeptiert wird. Das ist ein bedeutender Aspekt; dennauch die Wirtschaft müssen wir ins Boot holen.
– Im Gegensatz zu Ihnen, sehr verehrte Frau Kollegin,hat Minister Seehofer es sehr schnell geschafft, die Kon-ferenz der Agrarminister der Bundesländer ähnlich derturnusmäßig in Brüssel stattfindenden EU-Agrarminis-terkonferenz zu einer regelmäßigen Einrichtung werdenzu lassen,
getreu dem Motto: Dialog statt Konfrontation.
Dies ist meiner Ansicht nach der richtige Weg. Nur solassen sich anstehende Probleme frühzeitig erkennenund Verbraucherschutzfragen nachhaltig lösen.
Gerne stelle ich nun die Position der Union heraus:Verbraucherpolitik legitimiert sich für uns allein aus derTatsache, dass die Verbraucher als Marktteilnehmer ineiner deutlich schwächeren Position als die Anbieter vonProdukten und Dienstleistungen sind. Diese Unterle-genheit der Konsumenten zeigt sich auch daran, dassder einzelne Verbraucher oft Probleme hat, die ihm zu-stehenden Ansprüche im konkreten Fall durchzusetzen,zumal die Anbieter die üblichen allgemeinen Geschäfts-bedingungen regelmäßig einseitig zu ihren Gunsten aus-gestalten. Ich denke, in dieser Analyse herrscht unter unsallen Einigkeit.Allerdings unterscheiden wir uns deutlich in denKonsequenzen, die wir aus dieser Tatsache ziehen. Fürdie Union gilt, dass wir die Gesundheit, die Sicherheitund die wirtschaftlichen Interessen und Rechte der Ver-braucher schützen müssen. Dabei legen wir das Leitbilddes mündigen Verbrauchers zugrunde. Das ist, wie ichfinde, eine ganz wichtige Aussage.Die Union wehrt sich strikt dagegen, den Verbraucherin irgendeiner Weise zu bevormunden und ihm mit mo-ralisch erhobenem Zeigefinger zu sagen, was er gefäl-ligst zu tun oder zu lassen hat.
Damit erteilt die Union einer ideologisch geprägten Ver-braucherlenkung eine klare Absage.
Unserer Ansicht nach geht der Konsument souveränmit Produkten und Dienstleistungen um, nicht zuletztauch aufgrund der offenen und vielfältigen Informa-tionsangebote seitens der Wirtschaft. Neutrale Institutio-nen wie die „Stiftung Warentest“ bieten Waren undDienstleistungen als Entscheidungshilfen an. Das Zielbesteht darin, transparente Informationen über denMarkt anzubieten, damit die Verbraucher bewusst undselbstständig ihre Konsumentscheidung treffen können.Neben den gesetzlichen Regelungen ist auch weiter-hin eine gute Verbraucheraufklärung notwendig, da-mit die Verbraucher auf Grundlage einer soliden Infor-mationspolitik sachgerecht entscheiden können. Daherkommt einer unabhängigen Verbraucherberatung einezentrale Bedeutung zu.
– Sie müssen mir zuhören, Herr Kollege. Ich habe ge-sagt, dass einer unabhängigen Verbraucherberatung einezentrale Bedeutung zukommt.Mit einer schlagkräftigen Verbraucherberatung aufBundes- und Landesebene kann der Konsument den An-bietern auf gleicher Augenhöhe begegnen. Dann wird erauch ernst genommen.
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– Die Verbraucherberatungen sind gut ausgestattet. InSachsen-Anhalt sind sie sogar am besten ausgestattet,verehrte Kollegin.Gleichermaßen sind beim Thema Verbraucherschutzdie Eigeninitiative und die Selbstverpflichtung der Wirt-schaft zu respektieren und zu unterstützen. Für uns Poli-tiker stellt sich die Frage: Wie können wir die Macht derVerbraucher stärken? Mit dem am 6. März 2006 vorge-legten Entwurf eines Verbraucherinformationsgeset-zes wird der berechtigten Forderung nach einer gesetzli-chen Verankerung der Rechte der Bürger Rechnunggetragen. Unbestritten haben die Verbraucher diesbezüg-lich noch Bedarf an zusätzlichen Informationen; dennimmer wieder erschüttern Lebensmittelskandale das Ver-trauen der Verbraucher. Was täglich auf unseren Tischkommt, soll aber gesund und sicher sein. Nur, was nüt-zen gute Verbraucherstandards, wenn sie den meistenBürgern unbekannt oder rechtlich nicht durchsetzbarsind?Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist ein weitererSchritt hin zu einer verbesserten Verbraucherinformationund zu mehr Markttransparenz getan.
Nach zähem Ringen mit den Ländern und der Wirtschaftum einen Konsens über die Ausgestaltung des Verbrau-cherinformationsgesetzes soll dieses jetzt möglichstschnell auf den Weg gebracht werden. Durch eine deutli-che Ausweitung der Befugnisse der Behörden, von sichaus die Öffentlichkeit zu informieren und bei SkandalenRoss und Reiter zu benennen, wird so mancher Produ-zent oder Händler sich hoffentlich dreimal überlegen,umetikettiertes Gammelfleisch in die Regale zu legen.Aus der bisherigen Kannvorschrift im Gesetzentwurf isteine Sollvorschrift gemacht worden. Das bedeutet einenParadigmenwechsel, hin zum Grundsatz der Aktenöf-fentlichkeit.
Trotzdem wird dem Schutz von Betriebs- und Geschäfts-geheimnissen und der Rechte Dritter noch ausreichendRechnung getragen.
Wie Sie der Antwort der Bundesregierung – Druck-sache 16/777 – auf Ihre Anfrage zu den Schwerpunktendes Verbraucherschutzes deutlich entnehmen können,streben wir eine stärkere Patientenorientierung des Ge-sundheitswesens an. Geplant ist unter anderem, Patien-tenvertretern mehr Mitspracherechte in den verschiede-nen Gremien des Gesundheitssystems zu geben.
Grundsätzlich vertrauen wir auf die gestaltende Funktionder Verbraucherpolitik in einem fairen Wettbewerb:Wettbewerbspolitik ist die effektivste Form der Verbrau-cherpolitik, insbesondere dann, wenn der Verbraucherdie Wahl zwischen vielen Alternativen hat.
Frau Kollegin Heller, denken Sie bitte an die Zeit.
Das betrifft besonders die Bereiche Energieversor-
gung, Telekommunikation, Briefdienst und Personenver-
kehr auf der Schiene.
100 Tage nach dem Regierungswechsel können wir
bereits eine sehr positive Bilanz vorweisen: Handeln
statt reden, Dialog statt Konfrontation.
Von diesen Grundsätzen lassen wir uns leiten und wir
sind damit auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Goldmann von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ihnen liegen zwei Anträge vor, die nach mei-ner Auffassung von völlig unterschiedlichen Gesell-schaftsbildern ausgehen. Mit dem einen Antrag soll sehrviel geregelt und legitimiert werden; im Grunde genom-men wird der Staat an die erste Stelle gestellt. Das ist derAntrag von Ihnen, von Bündnis 90/Die Grünen. FrauHöhn, da muss man natürlich schon sagen: Wenn jemandnach so vielen Jahren Regierungsverantwortung einenAntrag vorlegt, in dem 26 Punkte enthalten sind, die neugeordnet werden müssen, dann fragt man sich schon:Was haben Sie bis jetzt eigentlich gemacht?
Vieles ist nett formuliert in Ihrem Antrag, aber imGrunde genommen geht es in ihm immer darum, mehrGeld auszugeben, mehr zu bevormunden, kurz: Es gehtum mehr Staat. Das ist nicht unsere Welt. Deswegen binich froh, dass Frau Heller unseren Antrag so positiv ge-sehen hat, dass sie über ihn eigentlich gar nichts gesagthat.
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Hans-Michael GoldmannLiebe Frau Heller, ich nehme an, dass wir dann davonausgehen können, dass Sie unserem Antrag im Aus-schuss mit vollem Herzen zustimmen,
wie Sie das ja vor der Regierungsteilübernahme immergetan haben.
Frau Heller, wir sind sehr gespannt darauf, wie Sie sichim Ausschuss verhalten.Lassen Sie mich nun etwas zu dem Antrag sagen, denwir einbringen. Ich schaue mir immer gerne die Über-schriften an: Wir sind dafür, dass Verbraucherschutz ineiner Marktwirtschaft einen hohen Stellenwert hat.
Das ist völlig klar, weil guter Verbraucherschutz eine zu-sätzliche Chance für die Marktwirtschaft und für die Un-ternehmen bietet. Deswegen, Frau Höhn, wollen wir dieDinge klug einbinden. Wir wollen die Dinge mit derWirtschaft zusammen machen, weil wir davon überzeugtsind, dass guter Verbraucherschutz nur in dem Miteinan-der von Unternehmen und Gesellschaft – sprich: auchdenjenigen, die die Gesetze machen – zu leisten ist.
Sie können an dieser Stelle ruhig einmal auf etwasGutes verweisen: Die Plattform „Ernährung und Bewe-gung“ ist eigentlich ein klassisches Beispiel dafür, wieman die Dinge zusammenführt.
Die Wirtschaft ist dabei und die Krankenversicherungensind auch dabei. – Ja, Frau Höhn, ich habe mich ja auchdarüber gefreut, dass ich da mitarbeiten darf; das istüberhaupt keine Frage. Ich habe mich allerdings darübergeärgert, dass bis jetzt nichts dabei herausgekommen ist.Das müssen wir leider auch feststellen.
– Ja, das stimmt, bei Ihnen funktioniert das nur selten.
Wir wollen sicherstellen, dass es mündige und aufge-klärte Verbraucher gibt. Wir wollen den Verbraucher-schutz in die Bildung einbinden. Wir wollen, dass dieMenschen die nötigen Informationen haben, um sichfrei so zu entscheiden, wie das kluge Verbraucher tunkönnen. Das ist das, was auch Sie ansprechen. Deswe-gen setzen wir auf Bildung und Information und nichtdarauf, bestimmte Dinge zu diskriminieren. Wir tretendafür ein, dass eine kluge und gute Informationspolitik,die von der Wirtschaft getragen und durchaus auch vonder Gesellschaft begleitet werden kann, dazu führt, einenmündigen und aufgeklärten Verbraucher zu haben,
der sich dann mit dem vorhandenen Kenntnisstand ent-scheidet.Wir sagen auch klar Ja zur Werbung. Wir halten garnichts von der Idee, jede Form von Werbung zu diskri-minieren und schlecht zu machen. Wir sind dafür, dassein gutes Unternehmen für sein gutes Produkt gut wer-ben kann und dass sich dieses Unternehmen damit auchMarktanteile erschließen kann.
– Überlassen Sie doch dem Verbraucher die Entschei-dung.
Wir reden immer vom mündigen Wähler und Bürger undtun gerade so, als ob es in Deutschland in allen Berei-chen nur noch eine Bildungskatastrophe gibt.
Das ist doch nicht so. Wir haben auch in den Geschäftengute Fachkräfte.
Lasst den Kunden doch auch die Fachkraft in Anspruchnehmen. Die Fachkraft hat dann die Chance, ihr Wissenan den Kunden heranzubringen.
– Frau Höhn, in diesem Wettbewerb miteinander werdenFachgeschäfte eine Überlebenschance haben.
– Liebe Frau Höhn, wir führen zu Hause ein Fachge-schäft und ich kann Ihnen sagen, dass wir über dieSchiene der Fachinformation, über die Schiene der Kun-denbegleitung, über die Schiene der guten Werbung undüber die Schiene der Bildung und Information durchausim Markt sind. Allerdings gibt es in der Nachbarschaftauch Betriebe, die relativ wenig für die Kundenaufklä-rung tun.
Lassen Sie uns deswegen doch gemeinsam dafür sorgen,dass die, die uns am Herzen liegen, die Arbeitsplätzeschaffen und sichern, im Markt bleiben.
Lassen Sie mich noch eines zur Kennzeichnung sa-gen, weil Sie uns hier auch immer Unrecht tun. Wir sindfür eine klare Kennzeichnung. Wir sind aber nicht dafür,
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Hans-Michael Goldmannetwas auszuschließen. Wir wissen, dass die Menschen inDeutschland zum überwiegenden Teil noch keine gen-technisch veränderten Produkte wollen. Lassen Sie unsaber doch in den Wettbewerb der gentechnisch veränder-ten Produkte mit den traditionellen Produkten eintreten.Lassen Sie uns für diese Schiene werben und lassen Sieuns den Menschen ehrlich gegenübertreten. Sagen Sienicht Nein zur Grünen Gentechnik, wann immer es Ih-nen passt, während Sie gleichzeitig Ja zum Impfen aufder Basis von gentechnisch verändertem Impfstoff sa-gen. Frau Höhn, das ist nicht miteinander in Einklang zubringen und das ist zu kritisieren.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Verbraucher-informationsgesetz sagen. Wir werden das Verbraucher-informationsgesetz auf den Prüfstand stellen. Ich denke,das müssen wir auch.
Ich sage auch hier: Seien Sie froh, dass die FDP diesenTeil im Vermittlungsausschuss verhindert hat, sonst hät-ten Sie heute nämlich gar kein Verbraucherinformations-gesetz mehr auf den Weg bringen können.
Ihre lieben Mitstreiter von der CDU – ich denke da anmeine geschätzte Kollegin Ulla Heinen – waren damalseigentlich dafür, das beim Futtermittelgesetz und beimLebensmittelgesetz eben mal holterdiepolter über dieBühne gehen zu lassen.Ich will Ihnen aber auch ganz deutlich sagen, liebeFrau Heller: So doll ist das mit den Leistungen vonHerrn Seehofer nicht. Lassen Sie also die Kirche einmalim Dorf.
Jetzt liegt zum ersten Mal ein wirkliches Gesetz vor.Beim Zehnpunkteprogramm sind wir meilenweit vonLösungen entfernt und bei der Vogelgrippe haben wir esauch mit einem Versagen zu tun,
das auch bei dem Herrn Minister liegt. Das wollte ichzum Schluss doch noch einmal sagen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Goldmann, es ist ja schön, wenn Sie von Ehrlich-
keit reden. In den letzten Ausschusssitzungen hätte ich
mir mehr davon gewünscht.
Die Vogelgrippe und das Gammelfleisch, die einge-
knickten Strommasten als Ausdruck mangelnder Versor-
gungssicherheit im Strombereich, der preistreibende
Wettbewerbsrahmen auf dem Gasmarkt, die fehlende
Transparenz bei Telefonmehrwertdiensten – also bei die-
sen miesen Geschäften mit den 0190er-Nummern – und
unfaire Verträge von Lebensversicherungen haben für
Schreckensmeldungen und Schlagzeilen gesorgt.
Frau Kollegin Rawert, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Goldmann?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
Sie erlauben also keine Zwischenfrage.
Diese haben den Blick auf Missstände und Skandaleim Verbraucherschutzbereich offen gelegt. Diese Schre-ckensmeldungen haben vielfache Ursachen, aber immerein Ergebnis: Sie tragen zur Verunsicherung der Ver-braucherinnen und Verbraucher bei. Sie untergraben dasVertrauen in ganze Wirtschaftszweige und verlangendringend nach effektiven politischen Rahmensetzungen.Frau Kollegin Heller hat hierzu einige Ausführungen ge-macht.Wir reagieren hierauf je nach politischem Standort.Die Oppositionsfraktionen des Bündnisses 90/Die Grü-nen und der FDP haben heute Anträge dazu vorgelegt.Diese Anträge enthalten eine sehr lange Liste von Forde-rungen, die wir selbstverständlich zur Kenntnis nehmen.Wir, die Regierungsfraktionen und unsere Regierung,haben im Gefolge des Gammelfleischskandals mit einemZehnpunktekatalog die angemessenen Schutz- und Prä-ventivmaßnahmen schnell und kompetent getroffen undsind damit auf dem richtigen Weg der Fortführung einermodernen Verbraucher- und Verbraucherinnenpolitik.
Wir orientieren uns am Leitbild der selbstbestimmtenund informierten Verbraucherin; Gleiches gilt selbstver-ständlich auch für die Männer. Dennoch reicht dies nichtaus; denn nicht nur Orientierung ist gefragt, sondernauch Taten. Als neue Parlamentarierin habe ich manch-mal den Eindruck, dass Verbraucherschutzpolitik immernoch eher – jetzt schaue ich ganz gezielt nach rechts – alsnachsorgende Politik einer Reparatur des ökonomischen
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Mechthild RawertWildwuchses angesehen wird und nicht als selbstver-ständlicher, integrierter und integraler Teil von Wirt-schafts- und Wettbewerbspolitik.
Herr Goldmann, Sie hatten vorhin angemerkt, dassman Ihren Antrag möglicherweise nicht gelesen habe. InIhrem Antrag steht:In einer sozialen Marktwirtschaft hat der Schutz derVerbraucher seinen festen Platz. Es kann aber nichtangehen, dass die Marktwirtschaft durch vermeint-lich gut gemeinte Überregulierung zum Schutz derVerbraucher gelähmt wird.Hier geht es nicht um Sozialarbeit. Hier geht es um Poli-tik, und zwar um Querschnittspolitik.
Ich will das am Beispiel der EU-Dienstleistungs-richtlinie deutlich machen. Wir alle wissen, wie umstrit-ten diese Richtlinie ist und war. Meines Erachtens ist derGrund dafür, dass der Entwurf der Kommission genaudie Wettbewerbspolitik befördern will, die vom Modellder modernen Marktwirtschaft weit entfernt ist. Verbrau-cherinnen und Verbraucher müssen die Wahlmöglichkeitohne großen Informationsaufwand haben. Dies geht nurüber Qualität, Leistung und Kosten.Mit den Regeln des Herkunftslands der Dienstleisterwäre diese Grundvoraussetzung für verbraucherfreundli-ches Wirtschaften nicht machbar gewesen. Daher bin ichebenso wie viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnenfroh, dass das Herkunftslandprinzip durch das Europäi-sche Parlament am 16. Februar gekippt wurde.
Hierzu haben die Proteste und Demonstrationen der Ge-werkschaften wesentlich beigetragen.Ich verweise auch auf die klarstellende Antwort aufmein Schreiben an Herrn Bundesminister Seehofer, diemich just heute erreichte. Darin wird versichert, dass derAusschluss vertraglicher und außervertraglicher Schuld-verhältnisse aus dem Anwendungsbereich dieser Richtli-nie bedeutet, dass der Verbraucher in jedem Fall in denGenuss des Schutzes kommt, den ihm das geltende Ver-braucherschutzrecht in seinem Mitgliedstaat gewährt. –Weil Herr Schäffler vorhin die geschlechtergerechteSprache erwähnt hat, gilt diese Klarstellung selbstver-ständlich auch für Verbraucherinnen. Wichtig ist es, zusagen, dass das Ziellandprinzip eine wesentliche Rollegespielt hat.Wir werden den Prozess der EU-Dienstleistungsricht-linie aktiv begleiten; denn wir wissen: Effizienter Lohn-,Sozial- und Verbraucherschutz sind integraler Bestand-teil einer Öffnung des Dienstleistungsmarktes. Danachhandeln wir. Grundsätzlich sind wir der Meinung, dassdie EU-Kommission ansonsten sehr zukunftsorientierteund innovative Themen auflegt. Erwähnt wurden hierschon alle Maßnahmen des Grünbuches zur Prävention.Dieses Grünbuch ist ein gutes Beispiel dafür, wie mo-derne Verbraucherinnen- und Verbraucherpolitik in ef-fektiver Zusammenarbeit auf nationaler und europäi-scher Ebene aussehen kann.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Goldmann.
Liebe Kollegin Rawert, ich kann mich nicht erinnern,dass Sie in der letzten Ausschusssitzung etwas gesagthaben.
Insofern ist es relativ angriffsfreudig, jemand anderemvorzuwerfen, er habe die Unwahrheit gesagt. Das müss-ten Sie schon belegen.Ich darf Ihnen die Themen noch einmal in Erinnerungrufen: Schweinepest, Geflügelpest und die Problematikdes verdorbenen Wildfleischs aus Bayern. Wir könnenuns gerne noch einmal darüber austauschen. Es wäre in-teressant, zu wissen, an welcher Stelle Sie mir Unehr-lichkeit oder Unwahrhaftigkeit vorwerfen.Wenn Sie darauf anspielen, dass ich meiner Meinungnach sehr interessiert danach gefragt habe, wie die Wild-geflügelverordnung umgesetzt werden soll, dann darfich Sie darauf hinweisen, dass es in der Presse heute eineBerichterstattungsflut zu der Frage gibt, wie zukünftigmit Katzen umzugehen ist, die eingesperrt werden müs-sen. Ich bin froh darüber, dass auch Landesminister er-klärt haben, dass sich die Jäger nach wie vor an die gutejagdliche Praxis zu halten haben und Katzen nicht ein-fach abschießen dürfen. Ich finde, es tut den Jägern gut,dass die Position klar ist, und es tut auch den Halterngut.
– Das tut auch den Katzen gut.
– Jetzt auch noch Sie, Frau Höhn!
– Lassen wir das doch. Wir sollten wieder so miteinan-der umgehen, wie wir das auch sonst machen.
Sie sind sicherlich viel in Berlin unterwegs. BesuchenSie doch einmal die Tierheime und erkundigen Sie sich,wie viele Katzen in der letzten Woche dort abgegebenworden sind! Es gibt ein hohes Maß an Verunsicherung.
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Hans-Michael GoldmannIch denke, dass man im Ausschuss die Aufgabe hat,nachzufragen.
Denken Sie an Ihre Redezeit.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Sie er-
innern sich möglicherweise daran, dass ich über die De-
finition des Verdachtsfalls geredet habe.
Vielleicht sind auch Sie angerufen worden. Es hat einen
Verdachtsfall gegeben. Ein Schwein ist auf dem Trans-
port zu einem Schlachtbetrieb in Südoldenburg zu Tode
gekommen. Die Gesamtladung des Transporters ist
durch Keulung getötet worden. Die Arbeit in der Versand-
schlachterei in Südoldenburg stand fünf Stunden still.
Heute wurde bei uns angefragt, wer die Kosten dafür
trägt. Es ist eine entscheidende Frage, ob es ein Ver-
dachtsfall war, der auf behördliche Anordnung abgewi-
ckelt wurde, oder ob sich sozusagen nur jemand etwas
ausgedacht hat.
Herr Kollege Goldmann.
Insofern bin ich der Meinung, dass Sie zuhören soll-
ten, bevor Sie Vorwürfe erheben.
Herr Kollege Goldmann, die drei Minuten sind abge-
laufen.
Ich bin auch fertig. Danke.
Frau Rawert, wollen Sie etwas erwidern?
Nein, das klären wir so.
Dann erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann von der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Viele der im Antrag der Grünenkonkret genannten Forderungen waren und sind auchForderungen meiner Fraktion. Wir selbst haben bereitsdie Streichung der Ministererlaubnis beantragt. UnsereKritik am Herkunftslandsprinzip der EU-Dienstleis-tungsrichtlinie war unüberhörbar. Ebenso wichtig ist unsdie Forderung nach Unisextarifen bei Versicherungsver-trägen, die Sicherung der Postversorgung im ländlichenRaum und vieles mehr.Allerdings unterscheidet uns, glaube ich, die Sicht aufdie Verbraucherinnen und Verbraucher. Die Linke hatein anderes Grundverständnis von Verbraucherschutzpo-litik: Für uns steht der Mensch als Sozialwesen im Mit-telpunkt, das seinen Mitmenschen, aber auch der Um-welt und den nachfolgenden Generationen verpflichtetist. Dieser Mensch ist aufgrund der Machtverhältnisse inder Marktwirtschaft schutzbedürftig, Herr Goldmann,und zwar als Konsument von Sach- und Dienstleistun-gen, als alltäglicher Vertragspartner und als Adressat vonhoheitlichen Vorschriften, Informationen und behördli-chem Handeln.Historisch gesehen resultiert der Verbraucherschutz-gedanke aus der Erkenntnis, dass wirtschaftliche Macht-unterschiede zwischen Vertragsparteien oft zu Defizitenbeim Interessenausgleich führen.
Mündigkeit und Aufgeklärtheit allein – darauf reduziertes die FDP – ändern noch nichts am Bedarf der Sicher-stellung eines gerechten Interessenausgleichs.
Verbraucherinteressen unterliegen ganz konkreten sozia-len Rahmenbedingungen. Daher fordern wir, dass dieWahrnehmung von Verbraucherrechten nicht von densozialen Lebensbedingungen abhängig sein darf.
Das erfordert unter anderem kostenlose Informationszu-gänge, langfristig gesicherte, kostenfreie und dezentralverfügbare Beratungsstrukturen sowie ein Verbands- undVereinsklagerecht, das es auch den Armen ermöglicht,ihre Rechte wahrzunehmen.
Rot-Grün hat unbestritten das Verdienst, Fragen desVerbraucherschutzes politisch aufgegriffen und die Sen-sibilität dafür verstärkt zu haben. Das war und bleibtrichtig. Allerdings fordern wir zum Beispiel einen Infor-mationsanspruch statt einer elitären Informationsgewäh-rung. Diese unterschiedliche Sichtweise zeigte sichkürzlich bei § 28 a des Gentechnikgesetzes, den wir alseinzige Fraktion abgelehnt haben, weil er eben keinenAnspruch auf Informationen sichert, erst recht keinenumfassenden.
So ganz freiwillig war aber auch die Neuorientierunghin zu mehr Verbraucherschutz nicht. Erst die BSE-Krise hat den Stein richtig ins Rollen gebracht. Ob ausden damaligen Analysen wirklich die richtigen Schluss-folgerungen gezogen wurden, muss angesichts immerneuerer Skandale hinterfragt werden. Bei den damalsneu gegründeten Bundesämtern, dem BVL und demBfR, wurden immerhin die personellen Voraussetzungengeschaffen, um den neuen Anforderungen gerecht zu wer-den. Das muss nun für den Bereich der Risikobewertung
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Dr. Kirsten Tackmannbei Infektionskrankheiten von Tieren im Friedrich-Loeffler-Institut dringend nachgeholt werden. Hier mussdie Bundesregierung endlich die richtigen Schlussfolge-rungen aus den vergangenen Wochen ziehen.Werden andererseits die Bewertungen der politikbe-ratenden Bundesforschungseinrichtungen von den Ent-scheidungsträgern ernst genug genommen? War bei-spielsweise die Entscheidung zugunsten niedrigererAltersgrenzen bei BSE-Untersuchungen – das soll nunkorrigiert werden – wirklich wissenschaftlich begrün-det? Warum reagiert die Bundesregierung so zögerlichauf den Nachweis der Druckerchemikalie ITX in Geträn-ken, obwohl das BfR feststellt, dass „die zum Teil hohenRückstände … aus Sicht der Risikobewertung nichtakzeptabel“ sind? Warum wird hingenommen, dass dieIndustrie die zur Bewertung notwendigen Daten erst2010 bzw. 2015 vorlegen will, obwohl das BfR das be-anstandet hat?Allein diese Fragen zeigen, wie wichtig das Anliegender vorliegenden Anträge ist. Aber über die Umsetzungwerden wir uns noch streiten müssen.Recht herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elvira Drobinski-
Weiß von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Sagt den Leuten nicht, wie gut Ihr die Güter macht,sagt ihnen, wie gut Eure Güter sie machen.Das ist ein Zitat eines amerikanischen Werbefachmannsnamens Leo Burnett. Es verdeutlicht auf einfache Weiseden Unterschied zwischen Verbraucherinformation undWerbung. Den informierten Verbraucher fordern alle indiesem Haus. Aber wer informiert ihn in welcher Formund worüber? Hier stehen auch die Anbieter in der Ver-antwortung, die schließlich ihre Ware an den Mann bzw.an die Frau bringen wollen.
Auf unserem Markt, auf dem es an nichts mangelt,sind die Produkte angesichts des reichhaltigen Angebotsschwer zu unterscheiden.
Deshalb sind Informationen über Produkte für die Kauf-entscheidung der Verbraucherinnen und Verbraucherwichtig. Sie können ein echter Wettbewerbsvorteil sein,
wenn die Kunden ihre Wahl nicht ausschließlich nachdem Preis oder der besseren Werbung, sondern nach derQualität treffen.
Unser Leitbild ist der mündige Verbraucher, der ei-genverantwortlich und bewusst am Marktgeschehen teil-nimmt und dadurch den Markt mitgestaltet.
Die aktive Verbraucherpolitik, für die wir stehen, be-schränkt sich nicht allein auf den Schutz der Verbrauche-rinnen und Verbraucher. Vielmehr wollen wir die Nach-frageseite des Marktes als gestaltende Kraft stärken, dieauch qualitative Ziele des Umwelt- und des Gesund-heitsschutzes sowie Produktinnovationen und Qualitäts-verbesserungen im Marktgeschehen verankert.
Wir wollen, dass die Menschen nachhaltig konsumie-ren können, das heißt, dass sie ihre Möglichkeiten nut-zen, durch bewusste Kaufentscheidungen Verantwortungfür den Wirtschaftsstandort Deutschland zu übernehmen,der am schonenden Umgang mit unseren natürlichenRessourcen, an Gesundheits- und Sozialstandards unddem Erhalt von Arbeitsplätzen festhält und diese nichtfür kurzfristige Gewinne an der Börse opfert.
Dass es bei den Verbrauchern die Bereitschaft gibt,durch bewusste Kaufentscheidungen den Markt mitzu-gestalten, zeigen die enormen Zuwachsraten im Bereichder Ökolebensmittelwirtschaft.
Dort ist inzwischen die Nachfrage größer als das Ange-bot. Wir haben vorletzte Woche darüber diskutiert. Vo-raussetzung für die Bereitschaft der Konsumenten, sichmit der Wahl bestimmter, eventuell auch teurerer Pro-dukte in das Wirtschaftsgeschehen einzumischen, ist al-lerdings, dass für den Käufer der Vorteil dieses Produk-tes erkennbar ist.
Er will und er muss über die Qualität der Produkte infor-miert sein; denn nur dann kann er Produkte unterschei-den und sich bewusst für Qualität entscheiden. Qualitätist nicht nur im Interesse der Verbraucher, sondern auchim Interesse unserer Wirtschaft; denn der weltweiteWettbewerb um Niedrigpreise ist für unsere Wirtschaftnicht zu gewinnen, der Wettbewerb um Qualität schon.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1725
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Elvira Drobinski-WeißVerbraucherpolitik ist Wirtschaftspolitik von derNachfrageseite. Verbraucherinteressen müssen ein inte-graler Bestandteil des politischen Handelns sein. DieWirtschaft muss den Verbrauchern nützen; denn wo derKunde König ist, da kauft er, und das nützt der Wirt-schaft.
Ein funktionierender Wettbewerb erfordert starkeVerbraucherrechte. Ein Gleichgewicht zwischen Anbie-tern und Nachfragern ist für eine moderne und innova-tive Wirtschaft unverzichtbar.
Wir wollen mehr Markttransparenz und Orientierung aufimmer unübersichtlicheren und komplexeren Märkten.Dazu gehört auch, dass wir die unabhängige Verbrau-cherberatung sicherstellen, damit sich Abnehmer undAnbieter auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen.
Die Verbraucherzentralen der Länder und des Bundes-verbandes sowie die Stiftung Warentest sind von zentra-ler Bedeutung für die Beratung und Information der Ver-braucher.Die Anträge der Opposition lehnen wir ab. Die Forde-rungen der Grünen stehen längst auf unserer Agenda.Der Antrag der FDP steckt voller Widersprüche undWortmonstren wie – ich zitiere – „einem staatlich regle-mentierten subsidiären Verbraucherschutz“. Es bleibtunklar, was Sie wollen. Diesen Antrag hätte man diesemHaus wohl besser erspart.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/684 und 16/825 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Keine Wettbewerbsverzerrungen für Land-
wirte durch die Umsetzung der EU-Richtlinie
zur Haltung von Nutztieren in nationales
Recht
– Drucksache 16/590 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hans-Michael Goldmann von der FDP-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Besucher! Es geht hier um Nutztiere.Vielleicht weiß der eine oder andere Besucher nicht, wasein Nutztier ist. Es geht hier konkret um das Halten vonSchweinen mit dem Ziel, sie zu mästen, um mit Schwei-nefleischprodukten zu wirtschaften.
– Wir sind jetzt in der Bildungsphase, Herr Tauss. HörenSie ruhig einmal zu! Das tut Ihnen gut.
Ich weiß wohl, dass dieser Sachverhalt nicht so wahn-sinnig viele Menschen direkt berührt, weil sie nicht wis-sen, welche Problematik dahintersteckt. Wir alle verlan-gen von der Landwirtschaft, dass sie sich am Marktorientiert, dass sie ihr Geld auf dem Markt verdient.Manche beschimpfen die Landwirtschaft und stellen sieals Subventionsempfänger hin. Frau Höhn, Ihre Aus-sage, die heute auf der ersten Seite der „Bild“-Zeitung zulesen ist, ist durchaus richtig. Auch ich bin für Transpa-renz. Aber ich bin entschieden dafür, das, was den Bau-ern gegeben wird, nicht als Subvention im klassischenSinn zu bezeichnen. Vielmehr ist es eine Ausgleichs-hilfe, damit es in Deutschland überhaupt Landwirtschaftgibt.Wenn wir in Deutschland Landwirtschaft haben wol-len, dann muss man den Landwirten eine Chance geben.Die Landwirte selbst sind sehr wohl bereit, ihre Chancezu nutzen. Ich bin davon überzeugt, dass die deutschenLandwirte von der fachlichen Seite her die besten in derWelt sind.
Wir haben hervorragende Strukturbedingungen. Wirsind beim Landmaschinenbau absolute Spitze. Wir habengroßartige Forschungseinrichtungen. Außerdem sind dieklimatischen Bedingungen bei uns vielerorts sehr güns-tig. Wie ich schon sagte, sind die infrastrukturellen unddamit auch die Vermarktungsbedingungen sehr gut. Des-wegen kommt es nicht von ungefähr, dass wir durchausden Weltmarkt erobern. Im letzten Jahr hatten wir in die-sem Bereich einen Zuwachs von 6,5 Prozent.So wie wir alle vom mündigen Verbraucher sprechen,so sollten wir auch den mündigen Produzenten imBlick haben. Warum in drei Teufels Namen muss eineVerordnung der europäischen Ebene – sonst lasten wirsolche Verordnungen sehr schnell den bösen Bürokratenin Europa an – bei uns überholt werden? Warum müssenwir national draufsatteln, wenn wir doch wissen, dass
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1726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
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Hans-Michael Goldmannder Landwirt die Entscheidung darüber, was für das Tier,was für die Produktion und was für den Ertrag gut ist,am besten allein treffen kann? Warum gehen wir diesenWeg auch jetzt noch?
– Frau Höhn, jetzt sind Sie aus dem Geschäft. Ihre Ideewar früher: Immer noch einen draufsatteln und dannmüsste das schon irgendwie klappen. Ihre Erfolge warenja nicht so üppig. Ein Ökoanteil von 2,5 Prozent ist nichtgerade eine glänzende Bilanz.
Alle, die im Bereich der Landwirtschaft tätig sind, sa-gen Ihnen: Die Landwirte haben darunter gelitten, dassdiese Vorgabe überholt wurde. Was machen Sie, liebeFreunde von CDU/CSU und SPD? Sie machen genausoweiter. Das ist mir völlig unverständlich.Irgendwie ist man manchmal betroffen. Als FrauMerkel hier vor einiger Zeit einmal sagte, ich bin fürSachlichkeit und Fachlichkeit, da habe ich gedacht: Dasist die richtige Frau, sie sollte unser Land führen; wirmachen das mit.
In Ihrer Koalitionsvereinbarung steht – die trägst auchdu mit, Kollege Zöllmer –, man wolle diese EU-Verord-nung eins zu eins umsetzen. Daher haben die Menschengeglaubt, sie werde eins zu eins umgesetzt. Was passiertjetzt? Es wird draufgesattelt. Es ist zu viel und es gefähr-det die Existenz unserer Betriebe.
Der Kollege Priesmeier hat gesagt: Irgendwannkommt von der europäischen Ebene möglicherweiseeine Verordnung, die über die bisherige hinausgeht. Mankann das Vorgehen der Koalition daher als vorauseilen-den Gehorsam interpretieren. Warum eigentlich voraus-eilender Gehorsam? Warum überlässt man die Entschei-dung nicht denjenigen, die es genau wissen? Wer meint,er müsse über die Eins-zu-eins-Umsetzung hinausge-hen, der sollte das tun. Für denjenigen, der sich auf deminternationalen Markt bewähren muss, ist eine Eins-zu-eins-Umsetzung völlig ausreichend, weil er den Wettbe-werb mit den Niederländern, mit den Dänen und mit denFranzosen sonst verliert. Genau das wird passieren,wenn Sie die Schweinehaltungsverordnung nicht eins zueins in nationales Recht umsetzen.
Ich möchte noch etwas zu den vorhin angesprochenenErfolgen sagen. Im Agrarbereich ist bis jetzt ein einzigerErfolg erzielt worden: Wir sind, was das BSE-Testalterangeht, endlich vernünftig geworden.
Dafür ist aber nicht Herr Seehofer verantwortlich; viel-mehr haben wir, die FDP, gedrängt und gedrängt und ge-drängt und gedrängt.
– Frau Kollegin Rawert, Vorsicht! Ich hatte schon vorhinden Eindruck, dass Sie nicht gut zuhören. Jetzt habe ichauch noch den Eindruck, dass Sie die Fachpresse nichtlesen. Wenn Sie die Fachpresse läsen, wüssten Sie, dassdie FDP für ihren mutigen Einsatz in dieser Frage nach-haltig unterstützt worden ist.
– Glauben Sie mir: Unsere Fleischwirtschaft, unsere Be-triebe sind in diesem Fall der FDP und den Länderland-wirtschaftsministern dankbar; die haben nämlich HerrnSeehofer zur Vernunft gebracht. Jetzt testen wir so, wiein Europa getestet wird, und belügen die Verbrauchernicht, indem wir sagen, dass das Rindfleisch, was aufdem deutschen Markt ist, irgendwie besonders getestetist, weil Deutschland anders als andere Länder auch beinoch jüngeren Tieren testet.
In diesem Fall war es gut. Seien Sie vernünftig! Ma-chen Sie eine Eins-zu-eins-Umsetzung! Dann könnenwir agrarpolitische Freunde werden.
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Röring von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!Jahrhundertelang wurden in Deutschland Tiere gehal-ten – ohne Tierhaltungsverordnung.
Man hat den Menschen ganz einfach zugetraut, mit ihrenTieren, mit ihrem Vieh verantwortungsvoll umzugehen.Dieser Bereich ist heute wie fast alle Bereiche natürlichgenauestens geregelt. Da die Landwirtschaft in Europawie kein anderer Wirtschaftszweig vergemeinschaftlichtist, übernimmt dies natürlich die Europäische Union.Dies geschieht dann durch Richtlinien und Verordnun-gen, die sie erlässt.Die Änderung der EU-Richtlinie zur Haltung vonNutztieren vom 9. November 2001 muss in Deutschlanddringend umgesetzt werden, da wir sonst hohe Strafzah-lungen leisten müssten.
Die vorherige Verbraucherschutzministerin Künast hatmehrere Anläufe unternommen – glücklicherweise ver-geblich –, die Vorgaben aus Brüssel umzusetzen. Hierbeihat sie völlig überzogen und versucht, die Vorgaben der
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Johannes RöringEU in einer Weise zu verschärfen, die der deutschenLand- und Agrarwirtschaft großen Schaden zugefügthätte.
– Moment, Herr Goldmann! – Die 26 Millionen Schwei-ne, gehalten von 91 000 verantwortungsvollen Bäuerin-nen und Bauern, haben nämlich in dieser Zeit der Nicht-umsetzung in Form einer Schweinehaltungsverordnungnicht gelitten. Sie haben keinen Schaden genommen. Siesind nicht gequält worden. Sie haben sich wohl gefühlt.
Tierhaltung ist keine starre Angelegenheit; Tierhal-tung wird ständig fortentwickelt. So ist es in den letztenJahrzehnten gelungen, durch ein sehr gutes Zusammen-arbeiten von Praxis, Wirtschaft und Wissenschaft dieSchweinehaltung in Deutschland auf ein weltweit füh-rendes Niveau zu bringen.
Nur ein kleines Beispiel für die Innovationsfähigkeitder Branche in der landwirtschaftlichen Tierhaltungmöchte ich Ihnen geben: Die tierischen Leistungen inunseren Haltungssystemen haben sich enorm verbessert.Waren für die Erzeugung von 1 Kilogramm Schweine-fleisch in früheren Jahren – in Teilen Osteuropas trifftdas noch heute zu – etwa 6 bis 7 Kilogramm Futter not-wendig, haben es die Tierhalter geschafft, dass heute mitetwa 2,7 Kilogramm Futter 1 Kilogramm hochwertigesSchweinefleisch erzeugt wird.Das hört sich einfach an, ist aber ein Beispiel mit gra-vierenden Auswirkungen. Wenn man diese Zahl auf die4,2 Millionen Tonnen Schweinefleisch hochrechnet, diein Deutschland im Jahr erzeugt werden, entspricht daseiner Ersparnis von 18 Millionen Tonnen Getreide. Dasist mehr als ein Drittel der deutschen Getreideproduk-tion. Zu berücksichtigen ist, dass ähnliche Effekte auchbei den anderen Tierarten zu erreichen sind. Da kommtalso noch einiges hinzu.Wenn ich diese Ergebnisse der heutigen zukunftsori-entierten, modernen und innovativen Landwirtschaft,diese gewaltigen Verbesserungen zusammen betrachte,dann muss ich klar sagen: Wenn wir dies nicht geschaffthätten, dann dürften wir zum Beispiel über Biomasseund deren Einsatz zur energetischen Verwertung über-haupt nicht reden. Dann würden nämlich sämtliche Er-träge unserer Ackerflächen für die Tierhaltung benötigt.Wir hätten nicht so große Potenziale, zusätzlich auchnoch Energie und Rohstoffe auf unseren Äckern zu er-zeugen.
Tierhaltung, meine Damen und Herren, ist in der Ver-gangenheit ständig weiterentwickelt worden. Jeder neugebaute Stall ist ein Fortschritt bei der Tierhaltung unddamit für den Tierschutz.
Beheizte und voll klimatisierte Schweineställe verbes-sern nicht nur die Bedingungen für die Tiere, sondernschaffen auch einen für den Tierhalter angenehmen Ar-beitsplatz. Wer möchte da noch zurück zu den Verhält-nissen der guten alten Zeit? Ich nicht, da ich diese Zeitund diese Verhältnisse noch selbst erlebt habe.
– Aber ich habe Erfahrung, Herr Goldmann. – Für dieMilchviehhaltung haben die Tierhalter – übrigens ohnegesetzliche Regelung – völlig neue Haltungsformen ent-wickelt. Die Tiere werden hier nicht mehr den ganzenWinter angekettet, sondern laufen mittlerweile frei he-rum und liegen teilweise sogar auf Wasserbetten.
– Auf Wasserbetten. Sie können das nicht kennen, da Sienicht aus der Praxis kommen.
Kommen wir zurück zu den Schweinen.
Wir diskutieren hier und heute über eine neue Schweine-haltungsverordnung, die den Anforderungen an eine mo-derne Tierhaltung gerecht wird. Sie entspricht den Be-dürfnissen der Tiere, indem sie ihnen mehr Platz undLicht zugesteht, als die Vorgaben der EU vorsehen.
Die Schweinehaltungsverordnung entspricht auch denBedürfnissen des Verbrauchers, denn dieser will – dashat er in vielen Umfragen deutlich bekundet – deutschesSchweinefleisch. Das bekommt er aber nur, wenn dieTierhaltung bei uns im Lande bleibt.
Aktuell wird 90 Prozent unseres Bedarfes mit heimi-schem Schweinefleisch gedeckt.Die Schweinehaltungsverordnung entspricht darüberhinaus den berechtigten Forderungen der Bevölkerungnach Tierschutz. Doch eines ist ebenso klar: Nehmen wirkeine Abwägung zwischen Tierschutz und Wettbe-werbsfähigkeit bei der heimischen Produktion von tieri-schen Nahrungsmitteln vor, besteht die große Gefahr,dass die Erzeugung aus Kostengründen in andere Stand-orte außerhalb Deutschlands verlagert wird.
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Johannes RöringDort hätten wir wenig Einfluss auf den Umgang mit denTieren und wir würden hier bei uns Arbeitsplätze in er-heblichem Maß verlieren.Dies gilt neben Schweinen in besonderem Maße auchfür Legehennen, also für die Erzeugung von Eiern. Hierversorgen wir uns in Deutschland zu 69 Prozent selbst;vor vier Jahren, 2002, waren es noch 74 Prozent. DiesenWarnhinweis sollten wir beachten. Über die zukünftigenHaltungsvorschriften wird auch in diesem Fall schonviel zu lange diskutiert. Lassen Sie uns deshalb dafürSorge tragen, dass wir, wie jetzt bei den Schweinen ge-plant, möglichst schnell die neue Form der Legehennen-haltung beschließen, damit die Landwirtschaft auch indiesem Bereich endlich wieder Planungssicherheit be-kommt.
Wir müssen wissen, dass wir durch zu zögerlichesHandeln nicht nur Arbeitsplätze in der Landwirtschaft,also direkt auf den Bauernhöfen, verlieren, sondern nochweit mehr krisenfeste Arbeitsplätze in den vor- undnachgelagerten Bereichen gefährden, die wir dringendbenötigen und erhalten müssen. Die deutsche Agrarwirt-schaft ist immerhin der viertgrößte Gewerbezweig mit4 Millionen Arbeitsplätzen. Dabei nimmt die Tierhal-tung den größten Anteil ein. Darüber hinaus – das wirdviel zu oft vergessen –, sorgen wir für die Ernährung un-serer 82 Millionen Einwohner, und das fast zu 100 Pro-zent.Abschließend möchte ich noch einmal betonen: DerAntrag der FDP, Herr Goldmann, wurde von der Wirk-lichkeit überholt. Die gute fachliche Praxis auf unserenBauernhöfen ist schon einige Schritte weiter.
Nichts anderes berücksichtigt die unionsgeführte Bun-desregierung in der jetzigen Verordnung. Daher lehnenwir Ihren Antrag ab.
Herr Kollege Röring, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann
von der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste und Besucher! Es ist schon er-staunlich, welche Konjunktur die Schweine in diesen Ta-gen in der Öffentlichkeit haben. Das Schwein ist poli-tisch gesehen sozusagen in aller Munde.
Jetzt geht es also um das Schwein an sich und um ei-nen Verordnungsentwurf, den das Bündnis Tierschutzden Schweinekompromiss nennt und der ein weiteresBeispiel dafür ist, wie im Bund-Länder-Kompetenzge-rangel und politischen Profilierungsdschungel manchwichtiges Anliegen auf der Strecke bleibt.
Es geht in der Bundesrepublik immerhin um knapp27 Millionen Schweine in etwa 90 000 Beständen. Dasheißt, hier geht es unbestritten auch um wirtschaftlicheExistenzen.Die von der FDP als letztes Wort beschworene EU-Richtlinie sollte bis 2003 in nationales Recht umgesetztsein und sieht bereits in zwei Jahren ohnehin eine Revi-sion vor. Angesichts dieser Situation greift nun die FDPin ihr Antragsarchiv 2002 und fordert erneut eine Eins-zu-eins-Umsetzung mit dem Argument der Wettbe-werbsverzerrung.Nun haben solche Argumente ja im Moment Hoch-konjunktur. Standardabbau wird, neben Bürokratieab-bau, zum Generalschlüssel erklärt. Natürlich kann jedervon uns treffliche Beispiele als Beleg dafür nennen.Aber auf einen merkwürdigen Umstand wurden wir neu-lich bei einer Anhörung unserer Fraktion zum Koali-tionsvertrag hingewiesen: In der EU hat man sich sehrschnell auf so absonderliche Standards wie die Krüm-mung der Banane oder die Länge der Gurke einigen kön-nen; nur bei gesellschaftlich wichtigen Standards wieSozial-, Umwelt-, Steuer- oder Tierschutzstandards ver-sagt der politische Wille zur Einigung oft sehr jäh.Aber davon abgesehen: Es muss doch die so liebevollgepflegten politischen Vorurteile mächtig ins Wankenbringen, wenn jetzt ausgerechnet die Fraktion Die Linkedie FDP in diesem Hohen Haus daran erinnern muss,dass in der vorneoliberalen Zeit gerade die hohen Stan-dards den Wirtschaftsstandort Deutschland internationalkonkurrenzfähig gemacht haben. Hohe Löhne könnenwir nur mit hohen Qualitätsstandards sichern.
– Gemach, gemach. – Das hat man mir in der vergange-nen Woche in Neuruppin in einem mittelständischen Un-ternehmen, das Feuerlöscher herstellt, erklärt. Diese ho-hen Qualitätsstandards solle ihnen die Politik unbedingterhalten.
Das sei erfolgreiche Mittelstandpolitik, liebe Kollegin-nen und Kollegen.Aber gut. Fragen wir konkret, welche Regelungendenn in dem vorliegenden Entwurf der Schweinehal-tungsverordnung den Wettbewerb verzerren könnten.Der Entwurf orientiert sich sehr stark an dem Arbeits-
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Dr. Kirsten Tackmannstand im Dezember 2004 und tritt damit gleichzeitigwieder zwei Schritte hinter bereits Erreichtes zurück.An folgenden zweieinhalb Punkten geht der Entwurfder Verordnung in der Tat über Angaben in der EU-Richtlinie hinaus: Er genehmigt den Schweinen 3 Pro-zent Fensterfläche, bei bestimmten Stalltypen 1,5 Pro-zent. Das sind 60 bis 80 Lux Tageslicht – welch einLuxus! – statt 40 Lux Kunstlicht in der EU-Richtlinie.Zum Vergleich: Selbst ein trüber Dezembertag bringt3 000 Lux. Zweitens sollen jedem Mastschwein mit0,75 Quadratmetern 0,1 Quadratmeter mehr Fläche alsin der EU-Richtlinie zugestanden werden.
Außerdem werden fünf Kategorien aufgestellt, die dieEU-Richtlinie nicht enthält, wobei der Sinn von drei die-ser Kategorien kaum bestritten wird. Und das soll denWettbewerb tief greifend verzerren?Wagen wir einmal einen Blick über den Tellerrand:Auch ein Land wie Dänemark, das mit 85 bis 90 ProzentSchweinefleischexport auf den internationalen Märktensehr erfolgreich ist – leider ohne ein Musterland in Sa-chen Tierschutz zu sein –, spendiert seinen Sauen einegrößere Fläche, als in der EU-Richtlinie vorgesehen.
In den Niederlanden trifft das auf Ferkel und Mast-schweine zu.Gönnen wir also den Schweinen etwas mehr als dasEU-Minimum! Standarddumping würde die Marktchan-cen unserer Landwirtschaft nur schwächen.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Was wir heute erleben, ist die Fortsetzung der un-endlichen Geschichte des Herrn Goldmann:
Er begründet einen relativ kurzen Antrag, der aber in derSache relativ unpräzise, in den Grundaussagen falschund daher vollständig überflüssig ist.
Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren, Herr Goldmann:… da das zwangsläufig zum Verlust weitererMarktanteile in der Schweineproduktion … führt.
Ich frage Sie, Herr Goldmann: Wie viele Marktanteilehaben wir denn in den letzten Jahren verloren?
Wenn Sie sich ein bisschen mit Statistik beschäftigenwürden, dann wüssten Sie, dass allein im Zeitraum von1998 bis 2005 die deutsche Schweineproduktion um20 Prozent gestiegen ist,
und zwar auch in Niedersachsen zum überwiegendenTeil auf Grundlage einer Rechtslage, die genau das be-inhaltet, was Bestandteil der jetzt im Bundesrat zur Be-ratung anstehenden Schweinehaltungsverordnung ist.
– Der alte Erlass beinhaltet genau das. Wenn Sie dasnicht glauben, dann darf ich aus der Pressemitteilung desniedersächsischen Landschaftsministers Ehlen zitieren:Seitens der niedersächsischen Schweinehalter istfestzustellen, dass der von der Bundesregierung vor-gelegte Kompromiss für eine nationale Schweine-haltungsverordnung weitestgehend der hiesigenLandesregelung entspricht.
Der Bundesvorschlag beinhaltet Mindestanforde-rungen, die zu Beginn der seit Jahren andauerndenpolitischen Debatte mit landwirtschaftlichen Inte-ressenverbänden, dem Tierschutzbeirat, Veterinär-behörden und Wissenschaftlern beraten bzw. abge-stimmt wurden.Was wollen Sie, Herr Goldmann? Sie wollen aufStandards zurück, die auf Erkenntnissen von 1991 beru-hen. Sie nehmen einfach nicht zur Kenntnis – der HerrKollege hat es Ihnen vorhin bewiesen –, was sich zwi-schenzeitlich in Deutschland in der Schweinehaltung ge-tan hat und welche Fortschritte wir erreicht haben.
Diese Entwicklung ist nicht durch die niedersächsischeErlasslage aufgehalten worden, die genau das wieder-gibt, was wir jetzt in der Schweinehaltungsverordnungim Wesentlichen umsetzen werden.
Herr Kollege Goldmann, wenn es um Wettbewerb,Wettbewerbsfähigkeit und Konkurrenz geht, schauen Siedoch einmal über die Grenze auf die Niederlande. Esgibt nur eine große Region, in der die NiederländerSchweine produzieren. Grundsätzlich gibt es fast diegleichen Voraussetzungen. Aber die niederländischeSchweineproduktion zeichnet sich, was ihre Entwick-lung angeht, durch das genaue Gegenteil aus.
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Dr. Wilhelm Priesmeier
Während bei uns die gesamte Schweineproduktion seit1998 um 750 000 Tonnen zulegte, verringerte sie sich inden Niederlanden um exakt 472 000 Tonnen und damitum 30 Prozent.
Aber Sie reden davon, dass es unter diesen Marktbedin-gungen keine Wettbewerbsgerechtigkeit gibt und dasswir nicht wettbewerbsfähig sind.
Das, lieber Herr Kollege Goldmann, kauft Ihnen dochwirklich keiner ab.
Herr Priesmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Goldmann?
Ja, ich erlaube das immer.
Bitte, Herr Goldmann.
Ich mache es ganz kurz; sonst sind Sie überfordert,
Frau Kollegin.
Lieber Wilhelm Priesmeier, ist dir bekannt, dass die
Niederländer völlig andere Voraussetzungen in ihrem
Staat haben? Sehr viele Menschen leben dort auf relativ
wenigen Quadratkilometern. Deshalb haben die Nieder-
länder mit enormen finanziellen Mitteln ein Modell ent-
wickelt, das es vielen Landwirten ermöglicht, außerhalb
des Landes tätig zu sein. Die niederländischen Land-
wirte betreiben heute im großen Stil Schweinewirtschaft
beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern.
Weil dort die Erlasslage ähnlich ist wie in Niedersach-
sen.
Herr Kollege, Sie müssen mich wenigstens ausreden
lassen. – Ist dir ferner bekannt, dass die Regelungen, die
die Niederländer in ihrer Schweinehaltungsverordnung
getroffen haben, auf Vorgaben der EU beruhen? Wenn
einer mehr machen will, dann kann er es dort tun. Genau
das ist die Grundlage der Vereinbarung in Niedersach-
sen.
Niedersachsen hat sich bis jetzt eindeutig auf einer
Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Richtlinien bewegt
und hat den Landwirten die Freiheit gegeben, dass derje-
nige, der will, beispielsweise eine besondere Form der
Züchtung ausüben oder Ökolandwirtschaft betreiben
kann. Ist dir das bekannt?
Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass die Land-wirte aus Holland nicht zu uns kommen, weil es hierWettbewerbsnachteile gibt, sondern weil es sich lohnt, inunserem Land zu investieren, Arbeitsplätze zu schaffenund zu produzieren.
Einige gehen natürlich auch woanders hin, weil esdort unter Umständen aussichtsreichere Märkte gibt.Aber wenn man in der EU unter hervorragenden Bedin-gungen produzieren will, dann kann man das in unseremLand tun.
In Deutschland haben wir 20 Prozent aller Mast-schweine EU-weit. Da sind wir in der Tat wettbewerbs-fähig.
– Das wird auch so bleiben, Herr Goldmann, ob Sie Ih-ren Antrag zurückziehen oder nicht. Denn ich halte ihn,wie gesagt, von der Sache her für vollständig danebenund falsch.
Sie wiederholen in Ihrem Antrag all das, was Sie schonvor vier Jahren gesagt haben. Da hat sich in Ihrem Kopfanscheinend nicht allzu viel bewegt. Gegenüber neuenErkenntnissen
sind Sie resistent.Gehen Sie doch einmal auf Beratungstour, Herr Kol-lege! Gehen Sie einmal in die Bundesländer, an derenLandesregierungen Ihre Partei beteiligt ist! Gehen Sieeinmal nach Niedersachsen und überzeugen Sie die Nie-dersachsen davon, dass diese EU-Richtlinie vom Bun-desrat eins zu eins umgesetzt werden muss! Gehen Sienach Nordrhein-Westfalen und überzeugen Sie Ihre Kol-legen im Landtag von Nordrhein-Westfalen davon, da-rauf zu bestehen, dass die Landesregierung die EU-Richtlinie eins zu eins umsetzt!
Dafür wünsche ich Ihnen viel Erfolg.Die Entwicklung und die Diskussion sind an Ihnenvorbeigegangen, Herr Goldmann. Sie haben es nur nichtgemerkt.
– Selbstverständlich. – Sie haben es nicht gemerkt; so istdas nun einmal. Wenn man Anträge gründlicher erarbei-
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Dr. Wilhelm Priesmeierten würde, würde einem manches auffallen und würdeman einiges mitbekommen.Sie verlangen natürlich nicht die Eins-zu-eins-Umset-zung der EU-Richtlinie bei der Hennenhaltung inDeutschland.
– Das verlangen Sie jetzt auch? Zurück in die alten Kä-fige bis 2012! Das ist Tierschutz, wie er im Buche steht,Herr Goldmann. Wenn das die Position der FDP zumTierschutz ist, dann tut mir das Leid.
Eines muss man doch erkennen: Ich kann mich nochan die Zeiten erinnern, als es in diesem Zusammenhangüberhaupt keine Regelung gegeben hat. Da waren bis zu35 bzw. 40 Prozent der Bestände überbelegt. Da habe ichals Tierarzt relativ gutes Geld verdient,
weil sich der Einsatz von Antibiotika zum Teil in Grö-ßenordnungen bewegt hat, die wir alle heute Gott seiDank nicht mehr kennen.
Man muss einmal zur Kenntnis nehmen, was sich indiesem Bereich getan hat. Das ist nicht darauf zurückzu-führen, dass wir keine Regelung hatten, sondern darauf,dass man irgendwann angefangen hat, über diese Ver-hältnisse nachzudenken und adäquate Regelungen imSinne des Tierschutzes zu treffen. Denn all das, was wirin einer Verordnung festschreiben, hat seine Grundlage.Die Ermächtigungsgrundlage für eine Verordnung ist dasTierschutzgesetz. Also ist sie zunächst einmal unterTierschutzaspekten zu sehen und abzuhandeln. Dabeigeht es natürlich um den Ausgleich von ökonomischenInteressen auf der einen Seite und Tierschutzaspektenauf der anderen Seite. Tierschutz und Ökonomie wi-dersprechen sich im Grunde überhaupt nicht. Im Gegen-teil: Die Mastleistung und der Gesundheitsstatus, denman in den Betrieben erreichen kann,
sind natürlich unmittelbar von den Bedingungen abhän-gig, unter denen die Tiere aufwachsen und gehalten wer-den.Eine Bemerkung zu dem, was Sie zu Holland gesagthaben: Die Holländer schreiben bei Stallneubauten0,8 Quadratmeter pro Schwein vor. Das ist mehr als das,was wir im Augenblick vorschreiben. Ab 2012 schreibensie 1 Quadratmeter in der Mastgruppe 85 bis 110 Kilo-gramm vor.
Es ist bei weitem nicht richtig, was Sie eben behauptethaben. Sie haben behauptet, die Holländer lägen unterden Standards, die wir im Augenblick formulieren. Dasist nicht zutreffend und sachlich falsch, Herr KollegeGoldmann.Ich hoffe, dass wir uns heute im Deutschen Bundestagdas letzte Mal über die Schweinehaltungsverordnungstreiten und unterhalten. Denn die ist längst überfällig;das wissen wir. Es hat eine unsägliche Verknüpfung zwi-schen der Schweine- und der Hennenhaltung gegeben.
Ich halte es auch heute noch nicht für richtig, dass manso vorgegangen ist. Wir hätten so nicht zu vernünftigenRegelungen kommen und Rechtssicherheit und Pla-nungssicherheit für die landwirtschaftlichen Betriebeschaffen können. Das können wir jetzt tun. Ich glaube,das werden die Bundesländer mit der Unterstützung undder Unterschrift des Bundesministers in die Tat umset-zen.Positionen, wie sie heute von Ihrer Seite vertretenwerden, werden zwangsläufig nicht zum Zuge kommen.Sie sollten in diesem Hause keine Schwarzmalerei be-treiben und nicht versuchen, den schwarzen Peter hinund her zu schieben. Das ist nicht zweckdienlich. Dasführt nicht weiter. Der vernünftige Konsens, den wir inreiflicher Auseinandersetzung und Diskussion mit denKollegen von der CDU/CSU in diesem Zusammenhangerreicht haben, trägt. Er wird auch im Bundesrat tragen;davon bin ich fest überzeugt.Herr Kollege Goldmann, Ihre Argumente – das wirdman rückblickend sehen – laufen ins Leere.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Goldmann, ich freue mich, dass Sie mit Ihrer wirk-lich veralteten Position der Eins-zu-eins-Umsetzung desSchweinehaltungserlasses allein in der Ecke stehen. Esist richtig, dass Sie dafür keine Unterstützung bekom-men.
Ich freue mich auch, dass die Bundesregierung schonbeim ersten wichtigen Fall von dem abweicht, was sievorher verkündet hat. Im Koalitionsvertrag steht näm-lich, alles werde eins zu eins umgesetzt. Schon beim
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Bärbel Höhnersten konkreten Fall wird das nicht getan. Das ist richtigso.Herr Goldmann, wie sollen denn die Landwirte inDeutschland Spitze bleiben – das haben Sie zu Recht ge-sagt –, wenn es nur zu einer durchschnittlichen Eins-zu-eins-Umsetzung kommt? Mit dem Durchschnitt kannman nicht Spitze sein, Herr Goldmann. Das wissen ge-rade Sie von der FDP.
– Ja, weil Sie mit einer Eins-zu-eins-Umsetzung Durch-schnitt sein wollen, können Sie nicht Spitze sein. Dashaben Sie mittlerweile verstanden.
Herr Goldmann, was Sie wollen, ist auch deshalb un-gehörig – auch den Schweinen gegenüber –,
weil sich die FDP noch 2002 vollmundig für die Auf-nahme des Tierschutzes in die Verfassung ausgespro-chen hat. Aber beim ersten konkreten Fall sagen Sie:Tierschutz muss bei wirtschaftlichen Gesichtspunktenzurückstehen.
Also, Herr Goldmann: Nicht einfach nur lautstark etwasfordern, sondern es am Ende auch in die Tat umsetzen!Der Tierschutz steht heute in der Verfassung. Zudemgibt es ein Verfassungsgerichtsurteil von 1999, das sichauf die Käfighaltung bei Hennen bezieht, aber bei ande-ren Tieren, zum Beispiel bei Schweinen – das sagen dieRichter –, genauso umgesetzt werden muss.Deshalb finde ich es wichtig, dass man sich einmalüberlegt, was das, was Sie, Herr Goldmann, wollen, be-deutet.Wir haben gerade über die Fläche gesprochen.Schauen wir uns jetzt einmal genau an – ich habe hierdie Tabelle –, was die EU vorschreibt. Die EU fordert fürSchweine von 86 bis 110 Kilogramm eine Fläche von0,65 Quadratmetern. 110 Kilogramm, das kann sich je-der vorstellen. Es gibt ein paar Kaventsmänner, die viel-leicht 110 Kilogramm wiegen.
Herr Goldmann, jetzt beziehen Sie das einmal aufIhre Wohnung. Wir nehmen nicht das Ehebett, sondernein Einzelbett. Ein Einzelbett hat eine Größe von einemMeter mal zwei Metern, also zwei Quadratmetern. Jetztrechnen Sie sich das einmal aus: Drei Schweineà 110 Kilogramm sollen in dieses Einzelbett passen. Ichsage Ihnen: Drei Schweine im Bett, das ist zu viel! Dasdürfen wir nicht zulassen.
Deswegen sollte wenigstens das, was diese und die vor-herige Bundesregierung vorgesehen haben, eingehaltenwerden: ein Quadratmeter für ein 110-Kilo-Schwein.Zwei Schweine im Bett, das finde ich okay.
Unabhängig davon, dass Diskussionen über Schweinemanchmal belustigend sein können, will ich noch auf ei-nen wichtigen Punkt hinweisen. Wir müssen nämlichüberlegen, was das für die Landwirte bedeutet. Wir ha-ben eben über die Niederländer gesprochen, die in dieneuen Bundesländer gehen und dort große Schweine-ställe bauen. Teilweise sind bis zu 90 000 Schweine ineinem Schweinestall geplant.
90 000 Schweine in einem Schweinestall!
Herr Röring, das ist eben etwas anderes als das, wasBauern vor hundert Jahren gemacht haben.Ich glaube, wir alle sind uns – unabhängig davon, waswir genau wollen – in einem Punkt einig: Wir wollen dieBatteriekäfighaltung nicht mehr.
Wir müssen aufpassen, dass wir mit den Ställen für90 000 Schweine nicht wieder zu einer Form der Indus-trialisierung in der Landwirtschaft kommen, wie wirsie mit den Batteriekäfigen hatten und leider in einigenBetrieben noch immer haben. Ställe für 90 000 Schweinebedeuten nämlich, dass auf der anderen Seite 50 Fami-lienbetrieben à 2 000 Schweine die Existenzgrundlageentzogen wird.
Die Leute werden nicht deshalb mehr Schweinefleischessen, weil in Mecklenburg-Vorpommern neue Schwei-neställe gebaut werden.
Auf dieses Problem gibt die Schweinehaltungsverord-nung keine Antwort. Eine solche Antwort müssen wirfinden, auch um Arbeitsplätze zu erhalten.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsInterfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/590 an den Ausschuss für Ernährung,Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten SilkeStokar von Neuforn, Bärbel Höhn, UlrikeHöfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENMehr Datenschutz beim so genannten Scoring– Drucksache 16/683 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Kollegin Silke Stokar von Neufornvon der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-deskanzlerin Merkel hat in ihrer Rede zur Eröffnung derCeBIT in Hannover in sympathischer Offenheit gesagt:Es wird für die Politik immer schwieriger, der rasantenEntwicklung im IT-Bereich zu folgen und die Auswir-kungen der neuen Begrifflichkeiten wie RFID zeitnah zubewerten. Ich kann ihr hier nur zustimmen.Auch wir verwenden in unserem heutigen Antrag denAusdruck „Scoring“, so wie er sich in der Fachöffent-lichkeit durchgesetzt hat. Ich habe aber zunehmend dasGefühl, dass mit diesen angelsächsischen Fachbegriffender Datenverarbeitung das eigentliche Problem für dieMenschen immer mehr verdeckt wird. Viele haben michgefragt: Zu was redest du? Scoring, was ist das eigent-lich? – Auch Leute, die sich mit Themen wie Daten-schutz oder IT befassen, wissen das nicht.
Wir müssen erkennen, dass wir alle ohne unser Wis-sen und auch gegen unseren Willen zum Objekt privaterAusforschung werden. Dies hat zunehmend Einfluss aufunsere ganz persönliche Lebensgestaltung. Wir braucheneine breite gesellschaftliche Debatte über die Risiken dermodernen Informationstechnologien.
Die Schufa verfügt deutschlandweit über 362 Millio-nen Einzeldaten von 62 Millionen Bundesbürgern. Mitdieser Datensammlung bietet die Schufa verschiedene sogenannte Scores an, die auf einzelne Branchen wie Ban-ken, Versandhandel oder Telekommunikationsanbieterzugeschnitten sind. Die Kunden, das heißt wir, werden indiesem Verfahren mit Punkten zwischen eins und1 000 bewertet. Diese Bewertung entscheidet dann mitdarüber, ob und zu welchen Konditionen wir einen Kre-dit oder einen Mobilfunkvertrag erhalten.Wir sehen in diesem Verfahren die Gefahr einer wei-teren Diskriminierung sozial Schwächerer in unserer Ge-sellschaft. Kein Betroffener darf allein aufgrund vonScore-Werten bei Vertragsabschlüssen schlechter gestelltwerden. Jeder hat einen Anspruch darauf, zu erfahren,welche Gründe zur Ablehnung eines Vertrages geführthaben.Die Zusammensetzung dieser Score-Werte hütet dieSchufa wie ein Geschäftsgeheimnis. Sie verspricht zwarauf ihrer Internetseite: Wir haben kein Geheimnis. Trotz-dem erfahren die Bürgerinnen und Bürger über ihrenaktuellen Score-Wert hinaus nicht, aus welchen Informa-tionen er sich zusammensetzt und an wen dieser Score-Wert weitergeleitet wird.Deswegen fordern wir hier mehr Transparenz undVerbraucherschutz. Ich rege an, dass wir uns auf eineninterfraktionellen Antrag verständigen, mit dem die Aus-kunftsrechte der Betroffenen im Bundesdatenschutzge-setz erheblich gestärkt werden.
Ich will aber nicht nur über die Schufa reden. Auch inDeutschland hat sich längst ein breiter Markt privaterAuskunfteien entwickelt. Sozialdaten wie Wohngegend,Beruf, Familienstand, Einkommen und Vermögen wer-den gesammelt, mit Privatadressen kombiniert und dannverkauft. So werden Kunden- und Konsumprofile überuns erstellt, ohne dass wir es bemerken. In Verbindungmit der RFID-Technik werden die Bürgerinnen und Bür-ger zunehmend zum Objekt kommerzieller Interessenund damit zum gläsernen Kunden.Wir müssen uns dieser bürgerrechtlichen Herausfor-derung dringend stellen. In den Fachausschüssen solltenwir uns gemeinsam darauf verständigen, die Lücken imDatenschutzgesetz zu schließen. Wir brauchen eine Do-kumentationspflicht über die Erstellung von Scores unddarüber hinaus ein Auskunftsrecht für die Betroffenen.Ich freue mich auf die fachliche Diskussion, die erhebli-che gesellschaftspolitische Auswirkungen haben wird.Zu Recht hat die Europäische Kommission heute im Zu-sammenhang mit der CeBIT gefordert, breite öffentlicheDebatten über die Folgen dieser neuen Technologie inunseren Gesellschaften zu führen.Ich hoffe, dass wir mit unserem heutigen Antrag eineAnregung geben und einen Impuls setzen, endlich einegrundlegende Reform des Bundesdatenschutzgesetzes inAngriff zu nehmen. Wir müssen es schaffen, bürger-rechtliche Standards auf der Grundlage einer völlig ver-änderten Technik neu festzuschreiben. Ich freue michauf die Zusammenarbeit.Ich danke Ihnen.
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1734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006
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Silke Stokar von Neuforn
Das Wort hat jetzt die Kollegin Beatrix Philipp von
der CDU/CSU-Fraktion.
Das kommt vielleicht noch, Herr Tauss. Aber wennSie nicht dauernd dazwischenquatschen, muss ich auchnicht zurückkeilen.
Meine Damen und Herren! Frau Stokar und michwird es nicht erstaunen. Diejenigen, die kundig sind, wassich im Bereich des Datenschutzes in den letzten Legis-laturperioden abgespielt hat, werden wissen, dass wir ei-gentlich immer sehr vernünftig und an der Sache orien-tiert miteinander umgegangen sind. Sonst hätte es keinegemeinsamen Entschließungen gegeben. Frau Stokar,Sie wissen natürlich, dass sich die CDU/CSU vernünfti-gen Argumenten noch nie verschlossen hat, und Angstvor den Grünen hatten wir auch noch nie.
Deswegen bin ich voller Hoffnung und Zuversicht, dassdas klappt.
– Jetzt geht es schon los.Auch ich habe gestern vernommen, dass die Bundes-kanzlerin auf der CeBIT die Sorge zum Ausdruck ge-bracht hat, die man nur teilen kann, dass die PolitikMühe hat, der rasanten Entwicklung im technologischenBereich nachzukommen. Ich stimme Ihnen auch ganzausdrücklich darin zu, dass wir für das Thema, über daswir uns auf der Grundlage Ihres Antrages unterhalten,eine breite fachliche und, wenn möglich, ideologiefreieDiskussion brauchen.
Wir müssen uns Zeit dafür nehmen. Es gibt einige Bei-spiele aus der letzten Legislaturperiode, bei denen dasleider nicht möglich war. Aber wir geben die Hoffnungnicht auf.
– Herr Tauss! – Deswegen setzen wir uns intensiv mitIhrem Antrag auseinander.Sie haben zu Recht gesagt, dass, wenn man überScoring spricht, viele fragen: Was ist das denn? Manmuss sicherlich nicht nur erreichen, dass die Bevölke-rung diesen Begriff versteht und weiß, was sich dahinterverbirgt, sondern man muss auch auf das eingehen, waseinen beunruhigen muss, wenn man weiß, dass Datengesammelt werden und das Scoringverfahren angewen-det wird. Die meisten kennen die Schufa oder die Cre-ditreform, die Prognosen basierend auf mathematisch-statistischer Analyse von Erfahrungswerten erstellen,und zwar unabhängig vom tatsächlichen Verhalten desoder der Betroffenen. Es gibt ein Punktesystem von einsbis 1 000. Dort finden die so genannten Vertragsdatender Betroffenen Verwendung – das ist noch in Ord-nung –, zum Beispiel Bankverbindungen, Kredite, Ver-pflichtungen und Kontoumsätze, aber nicht das tatsächli-che Vermögen. Das möchte ich nur anmerken, weil dasbei der Vergabe von Krediten eigentlich eine gewisseRolle spielen sollte.Aber nun wird es spannend; denn die Daten der be-troffenen Personen werden so genannten Vergleichs-gruppen zugeordnet. Zu den angewandten Kriterien ge-hören Alter, Geschlecht, Wohndauer und Häufigkeit derUmzüge, soziales Milieu, Geschlecht, Familienstand,Anzahl der Kinder, Haushaltstyp, Bildungsstand, Berufund berufliche Qualifikation, Art und Dauer der Be-schäftigung, Arbeitgeber, möglicherweise eine Haft, dieman abgesessen hat, Nationalität, Kfz-Besitz, Gesund-heitszustand und Religion. Diese Merkmale werdendann gewertet. Das heißt, sie sind nicht mehr auf diePerson bezogen, sondern werden auf Gruppen übertra-gen und dann verglichen. So wird eine Prognose überdas zukünftige Verhalten der infrage stehenden Personerstellt. Das Besondere an dieser Prognose ist, dass siebesagt, wie sich eine Person wahrscheinlich verhaltenwird.Nun könnte man sagen, dass das, wenn es dem Ein-zelnen bekannt ist, hinnehmbar wäre. Es ist dem Einzel-nen aber nicht bekannt. Wie weit dies verbreitet ist, dasses im täglichen Kreditgeschäft, aber auch im Wirt-schaftsleben, bei Kaufverträgen – insbesondere beiVersandhäusern –, bei Handyverträgen, bei Mietverträ-gen und Ähnlichem, ständig an Bedeutung gewinnt, wis-sen vielleicht auch nicht alle.Auf der anderen Seite wird man verstehen, dass sichKreditgeber bzw. Unternehmen in irgendeiner Weise ab-sichern müssen. Früher fand das, wie Ältere wissen,durch ein persönliches Gespräch bei der Bank statt.Heute ist es so, dass praktisch keine kommerzielle Ent-scheidung ohne vorangegangenes Scoring gefällt wird.So läuft beispielsweise bereits während eines Bestellvor-gangs im Internet im Hintergrund ein entsprechendesScoring ab. Die Kreditwürdigkeit eines Kunden wird ge-prüft. Je nach Ergebnis wird veranlasst, dass man perVorkasse, per Nachnahme oder gegen Rechnung bezahlt.Böse Zungen behaupten, es gäbe Stadtteile, beispiels-weise in Berlin – da wohnen die beiden Herrschaften si-cherlich nicht –, die nur noch per Nachnahme beliefertwerden. Das ist zweifellos nicht in Ordnung; denn eskönnte ja sein, dass ich in den Besitz einer Wohnungoder eines Hauses gekommen bin und deshalb dortwohne, wo mich niemand vermutet.Es ist wichtig, zu wissen, dass der Umgang mit diesenDaten und Merkmalen datenschutzrechtlich, aber auchgesellschaftspolitisch äußerst bedenklich ist. Der Ein-
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Beatrix Philippzelne hat keine Möglichkeit, auf sein Erscheinungsbildin der Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen, weil ihm diezugrunde gelegten Daten und Merkmale nicht bekanntsind. Schon gar nicht ist ihm bekannt, wie sie gewertetwerden. Das ist bereits mehrfach Gegenstand kritischerNachfragen gewesen. Auch ich habe im Januar und Fe-bruar die Bundesregierung gefragt.Aus § 6 des Datenschutzgesetzes geht eindeutig her-vor, dass eine negative Entscheidung dann unzulässigist, wenn sie ausschließlich auf eine automatisierte Ver-arbeitung personenbezogener Daten gestützt wird. Dasweiß aber kein Verbraucher bzw. Betroffener.
– Das war für Ihre Verhältnisse ausgesprochen sparsam;das gebe ich zu. Ich muss Sie auch einmal loben.
Wir werden den Kreditinstituten selbstverständlichnicht vorschreiben können, wie und an wen sie Kreditevergeben. Dass die Gesetze, auf die sie sich beziehen,eingehalten werden, muss aber schon gewährleistet sein.
Dazu gehört zweifellos, dass das ganze Verfahren trans-parent gemacht wird.Es gibt zweifellos Handlungsbedarf. Bei aller Bereit-schaft zu einer offenen und breiten Diskussion muss ichaber sagen, dass das so einfach nicht ist. Frau Stokar, Siehaben eben gesagt – das wusste ich bisher nicht –, dassSie den Antrag nur als Anregung verstanden wissen wol-len. Bisher wollten Sie ja immer, dass Ihre Anträge auchbeschlossen werden. Wenn Ihr Antrag nur eine Anre-gung ist, muss ich ja nicht weiter darauf eingehen. Aberso einfach, wie es in dem Antrag steht, ist es natürlichnicht.Erstens. In den beiden letzten Datenschutzberichten– ich habe mich eben schon darauf bezogen – ist bereitsauf die Problematik des Scoring-Verfahrens aufmerksamgemacht worden.Zweitens. In der Beschlussempfehlung zum 19. Tä-tigkeitsbericht ist die damalige Bundesregierung aufge-fordert worden, bis zum Ende des Jahres 2005 einen Be-richt darüber vorzulegen, welche Maßnahmen zurStärkung der Rechtsposition und zum wirksamen Schutzder Betroffenen insbesondere bei der Verarbeitung un-richtiger Daten – das passiert natürlich auch, wenn auchselten – ergriffen werden müssen.
Drittens. Das Unabhängige Landeszentrum für Daten-schutz Schleswig-Holstein – so heißt es –
hat im Auftrag der damaligen Ministerin Künast einForschungsprojekt in Auftrag gegeben, dessen Endfas-sung, wie wir herausgefunden haben, am 25. Januar2006 übergeben wurde. Nun muss man über den Wertdieses Forschungsprojektes ein bisschen länger nachden-ken; denn von 500 Fragebögen sind nur 29 zurückge-kommen. Das ist nicht besonders viel und als Basis füreine sachliche, fachliche Diskussion nicht ausreichend.Wir sind aber – nicht nur in dieser Frage, sondern auchsonst – voller Vertrauen in das Bundesinnenministerium.
– Das unterscheidet uns.Aber Sie sind ja lernfähig. Deswegen glaube ich, dassSie diese Einschätzung teilen werden.
Natürlich wissen auch Sie, dass entsprechend dem Auf-trag des Datenschutzberichts im Bundesministerium desInnern heftig und mit Dampf daran gearbeitet wird, daszu erledigen, was in der letzen Legislaturperiode eigent-lich noch Ihre Aufgabe gewesen wäre.
Aber wir machen das schon; darüber müssen wir nichtreden.In ein bis zwei Monaten wird vom BMI ein Berichtvorgelegt.
– Ich kenne ihn noch nicht. Sie schon?
Herr Winkler, dieser Bericht wird sich zumindest da-durch von dem Forschungsprojekt unterscheiden, dasssein Inhalt seriös und belastbar sein wird.
Das wird dann auch der Bedeutung des Themas gerecht.Denn bei aller Neigung, hier etwas lockerer zu formulie-ren, muss ich sagen: Es geht immerhin um das Rechtauf informationelle Selbstbestimmung.
Ich will ausdrücklich zusätzlich betonen: Hier machtsich der Mittelstand im Zusammenhang mit Basel IIgroße Sorgen.
Die Kundigen wissen, dass vonseiten der Banken bei derPrüfung der Schuldnerbonität strenge Maßstäbe angelegt
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Beatrix Philippwerden. Dabei geht es um Existenzen und um Arbeits-plätze.
Man kann nicht einfach in einem Hauruckverfahrenund auf der Basis des Schlussberichts eines von wemauch immer erarbeiteten Forschungsprojekts – wie ge-sagt: das ist bis auf seinen Umfang ein bisschen dünn –zu dem Ergebnis kommen, dass das schon ausreichenwird. Deswegen, Frau Stokar, muss ich Ihnen Folgendessagen: Ihr Antrag datiert vom 15. Februar dieses Jahres.
Dieser hervorragende Schlussbericht des Forschungs-projekts ist der Öffentlichkeit trotz mehrfacher Nach-frage erst am 27. Februar, also fast 14 Tage nachdem SieIhren Antrag formuliert hatten, zugänglich gemacht wor-den. Wir haben diese Informationen, weil wir uns darumbemüht haben, allerdings erst am 1. März bekommenund gehen davon aus, dass das Bundesinnenministeriummit diesem sensiblen Thema auch sensibel umgehenwird. Nun brauchen wir eine gemeinsame Basis für eineDebatte, die diesem Thema gerecht wird. Auf diese Dis-kussion freue ich mich.Frau Stokar, trotz aller Hase-und-Igel-Spielchen, dieim Zusammenhang mit Ihrem Antrag stattgefunden ha-ben – als es zum Beispiel darum ging, dass er ein biss-chen dünn ist –, könnte er eine Basis und Anregung sein.Deswegen sind wir mit der Überweisung an den Aus-schuss selbstverständlich einverstanden.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort für die FDP-Fraktion der Kolle-
gin Marina Schuster.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Mit dem Begriff „Verbrau-cherscoring“ sind Verfahren gemeint, bei denen unterVerwendung mathematisch-statistischer Methoden ver-sucht wird, ein bestimmtes Konsumentenverhalten vor-herzusagen. Im vorliegenden Antrag der Grünen wirdexplizit nur die Schufa genannt. Solches Scoring findetaber auch in vielen anderen Bereichen unseres täglichenLebensumfeldes statt, beispielsweise bei Versicherungs-,Handy-, Kfz- oder Leasingverträgen.Bei den Scoringverfahren handelt es sich in der Tatum ein datenschutzrechtlich sensibles und gesellschafts-politisch bedenkliches Phänomen.
Zu genau diesem Problem hat die FDP-Fraktion geradeerst eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Seitungefähr drei Stunden liegt uns die Antwort vor, die wirgenau prüfen werden. Für uns Liberale ist eines aller-dings klar: Scoring darf nicht dazu führen, dass dem ein-zelnen Bürger die Möglichkeit genommen wird, selbstüber sein Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit zu ent-scheiden oder dieses auch nur durch eigenes rechtstreuesVerhalten zu beeinflussen.
Es kann und darf nicht sein, dass ein Bürger, nur weiler zum Beispiel in der „falschen“ Straße wohnt, keinenHandyvertrag bekommt oder nur noch gegen Vorkassebeliefert wird. Rechtstreue Bürger gibt es überall, nichtnur in bestimmten Stadtteilen und Straßenzügen. Mit an-deren Worten: Mein Auto, mein Familienstand, die An-zahl meiner Kinder oder der Bildungsabschluss meinerEltern darf ebenso wenig über mein wirtschaftlichesSchicksal entscheiden wie die Straße, in der ich wohne.
Wir schielen dabei aber nicht einzig und allein aufden Gesetzgeber. Mindestens genauso wichtig ist es, diemassiven Vollzugs- und Informationsdefizite zu besei-tigen. Wenn Scoringunternehmen ihre Informations-pflicht unterlaufen, müssen wir uns fragen, woran dasliegt. Hier kommt es ganz wesentlich auf die richtigeAnwendung der vorhandenen Gesetze an. Es ist in derTat nicht hinnehmbar, wenn die Erteilung einer Auskunftunter Berufung auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisseverweigert wird.
Wir müssen uns überlegen, wie wir den Druck erhöhen,damit wie vorgeschrieben Auskunft erteilt wird. Als Ul-tima Ratio könnten fehlerhafte oder unvollständige Aus-künfte mit einem Bußgeld sanktioniert werden.
Außerdem müssen wir alles tun, um die Verbraucherzu informieren; wir müssen den Verbrauchern durchInformationen den Rücken stärken. Es gibt bereits eineReihe von Institutionen, an die sich der Verbraucherwenden kann: Datenschutzaufsichtsbehörden, Verbrau-cherzentralen und eine ganze Reihe von Schlich-tungsstellen. Das Problem ist, dass das nicht jedem Ver-braucher bekannt ist. Hier herrscht ein massivesInformationsdefizit. Aber nur ein mündiger, informierterVerbraucher kann sich auch wehren. Eine Idee wäre einso genanntes Datenschutzaudit, eine Art datenschutz-rechtliches Gütesiegel. Seit Jahren ist diese Möglichkeitim Bundesdatenschutzgesetz verankert. Leider läuftdiese Vorschrift bis heute ins Leere, weil Rot-Grün esversäumt hat, ein entsprechendes Ausführungsgesetz zuinitiieren.
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Marina SchusterUnabhängig von diesen Versäumnissen möchte ich andie Verbraucher grundsätzlich appellieren: Lassen Siesich nicht abspeisen, wenn es um Ihre Daten geht! For-dern Sie Ihr Recht ein! Seien Sie wachsam beimScoring, bei Kundenkarten, bei Gewinnspielen und auchbei harmlos ausschauenden Fragebögen! Manchmal istes sinnvoller, auf 2 Prozent Rabatt zu verzichten und da-für die Herrschaft über die eigenen Daten zu behalten.
Abschließend appelliere ich an die Wirtschaft. UmMissverständnisse auszuschließen, sage ich: Wir wissen,dass sich Unternehmen vor Betrügern und vor zahlungs-unfähigen und -unwilligen Kunden schützen müssen.Gleichwohl sehen wir datenschutzrechtliche Gefahren,wenn Auskunftssysteme beliebig zusammengeschaltetwerden und aus verschiedenen Systemen beliebig Infor-mationen abgerufen werden können. Hier ist die Wirt-schaft gefordert: Entwickeln Sie Best-Practice-Stan-dards, kommen Sie Ihrer Verantwortung nach!Sehr geehrte Damen und Herren dieses Hohen Hau-ses, Datenschutz ist für uns Liberale nicht nur eine Frageder Gesetzgebung, es ist für uns eine umfassende Auf-gabe.
Frau Kollegin Schuster, das war Ihre erste Rede in
diesem Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herz-
lich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles
Gute.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Michael
Bürsch, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Heute Abend zeigt sich: Der Bundestag ist doch einOrt lebenslangen Lernens. Wir müssen uns ständig fort-bilden. Wir alle lernen heute, was es mit dem neudeut-schen Begriff „Scoring“ auf sich hat. An dieser Stellerichte ich ein altmodisches Wort an die Grünen: Ich binein großer Freund und Verfechter der deutschen Sprache.Ich habe das schon bei den öffentlich-privaten Partner-schaften betrieben und werbe auch an dieser Stelle dafür,einen deutschen Begriff für „Scoring“ zu finden. Denndie englischen Begriffe sind abschreckend und verwir-rend und dem Publikum ist nicht geläufig, was damit ge-meint ist. Mein Angebot: „die statistische Bewertungder Kreditwürdigkeit“.
Das ist ein bisschen länger, aber es beschreibt vielleicht,was wir meinen.An Frau Philipp gerichtet sage ich: Frau Philipp, ge-rade bei diesem Thema sind wir sehr gerne zur ideolo-giefreien Diskussion bereit; denn bei dem, was wir beidiesem Thema lernen, ist es mir so wie Ihnen ergangen:Manches in der Welt des Internets und der Daten, dieheute ausgetauscht werden, erinnert in der Tat an„1984“: Wir sind der gläserne Mensch und die Datenwerden ohne unser Wissen ausgetauscht und bewertet,und zwar zu unserem Nachteil, ohne dass wir dort tat-sächlich nachfassen können.Die statistische Bewertung der Kreditwürdigkeit wirftalso auch aus Sicht der SPD eine Reihe von Problemenauf, die von der Öffentlichkeit bisher nicht wahrgenom-men worden sind und die uns alle – jede Verbraucherinund jeden Verbraucher – betreffen. Insofern meinenherzlichen Dank an die Adresse der Grünen, die das alsErste aufgegriffen und zu einem Antrag formuliert ha-ben.Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben schon dieFrage beantwortet, was mit dem Begriff „Scoring“ ei-gentlich gemeint ist. Wenn man in ein Lexikon sieht,dann weiß man, dass das auf gut Deutsch so viel heißtwie rechnen, zählen und einstufen. Gerade im Bereichder Vergabe von Kleinkrediten und Krediten an Privat-kunden, beim Versandhandel und im Bereich der Tele-kommunikation wird diese Methode genutzt, um lang-wierige Bonitätsprüfungen der jeweiligen Personen zuvermeiden.Die große Gefahr liegt darin – darauf ist hingewiesenworden –, dass bei der Ermittlung eines solchen Erfah-rungswertes nicht nur die individuell zurechenbaren In-formationen über die Personen verwendet werden, son-dern dass auch zusätzliche Daten in die Berechnung miteinfließen, auf die der Einzelne gar keinen Einfluss hatund von denen er auch gar nichts weiß. Die Beispielesind genannt worden: der Wohnort, das Geschlecht, dieRasse usw.Manche Bewertung ist nicht nur datenschutzrechtlichzu kritisieren, sondern – und darin liegt nun wirklich einProblem – manche Bewertung basiert nicht einmal aufder persönlichen Vorgeschichte des Kunden, sondern aufanderen, teilweise wirklich diskriminierenden Merkma-len.Insofern richtet sich die erste Kritik dagegen, welcheDaten, auf die der Kunde keinen Einfluss hat, überhauptverwendet werden. Die zweite Kritik kommt aus derRichtung des Datenschutzes; auch sie ist schon genanntworden. Hier müssen wir kritisieren, dass die Auskunf-teien die Berechnung ihrer Scoringwerte gewöhnlich ge-heim halten. Dadurch kann der Bürger überhaupt nichtnachvollziehen, welche Daten und Merkmale mit wel-chem Gewicht in die Berechnung des Prognosewerteseingeflossen sind.Auf diesen Bericht, den das Bundesministerium fürErnährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz erar-beitet hat, ist schon hingewiesen worden. Ich meine, wirmüssen alle Erkenntnisse, die es dazu gibt – nicht nurdiesen Bericht, sondern auch andere Erkenntnisse, viel-leicht auch Erkenntnisse aus anderen Ländern –, hinzu-ziehen, um auszuwerten, was die Ansatzpunkte sind, umdiese Verfahrensweisen, die es gibt, wirklich transparent
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Dr. Michael Bürschzu machen und für den Kunden mit einem solchenSchutz zu versehen, dass ihm dort kein Leid und keineUnbill droht.Der Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen ist gut. Daskann ich eindeutig sagen.
Er bietet Anlass, über das Thema zu diskutieren.
Es ist aber vielleicht noch ein bisschen zu früh dafür,verehrte Kollegin Stokar von Neuforn, weil wir uns,wenn wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern wirk-lich etwas bieten wollen, den komplexen Problemen, diewir damit erfassen wollen, handwerklich wirklich saubernähern müssen.Deshalb schlage ich vor, dass auch hier der Grundsatzgilt, den sich die große Koalition vorgenommen hat:Gründlichkeit vor Schnelligkeit.Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Jan Korte, Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Ich schließe mich hier heute ausnahmsweise einmal denanderen Fraktionen an. Es ist eine schöne Sache, einengemeinsamen Lernort hier im Bundestag zu deklarieren.Ich hoffe, wir setzen das auch um; denn hier herrscht Ei-nigkeit darüber – das sehen wir genauso –, dass dieScoringverfahren insbesondere der Schufa,
aber auch anderer Auskunfteien elementare Interessender Verbraucherinnen und Verbraucher betreffen unddass es hier eine Lücke im Datenschutz gibt, die ge-schlossen werden muss. Die Wertermittlung ist demZufall überlassen. So kann es sein – das ist schon ge-nannt worden –, dass ein Selbstständiger benötigte Kre-dite nicht bekommt, nur weil er in der falschen Gegendwohnt, das falsche Alter oder Geschlecht hat und – auchdas haben wir schon gehört – mehrere Kreditangeboteeingeholt oder ein Bankkonto zu viel hat. Bereits daskann zu einem schlechten Wert führen. Daraus könnensich durchaus existenzbedrohende Situationen ergeben.Gerade vor dem Hintergrund, dass Unternehmen dasScoringverfahren inzwischen – darauf ist hingewiesenworden – exzessiv nutzen, sieht die Linke, wie in demAntrag der Grünen formuliert, dringenden Handlungsbe-darf.
Die Regelungslücke im Bundesdatenschutzgesetzführt dazu, dass jeder einer allmächtigen Schufa ausge-liefert ist. Der Verbraucher kann nicht einschätzen, wel-ches Tun oder Unterlassen den Score und damit meistensauch die Kreditwürdigkeit positiv oder negativ beein-flusst. Selbst tadelloses Bedienen von Krediten hilftnicht, wenn man einer Gruppe zugeordnet wird – auchdarauf ist hingewiesen worden –, in der es öfter zu Zah-lungsausfällen kommt. Ebenso ist erwähnt worden, dasshier das informationelle Selbstbestimmungsrecht tan-giert wird.Der Antrag der Grünen geht also in die richtige Rich-tung. Wir brauchen eine Begrenzung solcher Auskunfts-verfahren, die nicht auf relevante individuelle Daten set-zen, sondern Aussagen allein aufgrund statistischerDaten und Wahrscheinlichkeit errechnen. Damit wäredann auch der Forderung des § 6 a des Bundesdaten-schutzgesetzes Genüge getan. Im Übrigen könnten wirdamit eine soziale Schieflage beseitigen.
Das heißt, die Auskunfteien müssen für Transparenzsorgen. Der Verbraucher hat das Recht und muss dasRecht haben, bei einer Selbstauskunft mehr zu erfahrenals den tagesaktuellen Score. Die Auskunfteien müssenRechenschaft ablegen, welche Faktoren den Score wiebeeinflussen und welcher Score weitergeleitet wird.Bedauerlich finde ich – das muss ich sagen –, dassvon den grünen Verbraucherschützern eine solche Initia-tive nicht schon früher gestartet wurde, und zwar in derZeit, in der sie noch mitregiert haben; denn der Bundes-datenschutzbeauftragte hat zuletzt in seinem Tätigkeits-bericht 2003/2004 ebenso wie 2001/2002 auf diese Pro-blematik eindringlich hingewiesen. Das steht alles abSeite 129 des Berichts.
All das hätte man in der Zeit Ihrer Regierungsbeteili-gung gut machen können.
– Ich habe schon festgestellt, dass wir hier gefehlt haben.Ich halte den Antrag für gut. Deswegen sollten wir ins-besondere dem Datenschutz in Zukunft mehr Beach-tung schenken.
Liebe Silke Stokar, eine Anmerkung muss ich nochmachen. Ich finde es gut, Silke, diesen Antrag einzubrin-gen. Aber wenn man Anträge schreibt und alles aus dem
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Jan KorteDatenschutzbericht ab Seite 129 fast wortgleich ab-schreibt,
sollte man sich wenigstens die Mühe machen, den Satz-bau ein wenig zu verändern. Trotzdem ist der Antragrichtig und wir unterstützen ihn.
Das Wort hat nun der Kollege Jörg Tauss von der
SPD-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Frau Präsidentin! Lieber Kollege Korte, lesenSie das Ganze noch einmal nach. Das, was Sie hier ange-sprochen und angemahnt haben, ist in der Tat bereits2001 umgesetzt worden. 2001 hat die damalige Koali-tion mit der Einführung des § 6 a des Bundesdaten-schutzgesetzes Regelungen, die es bis dahin noch nichtgab, zur automatisierten Einzelfallentscheidung getrof-fen. Es ist also nicht richtig, dass in der letzten Legisla-turperiode unserer Regierungszeit nicht gehandelt wor-den ist. Es gab hier – da waren Sie noch nicht Mitglieddieses Hauses – eine ganze Reihe von parteiübergreifen-den Stellungnahmen zu diesem Thema.
Ganz nebenbei will ich ein paar Worte an die FDPrichten. Kollegin Schuster, Sie können nichts dafür, aberIhre Fraktion hat damals explizit gegen diese Regelun-gen bestimmt; das haben wir sehr bedauert. Aber, wiegesagt, ich finde es gut, wenn ihr von der Realität einge-holt werdet.Der Deutsche Bundestag hat – insofern haben wir ge-handelt – am 17. Februar 2005 die Bundesregierung ge-beten, einen Bericht vorzulegen. Dieser Bericht ist inArbeit. Er wird im Bundesinnenministerium auf denWeg gebracht. Ich denke, Frau Kollegin Philipp, wirsollten anhand dieses Berichtes in eine Diskussion ein-steigen.Ich habe eine Anmerkung – vielleicht war es einMissverständnis Ihrer Bewertung des vorliegenden Be-richts eines Forschungsprojekts –: Sie haben über dasUnabhängige Landeszentrum für Datenschutz, gegrün-det von Herrn Bäumler, einem der anerkanntestenExperten auf dem Gebiet, sehr negativ geredet.
– Dann war es in der Tat ein Missverständnis; denn ichglaube, dass uns die Expertise, die wir aus Schleswig-Holstein bekommen haben, weiterbringen kann. Sie ent-hält eine ganze Reihe von bedenkenswerten Punkten.
Einige sind bereits angesprochen worden, beispielsweisedie Frage der Bewertung des Wohnortes. Dazu hat dasGutachten deutlich Stellung genommen.Was zu dem Rücklauf von 29 Antworten gesagtwurde, hat sich ein bisschen negativ angehört.
– Das ist zwar so, aber ich würde zum Umkehrschlusskommen. Es war doch so, dass der beauftragte Gutachter500 Kreditinstitute angeschrieben hat, von denen nur 29geantwortet haben. Das halte ich für den eigentlich pro-blematischen Hintergrund.
Entweder nimmt die Kreditwirtschaft das nicht ernstoder sie will etwas vertuschen. Letzteres will ich nichthoffen, aber ich denke, dass wir in diesem Punkt mit denBanken bzw. mit dem Bundesverband deutscher Bankeneine heftige Diskussion führen müssen. So geht es näm-lich nicht.
Aus diesem Bericht ist eine ganze Reihe von Erkennt-nissen gezogen worden, so zum Beispiel, dass die Zu-sammenhänge mit dem Wohnort evident sind. Ich habees übrigens kürzlich in eigener Sache gemerkt. Ich hattebei einer Bank Gelegenheit, einzusehen, was zu meinerPerson gespeichert ist. Es war hochinteressant: EineSchufa-Auskunft ergab „unklare Wohnverhältnisse“ beiJörg Tauss.
Ich weiß nicht, womit das zusammenhängt. Ich binglücklich verheiratet, wohne mit meiner Frau in einemnetten Häuschen auf dem Dorf und habe eine Wohnungin Berlin. Es ist alles wunderbar geregelt. Ich weiß des-halb nicht, wie es zu dieser Einschätzung kam. Ich ver-mute, dass es mit unserem unsoliden Lebenswandel inBerlin zusammenhängt; wir haben nämlich zwei Wohn-sitze. Das ergibt wohl solche so genannten unklarenWohnverhältnisse.Es gibt auch den umgekehrten Fall. Bevor ich umge-zogen bin, habe ich in einem schönen Häuschen zurMiete gewohnt. Es gehörte einem Zahnarzt, der Geldhatte und es entsprechend hergerichtet hat. Ich habe esdann bewohnt.
– Nein, denen geht es immer noch gut. Gejammert habensie immer, aber das ist ein anderes Thema. Es geht jetztnicht um die Gesundheitsreform.Seinerzeit ging aus einer entsprechenden Auskunfthervor: Herr Tauss gilt als Eigentümer eines Einfami-lienhauses. Das hat meine Kreditwürdigkeit ungeheuer
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Jörg Tausserhöht, aber das Haus hat mir gar nicht gehört. Es hatentweder meinem Zahnarzt oder einer Sparkasse gehört.Daran wird deutlich, dass solche Angaben gelegent-lich von zweifelhaftem Wert sind. Ich glaube, wir sinduns alle darin einig, dass es nicht sein kann, dass bei-spielsweise aufgrund von Fehlern, die in solchen Gut-achten enthalten sind, die Existenz eines Menschen ge-fährdet wird.Frau Präsidentin, Sie leuchten.
Ich komme deshalb zum Ende.Dass Handlungsbedarf besteht, ist eindeutig festge-stellt worden. Wir müssen das gemeinsam beraten. Ichhalte es für sinnvoll, Frau Kollegin Stokar – auch FrauKollegin Philipp hat das positiv erwähnt –, zu einer ge-meinsamen Initiative zu kommen. Lassen Sie uns inFortsetzung dessen, was wir in datenschutzrechtlicherHinsicht bereits auf den Weg gebracht haben, mit denGutachten befassen.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-nungspunkt.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/683 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe, dass das der Fall ist. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Christine Scheel, KerstinAndreae, Bärbel Höhn und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENOffene Immobilienfonds – Marktstabilitätsichern, Anlegervertrauen stärken– Drucksache 16/661 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehedazu keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als ersterRedner Herr Dr. Gerhard Schick von der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben in den letzten Wochen und Monaten bei den offenenImmobilienfonds eine erhebliche Verunsicherung er-lebt. Das hat damit angefangen, dass die Deutsche BankReal Estate die Rücknahme der Anteile an dem FondsGrundbesitz-Invest ausgesetzt hat, und ist im Januarweitergegangen, als bei zwei weiteren Fonds die Rück-nahme der Anteile ausgesetzt wurde. Das hat zu erhebli-cher Verunsicherung bei den Anlegern und zu einer Dis-kussion in der Branche über die Zukunft dieses Produktsgeführt. Aber als die Deutsche Bank in der letzten Wo-che die Rücknahme eingeführt hat, war der Abschlag mit2,4 Prozent nicht so dramatisch hoch wie teilweise be-fürchtet. Nun ist wieder etwas Ruhe eingekehrt. Trotz-dem bleibt die Unsicherheit. Die Anleger wissen nicht,wie es mit einem Produkt weitergehen soll, das ihnenhäufig als „so sicher wie Omas Häuschen“ – wir allekennen den Spruch – verkauft worden ist.Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antragauf, hier gesetzgeberisch tätig zu werden; denn man darfnicht zur Tagesordnung übergehen, weil sich die Situa-tion beruhigt hat, und warten, bis wieder Unruhe ent-steht. Es ist richtig, nun gesetzgeberisch zu handeln.
Schließlich ist es nicht das erste Mal – Stichwort„Deka“ –, dass so etwas passiert.Wir vom Bündnis 90/Die Grünen sind nach wie vorder Meinung, dass offene Immobilienfonds gute Pro-dukte sind. Sie ermöglichen Kleinanlegern, an der Wert-entwicklung auf dem Immobilienmarkt teilzuhaben.Wichtig ist aber, dass wir nun aufgrund der Erfahrungen,die wir in den letzten Wochen und Monaten gesammelthaben, die gesetzlichen Rahmenbedingungen anpas-sen. Unseres Erachtens reicht es nicht, dass die Brancheselber etwas tut; denn dort gibt es die Tendenz, irgend-wann wieder zur Tagesordnung überzugehen. Vielmehrist es Aufgabe des Staates, den gesetzlichen Rahmen da-für zu schaffen, dass diese Produkte gut und sicher sind,dass die Marktstabilität gewährleistet ist und dass dasAnlegervertrauen langfristig gestärkt wird.
Wir verfolgen mit unserem Antrag drei Ziele. Daserste Ziel ist, zukünftig Unsicherheiten bei der Bewer-tung zu vermeiden. Sie wissen, dass das bei der Deut-schen Bank eine Rolle gespielt hat. Ich möchte noch et-was hinzufügen, was für die zukünftige Diskussionwichtig werden könnte. Es wird allgemein darüber dis-kutiert, ob wir REITs einführen sollen. Wir wenden unsstrikt dagegen, REITs-Anteile offenen Immobilienfondsbeizumischen; denn das würde die Unsicherheit bei derBewertung massiv erhöhen. Das sollte auf keinen Fallgeschehen.Unser zweites Ziel ist, die Liquidität zu sichern. Wirmüssen bei den Regelungen betreffend die Mindestliqui-dität nachjustieren. Außerdem brauchen wir Lösungenbei der Fristeninkongruenz. Hierzu erwarten wir kon-krete Vorschläge von der Bundesregierung.
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Dr. Gerhard SchickUnser drittes Ziel ist, mehr Transparenz für die An-leger zu schaffen. Das bedeutet, dass einzelne Verkehrs-werte zu veröffentlichen sind und dass in den Verkaufs-prospekten konkret gesagt wird, wo die Risiken liegen.Es darf nicht passieren, dass Menschen durch eine Bera-tung, in der die wahren Risiken verschwiegen werden,dazu gebracht werden, ihr gesamtes Vermögen in offeneImmobilienfonds zum Zwecke der Altersvorsorge zu in-vestieren. Offene Immobilienfonds sind zwar gute Pro-dukte und können Teil eines Anlegerportfolios sein.Aber in diese Fonds sollte nicht alles angelegt werden,weil das Risiko zu groß ist.Unser Ziel ist, für eine nachhaltige Finanzmarktent-wicklung zu sorgen. Das geht nur, wenn der Humus fürden Finanzmarkt, das Anlegervertrauen, gut gepflegtwird. Wir bitten Sie deswegen, unserem Antrag zuzu-stimmen, damit wir hier zu stabilen gesetzlichen Rah-menbedingungen kommen.Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Klaus-Peter Flosbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wer ruhig schlafen möchte, setzt auf Beton. Das ist einbekannter Spruch aus der Baubranche. Aber das Welt-bild ist in den letzten Monaten gründlich in Unordnunggeraten. Der offene Immobilienfonds ist als Produkt seit47 Jahren bekannt und so lange weist er jedes Jahr Stei-gerungen – manchmal waren es nur 3 Prozent, ein ande-res Mal 8 Prozent – auf. So etwas kennt man sonst in derFinanzbranche nicht. Der offene Immobilienfonds warfür viele Anleger ein stabiler Baustein der Vermögens-bildung. Es gibt Kleinanleger, die bereits mit 50 Euroeingestiegen sind, und natürlich auch Großanleger.Heute verfügen diese Fonds noch immer über ein Volu-men von 85 Milliarden Euro.Für viele Personen, die im Alter nicht auf die gesetzli-che Rentenversicherung oder eine betriebliche Alters-vorsorge zurückgreifen können und auch nicht Leistun-gen von Versorgungswerken oder eine Pension beziehen,waren die offenen Immobilienfonds, wie der KollegeSchick bereits dargelegt hat, ein Stabilisator der Alters-versorgung, ein – im Rahmen einer gewissen Streu-ung – ganz wesentlicher, stabiler Baustein.Nun hat es durch die kurzfristigen Schließungen voninsgesamt drei Fonds und die Ankündigung der Neube-wertungen ordentliche Turbulenzen gegeben. Inzwi-schen ist sicherlich etwas Ruhe eingekehrt, aber es istunsere Aufgabe, jetzt die Probleme aufzulisten und zuprüfen, was die Branche leisten kann und wo der Gesetz-geber gefordert ist.
Der Antrag allerdings, den die Kolleginnen und Kolle-gen des Bündnisses 90/Die Grünen vorgelegt haben,schüttet das Kind mit dem Bade aus. Wir werden das sonicht unterstützen können.
In Ihrem Antrag gibt es zahlreiche positive Ansätze.Ihr zentraler Punkt ist, dass Sie den Anlegerschutz stär-ken wollen. Das ist gut gemeint,
aber es ist nicht gut gemacht. Wenn Sie umsetzen, wasSie in Ihrem Antrag fordern, dann machen Sie das Pro-dukt des offenen Immobilienfonds kaputt. Dabei könnenwir natürlich nicht mitmachen.
Die Schließung des Fonds hat überhaupt nichts mitder Qualität der Fonds zu tun. Das ist ein bewährtes Pro-dukt, aber wir müssen hier differenzieren. Ein offenerImmobilienfonds ist kein Sparbuch, kein Sparbrief undauch kein festverzinsliches Papier. Bedenken Sie einmal,was mit Rentenfonds und Rentenpapieren, die notiertsind und gehandelt werden, passiert, wenn die Zinsensteigen: Die Kurse sinken; sogar Verluste in zweistelli-ger Höhe sind für Anleger im Bereich der festverzinsli-chen Wertpapiere möglich. Müssen wir dafür Sicherun-gen seitens des Staates einrichten? Das kann sicherlichnicht der Sinn sein. Ein offener Immobilienfonds bewegtsich wie eine Einzelimmobilie im Markt. Wir müssendarauf achten, dass der einzelne Anleger durch die Ban-ken und durch die Vermittler aufgeklärt ist, damit erweiß, was er tut.Der offene Immobilienfonds war bis zum Jahr 2000im Grunde ein langweiliges Produkt. Viele haben ihreAltersversorgung dort hineingesteckt, weil diese Anlage-form sicher war und immer zwischen 3 und 7 Prozentbrachte. Es gab aber niemals die Sprünge, die es am Ak-tienmarkt gegeben hat. Erst im Jahr 2000, als die Aktien-blase – vor allem am Neuen Markt – platzte, hat man er-kannt, wie wertvoll ein solches Produkt am Kapitalmarktist. Deswegen ist es sehr problematisch, wenn Sie in Ih-rem Antrag von Totalverlust sprechen, auf den der An-leger hingewiesen werden müsse. Das verkennt völligdie Tatsachen. Vor allem aber schadet es dem einzelnenProdukt. Es kann nicht der Sinn eines Antrags sein, ineine politische Diskussion etwas einzubringen, was mitdem Produkt überhaupt nichts zu tun hat.
– Das ist in der Tat falsch, lieber Kollege.47 Jahre ist dieses Produkt positiv gewesen. Es ist si-cherlich eine Illusion, zu glauben, dass die Rendite im-mer positiv sein muss. Es hat aber nur fünf von 38 Fondsgegeben, die einen Wertberichtigungsbedarf hatten. Die-ser bewegte sich in der Größenordnung von 2 bis7 Prozent. Deshalb sollten wir die Kirche im Dorf lassenund nicht von der Möglichkeit eines Totalverlustes spre-chen.
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Klaus-Peter FlosbachWir sollten uns auf die wirklichen Probleme konzen-trieren. Das erste Problem ist, dass ein offener Immobi-lienfonds wie jede Immobilie eine langfristige Anlageist,
viele ihn aber als kurzfristige Anlage nutzen. Für dieselangfristige Anlage musste ein Fonds bislang 5 ProzentLiquidität vorhalten, damit der einzelne Anleger, wenner Geld braucht, an dieses Geld herankommt. Ein Pro-blem ergibt sich, wenn große, auch institutionelle Anle-ger oder Banken erkennen, dass die Rendite in einem of-fenen Immobilienfonds größer als die bei Festgeld ist,entsprechend große Beträge anlegen und kurzfristig wie-der dem Fonds entziehen. Noch problematischer findeich allerdings, dass die großen Anleger gegenüber demKleinanleger einen Informationsvorsprung haben. Indiesem konkreten Fall wussten sie, dass es zu einemWertberichtigungsbedarf kommen könnte; daraufhin ha-ben sie die Beträge abgerufen und damit die 5 Prozent anLiquidität ausgeschöpft. Somit kam es zur Schließung,was im Grunde genommen nichts Schlimmes ist; denndas könnte auch zum Schutz der Kleinanleger sein. Da-raus ist die Vertrauenskrise entstanden. Diese ist auchnicht aufgefangen worden – höchstens zum Teil – durchden Schadensausgleich, den eine große deutsche Bankangeboten hat. Das führt natürlich dazu, dass eine La-wine losgetreten wird und viele Kleinanleger ebenfallsihr Geld abrufen.Wir sollten also dort ansetzen, wo wir aus Gründendes Verbraucherschutzes den Kleinanleger schützenmüssen. Die erste Frage ist, ob es überhaupt richtig ist,dass Großanleger in diese Publikumsfonds Beträge ein-legen und auch wieder abziehen können. Es ist auch dieFrage zu stellen, ob nicht gerade an dieser Stelle Kündi-gungsfristen einzuhalten sind, zum Beispiel je nachGröße der Anlagesumme.
Aber bitte, liebe Antragsteller, fordern Sie nicht Siche-rungsinstrumente wie einen Sicherungsfonds oder dieHaftung der Muttergesellschaft. Dies entspricht über-haupt nicht dem Produkt. Es handelt sich hier nicht umeine staatlich verordnete oder vom Staat gesicherte An-lage. Wir dürfen es auf keinen Fall zulassen, dass hiereine Verlagerung der Risiken auf eine Gemeinschaft er-folgt. Davon sollten wir in der Tat Abstand nehmen.
Wir als Gesetzgeber sind für die Rahmenbedingungenzuständig. Dazu gehört natürlich auch, dass wir die Ba-Fin beauftragen müssen, diesen Rahmen zu kontrollie-ren. Der offene Immobilienfonds ist nach wie vor einsicheres Instrument im Rahmen einer vernünftigenStreuung. Der beste Tipp für einen Anleger ist eben im-mer eine vernünftige Streuung. Wer die Chance habenmöchte, einen möglichst hohen Ertrag zu erzielen, dermuss natürlich auch kalkulatorisch ein gewisses Risikoeingehen.Wir sollten im Rahmen der weiteren Beratungen überdie weiteren Maßnahmen diskutieren. Gefragt wird bei-spielsweise, ob die Mindestliquiditätsquote von 5 Pro-zent auf 10 Prozent erhöht werden muss. Wir alle wis-sen, dass das selbstverständlich zulasten der Renditegeht. Aber man kann darüber natürlich diskutieren. Ge-fragt wird außerdem, ob der Vertrieb eingestellt werdenmuss, wenn ein Fonds über mehr als 40 Prozent Liquidi-tät verfügt. Vor vier oder fünf Jahren war die Liquiditätso hoch, dass man kaum genügend Immobilien kaufenkonnte. Zu diesem Zeitpunkt hat man im Rahmen dieserFonds zu teure Immobilien gekauft.Wir werden über die Kündigungsfristen bei großenAnlagebeträgen diskutieren müssen. Sie haben die Frageder Beimischung von REITs angesprochen. Das wirdmöglicherweise ganz anders gesehen. Man fragt, obnicht gerade diese Immobilienaktien wieder ein StückLiquidität schaffen können und ob sie beigemischt wer-den sollen. Eine andere Frage ist natürlich, ob es richtigist, die Bewertung, wie derzeit, einmal im Jahr vorzu-nehmen, oder ob man, wie in anderen Ländern, kürzereFristen braucht. Gefragt wird auch nach der Rotationvon Sachverständigen und – das haben auch Sie getan –nach der Transparenz bezüglich der Details der einzel-nen Formen im Rahmen dieser Anlage.Das Fazit der ganzen Sache ist: Es besteht schon einerheblicher Verbesserungs- und Änderungsbedarf imRahmen des Investmentgesetzes, und zwar nicht erst seitheute durch die Schließung dieser drei Fonds. Die Im-mobilie bleibt eine langfristige Anlageform. Machen Sieda bitte mit! Wir müssen dieses – sicherlich ganz gute –Produkt stärken und wir dürfen es nicht kaputtregulie-ren.Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Wort hat nun der Kollege Frank Schäffler, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Auf diesen Antrag habe ich eigentlich längst ge-wartet. Da verhält sich ein Marktteilnehmer ungeschickt,was dem Unternehmen selbst wirtschaftlich sicherlichbesonders geschadet hat, und die Grünen wollen gleicheinen Paragrafen hinterherwerfen. Herr Kollege Schick,ich glaube, wir sollten dem Wettbewerb an dieser Stelleeine Chance geben.
Gleichzeitig werfen Sie alle Marktteilnehmer in einenTopf. So ist die Aussetzung der beiden Kan-Am-Fondskeine Frage der fehlenden Abwertungsnotwendigkeit ge-wesen, sondern eher eine Frage, wie sich eine Rating-agentur verhalten hat. Sie spielen mit Ihrem Antrag derVerunsicherung des Marktes in die Hände. Dabei hat
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Frank Schäfflersich der Markt für offene Immobilienfonds in den letztenWochen erkennbar beruhigt und wir sollten froh sein,dass hiermit keine weitere Verunsicherung der Finanz-märkte einhergeht.
Ihre Vorschläge sind teilweise überlegenswert, teil-weise aber auch sehr gefährlich. Fakt ist jedoch, dass dieDiskussion im Markt läuft. Und das ist gut so. Ich haltees daher für absolut richtig, dass wir jetzt nicht mit ei-nem Schnellschuss reagieren, sondern im Sommer die-ses Jahres überlegen, wie wir das Investmentgesetz no-vellieren können.Vor umfassenden Änderungen will ich aber warnen.Offene Immobilienfonds sind aufgrund der geringenSchwankungsbreite und ihrer weitgehend steuerfreienWertentwicklung sehr beliebt. Ein vollständiges Verlust-risiko ist ausgeschlossen, da ein Sachwert dahintersteht.Wir sollten die Anlageklasse der offenen Immobilien-fonds daher nicht verwässern. Wir sollten daraus keineverkappten REITs oder Immobilienaktienfonds machen,sondern diesem Markt mit seinen Besonderheiten Raumlassen.So bin ich auch skeptisch, ob eine Erhöhung der Li-quidität den Fonds in Extremsituationen wirklich helfenkann. Eine höhere Liquidität nimmt den Fonds allemalRenditechancen. Auch eine Beimischung von REITsmuss kritisch geprüft werden. REITs werden zwangsläu-fig risikoreichere Anlagen sein. Lassen wir diese Klasseals Beimischung zu, dann erhöhen wir automatisch auchdas Risiko für Anleger in offenen Immobilienfonds.Eines ist in der öffentlichen Diskussion deutlich ge-worden. Offene Immobilienfonds sind kein Sparbuch,sondern haben eigene Risiken – und wenn es nur das Ri-siko ist, dass die Fonds bei starken Mittelabflüssen kurz-fristig nicht liquide sind und daher die Rücknahme derAnteilscheine ausgesetzt werden muss.Wir als Parlamentarier müssen dafür sorgen, dass Ver-trauen in die Anlagemärkte wieder zurückgewonnenwird. Das ist unsere Hauptaufgabe. Einen parteipoliti-schen Streit über eine Veränderung in diesem Bereichhalte ich für fatal. Wir sollten aufpassen, dass wir an die-ser Stelle nicht dem Populismus zu viel Rechnung tra-gen.
Sie von den Grünen haben viele beachtenswerte Vor-schläge gemacht, aber auch vieles Falsche gesagt. Nachmeinem Kenntnisstand ist es beispielsweise nicht so,dass in Frankreich die Immobilien quartalsweise über-prüft werden. Auch andere Länder haben dies nicht ge-macht. Die Schweiz und Österreich beispielsweise über-prüfen die Immobilien jährlich. Man muss sich auchfragen, ob eine Immobilie innerhalb eines Vierteljahrestatsächlich so radikal an Wert verlieren kann. Im Übri-gen zeigen auch die aktuellen Beispiele, dass das nichtnötig ist. Der Fonds der Deutschen Bank – das wurdeschon gesagt – ist um knapp 2,5 Prozent abgewertet wor-den. Die anderen Investmentfonds in diesem Bereichsind am Ende sogar höher bewertet worden.Es gibt aus meiner Sicht also nur einen eingeschränk-ten Handlungsbedarf. Den sollten wir in Ruhe klärenund auch in Ruhe überlegen, was wir tun können. EinenSchnellschuss an dieser Stelle sollten wir ablehnen. Des-halb würde ich mich freuen, wenn die Grünen ihren An-trag überdenken würden.Vielen Dank.
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Nina Hauer,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! DerAntrag der Grünen greift ein aktuelles Thema auf. Ob erzum jetzigen Zeitpunkt hilfreich ist, wird sich noch zei-gen.Wir haben uns mit dem Thema der Schließung des of-fenen Immobilienfonds der Deutschen Bank auch im Fi-nanzausschuss beschäftigt. Man kann sagen, dass wir ei-ner Meinung sind, was die Fragen betrifft: Wie stärkenwir das Vertrauen, das beim Anleger durch diese Schlie-ßung verloren gegangen ist? Wie sorgen wir auch dafür,dass für diese offenen Fonds in Zukunft klarere Regeln– die sind offensichtlich notwendig – gelten?Ihr Antrag nimmt das richtige Thema zum falschenZeitpunkt auf und setzt auch die falschen Akzente.
Das ist der Grund dafür, dass er von meiner Fraktion ab-gelehnt wird. Es besteht Anlass zu ein bisschen mehrGelassenheit. Wir haben in der letzten Woche eine posi-tive Entwicklung bei der Deutschen Bank erlebt. DerFondsbesitz wurde nur um 2,4 Prozent abgewertet unddie Anleger sollen entschädigt werden. Wenn man ein-mal bedenkt, dass die Bank davon geredet hat, es könneeine Abwertung um 10 oder 15 Prozent erfolgen, ist esdoch eine Blamage, die die Deutsche Bank da erlebt hat.
Ich kann verstehen, dass sich die Anleger – wenn ichdas einmal auf Hessisch sagen darf – veräppelt fühlen,wenn oben in der Chefetage darüber geredet wird, dassder Fonds geschlossen wird, und am selben Tag untenam Schalter noch Anteile verkauft werden. Das darf na-türlich nicht passieren.
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Nina HauerOb die Entschädigungen über den Vertrauensverlusthinweghelfen, muss die Deutsche Bank selbst beantwor-ten.Ich finde, dass Ihre Vorschläge, meine Damen undHerren von den Grünen, zum Teil gar nicht auf diesesProblem eingehen. Sie wollen, dass viermal im Jahr derWert einer Immobilie durch Sachverständige beurteiltwird. Das wird die Anleger nicht freuen; denn die Volati-lität der Verkehrswerte von Immobilien ist gering, dieKosten dieser Bewertungen sind hoch und am Ende zah-len das die Anleger. Ich halte es für sinnvoller, das ein-mal im Jahr zu machen. Das wird der Bewegung, die indiesem Markt ist, gerecht, ohne dass ein unnötiges Ri-siko eingegangen wird.Sie wollen, dass die BaFin in Zukunft darüber ent-scheidet, ob die Annahme von Anteilen ausgesetzt wer-den darf oder nicht. Wir haben diese Finanzmarktauf-sicht zum einen gegründet, um alle Aufsichten über denFinanzmarkt in einer Hand zu haben. Zum anderen solldieser Behörde aber auch in einem hoch flexiblen MarktAchtung zukommen. Vor diesem Hintergrund halte iches für problematisch, die Kompetenz für alles, was unsauf dem Finanzmarkt begegnet, dieser Behörde zuzu-schieben. Dem ehemaligen Arbeitsamt, der heutigenBundesagentur für Arbeit, haben wir über Jahre hinwegVerantwortlichkeiten zugeschoben und uns dann gewun-dert, dass da nicht mehr viel funktionierte. Ich denke,das darf sich bei der BaFin nicht wiederholen. Die BaFinkann einen aktuellen Einzelfall wahrscheinlich nicht inder Geschwindigkeit prüfen, in der das nötig wäre. Ab-gesehen davon würde sich so die Aufmerksamkeit derÖffentlichkeit auf die Aufsicht lenken und nicht auf daseigentliche Unternehmen, das die Schließung einesFonds plant. Umgekehrt kann die BaFin jedoch, wenneine Schließung notwendig sein sollte, diese anordnenbzw. nach einer Prüfung verlangen, dass die Anteile zu-rückgenommen werden. Bei Ihrem Antrag hat man denEindruck, dass die Aussetzung des Anteilshandels imErmessen der Kapitalgesellschaft liegt. Das ist nicht derFall. Hierfür wurde schon längst eine gesetzliche Rege-lung geschaffen, auf die die BaFin zurückgreifen kannund auf die sich die Anleger und Anlegerinnen verlassenkönnen.Auch ich finde, dass die Privatanleger gegenüber denGroßanlegern und den institutionellen Anlegern gestärktwerden müssen, gerade vor dem Hintergrund, dass of-fene Immobilienfonds als Tagesgeldanlage genutzt wer-den bzw. innerhalb kurzer Zeit Geld hineingepumpt unddann wieder abgezogen wird. Deswegen ist die Überle-gung, Kündigungsfristen von zwölf Monaten oder län-ger einzuführen, legitim. Wir müssen im Einzelfall nocheinmal bereden, was da zweckmäßig ist. Ich denke aber,dass der Vorschlag generell sinnvoll ist. Für problema-tisch halte ich es allerdings, die Rücknahmeabschlägeanalog zur Haltedauer festzusetzen, wie es in Ihrem An-trag vorgeschlagen wird. Stellen Sie sich das einmalganz real vor: Die Pflicht, bei anonymen Anlagen– schließlich kann ja im Regelfall gar nicht nachvollzo-gen werden, wem welcher Anteil in welcher Höhe ge-hört – festzustellen, wann welches Geld dem Fonds zu-geflossen ist und wann es wieder abgezogen wurde,führt zu einer Bürokratisierung und einem irrsinnigenVerwaltungsdruck, dem die Anlageform Fonds kaum ge-wachsen sein wird. Wenn das zur Auflage wird, könnendie Fonds eigentlich zumachen. Grundsätzlich halte ichalso den Vorschlag, eine Kündigungsfrist einzuführen,für sinnvoll. Das darf aber nicht dazu führen, den FondsVerwaltungsaufgaben aufzubürden, die am Ende ihreRentabilität gefährden.Ich habe auch nichts dagegen, die liquiden Mittel zuerhöhen. Eine Mindestliquiditätsquote von 10 Prozent,wie von einigen Seiten vorgeschlagen, hätte im aktuellenFall gereicht, wenn die Einschätzung der DeutschenBank richtig gewesen wäre. Natürlich kostet das etwas.
– Es ist klar, dass das zulasten der Rendite geht. In An-betracht dessen, was da geschützt werden soll, sollteman aber in der Tat darüber nachdenken, ob dieser Vor-schlag sinnvoll ist.Die schon geübte Kritik an der Einführung eines Hin-weises auf die Möglichkeit eines Totalverlustes teileich. Wir haben die Pflicht zu diesem Hinweis in einigenBereichen eingeführt, zum Beispiel bei den Hedge-Fonds, wo er absolut angemessen ist. Wir entwerten dieBedeutung, die ein solcher Hinweis für die Kunden hat,wenn wir ihn überall da zur Pflicht machen, wo ein Ri-siko bestehen könnte. Schließlich versichern Sie sich,wenn Sie auf einem Berg wohnen, auch nicht gegenHochwasser. Wir würden also den Anlegern das Gefühleines Risikos vermitteln, welches es bei diesem Anlage-produkt definitiv nicht gibt. Anders als etwa bei Aktienwäre die Möglichkeit eines Totalverlustes bei Immo-bilien ja nur dann gegeben, wenn ihr Wert auf null sin-ken würde, was absolut unwahrscheinlich ist. Das istalso kein adäquates Mittel, um auf die bei Immobilien-fonds bestehenden Risiken hinzuweisen. Außerdemwürden wir, wenn wir diesen Begriff, den wir als Warn-signal bisher gut im Aktienrecht eingeführt haben, hierverwenden würden, auch Leute verwirren, die zu einemProdukt greifen wollen, wo wirklich der Totalverlust alsGefahr drohen kann und dieser Hinweis angebracht ist.Insgesamt greift Ihr Antrag die richtigen Themen auf,allerdings, wie ich finde, zum falschen Zeitpunkt. Wirmüssen jetzt einmal abwarten, wie es bei der DeutschenBank weitergeht. Ich finde, diese Gelassenheit solltenwir haben. Wir werden uns aber im Laufe dieses Jahresdamit auseinander setzen, wie wir die Regeln, die vonden Kolleginnen und Kollegen hier schon aufgegriffenund besprochen worden sind, zur Grundlage machenkönnen, um die gesetzlichen Bestimmungen so zu ge-stalten, dass wir das Vertrauen, aber auch die Sicherheitder Anleger stärken. Für den Anleger muss klar werden:Wo lege ich mein Geld an, wie hoch ist mein Risiko undvor welchen Entscheidungen auf Unternehmensebenewerde ich als Anleger geschützt?Vielen Dank.
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Nina Hauer
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kol-
lege Dr. Herbert Schui von der Fraktion Die Linke das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Be-kanntlich ist es für die Linke nicht das politische ZielNummer eins, das Geldvermögen der Anleger bei Im-mobilienfonds zu schützen.
– Das ist unglücklicherweise nicht mein Vermögen. Ichhabe als Mitglied der WASG auf der Liste der Linkspar-tei kandidiert
– ja, Herr Kollege Mittelbänkler –, sonst würde ich na-türlich höhere Nebeneinkommen angeben.Wichtig ist die Sache natürlich insofern, als Kleinst-anleger betroffen sein könnten. Wichtig ist sie vor allenDingen deswegen, weil eine Krise des Finanzsektors, diebei den Immobilienfonds ihren Anfang nehmen könnte,sehr rasch Wirkungen auf den realen Sektor der Wirt-schaft, auf Beschäftigung und Wachstum haben könnte.Auch wenn die Gefahr in Bezug auf den aktuellen Im-mobilienfonds einigermaßen gebannt zu sein scheint,machen wir uns nichts vor: Viele Immobilien in diesenFonds haben effektiv einen wesentlich geringeren Wert,als das bei der Analyse der Bilanzen prima facie der Fallzu sein scheint.Die Maßnahmen, die der Antrag von Bündnis 90/DieGrünen vorschlägt, sind meiner Auffassung nach einWeg in die richtige Richtung. Die Ultima Ratio im An-trag der Grünen allerdings soll, wenn ich das richtig de-chiffriert habe, darin bestehen, die Liquidierung vonFondsanteilen seitens der Anleger durch administrativeMaßnahmen zeitweise zu unterbinden.Wenn ein solcher Antrag in den Bundestag einge-bracht wird, dann wird eines deutlich: Die Privatwirt-schaft, im vorliegenden Fall vertreten durch die Immobi-lienfonds, braucht einen regulierenden Staat. DieAutonomie der Unternehmer, der Erfindungsreichtumund die Freiheit des Marktes müssen beschränkt werden,um die Stabilität der Privatwirtschaft zu verbessern unddie Existenz ganzer Geschäftszweige zu sichern.Spontan ist man da an eine Bemerkung von JosephSchumpeter in „Kapitalismus, Sozialismus und Demo-kratie“ erinnert.
Gemeint ist aber nicht die Sache mit der „schöpferischenZerstörung“, woran die Fatalisten sehr gerne glauben,sondern seine etwas apodiktische Feststellung: DieBourgeoisie braucht ihren Herrn.
Bis zu Schumpeter hat es Kollege Spiller, der finanz-politische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, nochnicht gebracht, auch nicht die letzte SPD-geführte Re-gierung. Kollege Spiller setzt auf Eigenverantwortungder Institute, so das „Handelsblatt“ im Januar. ÄhnlichKollege Meister von der CDU/CSU, der in der gleichenZeitungsmeldung darauf baut, dass die Fondswirtschaftselbst aktiv wird. Ob die Regierung weiterhin den Über-blick behält, ist offen; ich wünsche es. Immerhin habensich die Staatssekretäre Frau Hendricks und Herr Mirowfür einen Eingriff des Gesetzgebers ausgesprochen.Weniger emphatisch formuliert als bei Schumpeter:Der Staat muss Gegenpol zur Privatwirtschaft sein; sonstkann weder die Privatwirtschaft noch der Staat funktio-nieren. Das ist der entscheidende Punkt. Infolgedessenmüssen wir, wenn wir ein solches Gesetz machen, über-legen, was zweckmäßig ist, und dürfen uns nicht durchZurufe aus der entsprechenden Branche aus der Balancebringen lassen. Aber dazu gleich noch ein paar kleineBemerkungen.Eine konkrete Frage zum Antrag der Grünen ist:Wenn die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf-sicht im beginnenden Katastrophenfall die Liquidierungvon Fondsanteilen durch die Anleger aussetzen soll,dann benötigt sie umfassende Informationen, um einer-seits nicht unnötig zu handeln und die sprichwörtlichenPferde nicht scheu zu machen und um andererseits stetsdann zur Stelle zu sein, wenn alle anderen Mittel nichtmehr greifen. Die notwendigen Informationen aber sindnur zu haben, wenn die Fonds, die Unternehmen desFinanzsektors, einige wesentliche Geheimnisse, sozusa-gen Bankgeheimnisse, preisgeben. Werden sie dazu be-reit sein, auch wenn das im wohlverstandenen Branchen-interesse liegt? Sicherlich kann das Gesetz sie dazuzwingen.Eine flankierende Maßnahme wäre, den Fonds fürZeiten einer bevorstehenden tiefen Krise Diskontmög-lichkeiten zu eröffnen, damit sie sich die erforderlicheLiquidität bei anhaltendem Abfluss von Einlagen ver-schaffen können. Das aber dürfte politisch voraussetzen,dass die Europäische Zentralbank mitspielt. Die aber istunpraktisch veranlagt, wie das auch die Bundesbankbeim Börsenkrach im September 1987 war. Sie erinnernsich: Greenspan, der damals ins Amt gekommen war,ließ durch seine Leute die Bundesbank als „Inflations-neurotiker“ beschimpfen, weil die Bundesbank im Rah-men eines konditionierten Reflexes beim Verfall derBörsenkurse den Zins erhöht hat.
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Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Danke, für den Hinweis.
– Danke.
Weiter flankierende Maßnahmen – –
Herr Kollege, das bedeutet, dass Sie zum Schluss
kommen müssen.
Gerne. Auch ich will nach Hause, Frau Präsidentin.
Darum geht es allerdings nicht.
Es gäbe schon noch einige flankierende Möglichkei-
ten. Stellen Sie sich vor, es gäbe weniger Spekulation.
Herr Kollege, ich bitte um Verständnis, dass Sie damit
nicht mehr beginnen können. Sie haben Ihre Redezeit
wirklich überschritten. Ich war schon großzügig.
Gut. – Dann danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksam-
keit und wünsche Ihnen einen angenehmen Abend. Ver-
gessen Sie nicht, das Licht auszumachen!
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/661 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlos-
sen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 10. März 2006, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist damit geschlossen.