Protokoll:
18104

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 104

  • date_rangeDatum: 8. Mai 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 10:30 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:45 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/104 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 104. Sitzung Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 18: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung: Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 2010 bis 2013 Drucksachen 18/2900, 18/3108 Nr. 2, 18/4416 9927 A Christoph Strässer, Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechts- politik und Humanitäre Hilfe . . . . . . . . . . . 9927 B Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 9928 D Thomas Silberhorn, Parl. Staatssekretär BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9930 C Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9932 B Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) . . . . . . . . . . . . 9933 D Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 9935 A Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9936 B Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9937 B Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9938 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Steffi Lemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz der Meere weltweit ver- ankern Drucksache 18/4814 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9940 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Ralph Lenkert, Birgit Menz, Caren Lay, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Meeresum- weltschutz national und international stär- ken Drucksache 18/4809 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9940 B Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9940 C Karsten Möring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9941 D Hubertus Zdebel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9943 D Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin BMUB . . . . . . . . . . . . . . . 9945 A Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9946 C Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9947 D Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9948 D Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU) . . . . . . 9950 A Michael Thews (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9951 B Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Starke Städte und Quartiere – Die Erfolgsgeschichte der Städtebauförderung fortschreiben Drucksache 18/4806 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9952 B Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin BMUB . . . . . . . . . . . . . . . 9952 C Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9953 C Kai Wegner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 9954 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9956 C Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9957 D Artur Auernhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9959 A Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vor- schlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Klonen von Rindern, Schweinen, Schafen, Ziegen und Equiden, die für landwirtschaftliche Zwecke gehalten und reproduziert wer- den – KOM(2013) 892 endg.; Ratsdok. 18152/13 – und – zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das Inverkehr- bringen von Lebensmitteln von Klontie- ren – KOM(2013) 893 endg.; Ratsdok. 18153/13 – hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Kein Klonfleisch in der EU – Für mehr Tier- und Verbraucherschutz Drucksache 18/4808 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9960 A Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9960 C Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 9962 B Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 9963 B Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9964 C Artur Auernhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9965 C Christina Jantz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9966 C Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Sevim Dağdelen, Caren Lay, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenktag werden Drucksache 18/4333 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9967 B Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9967 C Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9968 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9969 D Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9971 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9972 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . . 9973 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9973 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9927 (A) (C) (D)(B) 104. Sitzung Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 Beginn: 10.30 Uhr
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    (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9973 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 08.05.2015 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 08.05.2015 Becker, Dirk SPD 08.05.2015 Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 08.05.2015 Buchholz, Christine DIE LINKE 08.05.2015 Dörner, Katja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 08.05.2015 Ehrmann, Siegmund SPD 08.05.2015 Freitag, Dagmar SPD 08.05.2015 Gohlke, Nicole DIE LINKE 08.05.2015 Gröhe, Hermann CDU/CSU 08.05.2015 Hartmann (Wackern- heim), Michael SPD 08.05.2015 Hintze, Peter CDU/CSU 08.05.2015 Hinz (Essen), Petra SPD 08.05.2015 Hornhues, Bettina CDU/CSU 08.05.2015 Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 08.05.2015 Karawanskij, Susanna DIE LINKE 08.05.2015 Kovac, Kordula CDU/CSU 08.05.2015 Krellmann, Jutta DIE LINKE 08.05.2015 Dr. Lücking-Michel, Claudia CDU/CSU 08.05.2015 Menz, Birgit DIE LINKE 08.05.2015 Motschmann, Elisabeth CDU/CSU 08.05.2015 Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 08.05.2015 Nietan, Dietmar SPD 08.05.2015 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 08.05.2015 Pflugradt, Jeannine SPD 08.05.2015 Dr. Rosemann, Martin SPD 08.05.2015 Roth (Heringen), Michael SPD 08.05.2015 Rüffer, Corinna BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 08.05.2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 08.05.2015 Schlecht, Michael DIE LINKE 08.05.2015 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 08.05.2015 Steinbrück, Peer SPD 08.05.2015 Strothmann, Lena CDU/CSU 08.05.2015 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 08.05.2015 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 08.05.2015 Ulrich, Alexander DIE LINKE 08.05.2015 Dr. Weisgerber, Anja CDU/CSU 08.05.2015 Zimmermann (Zwickau), Sabine DIE LINKE 08.05.2015 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) hat mit Schreiben vom 6. Mai 2015 mitgeteilt, dass er entgegen seinem Schreiben vom 25. März 2015 nicht von einer Bericht- erstattung zu der nachstehenden Vorlage gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung abgesehen hat. Die Amtliche Mitteilung ohne Verlesung vom 27. März 2015 (98. Sitzung) wird insoweit aufgehoben. – Unterrichtung durch die Bundesregierung Baukulturbericht 2014/15 der Bundesstiftung Baukul- tur und Stellungnahme der Bundesregierung Drucksache 18/3020 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 9974 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 (A) (C) (B) Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Innenausschuss Drucksache 18/642 Nr. C.7 Ratsdokument 8229/13 Drucksache 18/1707 Nr. A.2 Ratsdokument 9550/14 Drucksache 18/3362 Nr. A.5 Ratsdokument 15013/14 Drucksache 18/3898 Nr. A.9 EP P8_TA-PROV(2014)0102 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/4749 Nr. A.32 Ratsdokument 7252/15 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Drucksache 18/4253 Nr. A.3 Ratsdokument 5095/15 (D) Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 104. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 18 Deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 2010/2013 ZP 5,6 Meeresschutz TOP 20 Städtebauförderung TOP 21 EU-Richtlinie über das Klonen von Nutztieren TOP 14 Tag der Befreiung als Gedenktag Anlagen
Gesamtes Protokol
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810400000

Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet – nach einem

sehr beeindruckenden ersten Teil am heutigen 8. Mai in
unserem Bundestag.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung

Bericht der Bundesregierung über die deut-
sche humanitäre Hilfe im Ausland 2010 bis
2013

Drucksachen 18/2900, 18/3108 Nr. 2, 18/4416

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Kein Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort als ers-
tem Redner Christoph Strässer, dem Beauftragten der
Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Huma-
nitäre Hilfe.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Christoph Strässer, Beauftragter der Bundesregie-
rung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich schwierig, an
diesem 8. Mai nach dieser beeindruckenden Veranstal-
tung sofort wieder zur Tagesordnung überzugehen. Ich
glaube aber, dass das heute ganz wichtig ist; denn der
Tagesordnungspunkt, über den wir jetzt sprechen, ist ge-
prägt von Bildern und Meldungen, die wir eigentlich
nicht mehr sehen wollten: Bilder von Vertreibung, von
Flucht, von gepeinigten Menschen weltweit.

Wenn man sich die Zahlen vergegenwärtigt, die der
UNHCR, der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten
Nationen, veröffentlicht hat, geht es dabei um mittler-
weile 56 Millionen Menschen weltweit, Menschen, die
auf der Flucht oder Vertriebene im eigenen Land sind,
weil Krieg und gewaltsam ausgetragene Konflikte wie in
Syrien, im Irak, im Jemen, im Südsudan oder in der De-
mokratischen Republik Kongo ihr Leben bedrohen oder
ihre Lebensgrundlagen zerstören. Es ist die höchste Zahl
seit der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges.

Auch die Zahl der Naturkatastrophen nimmt ständig
zu. Das Erdbeben vom 25. April in Nepal mit seinen dra-
matischen Auswirkungen, von denen mehr als 8 Millio-
nen Menschen betroffen sind, stellt die Helfer und Hel-
ferinnen vor massive logistische Herausforderungen. Es
gibt auch immer wieder lokale Katastrophen, die wir in
unserem Land und auf unserem Kontinent überhaupt
nicht zur Kenntnis nehmen.

Wenn man das in Zahlen ausdrücken will, dann heißt
das, dass der weltweite Bedarf an humanitärer Hilfe seit
2009 von knapp 10 Milliarden US-Dollar auf über
19 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015 angestiegen ist.
Der Bundestag hat dem mit einer deutlichen Mittelerhö-
hung Rechnung getragen. Es ist gut, dass wir nicht nur
und nicht immer wieder von außerplanmäßigen Haus-
haltsmitteln Gebrauch machen müssen, sondern dass mit
dem für dieses Jahr verabschiedeten Haushalt circa
400 Millionen Euro für Hilfsprogramme zur Verfügung
gestellt werden. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger
Beitrag zu besserer Planbarkeit und damit Effizienz von
humanitärer Hilfe.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben auch in den Strukturen der humanitären
Hilfe in den letzten Jahren gravierende und wichtige
Veränderungen durchgeführt. Der Bericht, über den wir
heute reden, zeigt im Hinblick auf das Spektrum der Kri-
sen auf, dass die Krisen langandauernd und bleibend
sind. Sie haben seit 2013 auch nicht haltgemacht. Im Ge-
genteil: Inzwischen sind in Syrien mehr als 12 Millionen
Menschen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, auf hu-
manitäre Hilfe angewiesen. Weitere Krisen und Kon-
flikte haben sich verschärft oder sind neu hinzugekom-
men: Ebola, der Konflikt im Südsudan, die Krise in der





Beauftragter Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

Ukraine, der Vormarsch von ISIS im Irak, der Konflikt
im Jemen, der Terror der Boko Haram.

Das – es ist sicherlich schwer, das auszusprechen,
aber wir müssen es zur Kenntnis nehmen – bedeutet,
dass Krisen heute den Normalzustand darstellen, dass
humanitäre Hilfe mehr denn je gefordert ist, um den not-
leidenden Menschen vor Ort zu helfen. Das ist eine der
Schlussfolgerungen aus der Feststellung von Bundes-
außenminister Steinmeier. Er hat gesagt: 2014 ist die
Welt ein Stück weit aus den Fugen geraten.

Wir bemühen uns an vielen Stellen um politische Lö-
sungen. Diese können humanitäre Hilfe aber nicht erset-
zen. Denn humanitäre Hilfe kann die Menschen befähi-
gen, auch in größter Not Würde und Selbstständigkeit zu
wahren. Deshalb ist sie ein Markenzeichen unserer deut-
schen Politik und insbesondere unserer deutschen Au-
ßenpolitik.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es hat die Vereinbarung zwischen den beteiligten
Ressorts gegeben – das ist aus unserer Sicht eine wich-
tige strukturelle Veränderung gewesen –, ab dem Jahr
2012 die humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt zusam-
menzuführen; das ist geschehen. Ich glaube, diese Struk-
turveränderung hat sich nicht nur bewährt, sondern wird
mittlerweile auch von allen unseren Partnern als eine
gute und wichtige Grundlage für die weitere Arbeit in
diesem Bereich angesehen; dies sollte nicht infrage ge-
stellt werden.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Erika Steinbach [CDU/CSU])


Das bedeutet, dass humanitäre Ernährungshilfe mit an-
deren Hilfsmaßnahmen verknüpft werden kann, zum
Beispiel bei der Wasser- und der Sanitärversorgung.
Dort können wir vorausschauender agieren und Sofort-
hilfe mit der Stärkung von Kapazitäten vor Ort verbin-
den.

Humanitäre Hilfe bedeutet aber längst nicht mehr
– das ist eine Erkenntnis, die viel zu spät gekommen ist –
nur schnelles Reagieren, wenn Krisen über uns herein-
brechen. Schnelles Reagieren ist sicherlich wichtig, wie
das Erdbeben in Nepal gerade gezeigt hat. Aber gleich-
zeitig bedeutet verantwortungsvolle humanitäre Hilfe
auch und gerade – das ist vielleicht in Zukunft wichtiger –,
vorausschauend zu agieren, Planbarkeit von humanitärer
Hilfe in komplexen Krisen zu gewährleisten und nega-
tive Folgen potenzieller Krisen abzumildern. In Syrien
und in den Nachbarländern beginnt dieses Konzept zu
greifen. Dort machen wir uns für mehrjährige Pro-
gramme stark, die Nothilfe mit der Förderung der Selbst-
ständigkeit von Flüchtlingen verbinden, zum Beispiel
durch Cash-Programme, die helfen, nationale Märkte
aufzubauen. Ich glaube, dass die Berliner Flüchtlings-
konferenz vom Herbst letzten Jahres hierfür einen wich-
tigen Maßstab gesetzt hat, der international anerkannt
wird. Auch auf internationaler Ebene gehen die Bemü-
hungen um die Veränderung bzw. die Verbesserung der
humanitären Hilfe weiter. Die Experten sprechen von ei-
nem Paradigmenwechsel, hin zu strategisch-voraus-
schauender humanitärer Hilfe und zur Förderung von
Qualität und Effizienz.

Frühzeitig haben wir – ich glaube, das wird eine der
Herausforderungen, die uns noch lange beschäftigen
werden – die Agenda des Klimawandels auf die Tages-
ordnung der humanitären Hilfe gesetzt. Hier werden
viele präventive Maßnahmen erforderlich sein. Wir un-
terstützen zudem – ich glaube, das ist in der nächsten
Zeit die wichtigste Aufgabe im internationalen Bereich –
den humanitären Weltgipfel, der auf Initiative des Gene-
ralsekretärs der Vereinten Nationen einberufen wurde
und erstmals im Mai 2016 in Istanbul stattfinden wird.
Wir erwarten von diesem Gipfel und insbesondere von
den Vorbereitungskonferenzen, die in Bonn stattgefun-
den haben und im Oktober in Berlin fortgesetzt werden,
dass es konkrete, verwertbare Gipfelergebnisse gibt, die
das internationale humanitäre System zukunftsfähig ma-
chen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


In der humanitären Hilfe geht es nicht – das ist ganz
wichtig – um politische oder wirtschaftliche Interessen,
sondern um notleidende Menschen. Es ist unsere ethi-
sche Verantwortung, diesen Menschen ein Überleben in
Würde und Sicherheit zu ermöglichen. Die Herausforde-
rungen an die humanitäre Hilfe werden weiter wachsen.
Ihr kommt eine zentrale Rolle zu, wenn es darum geht,
für den Dauerzustand Krise besser aufgestellt zu sein.
Verantwortungsvolle humanitäre Hilfe braucht Professi-
onalität und leistungsstarke Partner. Diese haben wir in
den VN-Organisationen, der Internationalen Rotkreuz-
und Rothalbmondbewegung sowie den Nichtregierungs-
organisationen. Auf diese Partnerschaften setzen wir
weiterhin.

Lassen Sie mich zum Schluss all den Menschen dan-
ken, die teilweise ganz spontan ihre Arbeitsplätze verlas-
sen, um in Krisenregionen zu gehen. Das eine ist, staatli-
che humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. Das
andere ist, die Menschen zu unterstützen und sich mit ih-
nen zu solidarisieren, die nach meiner Auffassung die
wahren Helden unserer Zeit sind. Sie gehen in fremde
Regionen, um Menschen zu helfen, und setzen dabei ihre
Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel. Ihnen ein ganz
herzliches Dankeschön! Ich hoffe, dass wir zusammen
mit ihnen weiterhin unsere deutsche humanitäre Hilfe
stärken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810400100

Vielen Dank, Christoph Strässer. – Nächste Rednerin:

Inge Höger für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810400200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Be-

richt der Bundesregierung über die deutsche humanitäre





Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)

Hilfe im Ausland steht leider zu einem erschreckend
passenden Moment auf unserer Tagesordnung. Das ver-
heerende Erdbeben in Nepal zeigt uns die große Hilfsbe-
reitschaft vieler Menschen weltweit – Herr Strässer hat
es eben schon angesprochen –, es zeigt aber auch logisti-
sche Schwachstellen und Probleme bei der konkreten
Umsetzung von Hilfe. Humanitäre Hilfe, also die Unter-
stützung von Menschen in Notlagen, wird absehbar in
den nächsten Jahren eine immer größere Herausforde-
rung darstellen. Naturkatastrophen, Dürren, Über-
schwemmungen und verheerende Stürme nehmen zu.
Deswegen muss an einer weiteren Verbesserung und
Ausweitung der humanitären Hilfe gearbeitet werden.
Doch nicht allein Naturkatastrophen oder Krankheiten
wie Ebola führen zu humanitären Notlagen. Kriege und
Konflikte zerstören Menschenleben, die Gesundheit und
die Zukunft ganzer Gesellschaften.

Am Mittwoch wurden die aktuellen Zahlen über die
Menschen veröffentlicht, die 2014 aus ihren Wohnorten
vertrieben wurden. 60 Prozent flohen infolge von Krie-
gen und bewaffneten Konflikten. Zu dieser hohen An-
zahl von Flüchtlingen kommen noch einmal 11 Millio-
nen Binnenflüchtlinge. Jeden Tag flohen 30 000
Menschen aus ihrer Heimat. Während des Zeitraums un-
serer Debatte sind es 1 400. Jan Egeland, Generalsekre-
tär des Norwegischen Flüchtlingsrates, äußerte seine Be-
troffenheit wie folgt: In 30 Jahren als Katastrophenhelfer
habe ich nie solche Zahlen gesehen, solche Zerstörung,
solches Leid.

Niemand hier will und kann angesichts dieser drama-
tischen Situation wegschauen und zur Tagesordnung
übergehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir müssen als Antwort auf die humanitären Krisen alle
Anstrengungen massiv verstärken – und das nicht nur
mittelfristig, sondern sofort. Damit humanitäre Hilfe
dort ankommen kann, wo sie nötig ist, muss sie neutral,
unparteiisch und unabhängig sein.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es kann nicht akzeptiert werden, dass humanitäre Hilfe
in Krisengebieten nur bei den Teilen der Zivilbevölke-
rung ankommt, deren jeweilige Führung der Bundesre-
gierung nähersteht. So scheint die Hilfe der Bundesre-
gierung für Syrien zumindest zu Beginn der Krise fast
nur in den Gebieten der Rebellen angekommen zu sein,
und da auch nur bei bestimmten Fraktionen.

Mehrere Kleine Anfragen meiner Fraktion zeigten
auch einen sehr selektiven Umgang bei der Hilfe für
Menschen im Irak. Im Schengal-Gebirge ist zum Bei-
spiel wenig angekommen. Mit einer solchen Praxis wird
die Glaubwürdigkeit von humanitärer Hilfe gefährdet,
und damit werden auch ganz konkret die Helferinnen
und Helfer gefährdet. Deren Arbeit aber ist schwierig
genug. Wenn sie dann auch als Parteigänger einer Seite
wahrgenommen werden, verstärkt dies die Gefährdung.
Und das kann niemand wollen.


(Beifall bei der LINKEN)

Erschreckend ist, wenn humanitäre Hilfe und Ent-
wicklungshilfe von Sicherheitspolitikern als Unterstüt-
zung für militärische Stärke diskutiert werden. Humani-
täre Hilfe darf nicht instrumentalisiert werden. Allein die
Bedürftigkeit muss ausschlaggebend sein, ob Hilfe ge-
leistet wird oder nicht. Humanitäre Hilfe und Entwick-
lungspolitik dürfen nicht im Zuge des sogenannten ver-
netzten Ansatzes als Teil der Sicherheitspolitik diskutiert
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fordere deshalb Ursula von der Leyen auf, bei der
Formulierung des neuen Weißbuches der Bundeswehr
zivile Hilfe nicht in sicherheitspolitische Strategien ein-
zubeziehen.

Wenn wir für die Zukunft etwas verändern wollen,
dann lohnt es sich, die Gründe für den steigenden Hilfs-
bedarf zu analysieren. Zumindest für einen Teil der Na-
turkatastrophen gibt es Verantwortlichkeiten, die auch in
Deutschland und in den Industrienationen liegen. Die
Zunahme von Extremwetterlagen, der Klimawandel,
wurde und wird vorangetrieben durch eine Wachstums-
ideologie, die trotz aller anderslautenden Sonntagsreden
weiterverfolgt wird.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Leider!)


Im vorliegenden Bericht wird zu Recht auf die Men-
schen verwiesen, die wegen klimabezogener Naturkata-
strophen ihre Heimat verlassen müssen. Es wird berich-
tet, dass niemand wirklich weiß, wie viele infolge von
schleichenden Klimaveränderungen zur Flucht gezwun-
gen sein werden. Hier stellt sich die Frage nach der
konkreten und kurzfristigen Hilfe zusammen mit der Er-
öffnung neuer Perspektiven für Menschen, die mögli-
cherweise nie wieder in ihre Heimat zurückkehren kön-
nen. Es geht um die Frage von Rechten, es geht auch um
die rechtliche Verankerung des Schutzes von Klima-
flüchtigen. Zu allem fehlen bis heute international ver-
bindliche Regelungen. Das muss sich ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir über das Thema Verantwortung reden, dann
gehört dazu auch eine ehrliche Bilanz der Militärinter-
ventionen der letzten zwei Jahrzehnte. Wie sähe der Nor-
den Afrikas aus, wenn nicht eine Koalition der Willigen
einen Regime Change herbeigebombt hätte? Wie sähe es
im Nahen und Mittleren Osten ohne den 2003 begonne-
nen Irakkrieg aus? Mit diesen brutalen Angriffskriegen
wurden extremistische Kräfte erst geschaffen oder stark
gemacht, die heute die ganze Region destabilisieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch der Afghanistan-Krieg hat keinen Frieden ge-
bracht, sondern für viele Menschen das Elend vergrö-
ßert. In dem bereits erwähnten Flüchtlingsbericht wird
ein einheimischer humanitärer Helfer aus einem Slum in
Kabul zitiert, wo zahlreiche Binnenflüchtlinge nur sehr
notdürftig Schutz finden. Er sagt: Wir begraben so viele
Babys, die an der Kälte gestorben sind, dass ich sie nicht
mehr zählen kann.





Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)

Auch in Gaza erleben die Menschen nach dem Krieg
eine fortwährende humanitäre Katastrophe. Im Jemen
wird gerade mit westlichen Waffen und von westlichen
Verbündeten die Infrastruktur des Landes so zerstört,
dass kaum noch humanitäre Hilfe in das Land kommt.
Beenden Sie endlich die Waffenlieferungen in diese Re-
gion! Beenden Sie Waffenexporte in Krisenregionen!


(Beifall bei der LINKEN)


Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Prävention bzw.
Minderung humanitärer Krisen.

Die Linke steht für eine Politik, die Sicherheit nicht
militärisch definiert. Wir setzen uns ein für eine Sicher-
heit, die bei den grundlegenden Bedürfnissen der Men-
schen ansetzt. Jean Ziegler schreibt:

Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.

Es gibt auf der Welt genügend Ressourcen zur Vermei-
dung humanitärer Notlagen. Niemand brauchte zu ver-
hungern, zu erfrieren, zu verdursten oder an heilbaren
Krankheiten zu sterben.

Es ist deswegen gut, dass die ursprünglich für den
Haushalt 2015 geplante Kürzung der Mittel für die hu-
manitäre Hilfe im Ausland wieder zurückgenommen
wurde. Allerdings ändert das nichts daran, dass die UN
nach wie vor chronisch unterfinanziert sind, zum Bei-
spiel bei der Nahrungsmittelhilfe für Krisenregionen in
den Nachbarländern Syriens. Das ändert auch nichts da-
ran, dass die EU ihre Mittel für humanitäre Hilfe dras-
tisch kürzt oder einfriert und die Menschen in der Sahel-
zone oder am Horn von Afrika auf die versprochene
Hilfe warten müssen. Gleichzeitig werden diejenigen,
die versuchen, in Europa Schutz zu suchen, durch die
massive Abschottungspolitik zu Tausenden in den Tod
getrieben. Internationale Solidarität sieht anders aus.

Leider erfolgte die Rücknahme der Kürzung im Bun-
deshaushalt erst infolge der Ebolakrise. Wenn es nicht
gelingt, weltweit eine dezentrale Gesundheitsversorgung
zu etablieren, wenn es nicht gelingt, genügend Gesund-
heitsfachkräfte auszubilden, wenn nicht die Hilfe zur
Selbsthilfe gestärkt wird, dann ist auch in der Zukunft
mit ähnlichen Krisen zu rechnen.

Ein erster Schritt zur Verbesserung der Situation wäre
eine deutlich bessere Ausstattung der Weltgesundheits-
organisation.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Allein die 2016 vorgesehenen Mittel zur geplanten Erhö-
hung des Etats der Bundeswehr um 1,2 Milliarden Euro
würden ausreichen, um den Etat der WHO zu verdop-
peln.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So ist es!)


Was alles möglich ist, wenn man internationale Soli-
darität mit hoher Priorität verfolgt, das zeigt das kleine
Land Kuba. Dieses kleine und arme Land ist mit Ärzten
und anderen Helferinnen und Helfern schnell und wir-
kungsvoll aktiv, wo immer Hilfe nötig ist. In vielen Län-
dern Lateinamerikas, jetzt in Nepal, aber auch in den
Ebolagebieten gehörte Kuba zu den Ersten, die die Not
der Menschen linderten.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810400300

Frau Höger, denken Sie an Ihre Redezeit?


Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810400400

Ich komme zum Ende. – Wenn dieses reiche Deutsch-

land den gleichen Anteil seiner Wirtschaftsleistung in
humanitäre Hilfe investieren würde wie Kuba, dann
würde das in vielen Regionen der Welt einen wirklichen
Unterschied machen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810400500

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte: der

Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Th
Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1810400600


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Anzahl der langanhaltenden Krisen und Katastro-
phen, mit denen sich die internationale Gemeinschaft
konfrontiert sieht, ist in den letzten Jahren deutlich ge-
stiegen. Wir haben es mit zahlreichen Krisen, Konflikten
und Katastrophen gleichzeitig zu tun: jüngst das Erdbe-
ben in Nepal, die Konflikte in Mali, im Südsudan und in
Zentralafrika, die Ebolaepidemie in Westafrika, die Kon-
flikte im Nahen und Mittleren Osten, in Syrien, im Irak
und in Gaza oder in der Ukraine, direkt vor unserer
Haustür.

Diese Konflikte und Katastrophen rücken näher an
uns heran, und immer mehr Menschen sind davon be-
troffen. Viele sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.
Etwa 57 Millionen Flüchtlinge sind derzeit beim Hohen
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen regis-
triert. Das ist die größte humanitäre Katastrophe seit
dem Zweiten Weltkrieg.

Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht be-
legt, dass wir erhebliche Anstrengungen unternehmen,
um direkt, schnell und effektiv Not und Leid zu lindern.
Gleichzeitig arbeiten wir mit vielen Partnern daran, den
Teufelskreis von Krisen zu durchbrechen und die Ursa-
chen von Armut und Hunger sowie von Gewalt zu be-
kämpfen. Dazu nutzen wir von Anfang an alle Instru-
mente, die uns zur Verfügung stehen: humanitäre Hilfe
und Entwicklungszusammenarbeit. Beide stehen nicht
nebeneinander. Wir wenden sie nicht nacheinander an,
sondern humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammen-
arbeit müssen ineinandergreifen.


(Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)






Parl. Staatssekretär Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

Wir leisten also nicht erst humanitäre Hilfe und machen
dann Entwicklungszusammenarbeit, sondern wir müssen
von Beginn an beides zusammen denken und zusammen
praktizieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD])


Vor vier Jahren – Kollege Strässer, Sie haben das auf-
geführt – haben wir gemeinsam beschlossen, die Not-
und Nahrungsmittelhilfe vom BMZ an das AA zu verla-
gern. Das verlangt von uns eine intensive und effiziente
Koordinierung und Zusammenarbeit. Ich denke, wir
können feststellen, dass das auch geleistet wird. Die Ab-
stimmung mit dem Auswärtigen Amt funktioniert sehr
gut. Das ist auch notwendig; denn humanitäre Hilfe,
Übergangshilfe und Entwicklungszusammenarbeit sind
ja oftmals in denselben Regionen tätig. In Krisenländern
arbeiten wir auch mit denselben Partnern zusammen,
zum Beispiel mit dem Welternährungsprogramm, mit
dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF,
und natürlich mit vielen Nichtregierungsorganisationen
aus Deutschland.

Auch finanziell teilen wir unsere Verantwortung. Für
die Opfer der Krise in Syrien haben wir seitens der Bun-
desregierung fast 1 Milliarde Euro bereitgestellt, davon
fast die Hälfte aus dem Haushalt des Bundesministe-
riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung. Für die Ukraine hat unser Ministerium im vergan-
genen Jahr sogar zwei Drittel der Unterstützung der
Bundesregierung übernommen.

Meine Damen und Herren, 1,5 Milliarden Menschen
leben in Ländern, die von Gewalt und Konflikten betrof-
fen sind. Das ist über die Hälfte der Kooperationsländer
des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung. Dabei ist von Belang, dass die
sozialen und die ökonomischen Kosten von Katastro-
phen und Kriegen enorm sind und die Auswirkungen oft
erst über Generationen hinweg aufgeholt werden kön-
nen. Oft wird innerhalb weniger Tage kaputtgemacht,
was zuvor über Jahre hinweg mühsam aufgebaut worden
ist. Oft werden Länder um Jahre und Jahrzehnte zurück-
geworfen.

Das Auswärtige Amt leistet Enormes mit der humani-
tären Hilfe; aber die Entwicklungszusammenarbeit darf
nicht zum Reparaturbetrieb werden. Wir müssen schon
vorher – und nicht nur nach Krisen – handeln. Wir müs-
sen vorher darauf hinwirken, die Eskalation von Gewalt
zu verhindern und dass die Auswirkungen von Epide-
mien und Naturkatastrophen vermieden oder zumindest
abgemildert werden können. Deswegen wollen wir mit
der Entwicklungszusammenarbeit die Ursachen von
Konflikten und Katastrophen überwinden. Wir investie-
ren jedes Jahr fast eine halbe Milliarde Euro direkt in
Friedensförderung und Konfliktprävention. Auch wer-
den wir unsere Maßnahmen zur Reduzierung von Katas-
trophenrisiken schrittweise ausbauen.

Meine Damen und Herren, im schlimmsten Fall ist
nach der Krise vor der Krise. Wir müssen leider feststel-
len, dass nach der Beendigung eines Bürgerkrieges fast
die Hälfte der davon betroffenen Länder innerhalb von
zehn Jahren wieder in gewaltsame Konflikte zurückfällt.
Das ist der Teufelskreis, den wir überwinden bzw. durch-
brechen müssen. Deshalb müssen wir nach Krisen be-
reits zu einem frühen Zeitpunkt über die humanitäre
Hilfe hinaus mittelfristige Übergangshilfen zur Verfü-
gung stellen und an den langfristigen Wiederaufbau den-
ken.

Menschen, die auf der Flucht sind, aber auch die Ge-
meinden in angrenzenden Staaten, die Flüchtlinge auf-
nehmen, brauchen eine Perspektive. Neben Nahrung und
Unterkunft, die die humanitäre Hilfe sofort bereitstellt,
geht es auch um Gesundheit, um Wasser- und Sanitär-
versorgung sowie um Bildung. Denken Sie beispiels-
weise an die Millionen von Minderjährigen, die aus
Syrien geflohen sind und jetzt im vierten Jahr dieses
Konflikts keine Schulbildung genießen können. Da wer-
den schon wieder die Grundlagen für den nächsten Kon-
flikt gelegt, wenn wir jetzt nicht handeln. Deswegen
müssen wir diese mittel- und langfristigen Perspektiven
frühzeitig ins Auge fassen und dafür sorgen, dass Chan-
cen für die Bevölkerung entstehen, die von Konflikten
betroffen ist.

Wir müssen die Menschen selbst, die Gesellschaften
und die Institutionen so stärken, dass sie gegen gewalt-
same Auseinandersetzungen und Naturkatastrophen bes-
ser gewappnet sind. Wenn dann die nächste Krise
kommt, soll sie besser bewältigt werden können. Dazu
ist eine Menge notwendig. Dazu muss eine Basisinfra-
struktur geschaffen werden, damit die Grundbedürfnisse
der Bevölkerung gestillt werden können. Dazu müssen
wir mit unseren Entwicklungspartnern darauf hinwirken,
dass die Menschen ein Auskommen haben und dass sie
ihre Familie ernähren können.

Aber wir müssen vor allem auch dazu beitragen, dass
überall auf der Welt Politiker agieren, die sich am Ge-
meinwohl orientieren und nicht nur an die eigene Zu-
kunft denken. Deswegen brauchen wir eine unter dem
Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit funktionierende
Verwaltung, die nach Recht und Gesetz arbeitet, eine un-
abhängige Justiz und freie Medien. Je besser das ge-
währleistet werden kann, desto eher kann sich ein Land
entwickeln. Dann kann es auch nach Konflikten zu Dia-
log und Aussöhnung kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Übergangshilfe unseres Hauses, die ich angespro-
chen habe, soll die Lücke zwischen der humanitären So-
forthilfe des Auswärtigen Amtes und der längerfristig
angelegten Entwicklungszusammenarbeit schließen;
denn es gibt Regionen, in denen wir mit den klassischen
Instrumenten der technischen und finanziellen Zusam-
menarbeit nicht mehr oder noch nicht arbeiten können.
Da wird diese Übergangshilfe relevant, die schnell sicht-
bar ist und mit der der Grundstein für längerfristige Ar-
beit gelegt werden soll. Wir unterstützen beispielsweise
die Flüchtlinge aufnehmenden Gemeinden im Nordirak
durch den Aufbau von Bildungs- und Gesundheitsein-
richtungen und durch Hilfen für die traumatisierten
Opfer von Terror und Gewalt in dieser Region.





Parl. Staatssekretär Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

Wir wollen diese Möglichkeiten der Übergangshilfe
ausbauen. Wir reagieren damit auch auf die aktuellen
Krisen im Nahen Osten, in Westafrika und in der
Ukraine mit einem neuen Infrastrukturprogramm. Damit
wollen wir kurzfristige Maßnahmen wie die Schaffung
von Unterkünften für Flüchtlinge mit mittelfristigen
Maßnahmen kombinieren, zum Beispiel mit dem Auf-
bau von Berufsbildungszentren.

Wir haben aus der Ebolaepidemie gelernt, dass wir
ein gutes Frühwarnsystem benötigen und dass wir dann
aber auch schnell und entschlossen handeln müssen.
Deswegen prüfen wir zurzeit, wie wir die humanitäre
Hilfe durch unsere bestehenden Strukturen der Entwick-
lungszusammenarbeit am besten unterstützen können.
Wir teilen das gemeinsame Anliegen unter dem Arbeits-
titel „Weißhelme“, hier unsere Zusammenarbeit zu ver-
tiefen und dafür zu sorgen, dass wir in einem solchen
Notfall Personal, Material, aber auch die benötigten
finanziellen Ressourcen rechtzeitig und ausreichend be-
reitstellen können.

Auch in Nepal wollen wir unsere Strukturen der Ent-
wicklungszusammenarbeit nutzen, um diesem Land bei
der Bewältigung der Folgen dieses schweren Erdbebens
zu helfen. Unsere Experten sind vor Ort und zusammen
mit dem Krisenstab der Botschaft gerade dabei, die Prio-
ritäten für den Wiederaufbau zu ermitteln. Dazu zählt die
Rehabilitierung von Gesundheitsstationen und Kranken-
häusern. Es muss jetzt vor allem für Strom und Wasser
gesorgt werden, damit den Patienten geholfen werden
kann. Wir arbeiten in Nepal seit vielen Jahren im Sektor
Gesundheit mit der dortigen Regierung zusammen.
Diese Erfahrung und dieses Vertrauen, das wir dort ha-
ben, wollen wir jetzt nutzen, um wirksam und schnell
helfen zu können.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit dem
Hinweis schließen, dass die Regierungen unserer Part-
nerländer natürlich immer zuerst in der Pflicht stehen,
für ihre Bevölkerung das Nötige zu tun. Wir können
dazu einen Beitrag leisten, indem wir schnell helfen,
wenn es darum geht, Leben zu retten, und indem wir
mittel- und langfristig dazu beitragen, die Ursachen von
Krisen und Armut anzugehen. Insofern müssen alle
Hand in Hand arbeiten, um die Krisen der Welt zu be-
wältigen oder – besser – künftig zu verhindern und zu
vermeiden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810400700

Vielen Dank, Thomas Silberhorn. – Nächster Redner:

Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810400800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Humanitäre Hilfe ist Ausdruck ethischer Verant-
wortung für Menschen in Not. Gemeinplätze wie diesen
findet man in dieser Debatte häufig. Auch der Bericht ist
nicht frei davon. Die Beschlussempfehlung, die Sie uns
aber hier vorlegen, ist praktisch voll von solchen Sprü-
chen. Das kann man nicht lesen. Lassen Sie doch da mal
einen Praktikanten ran, der das redaktionell überarbeitet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Der Bericht … geht sehr problemorientiert auf die
wachsenden globalen Herausforderungen und die
damit verbundenen strategischen Überlegungen ein.

Oder:

Eine nachhaltige Qualitätssteigerung ist – insbeson-
dere was die Zusammenarbeit mit internationalen
Partnern, die Einbindung lokaler Kräfte sowie die
Koordinierung der vielfältigen Aktivitäten anbe-
langt – ein umfassender Prozess, an dem die Bun-
desregierung bis heute arbeitet.

Donnerwetter! Das sollen wir beschließen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei ist der Bericht gar nicht so schlecht. Vor allem
war unsere Anhörung im Ausschuss für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe gut.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben in der Anhörung doch sehr deutlich und nicht
in Form von Gemeinplätzen vor allem vier Ergebnisse
produziert.

Erstens. Die humanitäre Hilfe und die Soforthilfe
müssen sich auf lokale Partner stützen und dazu führen,
dass die lokalen Partner stärker werden. Das ist die stra-
tegische Ausrichtung. Die humanitäre Hilfe muss sich
auf die lokale Bewältigungskompetenz auswirken; das
ist das Erste. Das Wiedererstarken der lokalen Selbstver-
sorgungsmöglichkeiten würde auch eine Antwort auf die
immer größer werdenden Bedarfe und die immer gerin-
ger werdenden Finanzmittel sein. Hier müssen wir dann
auch kontrollieren, ob das durch die Maßnahmen er-
reicht wurde.

Zum Zweiten. 78 Millionen Menschen brauchen akute
Nothilfe. Der globale Bedarf im Consolidated Appeal
Process von OCHA ist für das Jahr 2015 auf 16,4 Mil-
liarden US-Dollar festgelegt worden. Wir fordern im
Haushaltsverfahren immer wieder mehr Mittel für die
humanitäre Hilfe. Stellen Sie vom Finanzministerium
diese doch bitte von vornherein in den Haushalt ein, und
warten Sie nicht, um später über komplizierte Prozesse
dann irgendwie gnädigerweise über das Haus noch etwas
hinzuzugeben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frank Schwabe [SPD]: Das haben wir alles gemacht!)


In der Realität ist es dann letzten Endes so, dass der
große Onkel aus dem BMZ kommt und großzügig noch
ein paar Millionen verspricht; denn die Koordination
zwischen Auswärtigem Amt und BMZ ist nicht so gut,
wie Sie sie immer beschreien. Sie sagen das so oft
– auch der Staatssekretär –, dass man es gar nicht glau-
ben kann.





Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Es ist zwar so, dass der Entwicklungshilfeminister die
großen Versprechungen in der Ukraine und in Jordanien
macht, die Strategie aber muss nach wie vor das Aus-
wärtige Amt machen. Da ist meines Erachtens noch viel
Room for Improvement.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Dritte: „Aid effectiveness“ oder „Mit wenigen
Mitteln mehr erreichen“. Das ist ein Riesenthema, auch
des Weltgipfels 2016. Ich würde mir wünschen, dass die
Bundesregierung das Parlament schon im Vorfeld aktiv
beteiligt und bei diesem Kongress auch wirklich aktiv ist
und nicht immer fragt, was diese oder jene sagen, um
dann den Mittelweg zu gehen. Da ist wirklich Protago-
nismus notwendig.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Dazu braucht man aber ein kontinuierliches, unabhängi-
ges Evaluationssystem der humanitären Hilfe; denn so
etwas Fabelhaftes wie humanitäre Hilfe kann man auch
evaluieren. Man kann fragen: War es denn wirklich so
fabelhaft?

Das Vierte – Frau Höger hat es schon angesprochen –:
das Verhältnis von humanitärer Hilfe und Militär. Dies
ist der einzige Punkt, an dem das Ganze einmal ein biss-
chen konkret wird. Es geht nicht, dass das immer wieder
vermischt wird. Sagen Sie nicht, Sie täten es nicht. Man
findet immer wieder Aussagen wie: Ja, notfalls steht ja
auch das Militär zur Verfügung. – Damit gefährden Sie
die Hilfsorganisationen. Damit gefährden Sie die Leute
vor Ort. Es kann auch nicht sein, dass dieselben Bundes-
wehrmaschinen mal Waffen und dann mal wieder huma-
nitäre Güter transportieren. Es kann auch nicht sein, dass
uns hier ein Mandat für eine Mission – „Ausbildungsun-
terstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Re-
gion Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte“,
Drucksache 18/3561 –, die ja an sich sehr lobenswert ist,
vorgelegt wird, in dem die Streitkräfte unter anderem
folgende Aufgabe – ich zitiere mit der Genehmigung der
Präsidentin – haben:

Bedarfsweise Koordination und Durchführung von
Lieferungen humanitärer Hilfsgüter und militäri-
scher Ausrüstung in den Nordirak.

Das gefährdet ganz explizit die Helfer vor Ort. Das muss
man wissen. Das ist eines der großen Probleme. Der Zu-
gang wird immer schwieriger. In Syrien sagt uns das
nicht nur das Rote Kreuz, sondern jede Helferin und je-
der Helfer. Das kann man auch in der Zeitung lesen. Im
Jahr 2013 sind 155 Helferinnen und Helfer gestorben, es
sind 171 verwundet worden und 134 entführt worden.
Das ist das Problem. Darüber muss man konkret reden.

Es sind nicht nur die Non State Actors, die Milizen
oder ähnliche Gruppen, die dort tätig sind und sich nicht
an das humanitäre Völkerrecht halten, sondern auch die
Staaten. Saudi-Arabien zerstört im Augenblick den für
humanitäre Hilfe im Jemen unglaublich wichtigen Flug-
hafen von Sanaa, übrigens auch mit unseren Waffen, die
wir dorthin exportiert haben, weil wir alle die Wirtschaft
fördern. Das muss aufhören. Das ist eine Vermischung
von humanitärer Hilfe und Militär.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Ute Finckh-Krämer [SPD])


Jetzt komme ich zur Koordinierung. Der Herr Staats-
sekretär hat sie schon angesprochen. Wir sind bei Ebola
zu spät gekommen, auch die WHO ist zu spät gekom-
men. Jetzt wird aber nicht gesagt: „Dann stärken wir die
WHO“, sondern es werden Gott weiß wie viele Parallel-
organisationen konzipiert: Weißhelme, Gelbhelme, Grün-
helme, Rothelme. Dann wird gesagt, man sollte auch ei-
nen International Health Emergency Response Fund bei
der Weltbank etablieren. Warum soll man denn nicht in-
nerhalb der WHO arbeiten, die WHO besser machen und
die WHO stärken?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da sind wir immer sehr zaghaft. Wir sind eines der wich-
tigsten, eines der stärksten und auch finanzstärksten Mit-
glieder der WHO. Wir sollten uns bitte einmal um klare
Äußerungen bemühen;


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


denn humanitäre Hilfe bedeutet auch, für die humanitäre
Hilfe und für die Bedürftigen zu streiten. Das ist ein akti-
ver Prozess, in den wir unsere Fähigkeiten und Emotio-
nen einbringen sollten; allgemeine Sprüche und große
Diskurse helfen nicht weiter.

Es gibt eine letzte Frage, die wir uns wirklich stellen
müssen. Wir sehen es am Beispiel von Nepal wieder.
Dort sind Hilfsorganisationen aus 28 europäischen Län-
dern tätig. Warum gelingt es uns eigentlich nicht, wo wir
uns doch über alle Parteien und alle 28 europäischen
Staaten hinweg einig sind, eine gemeinsame humanitäre
Hilfe mit abgestimmten und starken gemeinsamen Ak-
tionen zu konzipieren?

Wir sprechen vom gemeinsamen auswärtigen Dienst
– das bekommen wir schon nicht hin –, wir sprechen von
gemeinsamer Sicherheitspolitik – die bekommen wir
überhaupt nicht hin –, bei der humanitären Hilfe könnten
wir eine Gemeinsamkeit vielleicht hinbekommen. Das
wäre des Schweißes der Edlen wert.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810400900

Vielen Dank, Tom Koenigs. – Nächste Rednerin in

der Debatte: Dr. Ute Finckh-Krämer für die Sozialdemo-
kraten.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD):
Rede ID: ID1810401000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribünen!





Dr. Ute Finckh-Krämer


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte auf das historische Datum zurückkommen,
an dem wir heute über humanitäre Hilfe diskutieren;
denn vor 70 Jahren war Europa in großen Teilen zerstört,
und nicht zuletzt Deutschland war dringend auf humani-
täre Hilfe angewiesen. Diese humanitäre Hilfe wurde
nach vier humanitären Prinzipien geleistet, die erst spä-
ter schriftlich fixiert wurden: Menschlichkeit, Unabhän-
gigkeit, Neutralität und Unparteilichkeit.

Wir als Deutsche haben Glück gehabt, dass diese
Prinzipien damals schon angewandt wurden, weil nach
dem, was von deutschem Boden damals ausgegangen
war, sonst nicht viel humanitäre Hilfe in Deutschland an-
gekommen wäre.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU])


Humanitäre Hilfe stand noch nie derart im Zentrum
von öffentlichen Debatten wie aktuell. Auch die Bedeu-
tung in der deutschen Politik ist, parallel zum Bedarf,
merklich gestiegen. Aber das, was öffentlich sichtbar
wird, ist nur die Spitze des Eisbergs. Das meiste, was im
Bereich der humanitären Hilfe geleistet wird, geschieht
hinter den Kulissen: Ausbildung, Training, Vorberei-
tung, Strategieentwicklung, Koordination und Planung.

Wir haben inzwischen eine hohe Professionalität der
Helferinnen und Helfer. Das ist schon deswegen nötig,
weil hier viel falsch gemacht werden kann. Die intensive
und konstruktive Zusammenarbeit des Auswärtigen
Amtes mit staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorgani-
sationen hat sich in den letzten Jahren entwickelt. Beispiel-
haft dafür steht der international einmalige Koordinierungs-
kreis für humanitäre Hilfe, zu dem das Auswärtige Amt
regelmäßig einlädt und der staatliche und nichtstaatliche
Expertinnen und Experten zusammenbringt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wer, lieber Tom Koenigs, gelegentlich an diesem Ar-
beitskreis teilnimmt, spürt, wie gut, zumindest auf der
Arbeitsebene, die Zusammenarbeit zwischen BMZ und
Auswärtigem Amt funktioniert.

Ich bin auch überzeugt, dass in diesem Arbeitskreis
darüber diskutiert wird – es ist damit schon begonnen
worden –, wie die Konsequenzen aus der Ebolakrise um-
gesetzt werden können. Ich persönlich bin mir ange-
sichts dessen, was wir mit der WHO in den letzten Jah-
ren etwa beim Thema Schweinegrippe erlebt haben,
noch nicht sicher, ob eine Stärkung der WHO wirklich
der richtige Weg wäre.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Humanitäre Hilfe ist eine hochprofessionalisierte zi-
vile Aufgabe, die mit zivilen Kapazitäten fast immer
ebenso gut oder besser erfüllt werden kann als mit mili-
tärischen Kräften, auch wenn sich – Ausnahmen bestäti-
gen die Regel – gerade zwei Schiffe der Bundesmarine
an der Rettung von schiffbrüchigen Flüchtlingen im Mit-
telmeer beteiligen. Aber wir sind uns hier, glaube ich,
alle einig, dass so etwas eine Ausnahme bleiben soll und
muss; das steht auch so in der Beschlussempfehlung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die humanitären Prinzipien haben sich also bewährt.
Sie müssen gegen kurzfristige innen- oder außenpoliti-
sche Interessen verteidigt werden. Das wird – anders als
von Inge Höger eben suggeriert – in der Strategie des
Auswärtigen Amts zur humanitären Hilfe im Ausland
ausdrücklich betont – ich zitiere –:

Die unbedingte Wahrung dieser Grundsätze ist
Voraussetzung dafür, dass humanitäre Akteure vor
Ort – in häufig schwierigem politischen Umfeld mit
schlechter Sicherheitslage – tätig werden können.

Sie sind notwendig, damit humanitäre Hilfe Konflikte
nicht hervorruft oder verschärft, sondern im Idealfall so-
gar hilft, sie zu deeskalieren. Die humanitären Prinzipien
unterscheiden aber auch die humanitäre Hilfe, vor allem
die Nothilfe, von der Entwicklungszusammenarbeit, die
an politische Bedingungen geknüpft werden kann und
darf. Insofern ist es nicht immer möglich, humanitäre
Hilfe, Übergangshilfe und Entwicklungszusammenarbeit
zusammenzudenken, weil irgendwo der Punkt einsetzt,
wo politische Bedingungen gestellt werden können und
dürfen.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte auch den Vorwurf zurückweisen, dass
Deutschland in Bezug auf die humanitäre Hilfe in Syrien
politische oder strategische Gründe zugrunde gelegt
habe,


(Christoph Strässer [SPD]: Unglaublich!)


als es darum ging, wem man helfen will. Deutschland
hat zwar Hilfsorganisationen unterstützt – aus den Mit-
teln des Auswärtigen Amts –, die Zugang zu den Regio-
nen haben, wo die Befreiungsbewegungen tätig sind;
aber Deutschland hat über internationale Organisationen,
die Zugang zu den von der Regierung kontrollierten Ge-
bieten haben, dort natürlich genauso humanitäre Hilfe
geleistet,


(Inge Höger [DIE LINKE]: Sehr spät!)


und das ist auch gut und richtig so.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU] – Christoph Strässer [SPD], an Abgeordnete der LINKEN gewandt: Und da werfen Sie uns vor, dass wir über das Rote Kreuz Assad unterstützen!)


Eine Entschließung soll auf den Bericht aufmerksam
machen, sie soll nicht an seine Stelle treten. Deswegen
bitte ich um Zustimmung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810401100

Vielen Dank, Ute Finckh-Krämer. – Nächster Redner:

Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1810401200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich weiß
nicht, wer von Ihnen schon da war, als eben die Gedenk-
stunde zu 70 Jahren Kriegsende stattfand. Das Kriegs-
ende markiert nicht nur die Befreiung von Völkermord
und humanitärer Katastrophe, sondern auch den Beginn
von 70 Jahren Frieden in Europa, in einem Großteil Eu-
ropas – so lange wie vorher tausend Jahre lang nicht.

Aus dieser Geschichte wächst Verantwortung. Das
betont die Einleitung des Berichts, über den wir jetzt de-
battieren. Ich zitiere aus dieser Einleitung:

Humanitäre Hilfe ist Ausdruck ethischer Verant-
wortung und internationaler Solidarität mit Men-
schen in Not. Ziel des humanitären Engagements
der Bundesregierung ist es, Menschen in Not ein
Überleben in Würde und Sicherheit zu ermöglichen
und das Leid derer zu lindern, die ihre akute Not-
lage aus eigener Kraft nicht überwinden können.

Der Bericht hat, grob gesehen, zwei Elemente – Sie
haben vieles davon jetzt schon gehört –:

Im ersten Teil geht es um die Strategie, um die Neu-
ausrichtung der humanitären Hilfe durch die Ressortver-
einbarung zwischen dem Bundesministerium für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und dem Auswärtigen Amt.
Da gibt es immer noch Verbesserungsbedarf. Das Ergeb-
nis der Anhörung – Herr Koenigs, Sie haben das ange-
sprochen – lautet: Das muss noch verbessert werden. Es
muss noch weiter darüber geredet werden, wie wir das
besser machen können. Die Koordinierung vor Ort ist
ganz besonders wichtig. Es geht um bessere Verknüp-
fung von kurz- und langfristiger Hilfe, Soforthilfe, Über-
gangshilfe, Katastrophenvorsorge. – Da liegt noch eine
Menge Arbeit vor uns.

Der zweite Teil ist die Berichterstattung über die vier
schon genannten Jahre 2010 bis 2013. Der Aufwuchs der
Bedarfe ist, glaube ich, durch meine Vorredner schon
ziemlich deutlich geworden. Der Bedarf wächst auch
seit 2013 weiter. Gründe für den steigenden Bedarf sind:
allgemeine Zunahme der Zahl von Extremwetterereig-
nissen – Trockenheit, Fluten, Überschwemmungen in
Afrika, Wirbelstürme in Asien –, große Naturereignisse
mit Katastrophenfolgen wie das Erdbeben in Haiti – das
ist schon wieder eine Weile her; es fiel aber genau in die-
sen Zeitraum – oder auch die Fluten in Pakistan, Zu-
nahme der Anzahl von Krisen und Konflikten, Zunahme
auch, was deren Dauer und Ausmaß angeht – ich nenne
die langanhaltenden Krisen in Afrika; es gibt drei große
zeitgleich bestehende Konflikte: in Syrien, im Südsudan
und in der Zentralafrikanischen Republik –, steigende
Kosten für komplexe Operationen humanitärer Art.

Jetzt, im Jahr 2015, haben wir gleich eine Handvoll
humanitärer Krisen vor uns. Wir haben davon gehört,
was im Jemen passiert, in Nepal, im Südsudan, in
Eritrea, in Zentralafrika. Wir haben die Menschen vor
Augen, die im Mittelmeer ertrinken – großteils als Folge
dieser Krisen.

Ich weiß, dass es vielen meiner Kollegen und auch
vielen Bürgern und Menschen, die in unserem Land Mit-
verantwortung tragen, ähnlich geht wie mir. Es ist eine
riesige Betroffenheit vorhanden, nicht nur am Tag einer
Katastrophe und an den Tagen danach. Durch das Ertrin-
ken von Menschen haben wir das vor Augen. Die letzten
zwei, drei Wochen haben mich innerlich zerrissen. Ich
denke an das Alte Testament. Früher hat man, wenn man
eine große Trauer gefühlt hat, sein Hemd zerrissen. Das
mache ich jetzt nicht.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das wär’s!)


Aber eigentlich müsste man das tun, um deutlich zu ma-
chen: Das können wir doch nicht zulassen. Dabei kön-
nen wir doch nicht ruhig bleiben. – Als ehemaliger Pas-
tor habe ich darüber nachgedacht, ob ich eine Weile
faste. Auch das war eine Möglichkeit dafür, Trauer aus-
zudrücken, Mitleiden auszudrücken, darüber nachzusin-
nen: Was kann man denn verändern? Ich habe sogar kurz
über einen Hungerstreik nachgedacht, wusste in dem
Moment aber nicht, gegen wen.

Es geht darum, auszudrücken: Ich will nicht dabei
bleiben. Ich will mich nicht damit zufriedengeben, dass
mir die Ohnmacht, die ich jetzt gerade empfinde, mögli-
cherweise dadurch genommen wird, dass die nächsten
drei Krisen entstehen. Ich will diese Ohnmacht teilen
und ihr Ausdruck verleihen, damit dann konstruktiv mit-
einander gearbeitet werden kann. Ich will nicht betäubt
werden durch die vier nächsten zugegeben wahrschein-
lich wichtigen Themen, die hier im Parlament diskutiert
werden müssen.

Ein Zweites will ich nicht. Wir haben vor 14 Tagen
hier eine tolle Debatte anlässlich des 100. Jahrestags des
Genozids an den Armeniern geführt. Ein Satz des Bun-
destagspräsidenten war – ich sage das jetzt mit meinen
Worten –: Wir wussten alles zu der damaligen Zeit. Wir,
Deutschland, wussten alles und haben nicht getan, was
wir konnten. – Ich will nicht, dass meine Kinder und En-
kel irgendwann am Mittelmeer stehen und genau diesen
Satz über unsere Generation und über uns Politiker sa-
gen müssen, nämlich dass wir alles wussten und nicht
getan haben, was wir konnten. Das heißt nicht, dass wir
die richtige Lösung sofort parat haben, das heißt nicht,
dass es nur um Geld geht, das heißt auch nicht, dass wir
einfach mehr Flüchtlinge aufnehmen, aber das heißt,
dass wir – damit geht es nicht nur um humanitäre Hilfe –
konstruktiv die Köpfe zusammenstecken, bis wir heraus-
finden, was wir denn tun können; das muss langfristig
glaubwürdig sein.

Das geht über die ganze Bandbreite der Thematik: Es
geht um die humanitäre Hilfe, richtig abgestimmt vor
Ort, aber auch abgestimmt mit den europäischen Part-
nern, um Außenpolitik, Entwicklungszusammenarbeit
und Ursachenbekämpfung; der Herr Staatssekretär hat es
angesprochen. Es geht um die Hilfe für die Aufnahme-
staaten Libanon, Jordanien, Türkei. Was die Syrien-
Krise angeht, können wir noch mehr tun, natürlich auch
bei der Bekämpfung der Schleuserkriminalität, die übri-
gens nicht nur am Mittelmeer zu finden ist. Und es geht
um die Seenotrettung der Flüchtlinge. Wir brauchen eine
abgestimmte EU-Politik und möglicherweise eine Dis-
kussion über ein Ende des Dublin-Verfahrens.





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Letztlich geht es um die deutsche Regelung zu Asyl und
Zuwanderung. Natürlich gibt es tolle Signale: heute der
Gipfel im Kanzleramt,


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja ein tolles Signal!)


die Schiffe, die zusätzlich zur Verfügung gestellt wer-
den, die Initiative des BMZ. Ich bin dankbar; aber es
reicht mir nicht.

In Kohärenz und Zusammenarbeit müssen wir uns
quer durch unser Haus, quer durch die Ministerien, quer
durch unsere Gesellschaft, bei den Medien angefangen
über uns Bürger als Nachbarn, auf die Frage fokussieren:
Wollen wir, dass in 50 Jahren über uns gesagt wird, wir
hätten alles gewusst, aber nicht alles getan, was wir
konnten? – Wir müssen das Problem wirklich angehen.

Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. – Heute ist
der Tag der Befreiung. Morgen, am 9. Mai, ist Europa-
tag. Vor 65 Jahren schlug der französische Außenminis-
ter Robert Schuman in einer Rede unter anderem das
vor, was wir heute als Europa kennen. Unter anderem
sagte er in der Rede – ich zitiere –:

Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden
ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe
der Bedrohung entsprechen.

Genau das gilt heute auch wieder, nur dass die Perspek-
tive global sein muss und die Reaktion ganzheitlich. Ich
wünsche mir, dass wir solchen Anstrengungen Priorität
verleihen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810401300

Vielen Dank, Frank Heinrich. – Nächster Redner:

Dr. Rolf Mützenich für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1810401400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist richtig, dass der Deutsche Bundestag
sich zum zweiten Mal entschieden hat, die Debatte über
diesen wichtigen Bericht in die Kernzeit seiner Tätigkeit
zu legen. Ich glaube, es ist notwendig, dass man viele
Kritikpunkte aufnimmt, sich aber insbesondere darüber
vergewissert, wie wichtig humanitäre Hilfe gerade auch
als ein Zeichen deutscher Außenpolitik ist und dass sie
gewährt werden muss. Es ist eben kein Gnadenbrot, son-
dern eine notwendige Ergänzung, notwendige Hilfe, ins-
besondere angesichts der Tatsache, dass das vergangene
Jahr ein so dunkles gewesen ist. Das vergangene Jahr hat
gezeigt, dass humanitäre Hilfe notwendig ist, natürlich
auch, weil die Politik versagt hat.
Wir dürfen nicht aufhören – ich will auf die Zusam-
menhänge hinweisen –, kluge Außenpolitik zu machen,
humanitäre Hilfe zu leisten und auf der anderen Seite
Strukturen zu schaffen, damit nicht immer nur humani-
täre Hilfe geleistet werden muss, sondern auch Erfolge
möglich sind. Ich finde, hier geht es um ein Zusammen-
spiel: Humanitäre Hilfe und kluge Außenpolitik gehören
zusammen.

Ich sehe, dass sich die Bundesregierung auf der einen
Seite entschieden hat, mit Unterstützung des Deutschen
Bundestages im Zusammenhang mit den Herausforde-
rungen in Syrien humanitäre Hilfe in einem wirklich
großen Umfang zu gewähren, und sie auf der anderen
Seite deutlich macht, dass wir gleichzeitig den Nachbar-
ländern helfen müssen. Beides gehört, zusammen ge-
dacht, zu einem realistischen Umgang mit humanitärer
Hilfe.

Frau Kollegin Höger, ich finde, Sie werden der wirk-
lich notwendigen und beachtenswerten humanitären
Hilfe und den Herausforderungen im Hinblick auf die
Nachbarländer überhaupt nicht gerecht, indem Sie hier
Kleinigkeiten zu bedenken geben. Das war wirklich sehr
platt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Naturkatastrophen wird man nicht verhindern kön-
nen; man kann sie nicht aufhalten. Deswegen ist es rich-
tig, dass Deutschland gegenüber Nepal humanitäre Di-
rekthilfe im Umfang von 2,5 Millionen Euro geleistet
hat. Ich will allen Helferinnen und Helfern danken.
Gleichzeitig kommt aber ein zweiter Punkt hinzu – des-
wegen sage ich, dass man hier auch über die Zusammen-
hänge sprechen muss –: Nepal ist ein Staat, der nicht ge-
nügend funktionsfähig ist, der sich zu wenig auf diese
Katastrophe vorbereitet hat, auch weil ihm die interna-
tionale Gemeinschaft zu wenig geholfen hat. Wir müs-
sen genau hinschauen und in den nächsten Monaten und
Jahren mithelfen, damit ein funktionsfähiger Staat ent-
steht, der auf solche Katastrophen vorbereitet ist. Insbe-
sondere müssen wir die Hilfe über einen langen Zeit-
raum gewähren.

Diese Zusammenhänge werden auch klar, wenn wir
an die Staaten denken, in denen Ebola ausgebrochen ist.
Auch hier waren wir mit der Situation konfrontiert, dass
die Gesundheitssysteme zu schwach waren, um unmit-
telbar auf diese Katastrophe zu reagieren. Deswegen
müssen wir uns konkret darum kümmern, Staaten wieder
funktionsfähig zu machen, damit sie besser mit solchen
Problemen umgehen können. Auch das gehört zu huma-
nitärer Hilfe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zu einem weiteren Punkt. Es ist notwendig und rich-
tig – und wir sollten das insbesondere im Hinblick auf
den ersten Humanitären Weltgipfel deutlich machen –,
dass internationale Regierungsorganisationen der erste
Ansprechpartner sind, wenn es um Hilfe, aber auch um
Koordination geht; freilich gemeinsam mit staatlichen
Organisationen. Das heißt nicht, dass private Hilfe keine
Rolle spielen soll – private Hilfe ist notwendig und





Dr. Rolf Mützenich


(A) (C)



(D)(B)

wichtig –, aber wenn einzelne Hilfsorganisationen unter
medialer Begleitung nach Nepal aufbrechen und am
Ende zwar gute Bilder liefern, aber letztendlich nichts
tun können, dann muss doch die Konsequenz sein, dass
die internationalen Regierungsorganisationen gestärkt
werden. Erste Ansprechpartner sind für mich die Verein-
ten Nationen, auch als Würdigung von 70 Jahren wichti-
ger Arbeit in diesem Bereich, und natürlich auch die Eu-
ropäische Union.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte am Ende meiner Rede noch einmal darauf
hinweisen: Wir werden über den Umgang mit der Situa-
tion nicht alleine entscheiden können. Deutschland ist
aufgerufen, auf der einen Seite weiter humanitäre Hilfe
zu leisten, hinzuschauen, sich nicht mit dem Elend abzu-
finden, auf der anderen Seite eine kluge Außenpolitik zu
betreiben, die die Partner mitnimmt, die sich mit Part-
nern abstimmt. Insbesondere muss auf die Länder ge-
schaut werden, die gerade in der jetzigen Situation oft
vergessen werden. Deswegen ist der erste Humanitäre
Weltgipfel ein wichtiges Datum. Auch die Vorberei-
tungskonferenzen, die hier in Berlin und in Bonn statt-
finden, sind wichtig. Haben wir den Mut, für den Erfolg
zu arbeiten!

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810401500

Vielen Dank, Rolf Mützenich. – Nächster Redner:

Michael Brand für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Brand (CDU):
Rede ID: ID1810401600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Aktuell verzeichnen wir weltweit 50 Millionen Flücht-
linge, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht
mehr. Humanitäre Hilfe ist in einer solchen Lage nicht
nur ein Gebot menschlichen Mitleids; humanitäre Hilfe
aktiv anzubieten, ist eine Frage von Haltung. Dies gilt
für uns Menschen, für jeden einzelnen von uns, aber es
gilt auch für ganze Staaten. Insbesondere gilt es für die-
jenigen, die mehr Möglichkeiten haben als andere.

Wir verzeichnen angesichts vieler Krisen einen stark
anwachsenden Bedarf bei der Finanzierung humanitärer
Hilfe. Ohne die einzelnen Appelle der Vereinten Natio-
nen für die jeweiligen Budgets in Milliardenhöhe hier
aufzuführen, muss festgehalten werden: Die Summe der
Katastrophen und Krisen übersteigt die bisherigen Er-
fahrungen, und sie erfordert neue Antworten im finan-
ziellen Bereich. Folgerichtig spricht der vorliegende Be-
richt der Regierung von der Notwendigkeit, einen neuen
Ansatz in der deutschen humanitären Hilfe zu wählen.

Es geht hier um nichts weniger als um einen Paradig-
menwechsel. In den letzten Jahren hat sich die Perspek-
tive der humanitären Hilfe verändert. In Zukunft müssen
wir von einer reaktiven Hilfeleistung nach einer Krise
deutlich mehr zu einem vorausschauenden Handeln zur
Vermeidung von Krisen kommen. Wir begrüßen sehr,
dass die Bundesregierung hier wichtige Schritte getan
hat, um sich auf diese Zäsur einzustellen; ich nenne nur
die neue Krisenabteilung im Auswärtigen Amt. Aber un-
ter allen Ressorts besteht die Notwendigkeit, die Koordi-
nierung zu verbessern, um schneller und effektiver hel-
fen zu können.

Der vorliegende Bericht stellt völlig zu Recht fest:
Die Anforderungen wachsen sowohl an Qualität und
Effizienz wie auch an die beschriebene Koordinierung
der internationalen humanitären Hilfe. Dies gilt auch für
die innerhalb der EU koordinierte humanitäre Hilfe aus
Deutschland, die vor allem multilateral erfolgt. Bei aller
Abstimmung muss sich ein so herausragender humanitä-
rer Akteur wie die Bundesrepublik Deutschland aber das
Recht vorbehalten, bei Bedarf oder nach individueller
Beurteilung auch bilateral aktiv werden zu können. An-
dere Länder tun dies auch, und gerade die Deutschen mit
ihrer hohen Akzeptanz weltweit können durchaus bilate-
ral manchmal mehr bewirken als im multilateralen Kon-
zert.

Die Abstimmung der Akteure untereinander und auch
mit der Bundesregierung und den internationalen Institu-
tionen und Organisationen ist mitentscheidend für die
Qualität des deutschen Beitrags auf dem internationalen
Parkett. Der Koordinierungsausschuss Humanitäre Hilfe
beim Auswärtigen Amt erfüllt hier als Schnittstelle zwi-
schen Regierung und den Nichtregierungsorganisationen
eine wirklich zentrale Rolle.

In Zukunft wird es neben Qualität und Effizienz der
humanitären Hilfe aber auch darauf ankommen, die Mo-
bilisierung privaten Engagements zu stärken. Es stimmt:
Nicht jede einzelne Idee zur humanitären Hilfe ist auto-
matisch auch gut umgesetzt. Wahr ist aber auch: Nicht
wenige der kleinen humanitären Hilfsorganisationen
sind schneller vor Ort und können aufgrund ihrer guten
Vernetzung – da haben Sie recht, Herr Koenigs – mit lo-
kalen Akteuren vielfach schneller die Opfer erreichen als
die großen humanitären Organisationen, die natürlich
auch in Zukunft den Löwenanteil der humanitären Hilfe
tragen werden.

Ich habe nur wenige Meter von hier entfernt in der
Parlamentarischen Gesellschaft gestern vom Bürger-
meister der nordirakischen Stadt Erbil, Herrn Kodscha,
den Satz gehört: Das werden wir Deutschland nicht ver-
gessen. Und er erzählte, dass er am 20. Dezember des
letzten Jahres am Flughafen einen Hilfstransport von ei-
ner dieser Organisationen, von Luftfahrt ohne Grenzen,
entgegengenommen hatte; Frank Franke sitzt unter den
Zuhörern. Diese Organisation hatte einen Hilfstransport
in den Nordirak geplant. Genau in diesem Moment, am
20. Dezember hatten die kurdischen Einheiten das Sind-
schar-Gebirge freigekämpft, das von ISIS umstellt war.
Man hat schnell reagiert. Diese Hilfsorganisation war
die erste, die dringend notwendige Hilfe ins Sindschar-
Gebirge gebracht hat. Sie hatten sechs Lkws umfunktio-
niert, um die Hilfe dort hinzubringen, wo sie am drin-
gendsten gebraucht würde. Ich sage dieser Organisation





Michael Brand


(A) (C)



(D)(B)

stellvertretend für alle anderen Hilfsorganisationen, die
ihren wichtigen Beitrag dazu leisten, ein herzliches Dan-
keschön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen als Staat auch darauf achten, dass wir pri-
vates Engagement und privaten Mitteleinsatz nicht durch
Überbürokratisierung der Anforderungen in Teilen ersti-
cken. Staatliche Unterstützung bleibt wesentlich für den
Erfolg. Aber wir dürfen nicht vergessen: Die privat mo-
bilisierte Hilfe übersteigt die staatliche vielfach noch im-
mer deutlich. Deshalb müssen wir dieses unverzichtbare
private Engagement stärken, und wir dürfen es nicht ver-
sehentlich schwächen. Auch das ist eine Lehre aus der
Anhörung im Deutschen Bundestag.

Humanitäre Hilfe hat es auch aus einem anderen
Grund schwerer. Selbst wenn die Hilfe verfügbar ist, er-
reicht sie nicht immer das Ziel; ich habe das beschrie-
ben. Nicht nur mir sind Fälle bekannt, zum Beispiel im
Bereich medizinischer Versorgung, in denen zwar Mittel
zur Verfügung gestellt wurden, diese aber wegen der
kriegerischen Lage nicht bis zu den Opfern gebracht
werden konnten. Gerade bei den akuten Krisen und ge-
waltsamen Konflikten bleibt das Dilemma: Humanitäre
Hilfe fehlt oft genau dort, wo sie dringend gebraucht
wird. Hier bleibt die Kooperation mit lokalen Akteuren,
aber auch benachbarten Staaten ein Ausweg. Diese Ko-
operation kann und sollte durchaus über den humanitä-
ren Bereich hinausgehen. Wenn Länder wie Jordanien,
der Libanon oder auch die Türkei die Millionen Flücht-
linge aus dem Irak oder aus Syrien aufnehmen, dann
können wir vor dieser humanitären Großzügigkeit nur
den Hut ziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht der
Bundesregierung ist also Bilanz und programmatischer
Ausblick zugleich. Die ausführliche Anhörung zu die-
sem Bericht im Ausschuss für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe hat viele Anregungen gebracht. Eines hat
sie aber vor allem zutage gefördert: Wir werden mit der
zunehmenden Komplexität und Quantität humanitärer
Krisen auch in Zukunft zu rechnen haben. Die dramati-
sche Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer ist nur ein
aktueller Ausdruck dessen, dass uns die humanitären
Katastrophen in immer größerem Maße unmittelbar be-
treffen. Wir werden in einer zunehmend globalisierten
und wechselseitig immer abhängiger gewordenen Welt
der Erkenntnis nicht entkommen: Nicht nur wirtschaft-
lich, sondern auch im Bereich humanitärer Katastrophen
werden wir in Zukunft sehr viel stärker betroffen sein,
als es vielen bisher bewusst ist und manche auch wahr-
nehmen wollen.

Ich komme zum Schluss. Dass mit dem Bericht ein
ernsthafter Versuch unternommen wurde, auf diese
neuen Herausforderungen entsprechende Antworten zu
entwickeln, ist ein wichtiger Schritt. Es ist ein wichtiger
erster Schritt, und wir werden uns auch als Deutscher
Bundestag mit diesen Themen als Querschnittsaufgabe
in Zukunft intensiver befassen müssen. Wir werden uns
damit nicht nur aus humanitären oder karitativen Grün-
den befassen müssen, sondern auch aus strategischen
Gründen. Humanitäre Außenpolitik ist integraler Be-
standteil der internationalen Politik unseres Landes ge-
worden. Gute humanitäre Politik dient der politischen
Stabilität ganzer Regionen und auch der Sicherheit unse-
rer eigenen europäischen Region.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810401700

Bitte Zeit beachten!


Michael Brand (CDU):
Rede ID: ID1810401800

Frau Präsidentin, mein letzter Satz.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ein Satz!)


Es geht also nicht nur um unser menschliches Mitleid
– das vielleicht zuallererst –, sondern auch um unsere
nationalen Interessen. Wenn es anderen gutgeht, dann
geht es auch uns besser, und das auf Dauer.

Vielen Dank, Frau Präsidentin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das waren drei Sätze!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810401900

Ja, das waren aber drei gute Sätze. – Letzte Rednerin

in dieser Debatte: Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1810402000

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Erst einmal möchte ich mich dafür bedanken,
dass es möglich ist, heute über dieses Thema zu debattie-
ren. Wir wissen, dass eine Katastrophe die andere jagt.
In Nepal gab es erst vor kurzem über 8 000 Tote. Bei
Ebola hoffen wir, dass die Epidemie bald überwunden
sein wird; hier gab es über 10 000 Tote. Wir haben im-
mens viele Krisen und immens viele Konfliktgebiete auf
der Welt; das zeigt der Bericht der Bundesregierung.

Seit Vorliegen des Berichts ist aber die Zahl der Kri-
sen und Konflikte noch weiter gestiegen, und alte Krisen
und Konflikte sind noch nicht beendet. Ich erinnere nur
an Syrien, wo es immer noch 12,2 Millionen Hilfsbe-
dürftige gibt. Das ist über die Hälfte der Bevölkerung.
Über 4 Millionen Menschen sind aus dem Land geflo-
hen, und es gibt über 7 Millionen Binnenvertriebene. Ich
erinnere auch an den Irak mit rund 3 Millionen Binnen-
vertriebenen. Und es gibt viele andere Länder wie Soma-
lia oder die Zentralafrikanische Republik, die Staaten
der EAC und noch einige mehr, die hier ebenfalls zu
nennen wären.

Die Folgen sind Tragödien von unermesslichen Aus-
maßen, die man sich so eigentlich nicht vorstellen kann.
Wir sehen die Bilder tagtäglich im Fernsehen. Es besteht
die große Gefahr, dass unsere Gefühle langsam abstump-
fen, weil es einfach zu viele Krisen sind. Aber in jedem





Dagmar G. Wöhrl


(A) (C)



(D)(B)

Fall geht es um Einzelschicksale. Wir sehen Menschen,
die im Mittelmeer ertrinken. Was man nicht sieht, ist,
dass auch Menschen in der Wüste verdursten. Ihre Zahl
soll sogar bei weitem höher sein als die Zahl derjenigen,
die bis jetzt im Mittelmeer ertrunken sind.

Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung
ihre humanitäre Hilfe ausweitet und auch Schritte zu ei-
ner besseren Koordinierung unternimmt. Es ist wichtig,
dass die Häuser hier zusammenarbeiten, damit es hier zu
kohärentem Handeln kommt. Wir wissen, wie schwierig
es ist, diese Kohärenz herzustellen, auch wenn wir im-
mer ganz toll darüber reden. Wir müssen darüber hinaus
vom reinen Reagieren wegkommen. Wir dürfen nicht
nur reagieren, sondern müssen zukünftig viel mehr agie-
ren. Die Vereinbarung zwischen den zwei Häusern bietet
eine gute Grundlage. Es ist ein guter Ansatz, die Nothilfe
im Auswärtigen Amt und die langfristige Entwicklungs-
zusammenarbeit im Ministerium für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung anzusiedeln.

Vereinbarte Maßnahmen muss man aber auch ab und
zu evaluieren: Sind sie gut? War die Vereinbarung rich-
tig? Kann man vielleicht etwas besser machen? – Ich
glaube, es ist richtig, dass wir mit ESÜH, der „Entwick-
lungsfördernden und Strukturbildenden Übergangshilfe“,
eine Brücke gebaut haben. Diese Hilfe kann schnell und
unbürokratisch geleistet werden, und sie kann an die
Nothilfe anschließen. Vor allem kann so für die Dauer
von drei bis vier Jahren eine stabile Finanzierung sicher-
gestellt werden. Das ist etwas, was die Nothilfe in die-
sem Zusammenhang manchmal nicht leisten kann.

Wichtig und prioritär ist für uns, dass wir die Wider-
standskraft dieser Länder und ihre Institutionen stärken.
Sie müssen präventiv im Hinblick auf neu entstehende
Konflikte gestärkt werden, sodass man Krisen zukünftig
vorbeugen kann.

Meine Damen und Herren, humanitäre Hilfe wird nie
ganz verzichtbar sein; aber sie darf nie ein Ersatz für die
Entwicklungszusammenarbeit sein. Ich möchte in die-
sem Zusammenhang einen Punkt ansprechen, der mir
immer wieder aufgefallen ist, und zwar die Koordinie-
rung der Hilfsmaßnahmen. Wenn ich mir anschaue, wie
heute die internationale Koordinierung der Hilfsmaßnah-
men, vor allem die der Vereinten Nationen, dasteht,
glaube ich, dass dieses Thema ganz dringend auf die Ta-
gesordnung gesetzt werden muss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich erinnere mich noch ganz gut daran, dass sich in
Haiti 22 000 NGOs gegenseitig auf die Füße getreten
sind. Angesichts dessen muss man, wie ich glaube,
schauen, wie man die Hilfsmaßnahmen international,
also zum Beispiel im Rahmen der Vereinten Nationen,
besser abstimmt.

Der UN-Nothilfekoordinator Albrecht Beck hat sich
gerade zu Nepal geäußert. Er hat gesagt, dass viele Staa-
ten und Organisationen ihre eigene Flagge zeigen wollen
und deshalb eigene Hilfe leisten, sodass keine echte Zu-
sammenarbeit der internationalen Akteure erfolgt. Das
sollte uns zu denken geben. Wir müssen hier internatio-
nal zu einer größeren Effizienz kommen. Es sollte nicht
jeder sein eigenes Süppchen kochen, sondern wir sollten
zusammenarbeiten. Das muss in den großen internatio-
nalen Organisationen angedacht und durchdiskutiert
werden; und es müssen auch Strukturreformen durchge-
führt werden.

Herr Koenigs, Sie haben vollkommen recht: Die
WHO muss an ihre Strukturen herangehen. Wir hoffen,
dass auch dieses Thema auf der Tagesordnung der Kon-
ferenz, die demnächst von der Kanzlerin eröffnet wird,
stehen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen schauen, dass Hilfe schnell auf die Beine
gestellt wird und sich die Helfer einander nicht auf die
Füße treten.

Eines ist besonders wichtig: Was lernen wir aus den
verschiedenen Maßnahmen, die wir auf den Weg ge-
bracht haben? Man spricht hier von „lesson learned“; das
ist ein sehr wichtiger Terminus.

Ebola war kein Ruhmesblatt für uns; das wissen wir.
Aber wir haben gesagt: Wir lernen aus den Erfahrungen.
Wir sprechen momentan von einem Weißhelmkontin-
gent. Unabhängig davon, wie diese Einsatztruppe zu-
künftig heißen wird, ob Weißhelme oder anders: Wir
brauchen eine Einsatztruppe. Die Weltgemeinschaft
muss sich überlegen, wie sie auf internationaler Ebene
auf Katastrophen, die auch künftig eintreten werden,
schnell reagieren kann, wo sie Einsatzstationen mit ent-
sprechendem Personal, das sofort aktiviert werden kann,
vorhalten will.

Ich glaube, dass wir umdenken müssen und in dem
Bereich zu einer kohärenten und viel besser abgestimm-
ten Politik kommen müssen.

Ich möchte mich am Schluss für eines bedanken,
nämlich für die Berücksichtigung der sogenannten ver-
gessenen humanitären Krisen, Krisensituationen, die
schon länger auf der Welt bestehen. Ich erinnere hier an
Mindanao, den Konflikt auf den Philippinen. Ich erin-
nere an die ethnischen Konflikte in Myanmar, an die sa-
haurischen Flüchtlinge in Algerien. Man hört momentan
nichts davon, aber diese Konflikte bestehen weiter, sie
sind nicht beendet. Wir dürfen sie nicht vergessen, auch
wenn die Kameras nicht mehr auf sie gerichtet sind und
die Karawane weitergezogen ist. Wir müssen hier wei-
terhin unterstützend tätig werden. Deswegen bin ich
froh, dass wir 15 Prozent der Mittel aus dem Haushalt
für humanitäre Hilfe hierfür aufwenden. Auch wenn mo-
mentan nicht spektakulär darüber berichtet wird, auch
wenn die Fernsehkameras derzeit nicht draufhalten,
müssen wir wissen, dass wir auch für die sogenannten
vergessenen humanitären Krisen Verantwortung haben.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, so notwendig Hilfe in der Not ist, so sehr dür-
fen wir unser eigentliches Ziel nicht aus den Augen ver-
lieren: durch eine nachhaltige Entwicklungszusammen-
arbeit davon wegzukommen, permanent Nothilfe leisten
zu müssen.

In dem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.





Dagmar G. Wöhrl


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810402100

Vielen Dank, Dagmar Wöhrl. – Damit schließe ich

die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 18/4416 zum Bericht der Bundesregierung
über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 2010 bis
2013. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berichts
der Bundesregierung auf Drucksache 18/2900 eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Zustimmung
von CDU/CSU und SPD und Enthaltung bei den Linken
und bei Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe jetzt langsam, damit Sie möglicherweise die
Plätze tauschen können, die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi
Lemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie Wilms, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Schutz der Meere weltweit verankern

Drucksache 18/4814
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Birgit Menz, Caren Lay, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Meeresumweltschutz national und internatio-
nal stärken

Drucksache 18/4809
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen und Debatten
gegebenenfalls draußen zu führen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Anton
Hofreiter für die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor circa zwei Jahren war ich das letzte Mal
mit einem Meereskajak in Südostasien von Insel zu Insel
unterwegs. Mit einem Kajak kann man wunderbar tolle
Buchten und einsame Strände, auf denen normalerweise
kein Mensch ist, erkunden und wunderschöne Korallen-
riffe entdecken.

Der Punkt ist nur: Auf den ersten Blick wirkt es wie
ein echtes Paradies. Wenn man dann aber an Land geht
und sich die Strände genauer anschaut, dann entdeckt
man jenseits der Hochwasserlinie Berge von Plastik-
müll. Inzwischen ist es absurderweise so, dass dort, wo
keine Menschen sind, sehr viel mehr Müll liegt als dort,
wo sich Menschen befinden. Der Müll wird nämlich
vom Meer gebracht. Es ist uns tatsächlich gelungen, die
riesigen Weltmeere so zu vermüllen, dass an von Men-
schen unberührten Stränden Berge von Plastikmüll lie-
gen. Das ist absolut skandalös, und daran erkennt man,
dass dringendster Handlungsbedarf besteht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Übernutzung der Schätze des Meeres und diese
Vermüllung, diese Nutzung der Meere seit vielen Jahr-
zehnten als Mülltonnen, stellen für alle Menschen eine
existenzielle Bedrohung und Herausforderung dar. Frau
Merkel bringt das Thema Meeresschutz jetzt auf den
G 7-Gipfel. Ich muss dazu sagen: Das freut mich wirk-
lich und ehrlich. Der Punkt ist nur: Ein Problem löst sich
nicht dadurch, dass man es einfach nur auf die Tagesord-
nung setzt und ein paar schöne Worte dazu findet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielmehr brauchen wir wirklich Handlungen, Taten, Ge-
setze und Maßnahmen, und zwar nicht nur auf schönen
Gipfeln, sondern auch hier vor Ort in Deutschland. Wir
müssen auch im eigenen Land die eigene Verantwortung
erkennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Von Frau Merkel stammt folgender schöner Satz, den
sie in einem etwas anderen Zusammenhang gesagt hat:
„Das, was zu verbessern ist, muss verbessert werden“. –
Nehmen wir sie jetzt doch einmal beim Wort und
schauen wir uns einige der direkten Probleme an, um zu
überprüfen, inwieweit Worte und Taten etwas miteinan-
der zu tun haben.

Fangen wir mit dem Problem Plastikmüll an. Im At-
lantik – nicht nur im Pazifik, der dafür bekannt ist –
schwimmt ein Plastikstrudel in der Größe von Texas. An
diesem Plastik verenden Fische, Vögel und zum Teil
auch Wale und Delfine, weil sie diese Plastikteilchen für
Nahrung halten. Das verstopft ihre Mägen, und sie ver-
hungern dann. Diese Teilchen werden aber zugleich im-





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)

mer kleiner, und am Ende landen sie über Meeresfisch
und Nahrung aus den Meeren auch wieder auf unseren
eigenen Tellern, weil dieses Plastik nicht zerfällt, son-
dern nur in immer kleinere Teilchen zerfällt.

Was tut unsere Bundesregierung? Unsere Bundesre-
gierung schreibt einen netten Aktionsplan. Das sind wie-
der einmal schöne Worte ohne Konsequenzen. Stattdes-
sen müsste sie einmal wirklich etwas tun. Man könnte
zum Beispiel massiv etwas gegen den Einsatz von Plas-
tiktüten tun. Wie wäre es mit einer Abgabe auf Plastiktü-
ten? Wie wäre es mit einer Abgabe auf generell unver-
rottbare Verpackungsplastiken? Wie wäre es damit, die
Chemieindustrie mit einer entsprechenden Ökodesign-
Richtlinie so unter Druck zu setzen, dass Verpackungs-
plastik so hergestellt wird, dass es sich schadlos zer-
setzt? Es ist nämlich kein Naturgesetz, dass Plastikmüll
Tausende von Jahren hält. Das kann man auch so gestal-
ten, dass er sich nach wenigen Jahren in CO2 und Wasser
zersetzt. Warum tun Sie hier nichts? Warum reden Sie
nur darüber?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hubertus Zdebel [DIE LINKE])


Schauen wir uns das zweite ganz große Problem an,
unter dem unsere Meere leiden: die Überdüngung. Un-
sere Meere leiden massiv darunter, dass in ihnen viel zu
viel Stickstoff ist. Woher kommt dieser Stickstoff?
Dieser Stickstoff kommt aus unserer industriellen Land-
wirtschaft, sowohl vom Kunstdünger als auch vom mas-
senhaften Ausbringen von Gülle aufgrund der Massen-
tierhaltung. Warum unternehmen Sie nichts dagegen?
Auch hier könnte man begrenzend eingreifen.

Aktuell wird über eine Düngeverordnung debattiert.
Die von Ihnen vorgeschlagene Düngeverordnung ist
aber so wirkungslos, dass sie am Ende nicht helfen wird.
Wir reden hier nicht nur von tropischen Meeren und von
weit entfernten Problemen. Betrachten wir die Ostsee:
Die Ostsee ist inzwischen sehr stark überdüngt. Sie lei-
det unter einem so starken Algenwachstum, dass es dort
Todeszonen gibt. Das sind Zonen, die sauerstofffrei sind,
in denen alles Leben abstirbt, und sie haben mittlerweile
die Größe von zum Beispiel meinem Heimatland Bayern
erreicht. Was unternehmen Sie dagegen? Sie zerreden
die Düngeverordnung, und das, was Sie dagegen tun,
reicht nicht ansatzweise aus.

Sie unternehmen nichts gegen diese großen Probleme,
die direkt bei uns vor der Haustür sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schauen wir uns einen dritten ganz großen Problem-
komplex an, nämlich die Überfischung der Meere. In-
zwischen sind 80 bis 85 Prozent der weltweiten Fischbe-
stände massiv überfischt. Die Europäische Union und
auch deutsche Fischtrawler tragen ihren Teil dazu bei.
Die Europäische Union subventioniert, mit deutscher
Unterstützung, diese Überfischung der Meere mit erheb-
lichem Steuergeld. Die Meere werden nicht nur bei uns
überfischt, sondern auch vor afrikanischen Küsten. Wir
entziehen damit den Fischern vor der libyschen Küste,
vor Somalia, vor der westafrikanischen Küste ihre Le-
bensgrundlagen. Zugleich stellt man fest: Wenn hier
über Flüchtlinge debattiert wird, wird immer gerne da-
von gesprochen, man müsse die Fluchtursachen be-
kämpfen. Ja, das müsste man. Aber warum tun Sie es
dann nicht, wenn es konkret wird? Warum sorgen Sie
nicht dafür, dass die Fischer in diesen armen Ländern
eine Chance gegen die großen europäischen Fische-
reiflotten haben?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Warum stellen Sie die Überfischung nicht ein?

Die Zerstörung unserer Meere ist für uns alle eine
existenzielle Bedrohung. Deshalb ist es an der Zeit, das
Thema nicht nur auf die Tagesordnung zu heben, son-
dern mit den Möglichkeiten, die die deutsche Politik in
diesem Bereich hat, endlich zu handeln und dafür zu sor-
gen, dass wir diese Probleme wenigstens ansatzweise in
den Griff bekommen. Denn – es stimmt –: „Das, was zu
verbessern ist, muss verbessert werden.“ Es darf nicht
nur darüber geredet werden, sondern es muss endlich
auch gehandelt werden.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810402200

Vielen Dank, Toni Hofreiter. – Nächster Redner in der

Debatte: Karsten Möring für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karsten Möring (CDU):
Rede ID: ID1810402300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ende Mai haben wir den Europäischen Tag der Meere,
eingeführt im Jahr 2008, Bekanntheitsgrad minimal.
Trotzdem macht ein solcher Tag Sinn; denn er dient
dazu, uns die entscheidende Bedeutung der Ozeane für
unser tägliches Leben in Erinnerung zu rufen und in der
Öffentlichkeit stärker ins Bewusstsein zu heben.

Eins ist völlig klar: Der Meeresschutz ist auch für un-
sere Fraktion, die CDU/CSU, ein wichtiges Anliegen.
Wir haben mit der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie
und ihrer Umsetzung in nationales Recht schon einen
Meilenstein erreicht. Und wenn Herr Hofreiter immer
wieder betont, es gehe nicht um Beschlüsse, sondern
Umsetzung sei das Thema,


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden gerade verklagt, weil Sie nicht umsetzen!)


sage ich: Dem stimmen wir auch zu. Ich werde gleich
darauf zurückkommen und Ihnen erläutern, was wir da-
bei alles berücksichtigen müssen. Mit der Meeresstrate-
gie-Rahmenrichtlinie jedenfalls wollen wir einen guten
Umweltzustand der europäischen Meere bis 2020 errei-
chen. Dafür sind eine ganze Reihe verschiedener
Schritte notwendig.

In ihren Anträgen allerdings wiederholt die Opposi-
tion eigentlich nur Punkte, bei denen die Politik der Bun-





Karsten Möring


(A) (C)



(D)(B)

desregierung bereits Akzente gesetzt hat und die auf dem
Weg sind. Die überstürzte Art der Einbringung dieser
Anträge – unter Absetzung anderer Punkte, die für diese
Woche vorgesehen waren – lässt mich eher vermuten,
dass Sie versuchen wollen, im Windschatten des G 7-
Gipfels noch schnell ein bisschen mediale Aufmerksam-
keit zu erringen und sich als Gralshüter des Meeres-
schutzes darzustellen.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu Ihnen geht es uns um Inhalte!)


Das sind Sie nicht; denn Ihr Anliegen ist kein anderes als
unseres.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia KottingUhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön wäre es!)


Wir haben im Umweltausschuss am 20. Mai ein Fach-
gespräch zu diesem Thema. Es wäre sinnvoll gewesen,
diese Anträge dort einzubringen. Nun gut; wir werden
die Überweisung, wenn wir nachher darüber beschlie-
ßen, mittragen, um dann im Umweltausschuss intensiver
darüber zu diskutieren.

Intakte Weltmeere und Küsten, liebe Kolleginnen und
Kollegen, sind von überragender Bedeutung für die
ganze Menschheit. Sie sind Lebensraum für zahlreiche
Arten von Fischen und anderen Tieren, sie sind Roh-
stoffquelle, sie sind Erholungsraum für die Menschen,
und sie haben eine nicht unerhebliche Bedeutung für das
Weltklima. Sie sind vielfältigen Belastungen ausgesetzt:
Der Klimawandel führt zur Erwärmung der Weltmeere.
Die Einträge aus der Atmosphäre und aus den Flüssen
führen zu Versauerung. Das Problem der Überfischung
wurde eben schon angesprochen. Es gibt einen zuneh-
menden Schiffsverkehr mit seinen Folgewirkungen. Es
findet eine immense Verschmutzung der Ozeane statt.

Es gibt aber auch Belastungen, die vom Land her
kommen. Die Meere werden durch den Eintrag von Nit-
rat, Stickstoff und Phosphor, vor allem aus der Landwirt-
schaft, belastet, aber auch von Pflanzenschutzmittelres-
ten, von Tierarzneimitteln und von Bioziden. Diese
Stoffeinträge müssen gesenkt werden. Die in Arbeit be-
findliche Düngeverordnung wird dazu einen Beitrag
leisten. Sie ist zugleich aber auch ein Beispiel dafür, wie
wichtig es ist, dass wir die verschiedenen Güter, um die
es dabei geht, gegeneinander abwägen; denn die Festle-
gung von Werten in der Düngeverordnung, welche auch
immer das sein mögen, beeinflusst zum Beispiel unsere
Landwirtschaft ganz massiv. Trotzdem ist es notwendig.

Die Landwirtschaft ist aber nicht der alleinige Belas-
tungsfaktor vom Land her. Vielmehr haben wir es auch
mit dem Eintrag von Chemikalien, vor allen Dingen aber
mit Arzneimittelrückständen wie Antibiotika und Ähnli-
chem zu tun. Auch daran müssen wir arbeiten. Das ist
ein extrem schwieriges Themenfeld, wenn es um die
konkrete Ausgestaltung geht. Dazu gibt es noch keine
Lösungen.

Selbst das, was wir im Offshorebereich zugunsten des
Klimas und zugunsten unserer Energiewende machen,
nämlich der Bau von Offshorewindanlagen, ist unter
dem Gesichtspunkt des Meeresschutzes nicht unproble-
matisch. Es gibt wieder ein wunderbares Beispiel, das
belegt, dass wir es hier mit Zielkonflikten zu tun haben,
die wir miteinander austarieren und für die wir Lösungen
finden müssen.

Der Bau von Offshorewindanlagen führt zu Lärmbe-
lastungen, vielleicht auch der Betrieb. Wie es sich mit
Infraschall verhält, darüber wird diskutiert. Dazu liegen
uns noch keine stichhaltigen Erkenntnisse vor. Es sieht
bislang so aus, als wäre dieser Schall für die Menschen
kein Problem, wohl aber für bestimmte Tierarten. Auch
dort müssen wir abwägen, was wir wollen, ob das eine
oder das andere bzw., wenn beides, in welcher Kombina-
tion. Sicher ist, dass wir solche Anlagen nur bauen dür-
fen, wenn sie der Seeanlagenverordnung entsprechen;
diese legt ja fest, dass die Meeresumwelt nicht gefährdet
werden darf. Was das konkret heißt und welche Belas-
tungen, die von solchen Anlagen ausgehen, wir akzeptie-
ren, ist diskussionswürdig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abfallpolitik
der Bundesregierung leistet schon erhebliche Beiträge
zur Reduzierung der landseitigen Meeresverschmut-
zung. Herr Hofreiter hat eben das Stichwort „Plastik-
müll“ erwähnt. Der Plastiktütenverbrauch in Deutsch-
land liegt weit unter dem europäischen Durchschnitt.
Was die Verwendung von mehrfach nutzbaren Plastiktü-
ten angeht, liegen wir weit über dem Durchschnitt in Eu-
ropa. Das kann man sicherlich verstärken. Aber dass hier
sozusagen der schlechteste Teil der Welt liegt, trifft nun
wirklich nicht zu. Das Forschungsministerium hat im
Februar 2015 mit zehn EU-Staaten ein Forschungspro-
gramm zum Thema Mikroplastik aufgelegt. Aus den
dort gewonnenen Erkenntnissen haben wir dann Konse-
quenzen zu ziehen, was wir tun können, um die Müllbe-
lastung aus diesem Bereich zu reduzieren.

Die Bekämpfung der Meeresvermüllung findet auch
auf regionaler Ebene statt. Wir haben seit 2014 einen re-
gionalen Aktionsplan. Hier haben sich die Anrainerstaa-
ten von Nord- und Ostsee zusammengeschlossen, um
dafür zu sorgen, dass deutlich weniger Abfall in diese
Meeresbereiche gebracht wird, und zum Teil sogar Müll
aus den Meeren, soweit es technisch und mit vertretba-
rem Aufwand möglich ist, zu entfernen. Die Zahlen sind
ja erschreckend. Jährlich gibt es 6,4 Millionen Tonnen
neue Plastikabfälle im Meer. Wenn man das umrechnet,
dann kommt man zu dem Ergebnis, dass 13 000 Plastik-
müllteile auf einen Quadratkilometer entfallen. Da diese
Teile in der Tat zerfallen, nimmt ihre Zahl schon alleine
deswegen ständig zu.

Wir müssen uns aber davor hüten, einseitig bestimmte
Bereiche zu Sündenböcken zu machen, die Schifffahrt
beispielsweise. Wir dürfen sie nicht so belasten, dass es
zu Verlagerungen auf andere Verkehrsträger, also wieder
auf Landverkehr, kommt. Wir dürfen auch Auflagen
nicht so konstruieren, dass beispielsweise die illegale
Entsorgung von Müll auf den Weltmeeren wieder zur
billigeren Lösung wird. Gerade das wollen wir verhin-
dern. Die Entsorgung soll ja an Land passieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Karsten Möring


(A) (C)



(D)(B)

80 Prozent des Mülls im Meer kommen vom Land her.
80 Prozent! In diesem Bereich haben wir durchaus natio-
nalen Handlungsbedarf, auch wenn wir in Deutschland
hier einiges erreicht haben.

Ich komme zum Schluss auf ein Beispiel zu sprechen,
das ein wenig verdeutlichen kann, warum es für uns
auch auf nationaler Ebene wichtig ist, dass wir unsere ei-
genen Küsten schützen: Das müssen wir für Flora und
Fauna genauso wie für den wichtigen Wirtschaftszweig
Tourismus tun.

Herr Hofreiter, Sie sagen, die Küsten, wo keine Men-
schen sind, sind vermüllt, die Küsten, wo Menschen
sind, nicht. Gut, die Tourismusindustrie sorgt dafür, dass
der Teil, der von Menschen aufgesucht wird, sauber ist.
Das ist nachvollziehbar. Wir müssen aber auch dafür sor-
gen, dass die anderen Teile sauber werden. Darin stim-
men wir völlig überein.

Ich bin daher der Bundeskanzlerin außerordentlich
dankbar, dass sie dieses Thema zu einem Schwerpunkt
der G 7-Gespräche macht. Der Schutz der Ozeane und
die drastisch zunehmende Vermüllung der Weltmeere
sollen in den Blick genommen werden, insbesondere
was den Plastikmüll angeht. Sie haben gerade gesagt,
uns helfen keine Appelle oder schönen Worte. Das ist
zutreffend. Was aber auf dem G 7-Gipfel besprochen
wird, wird nicht in den blauen Dunst hinein gesprochen,
sondern es führt in der Nachbearbeitung zu Maßnahmen.
Vor allen Dingen – das ist ganz wichtig – macht es kei-
nen Sinn, nur mit kleinen Maßnahmen auf nationaler
Ebene zu arbeiten; allein kleinräumig betrachtet sind sie
sinnvoll. Wir bekommen dieses Thema nur dann in
Griff, wenn wir es in seiner globalen Dimension begrei-
fen.

Deswegen, liebe Vertreterinnen und Vertreter der Op-
position: Unterstützen Sie die Bundeskanzlerin und die
Bundesregierung bei diesem Vorhaben. Vielleicht wir-
ken Sie auf den einen oder anderen ein, sich etwas weni-
ger in G 7-Protestcamps in den bayerischen Bergen zu
engagieren, aber mehr in den zuständigen Ausschüssen
oder bei der Bildung der öffentlichen Meinung. Viel-
leicht trägt jeder in dem Bereich, auf den er Zugriff hat,
seinen Teil dazu bei.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Ziel der deutschen Meeresschutzpolitik ist ein
auf dem Ökosystemansatz beruhendes, umfassendes und
integriertes Management aller Aktivitäten, um einen gu-
ten Zustand zu erreichen. Dafür brauchen wir ein Zu-
sammenwirken aller Politikbereiche.

Ich will abschließen mit einem kurzen Blick auf die
Situation des Rheines im Bereich meiner Heimatstadt
Köln.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810402400

Aber wirklich nur kurz.


Karsten Möring (CDU):
Rede ID: ID1810402500

Danke, ich mache es sehr schnell. – Im letzten Jahr

hat das Fangen eines Fisches Aufsehen erregt: eines
Maifisches. Ein Maifisch ist ein Fisch, der zwar im
Rhein geboren wird, dann aber auswandert und bis zur
Geschlechtsreife im Meer bleibt, dann zurückkommt
und Eier ablegt. Das Besondere war, dass wir erstmals
einen solchen Fisch gefangen haben, der nicht im Rhein
ausgesetzt wurde, sondern der diesen vollständigen Zy-
klus durchlaufen hat. Das zeigt – zusammen mit der
Feststellung, dass wir inzwischen wieder um die 50 ver-
schiedene Fischarten im Rhein haben –, dass wir mit na-
tionalen Maßnahmen bei der Reinhaltung von Flüssen
einiges erreichen können. Das sollten wir auch beibehal-
ten.

All denjenigen, die dazu beigetragen haben – das sind
auch viele Ehrenamtler –, sollten wir dafür besonders
dankbar sein. Sie behalten das Ziel einer guten Wasser-
qualität im Blick und arbeiten dafür – jeder an seinem
Platz –, dass es da auch in Zukunft weiterhin Erfolge
gibt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810402600

Vielen Dank. – Ich möchte noch einmal darauf auf-

merksam machen: Wenn man die Redezeit zu weit über-
zieht, geht das in der Regel zulasten der nachfolgenden
Redner und Rednerinnen. Das machen wir jetzt nicht.
Dies ist ein Hinweis für alle, die danach zu Wort kom-
men, im Zeitrahmen zu bleiben.

Nächster Redner für die Fraktion die Linke ist der
Kollege Hubertus Zdebel.


(Beifall bei der LINKEN)



Hubertus Zdebel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810402700

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Belastung unserer Ozeane wird ein immer drängen-
deres Problem. Und dabei ist die Betrachtung der Mee-
resbelastung durch Plastikmüll nur eine Komponente.

Es ist richtig und wichtig und auch sehr zentral, dass
die Bundesregierung den Meeresschutz als ein Schwer-
punktthema der deutschen Präsidentschaft des G 7-Gip-
fels benennt, der eigentlich ein G 8-Gipfel sein sollte,
was bei der langen russischen Küstenlinie auch Sinn ma-
chen würde. Aber das ist ein anderes Thema.

Toni Hofreiter hat gerade darauf hingewiesen: Das
Reden über den Meeresschutz ist das eine; es kommt vor
allen Dingen aber darauf an, zu handeln und Konsequen-
zen zu ziehen. Ich will einen Aspekt anbringen, der in
der Diskussion überhaupt noch nicht erwähnt worden ist,
nämlich den Wettlauf um die Bodenschätze der Ozeane:
Kupfer, Kobalt und Seltene Erden. Dieser Wettlauf ist
bereits im vollen Gange. Dabei geht es um knallharte
geopolitische und wirtschaftliche Interessen. Ab 2016
können erste Explorationslizenzen bei der Internationa-
len Meeresbodenbehörde, ISA, in Förderlizenzen umge-
wandelt werden. Dann geht der Run auf Tiefseereserven
richtig los, um den eigenen Rohstoffhunger zu stillen
und zu decken. Deutschland ist im Rahmen seiner Roh-
stoffstrategie voll dabei.





Hubertus Zdebel


(A) (C)



(D)(B)

An dieser Stelle muss man, glaube ich, einmal Fol-
gendes erwähnen: Deutschland erwarb bereits 2006 bei
der ISA eine Explorationslizenz für ein 75 000 Quadrat-
kilometer großes Tiefseegebiet im Südpazifik. Mehr als
4 000 Meter unter dem Wasserspiegel liegen dort Man-
ganknollen auf dem Meeresboden, die einen hohen An-
teil an Metallen wie Mangan, Eisen, Kobalt, Nickel,
Kupfer und anderen Stoffen enthalten. Gerade am letzten
Mittwoch unterzeichnete die Bundesregierung ihre
zweite Explorationslizenz für ein 10 000 Quadratkilo-
meter großes Gebiet im Indischen Ozean südöstlich vor
Madagaskar. In bis zu 4 000 Metern Tiefe soll nun nach
Buntmetallen wie Kupfer, Blei oder Zink sowie vor al-
lem nach sogenannten Hochtechnologiemetallen gesucht
werden. Außerdem sind deutsche Unternehmen im Be-
reich der Bohrtechnik oder als Lieferanten entsprechen-
der Technik und Ausrüstung schon heute international
gefragte Ansprechpartner, allen voran Siemens.

Die Nutzungsinteressen in den Bereichen Energiege-
winnung, Rohstoffförderung, Transport, Nahrungsbeschaf-
fung und Unterbringung der Versorgungsinfrastruktur
greifen natürlich in das Ökosystem Meer ein. Das ist der
zentrale Punkt bei dem Ganzen. Bereits jetzt gelten über
40 Prozent der Meere als stark vom Menschen beein-
flusst. Die Artenvielfalt in den Meeren geht zurück und
damit der genetische Pool. Gerade in der Tiefsee – da-
rüber reden wir ja, wenn es um diese Explorations- und
Förderlizenzen geht – führt das aufgrund der langsam
ablaufenden biologischen Prozesse zu starken Auswir-
kungen. Deswegen fordert die Linke ein weltweites Mo-
ratorium für den Tiefseebergbau, und zwar so lange, bis
ausreichende Informationen über die Flora und Fauna
der Tiefsee vorliegen, aufgrund derer die Folgen von
menschlichen Tiefseeaktivitäten auf die Ökosysteme
realistisch eingeschätzt werden können.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Informationen liegen im Moment noch nicht vor.
In diesem lichtleeren Raum fehlt nämlich im wahrsten
Sinne des Wortes der Durchblick, wie die Süddeutsche
Zeitung in ihrer Ausgabe vom vergangenen Samstag
sehr eindrücklich verdeutlicht hat. Jeder Eingriff, gerade
im Tiefseebereich, kann fatal sein.

Außerdem macht sich die Linke bezüglich jeglicher
mariner Rohstoffförderung und -nutzung für die Verur-
sacherverantwortung im gesamten Förderprozess – bis
hin zu sozialen und ökologischen Folgekosten – stark.


(Beifall bei der LINKEN)


Das internationale Seerechtsübereinkommen UNCLOS
regelt die verschiedenen Nutzungsansprüche auf See
recht umfassend. Aus unserer Sicht ist es allerdings ele-
mentar, dass auch die USA als einflussreiches und roh-
stoffhungriges Land dieses wichtige Abkommen ratifi-
zieren. Das ist bisher noch nicht der Fall.

Die Linke fordert ferner weltweit gute Arbeitsbedin-
gungen auf See und eine gerechte Verteilung der durch
die Rohstoffförderung erzielten Gewinne auf alle betei-
ligten Länder.
Nicht nur im sozialen, sondern auch im ökologischen
Sinne halten wir es für absolut unerlässlich, dass eine
Ausflaggung von Schiffen unter Billigflaggen grund-
sätzlich ausgeschlossen ist und bleibt.


(Beifall bei der LINKEN)


Hierzu bedarf es bis 2020 eines internationalen Vertrags-
werks in Anlehnung an die Initiative der International
Transport Workers’ Federation, die die Schiffsflagge an
die Nationalität bzw. den Wohnsitz des Schiffseigners
bindet.

Weitere große Themen sind der Schutz der Biodiver-
sität, die Eindämmung von Nähr- und Schadstoffeinträ-
gen und die Umsetzung verbindlicher Fischereiabkom-
men, die das Fischen nach Mehrjahresplan und dem
sogenannten Maximum-Sustainable-Yield-Prinzip – da-
bei geht es um den höchstmöglichen Dauerertrag – so-
wie ökologisch unverträgliche Fischereimethoden wie
mobile bodenberührende Fanggeräte und Stellnetze aus-
schließen und Fangverbotsareale festlegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die nationale Ebene will ich in dieser Rede nur sehr
kurz berühren, da Toni Hofreiter in seiner Rede schon ei-
niges dazu gesagt hat. Nur so viel: Gerade in den Punk-
ten „Nährstoffeinträge aus der Landwirtschaft“ und
„Fischerei“ ist das Bundesumweltministerium in seiner
Verhandlungsposition gegenüber dem Bundeslandwirt-
schaftsministerium ausdrücklich zu stärken. Frau
Schwarzelühr-Sutter, da Sie heute anwesend sind,
möchte ich Sie bitten, Frau Hendricks auszurichten, bitte
dafür zu sorgen, dass fischereiökologische Maßnahmen
und flächendeckende Gewässerrandstreifen von mindes-
tens 5 Metern mit einem Verbot von Düngung, Pflanzen-
schutzmitteleinsatz und Ackernutzung wieder auf die
Liste des Maßnahmenkatalogs zur Umsetzung der Mee-
resstrategie-Rahmenrichtlinie kommen. Das ist nämlich
bisher leider nicht der Fall.

Nicht ohne Grund verfehlt Deutschland die Ziele der
Wasserrahmenrichtlinie, bis Ende 2015 einen guten öko-
logischen und chemischen Zustand der Oberflächenge-
wässer zu erreichen. Es ist noch unklar, ob der zweite
Bewirtschaftungszeitraum bis Ende 2021 dieses Ergeb-
nis maßgeblich ändern wird, wenn nicht eine grundle-
gend andere Gewässerpolitik gefahren wird. Uns allen
muss klar sein: Meeresschutz beginnt schon bei der Ge-
wässerquelle.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss: Die Meldung von Mitte April über den
Ölteppich vor Gran Canaria hat nicht nur bestätigt, dass
das Meer permanent durch menschliche Nutzungsinter-
essen gefährdet ist, sondern vor allem auch, wie zynisch
mit weniger wirtschaftlich entwickelten Ländern umge-
gangen wird. Im konkreten Fall sollte das brennende rus-
sische Schiff nicht gelöscht, sondern auf offenem Meer
seinem Schicksal überlassen werden. Die Strömung
würde den Treibstoff in Richtung Afrika treiben. Mittler-
weile ist das Schiff mit großen Teilen seines Treib-
stoffs gesunken. Es stellte sich heraus, dass die „Oleg
Naydenov“ schon 2012 ohne Lizenz beim Fischen er-





Hubertus Zdebel


(A) (C)



(D)(B)

wischt wurde, und zwar unter anderem vor der Küste Se-
negals, wo Fischerei verboten ist. Auch vor Somalia
wurde in Krisenzeiten illegal gefischt, was im Anschluss
zu Waffengewalt und Piraterie führte.

Der Schutz des Meeres und seiner Ressourcen bedeu-
tet auch Friedenssicherung. Auch deshalb setzt sich die
Linke dafür ein.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810402800

Vielen Dank. Die Einhaltung der Redezeit war vor-

bildlich.

Als Nächste erhält die Parlamentarische Staatssekre-
tärin Rita Schwarzelühr-Sutter das Wort für die Bundes-
regierung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ri
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
Rede ID: ID1810402900


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Beide Anträge zum
Meeresschutz greifen ein ganz wichtiges Themenfeld
auf. Sicherlich kann man sagen, dass die Vermüllung der
Meere aktuell eine der größten Herausforderungen für
die Meeresökosysteme ist.

Deutschland hat als Anlieger an zwei europäischen
Meeren – an Nord- und Ostsee – eine ganz besondere
Beziehung zum Meeres- und Meeresnaturschutz. Wir
wirken bereits in regionalen Kooperationen mit, um die
Qualität der biologischen Vielfalt und der Meeresöko-
systeme von Nord- und Ostsee zu verbessern. Auch das
Wattenmeer als Weltnaturerbe ist ein Vorzeigebeispiel,
wie es gelingen kann, Nutzungen und Umweltschutz zu-
sammenzubringen.

Mit dem Inkrafttreten der europäischen Meeresstrate-
gie-Rahmenrichtlinie verfügen wir jetzt über ein umfas-
sendes Regelwerk für eine einheitliche europäische
Meeresschutzpolitik. Alle Belastungen und Nutzungen
der Meere sollen hier integriert betrachtet werden. Die
Bundesregierung ist entschlossen, diese Richtlinie kon-
sequent umzusetzen und den guten Umweltzustand in
den deutschen Meeresgebieten zu erreichen bzw. Ver-
besserungen herbeizuführen.

Dabei kommt es entscheidend darauf an, alle meeres-
bezogenen EU-Richtlinien – dies sind, wie schon mehr-
fach angesprochen, neben der Meeresstrategie-Rahmen-
richtlinie insbesondere die Wasserrahmenrichtlinie, die
Nitratrichtlinie, also nicht nur die Düngeverordnung, so-
wie die FFH- und die Vogelschutzrichtlinien – intelligent
zu verknüpfen und in koordinierter Form umzusetzen.
Hier brauchen wir die Synergien und auch die Kohärenz.

Ein guter ökologischer Zustand der Binnengewässer
wirkt sich auch auf das Meer aus. Es geht also nicht nur
um den Müll, der vom Schiff aus in die Meere verklappt
wird. Vielmehr geht es auch um die Binnengewässer.
Das bedeutet, dass wir für unsere Maßnahmen Verständ-
nis auch bei denjenigen einwerben müssen, die keine
Küsten haben, also bei den Binnenländern. Zurzeit be-
finden sich unsere Maßnahmenvorschläge ja in der Öf-
fentlichkeitsbeteiligung. Wir hoffen auf eine rege Betei-
ligung. Die Bundesländer, auch Nordrhein-Westfalen,
sind an der Anhörung beteiligt. Alle diskutieren hier
noch einmal intensiv mit, und ich wäre natürlich dank-
bar, wenn Sie uns bei bestimmten Zielkonflikten in eini-
gen Ressorts Rückenwind geben würden.


(Beifall bei der SPD)


Beim Meeresnaturschutz wollen wir so schnell wie
möglich zu einer Regelung der Fischerei in den deut-
schen Natura-2000-Gebieten in der AWZ von Nord- und
Ostsee kommen. Für die Nordsee haben sich das Um-
weltministerium und das Landwirtschaftsministerium
vor kurzem auf Regelungen für den Einsatz von Grund-
schleppnetzen und Stellnetzen in den Schutzgebieten ge-
einigt. Ich glaube, das ist nach der langen Zeit, in der
man sich nicht einigen konnte, tatsächlich ein Erfolg.
Diesen Vorschlag müssen wir nun mit den betroffenen
Nachbarstaaten abstimmen, wie es im EU-Recht vorge-
sehen ist.

Darüber hinaus betreibt das BMUB als federführen-
des Ministerium gegenwärtig mit Nachdruck das Verfah-
ren zur Ausweisung der Natura-2000-Gebiete in der
AWZ als Naturschutzgebiete. Wir treten mit einem am-
bitionierten Ansatz an. Über die europäischen Schutzgü-
ter der Natura-2000-Richtlinie hinaus soll eine Reihe
weiterer gefährdeter Arten in einen der FFH-Richtlinie
vergleichbaren Schutz überführt werden. Auch da wol-
len wir mit unserem ambitionierten Vorgehen dazu bei-
tragen, die Artenvielfalt zu bewahren und zu schützen.
Auch den gebietsbezogenen Anforderungen der Meeres-
strategie-Rahmenrichtlinie wollen wir damit gerecht
werden. Wir hoffen, innerhalb der Bundesregierung
rasch zu einer abgestimmten Position zu gelangen und
dann mit der Anhörung zügig voranzukommen.

Lassen Sie mich einen ganz anderen und sehr aktuel-
len Aspekt aufgreifen, nämlich die Vermüllung der
Meere; das wurde schon mehrfach genannt. Der Eintrag
von Plastikmüll hat Auswirkungen auf die Nahrungs-
kette und schlussendlich natürlich auf den Menschen.
Für das Mittelmeer sowie für den Nordostatlantik gibt es
bereits regionale Aktionspläne. Im Rahmen von OSPAR
sind wir einen Schritt weitergekommen. Die Pläne bil-
den eine belastbare Grundlage für unser weiteres Vorge-
hen. Auch für die Ostseeregion wird vermutlich Mitte
dieses Jahres ein entsprechender Plan folgen. Deutsch-
land hat hier eine aktive Rolle eingenommen. Man kann
sagen, dass wir de facto fachlich die Führung übernom-
men haben.

Die Dimension dieses die Meeresökosysteme welt-
weit intensiv bedrohenden Verschmutzungsszenarios
und der Wille, in enger Abstimmung mit den anderen In-
dustriestaaten der G 7-Gruppe dieses Momentum zu nut-
zen, werden nicht nur auf dem Gipfeltreffen aufgegrif-
fen, sondern bilden den Ausgangspunkt dafür, dieses
Thema verstärkt ins Bewusstsein zu rücken und anzuge-
hen. Deshalb sind der Schutz der Meere und Maßnah-





Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter


(A) (C)



(D)(B)

men gegen die Vermüllung auf der Agenda der deut-
schen G 7-Präsidentschaft so prominent gesetzt.

Aber es gibt dieses Jahr noch andere Termine, näm-
lich der UN-Gipfel zu den Post-2015-Zielen in New
York und die Klimakonferenz in Paris. Auch das hat mit
Meeresschutz zu tun, und zwar mit dem Ausstoß des
Treibhausgases CO2. Auch hier werden Schwerpunkte
gesetzt, die für die Agenda der G 7 eine Rolle spielen.

Außerdem wollen wir im Kreis der G 7 das Thema
Ressourcenschutz aufgreifen, weil die Ressourcen – Sie
haben es angesprochen –, die in oder unter dem Meer la-
gern, zu einem Spannungsfeld zwischen Ökonomie und
Ökologie führen. Natürlich müssen wir auch sehen: Wel-
che Erkenntnisse haben wir bis jetzt? Wie gehen wir in
Zukunft damit um, um dieses besondere Ökosystem zu
schützen?

Dass das tatsächlich funktioniert, beweist die Eini-
gung im Rahmen der Pledging-Konferenz in London zur
Fertigstellung einer Schutzhülle für den Tschernobyl-
Reaktor. Dort konnten wir die Finanzierungslücke
schließen. Es wird also nicht nur geredet, sondern es
wird schon im Vorfeld gearbeitet und das Thema beim
Gipfel selber tatsächlich prominent besetzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das war ein kleiner Exkurs, um aufzuzeigen, dass die
Bundesregierung handelt.

Ich hätte noch zu so vielen wichtigen Punkten – ich
sehe schon die Lampe leuchten – etwas zu sagen,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


aber ich will es doch bei der Feststellung belassen, dass
wir es für wichtig halten, bezüglich des internationalen
Tiefseebodenbergbaus zu einem global gültigen Kodex
zu kommen. Wir als Bundesregierung werden uns vehe-
ment dafür einsetzen, dass wir die Meeresökosysteme
und die biologische Vielfalt besser schützen. Das geht
aber tatsächlich nur global. An dieser Stelle gibt es noch
viele Schwierigkeiten zu überwinden.

Wir brauchen, wie gesagt, eine globale Lösung. Inso-
fern unterstützen wir das Übereinkommen über die
biologische Vielfalt, CBD, zur Identifizierung von öko-
logisch und biologisch bedeutsamen Meeresschutzgebie-
ten, den EBSAs, und wollen dieses weiter voranbringen.

Ich freue mich auf die gemeinsame Anhörung am
20. Mai 2015, bei der wir dieses Thema, gerade weil der
Tag des Meeres noch nicht im Bewusstsein aller Men-
schen angekommen ist, prominent besetzen wollen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810403000

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Thomas

Gebhart, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Thomas Gebhart (CDU):
Rede ID: ID1810403100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! In unseren Meeren schwimmen mehr als
100 Millionen Tonnen Müll. Jahr für Jahr kommen al-
leine 13 Millionen Tonnen an Kunststoffabfällen dazu.
Im Nordpazifik treibt ein Müllteppich, der so groß ist
wie Deutschland und Frankreich zusammen. Wir können
und dürfen es nicht zulassen, dass unsere Meere zu einer
gigantischen Mülldeponie werden und verkommen. Es
ist unsere Aufgabe, die Meere zu schützen. Das ist auch
für uns Christdemokraten ein Kernanliegen. Es geht um
elementare Lebensgrundlagen, die wir schützen wollen,
die wir bewahren wollen, auch für nachfolgende Genera-
tionen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Meere zu schützen, ist eine Aufgabe, die nicht ein
Land allein, sondern nur alle Länder zusammen erreichen
können. Alle müssen ihren Beitrag leisten. Deswegen ge-
hört dieses Thema auf die Tagesordnung der internationa-
len Politik. Genau dafür hat unsere Bundesregierung
gesorgt. Meeresschutz ist ein Schwerpunktthema der
G 7-Präsidentschaft. Es soll einen Aktionsplan gegen
Meeresvermüllung geben. Wir unterstützen die Bundes-
regierung ausdrücklich in all ihren Anstrengungen, und
wir wünschen unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel
viel Erfolg dabei.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, was ist zu tun? Zunächst
einmal müssen alle ihren Beitrag in der Art und Weise
leisten, dass es funktionierende Abfallwirtschaftssys-
teme gibt. Deutschland gilt in diesem Bereich internatio-
nal als Vorreiter. Wir haben in der Tat eine funktionie-
rende Abfall- und Kreislaufwirtschaft, eine moderne
Kreislaufwirtschaft. Aber auch wir wissen: Wir haben
noch Potenziale. Wir können besser werden. Deswegen
wollen wir uns weiterentwickeln. Wir wollen, dass in
Zukunft noch mehr als heute gilt: Wir machen aus Ab-
fällen wertvolle Rohstoffe. Wir wollen und wir werden
die Kreisläufe in Zukunft noch besser schließen, als wir
das heute tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir setzen dabei vor allem auf ein Prinzip, das wir
stärken wollen, nämlich das Prinzip der Produktverant-
wortung. Was heißt Produktverantwortung? Es war
Klaus Töpfer, der damals die Verpackungsverordnung
eingeführt hat, in der festgelegt ist, dass jeder, der in
Deutschland eine Verpackung an den Markt bringt, dazu
verpflichtet ist, diese hinterher zurückzunehmen und
nach bestimmten Quoten wiederzuverwerten.

Unternehmen übernehmen Verantwortung für den ge-
samten Lebenszyklus eines Produkts. Sie übernehmen
auch nach der Nutzungsphase einer Verpackung bzw.
eines Produkts Verantwortung. Es entstehen Anreize,
Produkte von Anfang an so zu gestalten, dass Abfälle
möglichst vermieden werden oder dass sie einfach und
günstig zu recyceln sind. Es entstehen Anreize zur Inno-
vation. Es ist ein zutiefst marktwirtschaftliches Prinzip,
weil nämlich die Entsorgungskosten Teil des Preises





Dr. Thomas Gebhart


(A) (C)



(D)(B)

werden und damit Teil des Wettbewerbs. Dieses Prinzip
wollen wir ausdehnen, auch über Verpackungen hinaus,
auf Erzeugnisse aus Kunststoffen und Metallen. Ich be-
grüße in diesem Zusammenhang, dass die Grünen in ih-
rem Antrag diesen Punkt der Union übernommen haben.

Im Zusammenhang mit der Meeresverschmutzung
wird viel über die sogenannten Mikrokunststoffe gespro-
chen. Worum geht es? Es sind feste, kleine Kunststoff-
partikel, und es ist uns allen klar: Kunststoffe gehören
nicht in das Meer. Wir müssen aber auch feststellen: Es
gibt erheblichen Forschungsbedarf. Deswegen ist es gut,
dass einige Aktivitäten laufen, und es ist wichtig, dass
jetzt unsere Bundesforschungsministerin Johanna
Wanka ein europaweites Forschungsprojekt initiiert hat.
Es geht darum, mehr Daten zu gewinnen, mehr über die
Wirkungsweisen zu erfahren. Das ist der richtige Weg;
denn zur Wahrheit gehört: Es gibt Wissenslücken, es gibt
Forschungsbedarf, und es ist nicht so, wie die Grünen
und die Linken manchmal den Anschein erwecken, als
wüssten wir bereits alles.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Woher kommen diese Mikrokunststoffe? Es gibt im
Grunde zwei Quellen. Die erste Quelle – das ist der weit-
aus größere Teil – sind Abfälle, die unsachgemäß ent-
sorgt werden und dann über Umwege im Meer landen.
Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, braucht
es funktionierende Abfallwirtschaftssysteme in allen
Ländern; darüber haben wir gesprochen. Der weitaus
kleinere Teil sind kleine Kunststoffpartikel als Bestand-
teil von Produkten, zum Beispiel in Reinigungspasten, in
der Kosmetik und vielen anderen Bereichen, die über
das Abwasser indirekt in das Meer gelangen.

Hier ist das Ministerium aktiv geworden. Das haben
wir auch gefordert. Hier sind Gespräche mit der Kosme-
tikindustrie mit dem Ziel eines Ausstiegs aus der Ver-
wendung im Gange. Ich möchte an dieser Stelle diese
Forderung mit Nachdruck unterstreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Verschmutzung der Meere wird oft vor allem und
zuerst mit Kunststofftüten in Verbindung gebracht. Zwar
ist der Anteil am Kunststoffverbrauch weniger als 1 Pro-
zent, aber – das muss man ehrlich und offen dazu sagen –
das ist zum Teil ein Symbolthema geworden. Allerdings
nicht nur das; denn immerhin wurden 2010 in der Euro-
päischen Union 8 Milliarden Tüten weggeworfen. Wenn
wir die Situation betrachten und uns fragen, wie der Ver-
brauch an Kunststofftüten in der Europäischen Union ist,
dann ergibt sich ein sehr differenziertes Bild. Im Durch-
schnitt verbrauchen die EU-Bürger 198 Tüten pro Kopf
und Jahr, einige Länder liegen deutlich darüber, andere
Länder liegen deutlich darunter, auch Deutschland. Bei
uns sind es 71 Tüten pro Kopf und Jahr. Es kommt bei
uns hinzu, dass wir ein funktionierendes Abfallwirt-
schaftssystem haben, das dazu führt, dass diese Tüten
am Ende ihres Lebenszyklus flächendeckend erfasst und
ordnungsgemäß entsorgt werden, zumindest in der Re-
gel.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Europäische Parlament hat jetzt beschlossen, den
Verbrauch der Tüten in zwei Schritten zu reduzieren.
Wir begrüßen diesen Schritt ausdrücklich. Die Mitglied-
staaten sind jetzt aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen.
Auch Deutschland muss Maßnahmen ergreifen. Es ist
die Frage: Was werden wir tun?

Ich empfehle, dass wir einen Blick auf den Lebens-
mitteleinzelhandel werfen. Dort gilt: Die Tüten werden
nicht kostenlos an die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher abgegeben. Das hat funktioniert, das hat gewirkt,
der Verbrauch der Tüten ging zurück. Wir sind der Auf-
fassung, dass das, was im Lebensmitteleinzelhandel gilt,
im gesamten Handel gelten sollte, nämlich dass die Tü-
ten nicht mehr kostenlos abgegeben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich fordere an dieser Stelle das Ministerium auf, tätig zu
werden und Gespräche mit dem Handel darüber zu füh-
ren.

Wir haben viel vor uns. Es gilt, die Meere zu schüt-
zen. Insbesondere auf internationaler Ebene ist dies eine
riesige Herausforderung. Aber eines ist klar: Die Grünen
und die Linken, deren Anträge uns heute vorliegen, ma-
chen es sich zu einfach und übersehen das viele Positive
in unserem Land.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810403200

Vielen Dank. – Darauf darf jetzt die Kollegin Steffi

Lemke, Bündnis 90/Die Grünen, antworten.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810403300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Frau Merkel hat 2011 vor der CDU/CSU-
Fraktion gesagt, wir sollten die Meere in unsere Herzen
schließen. Nach den Reden der CDU-Kollegen habe ich
kurz überlegt, ob das eine Drohung gewesen ist. Sie ha-
ben zwar erwähnt, dass wir Regelungen haben – es gibt
längst Aktionspläne, wir haben Gesetze und die Meeres-
strategie-Rahmenrichtlinie der EU –; die Bundesregie-
rung wird aber gerade von der EU und von den deut-
schen Umweltverbänden verklagt, weil sie diese
Gesetze, weil sie diese Richtlinie nicht umsetzt. Und
dann stellen Sie sich hierhin und sagen: Wir haben doch
die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie, wir haben Ak-
tionspläne; die Anträge der Opposition sind überflüssig. –
Was Sie hier gemacht haben, ist hanebüchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Natürlich haben wir unsere Anträge aufgesetzt, weil
Frau Merkel angekündigt hat, einen Aktionsplan auf
dem G 7-Gipfel zu thematisieren. Was denken Sie denn?
Es ist die Aufgabe der Opposition, solche Dinge hier ins
Parlament hineinzutragen. Sie können das entweder als
Rückenwind für Ihre richtigen Anliegen interpretieren,
oder Sie können es auch so interpretieren, dass wir Ihnen





Steffi Lemke


(A) (C)



(D)(B)

an den Stellen, wo Sie nicht weit genug gehen und wo
Sie die Probleme ignorieren, einfach ein bisschen mehr
als Rückenwind geben wollen: den Finger auf die
Wunde legen und Ihnen nicht durchgehen lassen, dass
Sie die gravierenden Probleme, die wir beim Meeres-
schutz haben, auf einen Aktionsplan und ein For-
schungsprogramm zum Mülleinsammeln reduzieren
wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein fundamentaler Standpunkt- und Perspektiven-
wechsel ist notwendig. Das hat nicht die Parteizentrale
der Grünen gesagt, sondern das sagt Ihnen Ihr eigener
Beirat, der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregie-
rung Globale Umweltveränderungen in seinem Gutach-
ten zum Meeresschutz. Er fordert ein, das „Menschheits-
erbe Meer“ zu definieren und die Meere als globales
Kollektivgut zu definieren. Die Meere und die Boden-
schätze darin gehören nicht BASF, Wintershall oder ei-
nem anderen Unternehmen, das in die Tiefseeförderung
eintreten will, sondern der Menschheit. Das fordert Ihr
eigener Beirat für Umweltfragen: dass Sie sich darum
kümmern sollen, dass Sie sich um Global Governance
kümmern sollen. Das ist ein Thema, das auf den G 7-
Gipfel gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Kollege hat es gesagt: Wie kriegt Frau Merkel die
USA dazu, UNCLOS beizutreten, damit wir nicht in
Klein-Klein-Maßnahmen rumdoktern müssen, sondern
tatsächlich den entscheidenden Schritt vorankommen,
indem wir das Vorsorgeprinzip verankern, die Stoffein-
träge maximal reduzieren, endlich Schutzzonen einrich-
ten und dort auch Schleppnetze und Grundfischerei ver-
bieten, die Überfischung beenden.

Auf das Problem mit Flüchtlingsströmen, mit Hun-
gerkrisen, mit Kriegen ist hingewiesen worden. Europäi-
sche Fischtrawler haben einen Anteil an diesen Proble-
men – und Sie wollen einen Aktionsplan zum
Mülleinsammeln auf dem G 7-Gipfel thematisieren. Das
ist hanebüchen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie mehr vorhaben als das – ich habe versucht,
auf Webseiten der Bundesregierung herauszufinden, was
mit dem Aktionsplan konkret gemeint ist; es ist ja mög-
lich, dass Sie das erst in zwei Wochen in Elmau tatsäch-
lich verkünden wollen –, wenn Sie es ernst meinen, wer-
den Sie unsere Unterstützung dafür bekommen. Aber
wenn Herr Gabriel in dieser Woche höchstselbst anreist,
um die Lizenzvergabe für die Tiefseeforschung im Indi-
schen Ozean zu unterschreiben, dann kann ich Ihre Be-
kenntnisse zum Meeresschutz nicht wirklich ernst neh-
men. Das müssen Sie doch thematisieren!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Um einmal auf das Müllproblem und die Plaste einzu-
gehen: Im Internetauftritt der Bundesregierung, Frau
Wanka, kann ich lesen – ich darf kurz zitieren, Frau Prä-
sidentin –:
Jeder sollte wissen, dass Mikroplastik in Zahnpasta
und Kosmetika enthalten ist. Nur durch bewusstes
Kaufverhalten können Konsumenten die Industrie
dazu bewegen, auf derartig umweltschädliche Zu-
sätze zu verzichten. Es gilt also, beim Konsum das
Meer mit zu bedenken.

Herzlichen Glückwunsch! Das ist eine Bankrotterklä-
rung der Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie sagen: Die Konsumenten müssen dafür sorgen,
dass das Gift aus den Meeren herauskommt. – Frau
Staatssekretärin, nehmen Sie die Besucher, die hier oben
auf der Tribüne sitzen, gehen Sie in den nächstgelegenen
Drogeriemarkt, und zeigen Sie ihnen, wie man als Kon-
sument feststellen soll, in welcher Zahnpasta und in wel-
chem Duschgel Mikroplaste enthalten ist.


(Dr. Thomas Gebhart [CDU/CSU]: Überhaupt nicht mehr!)


Sie haben nicht einmal eine Kennzeichnungspflicht da-
für eingeführt. Das hat Ihnen der BUND abgenommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810403400

Frau Kollegin Lemke, darf ich auch Sie an die Zeit er-

innern?


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810403500

Ich komme zum Schluss. – Ich begrüße ausdrücklich,

Herr Gebhart, dass Sie den Kollegen Töpfer und den
Rhein angesprochen haben. Ich appelliere an Sie: Neh-
men Sie sich als Bundesregierung ein Beispiel an dem
Kollegen Töpfer! Der trägt Mitverantwortung dafür,
dass bei einem ähnlich gravierenden Problem, dem
Ozonloch, ein FCKW-Verbot durchgesetzt wurde. Das
war entschiedenes und fundamentales Handeln. Davon
ist bei Ihnen nichts zu sehen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/ CSU])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810403600

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt

Frank Schwabe das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1810403700

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

71 Prozent der Weltfläche sind durch Meere bedeckt. Es
ist schon mehrfach gesagt worden: Wir wissen kaum et-
was darüber. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum
wir uns relativ wenig, wenn wir das einmal in Relation
zur Gesamtfläche setzen, mit den Meeren beschäftigen.





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

Deswegen ist es richtig und gut, dass wir uns heute
mit den Meeren beschäftigen. Deswegen ist es gut, dass
die Opposition mit Leidenschaft, die in der Debatte auch
wichtig ist, hier vorträgt. Natürlich muss die Opposition
immer mehr fordern als das, was schon geschieht. Trotz-
dem kann ich, glaube ich, für alle feststellen: Es gibt
wirklich einen Fortschritt. Es ist gut, dass der Meeres-
schutz Thema auf dem G 7-Gipfel in diesem Jahr ist.
Das ist ein Fortschritt. Natürlich muss aus der Beschäfti-
gung mit dem Thema am Ende dann auch konkretes
Handeln erwachsen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Klaus-Peter Schulze [CDU/CSU] – Ulli Nissen [SPD]: Machen wir doch auch!)


Wir wissen also kaum etwas über die Meere; aber wir
nehmen massiv Einfluss auf sie. Frau Lemke hat dan-
kenswerterweise schon auf den Wissenschaftlichen Bei-
rat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen
hingewiesen. Er hat gerade ein Gutachten herausgege-
ben, das sehr lesenswert ist und dazu anregt, sich mit
dem Thema weiter zu beschäftigen, konkret: mit den
Auswirkungen des Klimawandels, mit der Landwirt-
schaft, mit den Abwässern, die eingeleitet werden, mit
der Überfischung.

Toni Hofreiter hat am Anfang das Richtige gesagt: Es
ist natürlich vollkommen absurd, dass wir Fischtrawler,
Schiffe aus der Europäischen Union vor die afrikani-
schen Küsten bringen, dass wir das massiv finanziell un-
terstützen, dass wir den Menschen die Fischgründe leer-
fischen. Am Ende kommen die Menschen von dort als
Flüchtlinge nach Europa. Das muss dringend aufhören.
Das ist eine falsche europäische Politik.

Über das Thema Plastikeinträge wird der Kollege
Michael Thews gleich noch etwas sagen.

Es ist hochgradig spannend – damit haben wir uns
viel zu wenig beschäftigt –, dass es mittlerweile ganz
viel Fantasie beim Abbau und bei der Gewinnung von
Rohstoffen in den Meeren, insbesondere in der Tiefsee,
gibt; darauf hat der Kollege Zdebel hingewiesen. Ich
habe darüber in der Süddeutschen Zeitung gelesen. Wer
sich den Artikel noch besorgen kann, sollte das tun. Es
ist hochgradig interessant, einmal zu sehen, welche Pla-
nungen es da gibt. Alles das, was dort diskutiert wird,
hört sich ein bisschen an wie Science-Fiction, ist es aber
nicht. Das wird garantiert kommen. Es gibt heute jeden-
falls keine vernünftigen Regeln, die dazu führen, dass
das Ganze umwelt- und entwicklungspolitisch nachhal-
tig geschehen kann. Diese Regeln braucht es ganz drin-
gend.


(Beifall des Abg. Marco Bülow [SPD])


Deswegen ist es gut – ich sage es noch einmal –, dass
das Thema beim G 7-Gipfel ansteht. Zumindest ein Ver-
haltenskodex und internationale Standards für den Roh-
stoffabbau in den Meeren sind vorgesehen.

Wir müssen überall handeln; aber wir können vor al-
len Dingen da relativ einfach handeln, wo es noch keine
wirtschaftlichen Tätigkeiten gibt, wo Unternehmen noch
nicht unterwegs sind, und das ist beim Rohstoffabbau in
der Tiefsee der Fall. Aber auch um die Frage des Schut-
zes der Arktis geht es. Greenpeace hat da vollkommen
recht und hat wichtige Denkanstöße gegeben. Wir kön-
nen von der Antarktis lernen. Wir brauchen Schutzge-
biete in der Arktis. Es ist gut, dass das im Koalitionsver-
trag steht. Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin das in
einer Rede im letzten Jahr noch einmal untermauert hat.

Es wäre aber auch gut, wenn wir auch da konsequen-
ter handelten, wo es schon wirtschaftliche Tätigkeiten
gibt und wo wir die negativen Folgen sehen. Vor ein paar
Tagen war der fünfte Jahrestag der „Deepwater Hori-
zon“-Katastrophe. Ich weiß nicht, ob man das noch so
richtig präsent hat. Ich muss auch nachdenken: Was war
damals? Da war Herr Röttgen Umweltminister, und wir
haben uns überschlagen mit Forderungen nach Förder-
stopps und was weiß ich. So ganz viel ist, ehrlich gesagt,
nicht passiert. Mittlerweile gibt es im Golf von Mexiko
mehr Ölplattformen als damals, und ich fürchte, dass das
alles nicht viel sicherer geworden ist. Auch da müssen
wir viel konsequenter werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das gilt aber auch für den europäischen und – das will
ich ausdrücklich sagen – den deutschen Zusammenhang.
Der Zustand der Nord- und Ostsee ist erbarmungswürdi-
ger, als man das auf den ersten Blick sehen kann. Des-
wegen ist es richtig, dass es die EU-Meeresstrategie-
Rahmenrichtlinie – ein schwieriges Wort – gibt; sie ist
schon angesprochen worden. Wir brauchen einen guten
Umweltzustand – so steht es da – bis zum Jahr 2020.
Deswegen brauchen wir noch in diesem Jahr ein nationa-
les Maßnahmenprogramm.

Die Öffentlichkeitsbeteiligung dazu hat begonnen.
Das Umweltministerium ist federführend. Allerdings ge-
hen wir davon aus – das will ich vielleicht für das ganze
Haus sagen –, dass sich alle Ministerien, dass sich das
gesamte Bundeskabinett konstruktiv an der Erarbeitung
der Vorschläge beteiligt.

Das gilt im Übrigen auch für die Frage der Fischerei-
beschränkung in den Natura-2000-Gebieten. Es ist gut,
dass die Bundesrepublik Deutschland relativ schnell sol-
che Gebiete ausgewiesen hat. Es ist aber nicht gut, dass
wir weiterhin nicht sagen, wie dieser Schutz ganz kon-
kret aussehen soll. Auch da haben das Umweltministe-
rium und das zuständige Bundesamt für Naturschutz die
volle Unterstützung, jedenfalls von uns und am Ende des
Prozesses – davon gehen wir aus – von der gesamten
Bundesregierung.

Insofern sage ich noch einmal: Es ist gut, dass
Schwung in die Debatte über den Meeresschutz gekom-
men ist. Es muss aber auch zu konkreten Taten kommen.
Die heutige Debatte ist dabei zumindest ein kleiner Bau-
stein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Klaus-Peter Schulze [CDU/CSU])







(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810403800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Klaus-Peter

Schulze, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU):
Rede ID: ID1810403900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Weltmeere verfügen über eine große Ar-
tenvielfalt, die auch heute noch weitgehend unbekannt
ist. Wenngleich drei Viertel der Erdoberfläche von Ozea-
nen bedeckt sind, sind sechsmal mehr Landlebewesen
als Meeresorganismen bekannt. Die biologische Vielfalt
im Meer hat seit Beginn der Industrialisierung stark ab-
genommen, und dieser Prozess schreitet weiter voran.
Durch das Verschwinden von Arten verringert sich die
stabilisierende Wirkung ehemals vielfältiger Lebensge-
meinschaften. Dadurch werden ganze Lebensräume ge-
fährdet.

Dies wissend, hat der Meeresumweltschutz eine
große Bedeutung in der deutschen Politik. Das beweist
ganz aktuell der Umstand, dass dieses Thema ein
Schwerpunkt der G 7-Präsidentschaft ist. Aber auch ge-
nerell ist Deutschland in Europa bei der Ausweisung von
Schutzgebieten bereits heute führend.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


So stehen 70 Prozent der Küstengewässer und rund
31,5 Prozent der Ausschließlichen Wirtschaftszone unter
Schutz. Damit sind 47 Prozent der deutschen Meeresflä-
che als Schutzgebiete ausgewiesen und bieten somit eine
wichtige Grundlage für weitere Bemühungen. In der
AWZ befinden sich zehn ausgewiesene Natura-2000-
Gebiete, für die allerdings aus verschiedenen Gründen
bis heute keine Schutzmaßnahmen eingeführt wurden.

Insbesondere um Fischerei mit Grundschlepp- und
Stellnetzen in diesen Bereichen zu unterbinden, ist seit
Anfang dieses Jahres eine Verbändeklage gegen
Deutschland anhängig. Ich habe vernommen, Frau
Staatssekretärin, dass es jetzt bei diesem Thema eine Ei-
nigung innerhalb der Bundesregierung gibt. Ich wünsche
mir, dass man künftig zwischen den Ministerien zu
Stuhle kommt, ehe es zu einer Klage kommt und man
sozusagen gezwungen wird, schneller zu handeln.

Im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD haben
wir uns darauf verständigt, ein Fischereimanagement zu
verankern, um die Schutzziele zu erreichen. Die Schutz-
ziele sind allerdings mit den betroffenen Mitgliedstaaten
abzustimmen, bevor sie von der EU-Kommission erlas-
sen werden können. Auch wenn hier dringend nachge-
bessert werden muss und auch wird, muss sich Deutsch-
land mit seiner nationalen Strategie, die auf einem
Ökosystemansatz aufbaut, nicht verstecken. Wir wollen
Natur- und Umweltschutz und maritime Wirtschaft in
ein Gleichgewicht bringen. Voraussetzung ist eine er-
folgreiche Integration verschiedener Parameter, um zu
einer einheitlichen Vorgehensweise zu kommen.

Die vorliegenden Anträge, die wir heute beraten, grei-
fen leider einem für den 20. Mai 2015 geplanten öffentli-
chen Fachgespräch des Umweltausschusses zum Thema
EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie vor, dessen Er-
gebnisse ich gerne abgewartet hätte. Man hätte auch je-
nen Tagesordnungspunkt, den wir für die Sitzung am
20. Mai vorgesehen hatten, schon in eine frühere Sitzung
des Umweltausschusses einbauen können.

Die Richtlinie wurde 2008 verabschiedet, und sie ver-
pflichtet die Mitgliedstaaten, bis zum Jahr 2020 einen
guten Umweltzustand der europäischen Meere zu errei-
chen bzw. zu erhalten. Das erfordert insbesondere den
Erhalt der biologischen Vielfalt, die Reduzierung der
Überdüngung und der Abfallmengen im Meer. Eine
Erstbewertung der aktuellen Zustände in Nord- und Ost-
see brachte im Jahr 2012 alarmierende Ergebnisse:
Unseren Meeren geht es schlecht; vor allem Fischerei,
Schad- und Nährstoffeinträge, Unterwasserlärm und
massive Eingriffe durch den Bau von Offshorewind-
kraftanlagen gefährden das sensible Ökosystem.

Um die 2020-Ziele der EU-Meeresstrategie-Rahmen-
richtlinie zu erreichen, sollen in diesem Jahr die nationalen
Maßnahmenprogramme auf den Weg gebracht werden, zu
denen derzeit eine schriftliche Anhörung stattfindet. Kol-
lege Schwabe hat es bereits gesagt: Wir werden die Be-
hörden unterstützen, damit dieser Prozess zeitnah abge-
schlossen werden kann.

Zum Thema „Erhalt der biologischen Vielfalt in den
Meeren“ möchte ich noch auf die internationalen Bemü-
hungen Deutschlands verweisen, das jedes Jahr 500 Mil-
lionen Euro für weltweite Biodiversitätsprogramme be-
reitstellt. Ganz besonders hat es mich gefreut, dass bei
der letzten CBD-Vertragsstaatenkonferenz in Korea über
150 ökologisch und biologisch bedeutsame Meeresge-
biete anerkannt wurden.

Abschließend komme ich auf den Meeresschutz im
Zusammenhang mit der Energiepolitik zu sprechen. Der
Ausbau von Offshorewindparks soll einen wesentlichen
Beitrag zur Energiewende leisten. Diese gewaltigen An-
lagen bedeuten jedoch auch massive Eingriffe in das
Ökosystem Meer, deren Folgen, zum Beispiel für die
Schweinswale durch den Schalldruck beim Einrammen
der Gründungspfähle in den Meeresboden, bei weitem
noch nicht ausreichend erforscht wurden.

Wenn hier heute ein Moratorium für den Tiefseeberg-
bau aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – nämlich
bisher unzureichend erforschte Folgewirkungen solcher
Maßnahmen – gefordert wird, dann müsste man konse-
quenterweise auch ein Moratorium für den Bau von Off-
shorewindkraftanlagen einfordern. In jedem Fall müssen
wir hier die Forschungsanstrengungen verstärken, um
unangenehme Überraschungen, wie wir sie durch die
Vermaisung der Landschaft im Zuge des massiven Zu-
baus von Biogasanlagen erlebt haben, zu vermeiden.
Denn bereits heute sind in den deutschen Meeresberei-
chen sechs Offshorewindparks mit 225 Turbinen in Be-
trieb; weitere acht Projekte mit 600 Anlagen befinden
sich im Bau. Darüber hinaus wurden bereits 25 Wind-
parks genehmigt, und zurzeit sind noch weitere 90 bean-
tragt.





Dr. Klaus-Peter Schulze


(A) (C)



(D)(B)

In keinem Fall darf sich so etwas wie das Projekt
„Butendiek“ in der Nähe von Sylt wiederholen, wo die
Genehmigung für den Bau eines großen Windparks in-
mitten eines Vogelschutzgebietes erteilt wurde, wodurch
nicht nur der Lebensraum für Seetaucher, sondern auch
für andere Meeressäuger beeinträchtigt wird. Aber viel-
leicht können wir die Offshorewindparks auch im Sinne
des Meeresschutzes nutzen. Als ich vor kurzem das Bun-
desamt für Naturschutz am Standort Vilm besucht habe,
war dieses Thema im Zusammenhang mit Offshore-
anlagen, die immerhin jeweils etwa 80 Quadratkilometer
Meeresfläche umfassen können, angesprochen worden.

Aufgrund des Befahrungsverbots in den Windparkge-
bieten in Ost- und Nordsee ist dort keine weitere Nut-
zung erlaubt. Daher kam von den Fachleuten der Vor-
schlag, diese Gebiete als – das betone ich, Frau Lemke –
zusätzliches Potenzial für die Stabilisierung von Flora
und Fauna im Benthos, also im Meeresboden, zu nutzen.
Es wären keine Konflikte zu erwarten, wenn keine
Mehrfachnutzungen zugelassen werden würden.

Für den Bau der Offshorewindkraftanlagen müssen
im Übrigen für eine Übergangszeit bis 2017 keine Aus-
gleichs- und Ersatzmaßnahmen erbracht werden. Aller-
dings gilt diese Regelung für die Unternehmen, die die
Anschlusskabel verlegen, nicht. Deren Ausgleichs- und
Ersatzmaßnahmen sollten vorrangig im marinen Bereich
erbracht werden. Wir sollten die konkreten Expertenvor-
schläge und auch andere Vorschläge aufgreifen und im
weiteren parlamentarischen Verfahren ausführlich bera-
ten.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810404000

Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist der Kollege Michael Thews, SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Thews (SPD):
Rede ID: ID1810404100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum ersten Mal
werden Fragen des Meeresumweltschutzes von den gro-
ßen Wirtschaftsnationen auf dem G7-Gipfel behandelt.
Die G7-Nationen wollen einen Aktionsplan gegen Mee-
resmüll beschließen, der weltweit Maßnahmen zur Re-
duzierung von Meeresmüll initiiert und dabei bereits
vorhandene regionale Aktionspläne einbezieht – ein
Schritt, der in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen
ist, ein Schritt, der angesichts der Bedeutung der Meere
für unsere Ernährung, für unsere Umwelt notwendig ist.


(Beifall bei der SPD)


Es gibt selbstverständlich – das wurde heute schon
angesprochen – auch andere Aspekte des Meeresum-
weltschutzes. Die vorliegenden Anträge listen sie auf.
Aber es liegt auf der Hand, so meine ich jedenfalls, dass
der Kampf gegen die Meeresvermüllung ein äußerst
wichtiger Aspekt ist. Es gibt unterschiedliche Schätzun-
gen zu den Abfallmengen in den Meeren. Sie reichen
von 100 Millionen bis zu 270 Millionen Tonnen. Davon
bestehen etwa drei Viertel aus Kunststoffen, und gerade
bei den Kunststoffen ist die Entwicklung besonders dra-
matisch.

Auf der UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung
im Jahr 2012 wurde bestätigt, dass Kunststoffe weltweit
die Hauptquelle für die Meeresverschmutzung sind.
Nach Aussage des Umweltschutzprogramms der Verein-
ten Nationen aus dem Jahr 2005 kommen auf einen Qua-
dratkilometer Meeresoberfläche über 13 000 Plastikteile,
und diese Zahl steigt stetig. Kunststoff braucht nach Ex-
pertenschätzung circa 500 Jahre, um sich im Meerwasser
endgültig abzubauen. Bevor sich der Plastikmüll abbaut,
wird er durch UV-Strahlung und Wellenbewegung in
Mikropartikel zersetzt, teilweise von Fischen mit Nah-
rung verwechselt und landet so auf unserem Teller.

Der nicht abgebaute Plastikmüll findet sich in allen
Weltmeeren. Besonders viel Müll sammelt sich in den
Strömungswirbeln der Ozeane. Im Pazifik befindet sich
ein Meereswirbel, der circa 3 Millionen Tonnen Plastik-
müll auf einer Wasseroberfläche von der Größe Mittel-
europas enthält. Bis zu 13 Millionen Tonnen Kunststoff-
abfall landen nach Schätzungen der Wissenschaftler
jährlich im Meer. Dieser Müll kommt durch illegale
Müllentsorgung an den Küsten und den Ufern von Flüs-
sen, durch die Berufsschifffahrt und den Tourismus ins
Meer, oder er wird durch den Wind von Deponien ver-
weht. Er macht jedenfalls nicht an unseren Grenzen halt.
Deshalb müssen wir auf internationaler Ebene dringend
etwas unternehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Vermüllung ist ein ernstzunehmendes globales
Problem, dessen Folgen für die Umwelt wir heute nicht
vollständig abschätzen können. Deshalb ist die Initiative
der Bundesregierung sehr zu begrüßen, aber auch drin-
gend notwendig.


(Beifall bei der SPD)


Müllvermeidung, Müllrecycling, die fachgerechte Ver-
wertung oder Entsorgung von Müll, das sind die Ziele,
die wir in Deutschland haben. Aber diese Ziele müssen
wir eben auch international verfolgen, um der Meeres-
vermüllung vorzubeugen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland – das hat der Kollege Gebhart vorhin
schon gesagt – ist zwar Vorreiter bei der Verwertung und
beim Recycling – der in Deutschland anfallende Kunst-
stoffmüll wird nahezu vollständig entweder stofflich
oder energetisch verwertet –; trotzdem lässt sich auch
bei uns nicht nur hinsichtlich der Recyclingquoten, son-
dern auch bei der Abfallvermeidung natürlich noch eini-
ges verbessern. Angesprochen wurde insbesondere die
Produktverantwortung. Aber auch die Produktverant-
wortung muss sich weiterentwickeln, um wirklich ein
wirkungsvolles Regelungselement zu sein, das Recy-





Michael Thews


(A) (C)



(D)(B)

cling oder eben auch Vermeidung fördert. Das haben
wir, meine ich jedenfalls, noch nicht erreicht.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen deshalb dringend Regelungen für eine re-
cyclingfreundlichere und ressourcenschonendere Her-
stellung von Produkten treffen und hier die Hersteller
mit in die Verantwortung nehmen. Ich hoffe sehr, dass
das neue Kreislaufwirtschaftspaket, das die EU-Kom-
mission im Laufe des Jahres vorlegen will, mindestens
so ambitioniert sein wird wie das Paket der vorherigen
EU-Kommission. Gerade auf europäischer Ebene müs-
sen wir deutlich vorankommen.

Die Industrienationen haben insgesamt eine beson-
dere Verantwortung beim Kampf gegen die Vermüllung
der Weltmeere. In den Entwicklungsländern fehlen oft-
mals nach wie vor die Infrastruktur, die Rahmenbedin-
gungen und die finanziellen Mittel für die Abfallvermei-
dung oder für das Recycling von Plastikmüll. Es fehlt oft
genug an einer geordneten Sammlung und Entsorgung
des Mülls. Das jährliche Aufkommen an Siedlungsabfäl-
len beträgt circa 1,8 Milliarden Tonnen. Es ist besonders
bedenklich, dass davon nur circa zwei Drittel regelmäßig
eingesammelt werden.

Wir müssen den Schutz der Meere international vo-
rantreiben. Die Bundesregierung geht deshalb den richti-
gen Weg, wenn sie ihn zu einem Schwerpunkt auf dem
G 7-Gipfel macht.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810404200

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4814 und 18/4809 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Starke Städte und Quartiere – Die Erfolgsge-
schichte der Städtebauförderung fortschrei-
ben

Drucksache 18/4806

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregie-
rung erhält die Parlamentarische Staatssekretärin Rita
Schwarzelühr-Sutter das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ri
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
Rede ID: ID1810404300


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Morgen fin-
det der erste Tag der Städtebauförderung statt. Jeder von
uns hat die Erfolge und Leistungen der Städtebauförde-
rung schon gesehen, bewusst oder unbewusst. Über
7 700 Fördermaßnahmen in 3 200 Städten und Gemein-
den konnten bisher umgesetzt werden; das spricht für
sich. Bund und Länder haben die Kommunen im Rah-
men der Städtebauförderung seit 1971 – die Kommunen
in den neuen Ländern seit 1990 – bei ihrer städtebauli-
chen Entwicklung mit rund 16 Milliarden Euro unter-
stützt.

Mit den fünf Programmen der Städtebauförderung
sorgen wir dafür, dass historische Stadtkerne in altem
Glanz erstrahlen und kulturhistorisch wertvolle Stadt-
kerne erhalten werden, dass für eine soziale Stadt die
soziale Infrastruktur vor Ort, zum Beispiel Nachbar-
schaftszentren, Stadtteilschulen und Mehrgenerationen-
häuser, ausgebaut und sozialen Polarisierungen entge-
gengewirkt wird –


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulli Nissen [SPD]: Tolle Projekte!)


– danke – und dass Kommunen ihre Innenstädte und
Stadtzentren aufwerten und stabilisieren können. Das ist
ganz wichtig, insbesondere in Regionen, die gegen den
demografischen Wandel kämpfen. Kleineren Städten
und Gemeinden tut dies besonders gut. Dass die Kom-
munen auch die vielfältigen Herausforderungen des
Strukturwandels annehmen und angehen können, ist mit
diesen Programmen ebenfalls erreichbar.

In dieser Legislaturperiode investieren wir so viel wie
noch nie. Wir haben die Bundesmittel in den Jahren
2014 und 2015 deutlich aufgestockt. Wir investieren
jährlich 700 Millionen Euro; zuvor waren es 455 Millio-
nen Euro. In den kommenden Jahren werden wir die
Mittel auf diesem hohen Niveau fortschreiben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ulli Nissen [SPD]: Super!)


Ganz besonders wichtig ist: Von diesen 700 Millionen
Euro fließen 150 Millionen Euro in das Programm „So-
ziale Stadt“, mit dem wir insbesondere benachteiligten
Quartieren helfen. Hier haben wir die Mittel fast vervier-
facht; ich finde, das ist wirklich ein Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Städte können das Geld tatsächlich gebrauchen.
Das ist eine Aufgabe, die wir wirklich ernst nehmen.
Hier investieren wir das Geld sinnvoll.

Auch die Mittel für alle anderen Programme, zum
Beispiel für Programme für den Stadtumbau, wurden er-
höht. Die 700 Millionen Euro, die wir investieren, um-
fassen auch ein neues Bundesprogramm zur Förderung
von Investitionen in nationale Projekte des Städtebaus
mit einem Volumen von 50 Millionen Euro. Damit ist es





Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter


(A) (C)



(D)(B)

möglich, auch historisch bedeutsame Ensembles, bauli-
che Kulturgüter, die energetische Erneuerung und mehr
Grün in der Stadt zu fördern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In den kommenden Jahren werden wir im Rahmen
dieses Programms weitere Schwerpunkte setzen, zum
Beispiel bei der Konversion ehemals militärisch genutz-
ter Liegenschaften. Dass die Städtebauförderung eine
große Bedeutung für unser Land hat, zeigt die Hebelwir-
kung von eins zu sieben. Das heißt, wir lösen Investitio-
nen in Höhe von 10 Milliarden Euro aus, durch die dann
tatsächlich die Wirtschaft vor Ort gefördert wird, insbe-
sondere das Handwerk. Das ist besonders für die Regio-
nen, die gegen den demografischen Wandel kämpfen,
ein wertvoller Beitrag und von großer Bedeutung, weil
somit Wertschöpfung generiert wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, die Zahlen sprechen für sich. Es ist beein-
druckend, was die Städtebauförderung bisher bewirkt
hat. Nun gilt es, den aktuellen Herausforderungen mit ei-
ner starken Städtebauförderung entgegenzutreten und sie
zu bewältigen. Das heißt, es ist nichts so gut, als dass es
nicht auch verbessert werden könnte. Was können wir
noch verbessern? Wir wollen zum Beispiel unser erfolg-
reiches Programm „Soziale Stadt“ stärken. Wir sind da-
von überzeugt, dass wir gerade in benachteiligten Quar-
tieren das Ineinandergreifen aller Akteure und Initiativen
noch verbessern können. Dazu wollen wir eine ressort-
übergreifende Strategie „Soziale Stadt“ vorlegen, mit der
fachliche und finanzielle Ressourcen in den Stadtteilen
gebündelt werden und insbesondere Integrationsleistun-
gen verbessert werden.


(Beifall bei der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Ganz, ganz wichtig!)


Ich denke ganz besonders an solche Bereiche wie Ge-
sundheit und Prävention, aber auch Familie, Arbeit und
Bildung.

Wir wollen zudem daran arbeiten, die Stadtumbaupro-
gramme zusammenzuführen und zu einem Instrument der
Gestaltung des demografischen und wirtschaftsstrukturel-
len Wandels in allen Regionen weiterzuentwickeln.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir wollen – um ein letztes Beispiel zu nennen – den
Quartiersansatz auch durch enge Abstimmung mit ande-
ren Förderprogrammen, wie den KfW-Programmen zum
energetischen Bauen und Sanieren, zur energetischen
Stadterneuerung und zum altersgerechten Wohnen, wei-
ter stärken. Damit können gleichzeitig Bündelungs-
effekte erreicht werden.

Wir wollen die Städtebauförderung aber nicht nur in
gemeinsamer Verantwortung von Bund und Ländern
fortführen, sondern vor allem die Bürgerinnen und Bür-
ger einbeziehen und auch sie als Akteure stärken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das beste Beispiel ist der morgen stattfindende erste
Tag der Städtebauförderung. Er ist ein wirklich überwäl-
tigendes Signal: Es beteiligen sich mehr als 540 Kom-
munen und Städte. Das sind nicht nur große Städte, nicht
nur Metropolen, sondern auch Städte auf dem Land. Das
zeigt: Städtebauförderung kommt an. Sie ist wirklich ein
guter Impuls und eine gute Investition. Die Bürgerinnen
und Bürger vor Ort wollen auch mitmachen, weil sie zu
einer guten Lebensqualität in ihrer Kommune beitragen
wollen. Das bewirkt auch ein gutes Leben für alle.

Ich danke Ihnen herzlich.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810404400

Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht

jetzt Heidrun Bluhm.


(Beifall bei der LINKEN – Sören Bartol [SPD]: Jetzt lob‘ uns aber mal!)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810404500

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Frau Schwarzelühr-Sutter hat es bereits gesagt:
Morgen begehen wir den ersten Tag der Städtebauförde-
rung. Die heutige Debatte hier soll wahrscheinlich schon
die Feierstunde sein.


(Ulli Nissen [SPD]: Zu Recht!)


Mir geht es mit diesem Antrag so ähnlich wie mit dem
Entschließungsantrag zur Baukultur in der Ausschusssit-
zung am vergangenen Mittwoch: Wir haben das Gefühl,
dass wir an dieser Stelle nur beglückwünschen und die
Regierung loben sollen.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Mit Grund! – Beifall bei der CDU/ CSU – Sören Bartol [SPD]: Ab und zu ist das auch gut! Manchmal macht es auch Spaß!)


Beide Anträge enthalten Feststellungen und Forde-
rungen, die wir auch unterschreiben. Insofern komme
ich auch zu dem Punkt, Herr Bartol: Es war nie strittig,
und in großen Teilen sind die Forderungen, die in diesem
Antrag stehen, in Anträgen von uns enthalten, die wir
seit zehn Jahren in dieses Parlament eingebracht haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir feiern heute, dass endlich auch Sie unsere An-
träge in Politik gießen


(Lachen bei der SPD)


und unseren Vorschlägen der vergangenen Jahre endlich
Folge leisten wollen. Deshalb stimmen wir diesem An-
trag, der heute hier zur Sofortabstimmung vorliegt, aus
vollem Herzen zu.


(Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Es ist ja quasi unser! – Ulli Nissen [SPD]: Juchhu! – Zuruf von der CDU/ CSU: Da müssen wir fast überlegen, ob wir was falsch gemacht haben!)






Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einleitende
Feststellung, dass am 9. Mai zum ersten Mal in ganz
Deutschland der Tag der Städtebauförderung stattfindet,
kann die Linke uneingeschränkt unterstützen. Die zweite
Feststellung aber, dass die Städtebauförderung seit ihrer
Einführung 1971 eine Erfolgsgeschichte sei, würde ich
gern relativieren.


(Beifall des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sicher, ohne die Städtebauförderung hätte es die
7 700 Maßnahmen in 3 200 Kommunen nicht gegeben.
Sie haben Kommunen fraglos geholfen, städtebauliche
Missstände zu verringern oder auch die städtische Infra-
struktur den zukünftigen Aufgaben anzupassen. Aber
kann das der Maßstab dafür sein, die Städtebauförderung
als eine einzige Erfolgsgeschichte zu feiern? Ich habe
einmal bei Wikipedia nachgesehen, was dort unter „Er-
folg“ steht: das Erreichen selbst gesetzter Ziele.

Wenn man sich die Messlatte für die Ziele so niedrig
wie möglich legt, kann man den Erfolg täglich feiern.
Wir müssen die Messlatte, glaube ich, an dieser Stelle et-
was höher legen, aber wir sind auf dem richtigen Weg.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Antrag verweist zum Beispiel auch darauf, dass
es mit dem Instrument der Städtebauförderung gelungen
sei, der Segregation in den Städten und ihren Stadtteilen
entgegenzuwirken. Es mag sein, dass die Regierung Bei-
spiele dafür kennt, dass die Städtebauförderung die
Segregation vielleicht verzögert oder auch abgemildert
hat. Verhindert hat sie sie bisher jedenfalls nicht. Gentri-
fizierung und Segregation haben in deutschen Städten
längst stattgefunden, und sie finden auch heute noch
statt, entsprechend dem Spruch: Sag‘ mir, wo du wohnst,
und ich sag‘ dir, wer du bist.

Leider sind die privaten Immobilienverwertungsinte-
ressen großer Investoren viel wirkmächtiger als die Mit-
tel und Möglichkeiten der gutgemeinten Städtebauförde-
rung. Wenn man sich das Bild der deutschen Städte
heute anschaut, dann sieht man doch – das kann man
schon in der unmittelbaren Nachbarschaft finden –, dass
trotz ihrer Erfolge nicht die Städtebauförderung, sondern
die renditeorientierte Standortvermarktung das Stadtbild
„aufwertet“ und damit prägt. Reich baut für Reich –
auch in Berlin-Mitte.

Die Bundesregierung mischt hier mit, statt ihr eigenes
Immobilienpotenzial im Sinne dieses Antrages für die
Entwicklung und den Erhalt starker Städte und der Quar-
tiere einzusetzen – Stichwort „BImA“.

Werte Kollegen, der Antrag stellt weiter fest:

Nachhaltige Stadtentwicklung ist daher für das Ge-
lingen der Energiewende genauso entscheidend wie
für die Reduzierung der Flächen- und der Ressour-
ceninanspruchnahme.

Das ist richtig, klar. Um aber noch einmal auf die Er-
folgsdefinition zurückzukommen: Wo stehen wir denn
da, gemessen an den selbst gesetzten Zielen? Welchen
Beitrag hat die Städtebauförderung dazu geleistet, und
was müssten wir dafür vielleicht auch noch leisten?

Mit dem jetzigen Tempo zum Beispiel auch der kli-
matischen Gebäudemodernisierung werden wir die
selbst gesteckten Klimaschutzziele jedenfalls nicht errei-
chen. Auch das haben mittlerweile Vertreterinnen und
Vertreter der Koalition selbst zugegeben.

Bei der Reduzierung des Flächen- und Ressourcen-
verbrauchs kann man zurzeit auch nicht gerade von ei-
nem großen Erfolg reden. Mit den 74 Hektar pro Tag
sind wir von unserem Ziel, 30 Hektar pro Tag, weit, weit
entfernt. Offenbar will die Bundesregierung heute den-
noch die Feststellung der Erfolgsgeschichte Städtebau
beschließen lassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Antrag ha-
ben Sie zwischen dem Feststellungs- und dem Forde-
rungsteil einen neuen Teil eingefügt, den sogenannten
Begrüßungsteil. Über dem könnte eigentlich auch ste-
hen: Der Deutsche Bundestag soll beschließen: Wir fin-
den die Regierung toll.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Artur Auernhammer [CDU/ CSU]: Guter Vorschlag! – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Es reicht, wenn das bei Ihnen schon der Fall ist! – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Warum, bitte schön, soll ich Dinge begrüßen, die
doch längst Beschlusslage sind und, statt begrüßt zu
werden, einfach nur abgearbeitet werden müssen? Frau
Schwarzelühr-Sutter hat das hier eben auch noch einmal
deutlich gesagt: Wir müssen an dieser Stelle anfangen,
zu arbeiten. – Und Sie aus der Koalition müssen endlich
aus dem Ankündigungsmodus heraus.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns mor-
gen eine Feierstunde zum Tag des Städtebaus machen,
alle lokalen Akteure dazu einladen und schöne Reden
halten. Ich wäre dabei.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810404600

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Kai Wegner,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Kai Wegner (CDU):
Rede ID: ID1810404700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Bluhm, in der Tat: Tue Gutes und rede darüber. – Das,
was wir in den letzten Jahren in der Städtebauförderung
geleistet haben – gerade auch diese Koalition in ihrer
Amtszeit –, lässt sich allemal sehen und ist unverzicht-
bar für die Quartiere, für die Stadtentwicklung und für
den ländlichen Raum. Deshalb ist es gut, dass wir heute





Kai Wegner


(A) (C)



(D)(B)

über die Städtebauförderung und die Initiativen dieser
Regierung sprechen, Frau Bluhm.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulli Nissen [SPD]: Gut, dass Sie das so sagen, Herr Wegner!)


Städtebauförderung gibt es seit 1971. Zahlreiche Pro-
jekte – die Staatssekretärin hat es schon erwähnt – und
Maßnahmen wurden gefördert. Wir haben Stadt- und
Ortskerne saniert, wir haben historische Stadtbilder er-
halten, öffentliche Räume aufgewertet und vieles mehr.
Wir tun dies nicht, weil wir wollen, dass sich die Regie-
rung feiern kann, obwohl wir in der Tat finden, dass
diese Regierung eine gute Arbeit leistet, sondern wir tun
das für die Menschen in den Quartieren. Wir wollen,
dass sich die Menschen in ihrem Wohnbereich und in ih-
ren Wohnquartieren wohlfühlen und dass sie in ihrer
Heimat eine optimale Lebensqualität vorfinden. Hier
leistet die Städtebauförderung einen unverzichtbaren
Dienst.


(Beifall des Abg. Artur Auernhammer [CDU/ CSU])


Die Städtebauförderung hat sich in fast viereinhalb
Jahrzehnten außerordentlich bewährt. Die Programme
der Städtebauförderung sind tragende Säulen der Nach-
haltigkeit und der Zukunftsfähigkeit in unseren Städten
und Gemeinden. Sie steigern die Lebensqualität der
Menschen.

Wenn man sich konkrete Maßnahmen anschaut, ge-
rade hier in Berlin, zum Beispiel in meinem Wahlkreis
das Falkenhagener Feld, wo ein Gebiet stabilisiert wurde
und die Lebensbedingungen für die Menschen besser
werden, aber auch – die Staatssekretärin sprach das neue
Programm „Nationale Projekte des Städtebaus“ an – in-
novative Projekte wie zum Beispiel das Flussbad Berlin
an der Museumsinsel, dann sieht man, dass die Städte-
bauförderung über die Stabilisierung von Quartieren hi-
naus eine noch größere Bedeutung bekommt. Ihr innova-
tiver Ansatz einer neuen Stadtentwicklung dient der
Nachhaltigkeit, und auch deshalb ist die Städtebauförde-
rung so unverzichtbar.

Zur Hebelwirkung hat die Staatssekretärin viel ge-
sagt. Ich will gar nichts zur Erhöhung der Mittel sagen.
Aber die Städtebauförderung dient auch als Wirtschafts-
förderinstrument für die regionale Wirtschaft, für das
Handwerk. Sie schafft Arbeitsplätze in der Region, und
das ist letztlich auch gut für die Menschen.

Durch die Städtebauförderung ist sichergestellt, dass
der ökonomische, ökologische und demografische Wan-
del in den Städten unterstützt wird. Besonders möchte
ich hervorheben, dass die Bundesregierung auch ressort-
übergreifend für unsere Städte und Gemeinden aktiv ist.
So widmet das Forschungsministerium, wofür ich sehr
dankbar bin, das Wissenschaftsjahr 2015 der Stadt der
Zukunft. Hiervon werden wichtige Impulse für die inte-
grative Stadtentwicklung ausgehen; davon bin ich fel-
senfest überzeugt.

Mit dem heutigen Antrag geht es der Koalition in der
Tat darum, die Erfolgsgeschichte der Städtebauförde-
rung fortzuschreiben. Wenn wir etwa auf die Bevölke-
rungsentwicklung schauen, sehen wir, vor welch großen
Herausforderungen wir stehen. In ländlichen Regionen
droht oftmals ein Bevölkerungsschwund. Die großen
Städte hingegen werden in den kommenden Jahren einen
starken Zuzug von Menschen erfahren.

Deshalb werden unter anderem die sogenannten
Großwohnsiedlungen weiter an Bedeutung gewinnen.
Ich bin mir sicher: Gerade diese Großwohnsiedlungen
sind schlafende Riesen mit einem enormen Potenzial für
nachhaltige Stadtentwicklung und lebendige Quartiere.
Diese Potenziale gilt es freizusetzen.

Wir müssen aber auch darauf reagieren, dass es Quar-
tiere gibt, die sich in einer Abwärtsentwicklung befin-
den, die zu kippen drohen, in denen sich Menschen nach
Einbruch der Dunkelheit oft nicht mehr auf die Straßen
trauen. Solche Angsträume dürfen wir in unseren Städ-
ten nicht zulassen; wir dürfen sie nicht tolerieren.

Deshalb ist eine gezielte Stabilisierung und Aufwer-
tung dieser Bereiche notwendig. Ein sauberes Straßenbild,
mehr Licht, gepflegte Grünanlagen, das sind Faktoren,
mit denen nicht zuletzt das subjektive Sicherheitsgefühl
der Menschen in den Wohnquartieren erhöht wird. Ziel
muss es sein, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an
allen Orten unserer Städte sicher fühlen und wohlfühlen.

Meine Damen und Herren, weiterhin müssen wir bei
der Städtebauförderung in den Großwohnsiedlungen,
aber auch darüber hinaus gezielt auf ein Nebeneinander
von Arbeiten, Wohnen, Nahversorgung, Freizeitgestal-
tung, öffentlichen Freiräumen und Grün setzen. Es geht
also um die verstärkte Förderung von sozial und funktio-
nal durchmischten Stadtquartieren. Denn gemischte
Quartiere sind ein Garant für Lebensqualität und Wohn-
zufriedenheit, für Standortbindung und Identitätsbil-
dung. Obendrein reduzieren sie die Flächeninanspruch-
nahme, ermöglichen eine Stadt der kurzen Wege und
sind deshalb besonders für ältere und pflegebedürftige
Menschen, aber auch für junge Familien geeignet.

Eine zusätzliche Herausforderung für unsere Städte
ist der wachsende Zustrom von Flüchtlingen. Für uns ist
klar: Deutschland ist ein tolerantes, ist ein weltoffenes
Land. Wir wollen die Menschen, die begründet bei uns
Zuflucht suchen, würdig unterbringen und ihnen all un-
sere Hilfe anbieten. Ich glaube, auch hier kann die Städ-
tebauförderung einen großen Beitrag zu gesellschaftli-
chem Zusammenhalt leisten und ist somit auch ein
Garant von Integration.

Ich habe es schon einmal gesagt: Gerade das Pro-
gramm „Soziale Stadt“, das wir finanziell aufgewertet
haben, sollte genutzt werden, um bei der Unterbringung
und der Integration von Asylbewerbern zu helfen und
diese zu fördern.

Städte müssen mehr sein als Steine und Beton. Es
geht um die Reintegration der Natur in die bebaute Um-
welt. Das ist eine entscheidende Aufgabe, und das gleich
aus mehreren Gründen: Zunächst einmal erfüllt Grün in
der Stadt eine wichtige Erholungsfunktion. Parks, Stadt-
bäume, begrünte Fassaden und Dächer tragen viel zum
Wohlergehen der Menschen bei. Erst sie machen die





Kai Wegner


(A) (C)



(D)(B)

Städte zu lebenswerten Räumen. Grünflächen haben zu-
dem eine bedeutende ökologische Ausgleichsfunktion.
Sie binden CO2, filtern Schadstoffe und Feinstaub aus
der Luft und sorgen für ein gutes Stadtklima. Kurzum:
Wir brauchen nicht mehr Grüne in den Städten, wohl
aber mehr Grün in der Stadt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da klatschen selbst die eigenen Leute kaum! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Es ist so, dass wir nicht mehr Grüne in der Stadt brau-
chen; denn wir haben die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


– Das tut Ihnen weh.

Frau Künast, es war gerade für uns als CDU/CSU-
Fraktion wichtig und von großer Bedeutung, dass „Grün
in der Stadt“ 2015 ein Schwerpunktthema im Rahmen
der Städtebauförderung wird. Wir werden genau darauf
achten, dass hierfür verstärkt Mittel eingesetzt werden.
Ich wiederhole: Grün ist ein bedeutender Bestandteil für
die Lebensqualität in Städten. Wir werden genau darauf
achten, dass die Mittel hier auch ankommen und einge-
setzt werden. Sollte das nicht funktionieren, sollten wir
ernsthaft darüber nachdenken – ich hoffe, Frau Künast,
dass ich dabei Ihre Unterstützung habe –, ob „Grün in
der Stadt“ ein gesonderter Programmpunkt im Rahmen
der Städtebauförderung sein soll.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es wurde schon gesagt: Am morgigen Sonnabend fin-
det nun erstmals ein bundesweiter Tag der Städtebauför-
derung statt. Der Tag wird die Bürgerbeteiligung stärken
und kommunale Förderprojekte einer breiteren Öffent-
lichkeit bekannt machen. Das ist wichtig; denn Städte-
bauförderung lebt nicht nur von Finanzhilfen. Sie lebt
gerade auch vom Engagement der Bürgerinnen und Bür-
ger für ihre Stadt. Sie lebt von den Akteuren, die im Rah-
men der Programme arbeiten.

Eine wichtige Rolle für nachhaltige Stadtentwicklung
können insbesondere die privaten Hauseigentümer spie-
len. In diesen Tagen wurde hierzu das mehrjährige For-
schungsvorhaben „Kooperation im Quartier“ abge-
schlossen. Die Ergebnisse sind zukunftsweisend. Es hat
sich gezeigt, wie es möglich ist, private Eigentümer zu
Partnern der Stadtentwicklung zu machen. Die im For-
schungsfeld erarbeiteten Instrumente sollten nun rasch in
die Programme der Städtebauförderung übernommen
werden, insbesondere in die „Aktiven Zentren“ und die
„Soziale Stadt“. Das wäre ein wichtiger Schritt hin zum
Erhalt lebendiger Stadtquartiere.

Zum Abschluss. Zum Wesen der Städte gehört der
kontinuierliche Wandel. Städte sind nie ein festgefügter
Zustand. Städte sind nie fertig, sie sind stets ein beweg-
ter Vorgang. Deshalb stehen die Städte permanent vor
großen, neuen Herausforderungen. Aber ihnen eröffnen
sich auch ständig Chancen. Um die Chancen zu nutzen
und die Herausforderungen zu bewältigen, brauchen wir
die Städtebauförderung auch in Zukunft. Sie bleibt ein
unverzichtbarer Baustein für lebenswerte Städte und Ge-
meinden. Der vorliegende Antrag trägt dazu bei, den Er-
folgsweg bei der Städtebauförderung fortzusetzen. Las-
sen Sie uns diesen Weg gemeinsam gestalten. Denn wie

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1810404800
Nichts ist so gut, dass
man es nicht noch weiter optimieren kann. – Daran soll-
ten wir gemeinsam arbeiten, für die Lebensqualität in
unseren Städten und Gemeinden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810404900

Vielen Dank. – Dann erhält jetzt das Wort ein Grüner,

nämlich Christian Kühn.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein kühner Grüner!)


Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Danke, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Men-
schen in den Städten in Deutschland wollen mehr Pflan-
zen, mehr Bäume und mehr Parkanlagen statt Betonwüs-
ten und Asphaltpisten. Das ist eine gute Nachricht im
Hinblick auf die Nachhaltigkeit in der Stadt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen Parks und Freiflächen, um abzuschalten, mit
Kindern zu spielen und Naturerfahrung zu machen.
Kleingartenanlagen sind heutzutage in Deutschland kein
Ausdruck mehr von Spießigkeit, sondern Ausdruck ei-
nes neuen Lebensgefühls in der Stadt, einer Sehnsucht
nach Natur. Ich gebe Ihnen vollkommen recht: Die Zu-
kunft der Stadt ist grün. Ich bin froh, dass die Union das
nach so vielen Jahren zumindest ein bisschen verstanden
hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, als ich mir Ihren
Antrag angeschaut habe, dachte ich: Die Prosa dieses
Antrags ist ganz schön. Aber als ich dann den Forde-
rungsteil gelesen habe, wusste ich: Irgendwie passen
diese Prosa und Ihre Forderungen nicht ganz zusammen.
Beim Klimaschutz sind Sie unterambitioniert, beim de-
mografischen Wandel legen Sie keine richtigen neuen
Programme auf. Die soziale Ausgewogenheit im Quar-
tier haben Sie zwar irgendwie im Blick, aber auch nicht
richtig. Wenn ich mir anschaue, wie viele Ziele wir ge-
meinsam im Bundestag dazu formulieren, wo wir mit
den Städten hin wollen, dann denke ich: Die Maßnah-
men, die Sie in Ihr Papier geschrieben haben, reichen bei
weitem nicht aus, um diese Ziele zu erreichen.

Betrachten wir einmal Ihre konkrete Politik. In Ihrem
Antrag haben Sie etwas zum Stichwort „sozial ausgewo-
gene Stadtentwicklungspolitik“ geschrieben. Hier komme
ich zur Liegenschaftspolitik. Sie betreiben durch die





Christian Kühn (Tübingen)



(A) (C)



(D)(B)

Bundesanstalt für Immobilienaufgaben weiterhin Immo-
bilienspekulationen in Deutschland. Sie vernichten mit
dieser Liegenschaftspolitik, die Sie als Union vertreten,
Freiräume und Stadtgrün, ein Stadtgrün, das Sie hier
gleichzeitig abfeiern. Wie passt das zusammen, Herr
Wegner?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie passt es zusammen, dass in der Stadt Berlin in
den nächsten Jahren 13 Kleingartenanlagen durch die
BImA verkauft werden sollen? Wie passt es zusammen,
dass diese 13 Kleingartenanlagen, weil Sie keine ande-
ren Regelungen machen, zum Höchstpreis verschachert
werden sollen? Es werden beim Verkauf nicht die jetzi-
gen Nutzerinnen und Nutzer in Berlin zum Zuge kom-
men und auch nicht Familien mit Kindern; nein, es wer-
den Investoren sein, die am Ende den Zuschlag erhalten
und dieses Stadtgrün nachhaltig vernichten. Deswegen
sage ich Ihnen: Reden Sie nicht über Stadtgrün, sondern
ändern Sie Ihre Liegenschaftspolitik!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Weil dieses Thema in Ihrer Rede so viel Raum einge-
nommen hat, noch eine weitere Story zum Thema Stadt-
grün. Sie wollten es mit Modellprojekten fördern. Wir
haben im Ausschuss gesagt: Machen Sie es doch in allen
Städtebauförderprogrammen förderfähig. – Sie haben es
dann gemacht. Es ist ein grüner Erfolg, dass Sie bei dem
Thema Stadtgrün in dieser Legislaturperiode weiterge-
kommen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum Klimaschutz. Gerade in den Städten sind im-
mense Potenziale, zum Beispiel in den Großwohnsied-
lungen, vorhanden; Sie haben es selber genannt. Aber
warum raffen Sie sich als Große Koalition nicht auf, ein
wirklich ambitioniertes Quartiersanierungsprogramm
hinzubekommen? Sie reden davon, dass die energetische
Zukunft nicht bei der EnEV liegt, nicht in der einzelnen
Betrachtung des Hauses, sondern im Quartier. Aber Sie
tun nichts. Sie haben kein ambitioniertes Programm auf-
gelegt. Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie es nicht tun, wer-
den Sie beim Klimaschutz im Gebäudebereich scheitern.
Das Versprechen von Frau Hendricks, Klimaschutz und
Baupolitik miteinander zu verzahnen, wird eben nicht
wahr gemacht werden können. Ich sage Ihnen eines:
Wenn Sie nicht in Quartieren denken und nicht in Quar-
tieren handeln und kein entsprechendes Programm aufle-
gen, dann wird es nichts mit dieser Regierung und nichts
mit dem Klimaschutz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich höre jetzt, dass wir eine ressortübergreifende Stra-
tegie bei der „Sozialen Stadt“ brauchen. Das ist doch nur
ein Ausweichmanöver, weil die nicht investiven Mittel
bei der Städtebauförderung immer noch nicht förderfä-
hig sind. Damit führen Sie als Große Koalition das Erbe
der FDP in der Städtebauförderung weiter fort. Wir müs-
sen doch das Quartier aktivieren. Wir müssen die Men-
schen befähigen, ihr Quartier selber zu leben. Wir müs-
sen im Quartier doch Mittel wie Spracherwerb und
anderes in die Schulen tragen. Herr Wegner, Sie haben
davon gesprochen, dass es Angsträume gibt. Das be-
kommt man nicht mit ein bisschen Licht weg, sondern
damit, dass man den sozialen Zusammenhalt im Quartier
stärkt. Das wollen Sie nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Deswegen sage ich Ihnen eines: Machen Sie endlich et-
was bei den nicht investiven Maßnahmen, und fördern
Sie nicht nur Beton, sondern endlich auch Menschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Von Ihnen wurde auch die Bürgerbeteiligung ange-
sprochen. Sie sagen: Am Tag der Städtebauförderung
machen wir Bürgerbeteiligung. – Das reicht doch bei
weitem nicht aus. Bei Ihnen ist Bürgerbeteiligung immer
noch weitestgehend gedacht als Informationskampagne
und nicht als gemeinsamer Entscheidungsprozess auf
Augenhöhe. Ändern Sie das! Wir Grüne wollen keine In-
vestorenpläne, wir wollen Bürgerinnen- und Bürger-
pläne. Wir wollen Bürgerinnen und Bürger bei allen Ent-
scheidungen, bei allen Planungsprozessen dabeihaben
und die Bürgerinnen und Bürger nicht nur „aktivieren“,
wie Sie es in Ihrem Antrag schreiben. Die Bürgerinnen
und Bürger sind längst aktiv. Ich rate Ihnen, einfach mal
zuzuhören und auf diese Menschen zuzugehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der letzte Gedanke. Wenn ich Ihren Antrag lese, er-
kenne ich nicht, was das Leitbild der Großen Koalition
bei der Stadtentwicklung der Zukunft ist. Das wird mir
nicht klar. In Ihren Reden, in Ihrer Prosa erkenne ich ei-
niges. Aber wenn ich mir Ihre konkrete Politik, zum Bei-
spiel die Liegenschaftspolitik, anschaue, dann weiß ich:
Sie haben eigentlich das Bild einer Stadt der Investoren.

Wenn ich mir die Verkehrspolitik der Großen Koalition,
von Herrn Dobrindt anschaue, dann erkenne ich, dass es
Ihnen nach wie vor um die autogerechte Stadt geht und
nicht um die Stadt der kurzen Wege, die Sie, Herr
Wegner, hier beschworen haben. Ich rate Ihnen: Über-
prüfen Sie Ihre Prosa auf Inhalte. Schauen Sie sich an,
was die Menschen in den Städten wirklich wollen. Dann
haben Sie, glaube ich, eine Chance, eine gute Stadtent-
wicklungspolitik zu betreiben.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810405000

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Michael Groß.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1810405100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich
freut die Rückmeldung der Opposition. Das war, würde
ich sagen, ein Kritikchen.





Michael Groß


(A) (C)



(B)

Wir Sozialdemokraten wissen genau, was wir wollen.
In die Koalitionsvereinbarung haben wir hineingeschrie-
ben, dass „Soziale Stadt“ das Leitprogramm für soziale
Integration sein soll; das ist unser Ziel. Wir wollen, dass
die Menschen im Quartier ein Zuhause finden, dass
Flüchtlinge, alte Menschen und junge Menschen dort ge-
meinsam leben können.


(Beifall bei der SPD)


Herr Kühn, Sie haben gerade behauptet, dass wir es
nicht ernst meinen. Ich glaube, wir haben gemeinsam
verstanden, dass die untere Ebene, also Städte und Ge-
meinden, die Metropolen, Geld haben muss, um die
Quartiere, die Stadtteile zu gestalten. Wir nehmen jetzt
zusätzlich 3,5 Milliarden Euro in die Hand, um Investi-
tionen in den Städten zu ermöglichen. Diese 3,5 Milliar-
den Euro sind auch dafür gedacht, die energetische Sa-
nierung und damit Energieeffizienz und Umweltschutz
voranzubringen. Ich glaube, dass wir da auf einem sehr
guten Weg sind.

Wir haben in der Koalition vereinbart, dass wir durch
das Teilhabegesetz ab 2017 für Entlastung sorgen. Auch
dadurch werden für die Kommunen Freiräume geschaf-
fen, damit sie das bewerkstelligen können, was vor Ort
notwendig ist. Ich glaube, dass das noch nicht genug ist;
aber es ist mehr, als Sie unterstellt haben.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai Wegner [CDU/CSU])


Frau Bluhm, ich habe in Ihrer Rede viel Lob gehört.
Da ich klein von Statur bin, ist die Messlatte, die wir
selbst angelegt haben, für mich ohnehin relativ hoch,
auch wenn sie noch höher liegen könnte. Es ist doch so,
dass wir im Bereich der Städtebauförderung alle nicht
weit auseinander sind. Wir haben gemeinsam in der letz-
ten Koalitionsverhandlung einen immensen Sprung ge-
schafft: von 455 Millionen auf 700 Millionen Euro.


(Zuruf der Abg. Heidrun Bluhm [DIE LINKE])


Wir haben das Programm „Soziale Stadt“ immens ge-
stärkt. Wir haben es erreicht, dass wieder wesentlich
mehr Städte und Gemeinden Anträge stellen. Ich glaube,
die Kritik, die Sie äußern, ist unberechtigt. Wir sind auf
einem guten Weg. Wir haben in dem Antrag formuliert,
dass wir Planungssicherheit und Verlässlichkeit für die
Städte brauchen. Wir wollen gemeinsam dafür sorgen,
dass die 700 Millionen Euro inklusive der 150 Millionen
Euro weiterhin im Haushalt etatisiert werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Warum sind die Programme zur Städtebauförderung
so erfolgreich, und warum begrüße ich es sehr, dass wir
morgen den Tag der Städtebauförderung begehen? Ich
glaube, es ist notwendig, dass Bund, Länder und Ge-
meinden gemeinsam auf problematische Stadtteile
schauen. Wir müssen gemeinsam auf Stadtteile schauen,
in denen sich etwas in die falsche Richtung entwickelt.
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Kinder Bil-
dung erfahren. Wir müssen Aufstieg durch Bildung ge-
währleisten. Wir müssen Arbeit im Quartier ermögli-
chen, und wir müssen Maßnahmen zum Schutz von
Klima und Umwelt im Quartier ermöglichen. Letztend-
lich müssen wir die Verbraucher, die Mieter und die Ver-
mieter auffordern, gemeinsam auf Klimaschutz und Um-
weltschutz zu achten. Deswegen ist der morgige Tag so
wichtig.

Ich glaube, dass wir noch viele Dinge zu tun haben.
Das gilt zum Beispiel für die Energiewende. Die Pro-
gramme, die wir zur Energiewende und zum Klimaschutz
haben, müssen mit den Programmen zur Städtebauförde-
rung verschränkt werden. Wir müssen es ermöglichen,
dass Vermieter, die investieren wollen, mehrere Pro-
gramme in Anspruch nehmen können. Wir müssen für
eine sinnvolle Förderung sorgen, die Synergieeffekte er-
zeugt. Wir müssen dafür sorgen, dass die richtigen Maß-
nahmen ergriffen werden. Dabei ist es wichtig, dass wir
die Menschen mitnehmen. Wir müssen sie mitnehmen,
indem wir sie aufklären, indem wir sie informieren. Wir
brauchen Mitmachstädte, in denen Bildung geschaffen
wird. Wir müssen die Menschen über Bildung auch da-
rüber aufklären, was notwendig und erforderlich ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Beteiligung ist ein Riesenthema. Ich kenne die
Agendaprozesse aus meinem Wahlkreis sehr gut. Es ist
uns aber noch nicht gelungen, die zu beteiligen, die wir
eigentlich beteiligen müssen. Es ist richtig, dass wir we-
sentlich mehr investieren müssen. Wir müssen aber nicht
nur Geld investieren, sondern wir brauchen auch krea-
tive Ideen dazu, wie wir die Menschen in die Prozesse
einbinden können. Es reicht eben nicht, Ordner zur Ver-
fügung zu stellen, sondern wir müssen Instrumente
– auch die digitale Agenda – nutzen, um aufzuklären.
Ich glaube, wir haben noch einen Riesenweg vor uns;
denn wir können niemanden zwingen, mitzumachen.

Ich glaube, dass es gerade bei der Stadtentwicklung
wichtig ist, Menschen aufzufordern, sich einzumischen,
weil dort jeder aus seiner eigenen Erfahrung heraus mit-
entscheiden kann, wenn es um die Fragen geht: Wie soll
meine Zukunft aussehen? Wo will ich eigentlich Verän-
derungen? Und was soll sich in meinem Stadtteil entwi-
ckeln? – Gerade Stadtumfeld, Wohnumfeld, die eigene
Wohnung sind dafür geeignet, Demokratie zu üben und
die Menschen aufzufordern, sich wieder demokratisch
einzumischen und bei Erfolg auch wieder wählen zu ge-
hen. Dafür müssen wir auch im Rahmen der Städte-
bauförderung sorgen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein letzter Gedanke zum ressortübergreifenden An-
satz: Wir versuchen zurzeit, hier die Instrumente zusam-
menzuführen. BIWAQ und „JUGEND STÄRKEN im
Quartier“ sind ein Ansatz. Wir müssen dafür sorgen,
dass alle gemeinsam – die Betroffenen vor Ort, aber
auch wir hier – auf die Probleme schauen. Das müssen
wir in den nächsten Wochen und Monaten schaffen. Sie
haben ja noch ein bisschen Zeit: zwei Jahre.

Ich danke Ihnen. Glück auf! Ein schönes Wochen-
ende!

(D)






Michael Groß


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810405200

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt der Kollege Artur Auernhammer.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Artur Auernhammer (CSU):
Rede ID: ID1810405300

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-

men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn es der Opposition ein wenig schwerfällt, uns
in der Regierungsverantwortung zu loben, kann ich hier
auch als Kommunalpolitiker sagen: Es gibt nur wenige
Förderprogramme, die in so umfassender Weise auf die
Kommunen wirken wie das Städtebauförderprogramm.

Seit mehr als 40 Jahren steht der investive Teil der
Städtebauförderung nicht nur für die Konservierung al-
ter, zumindest auch historisch bedeutender Bauten. Städ-
tebauförderung steht auch für die Umgestaltung und
Anpassung an heutige Bedürfnisse. Bauhistorische Sub-
stanz wurde saniert und in einem nutzbaren Zustand in
das 21. Jahrhundert gebracht.

Meine Damen und Herren, Städtebauförderung ist
mehr als trockener und staubiger Denkmalschutz. Städ-
tebauförderung bringt Leben in die Stadt. Die Städte-
bauförderung kombiniert baukulturelles Erbe mit gegen-
wartsbezogenen und in die Zukunft weisenden baulichen
Überlegungen. Das Besondere dabei ist die von ihr aus-
gehende Wechselwirkung und Kombination der Anreize,
welche die geförderten Projekte auf die Kommunen aus-
senden. Wir fördern zum Beispiel Maßnahmen vor Ort
zur Reduzierung von Barrieren, um mehr gesellschaftli-
che Teilhabe zu erreichen.

Wenn ich an eine immer älter werdende Gesellschaft
denke, verstehe ich die Städtebauförderprogramme auch
als Katalysator für eine Aktivierung der Potenziale und
Akteure vor Ort.

Denken wir an die Herausforderungen durch den Kli-
mawandel und auch durch verschiedene Emissionsbelas-
tungen in den Städten; dabei geht es um Schadstoffe wie
Feinstaub, aber auch um Lärm. So kann die Städte-
bauförderung helfen, Vorreiterpositionen in der Stadt zu
schaffen. Daher muss das Augenmerk auch immer auf
Maßnahmen für eine klimafreundliche und „grüne
Stadt“ mit möglichst wenig Grünen gelegt werden.


(Lachen des Abgeordneten Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Ich stelle fest, die Grünen haben es langsam kapiert.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Morgen ist der Tag des Städtebaus, der Tag der Städ-
tebauförderung. Es ist erfreulich, diesen Tag auszurufen.
Er kann zu dem Ziel beitragen, die Bürgerinnen und
Bürger vor Ort mitzunehmen und sie aktiv zu motivie-
ren, sich für ihre Stadt zu interessieren, sie aufmerksam
zu machen auf die regionalen Projekte der Städtebauför-
derung, aber auch auf die besonderen Impulse, die von
diesen herausgehobenen Bauprojekten ausgehen.

Es muss unser Ziel sein, die Thematiken des Klima-
schutzes und der Barrierefreiheit über die Städtebauför-
derung in die Städte und Ortschaften zu transportieren.
Der Erfolg der letzten 40 Jahre kann sich wirklich sehen
lassen. Unser Land ist eine einzige Messe, eine einzige
Ausstellung erfolgreicher Städtebauförderung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Name „Städte-
bauförderung“ – so mancher Redner hat sich hier sehr
auf die großstädtische Förderung bezogen – verleitet ei-
nen schon, nur von Großstadtförderung zu reden. Aber
in der Tat ist es so, dass im Bundesdurchschnitt 40 Pro-
zent der Städtebauförderung Mittel für den ländlichen
Raum sind. Ich erlaube mir den Hinweis auf den Frei-
staat Bayern: Dort fließen 75 Prozent der Fördermittel in
den ländlichen Raum und ermöglichen dort Maßnah-
men.


(Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Weil die CSU in Bayern in den Großstädten nicht regiert!)


Erfreulich ist die Differenzierung. Die Programme „So-
ziale Stadt“ und „Stadtumbau Ost und West“ sollen hier
beispielhaft neben dem neuen Programmteil „Nationale
Projekte des Städtebaus“ genannt werden.

Nachdem ich hier den großen Beitrag der Städte-
bauförderung für den ländlichen Raum angesprochen
habe, nenne ich Ihnen nun ein Beispiel aus meiner Hei-
mat, in der ich Kommunalpolitiker bin. Meine Heimat-
stadt Weißenburg hat in den letzten zehn Jahren 6,5 Mil-
lionen Euro an Städtebauförderung erhalten, im
Wahlkreis waren es über 60 Millionen Euro. Dieses Geld
wurde ausgezahlt und investiert. Es hat den Mittelstand
und das Handwerk motiviert, zu investieren, und es hat
viele Investitionen nach sich gezogen.

Gehen wir einmal von einer anerkannten Hebelwir-
kung von eins zu sieben aus – also 1 Euro Städtebauför-
derung löst 7 Euro an privaten Investitionen aus –, so ha-
ben diese Mittel einen großen Investitionsschub für die
Städte und für die ländlichen Regionen gebracht. Man
kann sagen: Städtebauförderung ist ein kommunales
Konjunkturprogramm. Es sichert Beschäftigungsverhält-
nisse. Noch eines sei angemerkt: Durch diese Hebelwir-
kung von eins zu sieben trägt sich das Programm selbst.
Jeder einzelne geförderte Städtebau-Euro erwirtschaftet
wieder Steuereinnahmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wenn man das umrechnet, hat jeder Euro der Städte-
bauförderung eine Mehrwertsteuereinnahme von
1,27 Euro zur Folge. Fazit: Die Städtebauförderung fi-
nanziert sich nicht nur selbst, sie erhöht sogar die Staats-
einnahmen.

Die Impulse, die von der Städtebauförderung des
Bundes ausgehen, sind wertvoll und verdienen viele
weitere Jahre. Dabei ist die richtige Schwerpunktsetzung
wichtig. Es ist daher für mich erfreulich, wenn wir in
den Förderjahren 2016 und 2017 die Umwandlung mili-





Artur Auernhammer


(A) (C)



(D)(B)

tärischer Konversionsflächen im Teilprogramm „Natio-
nale Projekte des Städtebaus“ gezielt fördern. Der Ab-
zug amerikanischer Truppen, aber auch die Verringerung
der Zahl der Bundeswehrstandorte fordern uns heraus,
mit der Stadtentwicklung weiter voranzukommen. Auch
ist es ein großer Beitrag zum Flächenschutz.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle,
zum Teil auch die Opposition, haben die Städtebauförde-
rung gelobt. Lassen Sie uns den morgigen Tag feiern!

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810405400

Vielen Dank. – Der Kollege Auernhammer war der

letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Deshalb
schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/4806 mit dem Titel „Starke Städte und Quartiere –
Die Erfolgsgeschichte der Städtebauförderung fort-
schreiben“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates über
das Klonen von Rindern, Schweinen, Schafen,
Ziegen und Equiden, die für landwirtschaftli-
che Zwecke gehalten und reproduziert wer-
den
KOM(2013) 892 endg.; Ratsdok. 18152/13

und

zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Ra-
tes über das Inverkehrbringen von Lebens-
mitteln von Klontieren
KOM(2013) 893 endg.; Ratsdok. 18153/13

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Kein Klonfleisch in der EU – Für mehr Tier-
und Verbraucherschutz

Drucksache 18/4808

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kol-
legin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1810405500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kennen

Sie den Film The 6th Day? Es geht um das Klonen von
Menschen wie auch Tieren, und es gibt dort einen be-
merkenswerten Dialog, den ich Ihnen gerne vortragen
würde:

„Bei Ihrem RePet …wird es sich exakt um densel-
ben Hund handeln. Er kann alle Kunststückchen,
die Sie ihm beigebracht haben, er findet alle Kno-
chen, die er verbuddelt hat. Er wird überhaupt nicht
spüren, dass er ein Klon ist …“ – „… kann ich mei-
ner Tochter ein so großes Tier anvertrauen mit
scharfen Zähnen?“ – „Wir können ihn auch kleiner
machen, mit weichen Zähnen.“ … „Wenn Sie wol-
len, können wir ihn sogar farblich auf ihre Wohn-
zimmereinrichtung abstimmen.“

Meine Damen und Herren, Utopie? Dystopie? Nein,
heute schon ein Stück Realität. 1996 wird in Schottland
das weltweit erste geklonte Säugetier präsentiert, das
Klonschaf Dolly. Dolly ist die identische Kopie eines an-
deren Schafes, eine Reproduktion aus dem Reagenzglas.
Damit war übrigens der Damm gebrochen. Klonmäuse,
Klonrinder, Klonschweine folgen. Auch Haustiere wer-
den kopiert. Eine Klonkatze soll zeigen, dass sich nie-
mand mehr von seinem geliebten Begleiter verabschie-
den muss. Der Weg zum „RePet“ ist also nicht mehr
weit.

War Dolly nun ein großer Triumph der Wissenschaft,
oder hat der Mensch Schöpfer gespielt? Man kann dies
sicherlich unterschiedlich bewerten, aber eines steht fest:
Es war ein dramatischer Eingriff in die Natur. Dieser
technische Fortschritt kann Hoffnung bedeuten; denn
durch wissenschaftliches Klonen können gegebenenfalls
Stammzellen erzeugt werden, mit denen sich Krankhei-
ten heilen lassen. Diesen Weg will übrigens niemand
verbauen; denn wissenschaftliches Klonen soll nach wie
vor erlaubt bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber technischer Fortschritt bedeutet auch Verant-
wortung. Dieser müssen wir gerecht werden. Deshalb
beraten wir heute im Deutschen Bundestag über ein Ver-
bot des Klonens von Tieren für die Nahrungsmittelpro-
duktion. Für unsere Fraktion, die CDU/CSU, sage ich
ganz deutlich: Wir wollen dieses Verbot.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Und wir wollen mehr; denn wir sehen keinen einzigen
Grund, weshalb Tiere für die Produktion von Lebensmit-
teln geklont werden sollten. Wie ist zurzeit die Situa-
tion? Derzeit dürfen Tiere in Europa geklont werden. Sie
können nach Zulassung als Lebensmittel vermarktet
werden. Eine Kennzeichnung ist übrigens nicht vorgese-
hen. Davon wird allerdings zurzeit in Europa noch kein
Gebrauch gemacht. Anders ist das in den USA. Klon-
fleisch ist dort seit 2008 im Handel. Nachkommen ge-
klonter Tiere werden zu Fleisch verarbeitet. Erkennen
können dies die Kunden im Supermarkt nicht. Eine Ge-
sundheitsgefahr ist damit nicht verbunden. Das bestäti-





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)

gen uns sowohl die amerikanische Behörde für Lebens-
mittelsicherheit, die FDA, wie auch die Europäische
Behörde für Lebensmittelsicherheit, die EFSA. Sie be-
stätigen, dass der Verzehr von Fleisch und Milch von ge-
klonten Rindern, Schweinen und deren Nachfahren un-
bedenklich sei. Aber es gibt eben andere Gründe, die
gegen Klonfleisch sprechen.

Erstens: das Wohl der Tiere.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Klonen bedeutet Leid und Qual für Tiere. 90 Prozent der
geklonten Tiere sterben im Mutterleib oder nach der Ge-
burt. Viele der Retortentiere altern schnell, leiden unter
Krankheiten oder Missbildungen. So übrigens auch
Dolly. Dolly wurde gerade einmal sechs Jahre alt. Sie litt
an Arthritis und an Übergewicht. Am Ende musste sie
eingeschläfert werden, um ihr weiteres Leid zu ersparen.
Auf die Euphorie folgte Ernüchterung. Dieses Leid wol-
len wir, die CDU/CSU-Fraktion, Tieren ersparen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zweitens. Wir haben ethische Bedenken gegen das
Klonen, wie übrigens auch das Ethikgremium bei der
Europäischen Kommission. Auch für dieses ist das Klo-
nen für die Nahrungsmittelproduktion ethisch nicht ge-
rechtfertigt. Ich persönlich sage auch: Bedenket das
Ende! Was bei Tieren beginnt, endet vielleicht eines fer-
nen Tages bei der menschlichen Reproduktion.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Nicht vielleicht! Sicher!)


Ich sage sehr deutlich: Ich möchte keine genetisch opti-
mierten Designerbabys.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Wir fürchten um die genetische Vielfalt. Es
ist vollkommen unklar, welche Folgen die neue Produk-
tionsform für die Landwirtschaft und auch die Tierzucht
hat. Deshalb lehnt auch der Deutsche Bauernverband
Klonen strikt ab. Wir sagen: zu Recht.

Viertens. Klonfleisch will eigentlich niemand essen.
Eine aktuelle forsa-Studie für den Bundesverband der
Verbraucherzentralen ergab, dass 71 Prozent der Men-
schen in diesem Land keine geklonten Lebensmittel wol-
len – auch wir nicht.

Ich will noch einen weiteren Punkt anfügen: Es be-
steht überhaupt kein Bedarf an geklontem Fleisch. Wir
leiden in Europa nicht an einem Fleischmangel, sondern
daran, dass zu viel Essen achtlos weggeworfen und ver-
nichtet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Hier umzusteuern, wäre jenseits aller Klontechnik ein
wichtiger Schritt zur Steigerung des Tierwohls.

Deshalb ist die EU dem Grunde nach auf dem richti-
gen Weg. Ende 2013 hat diese vorgeschlagen, Folgendes
in der EU zu verbieten: das Klonen von Tieren für land-
wirtschaftliche Zwecke, den Import von geklonten Tie-
ren und Klonembryonen und den Import von Lebensmit-
teln aus diesen Tieren – alles nur vorläufig. Das ist ein
erster richtiger Schritt, aber er geht uns als CDU/CSU
nicht weit genug; denn nach den Vorschlägen der Kom-
mission bleiben erlaubt: der Import von Zuchtmaterial
wie zum Beispiel Embryonen und Sperma, der Import
von Nachkommen geklonter Tiere, der Handel damit
und der Einsatz in der Zucht. Und das alles ohne Kenn-
zeichnung. Das lehnen wir ab.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn am Ende bedeutet das: Die Produkte der Nach-
fahren von Klontieren dürfen verkauft werden. Der Ver-
braucher verzehrt gegebenenfalls Klonfleisch, ohne dies
zu bemerken. Der Verbraucher bekäme statt des Steaks
vom Bauernhof ein Stück Klonfleisch aus dem Reagenz-
glas. Ich sage für unsere Fraktion: Das wollen wir nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen mehr Transparenz für den Verbraucher,
wir wollen mehr Lebensmittelklarheit, und wir wollen
damit auch mehr Wahrheit und Sicherheit. Dafür brau-
chen wir eines zwingend: eine Kennzeichnungspflicht.


(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Bravo!)


Wir senden deshalb heute ein ganz starkes Signal,
wenn wir uns gemeinsam dafür einsetzen, über Frak-
tions- und Parteigrenzen hinweg.

Damit stärken wir auch das Europäische Parlament;
denn unsere Kollegen dort fordern wie wir: Der Verbrau-
cher muss wissen, ob er Fleisch von Klontieren isst. Ge-
meinsam – das ist das Signal dieser Stunde – müssen wir
den Druck auf die EU-Kommission aufrechterhalten.
Ende Februar hat der zuständige Gesundheitskommissar
Andriukaitis angekündigt, dass die EU-Kommission bis
Oktober prüfen wolle, ob die Kennzeichnung von Milch-
und Fleischprodukten, die von Nachfahren geklonter
Nutztiere stammen, doch ein gangbarer Weg sei.

Die EU hat auch vor dem Hintergrund von TTIP näm-
lich ein Problem. Die Verhandlungen für ein Freihan-
delsabkommen zwischen der EU und den USA sind be-
kanntlich in den Vorbereitungen. Die EU-Vorschriften
für Gentechnik oder Klonfleisch sollen unverändert blei-
ben. Mit einem Freihandelsabkommen würden eben-
diese Produkte aus den USA nach Europa gelangen.
Deshalb brauchen wir eine klare Kennzeichnung –


(Beifall bei der CDU/CSU)


damit der Verbraucher weiß, was er isst. Wir müssen
deshalb gemeinsam die EU-Kommission von dieser
Kursänderung überzeugen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei wissen wir die Bundesregierung an unserer
Seite. Auch diese lehnt das Klonen für landwirtschaftli-
che Zwecke ab. Ich bin unserem Kollegen Bundesland-
wirtschaftsminister Christian Schmidt außerordentlich
dankbar, dass er sich dafür auf EU-Ebene starkmacht.





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)

Persönlich würde ich mir übrigens an dieser Stelle eine
Regelung in Form einer Verordnung, nicht in Form einer
Richtlinie wünschen; denn eine Verordnung hätte eine
höhere Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten in der
EU. Wir brauchen in der EU eine einheitliche Rechts-
grundlage, die im Wesentlichen auch Kontrollverfahren
und Kontrollmethoden festlegt; denn das beste Gesetz
hilft am Ende nicht, wenn es nicht kontrolliert wird. Da-
für setzen wir uns als CDU/CSU-Fraktion ein.

Es ist deshalb wichtig, dass wir uns heute einsetzen,
dass wir gemeinsam ein klares Zeichen setzen gegen
Klonfleisch und damit für mehr Tierschutz und für mehr
Verbraucherschutz. Dafür stehen wir hier heute ein.

Ich begann mit einem Filmzitat, und ich möchte mit
einem enden. Es gibt unendlich viele Filme über das
Klonen – von Tieren, von Menschen –, so auch den Film
Die Insel. Ich zitiere aus der Aussprache mit einem
menschlichen Klon:

„Ihr seid Klone.“ … „Ihr seid so etwas wie Aus-
tauschmotoren für ihre Bentleys. Ihr seid ihnen
egal.“

Genau das wollen wir nicht, weder für die Menschen
noch für die Tiere.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810405600

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Kirsten

Tackmann, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810405700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste! Beim Klonen geht es darum, künstlich und
systematisch genetisch identische Individuen zu schaf-
fen – ein Horrorszenario für alle, für die die Vielfalt des
Lebens ihre eigentliche Existenzgrundlage ist. Deswe-
gen ist das schon allein ein guter Grund, Klonen abzu-
lehnen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich teile auch die ethischen Einwände, egal ob damit ein
Schöpfer oder die Natur gemeint wird: Das Einmischen
in das Handwerk ist in jedem Fall falsch.

Neben dieser gesellschaftspolitischen Kritik gibt es
für mich als Tierärztin weitere schwerwiegende Ableh-
nungsgründe: Die verheerend niedrigen Lebenschancen
der Klone sind nicht zu verantworten. Sehr gut doku-
mentiert ist das im 2010er Report von Testbiotech „Klo-
nen von Nutztieren – eine ‚todsichere‘ Anwendung?“.
Um nur eine Studie aus dem Jahr 2007 herauszugreifen:
Von knapp 3 400 Kühen, auf die Embryoklone übertra-
gen wurden, brachten nur 317 lebende Kälber zur Welt.
Noch problematischer: Nach 24 Stunden waren schon 39
dieser Klonkälber gestorben. Am 150. Lebenstag war
fast ein Drittel tot. Selbst die technologiefreundliche Eu-
ropäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA,
gibt die Sterblichkeit beim Klonen von Rindern mit 85
bis 94 Prozent und bei Schafen mit 94 Prozent an. Ich
finde, das ist nicht akzeptabel.


(Beifall im ganzen Hause)


Und nicht nur die Klone sind gefährdet, sondern auch
die Leihmuttertiere. Zum Beispiel führt bei Rindern und
Schafen das Large-Offspring-Syndrom unter anderem zu
einem Riesenwuchs von Föten und damit zu Schwerst-
geburten. Deshalb sagt die Linke ganz klar: Das Klonen
muss verboten werden, erst recht bei Nutztieren, um die
es heute geht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir stehen mit dieser Position nicht allein. Die öffent-
liche Meinung ist klar gegen Klonen, ebenso der Bun-
desrat. Auch im Entwurf der Stellungnahme des Euro-
päischen Parlaments steht – ich zitiere –: „dass die
schädlichen Auswirkungen des Klonens, unter anderem
auf das Tierwohl, gegenüber möglichen positiven Aus-
wirkungen stark überwiegen“. Daher begrüßen die Auto-
rinnen den Vorschlag der Kommission für ein Verbot des
Klonens im Grundsatz; aber auch sie sehen erhebliche
Mängel im Vorschlag der Kommission.

In der Tat: Die Vorschläge müssen dringend nachge-
bessert werden. Deshalb ist der heute vorliegende ge-
meinsame Antrag der Koalition und der Grünen drin-
gend notwendig. Er fordert Abhilfe in drei Punkten, die
auch uns Linken sehr wichtig sind, erst recht im Schatten
von TTIP: Erstens. Statt eines vorläufigen Verbots wird
ein dauerhaftes Verbot des Klonens gefordert. Es soll für
Tiere, die für die Nahrungsmittelproduktion vorgesehen
sind, gelten, aber auch für den Handel mit und den Im-
port von geklonten Tieren und auch für das Fleisch.
Zweitens. Sollte das nicht oder nur teilweise erreichbar
sein, wird eine Kennzeichnungspflicht gefordert, und
zwar für geklonte Tiere und ihre Nachkommen, aber
eben auch für Sperma, Eizellen, Embryonen und das
Fleisch. Drittens werden richtigerweise geeignete Kont-
rollmöglichkeiten gefordert.

Die Linke unterstützt diese Forderungen. Uns ist es
auch wichtig, dass diese Forderungen heute einstimmig
hier beschlossen werden; denn wir brauchen ein ganz
klares Signal aus dem Bundestag sowohl in Richtung
Bundesregierung als auch in Richtung Brüssel.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb stimmt die Linke dem Antrag heute zu.

Aber ich sage auch ganz ehrlich: Diese Zustimmung
ist uns sehr schwer gefallen, zum einen weil auch dieser
Antrag wichtige Fragen offenlässt: Warum wollen Sie
nur Fleisch kennzeichnen und keine Milch und keinen
Käse? Warum soll das Verbot nur für die fünf Haupt-
nutztierarten Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine und
Pferde gelten und nicht für alle Nutztierarten? Beim Ge-
flügel ist das Klonen doch nur eine Frage der Zeit. Ich





Dr. Kirsten Tackmann


(A) (C)



(D)(B)

sehe es wie der Bundesrat: Es sollte keine Ausnahmen
vom Klonverbot geben, weder bei Sportpferden noch
zum Erhalt seltener Rassen oder vom Aussterben be-
drohter Arten – und, ich sage es ganz ehrlich, auch nicht
für die geliebten Haustiere.

Aber der Antrag hat noch einen weiteren Makel. Er ist
zwar überfraktionell, aber unter Ausschluss der Linken
zustande gekommen, weil die Union seit fast zehn Jah-
ren generell keine gemeinsame Antragstellung mit der
Linken möglich macht. SPD und Grüne bedauern das
zwar, aber eigentlich machen sie dann am Ende mit. Ich
finde das undemokratisch, weil es nicht nur meine Frak-
tion, sondern auch die Wählerinnen und Wähler der Lin-
ken ausgrenzt; es diskriminiert sie.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist auch unparlamentarisch.

Deswegen sage ich ganz klar: Die Linke verteidigt
heute mit ihrem Ja zu diesem Antrag die Würde des Ho-
hen Hauses.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810405800

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1810405900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolle-
gin Tackmann, ich kann das nachvollziehen: Ich bedau-
ere es außerordentlich, dass es in diesem Hause nicht ge-
lingt, bei Fragestellungen, bei denen es um ethische und
moralische Ansprüche und Themen geht, fraktionsüber-
greifend zusammenzuarbeiten.


(Beifall der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE])


Sie wissen, wie das Prozedere hier im Haus normaler-
weise ist. Ich kann nur an die Kollegen appellieren, dass
wir uns in Zukunft bei solchen Themen vielleicht ein
bisschen mehr Gemeinsamkeit gönnen; denn es geht es-
senziell ja nicht um eine große politische Debatte,


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, es geht um eine große politische Debatte!)


sondern darum, dass wir heute hier im Hause konstatie-
ren können, dass wir im Deutschen Bundestag die größt-
mögliche Koalition gegen das Klonen zustande gebracht
haben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich freue mich über diesen gemeinsamen Antrag, zu-
mal nach der Aktuellen Stunde im Jahre 2011, die wir
dazu in diesem Hause erleben durften. Da hat hier eine
ganz andere Debatte stattgefunden, auch mit Schuldzu-
weisungen. Ich erinnere noch: Es war der Minister
Brüderle, der ein relativ aussichtsreiches Verfahren auf
europäischer Ebene mit seinem Veto damals verhindert
hat – auch zum Leidwesen seines damaligen Koalitions-
partners. Ich erinnere auch noch an den Ausspruch vom
Kollegen Holzenkamp in dieser Debatte, dass er kein
Klonfleisch essen will.


(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Ja!)


Das ist mir noch sehr gegenwärtig.

Mit dem Antrag setzen wir in der Großen Koalition
gemeinsam etwas um, was wir in den Koalitionsvertrag
geschrieben haben. Ich halte es für wichtig, dass man
nicht nur etwas aufschreibt, sondern es auch umsetzt.

Mit den jetzt vorliegenden Entwürfen auf der europäi-
schen Ebene soll bis 2016 mehr Rechtssicherheit ge-
schaffen werden. Das ist dringend notwendig. Das
Fleisch von Klonen wird zwar zum gegenwärtigen Zeit-
punkt im europäischen Bereich nicht zur Erzeugung von
Lebensmitteln verwandt, aber wer weiß denn, wie das in
Zukunft ist. Die Option besteht; die Tür ist offen. Diese
Tür muss dringend geschlossen werden. Auch nach der
Stellungnahme der FDA und der EFSA sind die Zweifel
nicht ausgeräumt worden. Im Gegenteil, bei mir sind sie
noch verstärkt worden.

Das Geschäft mit dem Klonen hat nach der Entschei-
dung der FDA in den USA, in Kanada und in anderen
Ländern begonnen. Dahinter steht nicht unbedingt die
Neugierde der Wissenschaft – die würde ja zur Lösung
der Probleme im Bereich der Fleischerzeugung nicht mit
Klonen arbeiten –, sondern dahinter stehen natürlich
Interessen, Interessen von großen Zuchtverbänden, die
nicht unbedingt genossenschaftlich organisiert sind,


(Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Genau!)


Interessen von großen Verbänden, die wertvolle Genetik
haben, diese Genetik natürlich weltweit verkaufen und
damit Gewinne erzielen möchten. Es gibt zwei große
Unternehmen, die sich auf diesen Bereich spezialisiert
haben: Trans Ova und ViaGen. Sie sind in unterschiedli-
chen Märkten tätig.

Man muss sich einmal vor Augen führen, dass von ei-
nem Unternehmen sogar Emergency Cloning angeboten
wird. Das heißt, wenn ein wertvolles Zuchttier plötzlich
verstirbt, wenn etwa ein Pferd nach einer Kolik am
nächsten Morgen tot aufgefunden wird, dann ist, wenn
ein bestimmter Zersetzungsgrad der Zellen noch nicht
erreicht ist und die somatischen Zellen im Kern noch
brauchbar sind, die Möglichkeit gegeben, aus diesem
Tier noch einen Klon zu produzieren, um es züchterisch
weiter nutzen zu können. Diese Unternehmen sind in
Ländern wie Argentinien, Brasilien und Paraguay tätig.
Auch in Australien und Neuseeland gibt es entspre-
chende Unternehmen, die sich mit Klonen beschäftigen.
Da gehört schon ein bisschen Mut dazu, wenn wir auf
der europäischen Ebene sagen: Das ist mit unserer Ein-
schätzung, mit unserer Ethik und mit unserem Verständ-
nis von Tierschutz nicht vereinbar. Deshalb dürfen wir
diese Debatte nicht den Wissenschaftlern und den Unter-





Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) (C)



(D)(B)

nehmen und Unternehmern überlassen, sondern müssen
sie auf der politischen Ebene hier im Deutschen Bundes-
tag führen und dazu beitragen, dass die kritischen Stim-
men im Europäischen Parlament, die wir aus der letzten
Debattenrunde 2011 noch kennen und die ich mittler-
weile auch schon wieder vernommen habe, auch durch
eine entsprechende Positionierung der deutschen Bun-
desregierung unterstützt werden, die das Klonen eben-
falls nachhaltig ablehnt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht dabei nicht um Wissenschaft oder Ökonomie
allein. Es geht dabei um ganz grundlegende ethische
Fragestellungen. Letztendlich geht es um die Schöpfung,
für die wir Verantwortung tragen. Nicht alles, was die
Reproduktionstechnologie heute ermöglicht, ist auch
ethisch vertretbar. Ich kenne das aus eigener Anschau-
ung: Ich habe über viele Jahre eine große Rinderpraxis
betrieben, mit Besamung und in Teilen, wenn es ange-
zeigt war, mit Embryotransfers. Mittlerweile wurden
weitere Möglichkeiten entwickelt: das Embryosplitting,
bei dem man Embryonen teilt, die Geschlechtsbestim-
mung bei Embryonen, das Aussortieren der Embryonen,
die man aufgrund des Geschlechtes nicht möchte, und
natürlich auch das Spermasexing. All das sind Möglich-
keiten, die bislang schon – ethisch noch vereinbar – zur
Verfügung stehen, aber auch dazu beigetragen haben,
dass es im Bereich der Züchtung zu erheblichen Fort-
schritten gekommen ist. Man muss diese Technologien
natürlich immer vor dem Hintergrund des ethischen An-
spruches, den man hat, prüfen.

Ich glaube, angesichts dessen, was wir dort erreicht
haben, braucht man gerade im Bereich der Zucht kein
Klonen mehr. Kühe erreichen heute in Deutschland eine
jährliche Durchschnittsleistung von 8 000 bis 9 000 Li-
tern. Das Zuchtziel beträgt 10 000 Liter Milch mit 4 Pro-
zent Fett und 3 bis 4 Prozent Eiweiß; andere Länder sind
in Teilen ein wenig weiter. Ich glaube, vor diesem Hin-
tergrund wird deutlich, dass wir diese Technologie mit
Sicherheit nicht brauchen, um die Leistung zu steigern.
Im Gegenteil: Wenn wir diese Technologie einsetzen,
dann schränken wir die genetische Vielfalt weiter ein,
die in der Rinderzucht eh schon stark eingeschränkt ist;
wir sehen einen hohen Inzuchtgrad. Auch in anderen Be-
reichen, in denen entsprechend intensive Zuchten betrie-
ben werden, etwa im Bereich der Pferdezucht, ist das
durchaus erkennbar. Das können und müssen wir nicht
dauerhaft so hinnehmen. Ich glaube, gerade die Vielfalt
ist notwendig, wenn wir auch für die nächsten Genera-
tionen Optionen offenhalten wollen.

Deshalb ist die klare Kennzeichnung von Produkten,
die von solchen Klonen stammen, und von Lebensmit-
teln, die mit Klonfleisch hergestellt wurden, essenziell
und wichtig. Das Verbot sollte nicht – wie jetzt disku-
tiert – nur befristet, für fünf Jahre, gelten, sondern
grundsätzlich,


(Beifall der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD])

damit jedem klar ist, wofür wir in der Europäischen
Union stehen. Die Gründe dagegen, etwa die Angst vor
Wettbewerbsverfahren im Rahmen der WTO, finde ich
nicht richtig. Das Urteil zur Nichteinfuhr von Robben-
fellen wurde damit begründet, dass sozioökonomische
Aspekte durchaus ein gewichtiger Grund sind, so etwas
zu verhindern. Es geht hier um die gleiche Größenord-
nung wie beim Verbot des Imports von Hormonfleisch.
Deshalb bin ich guten Mutes und der festen Überzeu-
gung, dass es uns gelingen wird, das Verbot im Sinne der
Tiere, im Sinne der Vielfalt und im Sinne des Tierschut-
zes in Europa umzusetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810406000

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Nicole

Maisch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810406100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Debatten zur Tierhaltung und zur Tierzucht in diesem
Haus sind normalerweise Debatten, in denen ein tiefer
Graben zwischen Herrn Ebner und Herrn Stier, zwischen
Grünen und Schwarzen verläuft. Umso mehr freue ich
mich, dass von der heutigen Debatte ein klares Signal
gegen das Klonen von Nutztieren nach Europa gesendet
wird. Das ist ein gutes Zeichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich möchte Gitta Connemann für ihre sehr klaren
Worte am Anfang dieser Debatte danken. Sie hat zum
Ausdruck gebracht, was viele von uns hier bewegt. Ich
möchte aber auch der Linken dafür danken, dass sie sich
nicht auf kleinliche Parteipolitik eingelassen hat, son-
dern dass sie den gemeinsamen Antrag von CDU/CSU,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen unterstützt, auch wenn
sie nicht in der Überschrift steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem vorliegenden Antrag, über den wir später ab-
stimmen werden, sprechen wir für die Mehrheit der
Menschen in unserem Land, die Klonfleisch auf ihrem
Teller ablehnt und der der Tierschutz ein Herzensanlie-
gen ist. Wir sprechen für die Umwelt- und Verbraucher-
verbände, für das EU-Parlament und sogar für den Deut-
schen Bauernverband, die sich schon seit Jahren klar
gegen das Klonen aussprechen. Ich möchte an dieser
Stelle besonders den christlichen Kirchen danken, die
sich in diesem Zusammenhang immer wieder ethisch
sehr klar positioniert haben.

Das Klonen von Nutztieren ist ein einziger Tier-
schutzskandal. Hinter jedem lebensfähigen geklonten
Tier stecken unzählige tote und kranke Wesen, die bei
dieser Technik als Abfall, als Ausschuss hingenommen
werden. Diese Tiere leiden unter Organmissbildungen,





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)

Immunschwächen, Blutarmut, Herzkrankheiten oder Le-
berversagen. Die Sterblichkeit von Föten und neugebo-
renen Tieren ist mit über 90 Prozent gigantisch hoch.

Wenn man sich für den Tierschutz einsetzt, dann sieht
man einiges an widerlichen Bildern und Videoaufnah-
men. Aber die Bilder von diesen riesigen Föten, die ihre
Muttertiere mehr oder weniger sprengen – ich muss sa-
gen, das waren die verstörendsten Abbildungen, die ich
in meiner Karriere als Tierschutzpolitikerin gesehen
habe. Das können und wollen wir nicht hinnehmen.


(Beifall im ganzen Hause)


Wenn diese kleinen Klone es lebendig auf die Welt
schaffen, dann haben die meisten von ihnen Schwierig-
keiten beim Atmen, beim Stehen, und sie trinken nicht
ordentlich. Das heißt, die Anzahl von Klonen, die wirk-
lich lebensfähig auf die Welt kommen, ist sehr gering.
Das allein ist ein gutes Argument gegen diese Technolo-
gie.

Man muss sich immer überlegen: Wie kann man die
Ernährung von 10 Milliarden Menschen auf diesem Pla-
neten sichern? Mit welchen Techniken? Auf welche
Praktiken wollen wir setzen? Die Frage ist auch: Wie
schaffen wir bezahlbare Nahrung für alle? Technologien
wie das Klonen, aber auch die Grüne Gentechnik sind
nicht zukunftsweisend. Sie führen nicht dazu, dass alle
Menschen auf diesem Planeten Zugang zu Nahrung ha-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir meinen: Das Klonen ist ein bizarrer Irrweg, der
die Industrialisierung der Tierhaltung auf die Spitze
treibt, einerseits durch die Respektlosigkeit gegenüber
den Tieren – die Christen unter Ihnen würden sagen:
zwischen dem Mitgeschöpf Tier und uns –, andererseits
durch die Verarmung der genetischen Vielfalt und die
Patentierung und Monopolisierung unserer gemeinsa-
men Lebensgrundlagen, unseres Menschheitserbes.

An dieser Stelle möchte ich alle aufrufen: Wir müssen
die Artenvielfalt erhalten und fördern. Wir dürfen sie
nicht künstlich begrenzen und verstümmeln. Wir können
doch nicht zulassen, dass das Leben selbst in seiner Viel-
falt, in seiner Schönheit in die Hände einzelner Kon-
zerne gegeben wird, dass es patentiert, verarmt, verengt
und geklont wird. Das können wir nicht wollen.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die am
vorliegenden Antrag mitgearbeitet haben, dass wir trotz
einiger Auseinandersetzungen Einigkeit erzielt haben.
Daraus ergibt sich ein klarer Handlungsauftrag an die
Bundesregierung, wenn sie in Brüssel im Rat verhandelt:
Wir wollen ein Verbot von Klonen in der Europäischen
Union. Wir wollen keine Produkte von Klontieren, keine
Embryonen, kein Sperma, kein Fleisch und keine Milch
ungekennzeichnet in der Europäischen Union. Wir er-
warten vom Landwirtschaftsminister, dass er ganz klar
Kante zeigt.
Ich möchte auch darauf hinweisen: Auch wenn es in
Europa das Klonen von Landwirtschaftstieren, soweit
wir wissen, nicht gibt, jenseits des Atlantiks wird es
durchaus angewandt. Man sollte sich schon die Frage
stellen, wie Sie die TTIP-Verhandlungen zu einem guten
Ende bringen wollen, ohne dass zum Beispiel vor
Schiedsgerichten eine Klonkennzeichnung als Handels-
hemmnis beklagt wird. Das sind Fragen, die wir für den
Landwirtschafts- und Nahrungsmittelbereich im Kontext
des Freihandelsabkommens klären müssen, wenn man
den europäischen Verbraucherinnen und Verbrauchern
versprechen will: kein Klonfleisch auf euren Tellern.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810406200

Vielen Dank. – Als nächster Redner in der Debatte hat

Artur Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Artur Auernhammer (CSU):
Rede ID: ID1810406300

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-

men und Herren ! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Sänger Max Raabe brachte 2002 eine Single heraus, mit
der er einem gesellschaftlichen Irrtum zu einer hohen
Popularität verhalf. Ich zitiere: „Klonen kann sich loh-
nen“. Wir haben jetzt in dieser Debatte mitbekommen:
Klonen kann sich nicht lohnen, und Klonen wird sich
nicht lohnen. Gerade ist bereits von meiner Kollegin
Gitta Connemann ausgeführt worden, welche negativen
Herausforderungen uns hier entgegenstehen.

Ich möchte das Thema hier, nachdem bereits zwei Ve-
terinärmediziner gesprochen haben, einmal aus Sicht des
Rinderzüchters erläutern. Nehmen wir einmal an, ein in-
ternational tätiger Konzern hat eine Spitzenfärse oder ei-
nen Zuchtbullen, der besonders gute Leistungszahlen
hat, der gute Merkmale vererbt. Auch dem besten Bullen
geht im hohen Alter, wenn er vielleicht schon 1 Million
Spermaportionen produziert hat, irgendwann einmal die
Luft aus. Also hat dieser Konzern vielleicht Interesse da-
ran, aus diesem Bullen einen Klon herzustellen, auch mit
dem notwendigen finanziellen Aufwand.

Aber unter Rinderzucht verstehe ich in erster Linie,
dass Bäuerinnen und Bauern in ihren Rinderhaltungsbe-
trieben die Zucht betreiben und dies nicht in die Hände
großer Konzerne legen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In meiner bayerischen Heimat gibt es zum Beispiel den
Besamungsverein Neustadt an der Aisch. Dieser Besa-
mungsverein hat bereits einen internationalen Ruf, wenn
es darum geht, hornlose Tiere zu züchten. Das hat nichts
mit Klontechnologie zu tun, sondern damit, dass wir in
unserer Genossenschaft Mitgliedsbetriebe haben, die
sich dieser Zucht leidenschaftlich hingeben, die sich mit





Artur Auernhammer


(A) (C)



(D)(B)

ihren Tieren befassen, die sich Anpaarungen heraussu-
chen, um dieses Ziel zu erreichen. Hier muss ich einmal
das hohe Engagement unserer Jungzüchterklubs, die im
ganzen Land unterwegs sind, erwähnen. Diese jungen
Menschen sind mit großer Leidenschaft in ihren Betrie-
ben tätig. Sie wollen erfolgreich züchten, sie wollen
selber die Wertschöpfung ihrer züchterischen Arbeit er-
halten und die Züchtung nicht irgendwelchen Großkon-
zernen überlassen. Das gilt es auch bei dieser Debatte zu
würdigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD])


Wir fordern deshalb ein klares Verbot des Klonens
von Tieren zur Nahrungsmittelproduktion. Wenn wir die
Nahrungsmittelproduktion bei uns im Land ernst neh-
men und wertschätzen, kann es nur dieses Verbot geben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist bereits ausgeführt worden, welchen großen
Schmerz diese Technologie für die Tiere zur Folge hat,
wie unwahrscheinlich viele Embryonen und Föten hier
im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleiben
und wie viele Missbildungen es gibt. Es kann nicht sein,
dass wir dies auch noch fördern. Deshalb ist es notwen-
dig, dass wir eine klare Kennzeichnung von Klonfleisch
fordern, wenn dies im Umlauf sein sollte. Hier brauchen
wir eine europäische Lösung. Hier ist die Bundesregie-
rung aufgefordert. Heute werden wir die Bundesregie-
rung mit einem eindeutigen Votum darin bestärken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])


Ich möchte aber – Frau Connemann hat es bereits er-
wähnt – den wissenschaftlichen Teil nicht unerwähnt
lassen. Viele von uns haben vielleicht im Bekanntenkreis
Menschen, die an Krankheiten leiden, denen bereits eine
Herzklappe von einem Schwein eingesetzt worden ist
oder die Insulin aus tierischer Herkunft bekommen. Wir
dürfen die wissenschaftliche Begleitung hier nicht aus
der Hand geben. Wir selbst müssen auf der wissenschaft-
lichen Seite am Ball bleiben, wenn es darum geht, das
Thema wissenschaftlich weiter voranzubringen, aber
nicht im Sinne eines kommerziellen Klonens.

Auch die TTIP-Verhandlungen sind angesprochen
worden. Gerade vor diesem Hintergrund, liebe Kollegin
Maisch, ist es wichtig, dass wir heute hier im Bundestag
ein klares Votum an die Verhandlungsführer aussenden,
dass wir in Deutschland kein Klonfleisch wollen. Des-
halb begrüße ich diese parteiübergreifende Initiative.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es geht aber nicht nur um wissenschaftliche und wirt-
schaftliche, sondern auch um ethische Aspekte, die für
mich hier im Vordergrund stehen: Was darf der Mensch
alles machen? Was soll sich der Mensch in seiner ethi-
schen Verantwortung für Rechte herausnehmen? –
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Klonen gehört
für mich nicht dazu; das will ich hier klar und deutlich
sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb: Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten,
dass in Deutschland weiterhin von unseren Bäuerinnen
und Bauern hervorragend produziertes Rindfleisch und
hervorragend produziertes Schweinefleisch und Geflü-
gelfleisch gegessen wird, aber kein Klonfleisch.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810406400

Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte

hat Christina Jantz von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christina Jantz (SPD):
Rede ID: ID1810406500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Schülerinnen und Schüler! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Zu Beginn meiner Rede möchte
ich ausdrücklich betonen, wie wichtig es ist, dass wir
Abgeordnete des Bundestages gemeinsam und geschlos-
sen gegen landwirtschaftliche Klontiere in der EU auf-
treten. Daher ist es ein besonders gutes Zeichen, dass
dieser Antrag sowohl von den Regierungsfraktionen,
SPD und Union, als auch von der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf den Weg gebracht wurde. Natürlich wäre
eine Einbringung durch alle Fraktionen des Hauses auch
aus meiner Sicht wünschenswert gewesen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der Europäischen Union werden aktuell keine Tiere
zu landwirtschaftlichen Zwecken oder zur Erzeugung
von Lebensmitteln geklont. Jedoch ist es zurzeit nicht
auszuschließen, dass bereits Nachkommen von geklon-
ten Tieren für die Nutztierzucht und für die Lebensmit-
telproduktion verwendet werden. Meine Damen und
Herren, die europäische Bevölkerung und auch die Men-
schen in Deutschland lehnen das Klonen von Tieren, um
mit ihnen Lebensmittel zu erzeugen, strikt ab. Das ist un-
ser Handlungsauftrag. Ihm werden wir heute gerecht.

Klonen ist nicht nur ethisch zutiefst fragwürdig, son-
dern es ist auch für die Tiere gefährlich und offenbart
eine aus meiner Sicht wirklich furchtbare Möglichkeit
der Wissenschaft. Es bestehen erhebliche Risiken für die
geklonten Tiere – das ist bereits angeklungen – und
ebenso für die Ersatzmuttertiere. Weit über 80, ja teil-
weise deutlich über 90 Prozent der geklonten Tiere ster-
ben vor, während oder auch nach der Geburt. Den Tod
von Tieren für die Herstellung von Lebensmitteln auf
diese Weise billigend in Kauf zu nehmen, finde ich mo-
ralisch absolut verwerflich. Nicht alles, was wissen-
schaftlich möglich ist, sollten wir Menschen tun. Das





Christina Jantz


(A) (C)



(D)(B)

Klonen von Tieren, um mit ihnen Lebensmittel zu erzeu-
gen, gehört eindeutig nicht dazu.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand tatsächlich
Nahrungsmittel essen oder trinken möchte, wenn er um
die grausame Vorgeschichte des Tierleidens weiß. Ein
vertretbarer Nutzen für unsere Verbraucherinnen und
Verbraucher ist für mich hierbei absolut nicht zu erken-
nen. Daher brauchen wir dringend ein dauerhaftes Ver-
bot des Klonens von Tieren zur Nahrungsmittelproduk-
tion und ein entsprechendes Import- und – auch das
klang bereits an – Zuchtverbot. Der Vorschlag der EU-
Kommission, diese Verbote nur vorläufig auszuspre-
chen, genügt hierbei nicht.

Insgesamt ist aus meiner Sicht auch ein Verbot auf
internationaler Ebene notwendig, zum Beispiel auf der
Ebene der Welthandelsorganisation. Zudem brauchen
wir strengste Pflichten zur Kennzeichnung von geklon-
ten Tieren, deren Fleisch und deren Zuchtmaterial, um
einen schleichenden Einzug von geklonten Tieren zu
stoppen. Als Deutscher Bundestag sind wir nun gefor-
dert, ein klares Zeichen gegen das Klonen von Tieren zur
Nahrungsmittelproduktion zu setzen und den Ball damit
wieder auf das Spielfeld der EU zu bringen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für
Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810406600

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir

kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktio-
nen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/4808 mit dem Titel „Kein Klon-
fleisch in der EU – Für mehr Tier- und Verbraucher-
schutz“, hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gibt es jemanden, der
dagegen stimmt? – Gibt es jemanden, der sich enthält? –
Nein. Dann ist dieser Antrag einstimmig angenommen
worden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Sevim Dağdelen, Caren
Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenk-
tag werden

Drucksache 18/4333

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.

Wenn sich die Kolleginnen und Kollegen gesetzt ha-
ben, kann ich die Aussprache eröffnen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke das
Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810406700

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Wir waren heute Morgen alle dabei:
Bundestagspräsident Lammert eröffnete die Gedenk-
stunde mit dem Zitat:

Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.

Wie gut, meine Damen und Herren, wäre es gewesen,
wenn er hätte fortfahren können: Und darum sind wir
uns alle einig, dass der 8. Mai ein gesetzlicher Gedenk-
tag sein muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Richard von Weizsäckers Rede zur Befreiung Deutsch-
lands vom Faschismus wurde von vielen Politikerinnen
und Politikern nach seinem Tod noch einmal als heraus-
ragend bewertet. Das sehen wir auch so. Und darum soll-
ten wir dieses Erbe endlich annehmen und nicht aus-
schlagen.

In Bayern, Hessen und Sachsen gibt es einen Gedenk-
tag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Ab diesem
Jahr soll es auch ein nationaler Gedenktag sein. Der Tag
der Befreiung wird nur in Mecklenburg-Vorpommern als
offizieller Gedenktag begangen. Das geht auf eine Initia-
tive der Linken zurück, als sie damals gemeinsam mit
der SPD in Mecklenburg-Vorpommern regierte.

Ich will Gedenktage nicht gegeneinander ausspielen,
aber ich finde, eine Gewichtung ist schon erforderlich.


(Beifall bei der LINKEN)


Im vergangenen Jahr wurde argumentiert: Wir begehen
doch den 27. Januar als den „Tag des Gedenkens an die
Opfer des Nationalsozialismus“ als nationalen Gedenk-
tag. Das ist richtig, wir wollen am 27. Januar der Opfer
des Faschismus gedenken. Aber wir wollen auch am
8. Mai an unsere Befreier erinnern und ihnen danken.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn die Befreiung vom Faschismus war für uns Deut-
sche die Voraussetzung für die Formulierung des Satzes
im Grundgesetz, Artikel 1:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Der 8. Mai, der Tag der Befreiung, ist das Schlüssel-
erlebnis der Deutschen im 20. Jahrhundert. Das, meine
Damen und Herren, sollte uns einen offiziellen Gedenk-
tag wert sein.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Für Feierlichkeiten haben die Linken immer eine Idee!)






Dr. Gesine Lötzsch


(A) (C)



(D)(B)

Wir Linke werden diesen Tag immer feierlich begehen.
Gestern hatte die Fraktion Die Linke zu einer Gedenk-
veranstaltung zum Tag der Befreiung in das Paul-Löbe-
Haus eingeladen. Über 700 Menschen kamen. Es wären
gern mehr gekommen, aber die Kapazitäten waren aus-
geschöpft.

Für mich war eine forsa-Umfrage sehr beeindru-
ckend: Die große Mehrheit der Deutschen ist der Mei-
nung, der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.
89 Prozent stimmten dieser Aussage zu.

Auch die Bereitschaft, über Kriegserlebnisse zu spre-
chen, ist gestiegen. Auch das bestärkt uns in der Forde-
rung nach einem gesetzlichen Gedenktag. Wir wollen,
dass sich die Menschen mindestens an einem Tag im
Jahr die Zeit nehmen, um über die Ursachen des Zweiten
Weltkrieges zu diskutieren und der über 50 Millionen
Opfer zu gedenken. Gerade Deutschland muss sich ver-
pflichten, Vorreiter bei der Lösung von Konflikten mit
friedlichen Mitteln zu sein. Das ist eine Kernforderung
der Linken.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein gesetzlicher Feiertag wäre auch ein Zeichen an
die Frauen und Männer der alliierten Armeen, die
Deutschland befreit haben. Unter ihnen waren auch
Deutsche, wenige zwar, aber es gab sie. Heute Morgen
war als Gast in der Gedenkstunde einer der letzten leben-
den Deutschen, der in der Résistance gekämpft hat:
Erhard Stenzel. Auch an diese Kämpfer wäre es ein Zei-
chen. Darum bitte ich Sie im Namen der Fraktion Die
Linke: Stimmen Sie unserem Antrag zu!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810406800

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Herr Dr. Tim

Ostermann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Tim Ostermann (CDU):
Rede ID: ID1810406900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute vor 70 Jahren hat die deutsche Wehrmacht bedin-
gungslos gegenüber den Alliierten kapituliert. Ein sechs-
jähriger Weltkrieg fand damit in Europa sein Ende. An
diesem Krieg waren mehr als 60 Staaten beteiligt. Mehr
als 50 Millionen Menschen – wir haben es eben schon
gehört – sind ihm zum Opfer gefallen. Am 8. Mai 1945
war dieser grauenvolle Krieg endlich beendet. Das Töten
hörte auf.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete die mili-
tärische Niederlage Deutschlands. Mit dem Ende des
Krieges ging aber auch das Ende der NS-Diktatur einher.
Zwölf Jahre lang haben die Nationalsozialisten Deutsch-
land und Europa mit ihrer Schreckensherrschaft terrori-
siert. Wer nicht in das Idealbild der Nationalsozialisten
passte, wurde verfolgt, drangsaliert, getötet. Der traurige
und auch heute noch schwer zu fassende Tiefpunkt war
dabei der Holocaust. Über 6 Millionen Menschen jüdi-
schen Glaubens wurden von den Nationalsozialisten sys-
tematisch und auf bestialische Weise ermordet.

Anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung der
Konzentrationslager haben wir viele Zeitzeugenberichte
hören können, die das Grauen noch einmal anschaulich
machten. Magda Hollander-Lafon, eine Überlebende des
Konzentrationslagers Auschwitz, berichtete vor einigen
Monaten in der Süddeutschen Zeitung Folgendes:

Der Gestank von verbranntem Fleisch war uner-
träglich. Wir wurden gedemütigt und mit Peitschen
geschlagen. Die Nazis haben mit uns gemacht, was
ihnen in den Sinn kam. Ziel war, dass wir schnellst-
möglich draufgingen. Das übersteigt jegliche Vor-
stellungskraft. Wir waren bereit zu sterben. Ich
hatte akzeptiert, dass es so sein sollte. Der Tod war
Realität, genau wie der Hass und die Angst.

Wenn ich diese und andere Berichte von Zeitzeugen
höre, besteht für mich kein Zweifel daran, dass der Un-
tergang des NS-Regimes für die Menschen in Europa
eine Befreiung war, und es besteht kein Zweifel daran,
dass das Ende des Zweiten Weltkrieges auch für die
Deutschen eine Befreiung darstellte.

Es war keine Selbstbefreiung. Hieran hat unser Präsi-
dent in der heutigen Gedenkveranstaltung erinnert. Es
bedurfte der Befreiung von außen. Hierfür sind wir den
Alliierten gerade an diesem 70. Jahrestag zu außeror-
dentlichem Dank verpflichtet.

Was dem 8. Mai 1945 folgte, brachte jedoch nicht für
jeden Freiheit. Im Westen setzte sich die Befreiung fort.
Entnazifizierung und Demokratisierung: Unter diesen
Stichworten wurde in den westdeutschen Besatzungs-
zonen ein Neuanfang ermöglicht. Diejenigen, die sich an
den bestialischen Verbrechen des NS-Regimes beteiligt
hatten, wurden zur Rechenschaft gezogen und vor Ge-
richt gestellt, wenn auch leider nicht alle und teilweise
viel zu spät. Auch heute noch dauern die juristische Aus-
einandersetzung und die juristische Aufarbeitung dieser
schrecklichsten Periode der deutschen Geschichte an,
wie das Beispiel des Prozesses gegen Oskar Gröning vor
dem Landgericht Lüneburg zeigt.

Trotz der großen Schuld, die viele – viel zu viele –
Deutsche auf sich geladen hatten, gaben die westlichen
Alliierten den Deutschen in ihren Besatzungszonen eine
neue Perspektive, eine zweite Chance. Die westdeutsche
Gesellschaft wurde demokratisiert. Politische Stabilität,
Wohlstand und sozialer Ausgleich waren die Folge. Der
Schutz und die Achtung der Würde des Menschen wur-
den zur zentralen Verpflichtung des Staates, so wie es in
dem allerersten Artikel unseres Grundgesetzes zum Aus-
druck kommt. Mit Ende des Krieges wurde Westdeutsch-
land eine Entwicklung ermöglicht, die am 8. Mai 1945
keiner für möglich gehalten hätte.

Unsere Landsleute in der Sowjetischen Besatzungs-
zone empfanden den 8. Mai 1945 dagegen weit überwie-
gend nicht als Tag der Befreiung,


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)






Dr. Tim Ostermann


(A) (C)



(D)(B)

wohl als Tag der Befreiung von der NS-Gewaltherr-
schaft, nicht aber als Tag der Befreiung von Diktatur,
Unfreiheit und Unrecht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gabriele Fograscher [SPD] – Zuruf von der LINKEN: Buh!)


In den ersten Jahren nach Einrichtung der Sowjetischen
Besatzungszone wurden mehr als 120 000 Deutsche
ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. Zehntausende wurden
in die Sowjetunion deportiert, um dort in Zwangslagern
zu arbeiten. Mehr als 40 000 Deutsche kamen dort um.

Auf Geheiß der Sowjetunion wurde die sogenannte
Deutsche Demokratische Republik gegründet. Das ein-
gängigste Symbol für die Unfreiheit in der DDR


(Zuruf von der LINKEN: Alter Krieger!)


stellt der Bau der Berliner Mauer dar. Die Bürger Ost-
berlins und die in den übrigen Gebieten der DDR wur-
den buchstäblich eingemauert, damit sie dem Regime
nicht entfliehen konnten. Innerhalb von Zaun und Mau-
ern eingesperrt, mussten die DDR-Bürger die Exzesse
von Staat und Partei ertragen: Erschießung beim Ver-
such, die Grenze zu überqueren, Folter und Misshand-
lungen in den Gefängnissen,


(Widerspruch bei der LINKEN)


Ausforschung und Terrorisierung durch die Stasi, keine
Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit.


(Ulrich Freese [SPD]: Ihre Schwesterpartei hat mitgemacht!)


Für diejenigen, die in den Jahren danach unter Dikta-
tur, Unfreiheit und Unrecht litten, war der 8. Mai 1945
kein Tag der Befreiung.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist ja unglaublich!)


Die vollständige Befreiung der Deutschen in der DDR
trat erst am 9. November 1989 ein: mit dem Fall der
Mauer und des Eisernen Vorhangs.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Was ist denn das für ein Geschichtsbild?)


Ebenfalls nicht vergessen darf man die weit über
10 Millionen Vertriebenen, die nach 1945 die ehemali-
gen Ostgebiete des Deutschen Reiches verlassen muss-
ten. Ja, es ist richtig: Die Vertreibung stellt eine Folge
der Gewaltherrschaft des NS-Regimes und des von ihm
angezettelten Krieges dar. Unabhängig von der Frage der
Verursachung sollte man aber nicht verkennen, dass
durch die Vertreibung, aber auch durch Kriegsgefangen-
schaft millionenfaches Leid über die Menschen gebracht
wurde. Darum ist es nachvollziehbar, dass auch diese
Menschen den 8. Mai in erster Linie nicht als Tag der
Befreiung empfanden und empfinden.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ach so! Weiterhin den Faschismus! Das wäre besser gewesen!)

Keine Frage: Der 8. Mai ist ein Datum, das in der
deutschen Geschichte einen wichtigen Platz einnimmt.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist ja pfui!)


Daher wird in der Bundesrepublik jedes Jahr an das
Kriegsende erinnert, auch in diesem Plenarsaal. Lassen
Sie mich an dieser Stelle sagen: Ich finde, dass wir heute
Morgen herausragende und – im positiven Sinne – denk-
würdige Redebeiträge erleben durften.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie haben bloß nicht zugehört!)


Heinrich August Winkler gab uns mit auf den Weg
– ich zitiere ihn –:

Niemand erwartet von den Nachgeborenen, dass sie
sich schuldig fühlen angesichts von Taten, die lange
vor ihrer Geburt von Deutschen im Namen
Deutschlands begangen wurden. Zur Verantwor-
tung für das eigene Land gehört aber immer auch
der Wille, sich der Geschichte dieses Landes im
Ganzen zu stellen.

Am 8. Mai werden wir uns der Geschichte dieses
Landes in besonderer Weise bewusst. Ich möchte aber
auch daran erinnern, dass wir uns dessen alljährlich auch
am 27. Januar bewusst werden. Am 27. Januar 1945 be-
freite die Rote Armee das Konzentrationslager Ausch-
witz. An diesem Tag wird bundesweit der Opfer des Na-
tionalsozialismus gedacht. Die Initiative hierzu ging im
Jahr 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman
Herzog aus.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eigentlich von Antje Vollmer!)


Er proklamierte einen Gedenktag. Wir glauben, dass da-
neben kein weiterer gesetzlicher Gedenktag eingeführt
werden sollte.

Roman Herzog begründete seine damalige Initiative
wie folgt – ich zitiere ihn, und damit möchte ich schlie-
ßen –:

Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch
künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.
Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns
zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer
über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken
an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der
Wiederholung entgegenwirken.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810407000

Als nächster Redner hat Volker Beck von der Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810407100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Heinrich Böll sagte 1985:





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Ihr werdet die Deutschen immer wieder daran er-
kennen können, ob sie den 8. Mai als Tag der Nie-
derlage oder der Befreiung bezeichnen.

Ich finde, da sind wir 30 Jahre später ein gehöriges Stück
weiter. Heute konnte der Bundestagspräsident mit Zu-
stimmung und Applaus aus allen Fraktionen sagen: Der
8. Mai ist ein Tag der Befreiung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das ist ein Fortschritt, und das sollten wir festhalten.

Ich will hinzufügen: Es ist der Tag der Befreiung, und
ich bin den Befreiern dankbar – allen Befreiern: der Ro-
ten Armee, den Amerikanern, den Franzosen, den Bri-
ten, den Polen und allen, die daran mitgewirkt haben,
auch den deutschen Widerstandskämpfern, die gemein-
sam mit den Alliierten den Hitler-Faschismus niederge-
rungen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Dankbarkeit ist nicht selbstverständlich im Ho-
hen Hause. Ich habe gerade am Donnerstag im Fernse-
hen eine CDU-Kollegin, Frau Steinbach, gehört, der das
Wort Dankbarkeit immer noch nicht über die Lippen ge-
hen will.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Auch heute nicht!)


Herr Ostermann, ich fand an dieser Stelle auch Ihre
Rede nicht angemessen.


(Beifall der Abg. Ulrich Freese [SPD] und Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Der 8. Mai war eine Zäsur und eine Befreiung auch für
die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang. Der Holo-
caust war zu Ende. Das massenhafte, systematische und
rassebiologisch begründete Morden hatte damit in Eu-
ropa ein Ende. Das war eine Befreiung für alle Men-
schen, die darunter zu leiden hatten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU)


Ich will nichts kleinreden. Meine Mutter ist beim
17. Juni 1953 dabei gewesen und aus der DDR geflohen.
Mein Vater wurde aus dem Sudetenland vertrieben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Dann wissen Sie doch, wie es war!)


Ich will nicht kleinreden, dass es danach Unfreiheit und
Unrecht gab. Aber das hatte eine andere Dimension als
der Hitler-Faschismus, unter dem Millionen Menschen
nicht nur in deutschem Namen, sondern auch von vielen
Deutschen ermordet wurden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Liebe Kollegen von der Linken, ich finde, wir müssen
sehr sorgfältig diskutieren, wenn es um Gedenkpolitik
geht. Ich möchte nicht, dass wir uns in Gedenkritualen
erschöpfen und dass dann kein wirkliches Gedenken
mehr stattfindet. Ich bin Antje Vollmer dankbar, dass sie
damals den Bundespräsidenten Herzog überzeugt hat,
den 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des National-
sozialismus zu proklamieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das ist wichtig und hat sich mittlerweile in der Gedenk-
kultur unseres Landes tief verankert und verwurzelt.

Bevor wir Ihren Antrag annehmen – Sie stellen ihn
zum wiederholten Mal im Hohen Hause – und den 8.
Mai zum gesetzlichen Gedenktag erheben, müssten wir
darüber reden, was wir an diesem Tag tatsächlich ma-
chen würden und was wir anders machen würden. Wir
können nicht mehrmals im Jahr die gleichen Veranstal-
tungen durchführen. Dann erschöpft es sich und verliert
seine Ausstrahlungskraft. Es gibt sicherlich Wichtigeres,
als weitere Gedenktage zu proklamieren. Andere mögli-
che Gedenktage wären der Kriegsbeginn, der Anschluss
des Sudetenlandes und das Desaster des Münchner Ab-
kommens. Das alles sind Meilensteine des Unrechts im
20. Jahrhundert. Auch dessen könnte man gedenken,
weil die Ereignisse an diesen Tagen mit in die Katastro-
phe geführt haben, die schließlich am 8. Mai 1945 en-
dete.

Ich meine, dass eine andere Aufgabe viel wichtiger
ist. Wenn wir uns genau anschauen, wessen wir geden-
ken, dann stellen wir fest, dass wir Lücken in unserem
Gedenken haben. Es gab viele Millionen Tote im Zwei-
ten Weltkrieg. Den größten Blutzoll haben die Völker
der ehemaligen Sowjetunion und die Polen zu zahlen ge-
habt. Die Sowjetunion hatte 14 Millionen tote Zivilisten
und 13 Millionen tote Soldaten zu beklagen. Die zweit-
größte Opfergruppe des systematischen, rassistischen
Ermordens ist noch immer ein dunkler Fleck in unserem
Gedenken. Neben 6 Millionen Juden wurden im Deut-
schen Reich 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene
ermordet. Ich frage Sie: Wo haben wir als Bundestag an-
erkannt, dass das nationalsozialistisches Unrecht ist? Wo
ist ein Denkmal für diese ermordeten Menschen? Diese
Menschen wurden rassebiologisch begründet ermordet
und wurden nicht wie die westalliierten Kriegsgefange-
nen behandelt, für die die Genfer Konventionen galten.
Diese Konventionen wurden für diese Kriegsgefangenen
systematisch ausgesetzt. Diese Menschen verhungerten
und erfroren, wurden totgeschlagen und krepierten an
Krankheiten elendig, weil das von den Nazis so gewollt
und verordnet war. Deshalb bin ich dem Bundespräsi-
denten dankbar, der diese Woche gesagt hat:

Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte
Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in
Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein ge-
kommen – es liegt bis heute in einem Erinnerungs-
schatten.

Wir haben heute in vielen Reden gesagt – so auch der
Bundestagspräsident und unser Gastredner Professor
Winkler in der Gedenkfeier –, dass die Verantwortung,





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

die wir für die Vergangenheit tragen, bedeutet, dass wir
uns der Vergangenheit stellen müssen. Diesem Unrecht
müssen wir uns noch stellen. Deshalb fordere ich Sie
auf, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition:
Lassen Sie uns in diesem Jahr endlich feststellen, dass
die sowjetischen Kriegsgefangenen Opfer nationalsozia-
listischen Unrechts waren. Lassen Sie uns ihnen mit ei-
ner humanitären Geste die Hand zur Versöhnung rei-
chen. Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie wir dieses
Unrechts angemessen gedenken. Das ist mir wichtiger
als ein weiterer Gedenktag.

Ich kann Ihnen sagen: Wir haben am Mittwoch da-
rüber in der Bundesstiftung „Denkmal für die ermorde-
ten Juden Europas“ diskutiert. Der Beirat schlägt vor,
dass man sich dieses Themas annimmt. Ich finde, wir
sollten uns als Bundestag diesen Fragen gemeinsam öff-
nen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810407200

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Gabriele

Fograscher von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1810407300

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir haben diesen 8. Mai heute mit einer Gedenk-
stunde begonnen und beenden die Plenarsitzung heute
mit der Diskussion zum 8. Mai. Auch wenn wir dem An-
trag der Linken nicht zustimmen werden – das muss ich
leider sagen, Herr Ostermann: ganz ausdrücklich nicht
mit der Begründung, die Sie genannt haben; ich werde
das nachher ausführen –, gibt er doch Gelegenheit, die
Bedeutung dieses Tages nochmals zu beleuchten.

Es hat lange gedauert – Professor Dr. Winkler hat das
heute Morgen ausgeführt –, bis der 8. Mai 1945 als „Tag
der Befreiung“ bezeichnet und begriffen wurde. Es war
Richard von Weizsäcker im Jahr 1985, der damals
– auch danach nicht unumstritten – diesen Begriff
prägte. Gerade in diesem Jahr, zum 70. Jahrestag, gab
und gibt es um dieses Datum viele würdige, zum Nach-
denken anregende Veranstaltungen: Gedenkveranstal-
tungen in den KZ-Gedenkstätten oder die Eröffnung des
NS-Dokumentationszentrums in München, die Gedenk-
stunde heute Morgen oder die Debatte gestern zum
Thema „50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel“.

Ein Gedenktag würde der Herausforderung des Erin-
nerns und Gedenkens, der aktiven Auseinandersetzung
mit aktuellem Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextre-
mismus, Ausgrenzung, Intoleranz und Vorurteilen nicht
gerecht.

Wie bitter notwendig diese aktive Auseinanderset-
zung auch heute noch ist, zeigt sich ganz aktuell. In die-
ser Woche wurde die Polizeiliche Kriminalstatistik
veröffentlicht. Sie weist erneut Straftaten mit rechts-
extremistischem, fremdenfeindlichem, antisemitischem
Hintergrund auf erschreckend hohem Niveau aus. Die
Vorfälle in Tröglitz, wo ein gewählter Bürgermeister be-
droht und angefeindet wird und sein Amt aufgibt, der or-
ganisierte Angriff von Neonazis auf eine DGB-Veran-
staltung am 1. Mai in Weimar und schließlich die
Razzien und das Aufdecken der sogenannten OSS, der
„Oldschool Society“, offenbar eine rechte Terrorgruppe
– alles Vorfälle der letzten Wochen.

Wichtiger als ein Gedenktag ist es für uns deshalb,
Programme, Projekte und Initiativen zu unterstützen, die
sich aktiv für Demokratieförderung und Demokratiestei-
gerung, die sich aktiv für Toleranz, Respekt und ein gu-
tes Miteinander engagieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die gibt es; aber leider manchmal nicht genug im Blick
der Öffentlichkeit.

Ich konnte zum Beispiel in der letzten Woche Preis-
träger des Wettbewerbs „Aktiv für Demokratie und Tole-
ranz“ auszeichnen. Der Wettbewerb wird jedes Jahr vom
Bündnis für Demokratie und Toleranz ausgerichtet und
rückt das vielfältige Engagement von Bürgerinnen und
Bürger in den Mittelpunkt. Die Preisträger leisten vor
Ort – fantasievoll und kreativ – wertvolle Präventions-
arbeit. Für das Familienministerium konnten wir als Ko-
alition das Programm „Demokratie leben!“ weiter finan-
ziell aufstocken. Das Programm des Innenministeriums
„Zusammenhalt durch Teilhabe“ leistet gute Arbeit. Die
Bundeszentrale für politische Bildung, die politischen
Stiftungen: Sie alle leisten – ausgestattet mit Mitteln des
Bundes – einen unverzichtbaren Beitrag zur Geschichts-
aufarbeitung und zur Demokratiestärkung.

Ich erwarte auch von dem eingesetzten Expertengre-
mium Antisemitismus ganz konkrete Vorschläge, wie
wir dem Phänomen des Antisemitismus, des Rechts-
extremismus und der Intoleranz noch wirksamer und er-
folgreicher entgegentreten können.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Vorschläge der ersten Runde sollten wir jetzt auch einmal umsetzen!)


Politik und Zivilgesellschaft müssen aktiv, wachsam
und engagiert die Auseinandersetzung mit den Feinden
der Demokratie führen, sich für Demokratie einsetzen –
und das tagtäglich und nicht nur an einem Gedenktag.
Das ist die Lehre, das ist die Verantwortung, die aus dem
Gedenken und Erinnern an den 8. Mai, den Tag der Be-
freiung, für uns und die Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland erwächst.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810407400

Vielen Dank. – Wir kommen zur Abstimmung über

den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache
18/4333 mit dem Titel „Tag der Befreiung muss gesetzli-
cher Gedenktag werden“. Wer stimmt für diesen Antrag?





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(B)

– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist
dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 20. Mai 2015, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.