Gesamtes Protokol
Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet – nach einemsehr beeindruckenden ersten Teil am heutigen 8. Mai inunserem Bundestag.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe zu der Unter-richtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über die deut-sche humanitäre Hilfe im Ausland 2010 bis2013Drucksachen 18/2900, 18/3108 Nr. 2, 18/4416Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Kein Wider-spruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort als ers-tem Redner Christoph Strässer, dem Beauftragten derBundesregierung für Menschenrechtspolitik und Huma-nitäre Hilfe.
Christoph Strässer, Beauftragter der Bundesregie-rung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich schwierig, andiesem 8. Mai nach dieser beeindruckenden Veranstal-tung sofort wieder zur Tagesordnung überzugehen. Ichglaube aber, dass das heute ganz wichtig ist; denn derTagesordnungspunkt, über den wir jetzt sprechen, ist ge-prägt von Bildern und Meldungen, die wir eigentlichnicht mehr sehen wollten: Bilder von Vertreibung, vonFlucht, von gepeinigten Menschen weltweit.Wenn man sich die Zahlen vergegenwärtigt, die derUNHCR, der Hohe Flüchtlingskommissar der VereintenNationen, veröffentlicht hat, geht es dabei um mittler-weile 56 Millionen Menschen weltweit, Menschen, dieauf der Flucht oder Vertriebene im eigenen Land sind,weil Krieg und gewaltsam ausgetragene Konflikte wie inSyrien, im Irak, im Jemen, im Südsudan oder in der De-mokratischen Republik Kongo ihr Leben bedrohen oderihre Lebensgrundlagen zerstören. Es ist die höchste Zahlseit der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges.Auch die Zahl der Naturkatastrophen nimmt ständigzu. Das Erdbeben vom 25. April in Nepal mit seinen dra-matischen Auswirkungen, von denen mehr als 8 Millio-nen Menschen betroffen sind, stellt die Helfer und Hel-ferinnen vor massive logistische Herausforderungen. Esgibt auch immer wieder lokale Katastrophen, die wir inunserem Land und auf unserem Kontinent überhauptnicht zur Kenntnis nehmen.Wenn man das in Zahlen ausdrücken will, dann heißtdas, dass der weltweite Bedarf an humanitärer Hilfe seit2009 von knapp 10 Milliarden US-Dollar auf über19 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015 angestiegen ist.Der Bundestag hat dem mit einer deutlichen Mittelerhö-hung Rechnung getragen. Es ist gut, dass wir nicht nurund nicht immer wieder von außerplanmäßigen Haus-haltsmitteln Gebrauch machen müssen, sondern dass mitdem für dieses Jahr verabschiedeten Haushalt circa400 Millionen Euro für Hilfsprogramme zur Verfügunggestellt werden. Ich glaube, das ist ein ganz wichtigerBeitrag zu besserer Planbarkeit und damit Effizienz vonhumanitärer Hilfe.
Wir haben auch in den Strukturen der humanitärenHilfe in den letzten Jahren gravierende und wichtigeVeränderungen durchgeführt. Der Bericht, über den wirheute reden, zeigt im Hinblick auf das Spektrum der Kri-sen auf, dass die Krisen langandauernd und bleibendsind. Sie haben seit 2013 auch nicht haltgemacht. Im Ge-genteil: Inzwischen sind in Syrien mehr als 12 MillionenMenschen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, auf hu-manitäre Hilfe angewiesen. Weitere Krisen und Kon-flikte haben sich verschärft oder sind neu hinzugekom-men: Ebola, der Konflikt im Südsudan, die Krise in der
Metadaten/Kopzeile:
9928 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Beauftragter Christoph Strässer
(C)
(B)
Ukraine, der Vormarsch von ISIS im Irak, der Konfliktim Jemen, der Terror der Boko Haram.Das – es ist sicherlich schwer, das auszusprechen,aber wir müssen es zur Kenntnis nehmen – bedeutet,dass Krisen heute den Normalzustand darstellen, dasshumanitäre Hilfe mehr denn je gefordert ist, um den not-leidenden Menschen vor Ort zu helfen. Das ist eine derSchlussfolgerungen aus der Feststellung von Bundes-außenminister Steinmeier. Er hat gesagt: 2014 ist dieWelt ein Stück weit aus den Fugen geraten.Wir bemühen uns an vielen Stellen um politische Lö-sungen. Diese können humanitäre Hilfe aber nicht erset-zen. Denn humanitäre Hilfe kann die Menschen befähi-gen, auch in größter Not Würde und Selbstständigkeit zuwahren. Deshalb ist sie ein Markenzeichen unserer deut-schen Politik und insbesondere unserer deutschen Au-ßenpolitik.
Es hat die Vereinbarung zwischen den beteiligtenRessorts gegeben – das ist aus unserer Sicht eine wich-tige strukturelle Veränderung gewesen –, ab dem Jahr2012 die humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt zusam-menzuführen; das ist geschehen. Ich glaube, diese Struk-turveränderung hat sich nicht nur bewährt, sondern wirdmittlerweile auch von allen unseren Partnern als einegute und wichtige Grundlage für die weitere Arbeit indiesem Bereich angesehen; dies sollte nicht infrage ge-stellt werden.
Das bedeutet, dass humanitäre Ernährungshilfe mit an-deren Hilfsmaßnahmen verknüpft werden kann, zumBeispiel bei der Wasser- und der Sanitärversorgung.Dort können wir vorausschauender agieren und Sofort-hilfe mit der Stärkung von Kapazitäten vor Ort verbin-den.Humanitäre Hilfe bedeutet aber längst nicht mehr– das ist eine Erkenntnis, die viel zu spät gekommen ist –nur schnelles Reagieren, wenn Krisen über uns herein-brechen. Schnelles Reagieren ist sicherlich wichtig, wiedas Erdbeben in Nepal gerade gezeigt hat. Aber gleich-zeitig bedeutet verantwortungsvolle humanitäre Hilfeauch und gerade – das ist vielleicht in Zukunft wichtiger –,vorausschauend zu agieren, Planbarkeit von humanitärerHilfe in komplexen Krisen zu gewährleisten und nega-tive Folgen potenzieller Krisen abzumildern. In Syrienund in den Nachbarländern beginnt dieses Konzept zugreifen. Dort machen wir uns für mehrjährige Pro-gramme stark, die Nothilfe mit der Förderung der Selbst-ständigkeit von Flüchtlingen verbinden, zum Beispieldurch Cash-Programme, die helfen, nationale Märkteaufzubauen. Ich glaube, dass die Berliner Flüchtlings-konferenz vom Herbst letzten Jahres hierfür einen wich-tigen Maßstab gesetzt hat, der international anerkanntwird. Auch auf internationaler Ebene gehen die Bemü-hungen um die Veränderung bzw. die Verbesserung derhumanitären Hilfe weiter. Die Experten sprechen von ei-nem Paradigmenwechsel, hin zu strategisch-voraus-schauender humanitärer Hilfe und zur Förderung vonQualität und Effizienz.Frühzeitig haben wir – ich glaube, das wird eine derHerausforderungen, die uns noch lange beschäftigenwerden – die Agenda des Klimawandels auf die Tages-ordnung der humanitären Hilfe gesetzt. Hier werdenviele präventive Maßnahmen erforderlich sein. Wir un-terstützen zudem – ich glaube, das ist in der nächstenZeit die wichtigste Aufgabe im internationalen Bereich –den humanitären Weltgipfel, der auf Initiative des Gene-ralsekretärs der Vereinten Nationen einberufen wurdeund erstmals im Mai 2016 in Istanbul stattfinden wird.Wir erwarten von diesem Gipfel und insbesondere vonden Vorbereitungskonferenzen, die in Bonn stattgefun-den haben und im Oktober in Berlin fortgesetzt werden,dass es konkrete, verwertbare Gipfelergebnisse gibt, diedas internationale humanitäre System zukunftsfähig ma-chen.
In der humanitären Hilfe geht es nicht – das ist ganzwichtig – um politische oder wirtschaftliche Interessen,sondern um notleidende Menschen. Es ist unsere ethi-sche Verantwortung, diesen Menschen ein Überleben inWürde und Sicherheit zu ermöglichen. Die Herausforde-rungen an die humanitäre Hilfe werden weiter wachsen.Ihr kommt eine zentrale Rolle zu, wenn es darum geht,für den Dauerzustand Krise besser aufgestellt zu sein.Verantwortungsvolle humanitäre Hilfe braucht Professi-onalität und leistungsstarke Partner. Diese haben wir inden VN-Organisationen, der Internationalen Rotkreuz-und Rothalbmondbewegung sowie den Nichtregierungs-organisationen. Auf diese Partnerschaften setzen wirweiterhin.Lassen Sie mich zum Schluss all den Menschen dan-ken, die teilweise ganz spontan ihre Arbeitsplätze verlas-sen, um in Krisenregionen zu gehen. Das eine ist, staatli-che humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. Dasandere ist, die Menschen zu unterstützen und sich mit ih-nen zu solidarisieren, die nach meiner Auffassung diewahren Helden unserer Zeit sind. Sie gehen in fremdeRegionen, um Menschen zu helfen, und setzen dabei ihreGesundheit und ihr Leben aufs Spiel. Ihnen ein ganzherzliches Dankeschön! Ich hoffe, dass wir zusammenmit ihnen weiterhin unsere deutsche humanitäre Hilfestärken.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Christoph Strässer. – Nächste Rednerin:
Inge Höger für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Be-richt der Bundesregierung über die deutsche humanitäre
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9929
Inge Höger
(C)
(B)
Hilfe im Ausland steht leider zu einem erschreckendpassenden Moment auf unserer Tagesordnung. Das ver-heerende Erdbeben in Nepal zeigt uns die große Hilfsbe-reitschaft vieler Menschen weltweit – Herr Strässer hates eben schon angesprochen –, es zeigt aber auch logisti-sche Schwachstellen und Probleme bei der konkretenUmsetzung von Hilfe. Humanitäre Hilfe, also die Unter-stützung von Menschen in Notlagen, wird absehbar inden nächsten Jahren eine immer größere Herausforde-rung darstellen. Naturkatastrophen, Dürren, Über-schwemmungen und verheerende Stürme nehmen zu.Deswegen muss an einer weiteren Verbesserung undAusweitung der humanitären Hilfe gearbeitet werden.Doch nicht allein Naturkatastrophen oder Krankheitenwie Ebola führen zu humanitären Notlagen. Kriege undKonflikte zerstören Menschenleben, die Gesundheit unddie Zukunft ganzer Gesellschaften.Am Mittwoch wurden die aktuellen Zahlen über dieMenschen veröffentlicht, die 2014 aus ihren Wohnortenvertrieben wurden. 60 Prozent flohen infolge von Krie-gen und bewaffneten Konflikten. Zu dieser hohen An-zahl von Flüchtlingen kommen noch einmal 11 Millio-nen Binnenflüchtlinge. Jeden Tag flohen 30 000Menschen aus ihrer Heimat. Während des Zeitraums un-serer Debatte sind es 1 400. Jan Egeland, Generalsekre-tär des Norwegischen Flüchtlingsrates, äußerte seine Be-troffenheit wie folgt: In 30 Jahren als Katastrophenhelferhabe ich nie solche Zahlen gesehen, solche Zerstörung,solches Leid.Niemand hier will und kann angesichts dieser drama-tischen Situation wegschauen und zur Tagesordnungübergehen.
Wir müssen als Antwort auf die humanitären Krisen alleAnstrengungen massiv verstärken – und das nicht nurmittelfristig, sondern sofort. Damit humanitäre Hilfedort ankommen kann, wo sie nötig ist, muss sie neutral,unparteiisch und unabhängig sein.
Es kann nicht akzeptiert werden, dass humanitäre Hilfein Krisengebieten nur bei den Teilen der Zivilbevölke-rung ankommt, deren jeweilige Führung der Bundesre-gierung nähersteht. So scheint die Hilfe der Bundesre-gierung für Syrien zumindest zu Beginn der Krise fastnur in den Gebieten der Rebellen angekommen zu sein,und da auch nur bei bestimmten Fraktionen.Mehrere Kleine Anfragen meiner Fraktion zeigtenauch einen sehr selektiven Umgang bei der Hilfe fürMenschen im Irak. Im Schengal-Gebirge ist zum Bei-spiel wenig angekommen. Mit einer solchen Praxis wirddie Glaubwürdigkeit von humanitärer Hilfe gefährdet,und damit werden auch ganz konkret die Helferinnenund Helfer gefährdet. Deren Arbeit aber ist schwieriggenug. Wenn sie dann auch als Parteigänger einer Seitewahrgenommen werden, verstärkt dies die Gefährdung.Und das kann niemand wollen.
Erschreckend ist, wenn humanitäre Hilfe und Ent-wicklungshilfe von Sicherheitspolitikern als Unterstüt-zung für militärische Stärke diskutiert werden. Humani-täre Hilfe darf nicht instrumentalisiert werden. Allein dieBedürftigkeit muss ausschlaggebend sein, ob Hilfe ge-leistet wird oder nicht. Humanitäre Hilfe und Entwick-lungspolitik dürfen nicht im Zuge des sogenannten ver-netzten Ansatzes als Teil der Sicherheitspolitik diskutiertwerden.
Ich fordere deshalb Ursula von der Leyen auf, bei derFormulierung des neuen Weißbuches der Bundeswehrzivile Hilfe nicht in sicherheitspolitische Strategien ein-zubeziehen.Wenn wir für die Zukunft etwas verändern wollen,dann lohnt es sich, die Gründe für den steigenden Hilfs-bedarf zu analysieren. Zumindest für einen Teil der Na-turkatastrophen gibt es Verantwortlichkeiten, die auch inDeutschland und in den Industrienationen liegen. DieZunahme von Extremwetterlagen, der Klimawandel,wurde und wird vorangetrieben durch eine Wachstums-ideologie, die trotz aller anderslautenden Sonntagsredenweiterverfolgt wird.
Im vorliegenden Bericht wird zu Recht auf die Men-schen verwiesen, die wegen klimabezogener Naturkata-strophen ihre Heimat verlassen müssen. Es wird berich-tet, dass niemand wirklich weiß, wie viele infolge vonschleichenden Klimaveränderungen zur Flucht gezwun-gen sein werden. Hier stellt sich die Frage nach derkonkreten und kurzfristigen Hilfe zusammen mit der Er-öffnung neuer Perspektiven für Menschen, die mögli-cherweise nie wieder in ihre Heimat zurückkehren kön-nen. Es geht um die Frage von Rechten, es geht auch umdie rechtliche Verankerung des Schutzes von Klima-flüchtigen. Zu allem fehlen bis heute international ver-bindliche Regelungen. Das muss sich ändern.
Wenn wir über das Thema Verantwortung reden, danngehört dazu auch eine ehrliche Bilanz der Militärinter-ventionen der letzten zwei Jahrzehnte. Wie sähe der Nor-den Afrikas aus, wenn nicht eine Koalition der Willigeneinen Regime Change herbeigebombt hätte? Wie sähe esim Nahen und Mittleren Osten ohne den 2003 begonne-nen Irakkrieg aus? Mit diesen brutalen Angriffskriegenwurden extremistische Kräfte erst geschaffen oder starkgemacht, die heute die ganze Region destabilisieren.
Auch der Afghanistan-Krieg hat keinen Frieden ge-bracht, sondern für viele Menschen das Elend vergrö-ßert. In dem bereits erwähnten Flüchtlingsbericht wirdein einheimischer humanitärer Helfer aus einem Slum inKabul zitiert, wo zahlreiche Binnenflüchtlinge nur sehrnotdürftig Schutz finden. Er sagt: Wir begraben so vieleBabys, die an der Kälte gestorben sind, dass ich sie nichtmehr zählen kann.
Metadaten/Kopzeile:
9930 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Inge Höger
(C)
(B)
Auch in Gaza erleben die Menschen nach dem Kriegeine fortwährende humanitäre Katastrophe. Im Jemenwird gerade mit westlichen Waffen und von westlichenVerbündeten die Infrastruktur des Landes so zerstört,dass kaum noch humanitäre Hilfe in das Land kommt.Beenden Sie endlich die Waffenlieferungen in diese Re-gion! Beenden Sie Waffenexporte in Krisenregionen!
Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Prävention bzw.Minderung humanitärer Krisen.Die Linke steht für eine Politik, die Sicherheit nichtmilitärisch definiert. Wir setzen uns ein für eine Sicher-heit, die bei den grundlegenden Bedürfnissen der Men-schen ansetzt. Jean Ziegler schreibt:Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.Es gibt auf der Welt genügend Ressourcen zur Vermei-dung humanitärer Notlagen. Niemand brauchte zu ver-hungern, zu erfrieren, zu verdursten oder an heilbarenKrankheiten zu sterben.Es ist deswegen gut, dass die ursprünglich für denHaushalt 2015 geplante Kürzung der Mittel für die hu-manitäre Hilfe im Ausland wieder zurückgenommenwurde. Allerdings ändert das nichts daran, dass die UNnach wie vor chronisch unterfinanziert sind, zum Bei-spiel bei der Nahrungsmittelhilfe für Krisenregionen inden Nachbarländern Syriens. Das ändert auch nichts da-ran, dass die EU ihre Mittel für humanitäre Hilfe dras-tisch kürzt oder einfriert und die Menschen in der Sahel-zone oder am Horn von Afrika auf die versprocheneHilfe warten müssen. Gleichzeitig werden diejenigen,die versuchen, in Europa Schutz zu suchen, durch diemassive Abschottungspolitik zu Tausenden in den Todgetrieben. Internationale Solidarität sieht anders aus.Leider erfolgte die Rücknahme der Kürzung im Bun-deshaushalt erst infolge der Ebolakrise. Wenn es nichtgelingt, weltweit eine dezentrale Gesundheitsversorgungzu etablieren, wenn es nicht gelingt, genügend Gesund-heitsfachkräfte auszubilden, wenn nicht die Hilfe zurSelbsthilfe gestärkt wird, dann ist auch in der Zukunftmit ähnlichen Krisen zu rechnen.Ein erster Schritt zur Verbesserung der Situation wäreeine deutlich bessere Ausstattung der Weltgesundheits-organisation.
Allein die 2016 vorgesehenen Mittel zur geplanten Erhö-hung des Etats der Bundeswehr um 1,2 Milliarden Eurowürden ausreichen, um den Etat der WHO zu verdop-peln.
Was alles möglich ist, wenn man internationale Soli-darität mit hoher Priorität verfolgt, das zeigt das kleineLand Kuba. Dieses kleine und arme Land ist mit Ärztenund anderen Helferinnen und Helfern schnell und wir-kungsvoll aktiv, wo immer Hilfe nötig ist. In vielen Län-dern Lateinamerikas, jetzt in Nepal, aber auch in denEbolagebieten gehörte Kuba zu den Ersten, die die Notder Menschen linderten.
Frau Höger, denken Sie an Ihre Redezeit?
Ich komme zum Ende. – Wenn dieses reiche Deutsch-
land den gleichen Anteil seiner Wirtschaftsleistung in
humanitäre Hilfe investieren würde wie Kuba, dann
würde das in vielen Regionen der Welt einen wirklichen
Unterschied machen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte: der
Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn.
Th
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Anzahl der langanhaltenden Krisen und Katastro-phen, mit denen sich die internationale Gemeinschaftkonfrontiert sieht, ist in den letzten Jahren deutlich ge-stiegen. Wir haben es mit zahlreichen Krisen, Konfliktenund Katastrophen gleichzeitig zu tun: jüngst das Erdbe-ben in Nepal, die Konflikte in Mali, im Südsudan und inZentralafrika, die Ebolaepidemie in Westafrika, die Kon-flikte im Nahen und Mittleren Osten, in Syrien, im Irakund in Gaza oder in der Ukraine, direkt vor unsererHaustür.Diese Konflikte und Katastrophen rücken näher anuns heran, und immer mehr Menschen sind davon be-troffen. Viele sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.Etwa 57 Millionen Flüchtlinge sind derzeit beim HohenFlüchtlingskommissar der Vereinten Nationen regis-triert. Das ist die größte humanitäre Katastrophe seitdem Zweiten Weltkrieg.Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht be-legt, dass wir erhebliche Anstrengungen unternehmen,um direkt, schnell und effektiv Not und Leid zu lindern.Gleichzeitig arbeiten wir mit vielen Partnern daran, denTeufelskreis von Krisen zu durchbrechen und die Ursa-chen von Armut und Hunger sowie von Gewalt zu be-kämpfen. Dazu nutzen wir von Anfang an alle Instru-mente, die uns zur Verfügung stehen: humanitäre Hilfeund Entwicklungszusammenarbeit. Beide stehen nichtnebeneinander. Wir wenden sie nicht nacheinander an,sondern humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammen-arbeit müssen ineinandergreifen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9931
Parl. Staatssekretär Thomas Silberhorn
(C)
(B)
Wir leisten also nicht erst humanitäre Hilfe und machendann Entwicklungszusammenarbeit, sondern wir müssenvon Beginn an beides zusammen denken und zusammenpraktizieren.
Vor vier Jahren – Kollege Strässer, Sie haben das auf-geführt – haben wir gemeinsam beschlossen, die Not-und Nahrungsmittelhilfe vom BMZ an das AA zu verla-gern. Das verlangt von uns eine intensive und effizienteKoordinierung und Zusammenarbeit. Ich denke, wirkönnen feststellen, dass das auch geleistet wird. Die Ab-stimmung mit dem Auswärtigen Amt funktioniert sehrgut. Das ist auch notwendig; denn humanitäre Hilfe,Übergangshilfe und Entwicklungszusammenarbeit sindja oftmals in denselben Regionen tätig. In Krisenländernarbeiten wir auch mit denselben Partnern zusammen,zum Beispiel mit dem Welternährungsprogramm, mitdem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF,und natürlich mit vielen Nichtregierungsorganisationenaus Deutschland.Auch finanziell teilen wir unsere Verantwortung. Fürdie Opfer der Krise in Syrien haben wir seitens der Bun-desregierung fast 1 Milliarde Euro bereitgestellt, davonfast die Hälfte aus dem Haushalt des Bundesministe-riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung. Für die Ukraine hat unser Ministerium im vergan-genen Jahr sogar zwei Drittel der Unterstützung derBundesregierung übernommen.Meine Damen und Herren, 1,5 Milliarden Menschenleben in Ländern, die von Gewalt und Konflikten betrof-fen sind. Das ist über die Hälfte der Kooperationsländerdes Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung. Dabei ist von Belang, dass diesozialen und die ökonomischen Kosten von Katastro-phen und Kriegen enorm sind und die Auswirkungen ofterst über Generationen hinweg aufgeholt werden kön-nen. Oft wird innerhalb weniger Tage kaputtgemacht,was zuvor über Jahre hinweg mühsam aufgebaut wordenist. Oft werden Länder um Jahre und Jahrzehnte zurück-geworfen.Das Auswärtige Amt leistet Enormes mit der humani-tären Hilfe; aber die Entwicklungszusammenarbeit darfnicht zum Reparaturbetrieb werden. Wir müssen schonvorher – und nicht nur nach Krisen – handeln. Wir müs-sen vorher darauf hinwirken, die Eskalation von Gewaltzu verhindern und dass die Auswirkungen von Epide-mien und Naturkatastrophen vermieden oder zumindestabgemildert werden können. Deswegen wollen wir mitder Entwicklungszusammenarbeit die Ursachen vonKonflikten und Katastrophen überwinden. Wir investie-ren jedes Jahr fast eine halbe Milliarde Euro direkt inFriedensförderung und Konfliktprävention. Auch wer-den wir unsere Maßnahmen zur Reduzierung von Katas-trophenrisiken schrittweise ausbauen.Meine Damen und Herren, im schlimmsten Fall istnach der Krise vor der Krise. Wir müssen leider feststel-len, dass nach der Beendigung eines Bürgerkrieges fastdie Hälfte der davon betroffenen Länder innerhalb vonzehn Jahren wieder in gewaltsame Konflikte zurückfällt.Das ist der Teufelskreis, den wir überwinden bzw. durch-brechen müssen. Deshalb müssen wir nach Krisen be-reits zu einem frühen Zeitpunkt über die humanitäreHilfe hinaus mittelfristige Übergangshilfen zur Verfü-gung stellen und an den langfristigen Wiederaufbau den-ken.Menschen, die auf der Flucht sind, aber auch die Ge-meinden in angrenzenden Staaten, die Flüchtlinge auf-nehmen, brauchen eine Perspektive. Neben Nahrung undUnterkunft, die die humanitäre Hilfe sofort bereitstellt,geht es auch um Gesundheit, um Wasser- und Sanitär-versorgung sowie um Bildung. Denken Sie beispiels-weise an die Millionen von Minderjährigen, die ausSyrien geflohen sind und jetzt im vierten Jahr diesesKonflikts keine Schulbildung genießen können. Da wer-den schon wieder die Grundlagen für den nächsten Kon-flikt gelegt, wenn wir jetzt nicht handeln. Deswegenmüssen wir diese mittel- und langfristigen Perspektivenfrühzeitig ins Auge fassen und dafür sorgen, dass Chan-cen für die Bevölkerung entstehen, die von Konfliktenbetroffen ist.Wir müssen die Menschen selbst, die Gesellschaftenund die Institutionen so stärken, dass sie gegen gewalt-same Auseinandersetzungen und Naturkatastrophen bes-ser gewappnet sind. Wenn dann die nächste Krisekommt, soll sie besser bewältigt werden können. Dazuist eine Menge notwendig. Dazu muss eine Basisinfra-struktur geschaffen werden, damit die Grundbedürfnisseder Bevölkerung gestillt werden können. Dazu müssenwir mit unseren Entwicklungspartnern darauf hinwirken,dass die Menschen ein Auskommen haben und dass sieihre Familie ernähren können.Aber wir müssen vor allem auch dazu beitragen, dassüberall auf der Welt Politiker agieren, die sich am Ge-meinwohl orientieren und nicht nur an die eigene Zu-kunft denken. Deswegen brauchen wir eine unter demGesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit funktionierendeVerwaltung, die nach Recht und Gesetz arbeitet, eine un-abhängige Justiz und freie Medien. Je besser das ge-währleistet werden kann, desto eher kann sich ein Landentwickeln. Dann kann es auch nach Konflikten zu Dia-log und Aussöhnung kommen.
Die Übergangshilfe unseres Hauses, die ich angespro-chen habe, soll die Lücke zwischen der humanitären So-forthilfe des Auswärtigen Amtes und der längerfristigangelegten Entwicklungszusammenarbeit schließen;denn es gibt Regionen, in denen wir mit den klassischenInstrumenten der technischen und finanziellen Zusam-menarbeit nicht mehr oder noch nicht arbeiten können.Da wird diese Übergangshilfe relevant, die schnell sicht-bar ist und mit der der Grundstein für längerfristige Ar-beit gelegt werden soll. Wir unterstützen beispielsweisedie Flüchtlinge aufnehmenden Gemeinden im Nordirakdurch den Aufbau von Bildungs- und Gesundheitsein-richtungen und durch Hilfen für die traumatisiertenOpfer von Terror und Gewalt in dieser Region.
Metadaten/Kopzeile:
9932 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Parl. Staatssekretär Thomas Silberhorn
(C)
(B)
Wir wollen diese Möglichkeiten der Übergangshilfeausbauen. Wir reagieren damit auch auf die aktuellenKrisen im Nahen Osten, in Westafrika und in derUkraine mit einem neuen Infrastrukturprogramm. Damitwollen wir kurzfristige Maßnahmen wie die Schaffungvon Unterkünften für Flüchtlinge mit mittelfristigenMaßnahmen kombinieren, zum Beispiel mit dem Auf-bau von Berufsbildungszentren.Wir haben aus der Ebolaepidemie gelernt, dass wirein gutes Frühwarnsystem benötigen und dass wir dannaber auch schnell und entschlossen handeln müssen.Deswegen prüfen wir zurzeit, wie wir die humanitäreHilfe durch unsere bestehenden Strukturen der Entwick-lungszusammenarbeit am besten unterstützen können.Wir teilen das gemeinsame Anliegen unter dem Arbeits-titel „Weißhelme“, hier unsere Zusammenarbeit zu ver-tiefen und dafür zu sorgen, dass wir in einem solchenNotfall Personal, Material, aber auch die benötigtenfinanziellen Ressourcen rechtzeitig und ausreichend be-reitstellen können.Auch in Nepal wollen wir unsere Strukturen der Ent-wicklungszusammenarbeit nutzen, um diesem Land beider Bewältigung der Folgen dieses schweren Erdbebenszu helfen. Unsere Experten sind vor Ort und zusammenmit dem Krisenstab der Botschaft gerade dabei, die Prio-ritäten für den Wiederaufbau zu ermitteln. Dazu zählt dieRehabilitierung von Gesundheitsstationen und Kranken-häusern. Es muss jetzt vor allem für Strom und Wassergesorgt werden, damit den Patienten geholfen werdenkann. Wir arbeiten in Nepal seit vielen Jahren im SektorGesundheit mit der dortigen Regierung zusammen.Diese Erfahrung und dieses Vertrauen, das wir dort ha-ben, wollen wir jetzt nutzen, um wirksam und schnellhelfen zu können.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit demHinweis schließen, dass die Regierungen unserer Part-nerländer natürlich immer zuerst in der Pflicht stehen,für ihre Bevölkerung das Nötige zu tun. Wir könnendazu einen Beitrag leisten, indem wir schnell helfen,wenn es darum geht, Leben zu retten, und indem wirmittel- und langfristig dazu beitragen, die Ursachen vonKrisen und Armut anzugehen. Insofern müssen alleHand in Hand arbeiten, um die Krisen der Welt zu be-wältigen oder – besser – künftig zu verhindern und zuvermeiden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Thomas Silberhorn. – Nächster Redner:
Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Humanitäre Hilfe ist Ausdruck ethischer Verant-wortung für Menschen in Not. Gemeinplätze wie diesenfindet man in dieser Debatte häufig. Auch der Bericht istnicht frei davon. Die Beschlussempfehlung, die Sie unsaber hier vorlegen, ist praktisch voll von solchen Sprü-chen. Das kann man nicht lesen. Lassen Sie doch da maleinen Praktikanten ran, der das redaktionell überarbeitet.
Der Bericht … geht sehr problemorientiert auf diewachsenden globalen Herausforderungen und diedamit verbundenen strategischen Überlegungen ein.Oder:Eine nachhaltige Qualitätssteigerung ist – insbeson-dere was die Zusammenarbeit mit internationalenPartnern, die Einbindung lokaler Kräfte sowie dieKoordinierung der vielfältigen Aktivitäten anbe-langt – ein umfassender Prozess, an dem die Bun-desregierung bis heute arbeitet.Donnerwetter! Das sollen wir beschließen?
Dabei ist der Bericht gar nicht so schlecht. Vor allemwar unsere Anhörung im Ausschuss für Menschenrechteund Humanitäre Hilfe gut.
Wir haben in der Anhörung doch sehr deutlich und nichtin Form von Gemeinplätzen vor allem vier Ergebnisseproduziert.Erstens. Die humanitäre Hilfe und die Soforthilfemüssen sich auf lokale Partner stützen und dazu führen,dass die lokalen Partner stärker werden. Das ist die stra-tegische Ausrichtung. Die humanitäre Hilfe muss sichauf die lokale Bewältigungskompetenz auswirken; dasist das Erste. Das Wiedererstarken der lokalen Selbstver-sorgungsmöglichkeiten würde auch eine Antwort auf dieimmer größer werdenden Bedarfe und die immer gerin-ger werdenden Finanzmittel sein. Hier müssen wir dannauch kontrollieren, ob das durch die Maßnahmen er-reicht wurde.Zum Zweiten. 78 Millionen Menschen brauchen akuteNothilfe. Der globale Bedarf im Consolidated AppealProcess von OCHA ist für das Jahr 2015 auf 16,4 Mil-liarden US-Dollar festgelegt worden. Wir fordern imHaushaltsverfahren immer wieder mehr Mittel für diehumanitäre Hilfe. Stellen Sie vom Finanzministeriumdiese doch bitte von vornherein in den Haushalt ein, undwarten Sie nicht, um später über komplizierte Prozessedann irgendwie gnädigerweise über das Haus noch etwashinzuzugeben.
In der Realität ist es dann letzten Endes so, dass dergroße Onkel aus dem BMZ kommt und großzügig nochein paar Millionen verspricht; denn die Koordinationzwischen Auswärtigem Amt und BMZ ist nicht so gut,wie Sie sie immer beschreien. Sie sagen das so oft– auch der Staatssekretär –, dass man es gar nicht glau-ben kann.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9933
Tom Koenigs
(C)
(B)
Es ist zwar so, dass der Entwicklungshilfeminister diegroßen Versprechungen in der Ukraine und in Jordanienmacht, die Strategie aber muss nach wie vor das Aus-wärtige Amt machen. Da ist meines Erachtens noch vielRoom for Improvement.
Das Dritte: „Aid effectiveness“ oder „Mit wenigenMitteln mehr erreichen“. Das ist ein Riesenthema, auchdes Weltgipfels 2016. Ich würde mir wünschen, dass dieBundesregierung das Parlament schon im Vorfeld aktivbeteiligt und bei diesem Kongress auch wirklich aktiv istund nicht immer fragt, was diese oder jene sagen, umdann den Mittelweg zu gehen. Da ist wirklich Protago-nismus notwendig.
Dazu braucht man aber ein kontinuierliches, unabhängi-ges Evaluationssystem der humanitären Hilfe; denn soetwas Fabelhaftes wie humanitäre Hilfe kann man auchevaluieren. Man kann fragen: War es denn wirklich sofabelhaft?Das Vierte – Frau Höger hat es schon angesprochen –:das Verhältnis von humanitärer Hilfe und Militär. Diesist der einzige Punkt, an dem das Ganze einmal ein biss-chen konkret wird. Es geht nicht, dass das immer wiedervermischt wird. Sagen Sie nicht, Sie täten es nicht. Manfindet immer wieder Aussagen wie: Ja, notfalls steht jaauch das Militär zur Verfügung. – Damit gefährden Siedie Hilfsorganisationen. Damit gefährden Sie die Leutevor Ort. Es kann auch nicht sein, dass dieselben Bundes-wehrmaschinen mal Waffen und dann mal wieder huma-nitäre Güter transportieren. Es kann auch nicht sein, dassuns hier ein Mandat für eine Mission – „Ausbildungsun-terstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Re-gion Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte“,Drucksache 18/3561 –, die ja an sich sehr lobenswert ist,vorgelegt wird, in dem die Streitkräfte unter anderemfolgende Aufgabe – ich zitiere mit der Genehmigung derPräsidentin – haben:Bedarfsweise Koordination und Durchführung vonLieferungen humanitärer Hilfsgüter und militäri-scher Ausrüstung in den Nordirak.Das gefährdet ganz explizit die Helfer vor Ort. Das mussman wissen. Das ist eines der großen Probleme. Der Zu-gang wird immer schwieriger. In Syrien sagt uns dasnicht nur das Rote Kreuz, sondern jede Helferin und je-der Helfer. Das kann man auch in der Zeitung lesen. ImJahr 2013 sind 155 Helferinnen und Helfer gestorben, essind 171 verwundet worden und 134 entführt worden.Das ist das Problem. Darüber muss man konkret reden.Es sind nicht nur die Non State Actors, die Milizenoder ähnliche Gruppen, die dort tätig sind und sich nichtan das humanitäre Völkerrecht halten, sondern auch dieStaaten. Saudi-Arabien zerstört im Augenblick den fürhumanitäre Hilfe im Jemen unglaublich wichtigen Flug-hafen von Sanaa, übrigens auch mit unseren Waffen, diewir dorthin exportiert haben, weil wir alle die Wirtschaftfördern. Das muss aufhören. Das ist eine Vermischungvon humanitärer Hilfe und Militär.
Jetzt komme ich zur Koordinierung. Der Herr Staats-sekretär hat sie schon angesprochen. Wir sind bei Ebolazu spät gekommen, auch die WHO ist zu spät gekom-men. Jetzt wird aber nicht gesagt: „Dann stärken wir dieWHO“, sondern es werden Gott weiß wie viele Parallel-organisationen konzipiert: Weißhelme, Gelbhelme, Grün-helme, Rothelme. Dann wird gesagt, man sollte auch ei-nen International Health Emergency Response Fund beider Weltbank etablieren. Warum soll man denn nicht in-nerhalb der WHO arbeiten, die WHO besser machen unddie WHO stärken?
Da sind wir immer sehr zaghaft. Wir sind eines der wich-tigsten, eines der stärksten und auch finanzstärksten Mit-glieder der WHO. Wir sollten uns bitte einmal um klareÄußerungen bemühen;
denn humanitäre Hilfe bedeutet auch, für die humanitäreHilfe und für die Bedürftigen zu streiten. Das ist ein akti-ver Prozess, in den wir unsere Fähigkeiten und Emotio-nen einbringen sollten; allgemeine Sprüche und großeDiskurse helfen nicht weiter.Es gibt eine letzte Frage, die wir uns wirklich stellenmüssen. Wir sehen es am Beispiel von Nepal wieder.Dort sind Hilfsorganisationen aus 28 europäischen Län-dern tätig. Warum gelingt es uns eigentlich nicht, wo wiruns doch über alle Parteien und alle 28 europäischenStaaten hinweg einig sind, eine gemeinsame humanitäreHilfe mit abgestimmten und starken gemeinsamen Ak-tionen zu konzipieren?Wir sprechen vom gemeinsamen auswärtigen Dienst– das bekommen wir schon nicht hin –, wir sprechen vongemeinsamer Sicherheitspolitik – die bekommen wirüberhaupt nicht hin –, bei der humanitären Hilfe könntenwir eine Gemeinsamkeit vielleicht hinbekommen. Daswäre des Schweißes der Edlen wert.Vielen Dank.
Vielen Dank, Tom Koenigs. – Nächste Rednerin in
der Debatte: Dr. Ute Finckh-Krämer für die Sozialdemo-
kraten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribünen!
Metadaten/Kopzeile:
9934 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Dr. Ute Finckh-Krämer
(C)
(B)
Ich möchte auf das historische Datum zurückkommen,an dem wir heute über humanitäre Hilfe diskutieren;denn vor 70 Jahren war Europa in großen Teilen zerstört,und nicht zuletzt Deutschland war dringend auf humani-täre Hilfe angewiesen. Diese humanitäre Hilfe wurdenach vier humanitären Prinzipien geleistet, die erst spä-ter schriftlich fixiert wurden: Menschlichkeit, Unabhän-gigkeit, Neutralität und Unparteilichkeit.Wir als Deutsche haben Glück gehabt, dass diesePrinzipien damals schon angewandt wurden, weil nachdem, was von deutschem Boden damals ausgegangenwar, sonst nicht viel humanitäre Hilfe in Deutschland an-gekommen wäre.
Humanitäre Hilfe stand noch nie derart im Zentrumvon öffentlichen Debatten wie aktuell. Auch die Bedeu-tung in der deutschen Politik ist, parallel zum Bedarf,merklich gestiegen. Aber das, was öffentlich sichtbarwird, ist nur die Spitze des Eisbergs. Das meiste, was imBereich der humanitären Hilfe geleistet wird, geschiehthinter den Kulissen: Ausbildung, Training, Vorberei-tung, Strategieentwicklung, Koordination und Planung.Wir haben inzwischen eine hohe Professionalität derHelferinnen und Helfer. Das ist schon deswegen nötig,weil hier viel falsch gemacht werden kann. Die intensiveund konstruktive Zusammenarbeit des AuswärtigenAmtes mit staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorgani-sationen hat sich in den letzten Jahren entwickelt. Beispiel-haft dafür steht der international einmalige Koordinierungs-kreis für humanitäre Hilfe, zu dem das Auswärtige Amtregelmäßig einlädt und der staatliche und nichtstaatlicheExpertinnen und Experten zusammenbringt.
Wer, lieber Tom Koenigs, gelegentlich an diesem Ar-beitskreis teilnimmt, spürt, wie gut, zumindest auf derArbeitsebene, die Zusammenarbeit zwischen BMZ undAuswärtigem Amt funktioniert.Ich bin auch überzeugt, dass in diesem Arbeitskreisdarüber diskutiert wird – es ist damit schon begonnenworden –, wie die Konsequenzen aus der Ebolakrise um-gesetzt werden können. Ich persönlich bin mir ange-sichts dessen, was wir mit der WHO in den letzten Jah-ren etwa beim Thema Schweinegrippe erlebt haben,noch nicht sicher, ob eine Stärkung der WHO wirklichder richtige Weg wäre.
Humanitäre Hilfe ist eine hochprofessionalisierte zi-vile Aufgabe, die mit zivilen Kapazitäten fast immerebenso gut oder besser erfüllt werden kann als mit mili-tärischen Kräften, auch wenn sich – Ausnahmen bestäti-gen die Regel – gerade zwei Schiffe der Bundesmarinean der Rettung von schiffbrüchigen Flüchtlingen im Mit-telmeer beteiligen. Aber wir sind uns hier, glaube ich,alle einig, dass so etwas eine Ausnahme bleiben soll undmuss; das steht auch so in der Beschlussempfehlung.
Die humanitären Prinzipien haben sich also bewährt.Sie müssen gegen kurzfristige innen- oder außenpoliti-sche Interessen verteidigt werden. Das wird – anders alsvon Inge Höger eben suggeriert – in der Strategie desAuswärtigen Amts zur humanitären Hilfe im Auslandausdrücklich betont – ich zitiere –:Die unbedingte Wahrung dieser Grundsätze istVoraussetzung dafür, dass humanitäre Akteure vorOrt – in häufig schwierigem politischen Umfeld mitschlechter Sicherheitslage – tätig werden können.Sie sind notwendig, damit humanitäre Hilfe Konfliktenicht hervorruft oder verschärft, sondern im Idealfall so-gar hilft, sie zu deeskalieren. Die humanitären Prinzipienunterscheiden aber auch die humanitäre Hilfe, vor allemdie Nothilfe, von der Entwicklungszusammenarbeit, diean politische Bedingungen geknüpft werden kann unddarf. Insofern ist es nicht immer möglich, humanitäreHilfe, Übergangshilfe und Entwicklungszusammenarbeitzusammenzudenken, weil irgendwo der Punkt einsetzt,wo politische Bedingungen gestellt werden können unddürfen.
Ich möchte auch den Vorwurf zurückweisen, dassDeutschland in Bezug auf die humanitäre Hilfe in Syrienpolitische oder strategische Gründe zugrunde gelegthabe,
als es darum ging, wem man helfen will. Deutschlandhat zwar Hilfsorganisationen unterstützt – aus den Mit-teln des Auswärtigen Amts –, die Zugang zu den Regio-nen haben, wo die Befreiungsbewegungen tätig sind;aber Deutschland hat über internationale Organisationen,die Zugang zu den von der Regierung kontrollierten Ge-bieten haben, dort natürlich genauso humanitäre Hilfegeleistet,
und das ist auch gut und richtig so.
Eine Entschließung soll auf den Bericht aufmerksammachen, sie soll nicht an seine Stelle treten. Deswegenbitte ich um Zustimmung.Vielen Dank.
Vielen Dank, Ute Finckh-Krämer. – Nächster Redner:Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9935
(C)
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich weißnicht, wer von Ihnen schon da war, als eben die Gedenk-stunde zu 70 Jahren Kriegsende stattfand. Das Kriegs-ende markiert nicht nur die Befreiung von Völkermordund humanitärer Katastrophe, sondern auch den Beginnvon 70 Jahren Frieden in Europa, in einem Großteil Eu-ropas – so lange wie vorher tausend Jahre lang nicht.Aus dieser Geschichte wächst Verantwortung. Dasbetont die Einleitung des Berichts, über den wir jetzt de-battieren. Ich zitiere aus dieser Einleitung:Humanitäre Hilfe ist Ausdruck ethischer Verant-wortung und internationaler Solidarität mit Men-schen in Not. Ziel des humanitären Engagementsder Bundesregierung ist es, Menschen in Not einÜberleben in Würde und Sicherheit zu ermöglichenund das Leid derer zu lindern, die ihre akute Not-lage aus eigener Kraft nicht überwinden können.Der Bericht hat, grob gesehen, zwei Elemente – Siehaben vieles davon jetzt schon gehört –:Im ersten Teil geht es um die Strategie, um die Neu-ausrichtung der humanitären Hilfe durch die Ressortver-einbarung zwischen dem Bundesministerium für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und dem Auswärtigen Amt.Da gibt es immer noch Verbesserungsbedarf. Das Ergeb-nis der Anhörung – Herr Koenigs, Sie haben das ange-sprochen – lautet: Das muss noch verbessert werden. Esmuss noch weiter darüber geredet werden, wie wir dasbesser machen können. Die Koordinierung vor Ort istganz besonders wichtig. Es geht um bessere Verknüp-fung von kurz- und langfristiger Hilfe, Soforthilfe, Über-gangshilfe, Katastrophenvorsorge. – Da liegt noch eineMenge Arbeit vor uns.Der zweite Teil ist die Berichterstattung über die vierschon genannten Jahre 2010 bis 2013. Der Aufwuchs derBedarfe ist, glaube ich, durch meine Vorredner schonziemlich deutlich geworden. Der Bedarf wächst auchseit 2013 weiter. Gründe für den steigenden Bedarf sind:allgemeine Zunahme der Zahl von Extremwetterereig-nissen – Trockenheit, Fluten, Überschwemmungen inAfrika, Wirbelstürme in Asien –, große Naturereignissemit Katastrophenfolgen wie das Erdbeben in Haiti – dasist schon wieder eine Weile her; es fiel aber genau in die-sen Zeitraum – oder auch die Fluten in Pakistan, Zu-nahme der Anzahl von Krisen und Konflikten, Zunahmeauch, was deren Dauer und Ausmaß angeht – ich nennedie langanhaltenden Krisen in Afrika; es gibt drei großezeitgleich bestehende Konflikte: in Syrien, im Südsudanund in der Zentralafrikanischen Republik –, steigendeKosten für komplexe Operationen humanitärer Art.Jetzt, im Jahr 2015, haben wir gleich eine Handvollhumanitärer Krisen vor uns. Wir haben davon gehört,was im Jemen passiert, in Nepal, im Südsudan, inEritrea, in Zentralafrika. Wir haben die Menschen vorAugen, die im Mittelmeer ertrinken – großteils als Folgedieser Krisen.Ich weiß, dass es vielen meiner Kollegen und auchvielen Bürgern und Menschen, die in unserem Land Mit-verantwortung tragen, ähnlich geht wie mir. Es ist eineriesige Betroffenheit vorhanden, nicht nur am Tag einerKatastrophe und an den Tagen danach. Durch das Ertrin-ken von Menschen haben wir das vor Augen. Die letztenzwei, drei Wochen haben mich innerlich zerrissen. Ichdenke an das Alte Testament. Früher hat man, wenn maneine große Trauer gefühlt hat, sein Hemd zerrissen. Dasmache ich jetzt nicht.
Aber eigentlich müsste man das tun, um deutlich zu ma-chen: Das können wir doch nicht zulassen. Dabei kön-nen wir doch nicht ruhig bleiben. – Als ehemaliger Pas-tor habe ich darüber nachgedacht, ob ich eine Weilefaste. Auch das war eine Möglichkeit dafür, Trauer aus-zudrücken, Mitleiden auszudrücken, darüber nachzusin-nen: Was kann man denn verändern? Ich habe sogar kurzüber einen Hungerstreik nachgedacht, wusste in demMoment aber nicht, gegen wen.Es geht darum, auszudrücken: Ich will nicht dabeibleiben. Ich will mich nicht damit zufriedengeben, dassmir die Ohnmacht, die ich jetzt gerade empfinde, mögli-cherweise dadurch genommen wird, dass die nächstendrei Krisen entstehen. Ich will diese Ohnmacht teilenund ihr Ausdruck verleihen, damit dann konstruktiv mit-einander gearbeitet werden kann. Ich will nicht betäubtwerden durch die vier nächsten zugegeben wahrschein-lich wichtigen Themen, die hier im Parlament diskutiertwerden müssen.Ein Zweites will ich nicht. Wir haben vor 14 Tagenhier eine tolle Debatte anlässlich des 100. Jahrestags desGenozids an den Armeniern geführt. Ein Satz des Bun-destagspräsidenten war – ich sage das jetzt mit meinenWorten –: Wir wussten alles zu der damaligen Zeit. Wir,Deutschland, wussten alles und haben nicht getan, waswir konnten. – Ich will nicht, dass meine Kinder und En-kel irgendwann am Mittelmeer stehen und genau diesenSatz über unsere Generation und über uns Politiker sa-gen müssen, nämlich dass wir alles wussten und nichtgetan haben, was wir konnten. Das heißt nicht, dass wirdie richtige Lösung sofort parat haben, das heißt nicht,dass es nur um Geld geht, das heißt auch nicht, dass wireinfach mehr Flüchtlinge aufnehmen, aber das heißt,dass wir – damit geht es nicht nur um humanitäre Hilfe –konstruktiv die Köpfe zusammenstecken, bis wir heraus-finden, was wir denn tun können; das muss langfristigglaubwürdig sein.Das geht über die ganze Bandbreite der Thematik: Esgeht um die humanitäre Hilfe, richtig abgestimmt vorOrt, aber auch abgestimmt mit den europäischen Part-nern, um Außenpolitik, Entwicklungszusammenarbeitund Ursachenbekämpfung; der Herr Staatssekretär hat esangesprochen. Es geht um die Hilfe für die Aufnahme-staaten Libanon, Jordanien, Türkei. Was die Syrien-Krise angeht, können wir noch mehr tun, natürlich auchbei der Bekämpfung der Schleuserkriminalität, die übri-gens nicht nur am Mittelmeer zu finden ist. Und es gehtum die Seenotrettung der Flüchtlinge. Wir brauchen eineabgestimmte EU-Politik und möglicherweise eine Dis-kussion über ein Ende des Dublin-Verfahrens.
Metadaten/Kopzeile:
9936 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Frank Heinrich
(C)
(B)
Letztlich geht es um die deutsche Regelung zu Asyl undZuwanderung. Natürlich gibt es tolle Signale: heute derGipfel im Kanzleramt,
die Schiffe, die zusätzlich zur Verfügung gestellt wer-den, die Initiative des BMZ. Ich bin dankbar; aber esreicht mir nicht.In Kohärenz und Zusammenarbeit müssen wir unsquer durch unser Haus, quer durch die Ministerien, querdurch unsere Gesellschaft, bei den Medien angefangenüber uns Bürger als Nachbarn, auf die Frage fokussieren:Wollen wir, dass in 50 Jahren über uns gesagt wird, wirhätten alles gewusst, aber nicht alles getan, was wirkonnten? – Wir müssen das Problem wirklich angehen.Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. – Heute istder Tag der Befreiung. Morgen, am 9. Mai, ist Europa-tag. Vor 65 Jahren schlug der französische Außenminis-ter Robert Schuman in einer Rede unter anderem dasvor, was wir heute als Europa kennen. Unter anderemsagte er in der Rede – ich zitiere –:Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werdenohne schöpferische Anstrengungen, die der Größeder Bedrohung entsprechen.Genau das gilt heute auch wieder, nur dass die Perspek-tive global sein muss und die Reaktion ganzheitlich. Ichwünsche mir, dass wir solchen Anstrengungen Prioritätverleihen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frank Heinrich. – Nächster Redner:
Dr. Rolf Mützenich für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist richtig, dass der Deutsche Bundestagsich zum zweiten Mal entschieden hat, die Debatte überdiesen wichtigen Bericht in die Kernzeit seiner Tätigkeitzu legen. Ich glaube, es ist notwendig, dass man vieleKritikpunkte aufnimmt, sich aber insbesondere darübervergewissert, wie wichtig humanitäre Hilfe gerade auchals ein Zeichen deutscher Außenpolitik ist und dass siegewährt werden muss. Es ist eben kein Gnadenbrot, son-dern eine notwendige Ergänzung, notwendige Hilfe, ins-besondere angesichts der Tatsache, dass das vergangeneJahr ein so dunkles gewesen ist. Das vergangene Jahr hatgezeigt, dass humanitäre Hilfe notwendig ist, natürlichauch, weil die Politik versagt hat.Wir dürfen nicht aufhören – ich will auf die Zusam-menhänge hinweisen –, kluge Außenpolitik zu machen,humanitäre Hilfe zu leisten und auf der anderen SeiteStrukturen zu schaffen, damit nicht immer nur humani-täre Hilfe geleistet werden muss, sondern auch Erfolgemöglich sind. Ich finde, hier geht es um ein Zusammen-spiel: Humanitäre Hilfe und kluge Außenpolitik gehörenzusammen.Ich sehe, dass sich die Bundesregierung auf der einenSeite entschieden hat, mit Unterstützung des DeutschenBundestages im Zusammenhang mit den Herausforde-rungen in Syrien humanitäre Hilfe in einem wirklichgroßen Umfang zu gewähren, und sie auf der anderenSeite deutlich macht, dass wir gleichzeitig den Nachbar-ländern helfen müssen. Beides gehört, zusammen ge-dacht, zu einem realistischen Umgang mit humanitärerHilfe.Frau Kollegin Höger, ich finde, Sie werden der wirk-lich notwendigen und beachtenswerten humanitärenHilfe und den Herausforderungen im Hinblick auf dieNachbarländer überhaupt nicht gerecht, indem Sie hierKleinigkeiten zu bedenken geben. Das war wirklich sehrplatt.
Naturkatastrophen wird man nicht verhindern kön-nen; man kann sie nicht aufhalten. Deswegen ist es rich-tig, dass Deutschland gegenüber Nepal humanitäre Di-rekthilfe im Umfang von 2,5 Millionen Euro geleistethat. Ich will allen Helferinnen und Helfern danken.Gleichzeitig kommt aber ein zweiter Punkt hinzu – des-wegen sage ich, dass man hier auch über die Zusammen-hänge sprechen muss –: Nepal ist ein Staat, der nicht ge-nügend funktionsfähig ist, der sich zu wenig auf dieseKatastrophe vorbereitet hat, auch weil ihm die interna-tionale Gemeinschaft zu wenig geholfen hat. Wir müs-sen genau hinschauen und in den nächsten Monaten undJahren mithelfen, damit ein funktionsfähiger Staat ent-steht, der auf solche Katastrophen vorbereitet ist. Insbe-sondere müssen wir die Hilfe über einen langen Zeit-raum gewähren.Diese Zusammenhänge werden auch klar, wenn wiran die Staaten denken, in denen Ebola ausgebrochen ist.Auch hier waren wir mit der Situation konfrontiert, dassdie Gesundheitssysteme zu schwach waren, um unmit-telbar auf diese Katastrophe zu reagieren. Deswegenmüssen wir uns konkret darum kümmern, Staaten wiederfunktionsfähig zu machen, damit sie besser mit solchenProblemen umgehen können. Auch das gehört zu huma-nitärer Hilfe.
Zu einem weiteren Punkt. Es ist notwendig und rich-tig – und wir sollten das insbesondere im Hinblick aufden ersten Humanitären Weltgipfel deutlich machen –,dass internationale Regierungsorganisationen der ersteAnsprechpartner sind, wenn es um Hilfe, aber auch umKoordination geht; freilich gemeinsam mit staatlichenOrganisationen. Das heißt nicht, dass private Hilfe keineRolle spielen soll – private Hilfe ist notwendig und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9937
Dr. Rolf Mützenich
(C)
(B)
wichtig –, aber wenn einzelne Hilfsorganisationen untermedialer Begleitung nach Nepal aufbrechen und amEnde zwar gute Bilder liefern, aber letztendlich nichtstun können, dann muss doch die Konsequenz sein, dassdie internationalen Regierungsorganisationen gestärktwerden. Erste Ansprechpartner sind für mich die Verein-ten Nationen, auch als Würdigung von 70 Jahren wichti-ger Arbeit in diesem Bereich, und natürlich auch die Eu-ropäische Union.
Ich möchte am Ende meiner Rede noch einmal daraufhinweisen: Wir werden über den Umgang mit der Situa-tion nicht alleine entscheiden können. Deutschland istaufgerufen, auf der einen Seite weiter humanitäre Hilfezu leisten, hinzuschauen, sich nicht mit dem Elend abzu-finden, auf der anderen Seite eine kluge Außenpolitik zubetreiben, die die Partner mitnimmt, die sich mit Part-nern abstimmt. Insbesondere muss auf die Länder ge-schaut werden, die gerade in der jetzigen Situation oftvergessen werden. Deswegen ist der erste HumanitäreWeltgipfel ein wichtiges Datum. Auch die Vorberei-tungskonferenzen, die hier in Berlin und in Bonn statt-finden, sind wichtig. Haben wir den Mut, für den Erfolgzu arbeiten!Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Rolf Mützenich. – Nächster Redner:
Michael Brand für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Aktuell verzeichnen wir weltweit 50 Millionen Flücht-linge, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nichtmehr. Humanitäre Hilfe ist in einer solchen Lage nichtnur ein Gebot menschlichen Mitleids; humanitäre Hilfeaktiv anzubieten, ist eine Frage von Haltung. Dies giltfür uns Menschen, für jeden einzelnen von uns, aber esgilt auch für ganze Staaten. Insbesondere gilt es für die-jenigen, die mehr Möglichkeiten haben als andere.Wir verzeichnen angesichts vieler Krisen einen starkanwachsenden Bedarf bei der Finanzierung humanitärerHilfe. Ohne die einzelnen Appelle der Vereinten Natio-nen für die jeweiligen Budgets in Milliardenhöhe hieraufzuführen, muss festgehalten werden: Die Summe derKatastrophen und Krisen übersteigt die bisherigen Er-fahrungen, und sie erfordert neue Antworten im finan-ziellen Bereich. Folgerichtig spricht der vorliegende Be-richt der Regierung von der Notwendigkeit, einen neuenAnsatz in der deutschen humanitären Hilfe zu wählen.Es geht hier um nichts weniger als um einen Paradig-menwechsel. In den letzten Jahren hat sich die Perspek-tive der humanitären Hilfe verändert. In Zukunft müssenwir von einer reaktiven Hilfeleistung nach einer Krisedeutlich mehr zu einem vorausschauenden Handeln zurVermeidung von Krisen kommen. Wir begrüßen sehr,dass die Bundesregierung hier wichtige Schritte getanhat, um sich auf diese Zäsur einzustellen; ich nenne nurdie neue Krisenabteilung im Auswärtigen Amt. Aber un-ter allen Ressorts besteht die Notwendigkeit, die Koordi-nierung zu verbessern, um schneller und effektiver hel-fen zu können.Der vorliegende Bericht stellt völlig zu Recht fest:Die Anforderungen wachsen sowohl an Qualität undEffizienz wie auch an die beschriebene Koordinierungder internationalen humanitären Hilfe. Dies gilt auch fürdie innerhalb der EU koordinierte humanitäre Hilfe ausDeutschland, die vor allem multilateral erfolgt. Bei allerAbstimmung muss sich ein so herausragender humanitä-rer Akteur wie die Bundesrepublik Deutschland aber dasRecht vorbehalten, bei Bedarf oder nach individuellerBeurteilung auch bilateral aktiv werden zu können. An-dere Länder tun dies auch, und gerade die Deutschen mitihrer hohen Akzeptanz weltweit können durchaus bilate-ral manchmal mehr bewirken als im multilateralen Kon-zert.Die Abstimmung der Akteure untereinander und auchmit der Bundesregierung und den internationalen Institu-tionen und Organisationen ist mitentscheidend für dieQualität des deutschen Beitrags auf dem internationalenParkett. Der Koordinierungsausschuss Humanitäre Hilfebeim Auswärtigen Amt erfüllt hier als Schnittstelle zwi-schen Regierung und den Nichtregierungsorganisationeneine wirklich zentrale Rolle.In Zukunft wird es neben Qualität und Effizienz derhumanitären Hilfe aber auch darauf ankommen, die Mo-bilisierung privaten Engagements zu stärken. Es stimmt:Nicht jede einzelne Idee zur humanitären Hilfe ist auto-matisch auch gut umgesetzt. Wahr ist aber auch: Nichtwenige der kleinen humanitären Hilfsorganisationensind schneller vor Ort und können aufgrund ihrer gutenVernetzung – da haben Sie recht, Herr Koenigs – mit lo-kalen Akteuren vielfach schneller die Opfer erreichen alsdie großen humanitären Organisationen, die natürlichauch in Zukunft den Löwenanteil der humanitären Hilfetragen werden.Ich habe nur wenige Meter von hier entfernt in derParlamentarischen Gesellschaft gestern vom Bürger-meister der nordirakischen Stadt Erbil, Herrn Kodscha,den Satz gehört: Das werden wir Deutschland nicht ver-gessen. Und er erzählte, dass er am 20. Dezember desletzten Jahres am Flughafen einen Hilfstransport von ei-ner dieser Organisationen, von Luftfahrt ohne Grenzen,entgegengenommen hatte; Frank Franke sitzt unter denZuhörern. Diese Organisation hatte einen Hilfstransportin den Nordirak geplant. Genau in diesem Moment, am20. Dezember hatten die kurdischen Einheiten das Sind-schar-Gebirge freigekämpft, das von ISIS umstellt war.Man hat schnell reagiert. Diese Hilfsorganisation wardie erste, die dringend notwendige Hilfe ins Sindschar-Gebirge gebracht hat. Sie hatten sechs Lkws umfunktio-niert, um die Hilfe dort hinzubringen, wo sie am drin-gendsten gebraucht würde. Ich sage dieser Organisation
Metadaten/Kopzeile:
9938 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Michael Brand
(C)
(B)
stellvertretend für alle anderen Hilfsorganisationen, dieihren wichtigen Beitrag dazu leisten, ein herzliches Dan-keschön.
Wir müssen als Staat auch darauf achten, dass wir pri-vates Engagement und privaten Mitteleinsatz nicht durchÜberbürokratisierung der Anforderungen in Teilen ersti-cken. Staatliche Unterstützung bleibt wesentlich für denErfolg. Aber wir dürfen nicht vergessen: Die privat mo-bilisierte Hilfe übersteigt die staatliche vielfach noch im-mer deutlich. Deshalb müssen wir dieses unverzichtbareprivate Engagement stärken, und wir dürfen es nicht ver-sehentlich schwächen. Auch das ist eine Lehre aus derAnhörung im Deutschen Bundestag.Humanitäre Hilfe hat es auch aus einem anderenGrund schwerer. Selbst wenn die Hilfe verfügbar ist, er-reicht sie nicht immer das Ziel; ich habe das beschrie-ben. Nicht nur mir sind Fälle bekannt, zum Beispiel imBereich medizinischer Versorgung, in denen zwar Mittelzur Verfügung gestellt wurden, diese aber wegen derkriegerischen Lage nicht bis zu den Opfern gebrachtwerden konnten. Gerade bei den akuten Krisen und ge-waltsamen Konflikten bleibt das Dilemma: HumanitäreHilfe fehlt oft genau dort, wo sie dringend gebrauchtwird. Hier bleibt die Kooperation mit lokalen Akteuren,aber auch benachbarten Staaten ein Ausweg. Diese Ko-operation kann und sollte durchaus über den humanitä-ren Bereich hinausgehen. Wenn Länder wie Jordanien,der Libanon oder auch die Türkei die Millionen Flücht-linge aus dem Irak oder aus Syrien aufnehmen, dannkönnen wir vor dieser humanitären Großzügigkeit nurden Hut ziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht derBundesregierung ist also Bilanz und programmatischerAusblick zugleich. Die ausführliche Anhörung zu die-sem Bericht im Ausschuss für Menschenrechte und Hu-manitäre Hilfe hat viele Anregungen gebracht. Eines hatsie aber vor allem zutage gefördert: Wir werden mit derzunehmenden Komplexität und Quantität humanitärerKrisen auch in Zukunft zu rechnen haben. Die dramati-sche Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer ist nur einaktueller Ausdruck dessen, dass uns die humanitärenKatastrophen in immer größerem Maße unmittelbar be-treffen. Wir werden in einer zunehmend globalisiertenund wechselseitig immer abhängiger gewordenen Weltder Erkenntnis nicht entkommen: Nicht nur wirtschaft-lich, sondern auch im Bereich humanitärer Katastrophenwerden wir in Zukunft sehr viel stärker betroffen sein,als es vielen bisher bewusst ist und manche auch wahr-nehmen wollen.Ich komme zum Schluss. Dass mit dem Bericht einernsthafter Versuch unternommen wurde, auf dieseneuen Herausforderungen entsprechende Antworten zuentwickeln, ist ein wichtiger Schritt. Es ist ein wichtigererster Schritt, und wir werden uns auch als DeutscherBundestag mit diesen Themen als Querschnittsaufgabein Zukunft intensiver befassen müssen. Wir werden unsdamit nicht nur aus humanitären oder karitativen Grün-den befassen müssen, sondern auch aus strategischenGründen. Humanitäre Außenpolitik ist integraler Be-standteil der internationalen Politik unseres Landes ge-worden. Gute humanitäre Politik dient der politischenStabilität ganzer Regionen und auch der Sicherheit unse-rer eigenen europäischen Region.
Bitte Zeit beachten!
Frau Präsidentin, mein letzter Satz.
Es geht also nicht nur um unser menschliches Mitleid
– das vielleicht zuallererst –, sondern auch um unsere
nationalen Interessen. Wenn es anderen gutgeht, dann
geht es auch uns besser, und das auf Dauer.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Ja, das waren aber drei gute Sätze. – Letzte Rednerin
in dieser Debatte: Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Erst einmal möchte ich mich dafür bedanken,dass es möglich ist, heute über dieses Thema zu debattie-ren. Wir wissen, dass eine Katastrophe die andere jagt.In Nepal gab es erst vor kurzem über 8 000 Tote. BeiEbola hoffen wir, dass die Epidemie bald überwundensein wird; hier gab es über 10 000 Tote. Wir haben im-mens viele Krisen und immens viele Konfliktgebiete aufder Welt; das zeigt der Bericht der Bundesregierung.Seit Vorliegen des Berichts ist aber die Zahl der Kri-sen und Konflikte noch weiter gestiegen, und alte Krisenund Konflikte sind noch nicht beendet. Ich erinnere nuran Syrien, wo es immer noch 12,2 Millionen Hilfsbe-dürftige gibt. Das ist über die Hälfte der Bevölkerung.Über 4 Millionen Menschen sind aus dem Land geflo-hen, und es gibt über 7 Millionen Binnenvertriebene. Icherinnere auch an den Irak mit rund 3 Millionen Binnen-vertriebenen. Und es gibt viele andere Länder wie Soma-lia oder die Zentralafrikanische Republik, die Staatender EAC und noch einige mehr, die hier ebenfalls zunennen wären.Die Folgen sind Tragödien von unermesslichen Aus-maßen, die man sich so eigentlich nicht vorstellen kann.Wir sehen die Bilder tagtäglich im Fernsehen. Es bestehtdie große Gefahr, dass unsere Gefühle langsam abstump-fen, weil es einfach zu viele Krisen sind. Aber in jedem
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9939
Dagmar G. Wöhrl
(C)
(B)
Fall geht es um Einzelschicksale. Wir sehen Menschen,die im Mittelmeer ertrinken. Was man nicht sieht, ist,dass auch Menschen in der Wüste verdursten. Ihre Zahlsoll sogar bei weitem höher sein als die Zahl derjenigen,die bis jetzt im Mittelmeer ertrunken sind.Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierungihre humanitäre Hilfe ausweitet und auch Schritte zu ei-ner besseren Koordinierung unternimmt. Es ist wichtig,dass die Häuser hier zusammenarbeiten, damit es hier zukohärentem Handeln kommt. Wir wissen, wie schwieriges ist, diese Kohärenz herzustellen, auch wenn wir im-mer ganz toll darüber reden. Wir müssen darüber hinausvom reinen Reagieren wegkommen. Wir dürfen nichtnur reagieren, sondern müssen zukünftig viel mehr agie-ren. Die Vereinbarung zwischen den zwei Häusern bieteteine gute Grundlage. Es ist ein guter Ansatz, die Nothilfeim Auswärtigen Amt und die langfristige Entwicklungs-zusammenarbeit im Ministerium für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung anzusiedeln.Vereinbarte Maßnahmen muss man aber auch ab undzu evaluieren: Sind sie gut? War die Vereinbarung rich-tig? Kann man vielleicht etwas besser machen? – Ichglaube, es ist richtig, dass wir mit ESÜH, der „Entwick-lungsfördernden und Strukturbildenden Übergangshilfe“,eine Brücke gebaut haben. Diese Hilfe kann schnell undunbürokratisch geleistet werden, und sie kann an dieNothilfe anschließen. Vor allem kann so für die Dauervon drei bis vier Jahren eine stabile Finanzierung sicher-gestellt werden. Das ist etwas, was die Nothilfe in die-sem Zusammenhang manchmal nicht leisten kann.Wichtig und prioritär ist für uns, dass wir die Wider-standskraft dieser Länder und ihre Institutionen stärken.Sie müssen präventiv im Hinblick auf neu entstehendeKonflikte gestärkt werden, sodass man Krisen zukünftigvorbeugen kann.Meine Damen und Herren, humanitäre Hilfe wird nieganz verzichtbar sein; aber sie darf nie ein Ersatz für dieEntwicklungszusammenarbeit sein. Ich möchte in die-sem Zusammenhang einen Punkt ansprechen, der mirimmer wieder aufgefallen ist, und zwar die Koordinie-rung der Hilfsmaßnahmen. Wenn ich mir anschaue, wieheute die internationale Koordinierung der Hilfsmaßnah-men, vor allem die der Vereinten Nationen, dasteht,glaube ich, dass dieses Thema ganz dringend auf die Ta-gesordnung gesetzt werden muss.
Ich erinnere mich noch ganz gut daran, dass sich inHaiti 22 000 NGOs gegenseitig auf die Füße getretensind. Angesichts dessen muss man, wie ich glaube,schauen, wie man die Hilfsmaßnahmen international,also zum Beispiel im Rahmen der Vereinten Nationen,besser abstimmt.Der UN-Nothilfekoordinator Albrecht Beck hat sichgerade zu Nepal geäußert. Er hat gesagt, dass viele Staa-ten und Organisationen ihre eigene Flagge zeigen wollenund deshalb eigene Hilfe leisten, sodass keine echte Zu-sammenarbeit der internationalen Akteure erfolgt. Dassollte uns zu denken geben. Wir müssen hier internatio-nal zu einer größeren Effizienz kommen. Es sollte nichtjeder sein eigenes Süppchen kochen, sondern wir solltenzusammenarbeiten. Das muss in den großen internatio-nalen Organisationen angedacht und durchdiskutiertwerden; und es müssen auch Strukturreformen durchge-führt werden.Herr Koenigs, Sie haben vollkommen recht: DieWHO muss an ihre Strukturen herangehen. Wir hoffen,dass auch dieses Thema auf der Tagesordnung der Kon-ferenz, die demnächst von der Kanzlerin eröffnet wird,stehen wird.
Wir müssen schauen, dass Hilfe schnell auf die Beinegestellt wird und sich die Helfer einander nicht auf dieFüße treten.Eines ist besonders wichtig: Was lernen wir aus denverschiedenen Maßnahmen, die wir auf den Weg ge-bracht haben? Man spricht hier von „lesson learned“; dasist ein sehr wichtiger Terminus.Ebola war kein Ruhmesblatt für uns; das wissen wir.Aber wir haben gesagt: Wir lernen aus den Erfahrungen.Wir sprechen momentan von einem Weißhelmkontin-gent. Unabhängig davon, wie diese Einsatztruppe zu-künftig heißen wird, ob Weißhelme oder anders: Wirbrauchen eine Einsatztruppe. Die Weltgemeinschaftmuss sich überlegen, wie sie auf internationaler Ebeneauf Katastrophen, die auch künftig eintreten werden,schnell reagieren kann, wo sie Einsatzstationen mit ent-sprechendem Personal, das sofort aktiviert werden kann,vorhalten will.Ich glaube, dass wir umdenken müssen und in demBereich zu einer kohärenten und viel besser abgestimm-ten Politik kommen müssen.Ich möchte mich am Schluss für eines bedanken,nämlich für die Berücksichtigung der sogenannten ver-gessenen humanitären Krisen, Krisensituationen, dieschon länger auf der Welt bestehen. Ich erinnere hier anMindanao, den Konflikt auf den Philippinen. Ich erin-nere an die ethnischen Konflikte in Myanmar, an die sa-haurischen Flüchtlinge in Algerien. Man hört momentannichts davon, aber diese Konflikte bestehen weiter, siesind nicht beendet. Wir dürfen sie nicht vergessen, auchwenn die Kameras nicht mehr auf sie gerichtet sind unddie Karawane weitergezogen ist. Wir müssen hier wei-terhin unterstützend tätig werden. Deswegen bin ichfroh, dass wir 15 Prozent der Mittel aus dem Haushaltfür humanitäre Hilfe hierfür aufwenden. Auch wenn mo-mentan nicht spektakulär darüber berichtet wird, auchwenn die Fernsehkameras derzeit nicht draufhalten,müssen wir wissen, dass wir auch für die sogenanntenvergessenen humanitären Krisen Verantwortung haben.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, so notwendig Hilfe in der Not ist, so sehr dür-fen wir unser eigentliches Ziel nicht aus den Augen ver-lieren: durch eine nachhaltige Entwicklungszusammen-arbeit davon wegzukommen, permanent Nothilfe leistenzu müssen.In dem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Metadaten/Kopzeile:
9940 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Dagmar G. Wöhrl
(C)
(B)
Vielen Dank, Dagmar Wöhrl. – Damit schließe ichdie Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe aufDrucksache 18/4416 zum Bericht der Bundesregierungüber die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 2010 bis2013. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berichtsder Bundesregierung auf Drucksache 18/2900 eine Ent-schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Zustimmungvon CDU/CSU und SPD und Enthaltung bei den Linkenund bei Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe jetzt langsam, damit Sie möglicherweise diePlätze tauschen können, die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten SteffiLemke, Peter Meiwald, Dr. Valerie Wilms, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSchutz der Meere weltweit verankernDrucksache 18/4814Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten RalphLenkert, Birgit Menz, Caren Lay, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEMeeresumweltschutz national und internatio-nal stärkenDrucksache 18/4809Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen und Debattengegebenenfalls draußen zu führen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. AntonHofreiter für die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor circa zwei Jahren war ich das letzte Malmit einem Meereskajak in Südostasien von Insel zu Inselunterwegs. Mit einem Kajak kann man wunderbar tolleBuchten und einsame Strände, auf denen normalerweisekein Mensch ist, erkunden und wunderschöne Korallen-riffe entdecken.Der Punkt ist nur: Auf den ersten Blick wirkt es wieein echtes Paradies. Wenn man dann aber an Land gehtund sich die Strände genauer anschaut, dann entdecktman jenseits der Hochwasserlinie Berge von Plastik-müll. Inzwischen ist es absurderweise so, dass dort, wokeine Menschen sind, sehr viel mehr Müll liegt als dort,wo sich Menschen befinden. Der Müll wird nämlichvom Meer gebracht. Es ist uns tatsächlich gelungen, dieriesigen Weltmeere so zu vermüllen, dass an von Men-schen unberührten Stränden Berge von Plastikmüll lie-gen. Das ist absolut skandalös, und daran erkennt man,dass dringendster Handlungsbedarf besteht.
Die Übernutzung der Schätze des Meeres und dieseVermüllung, diese Nutzung der Meere seit vielen Jahr-zehnten als Mülltonnen, stellen für alle Menschen eineexistenzielle Bedrohung und Herausforderung dar. FrauMerkel bringt das Thema Meeresschutz jetzt auf denG 7-Gipfel. Ich muss dazu sagen: Das freut mich wirk-lich und ehrlich. Der Punkt ist nur: Ein Problem löst sichnicht dadurch, dass man es einfach nur auf die Tagesord-nung setzt und ein paar schöne Worte dazu findet.
Vielmehr brauchen wir wirklich Handlungen, Taten, Ge-setze und Maßnahmen, und zwar nicht nur auf schönenGipfeln, sondern auch hier vor Ort in Deutschland. Wirmüssen auch im eigenen Land die eigene Verantwortungerkennen.
Von Frau Merkel stammt folgender schöner Satz, densie in einem etwas anderen Zusammenhang gesagt hat:„Das, was zu verbessern ist, muss verbessert werden“. –Nehmen wir sie jetzt doch einmal beim Wort undschauen wir uns einige der direkten Probleme an, um zuüberprüfen, inwieweit Worte und Taten etwas miteinan-der zu tun haben.Fangen wir mit dem Problem Plastikmüll an. Im At-lantik – nicht nur im Pazifik, der dafür bekannt ist –schwimmt ein Plastikstrudel in der Größe von Texas. Andiesem Plastik verenden Fische, Vögel und zum Teilauch Wale und Delfine, weil sie diese Plastikteilchen fürNahrung halten. Das verstopft ihre Mägen, und sie ver-hungern dann. Diese Teilchen werden aber zugleich im-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9941
Dr. Anton Hofreiter
(C)
(B)
mer kleiner, und am Ende landen sie über Meeresfischund Nahrung aus den Meeren auch wieder auf unsereneigenen Tellern, weil dieses Plastik nicht zerfällt, son-dern nur in immer kleinere Teilchen zerfällt.Was tut unsere Bundesregierung? Unsere Bundesre-gierung schreibt einen netten Aktionsplan. Das sind wie-der einmal schöne Worte ohne Konsequenzen. Stattdes-sen müsste sie einmal wirklich etwas tun. Man könntezum Beispiel massiv etwas gegen den Einsatz von Plas-tiktüten tun. Wie wäre es mit einer Abgabe auf Plastiktü-ten? Wie wäre es mit einer Abgabe auf generell unver-rottbare Verpackungsplastiken? Wie wäre es damit, dieChemieindustrie mit einer entsprechenden Ökodesign-Richtlinie so unter Druck zu setzen, dass Verpackungs-plastik so hergestellt wird, dass es sich schadlos zer-setzt? Es ist nämlich kein Naturgesetz, dass PlastikmüllTausende von Jahren hält. Das kann man auch so gestal-ten, dass er sich nach wenigen Jahren in CO2 und Wasserzersetzt. Warum tun Sie hier nichts? Warum reden Sienur darüber?
Schauen wir uns das zweite ganz große Problem an,unter dem unsere Meere leiden: die Überdüngung. Un-sere Meere leiden massiv darunter, dass in ihnen viel zuviel Stickstoff ist. Woher kommt dieser Stickstoff?Dieser Stickstoff kommt aus unserer industriellen Land-wirtschaft, sowohl vom Kunstdünger als auch vom mas-senhaften Ausbringen von Gülle aufgrund der Massen-tierhaltung. Warum unternehmen Sie nichts dagegen?Auch hier könnte man begrenzend eingreifen.Aktuell wird über eine Düngeverordnung debattiert.Die von Ihnen vorgeschlagene Düngeverordnung istaber so wirkungslos, dass sie am Ende nicht helfen wird.Wir reden hier nicht nur von tropischen Meeren und vonweit entfernten Problemen. Betrachten wir die Ostsee:Die Ostsee ist inzwischen sehr stark überdüngt. Sie lei-det unter einem so starken Algenwachstum, dass es dortTodeszonen gibt. Das sind Zonen, die sauerstofffrei sind,in denen alles Leben abstirbt, und sie haben mittlerweiledie Größe von zum Beispiel meinem Heimatland Bayernerreicht. Was unternehmen Sie dagegen? Sie zerredendie Düngeverordnung, und das, was Sie dagegen tun,reicht nicht ansatzweise aus.Sie unternehmen nichts gegen diese großen Probleme,die direkt bei uns vor der Haustür sind.
Schauen wir uns einen dritten ganz großen Problem-komplex an, nämlich die Überfischung der Meere. In-zwischen sind 80 bis 85 Prozent der weltweiten Fischbe-stände massiv überfischt. Die Europäische Union undauch deutsche Fischtrawler tragen ihren Teil dazu bei.Die Europäische Union subventioniert, mit deutscherUnterstützung, diese Überfischung der Meere mit erheb-lichem Steuergeld. Die Meere werden nicht nur bei unsüberfischt, sondern auch vor afrikanischen Küsten. Wirentziehen damit den Fischern vor der libyschen Küste,vor Somalia, vor der westafrikanischen Küste ihre Le-bensgrundlagen. Zugleich stellt man fest: Wenn hierüber Flüchtlinge debattiert wird, wird immer gerne da-von gesprochen, man müsse die Fluchtursachen be-kämpfen. Ja, das müsste man. Aber warum tun Sie esdann nicht, wenn es konkret wird? Warum sorgen Sienicht dafür, dass die Fischer in diesen armen Länderneine Chance gegen die großen europäischen Fische-reiflotten haben?
Warum stellen Sie die Überfischung nicht ein?Die Zerstörung unserer Meere ist für uns alle eineexistenzielle Bedrohung. Deshalb ist es an der Zeit, dasThema nicht nur auf die Tagesordnung zu heben, son-dern mit den Möglichkeiten, die die deutsche Politik indiesem Bereich hat, endlich zu handeln und dafür zu sor-gen, dass wir diese Probleme wenigstens ansatzweise inden Griff bekommen. Denn – es stimmt –: „Das, was zuverbessern ist, muss verbessert werden.“ Es darf nichtnur darüber geredet werden, sondern es muss endlichauch gehandelt werden.Vielen Dank.
Vielen Dank, Toni Hofreiter. – Nächster Redner in der
Debatte: Karsten Möring für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ende Mai haben wir den Europäischen Tag der Meere,eingeführt im Jahr 2008, Bekanntheitsgrad minimal.Trotzdem macht ein solcher Tag Sinn; denn er dientdazu, uns die entscheidende Bedeutung der Ozeane fürunser tägliches Leben in Erinnerung zu rufen und in derÖffentlichkeit stärker ins Bewusstsein zu heben.Eins ist völlig klar: Der Meeresschutz ist auch für un-sere Fraktion, die CDU/CSU, ein wichtiges Anliegen.Wir haben mit der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinieund ihrer Umsetzung in nationales Recht schon einenMeilenstein erreicht. Und wenn Herr Hofreiter immerwieder betont, es gehe nicht um Beschlüsse, sondernUmsetzung sei das Thema,
sage ich: Dem stimmen wir auch zu. Ich werde gleichdarauf zurückkommen und Ihnen erläutern, was wir da-bei alles berücksichtigen müssen. Mit der Meeresstrate-gie-Rahmenrichtlinie jedenfalls wollen wir einen gutenUmweltzustand der europäischen Meere bis 2020 errei-chen. Dafür sind eine ganze Reihe verschiedenerSchritte notwendig.In ihren Anträgen allerdings wiederholt die Opposi-tion eigentlich nur Punkte, bei denen die Politik der Bun-
Metadaten/Kopzeile:
9942 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Karsten Möring
(C)
(B)
desregierung bereits Akzente gesetzt hat und die auf demWeg sind. Die überstürzte Art der Einbringung dieserAnträge – unter Absetzung anderer Punkte, die für dieseWoche vorgesehen waren – lässt mich eher vermuten,dass Sie versuchen wollen, im Windschatten des G 7-Gipfels noch schnell ein bisschen mediale Aufmerksam-keit zu erringen und sich als Gralshüter des Meeres-schutzes darzustellen.
Das sind Sie nicht; denn Ihr Anliegen ist kein anderes alsunseres.
Wir haben im Umweltausschuss am 20. Mai ein Fach-gespräch zu diesem Thema. Es wäre sinnvoll gewesen,diese Anträge dort einzubringen. Nun gut; wir werdendie Überweisung, wenn wir nachher darüber beschlie-ßen, mittragen, um dann im Umweltausschuss intensiverdarüber zu diskutieren.Intakte Weltmeere und Küsten, liebe Kolleginnen undKollegen, sind von überragender Bedeutung für dieganze Menschheit. Sie sind Lebensraum für zahlreicheArten von Fischen und anderen Tieren, sie sind Roh-stoffquelle, sie sind Erholungsraum für die Menschen,und sie haben eine nicht unerhebliche Bedeutung für dasWeltklima. Sie sind vielfältigen Belastungen ausgesetzt:Der Klimawandel führt zur Erwärmung der Weltmeere.Die Einträge aus der Atmosphäre und aus den Flüssenführen zu Versauerung. Das Problem der Überfischungwurde eben schon angesprochen. Es gibt einen zuneh-menden Schiffsverkehr mit seinen Folgewirkungen. Esfindet eine immense Verschmutzung der Ozeane statt.Es gibt aber auch Belastungen, die vom Land herkommen. Die Meere werden durch den Eintrag von Nit-rat, Stickstoff und Phosphor, vor allem aus der Landwirt-schaft, belastet, aber auch von Pflanzenschutzmittelres-ten, von Tierarzneimitteln und von Bioziden. DieseStoffeinträge müssen gesenkt werden. Die in Arbeit be-findliche Düngeverordnung wird dazu einen Beitragleisten. Sie ist zugleich aber auch ein Beispiel dafür, wiewichtig es ist, dass wir die verschiedenen Güter, um diees dabei geht, gegeneinander abwägen; denn die Festle-gung von Werten in der Düngeverordnung, welche auchimmer das sein mögen, beeinflusst zum Beispiel unsereLandwirtschaft ganz massiv. Trotzdem ist es notwendig.Die Landwirtschaft ist aber nicht der alleinige Belas-tungsfaktor vom Land her. Vielmehr haben wir es auchmit dem Eintrag von Chemikalien, vor allen Dingen abermit Arzneimittelrückständen wie Antibiotika und Ähnli-chem zu tun. Auch daran müssen wir arbeiten. Das istein extrem schwieriges Themenfeld, wenn es um diekonkrete Ausgestaltung geht. Dazu gibt es noch keineLösungen.Selbst das, was wir im Offshorebereich zugunsten desKlimas und zugunsten unserer Energiewende machen,nämlich der Bau von Offshorewindanlagen, ist unterdem Gesichtspunkt des Meeresschutzes nicht unproble-matisch. Es gibt wieder ein wunderbares Beispiel, dasbelegt, dass wir es hier mit Zielkonflikten zu tun haben,die wir miteinander austarieren und für die wir Lösungenfinden müssen.Der Bau von Offshorewindanlagen führt zu Lärmbe-lastungen, vielleicht auch der Betrieb. Wie es sich mitInfraschall verhält, darüber wird diskutiert. Dazu liegenuns noch keine stichhaltigen Erkenntnisse vor. Es siehtbislang so aus, als wäre dieser Schall für die Menschenkein Problem, wohl aber für bestimmte Tierarten. Auchdort müssen wir abwägen, was wir wollen, ob das eineoder das andere bzw., wenn beides, in welcher Kombina-tion. Sicher ist, dass wir solche Anlagen nur bauen dür-fen, wenn sie der Seeanlagenverordnung entsprechen;diese legt ja fest, dass die Meeresumwelt nicht gefährdetwerden darf. Was das konkret heißt und welche Belas-tungen, die von solchen Anlagen ausgehen, wir akzeptie-ren, ist diskussionswürdig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abfallpolitikder Bundesregierung leistet schon erhebliche Beiträgezur Reduzierung der landseitigen Meeresverschmut-zung. Herr Hofreiter hat eben das Stichwort „Plastik-müll“ erwähnt. Der Plastiktütenverbrauch in Deutsch-land liegt weit unter dem europäischen Durchschnitt.Was die Verwendung von mehrfach nutzbaren Plastiktü-ten angeht, liegen wir weit über dem Durchschnitt in Eu-ropa. Das kann man sicherlich verstärken. Aber dass hiersozusagen der schlechteste Teil der Welt liegt, trifft nunwirklich nicht zu. Das Forschungsministerium hat imFebruar 2015 mit zehn EU-Staaten ein Forschungspro-gramm zum Thema Mikroplastik aufgelegt. Aus dendort gewonnenen Erkenntnissen haben wir dann Konse-quenzen zu ziehen, was wir tun können, um die Müllbe-lastung aus diesem Bereich zu reduzieren.Die Bekämpfung der Meeresvermüllung findet auchauf regionaler Ebene statt. Wir haben seit 2014 einen re-gionalen Aktionsplan. Hier haben sich die Anrainerstaa-ten von Nord- und Ostsee zusammengeschlossen, umdafür zu sorgen, dass deutlich weniger Abfall in dieseMeeresbereiche gebracht wird, und zum Teil sogar Müllaus den Meeren, soweit es technisch und mit vertretba-rem Aufwand möglich ist, zu entfernen. Die Zahlen sindja erschreckend. Jährlich gibt es 6,4 Millionen Tonnenneue Plastikabfälle im Meer. Wenn man das umrechnet,dann kommt man zu dem Ergebnis, dass 13 000 Plastik-müllteile auf einen Quadratkilometer entfallen. Da dieseTeile in der Tat zerfallen, nimmt ihre Zahl schon alleinedeswegen ständig zu.Wir müssen uns aber davor hüten, einseitig bestimmteBereiche zu Sündenböcken zu machen, die Schifffahrtbeispielsweise. Wir dürfen sie nicht so belasten, dass eszu Verlagerungen auf andere Verkehrsträger, also wiederauf Landverkehr, kommt. Wir dürfen auch Auflagennicht so konstruieren, dass beispielsweise die illegaleEntsorgung von Müll auf den Weltmeeren wieder zurbilligeren Lösung wird. Gerade das wollen wir verhin-dern. Die Entsorgung soll ja an Land passieren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9943
Karsten Möring
(C)
(B)
80 Prozent des Mülls im Meer kommen vom Land her.80 Prozent! In diesem Bereich haben wir durchaus natio-nalen Handlungsbedarf, auch wenn wir in Deutschlandhier einiges erreicht haben.Ich komme zum Schluss auf ein Beispiel zu sprechen,das ein wenig verdeutlichen kann, warum es für unsauch auf nationaler Ebene wichtig ist, dass wir unsere ei-genen Küsten schützen: Das müssen wir für Flora undFauna genauso wie für den wichtigen WirtschaftszweigTourismus tun.Herr Hofreiter, Sie sagen, die Küsten, wo keine Men-schen sind, sind vermüllt, die Küsten, wo Menschensind, nicht. Gut, die Tourismusindustrie sorgt dafür, dassder Teil, der von Menschen aufgesucht wird, sauber ist.Das ist nachvollziehbar. Wir müssen aber auch dafür sor-gen, dass die anderen Teile sauber werden. Darin stim-men wir völlig überein.Ich bin daher der Bundeskanzlerin außerordentlichdankbar, dass sie dieses Thema zu einem Schwerpunktder G 7-Gespräche macht. Der Schutz der Ozeane unddie drastisch zunehmende Vermüllung der Weltmeeresollen in den Blick genommen werden, insbesonderewas den Plastikmüll angeht. Sie haben gerade gesagt,uns helfen keine Appelle oder schönen Worte. Das istzutreffend. Was aber auf dem G 7-Gipfel besprochenwird, wird nicht in den blauen Dunst hinein gesprochen,sondern es führt in der Nachbearbeitung zu Maßnahmen.Vor allen Dingen – das ist ganz wichtig – macht es kei-nen Sinn, nur mit kleinen Maßnahmen auf nationalerEbene zu arbeiten; allein kleinräumig betrachtet sind siesinnvoll. Wir bekommen dieses Thema nur dann inGriff, wenn wir es in seiner globalen Dimension begrei-fen.Deswegen, liebe Vertreterinnen und Vertreter der Op-position: Unterstützen Sie die Bundeskanzlerin und dieBundesregierung bei diesem Vorhaben. Vielleicht wir-ken Sie auf den einen oder anderen ein, sich etwas weni-ger in G 7-Protestcamps in den bayerischen Bergen zuengagieren, aber mehr in den zuständigen Ausschüssenoder bei der Bildung der öffentlichen Meinung. Viel-leicht trägt jeder in dem Bereich, auf den er Zugriff hat,seinen Teil dazu bei.
Das Ziel der deutschen Meeresschutzpolitik ist einauf dem Ökosystemansatz beruhendes, umfassendes undintegriertes Management aller Aktivitäten, um einen gu-ten Zustand zu erreichen. Dafür brauchen wir ein Zu-sammenwirken aller Politikbereiche.Ich will abschließen mit einem kurzen Blick auf dieSituation des Rheines im Bereich meiner HeimatstadtKöln.
Aber wirklich nur kurz.
Danke, ich mache es sehr schnell. – Im letzten Jahr
hat das Fangen eines Fisches Aufsehen erregt: eines
Maifisches. Ein Maifisch ist ein Fisch, der zwar im
Rhein geboren wird, dann aber auswandert und bis zur
Geschlechtsreife im Meer bleibt, dann zurückkommt
und Eier ablegt. Das Besondere war, dass wir erstmals
einen solchen Fisch gefangen haben, der nicht im Rhein
ausgesetzt wurde, sondern der diesen vollständigen Zy-
klus durchlaufen hat. Das zeigt – zusammen mit der
Feststellung, dass wir inzwischen wieder um die 50 ver-
schiedene Fischarten im Rhein haben –, dass wir mit na-
tionalen Maßnahmen bei der Reinhaltung von Flüssen
einiges erreichen können. Das sollten wir auch beibehal-
ten.
All denjenigen, die dazu beigetragen haben – das sind
auch viele Ehrenamtler –, sollten wir dafür besonders
dankbar sein. Sie behalten das Ziel einer guten Wasser-
qualität im Blick und arbeiten dafür – jeder an seinem
Platz –, dass es da auch in Zukunft weiterhin Erfolge
gibt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Ich möchte noch einmal darauf auf-
merksam machen: Wenn man die Redezeit zu weit über-
zieht, geht das in der Regel zulasten der nachfolgenden
Redner und Rednerinnen. Das machen wir jetzt nicht.
Dies ist ein Hinweis für alle, die danach zu Wort kom-
men, im Zeitrahmen zu bleiben.
Nächster Redner für die Fraktion die Linke ist der
Kollege Hubertus Zdebel.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Die Belastung unserer Ozeane wird ein immer drängen-deres Problem. Und dabei ist die Betrachtung der Mee-resbelastung durch Plastikmüll nur eine Komponente.Es ist richtig und wichtig und auch sehr zentral, dassdie Bundesregierung den Meeresschutz als ein Schwer-punktthema der deutschen Präsidentschaft des G 7-Gip-fels benennt, der eigentlich ein G 8-Gipfel sein sollte,was bei der langen russischen Küstenlinie auch Sinn ma-chen würde. Aber das ist ein anderes Thema.Toni Hofreiter hat gerade darauf hingewiesen: DasReden über den Meeresschutz ist das eine; es kommt vorallen Dingen aber darauf an, zu handeln und Konsequen-zen zu ziehen. Ich will einen Aspekt anbringen, der inder Diskussion überhaupt noch nicht erwähnt worden ist,nämlich den Wettlauf um die Bodenschätze der Ozeane:Kupfer, Kobalt und Seltene Erden. Dieser Wettlauf istbereits im vollen Gange. Dabei geht es um knallhartegeopolitische und wirtschaftliche Interessen. Ab 2016können erste Explorationslizenzen bei der Internationa-len Meeresbodenbehörde, ISA, in Förderlizenzen umge-wandelt werden. Dann geht der Run auf Tiefseereservenrichtig los, um den eigenen Rohstoffhunger zu stillenund zu decken. Deutschland ist im Rahmen seiner Roh-stoffstrategie voll dabei.
Metadaten/Kopzeile:
9944 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Hubertus Zdebel
(C)
(B)
An dieser Stelle muss man, glaube ich, einmal Fol-gendes erwähnen: Deutschland erwarb bereits 2006 beider ISA eine Explorationslizenz für ein 75 000 Quadrat-kilometer großes Tiefseegebiet im Südpazifik. Mehr als4 000 Meter unter dem Wasserspiegel liegen dort Man-ganknollen auf dem Meeresboden, die einen hohen An-teil an Metallen wie Mangan, Eisen, Kobalt, Nickel,Kupfer und anderen Stoffen enthalten. Gerade am letztenMittwoch unterzeichnete die Bundesregierung ihrezweite Explorationslizenz für ein 10 000 Quadratkilo-meter großes Gebiet im Indischen Ozean südöstlich vorMadagaskar. In bis zu 4 000 Metern Tiefe soll nun nachBuntmetallen wie Kupfer, Blei oder Zink sowie vor al-lem nach sogenannten Hochtechnologiemetallen gesuchtwerden. Außerdem sind deutsche Unternehmen im Be-reich der Bohrtechnik oder als Lieferanten entsprechen-der Technik und Ausrüstung schon heute internationalgefragte Ansprechpartner, allen voran Siemens.Die Nutzungsinteressen in den Bereichen Energiege-winnung, Rohstoffförderung, Transport, Nahrungsbeschaf-fung und Unterbringung der Versorgungsinfrastrukturgreifen natürlich in das Ökosystem Meer ein. Das ist derzentrale Punkt bei dem Ganzen. Bereits jetzt gelten über40 Prozent der Meere als stark vom Menschen beein-flusst. Die Artenvielfalt in den Meeren geht zurück unddamit der genetische Pool. Gerade in der Tiefsee – da-rüber reden wir ja, wenn es um diese Explorations- undFörderlizenzen geht – führt das aufgrund der langsamablaufenden biologischen Prozesse zu starken Auswir-kungen. Deswegen fordert die Linke ein weltweites Mo-ratorium für den Tiefseebergbau, und zwar so lange, bisausreichende Informationen über die Flora und Faunader Tiefsee vorliegen, aufgrund derer die Folgen vonmenschlichen Tiefseeaktivitäten auf die Ökosystemerealistisch eingeschätzt werden können.
Diese Informationen liegen im Moment noch nicht vor.In diesem lichtleeren Raum fehlt nämlich im wahrstenSinne des Wortes der Durchblick, wie die SüddeutscheZeitung in ihrer Ausgabe vom vergangenen Samstagsehr eindrücklich verdeutlicht hat. Jeder Eingriff, geradeim Tiefseebereich, kann fatal sein.Außerdem macht sich die Linke bezüglich jeglichermariner Rohstoffförderung und -nutzung für die Verur-sacherverantwortung im gesamten Förderprozess – bishin zu sozialen und ökologischen Folgekosten – stark.
Das internationale Seerechtsübereinkommen UNCLOSregelt die verschiedenen Nutzungsansprüche auf Seerecht umfassend. Aus unserer Sicht ist es allerdings ele-mentar, dass auch die USA als einflussreiches und roh-stoffhungriges Land dieses wichtige Abkommen ratifi-zieren. Das ist bisher noch nicht der Fall.Die Linke fordert ferner weltweit gute Arbeitsbedin-gungen auf See und eine gerechte Verteilung der durchdie Rohstoffförderung erzielten Gewinne auf alle betei-ligten Länder.Nicht nur im sozialen, sondern auch im ökologischenSinne halten wir es für absolut unerlässlich, dass eineAusflaggung von Schiffen unter Billigflaggen grund-sätzlich ausgeschlossen ist und bleibt.
Hierzu bedarf es bis 2020 eines internationalen Vertrags-werks in Anlehnung an die Initiative der InternationalTransport Workers’ Federation, die die Schiffsflagge andie Nationalität bzw. den Wohnsitz des Schiffseignersbindet.Weitere große Themen sind der Schutz der Biodiver-sität, die Eindämmung von Nähr- und Schadstoffeinträ-gen und die Umsetzung verbindlicher Fischereiabkom-men, die das Fischen nach Mehrjahresplan und demsogenannten Maximum-Sustainable-Yield-Prinzip – da-bei geht es um den höchstmöglichen Dauerertrag – so-wie ökologisch unverträgliche Fischereimethoden wiemobile bodenberührende Fanggeräte und Stellnetze aus-schließen und Fangverbotsareale festlegen.
Die nationale Ebene will ich in dieser Rede nur sehrkurz berühren, da Toni Hofreiter in seiner Rede schon ei-niges dazu gesagt hat. Nur so viel: Gerade in den Punk-ten „Nährstoffeinträge aus der Landwirtschaft“ und„Fischerei“ ist das Bundesumweltministerium in seinerVerhandlungsposition gegenüber dem Bundeslandwirt-schaftsministerium ausdrücklich zu stärken. FrauSchwarzelühr-Sutter, da Sie heute anwesend sind,möchte ich Sie bitten, Frau Hendricks auszurichten, bittedafür zu sorgen, dass fischereiökologische Maßnahmenund flächendeckende Gewässerrandstreifen von mindes-tens 5 Metern mit einem Verbot von Düngung, Pflanzen-schutzmitteleinsatz und Ackernutzung wieder auf dieListe des Maßnahmenkatalogs zur Umsetzung der Mee-resstrategie-Rahmenrichtlinie kommen. Das ist nämlichbisher leider nicht der Fall.Nicht ohne Grund verfehlt Deutschland die Ziele derWasserrahmenrichtlinie, bis Ende 2015 einen guten öko-logischen und chemischen Zustand der Oberflächenge-wässer zu erreichen. Es ist noch unklar, ob der zweiteBewirtschaftungszeitraum bis Ende 2021 dieses Ergeb-nis maßgeblich ändern wird, wenn nicht eine grundle-gend andere Gewässerpolitik gefahren wird. Uns allenmuss klar sein: Meeresschutz beginnt schon bei der Ge-wässerquelle.
Zum Schluss: Die Meldung von Mitte April über denÖlteppich vor Gran Canaria hat nicht nur bestätigt, dassdas Meer permanent durch menschliche Nutzungsinter-essen gefährdet ist, sondern vor allem auch, wie zynischmit weniger wirtschaftlich entwickelten Ländern umge-gangen wird. Im konkreten Fall sollte das brennende rus-sische Schiff nicht gelöscht, sondern auf offenem Meerseinem Schicksal überlassen werden. Die Strömungwürde den Treibstoff in Richtung Afrika treiben. Mittler-weile ist das Schiff mit großen Teilen seines Treib-stoffs gesunken. Es stellte sich heraus, dass die „OlegNaydenov“ schon 2012 ohne Lizenz beim Fischen er-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9945
Hubertus Zdebel
(C)
(B)
wischt wurde, und zwar unter anderem vor der Küste Se-negals, wo Fischerei verboten ist. Auch vor Somaliawurde in Krisenzeiten illegal gefischt, was im Anschlusszu Waffengewalt und Piraterie führte.Der Schutz des Meeres und seiner Ressourcen bedeu-tet auch Friedenssicherung. Auch deshalb setzt sich dieLinke dafür ein.
Vielen Dank. Die Einhaltung der Redezeit war vor-
bildlich.
Als Nächste erhält die Parlamentarische Staatssekre-
tärin Rita Schwarzelühr-Sutter das Wort für die Bundes-
regierung.
Ri
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Beide Anträge zumMeeresschutz greifen ein ganz wichtiges Themenfeldauf. Sicherlich kann man sagen, dass die Vermüllung derMeere aktuell eine der größten Herausforderungen fürdie Meeresökosysteme ist.Deutschland hat als Anlieger an zwei europäischenMeeren – an Nord- und Ostsee – eine ganz besondereBeziehung zum Meeres- und Meeresnaturschutz. Wirwirken bereits in regionalen Kooperationen mit, um dieQualität der biologischen Vielfalt und der Meeresöko-systeme von Nord- und Ostsee zu verbessern. Auch dasWattenmeer als Weltnaturerbe ist ein Vorzeigebeispiel,wie es gelingen kann, Nutzungen und Umweltschutz zu-sammenzubringen.Mit dem Inkrafttreten der europäischen Meeresstrate-gie-Rahmenrichtlinie verfügen wir jetzt über ein umfas-sendes Regelwerk für eine einheitliche europäischeMeeresschutzpolitik. Alle Belastungen und Nutzungender Meere sollen hier integriert betrachtet werden. DieBundesregierung ist entschlossen, diese Richtlinie kon-sequent umzusetzen und den guten Umweltzustand inden deutschen Meeresgebieten zu erreichen bzw. Ver-besserungen herbeizuführen.Dabei kommt es entscheidend darauf an, alle meeres-bezogenen EU-Richtlinien – dies sind, wie schon mehr-fach angesprochen, neben der Meeresstrategie-Rahmen-richtlinie insbesondere die Wasserrahmenrichtlinie, dieNitratrichtlinie, also nicht nur die Düngeverordnung, so-wie die FFH- und die Vogelschutzrichtlinien – intelligentzu verknüpfen und in koordinierter Form umzusetzen.Hier brauchen wir die Synergien und auch die Kohärenz.Ein guter ökologischer Zustand der Binnengewässerwirkt sich auch auf das Meer aus. Es geht also nicht nurum den Müll, der vom Schiff aus in die Meere verklapptwird. Vielmehr geht es auch um die Binnengewässer.Das bedeutet, dass wir für unsere Maßnahmen Verständ-nis auch bei denjenigen einwerben müssen, die keineKüsten haben, also bei den Binnenländern. Zurzeit be-finden sich unsere Maßnahmenvorschläge ja in der Öf-fentlichkeitsbeteiligung. Wir hoffen auf eine rege Betei-ligung. Die Bundesländer, auch Nordrhein-Westfalen,sind an der Anhörung beteiligt. Alle diskutieren hiernoch einmal intensiv mit, und ich wäre natürlich dank-bar, wenn Sie uns bei bestimmten Zielkonflikten in eini-gen Ressorts Rückenwind geben würden.
Beim Meeresnaturschutz wollen wir so schnell wiemöglich zu einer Regelung der Fischerei in den deut-schen Natura-2000-Gebieten in der AWZ von Nord- undOstsee kommen. Für die Nordsee haben sich das Um-weltministerium und das Landwirtschaftsministeriumvor kurzem auf Regelungen für den Einsatz von Grund-schleppnetzen und Stellnetzen in den Schutzgebieten ge-einigt. Ich glaube, das ist nach der langen Zeit, in derman sich nicht einigen konnte, tatsächlich ein Erfolg.Diesen Vorschlag müssen wir nun mit den betroffenenNachbarstaaten abstimmen, wie es im EU-Recht vorge-sehen ist.Darüber hinaus betreibt das BMUB als federführen-des Ministerium gegenwärtig mit Nachdruck das Verfah-ren zur Ausweisung der Natura-2000-Gebiete in derAWZ als Naturschutzgebiete. Wir treten mit einem am-bitionierten Ansatz an. Über die europäischen Schutzgü-ter der Natura-2000-Richtlinie hinaus soll eine Reiheweiterer gefährdeter Arten in einen der FFH-Richtlinievergleichbaren Schutz überführt werden. Auch da wol-len wir mit unserem ambitionierten Vorgehen dazu bei-tragen, die Artenvielfalt zu bewahren und zu schützen.Auch den gebietsbezogenen Anforderungen der Meeres-strategie-Rahmenrichtlinie wollen wir damit gerechtwerden. Wir hoffen, innerhalb der Bundesregierungrasch zu einer abgestimmten Position zu gelangen unddann mit der Anhörung zügig voranzukommen.Lassen Sie mich einen ganz anderen und sehr aktuel-len Aspekt aufgreifen, nämlich die Vermüllung derMeere; das wurde schon mehrfach genannt. Der Eintragvon Plastikmüll hat Auswirkungen auf die Nahrungs-kette und schlussendlich natürlich auf den Menschen.Für das Mittelmeer sowie für den Nordostatlantik gibt esbereits regionale Aktionspläne. Im Rahmen von OSPARsind wir einen Schritt weitergekommen. Die Pläne bil-den eine belastbare Grundlage für unser weiteres Vorge-hen. Auch für die Ostseeregion wird vermutlich Mittedieses Jahres ein entsprechender Plan folgen. Deutsch-land hat hier eine aktive Rolle eingenommen. Man kannsagen, dass wir de facto fachlich die Führung übernom-men haben.Die Dimension dieses die Meeresökosysteme welt-weit intensiv bedrohenden Verschmutzungsszenariosund der Wille, in enger Abstimmung mit den anderen In-dustriestaaten der G 7-Gruppe dieses Momentum zu nut-zen, werden nicht nur auf dem Gipfeltreffen aufgegrif-fen, sondern bilden den Ausgangspunkt dafür, diesesThema verstärkt ins Bewusstsein zu rücken und anzuge-hen. Deshalb sind der Schutz der Meere und Maßnah-
Metadaten/Kopzeile:
9946 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
(C)
(B)
men gegen die Vermüllung auf der Agenda der deut-schen G 7-Präsidentschaft so prominent gesetzt.Aber es gibt dieses Jahr noch andere Termine, näm-lich der UN-Gipfel zu den Post-2015-Zielen in NewYork und die Klimakonferenz in Paris. Auch das hat mitMeeresschutz zu tun, und zwar mit dem Ausstoß desTreibhausgases CO2. Auch hier werden Schwerpunktegesetzt, die für die Agenda der G 7 eine Rolle spielen.Außerdem wollen wir im Kreis der G 7 das ThemaRessourcenschutz aufgreifen, weil die Ressourcen – Siehaben es angesprochen –, die in oder unter dem Meer la-gern, zu einem Spannungsfeld zwischen Ökonomie undÖkologie führen. Natürlich müssen wir auch sehen: Wel-che Erkenntnisse haben wir bis jetzt? Wie gehen wir inZukunft damit um, um dieses besondere Ökosystem zuschützen?Dass das tatsächlich funktioniert, beweist die Eini-gung im Rahmen der Pledging-Konferenz in London zurFertigstellung einer Schutzhülle für den Tschernobyl-Reaktor. Dort konnten wir die Finanzierungslückeschließen. Es wird also nicht nur geredet, sondern eswird schon im Vorfeld gearbeitet und das Thema beimGipfel selber tatsächlich prominent besetzt.
Das war ein kleiner Exkurs, um aufzuzeigen, dass dieBundesregierung handelt.Ich hätte noch zu so vielen wichtigen Punkten – ichsehe schon die Lampe leuchten – etwas zu sagen,
aber ich will es doch bei der Feststellung belassen, dasswir es für wichtig halten, bezüglich des internationalenTiefseebodenbergbaus zu einem global gültigen Kodexzu kommen. Wir als Bundesregierung werden uns vehe-ment dafür einsetzen, dass wir die Meeresökosystemeund die biologische Vielfalt besser schützen. Das gehtaber tatsächlich nur global. An dieser Stelle gibt es nochviele Schwierigkeiten zu überwinden.Wir brauchen, wie gesagt, eine globale Lösung. Inso-fern unterstützen wir das Übereinkommen über diebiologische Vielfalt, CBD, zur Identifizierung von öko-logisch und biologisch bedeutsamen Meeresschutzgebie-ten, den EBSAs, und wollen dieses weiter voranbringen.Ich freue mich auf die gemeinsame Anhörung am20. Mai 2015, bei der wir dieses Thema, gerade weil derTag des Meeres noch nicht im Bewusstsein aller Men-schen angekommen ist, prominent besetzen wollen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Thomas
Gebhart, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! In unseren Meeren schwimmen mehr als100 Millionen Tonnen Müll. Jahr für Jahr kommen al-leine 13 Millionen Tonnen an Kunststoffabfällen dazu.Im Nordpazifik treibt ein Müllteppich, der so groß istwie Deutschland und Frankreich zusammen. Wir könnenund dürfen es nicht zulassen, dass unsere Meere zu einergigantischen Mülldeponie werden und verkommen. Esist unsere Aufgabe, die Meere zu schützen. Das ist auchfür uns Christdemokraten ein Kernanliegen. Es geht umelementare Lebensgrundlagen, die wir schützen wollen,die wir bewahren wollen, auch für nachfolgende Genera-tionen.
Die Meere zu schützen, ist eine Aufgabe, die nicht einLand allein, sondern nur alle Länder zusammen erreichenkönnen. Alle müssen ihren Beitrag leisten. Deswegen ge-hört dieses Thema auf die Tagesordnung der internationa-len Politik. Genau dafür hat unsere Bundesregierunggesorgt. Meeresschutz ist ein Schwerpunktthema derG 7-Präsidentschaft. Es soll einen Aktionsplan gegenMeeresvermüllung geben. Wir unterstützen die Bundes-regierung ausdrücklich in all ihren Anstrengungen, undwir wünschen unserer Bundeskanzlerin Angela Merkelviel Erfolg dabei.
Meine Damen und Herren, was ist zu tun? Zunächsteinmal müssen alle ihren Beitrag in der Art und Weiseleisten, dass es funktionierende Abfallwirtschaftssys-teme gibt. Deutschland gilt in diesem Bereich internatio-nal als Vorreiter. Wir haben in der Tat eine funktionie-rende Abfall- und Kreislaufwirtschaft, eine moderneKreislaufwirtschaft. Aber auch wir wissen: Wir habennoch Potenziale. Wir können besser werden. Deswegenwollen wir uns weiterentwickeln. Wir wollen, dass inZukunft noch mehr als heute gilt: Wir machen aus Ab-fällen wertvolle Rohstoffe. Wir wollen und wir werdendie Kreisläufe in Zukunft noch besser schließen, als wirdas heute tun.
Wir setzen dabei vor allem auf ein Prinzip, das wirstärken wollen, nämlich das Prinzip der Produktverant-wortung. Was heißt Produktverantwortung? Es warKlaus Töpfer, der damals die Verpackungsverordnungeingeführt hat, in der festgelegt ist, dass jeder, der inDeutschland eine Verpackung an den Markt bringt, dazuverpflichtet ist, diese hinterher zurückzunehmen undnach bestimmten Quoten wiederzuverwerten.Unternehmen übernehmen Verantwortung für den ge-samten Lebenszyklus eines Produkts. Sie übernehmenauch nach der Nutzungsphase einer Verpackung bzw.eines Produkts Verantwortung. Es entstehen Anreize,Produkte von Anfang an so zu gestalten, dass Abfällemöglichst vermieden werden oder dass sie einfach undgünstig zu recyceln sind. Es entstehen Anreize zur Inno-vation. Es ist ein zutiefst marktwirtschaftliches Prinzip,weil nämlich die Entsorgungskosten Teil des Preises
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9947
Dr. Thomas Gebhart
(C)
(B)
werden und damit Teil des Wettbewerbs. Dieses Prinzipwollen wir ausdehnen, auch über Verpackungen hinaus,auf Erzeugnisse aus Kunststoffen und Metallen. Ich be-grüße in diesem Zusammenhang, dass die Grünen in ih-rem Antrag diesen Punkt der Union übernommen haben.Im Zusammenhang mit der Meeresverschmutzungwird viel über die sogenannten Mikrokunststoffe gespro-chen. Worum geht es? Es sind feste, kleine Kunststoff-partikel, und es ist uns allen klar: Kunststoffe gehörennicht in das Meer. Wir müssen aber auch feststellen: Esgibt erheblichen Forschungsbedarf. Deswegen ist es gut,dass einige Aktivitäten laufen, und es ist wichtig, dassjetzt unsere Bundesforschungsministerin JohannaWanka ein europaweites Forschungsprojekt initiiert hat.Es geht darum, mehr Daten zu gewinnen, mehr über dieWirkungsweisen zu erfahren. Das ist der richtige Weg;denn zur Wahrheit gehört: Es gibt Wissenslücken, es gibtForschungsbedarf, und es ist nicht so, wie die Grünenund die Linken manchmal den Anschein erwecken, alswüssten wir bereits alles.
Woher kommen diese Mikrokunststoffe? Es gibt imGrunde zwei Quellen. Die erste Quelle – das ist der weit-aus größere Teil – sind Abfälle, die unsachgemäß ent-sorgt werden und dann über Umwege im Meer landen.Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, brauchtes funktionierende Abfallwirtschaftssysteme in allenLändern; darüber haben wir gesprochen. Der weitauskleinere Teil sind kleine Kunststoffpartikel als Bestand-teil von Produkten, zum Beispiel in Reinigungspasten, inder Kosmetik und vielen anderen Bereichen, die überdas Abwasser indirekt in das Meer gelangen.Hier ist das Ministerium aktiv geworden. Das habenwir auch gefordert. Hier sind Gespräche mit der Kosme-tikindustrie mit dem Ziel eines Ausstiegs aus der Ver-wendung im Gange. Ich möchte an dieser Stelle dieseForderung mit Nachdruck unterstreichen.
Die Verschmutzung der Meere wird oft vor allem undzuerst mit Kunststofftüten in Verbindung gebracht. Zwarist der Anteil am Kunststoffverbrauch weniger als 1 Pro-zent, aber – das muss man ehrlich und offen dazu sagen –das ist zum Teil ein Symbolthema geworden. Allerdingsnicht nur das; denn immerhin wurden 2010 in der Euro-päischen Union 8 Milliarden Tüten weggeworfen. Wennwir die Situation betrachten und uns fragen, wie der Ver-brauch an Kunststofftüten in der Europäischen Union ist,dann ergibt sich ein sehr differenziertes Bild. Im Durch-schnitt verbrauchen die EU-Bürger 198 Tüten pro Kopfund Jahr, einige Länder liegen deutlich darüber, andereLänder liegen deutlich darunter, auch Deutschland. Beiuns sind es 71 Tüten pro Kopf und Jahr. Es kommt beiuns hinzu, dass wir ein funktionierendes Abfallwirt-schaftssystem haben, das dazu führt, dass diese Tütenam Ende ihres Lebenszyklus flächendeckend erfasst undordnungsgemäß entsorgt werden, zumindest in der Re-gel.
Das Europäische Parlament hat jetzt beschlossen, denVerbrauch der Tüten in zwei Schritten zu reduzieren.Wir begrüßen diesen Schritt ausdrücklich. Die Mitglied-staaten sind jetzt aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen.Auch Deutschland muss Maßnahmen ergreifen. Es istdie Frage: Was werden wir tun?Ich empfehle, dass wir einen Blick auf den Lebens-mitteleinzelhandel werfen. Dort gilt: Die Tüten werdennicht kostenlos an die Verbraucherinnen und Verbrau-cher abgegeben. Das hat funktioniert, das hat gewirkt,der Verbrauch der Tüten ging zurück. Wir sind der Auf-fassung, dass das, was im Lebensmitteleinzelhandel gilt,im gesamten Handel gelten sollte, nämlich dass die Tü-ten nicht mehr kostenlos abgegeben werden.
Ich fordere an dieser Stelle das Ministerium auf, tätig zuwerden und Gespräche mit dem Handel darüber zu füh-ren.Wir haben viel vor uns. Es gilt, die Meere zu schüt-zen. Insbesondere auf internationaler Ebene ist dies eineriesige Herausforderung. Aber eines ist klar: Die Grünenund die Linken, deren Anträge uns heute vorliegen, ma-chen es sich zu einfach und übersehen das viele Positivein unserem Land.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Darauf darf jetzt die Kollegin Steffi
Lemke, Bündnis 90/Die Grünen, antworten.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Merkel hat 2011 vor der CDU/CSU-Fraktion gesagt, wir sollten die Meere in unsere Herzenschließen. Nach den Reden der CDU-Kollegen habe ichkurz überlegt, ob das eine Drohung gewesen ist. Sie ha-ben zwar erwähnt, dass wir Regelungen haben – es gibtlängst Aktionspläne, wir haben Gesetze und die Meeres-strategie-Rahmenrichtlinie der EU –; die Bundesregie-rung wird aber gerade von der EU und von den deut-schen Umweltverbänden verklagt, weil sie dieseGesetze, weil sie diese Richtlinie nicht umsetzt. Unddann stellen Sie sich hierhin und sagen: Wir haben dochdie Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie, wir haben Ak-tionspläne; die Anträge der Opposition sind überflüssig. –Was Sie hier gemacht haben, ist hanebüchen.
Natürlich haben wir unsere Anträge aufgesetzt, weilFrau Merkel angekündigt hat, einen Aktionsplan aufdem G 7-Gipfel zu thematisieren. Was denken Sie denn?Es ist die Aufgabe der Opposition, solche Dinge hier insParlament hineinzutragen. Sie können das entweder alsRückenwind für Ihre richtigen Anliegen interpretieren,oder Sie können es auch so interpretieren, dass wir Ihnen
Metadaten/Kopzeile:
9948 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Steffi Lemke
(C)
(B)
an den Stellen, wo Sie nicht weit genug gehen und woSie die Probleme ignorieren, einfach ein bisschen mehrals Rückenwind geben wollen: den Finger auf dieWunde legen und Ihnen nicht durchgehen lassen, dassSie die gravierenden Probleme, die wir beim Meeres-schutz haben, auf einen Aktionsplan und ein For-schungsprogramm zum Mülleinsammeln reduzierenwollen.
Ein fundamentaler Standpunkt- und Perspektiven-wechsel ist notwendig. Das hat nicht die Parteizentraleder Grünen gesagt, sondern das sagt Ihnen Ihr eigenerBeirat, der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregie-rung Globale Umweltveränderungen in seinem Gutach-ten zum Meeresschutz. Er fordert ein, das „Menschheits-erbe Meer“ zu definieren und die Meere als globalesKollektivgut zu definieren. Die Meere und die Boden-schätze darin gehören nicht BASF, Wintershall oder ei-nem anderen Unternehmen, das in die Tiefseeförderungeintreten will, sondern der Menschheit. Das fordert Ihreigener Beirat für Umweltfragen: dass Sie sich darumkümmern sollen, dass Sie sich um Global Governancekümmern sollen. Das ist ein Thema, das auf den G 7-Gipfel gehört.
Der Kollege hat es gesagt: Wie kriegt Frau Merkel dieUSA dazu, UNCLOS beizutreten, damit wir nicht inKlein-Klein-Maßnahmen rumdoktern müssen, sonderntatsächlich den entscheidenden Schritt vorankommen,indem wir das Vorsorgeprinzip verankern, die Stoffein-träge maximal reduzieren, endlich Schutzzonen einrich-ten und dort auch Schleppnetze und Grundfischerei ver-bieten, die Überfischung beenden.Auf das Problem mit Flüchtlingsströmen, mit Hun-gerkrisen, mit Kriegen ist hingewiesen worden. Europäi-sche Fischtrawler haben einen Anteil an diesen Proble-men – und Sie wollen einen Aktionsplan zumMülleinsammeln auf dem G 7-Gipfel thematisieren. Dasist hanebüchen!
Wenn Sie mehr vorhaben als das – ich habe versucht,auf Webseiten der Bundesregierung herauszufinden, wasmit dem Aktionsplan konkret gemeint ist; es ist ja mög-lich, dass Sie das erst in zwei Wochen in Elmau tatsäch-lich verkünden wollen –, wenn Sie es ernst meinen, wer-den Sie unsere Unterstützung dafür bekommen. Aberwenn Herr Gabriel in dieser Woche höchstselbst anreist,um die Lizenzvergabe für die Tiefseeforschung im Indi-schen Ozean zu unterschreiben, dann kann ich Ihre Be-kenntnisse zum Meeresschutz nicht wirklich ernst neh-men. Das müssen Sie doch thematisieren!
Um einmal auf das Müllproblem und die Plaste einzu-gehen: Im Internetauftritt der Bundesregierung, FrauWanka, kann ich lesen – ich darf kurz zitieren, Frau Prä-sidentin –:Jeder sollte wissen, dass Mikroplastik in Zahnpastaund Kosmetika enthalten ist. Nur durch bewusstesKaufverhalten können Konsumenten die Industriedazu bewegen, auf derartig umweltschädliche Zu-sätze zu verzichten. Es gilt also, beim Konsum dasMeer mit zu bedenken.Herzlichen Glückwunsch! Das ist eine Bankrotterklä-rung der Politik.
Sie sagen: Die Konsumenten müssen dafür sorgen,dass das Gift aus den Meeren herauskommt. – FrauStaatssekretärin, nehmen Sie die Besucher, die hier obenauf der Tribüne sitzen, gehen Sie in den nächstgelegenenDrogeriemarkt, und zeigen Sie ihnen, wie man als Kon-sument feststellen soll, in welcher Zahnpasta und in wel-chem Duschgel Mikroplaste enthalten ist.
Sie haben nicht einmal eine Kennzeichnungspflicht da-für eingeführt. Das hat Ihnen der BUND abgenommen.
Frau Kollegin Lemke, darf ich auch Sie an die Zeit er-
innern?
Ich komme zum Schluss. – Ich begrüße ausdrücklich,
Herr Gebhart, dass Sie den Kollegen Töpfer und den
Rhein angesprochen haben. Ich appelliere an Sie: Neh-
men Sie sich als Bundesregierung ein Beispiel an dem
Kollegen Töpfer! Der trägt Mitverantwortung dafür,
dass bei einem ähnlich gravierenden Problem, dem
Ozonloch, ein FCKW-Verbot durchgesetzt wurde. Das
war entschiedenes und fundamentales Handeln. Davon
ist bei Ihnen nichts zu sehen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Frank Schwabe das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!71 Prozent der Weltfläche sind durch Meere bedeckt. Esist schon mehrfach gesagt worden: Wir wissen kaum et-was darüber. Ich glaube, das ist auch der Grund, warumwir uns relativ wenig, wenn wir das einmal in Relationzur Gesamtfläche setzen, mit den Meeren beschäftigen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9949
Frank Schwabe
(C)
(B)
Deswegen ist es richtig und gut, dass wir uns heutemit den Meeren beschäftigen. Deswegen ist es gut, dassdie Opposition mit Leidenschaft, die in der Debatte auchwichtig ist, hier vorträgt. Natürlich muss die Oppositionimmer mehr fordern als das, was schon geschieht. Trotz-dem kann ich, glaube ich, für alle feststellen: Es gibtwirklich einen Fortschritt. Es ist gut, dass der Meeres-schutz Thema auf dem G 7-Gipfel in diesem Jahr ist.Das ist ein Fortschritt. Natürlich muss aus der Beschäfti-gung mit dem Thema am Ende dann auch konkretesHandeln erwachsen.
Wir wissen also kaum etwas über die Meere; aber wirnehmen massiv Einfluss auf sie. Frau Lemke hat dan-kenswerterweise schon auf den Wissenschaftlichen Bei-rat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungenhingewiesen. Er hat gerade ein Gutachten herausgege-ben, das sehr lesenswert ist und dazu anregt, sich mitdem Thema weiter zu beschäftigen, konkret: mit denAuswirkungen des Klimawandels, mit der Landwirt-schaft, mit den Abwässern, die eingeleitet werden, mitder Überfischung.Toni Hofreiter hat am Anfang das Richtige gesagt: Esist natürlich vollkommen absurd, dass wir Fischtrawler,Schiffe aus der Europäischen Union vor die afrikani-schen Küsten bringen, dass wir das massiv finanziell un-terstützen, dass wir den Menschen die Fischgründe leer-fischen. Am Ende kommen die Menschen von dort alsFlüchtlinge nach Europa. Das muss dringend aufhören.Das ist eine falsche europäische Politik.Über das Thema Plastikeinträge wird der KollegeMichael Thews gleich noch etwas sagen.Es ist hochgradig spannend – damit haben wir unsviel zu wenig beschäftigt –, dass es mittlerweile ganzviel Fantasie beim Abbau und bei der Gewinnung vonRohstoffen in den Meeren, insbesondere in der Tiefsee,gibt; darauf hat der Kollege Zdebel hingewiesen. Ichhabe darüber in der Süddeutschen Zeitung gelesen. Wersich den Artikel noch besorgen kann, sollte das tun. Esist hochgradig interessant, einmal zu sehen, welche Pla-nungen es da gibt. Alles das, was dort diskutiert wird,hört sich ein bisschen an wie Science-Fiction, ist es abernicht. Das wird garantiert kommen. Es gibt heute jeden-falls keine vernünftigen Regeln, die dazu führen, dassdas Ganze umwelt- und entwicklungspolitisch nachhal-tig geschehen kann. Diese Regeln braucht es ganz drin-gend.
Deswegen ist es gut – ich sage es noch einmal –, dassdas Thema beim G 7-Gipfel ansteht. Zumindest ein Ver-haltenskodex und internationale Standards für den Roh-stoffabbau in den Meeren sind vorgesehen.Wir müssen überall handeln; aber wir können vor al-len Dingen da relativ einfach handeln, wo es noch keinewirtschaftlichen Tätigkeiten gibt, wo Unternehmen nochnicht unterwegs sind, und das ist beim Rohstoffabbau inder Tiefsee der Fall. Aber auch um die Frage des Schut-zes der Arktis geht es. Greenpeace hat da vollkommenrecht und hat wichtige Denkanstöße gegeben. Wir kön-nen von der Antarktis lernen. Wir brauchen Schutzge-biete in der Arktis. Es ist gut, dass das im Koalitionsver-trag steht. Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin das ineiner Rede im letzten Jahr noch einmal untermauert hat.Es wäre aber auch gut, wenn wir auch da konsequen-ter handelten, wo es schon wirtschaftliche Tätigkeitengibt und wo wir die negativen Folgen sehen. Vor ein paarTagen war der fünfte Jahrestag der „Deepwater Hori-zon“-Katastrophe. Ich weiß nicht, ob man das noch sorichtig präsent hat. Ich muss auch nachdenken: Was wardamals? Da war Herr Röttgen Umweltminister, und wirhaben uns überschlagen mit Forderungen nach Förder-stopps und was weiß ich. So ganz viel ist, ehrlich gesagt,nicht passiert. Mittlerweile gibt es im Golf von Mexikomehr Ölplattformen als damals, und ich fürchte, dass dasalles nicht viel sicherer geworden ist. Auch da müssenwir viel konsequenter werden.
Das gilt aber auch für den europäischen und – das willich ausdrücklich sagen – den deutschen Zusammenhang.Der Zustand der Nord- und Ostsee ist erbarmungswürdi-ger, als man das auf den ersten Blick sehen kann. Des-wegen ist es richtig, dass es die EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie – ein schwieriges Wort – gibt; sie istschon angesprochen worden. Wir brauchen einen gutenUmweltzustand – so steht es da – bis zum Jahr 2020.Deswegen brauchen wir noch in diesem Jahr ein nationa-les Maßnahmenprogramm.Die Öffentlichkeitsbeteiligung dazu hat begonnen.Das Umweltministerium ist federführend. Allerdings ge-hen wir davon aus – das will ich vielleicht für das ganzeHaus sagen –, dass sich alle Ministerien, dass sich dasgesamte Bundeskabinett konstruktiv an der Erarbeitungder Vorschläge beteiligt.Das gilt im Übrigen auch für die Frage der Fischerei-beschränkung in den Natura-2000-Gebieten. Es ist gut,dass die Bundesrepublik Deutschland relativ schnell sol-che Gebiete ausgewiesen hat. Es ist aber nicht gut, dasswir weiterhin nicht sagen, wie dieser Schutz ganz kon-kret aussehen soll. Auch da haben das Umweltministe-rium und das zuständige Bundesamt für Naturschutz dievolle Unterstützung, jedenfalls von uns und am Ende desProzesses – davon gehen wir aus – von der gesamtenBundesregierung.Insofern sage ich noch einmal: Es ist gut, dassSchwung in die Debatte über den Meeresschutz gekom-men ist. Es muss aber auch zu konkreten Taten kommen.Die heutige Debatte ist dabei zumindest ein kleiner Bau-stein.
Metadaten/Kopzeile:
9950 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
(C)
(B)
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Klaus-Peter
Schulze, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Weltmeere verfügen über eine große Ar-tenvielfalt, die auch heute noch weitgehend unbekanntist. Wenngleich drei Viertel der Erdoberfläche von Ozea-nen bedeckt sind, sind sechsmal mehr Landlebewesenals Meeresorganismen bekannt. Die biologische Vielfaltim Meer hat seit Beginn der Industrialisierung stark ab-genommen, und dieser Prozess schreitet weiter voran.Durch das Verschwinden von Arten verringert sich diestabilisierende Wirkung ehemals vielfältiger Lebensge-meinschaften. Dadurch werden ganze Lebensräume ge-fährdet.Dies wissend, hat der Meeresumweltschutz einegroße Bedeutung in der deutschen Politik. Das beweistganz aktuell der Umstand, dass dieses Thema einSchwerpunkt der G 7-Präsidentschaft ist. Aber auch ge-nerell ist Deutschland in Europa bei der Ausweisung vonSchutzgebieten bereits heute führend.
So stehen 70 Prozent der Küstengewässer und rund31,5 Prozent der Ausschließlichen Wirtschaftszone unterSchutz. Damit sind 47 Prozent der deutschen Meeresflä-che als Schutzgebiete ausgewiesen und bieten somit einewichtige Grundlage für weitere Bemühungen. In derAWZ befinden sich zehn ausgewiesene Natura-2000-Gebiete, für die allerdings aus verschiedenen Gründenbis heute keine Schutzmaßnahmen eingeführt wurden.Insbesondere um Fischerei mit Grundschlepp- undStellnetzen in diesen Bereichen zu unterbinden, ist seitAnfang dieses Jahres eine Verbändeklage gegenDeutschland anhängig. Ich habe vernommen, FrauStaatssekretärin, dass es jetzt bei diesem Thema eine Ei-nigung innerhalb der Bundesregierung gibt. Ich wünschemir, dass man künftig zwischen den Ministerien zuStuhle kommt, ehe es zu einer Klage kommt und mansozusagen gezwungen wird, schneller zu handeln.Im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD habenwir uns darauf verständigt, ein Fischereimanagement zuverankern, um die Schutzziele zu erreichen. Die Schutz-ziele sind allerdings mit den betroffenen Mitgliedstaatenabzustimmen, bevor sie von der EU-Kommission erlas-sen werden können. Auch wenn hier dringend nachge-bessert werden muss und auch wird, muss sich Deutsch-land mit seiner nationalen Strategie, die auf einemÖkosystemansatz aufbaut, nicht verstecken. Wir wollenNatur- und Umweltschutz und maritime Wirtschaft inein Gleichgewicht bringen. Voraussetzung ist eine er-folgreiche Integration verschiedener Parameter, um zueiner einheitlichen Vorgehensweise zu kommen.Die vorliegenden Anträge, die wir heute beraten, grei-fen leider einem für den 20. Mai 2015 geplanten öffentli-chen Fachgespräch des Umweltausschusses zum ThemaEU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie vor, dessen Er-gebnisse ich gerne abgewartet hätte. Man hätte auch je-nen Tagesordnungspunkt, den wir für die Sitzung am20. Mai vorgesehen hatten, schon in eine frühere Sitzungdes Umweltausschusses einbauen können.Die Richtlinie wurde 2008 verabschiedet, und sie ver-pflichtet die Mitgliedstaaten, bis zum Jahr 2020 einenguten Umweltzustand der europäischen Meere zu errei-chen bzw. zu erhalten. Das erfordert insbesondere denErhalt der biologischen Vielfalt, die Reduzierung derÜberdüngung und der Abfallmengen im Meer. EineErstbewertung der aktuellen Zustände in Nord- und Ost-see brachte im Jahr 2012 alarmierende Ergebnisse:Unseren Meeren geht es schlecht; vor allem Fischerei,Schad- und Nährstoffeinträge, Unterwasserlärm undmassive Eingriffe durch den Bau von Offshorewind-kraftanlagen gefährden das sensible Ökosystem.Um die 2020-Ziele der EU-Meeresstrategie-Rahmen-richtlinie zu erreichen, sollen in diesem Jahr die nationalenMaßnahmenprogramme auf den Weg gebracht werden, zudenen derzeit eine schriftliche Anhörung stattfindet. Kol-lege Schwabe hat es bereits gesagt: Wir werden die Be-hörden unterstützen, damit dieser Prozess zeitnah abge-schlossen werden kann.Zum Thema „Erhalt der biologischen Vielfalt in denMeeren“ möchte ich noch auf die internationalen Bemü-hungen Deutschlands verweisen, das jedes Jahr 500 Mil-lionen Euro für weltweite Biodiversitätsprogramme be-reitstellt. Ganz besonders hat es mich gefreut, dass beider letzten CBD-Vertragsstaatenkonferenz in Korea über150 ökologisch und biologisch bedeutsame Meeresge-biete anerkannt wurden.Abschließend komme ich auf den Meeresschutz imZusammenhang mit der Energiepolitik zu sprechen. DerAusbau von Offshorewindparks soll einen wesentlichenBeitrag zur Energiewende leisten. Diese gewaltigen An-lagen bedeuten jedoch auch massive Eingriffe in dasÖkosystem Meer, deren Folgen, zum Beispiel für dieSchweinswale durch den Schalldruck beim Einrammender Gründungspfähle in den Meeresboden, bei weitemnoch nicht ausreichend erforscht wurden.Wenn hier heute ein Moratorium für den Tiefseeberg-bau aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – nämlichbisher unzureichend erforschte Folgewirkungen solcherMaßnahmen – gefordert wird, dann müsste man konse-quenterweise auch ein Moratorium für den Bau von Off-shorewindkraftanlagen einfordern. In jedem Fall müssenwir hier die Forschungsanstrengungen verstärken, umunangenehme Überraschungen, wie wir sie durch dieVermaisung der Landschaft im Zuge des massiven Zu-baus von Biogasanlagen erlebt haben, zu vermeiden.Denn bereits heute sind in den deutschen Meeresberei-chen sechs Offshorewindparks mit 225 Turbinen in Be-trieb; weitere acht Projekte mit 600 Anlagen befindensich im Bau. Darüber hinaus wurden bereits 25 Wind-parks genehmigt, und zurzeit sind noch weitere 90 bean-tragt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9951
Dr. Klaus-Peter Schulze
(C)
(B)
In keinem Fall darf sich so etwas wie das Projekt„Butendiek“ in der Nähe von Sylt wiederholen, wo dieGenehmigung für den Bau eines großen Windparks in-mitten eines Vogelschutzgebietes erteilt wurde, wodurchnicht nur der Lebensraum für Seetaucher, sondern auchfür andere Meeressäuger beeinträchtigt wird. Aber viel-leicht können wir die Offshorewindparks auch im Sinnedes Meeresschutzes nutzen. Als ich vor kurzem das Bun-desamt für Naturschutz am Standort Vilm besucht habe,war dieses Thema im Zusammenhang mit Offshore-anlagen, die immerhin jeweils etwa 80 QuadratkilometerMeeresfläche umfassen können, angesprochen worden.Aufgrund des Befahrungsverbots in den Windparkge-bieten in Ost- und Nordsee ist dort keine weitere Nut-zung erlaubt. Daher kam von den Fachleuten der Vor-schlag, diese Gebiete als – das betone ich, Frau Lemke –zusätzliches Potenzial für die Stabilisierung von Floraund Fauna im Benthos, also im Meeresboden, zu nutzen.Es wären keine Konflikte zu erwarten, wenn keineMehrfachnutzungen zugelassen werden würden.Für den Bau der Offshorewindkraftanlagen müssenim Übrigen für eine Übergangszeit bis 2017 keine Aus-gleichs- und Ersatzmaßnahmen erbracht werden. Aller-dings gilt diese Regelung für die Unternehmen, die dieAnschlusskabel verlegen, nicht. Deren Ausgleichs- undErsatzmaßnahmen sollten vorrangig im marinen Bereicherbracht werden. Wir sollten die konkreten Expertenvor-schläge und auch andere Vorschläge aufgreifen und imweiteren parlamentarischen Verfahren ausführlich bera-ten.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist der Kollege Michael Thews, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum ersten Malwerden Fragen des Meeresumweltschutzes von den gro-ßen Wirtschaftsnationen auf dem G7-Gipfel behandelt.Die G7-Nationen wollen einen Aktionsplan gegen Mee-resmüll beschließen, der weltweit Maßnahmen zur Re-duzierung von Meeresmüll initiiert und dabei bereitsvorhandene regionale Aktionspläne einbezieht – einSchritt, der in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenist, ein Schritt, der angesichts der Bedeutung der Meerefür unsere Ernährung, für unsere Umwelt notwendig ist.
Es gibt selbstverständlich – das wurde heute schonangesprochen – auch andere Aspekte des Meeresum-weltschutzes. Die vorliegenden Anträge listen sie auf.Aber es liegt auf der Hand, so meine ich jedenfalls, dassder Kampf gegen die Meeresvermüllung ein äußerstwichtiger Aspekt ist. Es gibt unterschiedliche Schätzun-gen zu den Abfallmengen in den Meeren. Sie reichenvon 100 Millionen bis zu 270 Millionen Tonnen. Davonbestehen etwa drei Viertel aus Kunststoffen, und geradebei den Kunststoffen ist die Entwicklung besonders dra-matisch.Auf der UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklungim Jahr 2012 wurde bestätigt, dass Kunststoffe weltweitdie Hauptquelle für die Meeresverschmutzung sind.Nach Aussage des Umweltschutzprogramms der Verein-ten Nationen aus dem Jahr 2005 kommen auf einen Qua-dratkilometer Meeresoberfläche über 13 000 Plastikteile,und diese Zahl steigt stetig. Kunststoff braucht nach Ex-pertenschätzung circa 500 Jahre, um sich im Meerwasserendgültig abzubauen. Bevor sich der Plastikmüll abbaut,wird er durch UV-Strahlung und Wellenbewegung inMikropartikel zersetzt, teilweise von Fischen mit Nah-rung verwechselt und landet so auf unserem Teller.Der nicht abgebaute Plastikmüll findet sich in allenWeltmeeren. Besonders viel Müll sammelt sich in denStrömungswirbeln der Ozeane. Im Pazifik befindet sichein Meereswirbel, der circa 3 Millionen Tonnen Plastik-müll auf einer Wasseroberfläche von der Größe Mittel-europas enthält. Bis zu 13 Millionen Tonnen Kunststoff-abfall landen nach Schätzungen der Wissenschaftlerjährlich im Meer. Dieser Müll kommt durch illegaleMüllentsorgung an den Küsten und den Ufern von Flüs-sen, durch die Berufsschifffahrt und den Tourismus insMeer, oder er wird durch den Wind von Deponien ver-weht. Er macht jedenfalls nicht an unseren Grenzen halt.Deshalb müssen wir auf internationaler Ebene dringendetwas unternehmen.
Die Vermüllung ist ein ernstzunehmendes globalesProblem, dessen Folgen für die Umwelt wir heute nichtvollständig abschätzen können. Deshalb ist die Initiativeder Bundesregierung sehr zu begrüßen, aber auch drin-gend notwendig.
Müllvermeidung, Müllrecycling, die fachgerechte Ver-wertung oder Entsorgung von Müll, das sind die Ziele,die wir in Deutschland haben. Aber diese Ziele müssenwir eben auch international verfolgen, um der Meeres-vermüllung vorzubeugen.
Deutschland – das hat der Kollege Gebhart vorhinschon gesagt – ist zwar Vorreiter bei der Verwertung undbeim Recycling – der in Deutschland anfallende Kunst-stoffmüll wird nahezu vollständig entweder stofflichoder energetisch verwertet –; trotzdem lässt sich auchbei uns nicht nur hinsichtlich der Recyclingquoten, son-dern auch bei der Abfallvermeidung natürlich noch eini-ges verbessern. Angesprochen wurde insbesondere dieProduktverantwortung. Aber auch die Produktverant-wortung muss sich weiterentwickeln, um wirklich einwirkungsvolles Regelungselement zu sein, das Recy-
Metadaten/Kopzeile:
9952 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Michael Thews
(C)
(B)
cling oder eben auch Vermeidung fördert. Das habenwir, meine ich jedenfalls, noch nicht erreicht.
Wir müssen deshalb dringend Regelungen für eine re-cyclingfreundlichere und ressourcenschonendere Her-stellung von Produkten treffen und hier die Herstellermit in die Verantwortung nehmen. Ich hoffe sehr, dassdas neue Kreislaufwirtschaftspaket, das die EU-Kom-mission im Laufe des Jahres vorlegen will, mindestensso ambitioniert sein wird wie das Paket der vorherigenEU-Kommission. Gerade auf europäischer Ebene müs-sen wir deutlich vorankommen.Die Industrienationen haben insgesamt eine beson-dere Verantwortung beim Kampf gegen die Vermüllungder Weltmeere. In den Entwicklungsländern fehlen oft-mals nach wie vor die Infrastruktur, die Rahmenbedin-gungen und die finanziellen Mittel für die Abfallvermei-dung oder für das Recycling von Plastikmüll. Es fehlt oftgenug an einer geordneten Sammlung und Entsorgungdes Mülls. Das jährliche Aufkommen an Siedlungsabfäl-len beträgt circa 1,8 Milliarden Tonnen. Es ist besondersbedenklich, dass davon nur circa zwei Drittel regelmäßigeingesammelt werden.Wir müssen den Schutz der Meere international vo-rantreiben. Die Bundesregierung geht deshalb den richti-gen Weg, wenn sie ihn zu einem Schwerpunkt auf demG 7-Gipfel macht.Danke.
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4814 und 18/4809 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Starke Städte und Quartiere – Die Erfolgsge-
schichte der Städtebauförderung fortschrei-
ben
Drucksache 18/4806
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregie-
rung erhält die Parlamentarische Staatssekretärin Rita
Schwarzelühr-Sutter das Wort.
Ri
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Morgen fin-det der erste Tag der Städtebauförderung statt. Jeder vonuns hat die Erfolge und Leistungen der Städtebauförde-rung schon gesehen, bewusst oder unbewusst. Über7 700 Fördermaßnahmen in 3 200 Städten und Gemein-den konnten bisher umgesetzt werden; das spricht fürsich. Bund und Länder haben die Kommunen im Rah-men der Städtebauförderung seit 1971 – die Kommunenin den neuen Ländern seit 1990 – bei ihrer städtebauli-chen Entwicklung mit rund 16 Milliarden Euro unter-stützt.Mit den fünf Programmen der Städtebauförderungsorgen wir dafür, dass historische Stadtkerne in altemGlanz erstrahlen und kulturhistorisch wertvolle Stadt-kerne erhalten werden, dass für eine soziale Stadt diesoziale Infrastruktur vor Ort, zum Beispiel Nachbar-schaftszentren, Stadtteilschulen und Mehrgenerationen-häuser, ausgebaut und sozialen Polarisierungen entge-gengewirkt wird –
– danke – und dass Kommunen ihre Innenstädte undStadtzentren aufwerten und stabilisieren können. Das istganz wichtig, insbesondere in Regionen, die gegen dendemografischen Wandel kämpfen. Kleineren Städtenund Gemeinden tut dies besonders gut. Dass die Kom-munen auch die vielfältigen Herausforderungen desStrukturwandels annehmen und angehen können, ist mitdiesen Programmen ebenfalls erreichbar.In dieser Legislaturperiode investieren wir so viel wienoch nie. Wir haben die Bundesmittel in den Jahren2014 und 2015 deutlich aufgestockt. Wir investierenjährlich 700 Millionen Euro; zuvor waren es 455 Millio-nen Euro. In den kommenden Jahren werden wir dieMittel auf diesem hohen Niveau fortschreiben.
Ganz besonders wichtig ist: Von diesen 700 MillionenEuro fließen 150 Millionen Euro in das Programm „So-ziale Stadt“, mit dem wir insbesondere benachteiligtenQuartieren helfen. Hier haben wir die Mittel fast vervier-facht; ich finde, das ist wirklich ein Wort.
Diese Städte können das Geld tatsächlich gebrauchen.Das ist eine Aufgabe, die wir wirklich ernst nehmen.Hier investieren wir das Geld sinnvoll.Auch die Mittel für alle anderen Programme, zumBeispiel für Programme für den Stadtumbau, wurden er-höht. Die 700 Millionen Euro, die wir investieren, um-fassen auch ein neues Bundesprogramm zur Förderungvon Investitionen in nationale Projekte des Städtebausmit einem Volumen von 50 Millionen Euro. Damit ist es
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9953
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
(C)
(B)
möglich, auch historisch bedeutsame Ensembles, bauli-che Kulturgüter, die energetische Erneuerung und mehrGrün in der Stadt zu fördern.
In den kommenden Jahren werden wir im Rahmendieses Programms weitere Schwerpunkte setzen, zumBeispiel bei der Konversion ehemals militärisch genutz-ter Liegenschaften. Dass die Städtebauförderung einegroße Bedeutung für unser Land hat, zeigt die Hebelwir-kung von eins zu sieben. Das heißt, wir lösen Investitio-nen in Höhe von 10 Milliarden Euro aus, durch die danntatsächlich die Wirtschaft vor Ort gefördert wird, insbe-sondere das Handwerk. Das ist besonders für die Regio-nen, die gegen den demografischen Wandel kämpfen,ein wertvoller Beitrag und von großer Bedeutung, weilsomit Wertschöpfung generiert wird.
Ich glaube, die Zahlen sprechen für sich. Es ist beein-druckend, was die Städtebauförderung bisher bewirkthat. Nun gilt es, den aktuellen Herausforderungen mit ei-ner starken Städtebauförderung entgegenzutreten und siezu bewältigen. Das heißt, es ist nichts so gut, als dass esnicht auch verbessert werden könnte. Was können wirnoch verbessern? Wir wollen zum Beispiel unser erfolg-reiches Programm „Soziale Stadt“ stärken. Wir sind da-von überzeugt, dass wir gerade in benachteiligten Quar-tieren das Ineinandergreifen aller Akteure und Initiativennoch verbessern können. Dazu wollen wir eine ressort-übergreifende Strategie „Soziale Stadt“ vorlegen, mit derfachliche und finanzielle Ressourcen in den Stadtteilengebündelt werden und insbesondere Integrationsleistun-gen verbessert werden.
Ich denke ganz besonders an solche Bereiche wie Ge-sundheit und Prävention, aber auch Familie, Arbeit undBildung.Wir wollen zudem daran arbeiten, die Stadtumbaupro-gramme zusammenzuführen und zu einem Instrument derGestaltung des demografischen und wirtschaftsstrukturel-len Wandels in allen Regionen weiterzuentwickeln.
Wir wollen – um ein letztes Beispiel zu nennen – denQuartiersansatz auch durch enge Abstimmung mit ande-ren Förderprogrammen, wie den KfW-Programmen zumenergetischen Bauen und Sanieren, zur energetischenStadterneuerung und zum altersgerechten Wohnen, wei-ter stärken. Damit können gleichzeitig Bündelungs-effekte erreicht werden.Wir wollen die Städtebauförderung aber nicht nur ingemeinsamer Verantwortung von Bund und Ländernfortführen, sondern vor allem die Bürgerinnen und Bür-ger einbeziehen und auch sie als Akteure stärken.
Das beste Beispiel ist der morgen stattfindende ersteTag der Städtebauförderung. Er ist ein wirklich überwäl-tigendes Signal: Es beteiligen sich mehr als 540 Kom-munen und Städte. Das sind nicht nur große Städte, nichtnur Metropolen, sondern auch Städte auf dem Land. Daszeigt: Städtebauförderung kommt an. Sie ist wirklich einguter Impuls und eine gute Investition. Die Bürgerinnenund Bürger vor Ort wollen auch mitmachen, weil sie zueiner guten Lebensqualität in ihrer Kommune beitragenwollen. Das bewirkt auch ein gutes Leben für alle.Ich danke Ihnen herzlich.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt Heidrun Bluhm.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Schwarzelühr-Sutter hat es bereits gesagt:Morgen begehen wir den ersten Tag der Städtebauförde-rung. Die heutige Debatte hier soll wahrscheinlich schondie Feierstunde sein.
Mir geht es mit diesem Antrag so ähnlich wie mit demEntschließungsantrag zur Baukultur in der Ausschusssit-zung am vergangenen Mittwoch: Wir haben das Gefühl,dass wir an dieser Stelle nur beglückwünschen und dieRegierung loben sollen.
Beide Anträge enthalten Feststellungen und Forde-rungen, die wir auch unterschreiben. Insofern kommeich auch zu dem Punkt, Herr Bartol: Es war nie strittig,und in großen Teilen sind die Forderungen, die in diesemAntrag stehen, in Anträgen von uns enthalten, die wirseit zehn Jahren in dieses Parlament eingebracht haben.
Wir feiern heute, dass endlich auch Sie unsere An-träge in Politik gießen
und unseren Vorschlägen der vergangenen Jahre endlichFolge leisten wollen. Deshalb stimmen wir diesem An-trag, der heute hier zur Sofortabstimmung vorliegt, ausvollem Herzen zu.
Metadaten/Kopzeile:
9954 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Heidrun Bluhm
(C)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einleitendeFeststellung, dass am 9. Mai zum ersten Mal in ganzDeutschland der Tag der Städtebauförderung stattfindet,kann die Linke uneingeschränkt unterstützen. Die zweiteFeststellung aber, dass die Städtebauförderung seit ihrerEinführung 1971 eine Erfolgsgeschichte sei, würde ichgern relativieren.
Sicher, ohne die Städtebauförderung hätte es die7 700 Maßnahmen in 3 200 Kommunen nicht gegeben.Sie haben Kommunen fraglos geholfen, städtebaulicheMissstände zu verringern oder auch die städtische Infra-struktur den zukünftigen Aufgaben anzupassen. Aberkann das der Maßstab dafür sein, die Städtebauförderungals eine einzige Erfolgsgeschichte zu feiern? Ich habeeinmal bei Wikipedia nachgesehen, was dort unter „Er-folg“ steht: das Erreichen selbst gesetzter Ziele.Wenn man sich die Messlatte für die Ziele so niedrigwie möglich legt, kann man den Erfolg täglich feiern.Wir müssen die Messlatte, glaube ich, an dieser Stelle et-was höher legen, aber wir sind auf dem richtigen Weg.
Der Antrag verweist zum Beispiel auch darauf, dasses mit dem Instrument der Städtebauförderung gelungensei, der Segregation in den Städten und ihren Stadtteilenentgegenzuwirken. Es mag sein, dass die Regierung Bei-spiele dafür kennt, dass die Städtebauförderung dieSegregation vielleicht verzögert oder auch abgemilderthat. Verhindert hat sie sie bisher jedenfalls nicht. Gentri-fizierung und Segregation haben in deutschen Städtenlängst stattgefunden, und sie finden auch heute nochstatt, entsprechend dem Spruch: Sag‘ mir, wo du wohnst,und ich sag‘ dir, wer du bist.Leider sind die privaten Immobilienverwertungsinte-ressen großer Investoren viel wirkmächtiger als die Mit-tel und Möglichkeiten der gutgemeinten Städtebauförde-rung. Wenn man sich das Bild der deutschen Städteheute anschaut, dann sieht man doch – das kann manschon in der unmittelbaren Nachbarschaft finden –, dasstrotz ihrer Erfolge nicht die Städtebauförderung, sonderndie renditeorientierte Standortvermarktung das Stadtbild„aufwertet“ und damit prägt. Reich baut für Reich –auch in Berlin-Mitte.Die Bundesregierung mischt hier mit, statt ihr eigenesImmobilienpotenzial im Sinne dieses Antrages für dieEntwicklung und den Erhalt starker Städte und der Quar-tiere einzusetzen – Stichwort „BImA“.Werte Kollegen, der Antrag stellt weiter fest:Nachhaltige Stadtentwicklung ist daher für das Ge-lingen der Energiewende genauso entscheidend wiefür die Reduzierung der Flächen- und der Ressour-ceninanspruchnahme.Das ist richtig, klar. Um aber noch einmal auf die Er-folgsdefinition zurückzukommen: Wo stehen wir dennda, gemessen an den selbst gesetzten Zielen? WelchenBeitrag hat die Städtebauförderung dazu geleistet, undwas müssten wir dafür vielleicht auch noch leisten?Mit dem jetzigen Tempo zum Beispiel auch der kli-matischen Gebäudemodernisierung werden wir dieselbst gesteckten Klimaschutzziele jedenfalls nicht errei-chen. Auch das haben mittlerweile Vertreterinnen undVertreter der Koalition selbst zugegeben.Bei der Reduzierung des Flächen- und Ressourcen-verbrauchs kann man zurzeit auch nicht gerade von ei-nem großen Erfolg reden. Mit den 74 Hektar pro Tagsind wir von unserem Ziel, 30 Hektar pro Tag, weit, weitentfernt. Offenbar will die Bundesregierung heute den-noch die Feststellung der Erfolgsgeschichte Städtebaubeschließen lassen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Antrag ha-ben Sie zwischen dem Feststellungs- und dem Forde-rungsteil einen neuen Teil eingefügt, den sogenanntenBegrüßungsteil. Über dem könnte eigentlich auch ste-hen: Der Deutsche Bundestag soll beschließen: Wir fin-den die Regierung toll.
Warum, bitte schön, soll ich Dinge begrüßen, diedoch längst Beschlusslage sind und, statt begrüßt zuwerden, einfach nur abgearbeitet werden müssen? FrauSchwarzelühr-Sutter hat das hier eben auch noch einmaldeutlich gesagt: Wir müssen an dieser Stelle anfangen,zu arbeiten. – Und Sie aus der Koalition müssen endlichaus dem Ankündigungsmodus heraus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns mor-gen eine Feierstunde zum Tag des Städtebaus machen,alle lokalen Akteure dazu einladen und schöne Redenhalten. Ich wäre dabei.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Kai Wegner,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe FrauBluhm, in der Tat: Tue Gutes und rede darüber. – Das,was wir in den letzten Jahren in der Städtebauförderunggeleistet haben – gerade auch diese Koalition in ihrerAmtszeit –, lässt sich allemal sehen und ist unverzicht-bar für die Quartiere, für die Stadtentwicklung und fürden ländlichen Raum. Deshalb ist es gut, dass wir heute
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9955
Kai Wegner
(C)
(B)
über die Städtebauförderung und die Initiativen dieserRegierung sprechen, Frau Bluhm.
Städtebauförderung gibt es seit 1971. Zahlreiche Pro-jekte – die Staatssekretärin hat es schon erwähnt – undMaßnahmen wurden gefördert. Wir haben Stadt- undOrtskerne saniert, wir haben historische Stadtbilder er-halten, öffentliche Räume aufgewertet und vieles mehr.Wir tun dies nicht, weil wir wollen, dass sich die Regie-rung feiern kann, obwohl wir in der Tat finden, dassdiese Regierung eine gute Arbeit leistet, sondern wir tundas für die Menschen in den Quartieren. Wir wollen,dass sich die Menschen in ihrem Wohnbereich und in ih-ren Wohnquartieren wohlfühlen und dass sie in ihrerHeimat eine optimale Lebensqualität vorfinden. Hierleistet die Städtebauförderung einen unverzichtbarenDienst.
Die Städtebauförderung hat sich in fast viereinhalbJahrzehnten außerordentlich bewährt. Die Programmeder Städtebauförderung sind tragende Säulen der Nach-haltigkeit und der Zukunftsfähigkeit in unseren Städtenund Gemeinden. Sie steigern die Lebensqualität derMenschen.Wenn man sich konkrete Maßnahmen anschaut, ge-rade hier in Berlin, zum Beispiel in meinem Wahlkreisdas Falkenhagener Feld, wo ein Gebiet stabilisiert wurdeund die Lebensbedingungen für die Menschen besserwerden, aber auch – die Staatssekretärin sprach das neueProgramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ an – in-novative Projekte wie zum Beispiel das Flussbad Berlinan der Museumsinsel, dann sieht man, dass die Städte-bauförderung über die Stabilisierung von Quartieren hi-naus eine noch größere Bedeutung bekommt. Ihr innova-tiver Ansatz einer neuen Stadtentwicklung dient derNachhaltigkeit, und auch deshalb ist die Städtebauförde-rung so unverzichtbar.Zur Hebelwirkung hat die Staatssekretärin viel ge-sagt. Ich will gar nichts zur Erhöhung der Mittel sagen.Aber die Städtebauförderung dient auch als Wirtschafts-förderinstrument für die regionale Wirtschaft, für dasHandwerk. Sie schafft Arbeitsplätze in der Region, unddas ist letztlich auch gut für die Menschen.Durch die Städtebauförderung ist sichergestellt, dassder ökonomische, ökologische und demografische Wan-del in den Städten unterstützt wird. Besonders möchteich hervorheben, dass die Bundesregierung auch ressort-übergreifend für unsere Städte und Gemeinden aktiv ist.So widmet das Forschungsministerium, wofür ich sehrdankbar bin, das Wissenschaftsjahr 2015 der Stadt derZukunft. Hiervon werden wichtige Impulse für die inte-grative Stadtentwicklung ausgehen; davon bin ich fel-senfest überzeugt.Mit dem heutigen Antrag geht es der Koalition in derTat darum, die Erfolgsgeschichte der Städtebauförde-rung fortzuschreiben. Wenn wir etwa auf die Bevölke-rungsentwicklung schauen, sehen wir, vor welch großenHerausforderungen wir stehen. In ländlichen Regionendroht oftmals ein Bevölkerungsschwund. Die großenStädte hingegen werden in den kommenden Jahren einenstarken Zuzug von Menschen erfahren.Deshalb werden unter anderem die sogenanntenGroßwohnsiedlungen weiter an Bedeutung gewinnen.Ich bin mir sicher: Gerade diese Großwohnsiedlungensind schlafende Riesen mit einem enormen Potenzial fürnachhaltige Stadtentwicklung und lebendige Quartiere.Diese Potenziale gilt es freizusetzen.Wir müssen aber auch darauf reagieren, dass es Quar-tiere gibt, die sich in einer Abwärtsentwicklung befin-den, die zu kippen drohen, in denen sich Menschen nachEinbruch der Dunkelheit oft nicht mehr auf die Straßentrauen. Solche Angsträume dürfen wir in unseren Städ-ten nicht zulassen; wir dürfen sie nicht tolerieren.Deshalb ist eine gezielte Stabilisierung und Aufwer-tung dieser Bereiche notwendig. Ein sauberes Straßenbild,mehr Licht, gepflegte Grünanlagen, das sind Faktoren,mit denen nicht zuletzt das subjektive Sicherheitsgefühlder Menschen in den Wohnquartieren erhöht wird. Zielmuss es sein, dass sich die Bürgerinnen und Bürger anallen Orten unserer Städte sicher fühlen und wohlfühlen.Meine Damen und Herren, weiterhin müssen wir beider Städtebauförderung in den Großwohnsiedlungen,aber auch darüber hinaus gezielt auf ein Nebeneinandervon Arbeiten, Wohnen, Nahversorgung, Freizeitgestal-tung, öffentlichen Freiräumen und Grün setzen. Es gehtalso um die verstärkte Förderung von sozial und funktio-nal durchmischten Stadtquartieren. Denn gemischteQuartiere sind ein Garant für Lebensqualität und Wohn-zufriedenheit, für Standortbindung und Identitätsbil-dung. Obendrein reduzieren sie die Flächeninanspruch-nahme, ermöglichen eine Stadt der kurzen Wege undsind deshalb besonders für ältere und pflegebedürftigeMenschen, aber auch für junge Familien geeignet.Eine zusätzliche Herausforderung für unsere Städteist der wachsende Zustrom von Flüchtlingen. Für uns istklar: Deutschland ist ein tolerantes, ist ein weltoffenesLand. Wir wollen die Menschen, die begründet bei unsZuflucht suchen, würdig unterbringen und ihnen all un-sere Hilfe anbieten. Ich glaube, auch hier kann die Städ-tebauförderung einen großen Beitrag zu gesellschaftli-chem Zusammenhalt leisten und ist somit auch einGarant von Integration.Ich habe es schon einmal gesagt: Gerade das Pro-gramm „Soziale Stadt“, das wir finanziell aufgewertethaben, sollte genutzt werden, um bei der Unterbringungund der Integration von Asylbewerbern zu helfen unddiese zu fördern.Städte müssen mehr sein als Steine und Beton. Esgeht um die Reintegration der Natur in die bebaute Um-welt. Das ist eine entscheidende Aufgabe, und das gleichaus mehreren Gründen: Zunächst einmal erfüllt Grün inder Stadt eine wichtige Erholungsfunktion. Parks, Stadt-bäume, begrünte Fassaden und Dächer tragen viel zumWohlergehen der Menschen bei. Erst sie machen die
Metadaten/Kopzeile:
9956 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Kai Wegner
(C)
(B)
Städte zu lebenswerten Räumen. Grünflächen haben zu-dem eine bedeutende ökologische Ausgleichsfunktion.Sie binden CO2, filtern Schadstoffe und Feinstaub ausder Luft und sorgen für ein gutes Stadtklima. Kurzum:Wir brauchen nicht mehr Grüne in den Städten, wohlaber mehr Grün in der Stadt.
– Es ist so, dass wir nicht mehr Grüne in der Stadt brau-chen; denn wir haben die CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion.
– Das tut Ihnen weh.Frau Künast, es war gerade für uns als CDU/CSU-Fraktion wichtig und von großer Bedeutung, dass „Grünin der Stadt“ 2015 ein Schwerpunktthema im Rahmender Städtebauförderung wird. Wir werden genau daraufachten, dass hierfür verstärkt Mittel eingesetzt werden.Ich wiederhole: Grün ist ein bedeutender Bestandteil fürdie Lebensqualität in Städten. Wir werden genau daraufachten, dass die Mittel hier auch ankommen und einge-setzt werden. Sollte das nicht funktionieren, sollten wirernsthaft darüber nachdenken – ich hoffe, Frau Künast,dass ich dabei Ihre Unterstützung habe –, ob „Grün inder Stadt“ ein gesonderter Programmpunkt im Rahmender Städtebauförderung sein soll.
Es wurde schon gesagt: Am morgigen Sonnabend fin-det nun erstmals ein bundesweiter Tag der Städtebauför-derung statt. Der Tag wird die Bürgerbeteiligung stärkenund kommunale Förderprojekte einer breiteren Öffent-lichkeit bekannt machen. Das ist wichtig; denn Städte-bauförderung lebt nicht nur von Finanzhilfen. Sie lebtgerade auch vom Engagement der Bürgerinnen und Bür-ger für ihre Stadt. Sie lebt von den Akteuren, die im Rah-men der Programme arbeiten.Eine wichtige Rolle für nachhaltige Stadtentwicklungkönnen insbesondere die privaten Hauseigentümer spie-len. In diesen Tagen wurde hierzu das mehrjährige For-schungsvorhaben „Kooperation im Quartier“ abge-schlossen. Die Ergebnisse sind zukunftsweisend. Es hatsich gezeigt, wie es möglich ist, private Eigentümer zuPartnern der Stadtentwicklung zu machen. Die im For-schungsfeld erarbeiteten Instrumente sollten nun rasch indie Programme der Städtebauförderung übernommenwerden, insbesondere in die „Aktiven Zentren“ und die„Soziale Stadt“. Das wäre ein wichtiger Schritt hin zumErhalt lebendiger Stadtquartiere.Zum Abschluss. Zum Wesen der Städte gehört derkontinuierliche Wandel. Städte sind nie ein festgefügterZustand. Städte sind nie fertig, sie sind stets ein beweg-ter Vorgang. Deshalb stehen die Städte permanent vorgroßen, neuen Herausforderungen. Aber ihnen eröffnensich auch ständig Chancen. Um die Chancen zu nutzenund die Herausforderungen zu bewältigen, brauchen wirdie Städtebauförderung auch in Zukunft. Sie bleibt einunverzichtbarer Baustein für lebenswerte Städte und Ge-meinden. Der vorliegende Antrag trägt dazu bei, den Er-folgsweg bei der Städtebauförderung fortzusetzen. Las-sen Sie uns diesen Weg gemeinsam gestalten. Denn wie
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nichts ist so gut, dass
man es nicht noch weiter optimieren kann. – Daran soll-
ten wir gemeinsam arbeiten, für die Lebensqualität in
unseren Städten und Gemeinden.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Dann erhält jetzt das Wort ein Grüner,nämlich Christian Kühn.
Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Danke, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Men-schen in den Städten in Deutschland wollen mehr Pflan-zen, mehr Bäume und mehr Parkanlagen statt Betonwüs-ten und Asphaltpisten. Das ist eine gute Nachricht imHinblick auf die Nachhaltigkeit in der Stadt.
Sie wollen Parks und Freiflächen, um abzuschalten, mitKindern zu spielen und Naturerfahrung zu machen.Kleingartenanlagen sind heutzutage in Deutschland keinAusdruck mehr von Spießigkeit, sondern Ausdruck ei-nes neuen Lebensgefühls in der Stadt, einer Sehnsuchtnach Natur. Ich gebe Ihnen vollkommen recht: Die Zu-kunft der Stadt ist grün. Ich bin froh, dass die Union dasnach so vielen Jahren zumindest ein bisschen verstandenhat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als ich mir IhrenAntrag angeschaut habe, dachte ich: Die Prosa diesesAntrags ist ganz schön. Aber als ich dann den Forde-rungsteil gelesen habe, wusste ich: Irgendwie passendiese Prosa und Ihre Forderungen nicht ganz zusammen.Beim Klimaschutz sind Sie unterambitioniert, beim de-mografischen Wandel legen Sie keine richtigen neuenProgramme auf. Die soziale Ausgewogenheit im Quar-tier haben Sie zwar irgendwie im Blick, aber auch nichtrichtig. Wenn ich mir anschaue, wie viele Ziele wir ge-meinsam im Bundestag dazu formulieren, wo wir mitden Städten hin wollen, dann denke ich: Die Maßnah-men, die Sie in Ihr Papier geschrieben haben, reichen beiweitem nicht aus, um diese Ziele zu erreichen.Betrachten wir einmal Ihre konkrete Politik. In IhremAntrag haben Sie etwas zum Stichwort „sozial ausgewo-gene Stadtentwicklungspolitik“ geschrieben. Hier kommeich zur Liegenschaftspolitik. Sie betreiben durch die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9957
Christian Kühn
(C)
(B)
Bundesanstalt für Immobilienaufgaben weiterhin Immo-bilienspekulationen in Deutschland. Sie vernichten mitdieser Liegenschaftspolitik, die Sie als Union vertreten,Freiräume und Stadtgrün, ein Stadtgrün, das Sie hiergleichzeitig abfeiern. Wie passt das zusammen, HerrWegner?
Wie passt es zusammen, dass in der Stadt Berlin inden nächsten Jahren 13 Kleingartenanlagen durch dieBImA verkauft werden sollen? Wie passt es zusammen,dass diese 13 Kleingartenanlagen, weil Sie keine ande-ren Regelungen machen, zum Höchstpreis verschachertwerden sollen? Es werden beim Verkauf nicht die jetzi-gen Nutzerinnen und Nutzer in Berlin zum Zuge kom-men und auch nicht Familien mit Kindern; nein, es wer-den Investoren sein, die am Ende den Zuschlag erhaltenund dieses Stadtgrün nachhaltig vernichten. Deswegensage ich Ihnen: Reden Sie nicht über Stadtgrün, sondernändern Sie Ihre Liegenschaftspolitik!
Weil dieses Thema in Ihrer Rede so viel Raum einge-nommen hat, noch eine weitere Story zum Thema Stadt-grün. Sie wollten es mit Modellprojekten fördern. Wirhaben im Ausschuss gesagt: Machen Sie es doch in allenStädtebauförderprogrammen förderfähig. – Sie haben esdann gemacht. Es ist ein grüner Erfolg, dass Sie bei demThema Stadtgrün in dieser Legislaturperiode weiterge-kommen sind.
Zum Klimaschutz. Gerade in den Städten sind im-mense Potenziale, zum Beispiel in den Großwohnsied-lungen, vorhanden; Sie haben es selber genannt. Aberwarum raffen Sie sich als Große Koalition nicht auf, einwirklich ambitioniertes Quartiersanierungsprogrammhinzubekommen? Sie reden davon, dass die energetischeZukunft nicht bei der EnEV liegt, nicht in der einzelnenBetrachtung des Hauses, sondern im Quartier. Aber Sietun nichts. Sie haben kein ambitioniertes Programm auf-gelegt. Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie es nicht tun, wer-den Sie beim Klimaschutz im Gebäudebereich scheitern.Das Versprechen von Frau Hendricks, Klimaschutz undBaupolitik miteinander zu verzahnen, wird eben nichtwahr gemacht werden können. Ich sage Ihnen eines:Wenn Sie nicht in Quartieren denken und nicht in Quar-tieren handeln und kein entsprechendes Programm aufle-gen, dann wird es nichts mit dieser Regierung und nichtsmit dem Klimaschutz.
Ich höre jetzt, dass wir eine ressortübergreifende Stra-tegie bei der „Sozialen Stadt“ brauchen. Das ist doch nurein Ausweichmanöver, weil die nicht investiven Mittelbei der Städtebauförderung immer noch nicht förderfä-hig sind. Damit führen Sie als Große Koalition das Erbeder FDP in der Städtebauförderung weiter fort. Wir müs-sen doch das Quartier aktivieren. Wir müssen die Men-schen befähigen, ihr Quartier selber zu leben. Wir müs-sen im Quartier doch Mittel wie Spracherwerb undanderes in die Schulen tragen. Herr Wegner, Sie habendavon gesprochen, dass es Angsträume gibt. Das be-kommt man nicht mit ein bisschen Licht weg, sonderndamit, dass man den sozialen Zusammenhalt im Quartierstärkt. Das wollen Sie nicht.
Deswegen sage ich Ihnen eines: Machen Sie endlich et-was bei den nicht investiven Maßnahmen, und fördernSie nicht nur Beton, sondern endlich auch Menschen.
Von Ihnen wurde auch die Bürgerbeteiligung ange-sprochen. Sie sagen: Am Tag der Städtebauförderungmachen wir Bürgerbeteiligung. – Das reicht doch beiweitem nicht aus. Bei Ihnen ist Bürgerbeteiligung immernoch weitestgehend gedacht als Informationskampagneund nicht als gemeinsamer Entscheidungsprozess aufAugenhöhe. Ändern Sie das! Wir Grüne wollen keine In-vestorenpläne, wir wollen Bürgerinnen- und Bürger-pläne. Wir wollen Bürgerinnen und Bürger bei allen Ent-scheidungen, bei allen Planungsprozessen dabeihabenund die Bürgerinnen und Bürger nicht nur „aktivieren“,wie Sie es in Ihrem Antrag schreiben. Die Bürgerinnenund Bürger sind längst aktiv. Ich rate Ihnen, einfach malzuzuhören und auf diese Menschen zuzugehen.
Der letzte Gedanke. Wenn ich Ihren Antrag lese, er-kenne ich nicht, was das Leitbild der Großen Koalitionbei der Stadtentwicklung der Zukunft ist. Das wird mirnicht klar. In Ihren Reden, in Ihrer Prosa erkenne ich ei-niges. Aber wenn ich mir Ihre konkrete Politik, zum Bei-spiel die Liegenschaftspolitik, anschaue, dann weiß ich:Sie haben eigentlich das Bild einer Stadt der Investoren.Wenn ich mir die Verkehrspolitik der Großen Koalition,von Herrn Dobrindt anschaue, dann erkenne ich, dass esIhnen nach wie vor um die autogerechte Stadt geht undnicht um die Stadt der kurzen Wege, die Sie, HerrWegner, hier beschworen haben. Ich rate Ihnen: Über-prüfen Sie Ihre Prosa auf Inhalte. Schauen Sie sich an,was die Menschen in den Städten wirklich wollen. Dannhaben Sie, glaube ich, eine Chance, eine gute Stadtent-wicklungspolitik zu betreiben.Danke.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Michael Groß.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Michfreut die Rückmeldung der Opposition. Das war, würdeich sagen, ein Kritikchen.
Metadaten/Kopzeile:
9958 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Michael Groß
(C)
Wir Sozialdemokraten wissen genau, was wir wollen.In die Koalitionsvereinbarung haben wir hineingeschrie-ben, dass „Soziale Stadt“ das Leitprogramm für sozialeIntegration sein soll; das ist unser Ziel. Wir wollen, dassdie Menschen im Quartier ein Zuhause finden, dassFlüchtlinge, alte Menschen und junge Menschen dort ge-meinsam leben können.
Herr Kühn, Sie haben gerade behauptet, dass wir esnicht ernst meinen. Ich glaube, wir haben gemeinsamverstanden, dass die untere Ebene, also Städte und Ge-meinden, die Metropolen, Geld haben muss, um dieQuartiere, die Stadtteile zu gestalten. Wir nehmen jetztzusätzlich 3,5 Milliarden Euro in die Hand, um Investi-tionen in den Städten zu ermöglichen. Diese 3,5 Milliar-den Euro sind auch dafür gedacht, die energetische Sa-nierung und damit Energieeffizienz und Umweltschutzvoranzubringen. Ich glaube, dass wir da auf einem sehrguten Weg sind.Wir haben in der Koalition vereinbart, dass wir durchdas Teilhabegesetz ab 2017 für Entlastung sorgen. Auchdadurch werden für die Kommunen Freiräume geschaf-fen, damit sie das bewerkstelligen können, was vor Ortnotwendig ist. Ich glaube, dass das noch nicht genug ist;aber es ist mehr, als Sie unterstellt haben.
Frau Bluhm, ich habe in Ihrer Rede viel Lob gehört.Da ich klein von Statur bin, ist die Messlatte, die wirselbst angelegt haben, für mich ohnehin relativ hoch,auch wenn sie noch höher liegen könnte. Es ist doch so,dass wir im Bereich der Städtebauförderung alle nichtweit auseinander sind. Wir haben gemeinsam in der letz-ten Koalitionsverhandlung einen immensen Sprung ge-schafft: von 455 Millionen auf 700 Millionen Euro.
Wir haben das Programm „Soziale Stadt“ immens ge-stärkt. Wir haben es erreicht, dass wieder wesentlichmehr Städte und Gemeinden Anträge stellen. Ich glaube,die Kritik, die Sie äußern, ist unberechtigt. Wir sind aufeinem guten Weg. Wir haben in dem Antrag formuliert,dass wir Planungssicherheit und Verlässlichkeit für dieStädte brauchen. Wir wollen gemeinsam dafür sorgen,dass die 700 Millionen Euro inklusive der 150 MillionenEuro weiterhin im Haushalt etatisiert werden.
Warum sind die Programme zur Städtebauförderungso erfolgreich, und warum begrüße ich es sehr, dass wirmorgen den Tag der Städtebauförderung begehen? Ichglaube, es ist notwendig, dass Bund, Länder und Ge-meinden gemeinsam auf problematische Stadtteileschauen. Wir müssen gemeinsam auf Stadtteile schauen,in denen sich etwas in die falsche Richtung entwickelt.Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Kinder Bil-dung erfahren. Wir müssen Aufstieg durch Bildung ge-währleisten. Wir müssen Arbeit im Quartier ermögli-chen, und wir müssen Maßnahmen zum Schutz vonKlima und Umwelt im Quartier ermöglichen. Letztend-lich müssen wir die Verbraucher, die Mieter und die Ver-mieter auffordern, gemeinsam auf Klimaschutz und Um-weltschutz zu achten. Deswegen ist der morgige Tag sowichtig.Ich glaube, dass wir noch viele Dinge zu tun haben.Das gilt zum Beispiel für die Energiewende. Die Pro-gramme, die wir zur Energiewende und zum Klimaschutzhaben, müssen mit den Programmen zur Städtebauförde-rung verschränkt werden. Wir müssen es ermöglichen,dass Vermieter, die investieren wollen, mehrere Pro-gramme in Anspruch nehmen können. Wir müssen füreine sinnvolle Förderung sorgen, die Synergieeffekte er-zeugt. Wir müssen dafür sorgen, dass die richtigen Maß-nahmen ergriffen werden. Dabei ist es wichtig, dass wirdie Menschen mitnehmen. Wir müssen sie mitnehmen,indem wir sie aufklären, indem wir sie informieren. Wirbrauchen Mitmachstädte, in denen Bildung geschaffenwird. Wir müssen die Menschen über Bildung auch da-rüber aufklären, was notwendig und erforderlich ist.
Beteiligung ist ein Riesenthema. Ich kenne dieAgendaprozesse aus meinem Wahlkreis sehr gut. Es istuns aber noch nicht gelungen, die zu beteiligen, die wireigentlich beteiligen müssen. Es ist richtig, dass wir we-sentlich mehr investieren müssen. Wir müssen aber nichtnur Geld investieren, sondern wir brauchen auch krea-tive Ideen dazu, wie wir die Menschen in die Prozesseeinbinden können. Es reicht eben nicht, Ordner zur Ver-fügung zu stellen, sondern wir müssen Instrumente– auch die digitale Agenda – nutzen, um aufzuklären.Ich glaube, wir haben noch einen Riesenweg vor uns;denn wir können niemanden zwingen, mitzumachen.Ich glaube, dass es gerade bei der Stadtentwicklungwichtig ist, Menschen aufzufordern, sich einzumischen,weil dort jeder aus seiner eigenen Erfahrung heraus mit-entscheiden kann, wenn es um die Fragen geht: Wie sollmeine Zukunft aussehen? Wo will ich eigentlich Verän-derungen? Und was soll sich in meinem Stadtteil entwi-ckeln? – Gerade Stadtumfeld, Wohnumfeld, die eigeneWohnung sind dafür geeignet, Demokratie zu üben unddie Menschen aufzufordern, sich wieder demokratischeinzumischen und bei Erfolg auch wieder wählen zu ge-hen. Dafür müssen wir auch im Rahmen der Städte-bauförderung sorgen.
Ein letzter Gedanke zum ressortübergreifenden An-satz: Wir versuchen zurzeit, hier die Instrumente zusam-menzuführen. BIWAQ und „JUGEND STÄRKEN imQuartier“ sind ein Ansatz. Wir müssen dafür sorgen,dass alle gemeinsam – die Betroffenen vor Ort, aberauch wir hier – auf die Probleme schauen. Das müssenwir in den nächsten Wochen und Monaten schaffen. Siehaben ja noch ein bisschen Zeit: zwei Jahre.Ich danke Ihnen. Glück auf! Ein schönes Wochen-ende!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9959
Michael Groß
(C)
(B)
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Artur Auernhammer.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch wenn es der Opposition ein wenig schwerfällt, unsin der Regierungsverantwortung zu loben, kann ich hierauch als Kommunalpolitiker sagen: Es gibt nur wenigeFörderprogramme, die in so umfassender Weise auf dieKommunen wirken wie das Städtebauförderprogramm.Seit mehr als 40 Jahren steht der investive Teil derStädtebauförderung nicht nur für die Konservierung al-ter, zumindest auch historisch bedeutender Bauten. Städ-tebauförderung steht auch für die Umgestaltung undAnpassung an heutige Bedürfnisse. Bauhistorische Sub-stanz wurde saniert und in einem nutzbaren Zustand indas 21. Jahrhundert gebracht.Meine Damen und Herren, Städtebauförderung istmehr als trockener und staubiger Denkmalschutz. Städ-tebauförderung bringt Leben in die Stadt. Die Städte-bauförderung kombiniert baukulturelles Erbe mit gegen-wartsbezogenen und in die Zukunft weisenden baulichenÜberlegungen. Das Besondere dabei ist die von ihr aus-gehende Wechselwirkung und Kombination der Anreize,welche die geförderten Projekte auf die Kommunen aus-senden. Wir fördern zum Beispiel Maßnahmen vor Ortzur Reduzierung von Barrieren, um mehr gesellschaftli-che Teilhabe zu erreichen.Wenn ich an eine immer älter werdende Gesellschaftdenke, verstehe ich die Städtebauförderprogramme auchals Katalysator für eine Aktivierung der Potenziale undAkteure vor Ort.Denken wir an die Herausforderungen durch den Kli-mawandel und auch durch verschiedene Emissionsbelas-tungen in den Städten; dabei geht es um Schadstoffe wieFeinstaub, aber auch um Lärm. So kann die Städte-bauförderung helfen, Vorreiterpositionen in der Stadt zuschaffen. Daher muss das Augenmerk auch immer aufMaßnahmen für eine klimafreundliche und „grüneStadt“ mit möglichst wenig Grünen gelegt werden.
– Ich stelle fest, die Grünen haben es langsam kapiert.
Morgen ist der Tag des Städtebaus, der Tag der Städ-tebauförderung. Es ist erfreulich, diesen Tag auszurufen.Er kann zu dem Ziel beitragen, die Bürgerinnen undBürger vor Ort mitzunehmen und sie aktiv zu motivie-ren, sich für ihre Stadt zu interessieren, sie aufmerksamzu machen auf die regionalen Projekte der Städtebauför-derung, aber auch auf die besonderen Impulse, die vondiesen herausgehobenen Bauprojekten ausgehen.Es muss unser Ziel sein, die Thematiken des Klima-schutzes und der Barrierefreiheit über die Städtebauför-derung in die Städte und Ortschaften zu transportieren.Der Erfolg der letzten 40 Jahre kann sich wirklich sehenlassen. Unser Land ist eine einzige Messe, eine einzigeAusstellung erfolgreicher Städtebauförderung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Name „Städte-bauförderung“ – so mancher Redner hat sich hier sehrauf die großstädtische Förderung bezogen – verleitet ei-nen schon, nur von Großstadtförderung zu reden. Aberin der Tat ist es so, dass im Bundesdurchschnitt 40 Pro-zent der Städtebauförderung Mittel für den ländlichenRaum sind. Ich erlaube mir den Hinweis auf den Frei-staat Bayern: Dort fließen 75 Prozent der Fördermittel inden ländlichen Raum und ermöglichen dort Maßnah-men.
Erfreulich ist die Differenzierung. Die Programme „So-ziale Stadt“ und „Stadtumbau Ost und West“ sollen hierbeispielhaft neben dem neuen Programmteil „NationaleProjekte des Städtebaus“ genannt werden.Nachdem ich hier den großen Beitrag der Städte-bauförderung für den ländlichen Raum angesprochenhabe, nenne ich Ihnen nun ein Beispiel aus meiner Hei-mat, in der ich Kommunalpolitiker bin. Meine Heimat-stadt Weißenburg hat in den letzten zehn Jahren 6,5 Mil-lionen Euro an Städtebauförderung erhalten, imWahlkreis waren es über 60 Millionen Euro. Dieses Geldwurde ausgezahlt und investiert. Es hat den Mittelstandund das Handwerk motiviert, zu investieren, und es hatviele Investitionen nach sich gezogen.Gehen wir einmal von einer anerkannten Hebelwir-kung von eins zu sieben aus – also 1 Euro Städtebauför-derung löst 7 Euro an privaten Investitionen aus –, so ha-ben diese Mittel einen großen Investitionsschub für dieStädte und für die ländlichen Regionen gebracht. Mankann sagen: Städtebauförderung ist ein kommunalesKonjunkturprogramm. Es sichert Beschäftigungsverhält-nisse. Noch eines sei angemerkt: Durch diese Hebelwir-kung von eins zu sieben trägt sich das Programm selbst.Jeder einzelne geförderte Städtebau-Euro erwirtschaftetwieder Steuereinnahmen.
Wenn man das umrechnet, hat jeder Euro der Städte-bauförderung eine Mehrwertsteuereinnahme von1,27 Euro zur Folge. Fazit: Die Städtebauförderung fi-nanziert sich nicht nur selbst, sie erhöht sogar die Staats-einnahmen.Die Impulse, die von der Städtebauförderung desBundes ausgehen, sind wertvoll und verdienen vieleweitere Jahre. Dabei ist die richtige Schwerpunktsetzungwichtig. Es ist daher für mich erfreulich, wenn wir inden Förderjahren 2016 und 2017 die Umwandlung mili-
Metadaten/Kopzeile:
9960 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Artur Auernhammer
(C)
(B)
tärischer Konversionsflächen im Teilprogramm „Natio-nale Projekte des Städtebaus“ gezielt fördern. Der Ab-zug amerikanischer Truppen, aber auch die Verringerungder Zahl der Bundeswehrstandorte fordern uns heraus,mit der Stadtentwicklung weiter voranzukommen. Auchist es ein großer Beitrag zum Flächenschutz.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle,zum Teil auch die Opposition, haben die Städtebauförde-rung gelobt. Lassen Sie uns den morgigen Tag feiern!Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Der Kollege Auernhammer war der
letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Deshalb
schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/4806 mit dem Titel „Starke Städte und Quartiere –
Die Erfolgsgeschichte der Städtebauförderung fort-
schreiben“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates über
das Klonen von Rindern, Schweinen, Schafen,
Ziegen und Equiden, die für landwirtschaftli-
che Zwecke gehalten und reproduziert wer-
den
KOM(2013) 892 endg.; Ratsdok. 18152/13
und
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Ra-
tes über das Inverkehrbringen von Lebens-
mitteln von Klontieren
KOM(2013) 893 endg.; Ratsdok. 18153/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Kein Klonfleisch in der EU – Für mehr Tier-
und Verbraucherschutz
Drucksache 18/4808
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kol-
legin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! KennenSie den Film The 6th Day? Es geht um das Klonen vonMenschen wie auch Tieren, und es gibt dort einen be-merkenswerten Dialog, den ich Ihnen gerne vortragenwürde:„Bei Ihrem RePet …wird es sich exakt um densel-ben Hund handeln. Er kann alle Kunststückchen,die Sie ihm beigebracht haben, er findet alle Kno-chen, die er verbuddelt hat. Er wird überhaupt nichtspüren, dass er ein Klon ist …“ – „… kann ich mei-ner Tochter ein so großes Tier anvertrauen mitscharfen Zähnen?“ – „Wir können ihn auch kleinermachen, mit weichen Zähnen.“ … „Wenn Sie wol-len, können wir ihn sogar farblich auf ihre Wohn-zimmereinrichtung abstimmen.“Meine Damen und Herren, Utopie? Dystopie? Nein,heute schon ein Stück Realität. 1996 wird in Schottlanddas weltweit erste geklonte Säugetier präsentiert, dasKlonschaf Dolly. Dolly ist die identische Kopie eines an-deren Schafes, eine Reproduktion aus dem Reagenzglas.Damit war übrigens der Damm gebrochen. Klonmäuse,Klonrinder, Klonschweine folgen. Auch Haustiere wer-den kopiert. Eine Klonkatze soll zeigen, dass sich nie-mand mehr von seinem geliebten Begleiter verabschie-den muss. Der Weg zum „RePet“ ist also nicht mehrweit.War Dolly nun ein großer Triumph der Wissenschaft,oder hat der Mensch Schöpfer gespielt? Man kann diessicherlich unterschiedlich bewerten, aber eines steht fest:Es war ein dramatischer Eingriff in die Natur. Diesertechnische Fortschritt kann Hoffnung bedeuten; denndurch wissenschaftliches Klonen können gegebenenfallsStammzellen erzeugt werden, mit denen sich Krankhei-ten heilen lassen. Diesen Weg will übrigens niemandverbauen; denn wissenschaftliches Klonen soll nach wievor erlaubt bleiben.
Aber technischer Fortschritt bedeutet auch Verant-wortung. Dieser müssen wir gerecht werden. Deshalbberaten wir heute im Deutschen Bundestag über ein Ver-bot des Klonens von Tieren für die Nahrungsmittelpro-duktion. Für unsere Fraktion, die CDU/CSU, sage ichganz deutlich: Wir wollen dieses Verbot.
Und wir wollen mehr; denn wir sehen keinen einzigenGrund, weshalb Tiere für die Produktion von Lebensmit-teln geklont werden sollten. Wie ist zurzeit die Situa-tion? Derzeit dürfen Tiere in Europa geklont werden. Siekönnen nach Zulassung als Lebensmittel vermarktetwerden. Eine Kennzeichnung ist übrigens nicht vorgese-hen. Davon wird allerdings zurzeit in Europa noch keinGebrauch gemacht. Anders ist das in den USA. Klon-fleisch ist dort seit 2008 im Handel. Nachkommen ge-klonter Tiere werden zu Fleisch verarbeitet. Erkennenkönnen dies die Kunden im Supermarkt nicht. Eine Ge-sundheitsgefahr ist damit nicht verbunden. Das bestäti-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9961
Gitta Connemann
(C)
(B)
gen uns sowohl die amerikanische Behörde für Lebens-mittelsicherheit, die FDA, wie auch die EuropäischeBehörde für Lebensmittelsicherheit, die EFSA. Sie be-stätigen, dass der Verzehr von Fleisch und Milch von ge-klonten Rindern, Schweinen und deren Nachfahren un-bedenklich sei. Aber es gibt eben andere Gründe, diegegen Klonfleisch sprechen.Erstens: das Wohl der Tiere.
Klonen bedeutet Leid und Qual für Tiere. 90 Prozent dergeklonten Tiere sterben im Mutterleib oder nach der Ge-burt. Viele der Retortentiere altern schnell, leiden unterKrankheiten oder Missbildungen. So übrigens auchDolly. Dolly wurde gerade einmal sechs Jahre alt. Sie littan Arthritis und an Übergewicht. Am Ende musste sieeingeschläfert werden, um ihr weiteres Leid zu ersparen.Auf die Euphorie folgte Ernüchterung. Dieses Leid wol-len wir, die CDU/CSU-Fraktion, Tieren ersparen.
Zweitens. Wir haben ethische Bedenken gegen dasKlonen, wie übrigens auch das Ethikgremium bei derEuropäischen Kommission. Auch für dieses ist das Klo-nen für die Nahrungsmittelproduktion ethisch nicht ge-rechtfertigt. Ich persönlich sage auch: Bedenket dasEnde! Was bei Tieren beginnt, endet vielleicht eines fer-nen Tages bei der menschlichen Reproduktion.
Ich sage sehr deutlich: Ich möchte keine genetisch opti-mierten Designerbabys.
Drittens. Wir fürchten um die genetische Vielfalt. Esist vollkommen unklar, welche Folgen die neue Produk-tionsform für die Landwirtschaft und auch die Tierzuchthat. Deshalb lehnt auch der Deutsche BauernverbandKlonen strikt ab. Wir sagen: zu Recht.Viertens. Klonfleisch will eigentlich niemand essen.Eine aktuelle forsa-Studie für den Bundesverband derVerbraucherzentralen ergab, dass 71 Prozent der Men-schen in diesem Land keine geklonten Lebensmittel wol-len – auch wir nicht.Ich will noch einen weiteren Punkt anfügen: Es be-steht überhaupt kein Bedarf an geklontem Fleisch. Wirleiden in Europa nicht an einem Fleischmangel, sonderndaran, dass zu viel Essen achtlos weggeworfen und ver-nichtet wird.
Hier umzusteuern, wäre jenseits aller Klontechnik einwichtiger Schritt zur Steigerung des Tierwohls.Deshalb ist die EU dem Grunde nach auf dem richti-gen Weg. Ende 2013 hat diese vorgeschlagen, Folgendesin der EU zu verbieten: das Klonen von Tieren für land-wirtschaftliche Zwecke, den Import von geklonten Tie-ren und Klonembryonen und den Import von Lebensmit-teln aus diesen Tieren – alles nur vorläufig. Das ist einerster richtiger Schritt, aber er geht uns als CDU/CSUnicht weit genug; denn nach den Vorschlägen der Kom-mission bleiben erlaubt: der Import von Zuchtmaterialwie zum Beispiel Embryonen und Sperma, der Importvon Nachkommen geklonter Tiere, der Handel damitund der Einsatz in der Zucht. Und das alles ohne Kenn-zeichnung. Das lehnen wir ab.
Denn am Ende bedeutet das: Die Produkte der Nach-fahren von Klontieren dürfen verkauft werden. Der Ver-braucher verzehrt gegebenenfalls Klonfleisch, ohne dieszu bemerken. Der Verbraucher bekäme statt des Steaksvom Bauernhof ein Stück Klonfleisch aus dem Reagenz-glas. Ich sage für unsere Fraktion: Das wollen wir nicht.
Wir wollen mehr Transparenz für den Verbraucher,wir wollen mehr Lebensmittelklarheit, und wir wollendamit auch mehr Wahrheit und Sicherheit. Dafür brau-chen wir eines zwingend: eine Kennzeichnungspflicht.
Wir senden deshalb heute ein ganz starkes Signal,wenn wir uns gemeinsam dafür einsetzen, über Frak-tions- und Parteigrenzen hinweg.Damit stärken wir auch das Europäische Parlament;denn unsere Kollegen dort fordern wie wir: Der Verbrau-cher muss wissen, ob er Fleisch von Klontieren isst. Ge-meinsam – das ist das Signal dieser Stunde – müssen wirden Druck auf die EU-Kommission aufrechterhalten.Ende Februar hat der zuständige GesundheitskommissarAndriukaitis angekündigt, dass die EU-Kommission bisOktober prüfen wolle, ob die Kennzeichnung von Milch-und Fleischprodukten, die von Nachfahren geklonterNutztiere stammen, doch ein gangbarer Weg sei.Die EU hat auch vor dem Hintergrund von TTIP näm-lich ein Problem. Die Verhandlungen für ein Freihan-delsabkommen zwischen der EU und den USA sind be-kanntlich in den Vorbereitungen. Die EU-Vorschriftenfür Gentechnik oder Klonfleisch sollen unverändert blei-ben. Mit einem Freihandelsabkommen würden eben-diese Produkte aus den USA nach Europa gelangen.Deshalb brauchen wir eine klare Kennzeichnung –
damit der Verbraucher weiß, was er isst. Wir müssendeshalb gemeinsam die EU-Kommission von dieserKursänderung überzeugen.
Dabei wissen wir die Bundesregierung an unsererSeite. Auch diese lehnt das Klonen für landwirtschaftli-che Zwecke ab. Ich bin unserem Kollegen Bundesland-wirtschaftsminister Christian Schmidt außerordentlichdankbar, dass er sich dafür auf EU-Ebene starkmacht.
Metadaten/Kopzeile:
9962 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Gitta Connemann
(C)
(B)
Persönlich würde ich mir übrigens an dieser Stelle eineRegelung in Form einer Verordnung, nicht in Form einerRichtlinie wünschen; denn eine Verordnung hätte einehöhere Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten in derEU. Wir brauchen in der EU eine einheitliche Rechts-grundlage, die im Wesentlichen auch Kontrollverfahrenund Kontrollmethoden festlegt; denn das beste Gesetzhilft am Ende nicht, wenn es nicht kontrolliert wird. Da-für setzen wir uns als CDU/CSU-Fraktion ein.Es ist deshalb wichtig, dass wir uns heute einsetzen,dass wir gemeinsam ein klares Zeichen setzen gegenKlonfleisch und damit für mehr Tierschutz und für mehrVerbraucherschutz. Dafür stehen wir hier heute ein.Ich begann mit einem Filmzitat, und ich möchte miteinem enden. Es gibt unendlich viele Filme über dasKlonen – von Tieren, von Menschen –, so auch den FilmDie Insel. Ich zitiere aus der Aussprache mit einemmenschlichen Klon:„Ihr seid Klone.“ … „Ihr seid so etwas wie Aus-tauschmotoren für ihre Bentleys. Ihr seid ihnenegal.“Genau das wollen wir nicht, weder für die Menschennoch für die Tiere.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Kirsten
Tackmann, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Beim Klonen geht es darum, künstlich undsystematisch genetisch identische Individuen zu schaf-fen – ein Horrorszenario für alle, für die die Vielfalt desLebens ihre eigentliche Existenzgrundlage ist. Deswe-gen ist das schon allein ein guter Grund, Klonen abzu-lehnen.
Ich teile auch die ethischen Einwände, egal ob damit einSchöpfer oder die Natur gemeint wird: Das Einmischenin das Handwerk ist in jedem Fall falsch.Neben dieser gesellschaftspolitischen Kritik gibt esfür mich als Tierärztin weitere schwerwiegende Ableh-nungsgründe: Die verheerend niedrigen Lebenschancender Klone sind nicht zu verantworten. Sehr gut doku-mentiert ist das im 2010er Report von Testbiotech „Klo-nen von Nutztieren – eine ‚todsichere‘ Anwendung?“.Um nur eine Studie aus dem Jahr 2007 herauszugreifen:Von knapp 3 400 Kühen, auf die Embryoklone übertra-gen wurden, brachten nur 317 lebende Kälber zur Welt.Noch problematischer: Nach 24 Stunden waren schon 39dieser Klonkälber gestorben. Am 150. Lebenstag warfast ein Drittel tot. Selbst die technologiefreundliche Eu-ropäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA,gibt die Sterblichkeit beim Klonen von Rindern mit 85bis 94 Prozent und bei Schafen mit 94 Prozent an. Ichfinde, das ist nicht akzeptabel.
Und nicht nur die Klone sind gefährdet, sondern auchdie Leihmuttertiere. Zum Beispiel führt bei Rindern undSchafen das Large-Offspring-Syndrom unter anderem zueinem Riesenwuchs von Föten und damit zu Schwerst-geburten. Deshalb sagt die Linke ganz klar: Das Klonenmuss verboten werden, erst recht bei Nutztieren, um diees heute geht.
Wir stehen mit dieser Position nicht allein. Die öffent-liche Meinung ist klar gegen Klonen, ebenso der Bun-desrat. Auch im Entwurf der Stellungnahme des Euro-päischen Parlaments steht – ich zitiere –: „dass dieschädlichen Auswirkungen des Klonens, unter anderemauf das Tierwohl, gegenüber möglichen positiven Aus-wirkungen stark überwiegen“. Daher begrüßen die Auto-rinnen den Vorschlag der Kommission für ein Verbot desKlonens im Grundsatz; aber auch sie sehen erheblicheMängel im Vorschlag der Kommission.In der Tat: Die Vorschläge müssen dringend nachge-bessert werden. Deshalb ist der heute vorliegende ge-meinsame Antrag der Koalition und der Grünen drin-gend notwendig. Er fordert Abhilfe in drei Punkten, dieauch uns Linken sehr wichtig sind, erst recht im Schattenvon TTIP: Erstens. Statt eines vorläufigen Verbots wirdein dauerhaftes Verbot des Klonens gefordert. Es soll fürTiere, die für die Nahrungsmittelproduktion vorgesehensind, gelten, aber auch für den Handel mit und den Im-port von geklonten Tieren und auch für das Fleisch.Zweitens. Sollte das nicht oder nur teilweise erreichbarsein, wird eine Kennzeichnungspflicht gefordert, undzwar für geklonte Tiere und ihre Nachkommen, abereben auch für Sperma, Eizellen, Embryonen und dasFleisch. Drittens werden richtigerweise geeignete Kont-rollmöglichkeiten gefordert.Die Linke unterstützt diese Forderungen. Uns ist esauch wichtig, dass diese Forderungen heute einstimmighier beschlossen werden; denn wir brauchen ein ganzklares Signal aus dem Bundestag sowohl in RichtungBundesregierung als auch in Richtung Brüssel.
Deshalb stimmt die Linke dem Antrag heute zu.Aber ich sage auch ganz ehrlich: Diese Zustimmungist uns sehr schwer gefallen, zum einen weil auch dieserAntrag wichtige Fragen offenlässt: Warum wollen Sienur Fleisch kennzeichnen und keine Milch und keinenKäse? Warum soll das Verbot nur für die fünf Haupt-nutztierarten Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine undPferde gelten und nicht für alle Nutztierarten? Beim Ge-flügel ist das Klonen doch nur eine Frage der Zeit. Ich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9963
Dr. Kirsten Tackmann
(C)
(B)
sehe es wie der Bundesrat: Es sollte keine Ausnahmenvom Klonverbot geben, weder bei Sportpferden nochzum Erhalt seltener Rassen oder vom Aussterben be-drohter Arten – und, ich sage es ganz ehrlich, auch nichtfür die geliebten Haustiere.Aber der Antrag hat noch einen weiteren Makel. Er istzwar überfraktionell, aber unter Ausschluss der Linkenzustande gekommen, weil die Union seit fast zehn Jah-ren generell keine gemeinsame Antragstellung mit derLinken möglich macht. SPD und Grüne bedauern daszwar, aber eigentlich machen sie dann am Ende mit. Ichfinde das undemokratisch, weil es nicht nur meine Frak-tion, sondern auch die Wählerinnen und Wähler der Lin-ken ausgrenzt; es diskriminiert sie.
Es ist auch unparlamentarisch.Deswegen sage ich ganz klar: Die Linke verteidigtheute mit ihrem Ja zu diesem Antrag die Würde des Ho-hen Hauses.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolle-gin Tackmann, ich kann das nachvollziehen: Ich bedau-ere es außerordentlich, dass es in diesem Hause nicht ge-lingt, bei Fragestellungen, bei denen es um ethische undmoralische Ansprüche und Themen geht, fraktionsüber-greifend zusammenzuarbeiten.
Sie wissen, wie das Prozedere hier im Haus normaler-weise ist. Ich kann nur an die Kollegen appellieren, dasswir uns in Zukunft bei solchen Themen vielleicht einbisschen mehr Gemeinsamkeit gönnen; denn es geht es-senziell ja nicht um eine große politische Debatte,
sondern darum, dass wir heute hier im Hause konstatie-ren können, dass wir im Deutschen Bundestag die größt-mögliche Koalition gegen das Klonen zustande gebrachthaben.
Ich freue mich über diesen gemeinsamen Antrag, zu-mal nach der Aktuellen Stunde im Jahre 2011, die wirdazu in diesem Hause erleben durften. Da hat hier eineganz andere Debatte stattgefunden, auch mit Schuldzu-weisungen. Ich erinnere noch: Es war der MinisterBrüderle, der ein relativ aussichtsreiches Verfahren aufeuropäischer Ebene mit seinem Veto damals verhinderthat – auch zum Leidwesen seines damaligen Koalitions-partners. Ich erinnere auch noch an den Ausspruch vomKollegen Holzenkamp in dieser Debatte, dass er keinKlonfleisch essen will.
Das ist mir noch sehr gegenwärtig.Mit dem Antrag setzen wir in der Großen Koalitiongemeinsam etwas um, was wir in den Koalitionsvertraggeschrieben haben. Ich halte es für wichtig, dass mannicht nur etwas aufschreibt, sondern es auch umsetzt.Mit den jetzt vorliegenden Entwürfen auf der europäi-schen Ebene soll bis 2016 mehr Rechtssicherheit ge-schaffen werden. Das ist dringend notwendig. DasFleisch von Klonen wird zwar zum gegenwärtigen Zeit-punkt im europäischen Bereich nicht zur Erzeugung vonLebensmitteln verwandt, aber wer weiß denn, wie das inZukunft ist. Die Option besteht; die Tür ist offen. DieseTür muss dringend geschlossen werden. Auch nach derStellungnahme der FDA und der EFSA sind die Zweifelnicht ausgeräumt worden. Im Gegenteil, bei mir sind sienoch verstärkt worden.Das Geschäft mit dem Klonen hat nach der Entschei-dung der FDA in den USA, in Kanada und in anderenLändern begonnen. Dahinter steht nicht unbedingt dieNeugierde der Wissenschaft – die würde ja zur Lösungder Probleme im Bereich der Fleischerzeugung nicht mitKlonen arbeiten –, sondern dahinter stehen natürlichInteressen, Interessen von großen Zuchtverbänden, dienicht unbedingt genossenschaftlich organisiert sind,
Interessen von großen Verbänden, die wertvolle Genetikhaben, diese Genetik natürlich weltweit verkaufen unddamit Gewinne erzielen möchten. Es gibt zwei großeUnternehmen, die sich auf diesen Bereich spezialisierthaben: Trans Ova und ViaGen. Sie sind in unterschiedli-chen Märkten tätig.Man muss sich einmal vor Augen führen, dass von ei-nem Unternehmen sogar Emergency Cloning angebotenwird. Das heißt, wenn ein wertvolles Zuchttier plötzlichverstirbt, wenn etwa ein Pferd nach einer Kolik amnächsten Morgen tot aufgefunden wird, dann ist, wennein bestimmter Zersetzungsgrad der Zellen noch nichterreicht ist und die somatischen Zellen im Kern nochbrauchbar sind, die Möglichkeit gegeben, aus diesemTier noch einen Klon zu produzieren, um es züchterischweiter nutzen zu können. Diese Unternehmen sind inLändern wie Argentinien, Brasilien und Paraguay tätig.Auch in Australien und Neuseeland gibt es entspre-chende Unternehmen, die sich mit Klonen beschäftigen.Da gehört schon ein bisschen Mut dazu, wenn wir aufder europäischen Ebene sagen: Das ist mit unserer Ein-schätzung, mit unserer Ethik und mit unserem Verständ-nis von Tierschutz nicht vereinbar. Deshalb dürfen wirdiese Debatte nicht den Wissenschaftlern und den Unter-
Metadaten/Kopzeile:
9964 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Dr. Wilhelm Priesmeier
(C)
(B)
nehmen und Unternehmern überlassen, sondern müssensie auf der politischen Ebene hier im Deutschen Bundes-tag führen und dazu beitragen, dass die kritischen Stim-men im Europäischen Parlament, die wir aus der letztenDebattenrunde 2011 noch kennen und die ich mittler-weile auch schon wieder vernommen habe, auch durcheine entsprechende Positionierung der deutschen Bun-desregierung unterstützt werden, die das Klonen eben-falls nachhaltig ablehnt.
Es geht dabei nicht um Wissenschaft oder Ökonomieallein. Es geht dabei um ganz grundlegende ethischeFragestellungen. Letztendlich geht es um die Schöpfung,für die wir Verantwortung tragen. Nicht alles, was dieReproduktionstechnologie heute ermöglicht, ist auchethisch vertretbar. Ich kenne das aus eigener Anschau-ung: Ich habe über viele Jahre eine große Rinderpraxisbetrieben, mit Besamung und in Teilen, wenn es ange-zeigt war, mit Embryotransfers. Mittlerweile wurdenweitere Möglichkeiten entwickelt: das Embryosplitting,bei dem man Embryonen teilt, die Geschlechtsbestim-mung bei Embryonen, das Aussortieren der Embryonen,die man aufgrund des Geschlechtes nicht möchte, undnatürlich auch das Spermasexing. All das sind Möglich-keiten, die bislang schon – ethisch noch vereinbar – zurVerfügung stehen, aber auch dazu beigetragen haben,dass es im Bereich der Züchtung zu erheblichen Fort-schritten gekommen ist. Man muss diese Technologiennatürlich immer vor dem Hintergrund des ethischen An-spruches, den man hat, prüfen.Ich glaube, angesichts dessen, was wir dort erreichthaben, braucht man gerade im Bereich der Zucht keinKlonen mehr. Kühe erreichen heute in Deutschland einejährliche Durchschnittsleistung von 8 000 bis 9 000 Li-tern. Das Zuchtziel beträgt 10 000 Liter Milch mit 4 Pro-zent Fett und 3 bis 4 Prozent Eiweiß; andere Länder sindin Teilen ein wenig weiter. Ich glaube, vor diesem Hin-tergrund wird deutlich, dass wir diese Technologie mitSicherheit nicht brauchen, um die Leistung zu steigern.Im Gegenteil: Wenn wir diese Technologie einsetzen,dann schränken wir die genetische Vielfalt weiter ein,die in der Rinderzucht eh schon stark eingeschränkt ist;wir sehen einen hohen Inzuchtgrad. Auch in anderen Be-reichen, in denen entsprechend intensive Zuchten betrie-ben werden, etwa im Bereich der Pferdezucht, ist dasdurchaus erkennbar. Das können und müssen wir nichtdauerhaft so hinnehmen. Ich glaube, gerade die Vielfaltist notwendig, wenn wir auch für die nächsten Genera-tionen Optionen offenhalten wollen.Deshalb ist die klare Kennzeichnung von Produkten,die von solchen Klonen stammen, und von Lebensmit-teln, die mit Klonfleisch hergestellt wurden, essenziellund wichtig. Das Verbot sollte nicht – wie jetzt disku-tiert – nur befristet, für fünf Jahre, gelten, sonderngrundsätzlich,
damit jedem klar ist, wofür wir in der EuropäischenUnion stehen. Die Gründe dagegen, etwa die Angst vorWettbewerbsverfahren im Rahmen der WTO, finde ichnicht richtig. Das Urteil zur Nichteinfuhr von Robben-fellen wurde damit begründet, dass sozioökonomischeAspekte durchaus ein gewichtiger Grund sind, so etwaszu verhindern. Es geht hier um die gleiche Größenord-nung wie beim Verbot des Imports von Hormonfleisch.Deshalb bin ich guten Mutes und der festen Überzeu-gung, dass es uns gelingen wird, das Verbot im Sinne derTiere, im Sinne der Vielfalt und im Sinne des Tierschut-zes in Europa umzusetzen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Nicole
Maisch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Debatten zur Tierhaltung und zur Tierzucht in diesemHaus sind normalerweise Debatten, in denen ein tieferGraben zwischen Herrn Ebner und Herrn Stier, zwischenGrünen und Schwarzen verläuft. Umso mehr freue ichmich, dass von der heutigen Debatte ein klares Signalgegen das Klonen von Nutztieren nach Europa gesendetwird. Das ist ein gutes Zeichen.
Ich möchte Gitta Connemann für ihre sehr klarenWorte am Anfang dieser Debatte danken. Sie hat zumAusdruck gebracht, was viele von uns hier bewegt. Ichmöchte aber auch der Linken dafür danken, dass sie sichnicht auf kleinliche Parteipolitik eingelassen hat, son-dern dass sie den gemeinsamen Antrag von CDU/CSU,SPD und Bündnis 90/Die Grünen unterstützt, auch wennsie nicht in der Überschrift steht.
Mit dem vorliegenden Antrag, über den wir später ab-stimmen werden, sprechen wir für die Mehrheit derMenschen in unserem Land, die Klonfleisch auf ihremTeller ablehnt und der der Tierschutz ein Herzensanlie-gen ist. Wir sprechen für die Umwelt- und Verbraucher-verbände, für das EU-Parlament und sogar für den Deut-schen Bauernverband, die sich schon seit Jahren klargegen das Klonen aussprechen. Ich möchte an dieserStelle besonders den christlichen Kirchen danken, diesich in diesem Zusammenhang immer wieder ethischsehr klar positioniert haben.Das Klonen von Nutztieren ist ein einziger Tier-schutzskandal. Hinter jedem lebensfähigen geklontenTier stecken unzählige tote und kranke Wesen, die beidieser Technik als Abfall, als Ausschuss hingenommenwerden. Diese Tiere leiden unter Organmissbildungen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9965
Nicole Maisch
(C)
(B)
Immunschwächen, Blutarmut, Herzkrankheiten oder Le-berversagen. Die Sterblichkeit von Föten und neugebo-renen Tieren ist mit über 90 Prozent gigantisch hoch.Wenn man sich für den Tierschutz einsetzt, dann siehtman einiges an widerlichen Bildern und Videoaufnah-men. Aber die Bilder von diesen riesigen Föten, die ihreMuttertiere mehr oder weniger sprengen – ich muss sa-gen, das waren die verstörendsten Abbildungen, die ichin meiner Karriere als Tierschutzpolitikerin gesehenhabe. Das können und wollen wir nicht hinnehmen.
Wenn diese kleinen Klone es lebendig auf die Weltschaffen, dann haben die meisten von ihnen Schwierig-keiten beim Atmen, beim Stehen, und sie trinken nichtordentlich. Das heißt, die Anzahl von Klonen, die wirk-lich lebensfähig auf die Welt kommen, ist sehr gering.Das allein ist ein gutes Argument gegen diese Technolo-gie.Man muss sich immer überlegen: Wie kann man dieErnährung von 10 Milliarden Menschen auf diesem Pla-neten sichern? Mit welchen Techniken? Auf welchePraktiken wollen wir setzen? Die Frage ist auch: Wieschaffen wir bezahlbare Nahrung für alle? Technologienwie das Klonen, aber auch die Grüne Gentechnik sindnicht zukunftsweisend. Sie führen nicht dazu, dass alleMenschen auf diesem Planeten Zugang zu Nahrung ha-ben.
Wir meinen: Das Klonen ist ein bizarrer Irrweg, derdie Industrialisierung der Tierhaltung auf die Spitzetreibt, einerseits durch die Respektlosigkeit gegenüberden Tieren – die Christen unter Ihnen würden sagen:zwischen dem Mitgeschöpf Tier und uns –, andererseitsdurch die Verarmung der genetischen Vielfalt und diePatentierung und Monopolisierung unserer gemeinsa-men Lebensgrundlagen, unseres Menschheitserbes.An dieser Stelle möchte ich alle aufrufen: Wir müssendie Artenvielfalt erhalten und fördern. Wir dürfen sienicht künstlich begrenzen und verstümmeln. Wir könnendoch nicht zulassen, dass das Leben selbst in seiner Viel-falt, in seiner Schönheit in die Hände einzelner Kon-zerne gegeben wird, dass es patentiert, verarmt, verengtund geklont wird. Das können wir nicht wollen.
Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die amvorliegenden Antrag mitgearbeitet haben, dass wir trotzeiniger Auseinandersetzungen Einigkeit erzielt haben.Daraus ergibt sich ein klarer Handlungsauftrag an dieBundesregierung, wenn sie in Brüssel im Rat verhandelt:Wir wollen ein Verbot von Klonen in der EuropäischenUnion. Wir wollen keine Produkte von Klontieren, keineEmbryonen, kein Sperma, kein Fleisch und keine Milchungekennzeichnet in der Europäischen Union. Wir er-warten vom Landwirtschaftsminister, dass er ganz klarKante zeigt.Ich möchte auch darauf hinweisen: Auch wenn es inEuropa das Klonen von Landwirtschaftstieren, soweitwir wissen, nicht gibt, jenseits des Atlantiks wird esdurchaus angewandt. Man sollte sich schon die Fragestellen, wie Sie die TTIP-Verhandlungen zu einem gutenEnde bringen wollen, ohne dass zum Beispiel vorSchiedsgerichten eine Klonkennzeichnung als Handels-hemmnis beklagt wird. Das sind Fragen, die wir für denLandwirtschafts- und Nahrungsmittelbereich im Kontextdes Freihandelsabkommens klären müssen, wenn manden europäischen Verbraucherinnen und Verbrauchernversprechen will: kein Klonfleisch auf euren Tellern.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner in der Debatte hat
Artur Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-men und Herren ! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerSänger Max Raabe brachte 2002 eine Single heraus, mitder er einem gesellschaftlichen Irrtum zu einer hohenPopularität verhalf. Ich zitiere: „Klonen kann sich loh-nen“. Wir haben jetzt in dieser Debatte mitbekommen:Klonen kann sich nicht lohnen, und Klonen wird sichnicht lohnen. Gerade ist bereits von meiner KolleginGitta Connemann ausgeführt worden, welche negativenHerausforderungen uns hier entgegenstehen.Ich möchte das Thema hier, nachdem bereits zwei Ve-terinärmediziner gesprochen haben, einmal aus Sicht desRinderzüchters erläutern. Nehmen wir einmal an, ein in-ternational tätiger Konzern hat eine Spitzenfärse oder ei-nen Zuchtbullen, der besonders gute Leistungszahlenhat, der gute Merkmale vererbt. Auch dem besten Bullengeht im hohen Alter, wenn er vielleicht schon 1 MillionSpermaportionen produziert hat, irgendwann einmal dieLuft aus. Also hat dieser Konzern vielleicht Interesse da-ran, aus diesem Bullen einen Klon herzustellen, auch mitdem notwendigen finanziellen Aufwand.Aber unter Rinderzucht verstehe ich in erster Linie,dass Bäuerinnen und Bauern in ihren Rinderhaltungsbe-trieben die Zucht betreiben und dies nicht in die Händegroßer Konzerne legen.
In meiner bayerischen Heimat gibt es zum Beispiel denBesamungsverein Neustadt an der Aisch. Dieser Besa-mungsverein hat bereits einen internationalen Ruf, wennes darum geht, hornlose Tiere zu züchten. Das hat nichtsmit Klontechnologie zu tun, sondern damit, dass wir inunserer Genossenschaft Mitgliedsbetriebe haben, diesich dieser Zucht leidenschaftlich hingeben, die sich mit
Metadaten/Kopzeile:
9966 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Artur Auernhammer
(C)
(B)
ihren Tieren befassen, die sich Anpaarungen heraussu-chen, um dieses Ziel zu erreichen. Hier muss ich einmaldas hohe Engagement unserer Jungzüchterklubs, die imganzen Land unterwegs sind, erwähnen. Diese jungenMenschen sind mit großer Leidenschaft in ihren Betrie-ben tätig. Sie wollen erfolgreich züchten, sie wollenselber die Wertschöpfung ihrer züchterischen Arbeit er-halten und die Züchtung nicht irgendwelchen Großkon-zernen überlassen. Das gilt es auch bei dieser Debatte zuwürdigen.
Wir fordern deshalb ein klares Verbot des Klonensvon Tieren zur Nahrungsmittelproduktion. Wenn wir dieNahrungsmittelproduktion bei uns im Land ernst neh-men und wertschätzen, kann es nur dieses Verbot geben.
Es ist bereits ausgeführt worden, welchen großenSchmerz diese Technologie für die Tiere zur Folge hat,wie unwahrscheinlich viele Embryonen und Föten hierim wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleibenund wie viele Missbildungen es gibt. Es kann nicht sein,dass wir dies auch noch fördern. Deshalb ist es notwen-dig, dass wir eine klare Kennzeichnung von Klonfleischfordern, wenn dies im Umlauf sein sollte. Hier brauchenwir eine europäische Lösung. Hier ist die Bundesregie-rung aufgefordert. Heute werden wir die Bundesregie-rung mit einem eindeutigen Votum darin bestärken.
Ich möchte aber – Frau Connemann hat es bereits er-wähnt – den wissenschaftlichen Teil nicht unerwähntlassen. Viele von uns haben vielleicht im BekanntenkreisMenschen, die an Krankheiten leiden, denen bereits eineHerzklappe von einem Schwein eingesetzt worden istoder die Insulin aus tierischer Herkunft bekommen. Wirdürfen die wissenschaftliche Begleitung hier nicht ausder Hand geben. Wir selbst müssen auf der wissenschaft-lichen Seite am Ball bleiben, wenn es darum geht, dasThema wissenschaftlich weiter voranzubringen, abernicht im Sinne eines kommerziellen Klonens.Auch die TTIP-Verhandlungen sind angesprochenworden. Gerade vor diesem Hintergrund, liebe KolleginMaisch, ist es wichtig, dass wir heute hier im Bundestagein klares Votum an die Verhandlungsführer aussenden,dass wir in Deutschland kein Klonfleisch wollen. Des-halb begrüße ich diese parteiübergreifende Initiative.
Es geht aber nicht nur um wissenschaftliche und wirt-schaftliche, sondern auch um ethische Aspekte, die fürmich hier im Vordergrund stehen: Was darf der Menschalles machen? Was soll sich der Mensch in seiner ethi-schen Verantwortung für Rechte herausnehmen? –Meine sehr verehrten Damen und Herren, Klonen gehörtfür mich nicht dazu; das will ich hier klar und deutlichsagen.
Deshalb: Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten,dass in Deutschland weiterhin von unseren Bäuerinnenund Bauern hervorragend produziertes Rindfleisch undhervorragend produziertes Schweinefleisch und Geflü-gelfleisch gegessen wird, aber kein Klonfleisch.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte
hat Christina Jantz von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Schülerinnen und Schüler! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Zu Beginn meiner Rede möchteich ausdrücklich betonen, wie wichtig es ist, dass wirAbgeordnete des Bundestages gemeinsam und geschlos-sen gegen landwirtschaftliche Klontiere in der EU auf-treten. Daher ist es ein besonders gutes Zeichen, dassdieser Antrag sowohl von den Regierungsfraktionen,SPD und Union, als auch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf den Weg gebracht wurde. Natürlich wäreeine Einbringung durch alle Fraktionen des Hauses auchaus meiner Sicht wünschenswert gewesen.
In der Europäischen Union werden aktuell keine Tierezu landwirtschaftlichen Zwecken oder zur Erzeugungvon Lebensmitteln geklont. Jedoch ist es zurzeit nichtauszuschließen, dass bereits Nachkommen von geklon-ten Tieren für die Nutztierzucht und für die Lebensmit-telproduktion verwendet werden. Meine Damen undHerren, die europäische Bevölkerung und auch die Men-schen in Deutschland lehnen das Klonen von Tieren, ummit ihnen Lebensmittel zu erzeugen, strikt ab. Das ist un-ser Handlungsauftrag. Ihm werden wir heute gerecht.Klonen ist nicht nur ethisch zutiefst fragwürdig, son-dern es ist auch für die Tiere gefährlich und offenbarteine aus meiner Sicht wirklich furchtbare Möglichkeitder Wissenschaft. Es bestehen erhebliche Risiken für diegeklonten Tiere – das ist bereits angeklungen – undebenso für die Ersatzmuttertiere. Weit über 80, ja teil-weise deutlich über 90 Prozent der geklonten Tiere ster-ben vor, während oder auch nach der Geburt. Den Todvon Tieren für die Herstellung von Lebensmitteln aufdiese Weise billigend in Kauf zu nehmen, finde ich mo-ralisch absolut verwerflich. Nicht alles, was wissen-schaftlich möglich ist, sollten wir Menschen tun. Das
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9967
Christina Jantz
(C)
(B)
Klonen von Tieren, um mit ihnen Lebensmittel zu erzeu-gen, gehört eindeutig nicht dazu.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand tatsächlichNahrungsmittel essen oder trinken möchte, wenn er umdie grausame Vorgeschichte des Tierleidens weiß. Einvertretbarer Nutzen für unsere Verbraucherinnen undVerbraucher ist für mich hierbei absolut nicht zu erken-nen. Daher brauchen wir dringend ein dauerhaftes Ver-bot des Klonens von Tieren zur Nahrungsmittelproduk-tion und ein entsprechendes Import- und – auch dasklang bereits an – Zuchtverbot. Der Vorschlag der EU-Kommission, diese Verbote nur vorläufig auszuspre-chen, genügt hierbei nicht.Insgesamt ist aus meiner Sicht auch ein Verbot aufinternationaler Ebene notwendig, zum Beispiel auf derEbene der Welthandelsorganisation. Zudem brauchenwir strengste Pflichten zur Kennzeichnung von geklon-ten Tieren, deren Fleisch und deren Zuchtmaterial, umeinen schleichenden Einzug von geklonten Tieren zustoppen. Als Deutscher Bundestag sind wir nun gefor-dert, ein klares Zeichen gegen das Klonen von Tieren zurNahrungsmittelproduktion zu setzen und den Ball damitwieder auf das Spielfeld der EU zu bringen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen fürIhre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktio-
nen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/4808 mit dem Titel „Kein Klon-
fleisch in der EU – Für mehr Tier- und Verbraucher-
schutz“, hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gibt es jemanden, der
dagegen stimmt? – Gibt es jemanden, der sich enthält? –
Nein. Dann ist dieser Antrag einstimmig angenommen
worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Sevim Dağdelen, Caren
Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenk-
tag werden
Drucksache 18/4333
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Wenn sich die Kolleginnen und Kollegen gesetzt ha-
ben, kann ich die Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke das
Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Wir waren heute Morgen alle dabei:Bundestagspräsident Lammert eröffnete die Gedenk-stunde mit dem Zitat:Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.Wie gut, meine Damen und Herren, wäre es gewesen,wenn er hätte fortfahren können: Und darum sind wiruns alle einig, dass der 8. Mai ein gesetzlicher Gedenk-tag sein muss.
Richard von Weizsäckers Rede zur Befreiung Deutsch-lands vom Faschismus wurde von vielen Politikerinnenund Politikern nach seinem Tod noch einmal als heraus-ragend bewertet. Das sehen wir auch so. Und darum soll-ten wir dieses Erbe endlich annehmen und nicht aus-schlagen.In Bayern, Hessen und Sachsen gibt es einen Gedenk-tag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Ab diesemJahr soll es auch ein nationaler Gedenktag sein. Der Tagder Befreiung wird nur in Mecklenburg-Vorpommern alsoffizieller Gedenktag begangen. Das geht auf eine Initia-tive der Linken zurück, als sie damals gemeinsam mitder SPD in Mecklenburg-Vorpommern regierte.Ich will Gedenktage nicht gegeneinander ausspielen,aber ich finde, eine Gewichtung ist schon erforderlich.
Im vergangenen Jahr wurde argumentiert: Wir begehendoch den 27. Januar als den „Tag des Gedenkens an dieOpfer des Nationalsozialismus“ als nationalen Gedenk-tag. Das ist richtig, wir wollen am 27. Januar der Opferdes Faschismus gedenken. Aber wir wollen auch am8. Mai an unsere Befreier erinnern und ihnen danken.
Denn die Befreiung vom Faschismus war für uns Deut-sche die Voraussetzung für die Formulierung des Satzesim Grundgesetz, Artikel 1:Die Würde des Menschen ist unantastbar.Der 8. Mai, der Tag der Befreiung, ist das Schlüssel-erlebnis der Deutschen im 20. Jahrhundert. Das, meineDamen und Herren, sollte uns einen offiziellen Gedenk-tag wert sein.
Metadaten/Kopzeile:
9968 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Dr. Gesine Lötzsch
(C)
(B)
Wir Linke werden diesen Tag immer feierlich begehen.Gestern hatte die Fraktion Die Linke zu einer Gedenk-veranstaltung zum Tag der Befreiung in das Paul-Löbe-Haus eingeladen. Über 700 Menschen kamen. Es wärengern mehr gekommen, aber die Kapazitäten waren aus-geschöpft.Für mich war eine forsa-Umfrage sehr beeindru-ckend: Die große Mehrheit der Deutschen ist der Mei-nung, der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.89 Prozent stimmten dieser Aussage zu.Auch die Bereitschaft, über Kriegserlebnisse zu spre-chen, ist gestiegen. Auch das bestärkt uns in der Forde-rung nach einem gesetzlichen Gedenktag. Wir wollen,dass sich die Menschen mindestens an einem Tag imJahr die Zeit nehmen, um über die Ursachen des ZweitenWeltkrieges zu diskutieren und der über 50 MillionenOpfer zu gedenken. Gerade Deutschland muss sich ver-pflichten, Vorreiter bei der Lösung von Konflikten mitfriedlichen Mitteln zu sein. Das ist eine Kernforderungder Linken.
Ein gesetzlicher Feiertag wäre auch ein Zeichen andie Frauen und Männer der alliierten Armeen, dieDeutschland befreit haben. Unter ihnen waren auchDeutsche, wenige zwar, aber es gab sie. Heute Morgenwar als Gast in der Gedenkstunde einer der letzten leben-den Deutschen, der in der Résistance gekämpft hat:Erhard Stenzel. Auch an diese Kämpfer wäre es ein Zei-chen. Darum bitte ich Sie im Namen der Fraktion DieLinke: Stimmen Sie unserem Antrag zu!Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Herr Dr. Tim
Ostermann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute vor 70 Jahren hat die deutsche Wehrmacht bedin-gungslos gegenüber den Alliierten kapituliert. Ein sechs-jähriger Weltkrieg fand damit in Europa sein Ende. Andiesem Krieg waren mehr als 60 Staaten beteiligt. Mehrals 50 Millionen Menschen – wir haben es eben schongehört – sind ihm zum Opfer gefallen. Am 8. Mai 1945war dieser grauenvolle Krieg endlich beendet. Das Tötenhörte auf.Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete die mili-tärische Niederlage Deutschlands. Mit dem Ende desKrieges ging aber auch das Ende der NS-Diktatur einher.Zwölf Jahre lang haben die Nationalsozialisten Deutsch-land und Europa mit ihrer Schreckensherrschaft terrori-siert. Wer nicht in das Idealbild der Nationalsozialistenpasste, wurde verfolgt, drangsaliert, getötet. Der traurigeund auch heute noch schwer zu fassende Tiefpunkt wardabei der Holocaust. Über 6 Millionen Menschen jüdi-schen Glaubens wurden von den Nationalsozialisten sys-tematisch und auf bestialische Weise ermordet.Anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung derKonzentrationslager haben wir viele Zeitzeugenberichtehören können, die das Grauen noch einmal anschaulichmachten. Magda Hollander-Lafon, eine Überlebende desKonzentrationslagers Auschwitz, berichtete vor einigenMonaten in der Süddeutschen Zeitung Folgendes:Der Gestank von verbranntem Fleisch war uner-träglich. Wir wurden gedemütigt und mit Peitschengeschlagen. Die Nazis haben mit uns gemacht, wasihnen in den Sinn kam. Ziel war, dass wir schnellst-möglich draufgingen. Das übersteigt jegliche Vor-stellungskraft. Wir waren bereit zu sterben. Ichhatte akzeptiert, dass es so sein sollte. Der Tod warRealität, genau wie der Hass und die Angst.Wenn ich diese und andere Berichte von Zeitzeugenhöre, besteht für mich kein Zweifel daran, dass der Un-tergang des NS-Regimes für die Menschen in Europaeine Befreiung war, und es besteht kein Zweifel daran,dass das Ende des Zweiten Weltkrieges auch für dieDeutschen eine Befreiung darstellte.Es war keine Selbstbefreiung. Hieran hat unser Präsi-dent in der heutigen Gedenkveranstaltung erinnert. Esbedurfte der Befreiung von außen. Hierfür sind wir denAlliierten gerade an diesem 70. Jahrestag zu außeror-dentlichem Dank verpflichtet.Was dem 8. Mai 1945 folgte, brachte jedoch nicht fürjeden Freiheit. Im Westen setzte sich die Befreiung fort.Entnazifizierung und Demokratisierung: Unter diesenStichworten wurde in den westdeutschen Besatzungs-zonen ein Neuanfang ermöglicht. Diejenigen, die sich anden bestialischen Verbrechen des NS-Regimes beteiligthatten, wurden zur Rechenschaft gezogen und vor Ge-richt gestellt, wenn auch leider nicht alle und teilweiseviel zu spät. Auch heute noch dauern die juristische Aus-einandersetzung und die juristische Aufarbeitung dieserschrecklichsten Periode der deutschen Geschichte an,wie das Beispiel des Prozesses gegen Oskar Gröning vordem Landgericht Lüneburg zeigt.Trotz der großen Schuld, die viele – viel zu viele –Deutsche auf sich geladen hatten, gaben die westlichenAlliierten den Deutschen in ihren Besatzungszonen eineneue Perspektive, eine zweite Chance. Die westdeutscheGesellschaft wurde demokratisiert. Politische Stabilität,Wohlstand und sozialer Ausgleich waren die Folge. DerSchutz und die Achtung der Würde des Menschen wur-den zur zentralen Verpflichtung des Staates, so wie es indem allerersten Artikel unseres Grundgesetzes zum Aus-druck kommt. Mit Ende des Krieges wurde Westdeutsch-land eine Entwicklung ermöglicht, die am 8. Mai 1945keiner für möglich gehalten hätte.Unsere Landsleute in der Sowjetischen Besatzungs-zone empfanden den 8. Mai 1945 dagegen weit überwie-gend nicht als Tag der Befreiung,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9969
Dr. Tim Ostermann
(C)
(B)
wohl als Tag der Befreiung von der NS-Gewaltherr-schaft, nicht aber als Tag der Befreiung von Diktatur,Unfreiheit und Unrecht.
In den ersten Jahren nach Einrichtung der SowjetischenBesatzungszone wurden mehr als 120 000 Deutscheohne Gerichtsverfahren inhaftiert. Zehntausende wurdenin die Sowjetunion deportiert, um dort in Zwangslagernzu arbeiten. Mehr als 40 000 Deutsche kamen dort um.Auf Geheiß der Sowjetunion wurde die sogenannteDeutsche Demokratische Republik gegründet. Das ein-gängigste Symbol für die Unfreiheit in der DDR
stellt der Bau der Berliner Mauer dar. Die Bürger Ost-berlins und die in den übrigen Gebieten der DDR wur-den buchstäblich eingemauert, damit sie dem Regimenicht entfliehen konnten. Innerhalb von Zaun und Mau-ern eingesperrt, mussten die DDR-Bürger die Exzessevon Staat und Partei ertragen: Erschießung beim Ver-such, die Grenze zu überqueren, Folter und Misshand-lungen in den Gefängnissen,
Ausforschung und Terrorisierung durch die Stasi, keineMeinungsfreiheit, keine Pressefreiheit.
Für diejenigen, die in den Jahren danach unter Dikta-tur, Unfreiheit und Unrecht litten, war der 8. Mai 1945kein Tag der Befreiung.
Die vollständige Befreiung der Deutschen in der DDRtrat erst am 9. November 1989 ein: mit dem Fall derMauer und des Eisernen Vorhangs.
Ebenfalls nicht vergessen darf man die weit über10 Millionen Vertriebenen, die nach 1945 die ehemali-gen Ostgebiete des Deutschen Reiches verlassen muss-ten. Ja, es ist richtig: Die Vertreibung stellt eine Folgeder Gewaltherrschaft des NS-Regimes und des von ihmangezettelten Krieges dar. Unabhängig von der Frage derVerursachung sollte man aber nicht verkennen, dassdurch die Vertreibung, aber auch durch Kriegsgefangen-schaft millionenfaches Leid über die Menschen gebrachtwurde. Darum ist es nachvollziehbar, dass auch dieseMenschen den 8. Mai in erster Linie nicht als Tag derBefreiung empfanden und empfinden.
Keine Frage: Der 8. Mai ist ein Datum, das in derdeutschen Geschichte einen wichtigen Platz einnimmt.
Daher wird in der Bundesrepublik jedes Jahr an dasKriegsende erinnert, auch in diesem Plenarsaal. LassenSie mich an dieser Stelle sagen: Ich finde, dass wir heuteMorgen herausragende und – im positiven Sinne – denk-würdige Redebeiträge erleben durften.
Heinrich August Winkler gab uns mit auf den Weg– ich zitiere ihn –:Niemand erwartet von den Nachgeborenen, dass siesich schuldig fühlen angesichts von Taten, die langevor ihrer Geburt von Deutschen im NamenDeutschlands begangen wurden. Zur Verantwor-tung für das eigene Land gehört aber immer auchder Wille, sich der Geschichte dieses Landes imGanzen zu stellen.Am 8. Mai werden wir uns der Geschichte diesesLandes in besonderer Weise bewusst. Ich möchte aberauch daran erinnern, dass wir uns dessen alljährlich aucham 27. Januar bewusst werden. Am 27. Januar 1945 be-freite die Rote Armee das Konzentrationslager Ausch-witz. An diesem Tag wird bundesweit der Opfer des Na-tionalsozialismus gedacht. Die Initiative hierzu ging imJahr 1996 vom damaligen Bundespräsidenten RomanHerzog aus.
Er proklamierte einen Gedenktag. Wir glauben, dass da-neben kein weiterer gesetzlicher Gedenktag eingeführtwerden sollte.Roman Herzog begründete seine damalige Initiativewie folgt – ich zitiere ihn, und damit möchte ich schlie-ßen –:Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auchkünftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnernszu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauerüber Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenkenan die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr derWiederholung entgegenwirken.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner hat Volker Beck von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Heinrich Böll sagte 1985:
Metadaten/Kopzeile:
9970 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Volker Beck
(C)
(B)
Ihr werdet die Deutschen immer wieder daran er-kennen können, ob sie den 8. Mai als Tag der Nie-derlage oder der Befreiung bezeichnen.Ich finde, da sind wir 30 Jahre später ein gehöriges Stückweiter. Heute konnte der Bundestagspräsident mit Zu-stimmung und Applaus aus allen Fraktionen sagen: Der8. Mai ist ein Tag der Befreiung.
Das ist ein Fortschritt, und das sollten wir festhalten.Ich will hinzufügen: Es ist der Tag der Befreiung, undich bin den Befreiern dankbar – allen Befreiern: der Ro-ten Armee, den Amerikanern, den Franzosen, den Bri-ten, den Polen und allen, die daran mitgewirkt haben,auch den deutschen Widerstandskämpfern, die gemein-sam mit den Alliierten den Hitler-Faschismus niederge-rungen haben.
Diese Dankbarkeit ist nicht selbstverständlich im Ho-hen Hause. Ich habe gerade am Donnerstag im Fernse-hen eine CDU-Kollegin, Frau Steinbach, gehört, der dasWort Dankbarkeit immer noch nicht über die Lippen ge-hen will.
Herr Ostermann, ich fand an dieser Stelle auch IhreRede nicht angemessen.
Der 8. Mai war eine Zäsur und eine Befreiung auch fürdie Menschen hinter dem Eisernen Vorhang. Der Holo-caust war zu Ende. Das massenhafte, systematische undrassebiologisch begründete Morden hatte damit in Eu-ropa ein Ende. Das war eine Befreiung für alle Men-schen, die darunter zu leiden hatten.
Ich will nichts kleinreden. Meine Mutter ist beim17. Juni 1953 dabei gewesen und aus der DDR geflohen.Mein Vater wurde aus dem Sudetenland vertrieben.
Ich will nicht kleinreden, dass es danach Unfreiheit undUnrecht gab. Aber das hatte eine andere Dimension alsder Hitler-Faschismus, unter dem Millionen Menschennicht nur in deutschem Namen, sondern auch von vielenDeutschen ermordet wurden.
Liebe Kollegen von der Linken, ich finde, wir müssensehr sorgfältig diskutieren, wenn es um Gedenkpolitikgeht. Ich möchte nicht, dass wir uns in Gedenkritualenerschöpfen und dass dann kein wirkliches Gedenkenmehr stattfindet. Ich bin Antje Vollmer dankbar, dass siedamals den Bundespräsidenten Herzog überzeugt hat,den 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des National-sozialismus zu proklamieren.
Das ist wichtig und hat sich mittlerweile in der Gedenk-kultur unseres Landes tief verankert und verwurzelt.Bevor wir Ihren Antrag annehmen – Sie stellen ihnzum wiederholten Mal im Hohen Hause – und den 8.Mai zum gesetzlichen Gedenktag erheben, müssten wirdarüber reden, was wir an diesem Tag tatsächlich ma-chen würden und was wir anders machen würden. Wirkönnen nicht mehrmals im Jahr die gleichen Veranstal-tungen durchführen. Dann erschöpft es sich und verliertseine Ausstrahlungskraft. Es gibt sicherlich Wichtigeres,als weitere Gedenktage zu proklamieren. Andere mögli-che Gedenktage wären der Kriegsbeginn, der Anschlussdes Sudetenlandes und das Desaster des Münchner Ab-kommens. Das alles sind Meilensteine des Unrechts im20. Jahrhundert. Auch dessen könnte man gedenken,weil die Ereignisse an diesen Tagen mit in die Katastro-phe geführt haben, die schließlich am 8. Mai 1945 en-dete.Ich meine, dass eine andere Aufgabe viel wichtigerist. Wenn wir uns genau anschauen, wessen wir geden-ken, dann stellen wir fest, dass wir Lücken in unseremGedenken haben. Es gab viele Millionen Tote im Zwei-ten Weltkrieg. Den größten Blutzoll haben die Völkerder ehemaligen Sowjetunion und die Polen zu zahlen ge-habt. Die Sowjetunion hatte 14 Millionen tote Zivilistenund 13 Millionen tote Soldaten zu beklagen. Die zweit-größte Opfergruppe des systematischen, rassistischenErmordens ist noch immer ein dunkler Fleck in unseremGedenken. Neben 6 Millionen Juden wurden im Deut-schen Reich 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangeneermordet. Ich frage Sie: Wo haben wir als Bundestag an-erkannt, dass das nationalsozialistisches Unrecht ist? Woist ein Denkmal für diese ermordeten Menschen? DieseMenschen wurden rassebiologisch begründet ermordetund wurden nicht wie die westalliierten Kriegsgefange-nen behandelt, für die die Genfer Konventionen galten.Diese Konventionen wurden für diese Kriegsgefangenensystematisch ausgesetzt. Diese Menschen verhungertenund erfroren, wurden totgeschlagen und krepierten anKrankheiten elendig, weil das von den Nazis so gewolltund verordnet war. Deshalb bin ich dem Bundespräsi-denten dankbar, der diese Woche gesagt hat:Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafteSchicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen inDeutschland nie angemessen ins Bewusstsein ge-kommen – es liegt bis heute in einem Erinnerungs-schatten.Wir haben heute in vielen Reden gesagt – so auch derBundestagspräsident und unser Gastredner ProfessorWinkler in der Gedenkfeier –, dass die Verantwortung,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015 9971
Volker Beck
(C)
(B)
die wir für die Vergangenheit tragen, bedeutet, dass wiruns der Vergangenheit stellen müssen. Diesem Unrechtmüssen wir uns noch stellen. Deshalb fordere ich Sieauf, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition:Lassen Sie uns in diesem Jahr endlich feststellen, dassdie sowjetischen Kriegsgefangenen Opfer nationalsozia-listischen Unrechts waren. Lassen Sie uns ihnen mit ei-ner humanitären Geste die Hand zur Versöhnung rei-chen. Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie wir diesesUnrechts angemessen gedenken. Das ist mir wichtigerals ein weiterer Gedenktag.Ich kann Ihnen sagen: Wir haben am Mittwoch da-rüber in der Bundesstiftung „Denkmal für die ermorde-ten Juden Europas“ diskutiert. Der Beirat schlägt vor,dass man sich dieses Themas annimmt. Ich finde, wirsollten uns als Bundestag diesen Fragen gemeinsam öff-nen.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Gabriele
Fograscher von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir haben diesen 8. Mai heute mit einer Gedenk-
stunde begonnen und beenden die Plenarsitzung heute
mit der Diskussion zum 8. Mai. Auch wenn wir dem An-
trag der Linken nicht zustimmen werden – das muss ich
leider sagen, Herr Ostermann: ganz ausdrücklich nicht
mit der Begründung, die Sie genannt haben; ich werde
das nachher ausführen –, gibt er doch Gelegenheit, die
Bedeutung dieses Tages nochmals zu beleuchten.
Es hat lange gedauert – Professor Dr. Winkler hat das
heute Morgen ausgeführt –, bis der 8. Mai 1945 als „Tag
der Befreiung“ bezeichnet und begriffen wurde. Es war
Richard von Weizsäcker im Jahr 1985, der damals
– auch danach nicht unumstritten – diesen Begriff
prägte. Gerade in diesem Jahr, zum 70. Jahrestag, gab
und gibt es um dieses Datum viele würdige, zum Nach-
denken anregende Veranstaltungen: Gedenkveranstal-
tungen in den KZ-Gedenkstätten oder die Eröffnung des
NS-Dokumentationszentrums in München, die Gedenk-
stunde heute Morgen oder die Debatte gestern zum
Thema „50 Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel“.
Ein Gedenktag würde der Herausforderung des Erin-
nerns und Gedenkens, der aktiven Auseinandersetzung
mit aktuellem Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextre-
mismus, Ausgrenzung, Intoleranz und Vorurteilen nicht
gerecht.
Wie bitter notwendig diese aktive Auseinanderset-
zung auch heute noch ist, zeigt sich ganz aktuell. In die-
ser Woche wurde die Polizeiliche Kriminalstatistik
veröffentlicht. Sie weist erneut Straftaten mit rechts-
extremistischem, fremdenfeindlichem, antisemitischem
Hintergrund auf erschreckend hohem Niveau aus. Die
Vorfälle in Tröglitz, wo ein gewählter Bürgermeister be-
droht und angefeindet wird und sein Amt aufgibt, der or-
ganisierte Angriff von Neonazis auf eine DGB-Veran-
staltung am 1. Mai in Weimar und schließlich die
Razzien und das Aufdecken der sogenannten OSS, der
„Oldschool Society“, offenbar eine rechte Terrorgruppe
– alles Vorfälle der letzten Wochen.
Wichtiger als ein Gedenktag ist es für uns deshalb,
Programme, Projekte und Initiativen zu unterstützen, die
sich aktiv für Demokratieförderung und Demokratiestei-
gerung, die sich aktiv für Toleranz, Respekt und ein gu-
tes Miteinander engagieren.
Die gibt es; aber leider manchmal nicht genug im Blick
der Öffentlichkeit.
Ich konnte zum Beispiel in der letzten Woche Preis-
träger des Wettbewerbs „Aktiv für Demokratie und Tole-
ranz“ auszeichnen. Der Wettbewerb wird jedes Jahr vom
Bündnis für Demokratie und Toleranz ausgerichtet und
rückt das vielfältige Engagement von Bürgerinnen und
Bürger in den Mittelpunkt. Die Preisträger leisten vor
Ort – fantasievoll und kreativ – wertvolle Präventions-
arbeit. Für das Familienministerium konnten wir als Ko-
alition das Programm „Demokratie leben!“ weiter finan-
ziell aufstocken. Das Programm des Innenministeriums
„Zusammenhalt durch Teilhabe“ leistet gute Arbeit. Die
Bundeszentrale für politische Bildung, die politischen
Stiftungen: Sie alle leisten – ausgestattet mit Mitteln des
Bundes – einen unverzichtbaren Beitrag zur Geschichts-
aufarbeitung und zur Demokratiestärkung.
Ich erwarte auch von dem eingesetzten Expertengre-
mium Antisemitismus ganz konkrete Vorschläge, wie
wir dem Phänomen des Antisemitismus, des Rechts-
extremismus und der Intoleranz noch wirksamer und er-
folgreicher entgegentreten können.
Politik und Zivilgesellschaft müssen aktiv, wachsam
und engagiert die Auseinandersetzung mit den Feinden
der Demokratie führen, sich für Demokratie einsetzen –
und das tagtäglich und nicht nur an einem Gedenktag.
Das ist die Lehre, das ist die Verantwortung, die aus dem
Gedenken und Erinnern an den 8. Mai, den Tag der Be-
freiung, für uns und die Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland erwächst.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Wir kommen zur Abstimmung überden Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache18/4333 mit dem Titel „Tag der Befreiung muss gesetzli-cher Gedenktag werden“. Wer stimmt für diesen Antrag?
Metadaten/Kopzeile:
9972 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Mai 2015
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(C)
– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit istdieser Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf Mittwoch, den 20. Mai 2015, 13 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.