Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zu unserer 5. Sitzung. Wir sind
nun endlich im parlamentarischen Alltag angekommen.
Deswegen rufe ich auch gleich den Tagesordnungs-
punkt 5 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 19./20. Dezember
2013 in Brüssel
Hierzu liegen zwei Entschließungsanträge der Frak-
tion Die Linke sowie zwei Entschließungsanträge der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 125 Minuten vorgesehen. Um es sich einprägen zu
können, kann man auch sagen: Das sind gut zwei Stun-
den. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so
verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Dass ich meine dritte Amtszeit als
Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland mit
einer Regierungserklärung zu Europa eröffne, das ist
nicht allein Folge der Terminlage, sondern das ist vor al-
lem Ausdruck einer neuen Realität.
Erstens zeigt sich daran, dass zwischen Europapolitik
und Innenpolitik heute kaum noch sinnvoll unterschie-
den werden kann. Dies gilt umso mehr, weil wir eine
Wirtschafts- und Währungsunion haben, in der nationale
Entscheidungen jeweils Auswirkungen auf alle anderen
Mitgliedstaaten der Währungsunion und den gesamten
Euro-Raum haben.
Zweitens drücken sich darin die größeren Informa-
tions- und Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundesta-
ges in der Europapolitik und die gewachsene Rolle der
nationalen Parlamente in ganz Europa aus.
Drittens ist dies eine Folge der gestiegenen Verant-
wortung Deutschlands für unseren ganzen Kontinent.
Heute im Bundestag über Europa zu sprechen, das be-
deutet auch, über die Rolle Deutschlands in der Europäi-
schen Union zu reden.
Die Bundesregierung der Großen Koalition will, dass
Deutschland als Gründungsmitglied der Europäischen
Union weiterhin eine verantwortungsvolle und integra-
tionsfördernde Rolle in Europa wahrnimmt. Für die
Große Koalition ist und bleibt das europäische Eini-
gungswerk eine der wichtigsten Aufgaben dieser Legis-
laturperiode.
Wir wollen, so sagt es der Koalitionsvertrag, Deutsch-
lands Zukunft gestalten, und wir wollen Europas Zu-
kunft mitgestalten.
Dass ich meine dritte Amtszeit mit einer Regierungs-
erklärung zu Europa beginnen darf, freut mich auch des-
halb sehr, weil wir am Ende des Jahres 2013 feststellen
können: Europa ist auf dem Weg zu Stabilität und
Wachstum ein gutes Stück vorangekommen. Das Jahr
2013 war ereignisreich, es war arbeitsreich, und es war
auch erfolgreich für Deutschland und für Europa. Eu-
ropa konnte in diesem Jahr auf den Fortschritten der Vor-
jahre aufbauen, und Europa kann die ersten Früchte ern-
ten – ich betone allerdings: die ersten.
Erstens. Wir haben weitere Fortschritte gemacht, um
die Euro-Zone zu stabilisieren und das Funktionieren der
Wirtschafts- und Währungsunion zu verbessern. Unser
permanenter Europäischer Stabilitätsmechanismus, der
ESM, funktioniert. Es zeigt sich, dass das Konzept
„Hilfe gegen Strukturreformen und Haushaltskonsolidie-
rung“ wirkt. Wir haben die wirtschafts- und haushalts-
politische Überwachung fortentwickelt. Wir haben mit
dem Fiskalvertrag eine Grundlage für solides Haushalten
in Kraft gesetzt. Wir haben beschlossen, eine engere
240 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
wirtschaftspolitische Koordinierung einzuführen, und
wir haben die gemeinsame Währung attraktiv gehalten:
Zum 1. Januar 2014 wird Lettland das 18. Mitglied der
Euro-Zone werden.
Zweitens. Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht,
um ein solides und verantwortungsvolles Finanzsystem
zu schaffen. Die europäische Bankenaufsicht wurde auf
den Weg gebracht. Auf diese Weise werden wir Fehlent-
wicklungen im Bankensektor künftig frühzeitiger aufde-
cken und besser korrigieren können, also bevor Gefah-
ren für die gesamte Euro-Zone auftreten. Im Bereich der
Finanzmärkte werden zahlreiche Tätigkeitsfelder neu
oder verschärft reguliert. Dies gilt zum Beispiel für die
Vorschriften zum Eigenkapital der Banken.
Drittens. Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht,
um ein politisch und wirtschaftlich starkes, modernes
und sozial gerechtes Europa zu schaffen. Mit dem Haus-
halt der Europäischen Union, der gemäß der Einigung
für die Jahre 2014 bis 2020 in Höhe von rund 1 Prozent
der Wirtschaftsleistung der EU liegen wird, das heißt
rund 1 Billion Euro, haben wir einen entscheidenden
Hebel für Zukunftsinvestitionen, für Investitionen in
Wachstum, Beschäftigung und Forschung. So können
wir zum Beispiel die strukturellen Maßnahmen in den
Mitgliedstaaten mit nationalen Mitteln und europäischer
Unterstützung unterlegen. Damit können wir zum Bei-
spiel die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit auf
eine neue Grundlage stellen. Wir haben dazu auch ent-
sprechende Gipfel in Berlin und Paris durchgeführt. Die
Frage der Beschäftigung von jungen Menschen in Eu-
ropa wird auch in den nächsten Jahren eine der zentralen
Herausforderungen sein. Wir wissen: Durch Geld allein
kann die Förderung der Jugendbeschäftigung nicht ge-
lingen. Unser Ziel ist es deshalb auch, durch Erfahrungs-
austausch mögliche erfolgversprechende Konzepte in
ganz Europa zu verankern. Das gilt insbesondere für die
duale Ausbildung; mit dieser hat Deutschland ein he-
rausragendes Konzept, um jungen Menschen dauerhaft
Arbeit zu geben. Dieses Konzept werden wir im europäi-
schen Austausch weiter verbreiten.
Wir sind überzeugt: Europas Reichtum liegt im Wis-
sen und Können seiner Menschen. Wir haben uns des-
halb dafür eingesetzt und auch erreicht, dass im neuen
Finanzrahmen für die Europäische Union die Ausgaben
für Wettbewerbsfähigkeit und Forschung, wie es dort
heißt, gegenüber rund 91,5 Milliarden Euro in der ak-
tuellen Periode auf rund 125,6 Milliarden Euro anstei-
gen. Das ist eine Steigerung um 37 Prozent. Auch die
Ausgaben für das Forschungsprogramm Horizon 2020
und das Mobilitätsprogramm Erasmus+ werden gegen-
über dem Jahr 2013 noch einmal real zunehmen. Bei
Erasmus+, dem Austauschprogramm für junge Men-
schen, wird die Zunahme sogar 40 Prozent betragen. Da-
mit unterstützen wir europäisch den wichtigen Trend,
auf der Ebene der Mitgliedstaaten die Ausgaben für For-
schung und Entwicklung zu steigern. In Deutschland ha-
ben wir im Jahr 2012 mit 79,5 Milliarden Euro ein Re-
kordniveau bei den Forschungsinvestitionen erreicht.
Wir haben damit einen Anteil der Forschungsinvestitio-
nen am Bruttoinlandsprodukt von 2,98 Prozent erreicht,
das heißt, wir haben das 3-Prozent-Ziel, das für ganz Eu-
ropa gelten soll, fast geschafft. Das ist ein großer Erfolg.
Wir haben auch eine neue Strukturfondsförderung be-
schlossen. Sie erhält mit der makroökonomischen Kon-
ditionalität eine neue Dimension. Das hört sich sehr
technisch an; das heißt aber nichts anderes, als dass es
Auswirkungen auf die Vergabe von Strukturfondsmitteln
haben kann, wenn Länder die Empfehlungen zur Ent-
wicklung der Wettbewerbsfähigkeit, die seitens der Eu-
ropäischen Union, der Kommission selbst, gegeben wer-
den, nicht einhalten. Ich glaube, das verschärft und
verbessert die notwendigen Überwachungsmechanismen
und ist deshalb eine gute Weiterentwicklung.
Wir haben im Juni 2012 einen Wachstums- und
Beschäftigungspakt beschlossen – viele werden sich
erinnern – und zum Beispiel die hierfür bereitstehen-
den Mittel bei der Europäischen Investitionsbank um
10 Milliarden Euro aufgestockt. Am Freitagvormittag
wird dann der Chef der Europäischen Investitionsbank,
Herr Hoyer, uns Bericht erstatten, was mit diesem Geld
in Richtung Wachstum und Beschäftigung jetzt schon
auf den Weg gebracht wurde.
Viertens. In diesem Jahr wurden weitere erhebliche
Fortschritte gemacht, um durch Strukturreformen und
Haushaltskonsolidierung auf nationaler Ebene die Wett-
bewerbsfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten zu verbes-
sern. Die europäische Staatsschuldenkrise ist ohne Zwei-
fel noch nicht überwunden – das kann man nicht oft
genug betonen –, aber wir sehen erste Ergebnisse. Und
wir sind überzeugt: Sie kann dauerhaft überwunden wer-
den. Die Europäische Kommission hat jetzt in ihrer
Herbstprognose zum ersten Mal deutliche Zeichen für
einen vorsichtigen Beginn der wirtschaftlichen Erholung
gesehen. Bei allen Problemen, die wir noch haben, sind
das doch, wie ich glaube, gute Nachrichten. Auch die au-
ßenwirtschaftliche Situation des Euro-Raums als Ganzes
hat sich verbessert. Wir haben in einzelnen Ländern zum
ersten Mal seit langem wieder Leistungsbilanzüber-
schüsse.
Mit Irland und Spanien haben wir zwei Länder, die
Früchte ihres Reformkurses ernten können: Sie können
die europäischen Hilfsprogramme verlassen. Das zeigt,
dass in diesen Ländern wirklich viel passiert ist; ich kann
hierzu nur gratulieren.
Wir sehen auch in Portugal positive Entwicklungen.
Auch in den Programmländern Zypern und Griechen-
land gibt es eine ganze Reihe von Fortschritten. Der
Grundsatz, dass Solidarität und Eigenverantwortung zu-
sammengehören, hat sich damit bei der Krisenbewälti-
gung als richtig erwiesen.
Meine Damen und Herren, so erfreulich die Fort-
schritte auf dem Weg zu mehr Stabilität und Wachstum
auch sind, so sehr müssen wir uns doch darüber im Kla-
ren sein, dass der Aufschwung alles andere als schon ga-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 241
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
rantiert ist. Das heißt, wir müssen durch Vorsorgepolitik
die Ursachen beseitigen, die zu dieser Situation der Eu-
ropäischen Union und des Euro-Raums geführt haben.
Die Ursachen sind vielfältig. Sie reichen von einer über-
mäßigen Verschuldung einzelner europäischer Staaten
über Defizite bei der Wettbewerbsfähigkeit, wirt-
schaftliche Ungleichgewichte und natürlich gravie-
rende Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten bis
hin zu Konstruktionsmängeln der gesamten Europäi-
schen Wirtschafts- und Währungsunion. Deshalb werden
wir uns als Bundesregierung weiter für einen umfassen-
den politischen Ansatz einsetzen; es gibt nicht die eine
Maßnahme, mit der man krisenhafte Entwicklungen
überwindet. Unser Ziel dabei ist ein gestärktes Europa,
ein Europa der Stabilität, des Wachstums und natürlich
der sozialen Sicherheit. Dazu ist es wichtig, dass wir die
neu geschaffenen bzw. verbesserten Verfahren zur wirt-
schafts- und haushaltspolitischen Überwachung konse-
quent anwenden.
Aus unserer Sicht bleibt es die große Herausforde-
rung der Europapolitik, die Konstruktionsmängel in der
Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu behe-
ben und zu überwinden, damit wir nie wieder in eine sol-
che Krise hineinkommen.
Da ist zum einen die Bankenunion ein großes Thema.
Deutschland unterstützt eine kluge Regulierung der Fi-
nanzmärkte, insbesondere des Bankenbereichs. Wir ha-
ben immer wieder gesagt: Wir wollen nicht, dass in Zu-
kunft der Steuerzahler für strauchelnde Banken eintreten
muss. – Wir schaffen jetzt eine einheitliche Bankenauf-
sicht. Sie wird gerade, wie Sie wissen, bei der Europäi-
schen Zentralbank entwickelt. Die einheitliche Banken-
aufsicht alleine reicht aber nicht aus; wir brauchen
natürlich auch einen einheitlichen Mechanismus zur Ab-
wicklung von Banken, falls Banken Schwierigkeiten ha-
ben. Damit beschäftigen sich die Finanzminister heute in
Brüssel noch einmal, nachdem sie das in der Euro-
Gruppe heute Nacht schon getan haben. Es gibt bereits
– das ist von dem zu unterscheiden, was jetzt mit dem
gemeinsamen Bankenabwicklungsmechanismus gemacht
wird – eine Sanierungs- und Abwicklungsrichtlinie, das
heißt eine Richtlinie, die besagt, wie in Europa einheit-
lich Banken auf nationaler Ebene abgewickelt werden
können, natürlich zuvorderst durch Zugriff auf die Ei-
gentümer und Gläubiger. Die litauische Ratspräsident-
schaft hat am 12. Dezember 2013 die Voraussetzungen
für eine Einigung geschaffen. Ich hoffe, dass das Ganze
im Trilog abgeschlossen werden kann.
Zum anderen gilt es natürlich, die Wirtschaftsunion
zu stärken. Die Bankenaufsicht ist die eine Sache – der
Fiskalpakt existiert bereits –, aber jetzt geht es auch da-
rum, die Wirtschaftsunion zu stärken. Dabei müssen wir
folgende Frage beantworten: Wie können wir aufbauend
auf dem heute schon vorhandenen Verfahren, nötigen-
falls aber auch darüber hinausgehend, eine Situation
schaffen, durch die sichergestellt wird, dass Mitglied-
staaten gar nicht in eine wirtschaftspolitische Schieflage
kommen können, vielmehr diese vorsorglich vermieden
wird? Wir sagen, dass wir das schaffen können, indem
notwendige nationale Strukturreformen eingefordert
werden können. Das heißt, wir müssen die bislang weit-
gehend unverbindliche wirtschaftspolitische Koordinie-
rung der nationalen Politikbereiche deutlich stärken.
Sie alle wissen, dass wir jährlich im Frühjahr Emp-
fehlungen erhalten, welche Veränderungen wir auf natio-
naler Ebene umsetzen sollten. Diese Empfehlungen wer-
den von den Mitgliedstaaten mehr oder weniger freudig
aufgenommen – Deutschland ist diesbezüglich nicht viel
besser als alle anderen –, und dann geht das Leben wei-
ter; denn Verbindlichkeit entsteht aus diesen Empfehlun-
gen bislang nicht. Deshalb wollen wir daran arbeiten,
dass es in Zukunft vertragliche Vereinbarungen mit der
europäischen Ebene gibt, also der Kommission. Das be-
deutet natürlich nicht, dass die Kommission einfach et-
was in solche vertraglichen Vereinbarungen hinein-
schreiben kann, sondern dass die Mitgliedstaaten mit der
Kommission eine solche vertragliche Vereinbarung aus-
arbeiten. Weil es hier meistens um nationale Zuständig-
keiten geht – zum Beispiel bei der Sozialpolitik, bei der
Arbeitsmarktpolitik oder hinsichtlich der Funktionsfä-
higkeit der Verwaltungen –, müssen natürlich auch die
nationalen Parlamente zustimmen. Ansonsten erlangt
das Ganze keine Verbindlichkeit. Über solche vertragli-
chen Vereinbarungen werden wir auf dem anstehenden
Europäischen Rat zum wiederholten Male sprechen und
langsam Fortschritte erzielen.
Viele fragen: Wozu brauchen wir das? – Ich sage: Wir
brauchen das, weil Europas Glaubwürdigkeit darunter
gelitten hat, dass wir uns unglaublich viel vorgenommen
haben, aber sehr viel davon nie erreicht haben. Ich
nehme als einfaches Beispiel das Ziel, jährlich 3 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts für Forschungsinvestitionen
auszugeben. Dieses Ziel ist im Jahr 2000 von den Staats-
und Regierungschefs beschlossen worden. Deutschland
hat im Jahr 2012 zum ersten Mal sozusagen von unten
an der 3-Prozent-Marke gekratzt. Es gibt einige skandi-
navische Länder, die diese 3-Prozent-Marke erreichen
oder sogar darüber liegen; alle anderen sind zum Teil
weit davon entfernt, 3 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts in Forschung zu investieren. Wie will man eine
Wirtschafts- und Währungsunion entwickeln, wenn zum
Beispiel die Höhe der Investitionen im Bereich For-
schung total unterschiedlich ist? Wenn keine Verbind-
lichkeit entsteht und kein Plan existiert, wie man die
Ziele schrittweise erreichen will, dann werden die 95
bislang in Europa vereinbarten Indikatoren weiter nur
auf dem Papier stehen; Glaubwürdigkeit und Vertrauen,
dass das auch umgesetzt wird, werden sich aber nicht
einstellen. Ich bin der Meinung: Lieber weniger als
95 Indikatoren, vielleicht nur 5 oder 10, aber man arbei-
tet langsam darauf hin, dass diese 5 oder 10 Indikatoren
auch von allen eingehalten werden.
Wenn man zu einem echten qualitativen Sprung hin-
sichtlich der Verbindlichkeit käme – das wird jetzt noch
nicht passieren; wir werden darüber 2014 weiter verhan-
deln –, dann könnten wir uns auch vorstellen, dass Wege
und Mechanismen gefunden werden, um die Länder zu
unterstützen, die zur Erreichung dieser Ziele zusätzliche
materielle Mittel benötigen, weil sie anders nicht gleich-
242 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
zeitig den Weg der Haushaltskonsolidierung fortsetzen
könnten.
Meine Damen und Herren, das, was wir jetzt tun, geht
im Grunde genommen auf Versäumnisse von vor 20 Jah-
ren zurück. Damals haben diejenigen, die die Wirt-
schafts- und Währungsunion entwickelt haben, darauf
hingewiesen: Es reicht nicht, einfach nur eine verge-
meinschaftete Geldpolitik zu haben, sondern ihr muss
eine gemeinsame Wirtschaftsunion zur Seite gestellt
werden. Die Mechanismen der Wirtschaftsunion wurden
aber nur sehr schwach ausgestaltet. Es heißt zwar Stabi-
litäts- und Wachstumspakt, aber die Indikatoren des Sta-
bilitäts- und Wachstumspakts sind alle haushalterischer
Natur; es handelt sich nicht um wirkliche wirtschafts-
politische Indikatoren. Mit den Folgen der damals nicht
getroffenen Entscheidungen – es gab damals viele, die
gewarnt haben: Das wird nicht gutgehen – müssen wir
uns heute befassen; denn wir dürfen nie wieder in eine
solche Situation kommen.
Meine Damen und Herren, wir haben in Europa die
Situation, dass Deutschland oft vorgeworfen wird, dass
wir uns gegen bestimmte Entwicklungen sperren. Das ist
nicht der Fall. Wir zum Beispiel gehören zu denen, die
sagen: Wir müssen, wenn die vertraglichen Grundlagen
nicht ausreichen, Verträge eben auch weiterentwickeln.
Aber es gibt seit dem Lissabon-Vertrag in Europa die Si-
tuation, dass jeder sagt: Wir können alles weiterentwi-
ckeln, nur die Verträge dürfen wir nicht ändern. Ich
glaube, so wird man ein wirklich funktionsfähiges Eu-
ropa nicht entwickeln können.
Ich weiß, dass es zum Teil schwierig ist, Vertragsän-
derungen in den Nationen durchzusetzen. Aber wer
mehr Europa will, der muss auch bereit sein, bestimmte
Kompetenzen neu zu regeln.
– Ja, man muss gute Verträge machen, aber man kann
sich nicht in einer Welt, die sich dauernd verändert, auf
den Standpunkt stellen, dass man irgendwann einmal ei-
nen Lissabon-Vertrag gemacht hat und von Stund an nie
wieder die Verträge ändern will. Das wird nicht funktio-
nieren.
Damit bin ich auch beim Punkt der sich verändernden
Welt. Europa darf nicht nur das tun, was es selbst für
richtig hält, sondern Europa muss sich auch immer im
globalen Kontext sehen. Die Wettbewerbsfähigkeit Eu-
ropas bestimmen wir nicht alleine, sondern sie wird mit-
bestimmt von der Wettbewerbsfähigkeit anderer Länder.
Deshalb müssen wir, wenn es uns um Arbeitsplätze, um
das Wohl der Bürgerinnen und Bürger in Europa geht,
den Blick über Europa hinaus lenken.
Es wird am heutigen Tage aller Voraussicht nach
eine Entscheidung der Kommission zu einem Beihil-
feverfahren wegen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
in Deutschland geben, in dem es darum gehen wird, dass
energieintensive Industrien von der EEG-Umlage befreit
sind. Ich und ebenso der Bundeswirtschafts- und Ener-
gieminister – ich glaube, so sagt man es jetzt –
oder Energie- und Wirtschaftsminister – ich muss noch
üben –, wir beide werden der Kommission sehr deutlich
machen: Deutschland möchte ein starker Industriestand-
ort bleiben. Wir brauchen wettbewerbsfähige Unterneh-
men.
Hier geht es um Unternehmen, und wenn es um Unter-
nehmen geht, geht es um Arbeitsplätze. Deshalb werden
wir natürlich eng mit der Kommission zusammenarbei-
ten, aber wir werden auch deutlich machen, dass Europa
nicht dadurch stärker wird, dass auch in Deutschland Ar-
beitsplätze gefährdet werden. Mit diesem Angang wer-
den wir unsere Position dort sehr deutlich darlegen.
Im Februar wird der Europäische Rat eine Vorlage
von Energiekommissar Oettinger bekommen, in der alle
Subventionen, die in Europa für Strompreise gewährt
werden, aufgelistet werden. Ich sage ganz schlicht und
ergreifend: Solange es europäische Länder gibt, in denen
der Industriestrom billiger ist als in Deutschland, sehe
ich nicht ein, warum wir zur Wettbewerbsverzerrung
beitragen. Das werden wir ganz genau so vertreten.
Meine Damen und Herren, wir haben erfolgreiche
Verhandlungen bei der WTO gehabt. Die Ministerkonfe-
renz der Welthandelsorganisation hat in Bali erhebliche
Fortschritte bei der Handelspolitik erzielt. Das wird auch
einem Exportkontinent, wie es Europa ist, sehr helfen.
Wir werden uns auf dem Rat auch mit der Gemeinsa-
men Sicherheits- und Verteidigungspolitik befassen. Wir
sind dafür, dass es einen umfassenden Ansatz von zivi-
lem, militärischem und entwicklungspolitischem Heran-
gehen gibt. Dieser gemeinschaftliche Ansatz muss zum
Tragen kommen. Wir haben damit in Deutschland bei
unserem Herangehen in Afghanistan gute Erfahrungen
gesammelt. Wir stimmen zu, dass die Sicherheits- und
Verteidigungspolitik effizienter, sichtbarer und wirksa-
mer werden muss. Wir haben in den Verhandlungen über
neue Leitlinien Vorschläge unterbreitet.
Wir haben zum Beispiel die sogenannte Ertüchti-
gungsinitiative eingebracht; dabei geht es darum, strate-
gische Partner und Regionalorganisationen – ich denke
jetzt zum Beispiel an Regionalorganisationen in Afrika –
auf dem Gebiet der Sicherheit und Verteidigung zu un-
terstützen. Wir wollen, dass Regionalorganisationen
überall auf der Welt von sich aus in der Lage sind, regio-
nale Konflikte zu bekämpfen. Wir zeigen durch unsere
Ausbildungsmission in Mali, dass wir dazu einen Bei-
trag leisten.
Zu Ausbildung gehört natürlich auch immer Ausrüs-
tung; auch darüber müssen wir uns im Klaren sein, und
darüber werden wir sicherlich noch gemeinsam diskutie-
ren müssen. Der malische Präsident hat mich vor einigen
Tagen besucht. Wir bilden dort die Armee aus. Wir ha-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 243
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(C)
(B)
ben 100 Ausbilder der Bundeswehr in Mali. Aber diese
Soldaten haben, wenn sie ausgebildet sind, nichts, womit
sie dann auch wirklich ihre Tätigkeit verrichten können.
Jetzt wird es darum gehen, sie auch adäquat auszurüsten,
damit sie in ihren regionalen Kämpfen dann überhaupt in
der Lage sind, gleichwertig aufzutreten.
Meine Damen und Herren, auf dem Rat werden auch
wieder Erweiterungsfragen zu behandeln sein. Hier geht
es um Serbien. Serbien hat in starkem Maße umgesetzt,
was notwendig ist, um den Normalisierungsprozess mit
Kosovo fortzusetzen. Wir haben im Sommer verlangt, dass
wirklich sichtbare Implementierungsschritte erfolgen. Das
können wir nach dem Bericht der Hohen Vertreterin für
Außen- und Sicherheitspolitik vom 16. Dezember dieses
Jahres bejahen, sodass die erste Beitrittskonferenz im Ja-
nuar 2014 zusammentreten kann.
Wir werden uns auch mit Albanien befassen. Wir
wollen die neue Regierung in Tirana weiter bei ihren Re-
formbemühungen stärken, besonders beim Kampf gegen
Korruption. Wie andere Mitgliedstaaten halten wir es
aber vor der Verleihung des Beitrittskandidatenstatus für
nötig, dass weitere Schritte bei der Reformgesetzgebung
und ihrer Umsetzung getan werden.
Wir werden natürlich auch bei diesem Europäischen
Rat auf unsere östliche Nachbarschaft schauen. Ich be-
daure die Entscheidung von Präsident Janukowitsch, das
weitreichende Assoziierungs- und Freihandelsabkom-
men mit der EU nicht zu unterzeichnen, jedenfalls der-
zeit nicht zu unterzeichnen.
Aber das Angebot bleibt auf dem Tisch. Wir fordern,
glaube ich, gemeinsam, dass die Ukraine das garantiert,
was wir von jedem Land erwarten: vernünftige Voraus-
setzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Demon-
stration und Einhaltung der demokratischen Grundre-
geln. Das werden wir auch entschieden einfordern.
Wir haben gesehen, dass die Ukraine mit Russland
gestern ein weitgehendes Abkommen abgeschlossen hat.
Wir werden das überprüfen und es uns genau anschauen.
Man muss allerdings sagen – ich habe das in meiner Re-
gierungserklärung zur Östlichen Partnerschaft deutlich
gemacht –: Wir müssen aus dem Entweder-oder heraus-
kommen. Es darf nicht sein, dass eine Situation entsteht,
in der ein Land, das zwischen Russland und der Europäi-
schen Union liegt, eine Grundentscheidung fällen muss,
die nur so verstanden werden kann: entweder für den ei-
nen oder für den anderen. Hieran werden wir sicherlich
weiter intensiv arbeiten.
Die südliche Nachbarschaft rückt natürlich auch im-
mer wieder in den Blick. Die tragischen Ereignisse im
Mittelmeer haben uns deutlich gemacht, wie dringlich
die Zusammenarbeit mit den Transit- und Herkunftsstaa-
ten ist. Von der litauischen Präsidentschaft werden wir
erste Ergebnisse darüber hören, was von der sogenann-
ten Taskforce Mittelmeer, die im Oktober eingesetzt
wurde, vorgelegt worden ist.
Meine Damen und Herren, die neue Bundesregierung
wird deutlich machen – das ist ja unser Grundverständ-
nis –: Deutschland wird auf Dauer nur stark sein, wenn
auch Europa stark ist. Der jetzt anstehende Rat zeigt, in
wie vielen Dimensionen hier gearbeitet werden muss.
Wir werden uns dieser Arbeit intensiv stellen, gerade
auch mit Blick auf das kommende Jahr, ein Jahr, in dem
wir einen Europawahlkampf haben werden. Ich kann
dazu sagen, dass die neue Bundesregierung und die sie
tragenden Fraktionen alles tun werden, damit die gedeih-
liche Entwicklung Europas gut fortgesetzt werden kann.
In einer globalen Welt ist Europa unsere gemeinsame
Heimat, an der wir arbeiten müssen. Ein starkes Europa,
ein bürgernäheres Europa, ein wettbewerbsfähiges Eu-
ropa, ein gerechteres Europa, das ist unser Ziel. Dazu
wird der anstehende Rat hoffentlich einen kleinen Bei-
trag leisten.
Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Bundeskanzlerin, während der fast drei Monate, in
denen Sie mit der SPD um den Koalitionsvertrag ge-
feilscht haben, haben sich in Griechenland aus Verzweif-
lung über ihre soziale Situation schätzungsweise
120 Menschen das Leben genommen. Während der glei-
chen Zeit haben in Spanien etwa 45 000 Familien ihre
Häuser oder Wohnungen durch Zwangsversteigerungen
verloren. Mehr als 10 000 Unternehmer – vor allem
kleine und mittlere – in den Krisenländern haben in die-
ser Zeit den Kampf gegen die Wirtschaftskrise verloren
und mussten Konkurs anmelden. Es gibt keine offizielle
Statistik darüber, wie viele Menschen in dieser Zeit in
Europa gestorben sind, weil sie lebensnotwendige Medi-
kamente nicht mehr bezahlen konnten, und schon gar
keine Statistik misst, wie viele junge Menschen mit die-
ser Gesellschaft innerlich für immer abgeschlossen ha-
ben, weil sie bei einer Rekordjugendarbeitslosigkeit von
60 Prozent nie eine Chance haben werden.
Gut dokumentiert ist dagegen: In den gleichen drei
Monaten hat sich das Vermögen der europäischen Milli-
onäre und Multimillionäre wieder einmal erhöht: um fast
100 Milliarden Euro.
So sieht Ihr Europa aus, Frau Kanzlerin, so sehen die
Folgen der Politik aus, die Sie ganz Europa diktieren, ei-
244 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Dr. Sahra Wagenknecht
(C)
(B)
ner Politik, die Banker und Oligarchen mit Samthand-
schuhen anfasst, aber die kleinen Leute dazu zwingen
will, für die Zockerverluste der oberen Zehntausend zu
bezahlen. Ich sage Ihnen, Frau Kanzlerin: Das ist nicht
christlich, das ist unmenschlich und brutal.
Ich habe noch gut im Ohr, wie uns – auch in diesem
Hause – immer wieder weisgemacht wurde, dass es gut
und richtig sei, dass die weisen Finanzmärkte über die
Zinsen entscheiden, die ein Staat auf seine Schulden zu
zahlen hat, und dass Regierungen auf Gedeih und Ver-
derb eine Politik machen sollen, mit der sie das Ver-
trauen der Märkte gewinnen. Seit einiger Zeit weiß man
nun etwas genauer, was es mit dieser Weisheit der
Märkte auf sich hat: Man weiß, dass zentrale Zinssätze
wie zum Beispiel der Libor von einer Handvoll Händler
manipuliert wurden. Man weiß auch, dass wenige In-
vestmentbanker die Wechselkurse gezielt gesteuert ha-
ben, und man weiß, warum solche Manipulationen mög-
lich sind: weil sogar auf einem riesigen Markt wie dem
Devisenmarkt, wo jeden Tag 5 Billionen Dollar umge-
setzt werden, etwa vier Bankgiganten ungefähr die
Hälfte des Marktvolumens kontrollieren. Auf dem Deri-
vatemarkt sind es etwa sieben Großbanken, die 90 Pro-
zent des Marktes beherrschen. Und da glauben Sie im
Ernst, dass die Zinsen für Staatsanleihen auf einem neu-
tralen Markt gebildet werden, der sachlich, weise und
selbstlos die Wirtschaftsdaten bewertet? Ich bitte Sie, so
naiv kann heute gar niemand mehr sein.
Wer die Finanzierung der Staaten von dieser Finanzma-
fia abhängig macht, der wird zum Spielball ihrer Betrü-
gereien und der hat sein demokratisches Gewissen aus-
verkauft. Genau so sieht die Politik in Europa aus:
4 500 Milliarden Euro sauer erarbeitetes Steuergeld wur-
den seit 2008 für die Rettung maroder Banken und Fi-
nanzinstitute verpulvert. In Deutschland ist die Staats-
verschuldung allein wegen der Bankenrettung um
360 Milliarden Euro angeschwollen – ein Betrag, im
Vergleich zu dem die Kosten eines flächendeckenden
Ausbaus von Kindertagesstätten mit einem Platz für je-
des Kind in diesem Land eine lächerliche Summe bilden
würden.
Sie wissen, dass die Leute es leid sind, für die abstru-
sen Geschäfte windiger Banker zu bezahlen. Deswegen
haben ja beide heutigen Großkoalitionäre im Wahlkampf
Besserung gelobt. Die SPD zum Beispiel hat in ihrem
Regierungsprogramm wörtlich versprochen, dass – ich
zitiere – „Steuerzahlerinnen und Steuerzahler … nie
wieder in Geiselhaft der Banken und Spekulanten ge-
nommen werden“ dürfen.
Herr Steinbrück ist mit dieser Botschaft über die Markt-
plätze gezogen. Es hat zugegebenermaßen nicht viel ge-
nützt; aber das ist noch keine Rechtfertigung dafür, drei
Monate nach der Wahl das Gegenteil dessen zu tun, was
man vor der Wahl versprochen hat.
Spätestens seit dem Treffen der EU-Finanzminister ist
doch völlig klar: Das Versprechen, dass kriminelle Wett-
buden künftig für sich selber haften, ist keinen Pfiffer-
ling wert gewesen.
In Art. 27 des ursprünglichen Richtlinienentwurfs wurde
stattdessen eine Ausnahmeregelung vereinbart, die es bis
einen Tag vor der Abwicklung einer Bank erlaubt, die
Eigentümer und Gläubiger mit Steuergeldern von jeder
Verantwortung freizukaufen. Für den Fall, dass Sie mir
nicht glauben, zitiere ich den Inhaber des Lehrstuhls für
Finanzierung und Kreditwirtschaft an der Ruhr-Univer-
sität Bochum, Professor Stephan Paul:
Der jetzige Richtlinienentwurf macht die Tür auf
und ermöglicht es, für – so heißt es dort – „gesunde
Banken mit tragfähigem Geschäftsmodell“ auch
vorher schon
– also vor der Haftung von Eigentümern und Gläubi-
gern –
Hilfszahlungen von staatlicher Seite zu gewähren.
Ich frage mich an der Stelle aber: Wenn eine Bank
gesund ist, wenn sie ein tragfähiges Geschäftsmo-
dell hat, wozu braucht sie dann staatliche Hilfszah-
lungen?
So weit Professor Paul.
Wenn Sie ihm nicht folgen wollen, überzeugt Sie viel-
leicht die Meinung von Markus Ferber, Europaabgeord-
neter der CSU und Mitglied im Finanzausschuss des Eu-
ropäischen Parlaments. Ich zitiere:
Mit diesem neuen Artikel wird eigentlich der Ver-
such unternommen, über die Hintertür wieder den
Steuerzahler einzuführen, lange bevor Eigentümer,
nachrangige Gläubiger und Einleger betroffen sind.
In einem internen Positionspapier jubelt die Rating-
agentur Standard & Poor’s – ich zitiere –:
Neue EU-Richtlinie erlaubt Regierungen, Banken
mit Steuergeldern zu retten.
Auch der von Ihnen vorhin zitierte Abwicklungsfonds
schützt die Steuerzahler doch überhaupt nicht. Dieser
Abwicklungsfonds soll 2016 aufgelegt werden und nach
zehn Jahren, also 2026, das grandiose Volumen von
55 Milliarden Euro erreichen. Ich erinnere noch einmal
daran: Die Finanzkrise hat die europäischen Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler bis jetzt 4 500 Milliarden Euro
gekostet. Das heißt, dieser Abwicklungsfonds wird,
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 245
Dr. Sahra Wagenknecht
(C)
(B)
selbst wenn er im Jahr 2026 vollständig gefüllt ist, ge-
rade einmal ein Hundertstel dieser Summe abdecken.
Wir schreiben heute nicht 2026, sondern 2013, und es
ist bekannt, dass heute immer noch faule Kredite im
Umfang von etwa 1 Billion Euro in den Bilanzen der eu-
ropäischen Banken lagern. Im nächsten Jahr will die
EZB ihre Stresstests durchführen, und jeder weiß, dass
dabei natürlich ein erheblicher Kapitalbedarf ermittelt
wird. Deshalb frage ich Sie: Wer soll den denn bezahlen,
wenn es den Abwicklungsfonds überhaupt noch nicht
gibt und außerdem die Haftung von Eigentümern und
Gläubigern in der Richtlinie auf 8 Prozent der Bilanz-
summe reduziert ist?
Das heißt, Sie wollen weiter Steuergeld verbrennen,
und zwar für Banken, in Bezug auf die Sie bis heute
nicht das Kreuz haben, ihnen wenigstens vernünftige
Regeln aufzuzwingen, die sie dazu zwingen, ihre Auf-
gabe als Diener der Realwirtschaft, als Finanzier von
Innovationen und Investitionen endlich wieder einmal
wahrzunehmen.
Sie wollen Steuergeld für Banken verbrennen, denen Sie
bis heute noch nicht einmal abverlangen, wenigstens or-
dentlich Eigenkapital zu bilden, damit sie vielleicht ir-
gendwann einmal in Zukunft für ihre Verluste haften
können. Stattdessen sehen Sie seit Jahren zu, wie diese
Banken Boni und Dividenden nach Belieben ausschüt-
ten. Im Finanzsektor wird bis heute das meiste Geld ver-
dient. Die Zahl der Einkommensmillionäre in diesem
Bereich ist längst wieder auf Vorkrisenniveau.
Sie haben den Banken ganze 3 Prozent Eigenkapital
verbindlich vorgeschrieben. Ich sage Ihnen: Wenn man
als Unternehmen mit 3 Prozent Eigenkapital bei einer
Bank vorspricht, dann muss man damit rechnen, dass
man relativ schnell aus der Filiale gejagt wird. Bei den
Banken soll das aber offensichtlich ausreichend sein.
Die Wahrheit ist doch: Wir brauchen keine Banken-
union, sondern wir brauchen endlich eine ordentliche
Bankenregulierung.
Der Finanzinvestor Warren Buffett hat Derivate ein-
mal „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ genannt.
Wenn ich mir ansehe, dass die Deutsche Bank aktuell
mit solchen „finanziellen Massenvernichtungswaffen“
im Nominalvolumen von 60 000 Milliarden Euro he-
rumspielt, dann frage ich mich, wie Sie noch ruhig schla-
fen können.
Wir brauchen Regeln, die die Banken klein machen.
Wir haben doch nicht nur das Problem „too big to fail“,
das heißt, die Banken sind nicht nur zu groß, um zu fal-
len, sondern sie sind auch zu groß, um reguliert zu wer-
den. Das ist doch das Kernproblem: das Problem wirt-
schaftlicher Macht.
Das ist das Problem, das einst Walter Eucken als Vertre-
ter des Ordoliberalismus ins Zentrum seiner Theorie ge-
stellt hat. Er hat gesagt: Wirtschaftliche Macht kann man
nicht kontrollieren; man kann nur verhindern, dass sie
entsteht, oder man liefert sich ihr aus. – Sie haben uns
den Banken ausgeliefert, und genau so sieht Ihre Ban-
kenunion jetzt auch aus.
Wenn man dann noch weiß, dass die Aufsicht über die
europäischen Banken ausgerechnet an den ehemaligen
Investmentbanker und Goldman-Sachs-Mann Mario
Draghi übergeben werden soll, dann kann man nur sa-
gen: Gute Nacht.
Ich stelle deshalb für meine Fraktion fest: Diese Ban-
kenunion ist eine Lebensversicherung für Schrottbanken
und eine schwere Hypothek für die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler. Das ist Wahlbetrug, ganz klar Wahlbe-
trug und nichts anderes.
Sie von der SPD haben so schön plakatiert: „Das Wir
entscheidet.“ Ich glaube, es wäre ehrlicher gewesen, Sie
hätten plakatiert: „Die Deutsche Bank entscheidet, und
das Wir bezahlt.“ Das ist nämlich die Politik, die Sie ma-
chen.
Herr Steinmeier hat sich kürzlich auf einer Veranstaltung
des Arbeitgeberverbandes bitter beklagt, dass es die
Wirtschaftsbosse der SPD so wenig danken, dass sie sich
mit ihrer Agenda 2010 so massiv für deren Interessen ins
Zeug gelegt hat. Herr Steinmeier, ich sage Ihnen voraus:
Auch Ihren Kotau vor den Interessen der Banker und
Millionäre in der Europapolitik werden sie Ihnen nicht
danken. Das Einzige, was Sie mit dieser Politik errei-
chen, ist, dass die einst so stolze und einflussreiche Par-
tei Willy Brandts sich in der deutschen Politik mehr und
mehr überflüssig macht.
Ich komme nun zu einem weiteren Thema des
EU-Gipfels, dem Wettbewerbspakt.
Dieser Wettbewerbspakt soll offenbar Griechenland zum
Vorbild für die gesamte EU machen. Die nationalen Re-
gierungen sollen bilaterale Knebelverträge mit der Kom-
mission abschließen,
in denen sie sich zu so tollen Maßnahmen wie der Sen-
kung von Unternehmenssteuern, Entlassungen im öffent-
lichen Dienst, Einschränkungen des Streikrechts, An-
griffen auf Tarifverträge und vielem Schönen mehr
verpflichten. Um diese Politik gegen die Mehrheit der
Menschen abzusichern, sollen die Parlamente möglichst
246 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Dr. Sahra Wagenknecht
(C)
(B)
entmachtet werden. Frau Merkel, da kann ich mir den
Kommentar nicht verkneifen: Mir scheint Ihre Sensibili-
tät für demokratische Grundsätze da etwas selektiv zu
sein. Undemokratische Politik ist nicht nur in Russland
ein Problem. Undemokratische Politik ist auch ein Pro-
blem, wenn sie mit Ihrer Zustimmung auf einem EU-Gip-
fel verabschiedet wird.
Dass es im zweiten Teil des Gipfels auch noch um
Aufrüstung gehen soll, dass Sie sich also in der schwers-
ten Krise der EU offensichtlich auch noch darum sorgen,
wie man mehr Geld für Waffen aufbringen kann, das,
finde ich, setzt dem Ganzen die Krone auf.
Ich komme zum Schluss.
– Sie wollen das nicht hören; das kann ich mir schon
vorstellen. Sie müssen sich das aber anhören; tut mir
leid.
Dieser Koalitionsvertrag ist nicht nur in der Frage der
Bankenunion ein Koalitionsvertrag der gebrochenen
Versprechen. Was sich hier zusammengefunden hat, ist
keine Koalition der großen Aufgaben, sondern eine Ko-
alition der großen Ignoranz gegenüber den anstehenden
Aufgaben.
Wo tatsächlich die politischen Aufgaben unserer Zeit
liegen, daran hat, während Sie über so richtungweisende
Probleme wie die Pkw-Maut für Ausländer gestritten ha-
ben, Papst Franziskus in seinem jüngsten Apostolischen
Schreiben
sehr deutlich erinnert. Ich lege gerade dem Teil des Hau-
ses, der sich „christlich“ nennt, aber meines Erachtens
aufgrund der Wertevorstellungen seiner Politik damit
nichts mehr zu tun hat, sehr nahe, diese Botschaft einmal
zu lesen.
Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen
Das kann man dort zum Beispiel nachlesen. Oder auch:
Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt,
wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der
Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um
zwei Punkte an der Börse Schlagzeilen macht.
Sie, sowohl CDU/CSU als auch SPD, tun mit Ihrer
Europapolitik – da gab es auch in der letzten Legislatur
schon eine große Gemeinschaft – tatsächlich Ihr Bestes,
dass die Zahl der alten Menschen, die auf der Straße le-
ben müssen, in Europa steigt und nicht sinkt. Sie haben
mit Ihrem Koalitionsvertrag den Deutschen Aktienin-
dex, DAX, freilich nicht in die Baisse getrieben, sondern
ihn zu einem Jubelsprung angeregt. Es ist erschütternd,
dass Ihnen beides offenbar noch nicht einmal zu denken
gibt.
Die Linke zumindest nimmt die päpstliche Botschaft
ernst,
und zwar nicht nur zu Weihnachten. Meine Fraktion sagt
daher Nein zu dieser unverantwortlichen Europapolitik,
Nein zu einer Bankenrettung auf Kosten der Steuerzah-
ler, Ja zu Demokratie und Sozialstaat in Europa und des-
wegen Nein zur Politik dieser Großen Koalition.
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegin Wagenknecht, ich wollte Ihnen
eigentlich zu Ihrer ersten Rede als Stellvertreterin des
Oppositionsführers gratulieren.
Aber wenn Sie das tragische Schicksal von Menschen
hier in einen Zusammenhang stellen, der nicht adäquat
ist,
dann ist das, finde ich, ein Beitrag zur Debatte, der die-
sem Hause nicht würdig und übrigens auch der demokra-
tischen Debatte nicht angemessen ist.
Im Übrigen stelle ich fest: Die Große Koalition und
die sozialdemokratische Fraktion haben in den letzten
Wochen und Monaten genau daran gearbeitet, dass sich
diese Krise nicht wiederholt, dass wir die Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler entlasten und dass wir vernünf-
tige Regelungen einführen. Sie sollten sich an dieser
Diskussion beteiligen. Wir wissen nämlich ganz genau,
dass es auch – Sie haben den Wahlkampf miterlebt – un-
terschiedliche Sichtweisen zwischen den Fraktionen die-
ser Bundesregierung gegeben hat.
Aber das ist der Unterschied, Frau Wagenknecht: Wir
sind überzeugte Europäerinnen und Europäer.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 247
Niels Annen
(C)
(B)
Deswegen sind wir in der Lage, uns auf eine gemein-
same wirksame Politik zu verständigen, statt wie Sie alte
Klischees zu bedienen.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, es sollte bei diesem Gipfel eigentlich schwerpunkt-
mäßig um die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspoli-
tik gehen. Deswegen möchte ich mit Ihrer Erlaubnis
dazu ein paar grundsätzliche Bemerkungen machen.
Denn die Ausgangslage dafür – Catherine Ashton hat
das in ihrem Bericht an den Rat deutlich gemacht – hat
sich in den letzten Jahren dramatisch geändert. Sie
schreibt: Das strategische Umfeld Europas ist heute do-
miniert von der Neuorientierung der USA in Richtung
Pazifik, von wachsenden Sicherheitsrisiken und von re-
gionalen Konflikten. – Was für ein Unterschied zu dem
optimistischen Grundtenor der Europäischen Sicher-
heitsstrategie von vor zehn Jahren, in der es heißt:
Die Gewalt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
ist einer … beispiellosen Periode des Friedens und
der Stabilität gewichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahrheit ist:
Europa hat an Gewicht verloren. An Gewicht gewonnen
hat damit die Notwendigkeit, für uns Europäer eine ge-
meinsame Außenpolitik zu formulieren – eine Einsicht,
die in ihrer Bedeutung vielleicht auch deswegen in
Deutschland noch nicht ganz so gut verstanden worden
ist, weil unser relatives Gewicht in der Krise zugenom-
men hat. Die bilateralen Beziehungen, die wir zu Län-
dern wie China und Indien haben, sind ein Beispiel für
diese Entwicklung. Regelmäßige Regierungskonsulta-
tionen erlauben es der Bundesregierung, ihre Interessen
effektiv zu vertreten.
Wahr ist aber auch, dass diese bilateralen Formate
manchmal auch im Interesse von Ländern wie China und
Indien sind. Deswegen ist es aus meiner Sicht entschei-
dend, dass wir dieser globalen Charmeoffensive nicht in
der Form erliegen, dass wir glauben, wir könnten mittel-
fristig unsere Interessen national wahrnehmen. Deswe-
gen möchte ich an dieser Stelle sagen, Frau Bundeskanz-
lerin: Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie deutlich
gemacht haben, dass diese Bundesregierung an dem eu-
ropäischen Integrationskurs festhält, weil das Vertrauen
schafft und unsere Möglichkeiten erweitert, unsere Poli-
tik zu formulieren. Denn das Modell der westlichen De-
mokratie ist heute nicht mehr so unangefochten wie noch
vor zehn Jahren. Autoritäre Entwicklungsmodelle wie
etwa das chinesische haben enorme Erfolge im Bereich
von Wirtschaftswachstum, aber auch von Armutsbe-
kämpfung erreicht und damit auch an Legitimität ge-
wonnen. Gerade deshalb brauchen wir eine Stärkung der
Instrumente der gemeinsamen Außenpolitik.
Dass mit Staaten wie Indien oder China selbstbe-
wusste Akteure die Bühne betreten, ist ja im Prinzip
positiv;
denn es ist auch ein Beitrag für mehr Gerechtigkeit in
der Welt. Das internationale System ist nach wie vor
nicht gerecht organisiert.
Doch gleichzeitig stellen wir fest, dass außerhalb der
EU ein anderer Blick auf internationale Beziehungen
vorherrscht: ein Blick, der auf veralteten geopolitischen
Kategorien gründet.
Die Erfahrung unseres Kontinentes ist: Wir können
nur gemeinsam stark werden. Wir können nur erfolg-
reich sein, wenn auch unsere Nachbarn erfolgreich sind.
Diese Erkenntnis schien sich mit der Erweiterung der
Europäischen Union und der NATO durchzusetzen. Sie
ist heute, wenn wir ehrlich sind, Ernüchterung gewichen.
Ob es der Konflikt in der Ukraine ist oder Territorial-
streitigkeiten im Südchinesischen Meer sind, in weiten
Teilen der Welt scheint sich eine Nullsummenlogik als
Grundprinzip der internationalen Beziehungen durchzu-
setzen. Nun raten uns viele, Europa solle endlich er-
wachsen werden. Gemeint ist damit wohl, dass wir sel-
ber diese Nullsummenlogik übernehmen sollen. Meine
Damen und Herren, das kann nicht der richtige Weg
sein. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben erwähnt, dass die
Logik des Entweder-oder nicht funktionieren kann. Ich
glaube, Sie haben damit recht, weil es den Kern dessen
infrage stellen würde, was uns als Europäerinnen und
Europäer ausmacht. Richtig ist aber auch: Europa
braucht eine Antwort auf die neuen Herausforderungen.
Diese kann nur in einer gemeinsamen Politik gegenüber
den neuen Akteuren liegen. Dafür brauchen wir eine ef-
fizientere, eine wirksamere Außen- und Sicherheits-
politik. Europas Funktion als Stabilitätsanker darf nicht
weiter gefährdet werden; denn damit würden wir das
wichtigste Instrument unserer Politik – man redet gerne
von Soft Power – verlieren, nämlich die Attraktivität un-
seres Integrationsmodells.
Je krisenhafter die Entwicklung in unserer Nachbar-
schaft, desto höher die Erwartungen an unser Land, mehr
Verantwortung zu übernehmen. Wie wir alle wissen,
sinkt gleichzeitig die Bereitschaft, Ressourcen für eine
strategische Außenpolitik bereitzustellen. Eine langfris-
tige Stärkung der europäischen Fähigkeiten wird aber
ohne einen effizienteren Einsatz von Ressourcen nicht
erfolgreich sein. Dafür müssen wir die Bedingungen ver-
bessern. Hier fehlt es nicht an Konzepten, sondern an der
Umsetzung. Eine weitere Vertiefung der Europäischen
Union darf an der Sicherheitspolitik nicht vorbeigehen.
Denken Sie etwa an die Möglichkeit der ständigen struk-
turierten Zusammenarbeit. Deutschland sollte sich daran
intensiv beteiligen. Auch das will ich an dieser Stelle sa-
gen, weil die Kollegin von der Linkspartei von Aufrüs-
tungsgipfel und Ähnlichem sprach: Es ist meine feste
Überzeugung, dass wir Fortschritte dort nur machen
können, wenn wir unsere positiven Erfahrungen mit dem
Parlamentsvorbehalt auf europäischer Ebene einbringen
und für eine entsprechende Umsetzung sorgen. Deswe-
gen bin ich froh darüber, dass sich die neue Bundesregie-
rung zur Stärkung des Parlamentsvorbehaltes bekennt.
Ebenso unverzichtbar ist es, den zivilen Aspekt der
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu stärken.
Er kommt im Ratsdokument nach meiner persönlichen
248 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Niels Annen
(C)
(B)
Meinung etwas zu kurz. Deutschland hat hier seit der
Kanzlerschaft von Gerhard Schröder wichtige Fort-
schritte gemacht. Ich bin froh darüber, dass die neue
Bundesregierung diese Arbeit fortsetzen will.
Meine Damen und Herren, die weitere Stärkung des
Europäischen Auswärtigen Dienstes bleibt damit eine
zentrale Aufgabe; denn was ein politisch geschlossenes
Europa erreichen kann, erleben wir gerade in den Ver-
handlungen über eine politische Lösung des Nuklear-
konflikts mit dem Iran. Dies sollte uns Mut machen für
die Aufgaben, die vor uns liegen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin Göring-
Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
Wochen demonstrieren Tausende und Abertausende auf
dem Maidan in Kiew. Sie harren aus in Kälte und ertra-
gen die Gegenwehr der Staatsmacht. Die Menschen auf
dem Maidan und an vielen anderen Orten kämpfen lei-
denschaftlich für europäische Werte. Genau darum geht
es ihnen: ein Signal für dieses gemeinsame Europa der
Werte zu setzen.
Bei dem Konflikt in der Ukraine geht es um den sou-
veränen Staat Ukraine. Nein, es geht nicht um Entweder-
oder, sondern es geht darum, dass die Ukraine ein selbst-
ständiger, ein europäischer Staat werden muss und wer-
den darf. Dazu braucht sie von uns kein Vielleicht, kein
Möglicherweise und kein Ja-aber, sondern sie braucht
ein klares Bekenntnis: Wir unterstützen die Zivilgesell-
schaft, wir unterstützen diejenigen, die für die europäi-
schen Werte kämpfen, wir unterstützen die Menschen
auf dem Maidan, die für europäische Werte und für die
Demokratie kämpfen.
Genau darum muss es gehen, wenn wir über europäi-
sche Politik in diesen Tagen reden. Wir wissen ange-
sichts der gegenwärtigen Bedingungen noch nicht, ob in
der Ukraine im Jahr 2015 überhaupt noch demokratische
Wahlen, die erkämpft worden sind, stattfinden können.
Ich bin sehr dankbar, dass eine Reihe von Kolleginnen
und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und aus
dem Europaparlament in Kiew waren und deutlich ge-
macht haben: Ja, wir stehen an der Seite der Zivilgesell-
schaft. – Was das für diejenigen, die dort ausharren, be-
deutet, kann man, glaube ich, nicht hoch genug
einschätzen. Ich möchte gern, dass wir in dieser Legisla-
turperiode deutlich machen: Es geht nicht nur um ein
Europa der Wirtschaft und der Finanzen, sondern es geht
eben auch um ein Europa der Werte.
Während der orangenen Revolution, Frau Merkel, ha-
ben auch auf den Tischen der CDU/CSU-Fraktion Oran-
gen als Zeichen der Solidarität gelegen. Heute erleben
wir solche Zeichen von Solidarität immer nur mit einem
Untertitel und in Häkchen.
Herr Minister Steinmeier, Sie haben gestern davon
gesprochen, dass Sie Russlands Ausnutzen der Notlage
der Ukraine empörend finden. Das will ich unterstrei-
chen. Aber ich kann nur hoffen, dass es Ihnen damit
ernst ist und dass Sie auch gegenüber Russland tatsäch-
lich Klartext reden, wenn es um Solidarität mit der
Ukraine und der dortigen Zivilgesellschaft geht.
Sie haben von Modernisierungspartnerschaft geredet.
Allerdings ist ohne die Einhaltung der Menschenrechte
und ohne eine Demokratisierung Russlands eine solche
Modernisierung gar nicht möglich. Das ist Russland of-
fensichtlich egal, nach innen wie nach außen. Einem
Land, das die Olympischen Spiele ausrichten wird, aber
nach wie vor Menschenrechte missachtet und Menschen
in Haft hält, die sich der Putin-Politik widersetzen, dem
müssen wir bei allen Verhandlungen und Gesprächen,
egal worum es geht, deutlich machen: Nein, das akzep-
tieren wir nicht.
Es wäre wahrhaft ein gutes Signal, wenn Ihr Koali-
tionsvertrag beim Thema Osteuropa, wie an vielen ande-
ren Stellen auch, nicht nur ein Dokument des Vielleicht
und Ja-aber wäre. Er fällt sogar hinter das zurück, was
die Mehrheit des Deutschen Bundestages, übrigens über
Fraktionsgrenzen hinweg, im Jahr 2012 beschlossen hat.
Wichtige Passagen zur Unterstützung der Zivilgesell-
schaft sind aus den Entwürfen wieder herausgestrichen
worden. Warum? Geht es wieder einmal weniger um
Freiheitsrechte und Werte? Antworten auf die Frage, wie
auf die repressive und modernisierungsfeindliche Politik
Putins im Land, aber auch gegenüber Nachbarländern
wie der Ukraine reagiert werden soll, findet man im Ko-
alitionsvertrag dieser Legislaturperiode vergeblich. Ich
finde, das ist auch ein europäisches Armutszeugnis.
Ich glaube vor allem, dass die Geschundenen, diejeni-
gen in den Knästen, die Homosexuellen, die unter
furchtbaren Repressionen leiden werden, das nicht ver-
stehen können. Ich sage Ihnen: Auch ich verstehe es
nicht, dass der Kreml zum Modernisierungspartner wird,
obwohl Putin hinlänglich bewiesen hat, dass er an De-
mokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht interessiert ist,
weder in Russland noch in seiner Nachbarschaft. Wir er-
warten in dieser Legislaturperiode von Ihnen, dass Sie
das ändern, dass Sie klarmachen: Hier muss eine andere
Richtung eingeschlagen werden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 249
Katrin Göring-Eckardt
(B)
Das sind wir denen schuldig, die auf dem Maidan de-
monstrieren, und das sind wir denen schuldig, die über-
haupt nicht jubeln können, wenn andere Fähnchen in
Sotschi schwenken.
Meine Damen und Herren, die EU ist Zivilmacht und
sogar Trägerin des Friedensnobelpreises. Aber statt zi-
vile Krisenprävention zu betreiben, wird dieser Gipfel
auch wie eine Finanzspritze für die schwächelnde Rüs-
tungsindustrie werden. In der EU bestehen heute schon
unzählige Doppelstrukturen und Überkapazitäten. Der
Druck, das Zuviel an Rüstungsgütern weiter ungebremst
in Drittstaaten außerhalb der EU und der NATO zu
exportieren, besteht weiter. Vorsichtigen Schätzungen ei-
ner EU-Studie zufolge verschlingt die Nichtkooperation
der EU-Mitgliedstaaten im Verteidigungsbereich heute
schon 26 Milliarden Euro; andere Schätzungen gehen
sogar von 100 Milliarden Euro aus – eine enorme
Summe, die allein dadurch entsteht, dass es mangelnde
Zusammenarbeit gibt.
Dennoch machen wir jetzt so weiter, statt Geld für
notwendige europäische Investitionen freizumachen,
beispielsweise im Bereich der Energiewende, der erneu-
erbaren Energien oder der Digitalisierung. Das wäre bes-
ser, als weiter in Maschinengewehre und Panzer zu in-
vestieren. Das ist der falsche Weg, und deswegen sage
ich ganz klar: Ziviles Europa heißt auch, dass hier Ko-
operation statt Überkapazität angesagt ist, dass hier das
Abbauen und tatsächlich zivile Krisenprävention ange-
sagt sind.
Ich will es ganz deutlich sagen: Kooperation bei Rüs-
tungsprojekten heißt für uns nicht Einstieg in den Droh-
nenkrieg. Da ist die Entwicklung gemeinsamer militäri-
scher Fähigkeiten kein Hintertürchen – sie darf kein
Hintertürchen sein! –, mit dem Deutschland in diesem
Bereich plötzlich einfach mal mitmischen kann, ohne
sich der innenpolitischen Debatte zu stellen. Nein, hier
muss weiter klar und deutlich sein: Der Einstieg in den
Drohnenkrieg darf nicht passieren und schon gar nicht
durch ein Hintertürchen mit deutscher Hilfe.
Frau Bundeskanzlerin, nicht nur wir, sondern auch
ganz Europa fragt sich: Welche Rolle will Deutschland
in der EU in Zukunft eigentlich spielen? Welche Vision
für die Zukunft der EU hat die alte und neue Kanzlerin?
Sie haben am Anfang Ihrer Regierungserklärung heute
gesagt, dass es gut und richtig ist, dass sich die erste Re-
gierungserklärung mit Europa beschäftigt. Ja, mit Eu-
ropa hat sie sich beschäftigt; eine Vision allerdings hat
gefehlt.
Um welche Impulse geht es eigentlich? Die europäi-
schen Partner wünschen sich doch zu Recht ein kon-
struktives Deutschland und vor allem Klarheit. Bei bei-
dem werden sie enttäuscht. Der Koalitionsvertrag zeigt,
dass Ihnen da der Mut fehlt. Ich weiß nicht ganz genau,
ob es damit zu tun hat, dass so viel verhandelt worden
ist. Man hat den Eindruck, hier soll weiter durchlaviert
werden. Lassen Sie mich dafür zwei Beispiele nennen,
um da eben nicht im Ungefähren zu bleiben.
Erstes Beispiel. Sie kündigen vollmundig an, die Ban-
ken endlich ohne Belastung der Steuerzahler abwickeln
zu wollen. Es war allerdings Herr Schäuble, der dafür
gesorgt hat, dass diese Abwicklung erst ab dem Jahr
2026 vollständig aus Beiträgen der Banken finanziert
werden soll. Bis dahin – bis zum Jahr 2026 – haften wei-
ter die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Ich jedenfalls stelle mir Klarheit, was Bankenabwick-
lung und was die Frage der Verursacher angeht, anders
vor. Deswegen sage ich klar und deutlich: Nehmen Sie
hier eine Veränderung vor. Dieses Durchlavieren und Hi-
nausschieben macht keinen Sinn.
Das zweite Beispiel, das ich anführen will: Sie haben
darüber geredet, Frau Bundeskanzlerin, wie die Situation
der Flüchtlinge in Europa ist. Passieren Tragödien wie
vor ein paar Monaten vor Lampedusa – dergleichen pas-
siert ja immer wieder –, dann stellen sich alle zusammen
hin und sagen: Wir sind sehr betroffen. Das darf nie wie-
der passieren. – Gleichzeitig machen Sie weiter mit einer
Abschottungs- und Abgrenzungspolitik, die nicht dazu
führt, dass es eine Entspannung für die Flüchtlinge gibt,
die über das Mittelmeer zu uns kommen. Sie werden
weiterhin zurückgeschickt, und sie werden weiterhin
nicht als Menschen behandelt, die in großer Not sind,
sondern als Menschen, die wir nicht gebrauchen können.
Das hat mit menschenwürdiger Flüchtlingspolitik nichts
zu tun.
Ich bin fest überzeugt, dass wir endlich dazu kommen
müssen, dass wir innerhalb der EU tatsächlich Solidari-
tät üben, vor allen Dingen auch Solidarität mit den Auf-
nahmeländern. Wir können Italien und die anderen Län-
der an den EU-Außengrenzen nicht mehr alleinlassen.
Da hilft es auch nichts, wenn wir weiter darüber reden,
wie viele Flüchtlinge es nun eigentlich sind, die wir tat-
sächlich aufnehmen und die andere tatsächlich aufneh-
men. Die Situation ist so, dass wir darüber nicht mehr
lange nachdenken dürfen, sondern dass wir sagen müs-
sen: Wir brauchen hier einen wirklichen Neuanfang, der
mit Kooperation zu tun hat. Es geht nicht, dass wir sa-
gen: Jetzt kann man das Problem vielleicht auch noch
auf die Türkei oder die nordafrikanischen Länder abwäl-
zen.
Es muss dazu kommen, dass wir endlich Dublin II
überdenken. Es muss dazu kommen, dass wir eine realis-
tische Aufnahmepolitik in der Europäischen Union vo-
rantreiben, und wir können das aus Deutschland heraus.
Es muss dazu kommen, dass Flüchtlinge den Ort, wo sie
Asyl beantragen, tatsächlich frei wählen können. Es
muss dazu kommen, dass in Flüchtlingslagern nicht
mehr Menschen sitzen, die ausgebildet sind, die jung
sind, die motiviert sind und die etwas tun wollen, dort
aber Monat für Monat festgehalten werden – unter wahr-
lich nicht sehr guten Bedingungen.
250 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Meine Damen und Herren, ich glaube, Flüchtlings-
politik der EU ist etwas, was in den nächsten Monaten
und Jahren endlich auf eine realistische Grundlage, auf
eine echte Einwanderungsgrundlage und vor allen Din-
gen auf die Grundlage wahrhafter Menschlichkeit und
Solidarität gestellt werden muss. Darauf kommt es an,
und dafür ist zu kämpfen.
Frau Merkel und Herr Steinmeier, bei der Politik der
EU und dem Beitrag Deutschlands geht es immer um
Wirtschaft und Finanzen, und das war auch heute wieder
so. Um Ökologie sorgen Sie sich nur am Rande. Aber es
geht vor allen Dingen um Werte und Freiheitsrechte: für
die Jugendlichen, die sich nach wie vor vergessen füh-
len,
weil Kleinstprogramme nicht helfen, für die Flüchtlinge
an den Außengrenzen – übrigens auch für diejenigen, die
innerhalb Europas auf der Flucht sind wie die Sinti und
Roma, die aus fürchterlichen Bedingungen aufgrund von
Diskriminierung hierherkommen – und für die Men-
schen auf dem Maidan, die unsere Werte verteidigen,
auch gegen einen russischen Diktator.
Ich möchte kämpfen für ein Europa der Freiheits-
rechte, der Werte und der Demokratie. Ich glaube, das ist
jetzt dran. Die Frage von Wirtschaft und Finanzen wer-
den wir weitertreiben müssen, aber das andere macht ei-
gentlich unser gemeinsames Europa aus.
Vielen Dank.
Andreas Schockenhoff ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Seit vielen Tagen schon demonstrieren
die Menschen in der Ukraine für die europäische Orien-
tierung ihres Landes. In Eiseskälte treten sie für Demo-
kratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein. Sie
wollen, dass ihr Land den Weg nach Europa, den sie mit
der orangen Revolution erstritten haben, weitergeht. Sie
wollen die schrittweise Annäherung an die Europäische
Union.
Genauso offensichtlich ist, dass fast alle Ukrainer
nicht zurück unter Moskauer Bevormundung wollen,
und nichts anderes bedeutet die Zollunion, in die Mos-
kau die Ukraine mit massivem wirtschaftlichen Druck
pressen will. Selbst die Menschen, die im Osten der
Ukraine leben, wollen nicht wieder unter ein Moskauer
Diktat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion sage ich mit aller Klarheit:
Diese Ukrainer haben unsere volle Solidarität und unsere
Unterstützung.
Wer zwischenzeitlich den Eindruck gewonnen hatte,
dass die massiven Proteste auf dem Maidan-Platz Mos-
kau nachdenklich gemacht haben könnten, den hat der
russische Außenminister Lawrow am Montag beim Tref-
fen mit den EU-Außenministern enttäuscht. Moskau
wird auch weiterhin die Ukraine und andere Staaten der
Östlichen Partnerschaft wie Moldau massiv unter Druck
setzen, solange sie einen anderen Weg gehen wollen, als
Moskau es will. Das aber ist nicht akzeptabel, weil es die
Grundsätze der Souveränität von Staaten verletzt, wie
sie in der VN-Charta oder in der OSZE-Charta festgelegt
sind.
Ja, Herr Außenminister Steinmeier, es ist, genau so,
wie Sie es gestern bei Ihrer Rede zum Amtsantritt im
AA gesagt haben, völlig empörend, wie die russische
Politik die wirtschaftliche Notlage der Ukraine ausnutzt.
Es war wichtig, dass Sie das gesagt haben, Herr
Steinmeier.
Frau Göring-Eckardt, ich fand es gut, dass Sie die
Worte des Außenministers begrüßt haben. Aber wir sa-
gen auch, dass eine engere Zusammenarbeit der EU mit
der Ukraine nicht gegen Russland gerichtet ist und dass
Russland von der Modernisierung und der wirtschaftli-
chen Entwicklung seiner Nachbarstaaten, die das Asso-
ziierungsabkommen bewirken würde, profitieren kann.
Das ist unser Verständnis. Vielleicht müssen wir Moskau
dies noch besser vermitteln. Aber wir dürfen nicht die
Augen davor verschließen, dass es in Moskau ein ande-
res Denken gibt. Dort gibt es immer noch das alte Null-
summendenken, das in einer vertraglichen Bindung der
Ukraine an die EU einen Machtverlust sieht und nicht
die Chance, eine gemeinsame neue Ordnung, zum Bei-
spiel eine Friedensordnung, zu schaffen. Das dürfen wir
nicht ignorieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, welche Botschaft
sendet uns eigentlich der folgende Vorgang im Kreml am
letzten Donnerstag? Dort wurde nach der Rede des russi-
schen Präsidenten zur Lage der Nation das Lied des rus-
sischen Sängers Oleg Gazmanov mit folgendem Text
vorgetragen:
Ukraine und Krim, Moldau und Weißrussland – das
ist mein Land. Kasachstan, Kaukasus und das Balti-
kum – ich bin geboren in der UdSSR, gemacht in
der UdSSR.
Jeder weiß, dass bei Veranstaltungen wie dem Bericht
zur Lage der Nation nun wirklich nichts dem Zufall
überlassen wird. Deshalb ist diese Botschaft mit Blick
auf die Nachbarstaaten zumindest irritierend. Was heißt
das für uns in der Konsequenz?
Erstens. Wir brauchen unbedingt einen realistischen
Dialog mit Moskau, und zwar nicht nur im Hinblick auf
den Iran oder Syrien. Präsident Putin hat wiederholt die
Idee eines gemeinsamen wirtschaftlichen und humanitä-
ren Raumes Europa angesprochen. Über diese Vision ge-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 251
Dr. Andreas Schockenhoff
(C)
(B)
meinsamer Räume der Sicherheit und Zusammenarbeit,
in denen es keine Hegemonie geben kann, wollen und
müssen wir mit Russland reden und verhandeln.
Zweitens. Die Prinzipien der OSZE-Charta von Paris
müssen eingehalten werden. Jedes Land muss frei von
jedem politischen und wirtschaftlichen Druck selbst ent-
scheiden können, ob es sich stärker an die EU binden
will oder nicht.
Drittens. Der bisherige massive Moskauer Druck auf
die Ukraine macht deutlich, dass der Schlingerkurs der
Regierung Janukowitsch das Land und die Region nicht
weiterführt, sondern in eine wachsende Instabilität treibt.
Die Ukraine muss sich jetzt entscheiden, in welche Rich-
tung sie gehen will. Das kann weder die EU noch Mos-
kau tun; das müssen die Ukrainer entscheiden.
Viertens. In dieser Entscheidungssituation liegt es im
Interesse der EU, der Ukraine eine klare europäische
Orientierung und Verankerung zu geben. Das kann weit
über das Assoziierungsabkommen hinausgehen, wenn
die Ukraine dies will und wenn sie die Voraussetzungen
dafür schafft. Das kann beispielsweise langfristig die
Perspektive des europäischen Wirtschaftsraumes sein,
also eine enge Anbindung an die EU, wie Norwegen
oder die Schweiz sie haben. Es kann langfristig auch die
Perspektive des Art. 49 des Lissabonner Vertrags sein,
der besagt:
Jeder europäische Staat … kann beantragen, Mit-
glied der Union zu werden.
Das steht jetzt aber nicht an. Der Weg dorthin wäre
sehr weit. Die Ukraine müsste es selbst wollen und
selbst die Voraussetzungen dafür schaffen, auch mit Un-
terstützung der EU. Aber auf einem so langen und so
weiten Weg kann eine klare europäische Perspektive hel-
fen. Der erste wichtige Schritt dorthin wäre die Unter-
schrift unter das Assoziierungsabkommen.
Herr Kollege Schockenhoff, würden Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Beck zulassen?
Mit Vergnügen.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Lieber Kollege Schockenhoff, wir alle in diesem
Haus bestätigen uns gegenseitig, dass die Ukraine ein
souveränes Land ist und die Bürgerinnen und Bürger sel-
ber entscheiden müssen. Sie haben aber gleichzeitig ge-
schildert, welches Lied im Kreml gesungen worden ist
und welche Geisteshaltung von Putin damit zutage tritt,
nämlich die – soweit es möglich ist – Wiederherstellung
des alten sowjetischen Imperiums.
Meine Frage ist: Ist Ihnen bekannt, dass Präsident
Putin gesagt hat, die größte geostrategische Katastrophe
des 20. Jahrhunderts sei die Tatsache gewesen, dass
Gorbatschow die Sowjetunion habe zerfallen lassen? Vor
diesem Hintergrund und wissend, dass der Kreml massiv
wirtschaftlichen Druck auf die Ukraine ausgeübt hat,
gibt es fast keine Wahlmöglichkeiten. Ist es nicht quasi
unfair – ich will es einmal vorsichtig formulieren –,
wenn wir immer wieder betonen, ihr sollt euch frei ent-
scheiden, aber die ökonomischen Grundlagen dafür von
unserer Seite nicht ausreichend unterfüttert werden?
Dann nämlich sind unsere Worte nicht mehr als warme
Worte und für die Menschen, die jetzt auf dem Maidan
stehen, etwas, was sie fast als Verhöhnung empfinden.
Können Sie sich bitte deutlicher dazu äußern, was von
europäischer Seite getan werden muss, nachdem wir
diese entschiedene und kalte Politik aus dem Kreml
identifiziert haben?
Liebe Frau Kollegin, Ihre Frage ist sehr komplex.
Präsident Putin hat wiederholt von einem gemeinsamen
europäischen Raum von Wladiwostok bis Lissabon ge-
sprochen, einem gemeinsamen ökonomischen Lebens-
raum. Ich glaube – das ist durchaus im Sinne Ihrer
Frage –: Wir sollten ihn beim Wort nehmen.
Wenn wir über Europa reden, liebe Kolleginnen und
Kollegen, so ist nach zwei Jahrhunderten furchtbarer Er-
eignisse wie dem Streben nach Hegemonie, nach wirt-
schaftlicher Übervorteilung, nach Dominanz über den
Nachbarn unsere Erfahrung, dass unsere nationalen Inte-
ressen am besten vertreten werden, wenn den Menschen
Zukunftsperspektiven im Rahmen von ökonomischer
und politischer Integration gegeben werden. Nicht Hege-
monie, nicht Bevormundung und nicht das Schaffen von
Einflusszonen, sondern Integration und Zusammenarbeit
machen Stärke aus und untermauern globale Machtan-
sprüche im 21. Jahrhundert. Aufgrund unserer Erfahrung
sollten wir die Russen beim Wort nehmen und auf die
Visionen von Präsident Putin eingehen.
Eines ist jedenfalls ganz klar: Die Menschen auf dem
Maidan-Platz schwenken die europäische Fahne. Sie
schwenken sie nicht wegen irgendeines Programmes
oder irgendeiner Summe, die im EU-Haushalt für die
Östliche Partnerschaft unterlegt ist. Deswegen ist auch
das Geschacher von Präsident Janukowitsch, jetzt noch
ein paar Milliarden Euro mehr herauszuholen, so unan-
gebracht. Die Menschen wollen so leben wie wir. Die
Menschen wollen zu unserem Teil der Welt gehören. Sie
wollen unser gesellschaftliches und politisches Modell.
Deshalb wird die Kraft der Freiheit siegen. Das ist nicht
gegen Russland gerichtet. Dies sollten wir mit ausge-
streckter Hand gegenüber unseren russischen Partnern
immer hervorheben.
Ich hoffe, damit Ihre komplexe Frage einfach beant-
wortet zu haben, liebe Frau Kollegin.
252 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Dr. Andreas Schockenhoff
(C)
(B)
Ich komme zurück, Herr Präsident, auf die Gemein-
same Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, begrüßen nach-
drücklich, dass dies ein Schwerpunkt des Europäischen
Rates am Ende der Woche ist; denn das strategische Um-
feld Europas befindet sich in einem tiefgreifenden Wan-
del. Nicht nur die Veränderungen im nördlichen Afrika
und im Nahen Osten können erhebliche Auswirkungen
auf die Sicherheit Europas haben. Zugleich kann Europa
nicht mehr in ähnlichem Umfang wie in der Vergangen-
heit auf die Unterstützung der USA für die praktische
Durchsetzung unserer Sicherheitsinteressen bauen. Das
bedeutet: Europa muss mehr Handlungsfähigkeit schaf-
fen. Zugleich müssen wir in den EU-Staaten aufgrund
rückläufiger Verteidigungsetats Verluste bei den nationa-
len Fähigkeiten feststellen. Wenn wir also Europas
Handlungsfähigkeit stärken wollen, brauchen wir eine
engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit und mu-
tige Schritte in Richtung einer Vertiefung der militäri-
schen Integration. Darauf müssen wir Antworten geben.
Auf dem EU-Gipfel werden wichtige Arbeitsaufträge
erteilt. Das unterstützen wir ausdrücklich, und wir hof-
fen, dass diese Arbeitsaufträge auch baldmöglichst er-
füllt werden. Eine wichtige Frage muss dabei auch sein,
wo die EU geografisch ihre Prioritäten setzen will. Die
Forderung Frankreichs, den Einsatz seiner Streitkräfte in
der Zentralafrikanischen Republik durch die EU zu fi-
nanzieren, macht deutlich, wie dringend diese Diskus-
sion ist. Natürlich liegt der Militäreinsatz der Franzosen
in Zentralafrika im europäischen Interesse. Denn Anar-
chie dort bedroht uns genauso wie Anarchie in Mali.
Deswegen begrüßen wir es nachdrücklich, Frau Ver-
teidigungsministerin, dass die Bundesregierung Frank-
reich mit strategischem Lufttransport sowie mit Verwun-
detentransport unterstützt. Wenn Paris darüber hinaus
eine finanzielle Unterstützung des Einsatzes durch die
EU fordert
– ich komme ja gerade darauf zu sprechen –, dann kann
ich das aus französischer Sicht durchaus verstehen, ins-
besondere angesichts der finanziellen Situation Frank-
reichs. Aber unabhängig von der Frage, ob wir einen
Krisenfonds für EU-Einsätze überhaupt schaffen wollen,
wie es Frankreich jetzt vorschlägt – das klingt einfach,
aber es birgt bei der Durchführung sehr viele Pro-
bleme –, brauchen wir eine strategische Diskussion aller
Staaten darüber, was die EU mit zivilen und militäri-
schen Missionen erreichen kann und wo sie geografische
Prioritäten setzen will.
Natürlich legt es das aktuelle Krisen- und Konflikt-
potenzial im Nahen Osten und im nördlichen Afrika nahe,
zunächst dort geografische Schwerpunkte zu setzen. Aber
sind wir uns denn in der EU über diese Schwerpunktset-
zung einig? Das sehen nicht alle unsere östlichen Partner
so. Insofern zeigt sich, wie wichtig diese strategische
Diskussion ist. Je eher wir in der EU einen sicherheits-
politischen Konsens über die geografische Prioritäten-
setzung erreichen, desto mehr werden wir im Hinblick
auf eine gemeinsame Fähigkeitsentwicklung, auf Poo-
ling und Sharing, auf Anlehnungspartnerschaften und
vor allem auch auf mögliche militärische Einsätze der
EU mit einer größeren Geschlossenheit rechnen können.
Deshalb ist diese strategische Diskussion hier bei uns im
Deutschen Bundestag und in der EU dringend erforder-
lich, um zu einer Klärung hinsichtlich der strategischen
Prioritätensetzung zu kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn eine solche
Diskussion in eine Neufassung der Europäischen Sicher-
heitsstrategie von 2003, die noch sehr stark als Antwort
auf die amerikanische Sicherheitsstrategie nach dem
11. September 2001 erarbeitet wurde, oder in die Erar-
beitung einer globalen Strategie mündete, dann wäre
dies durchaus zu begrüßen. Wir würden dies im Deut-
schen Bundestag sehr lebendig begleiten. Ich freue mich
auf unsere Arbeit in der 18. Legislaturperiode.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Diether Dehm für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Was wird aus Worten, die in Ihre
Hände geraten? Nehmen wir das schöne Wort „Solidari-
tät“. Das war einmal für Gewerkschafterinnen und Ge-
werkschafter, für Sozialdemokraten das Synonym für
„christliche Nächstenliebe“. Jetzt sprechen Sie hier von
einem „Solidaritätsinstrument“ und meinen den Pakt für
Wettbewerb. Das ist nichts anderes als ein Pakt für
Lohnsenkung und den Abbau nationalrechtlich verfass-
ter sozialer Normen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie von „Solidarität“
sprechen, dann müssen die Völker in Europa ihre Porte-
monnaies festhalten; denn dieser Pakt für Wettbewerbs-
fähigkeit ist nichts anderes – das meinen Sie vielleicht
mit „Solidarität“ – als eine Troika für alle. Die Linke
will überhaupt keine Troika. Die Troika ist ein falsches
Instrument, und deswegen muss sie abgewickelt werden.
Solidarität in Europa heißt doch – das war der euro-
päische Traum –, Solidarität zu üben mit denen, die
Hilfe nötig haben: mit den Olivenbauern, mit den Repa-
raturbetrieben, mit den Schiffbauern, mit den Solarunter-
nehmen, aber doch nicht, Solidarität zu üben mit den Zo-
ckern. Es geht darum, Solidarität mit denen zu üben, die
am Boden liegen. Denen muss man die Hand reichen.
Das dürfen doch nicht die Superreichen sein, sondern
die, die die Hilfe wirklich nötig haben. Dafür treten die
Linke, die Gewerkschaften, die Kirchen und, wie wir ge-
hört haben, auch der Papst ein.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 253
Dr. Diether Dehm
(C)
Darum geht es übrigens auch in der Theologie der Be-
freiung.
Lieber Herr Gabriel, als Sie vor dem Wahlkampf ver-
sprochen haben, im Wahlkampf für ein Verbot der Zo-
ckerbanken und für ein Trennbankensystem einzutreten,
dachte ich, guck mal einer an: Der Sigmar ist wieder auf
dem Weg zurück zur Sozialdemokratie. – Als Herr
Schäuble einen kleinen Konflikt mit Herrn Fitschen von
der Deutschen Bank hatte, habe ich gedacht: Mal sehen,
wie lange er andauert. – Beides hatte eine Halbwertzeit
von zwei Tagen. Im Wahlkampf habe ich keine Großpla-
kate zum Thema Verbot der Zockerbanken und für das
Trennbankensystem gesehen. Es ist eben auch Wahlbe-
trug – das hat Frau Wagenknecht zu Recht gesagt –,
wenn Sie groß versprechen, etwas zum Wahlkampf-
thema zu machen, aber nichts davon bleibt. Was bleibt,
ist der Spiegel-Bestseller über die Banken mit dem Titel
„Der größte Raubzug der Geschichte“.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gestern den Amtseid
auf die Würde des Menschen geleistet. Das heißt übri-
gens nicht „die Würde des Deutschen“, sondern „die
Würde des Menschen“.
Sie haben den Amtseid auch auf die Sozialstaatlichkeit,
die nach unserem Grundgesetz unveräußerbar ist, geleis-
tet. Die Verantwortlichkeit für die Sozialstaatlichkeit
kann man auch nicht an die EU-Ebene abgeben. Sozial-
staatlichkeit ist im Lissabon-Vertrag gar nicht vorhan-
den. Bei der Sozialstaatlichkeit geht es um etwas anderes
als um das, was Sie griffig „marktkonforme Demokra-
tie“ nennen.
In der marktkonformen Demokratie gibt es für diese
grundgesetzlich geschützten Werte leider keinen Platz.
Ändern Sie die Verträge. Ich habe vorhin gehört, dass
auch Sie vom Lissabon-Vertrag weg wollen. Die Linke
will das ebenfalls. Wir wollen hin zu den Menschen. Sie
wollen vielleicht noch näher zu den Zockerbanken. Än-
dern Sie den Vertrag und bringen Sie grundgesetzlich ge-
schützte Werte wieder zur Geltung!
Das erreicht man aber nicht, indem man einen Vampir
zum Aufseher über die Blutreserven macht. Die Euro-
päische Zentralbank mit Herrn Draghi war die Geld-
druckmaschine der Zockerbanken.
Lassen Sie mich zum Abschluss Folgendes sagen:
Willy Brandt hat einmal mein Lied Das weiche Wasser
bricht den Stein auf Schallplatte gesprochen, unter an-
derem mit den Worten: „Monopoly, das kalte Spiel – sol-
len Menschen bloß Figuren sein?“ Was hat die Deutsche
Bank diesen Willy Brandt bekämpft? Haben Sie das ver-
gessen? Deswegen haben Antifaschisten Art. 15 ins
Grundgesetz geschrieben. Mehr Demokratie wagen
heißt, Bankenmacht zerschlagen.
Danke schön.
Das Wort erhält nun der Kollege Dietmar Nietan für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist gut, dass wir uns in diesem Parlament auch über sehr
unterschiedliche Standpunkte austauschen. Erlauben Sie
mir aber eine persönliche Bemerkung an die Kollegin
Wagenknecht und den Kollegen Dehm: Dass die Spre-
cherin und der Sprecher der vermeintlichen Oppositions-
führung in ihren Redebeiträgen nicht mit einem einzigen
Wort Stellung bezogen haben zur Lage der Flüchtlinge
in Europa, sondern sehr kalt und berechnend alte Kli-
schees der Wirtschaftsideologie bedient haben, entlarvt
sie. Das ist ein trauriges Zeugnis für Ihre Politik.
Es ist eben einfacher, einen Popanz von den bösen Kapi-
talisten aufzubauen, als hier konkret zu sagen, was Sie
tun wollen, damit die Situation der Flüchtlinge besser
wird. Ich bin enttäuscht, dass Sie das mit keinem Wort
erwähnt haben.
– Dass Sie jetzt so schreien, zeigt, dass dieser Schlag ge-
sessen hat. Der entlarvt Sie nämlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf dem Europäi-
schen Rat in Brüssel wird die Bundesrepublik Deutsch-
land heute erneut von Frau Bundeskanzlerin Merkel ver-
treten, und entgegen dem, was die Kolleginnen und
Kollegen der Linkspartei uns erzählen wollen, spricht
Frau Bundeskanzlerin dann für eine neue Bundesregie-
rung und für eine andere Politik, für die wir Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten in diese Regierung ein-
getreten sind.
Sie spricht für eine neue Bundesregierung, die die Be-
kämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa wieder
nach vorne schieben und nicht nur in Worthülsen belas-
sen will. Sie spricht für eine neue Bundesregierung, die
bei der Bewältigung der Krisenerscheinungen, die wir in
Europa haben, nicht nur auf Konsolidierung setzt, son-
dern auch auf Zukunftsinvestitionen für mehr Wachstum
und Beschäftigung.
Herr Kollege Nietan, darf der Kollege Gehrcke Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
254 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
(C)
(B)
Nein.
Sie spricht für eine neue Bundesregierung, die bei al-
len notwendigen Strukturreformen für mehr Wettbe-
werbsfähigkeit jetzt auch das Augenmerk auf die Sozial-
verträglichkeit von Strukturanpassungen legt, also für
eine durchaus neue Politik. Ich glaube, auf diese neue
Politik, die mit dem Eintritt der Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten in die Regierung möglich gewor-
den ist, haben viele Regierungschefs in Europa offen
– vielleicht auch insgeheim der eine oder andere Konser-
vative – gesetzt. Sie hoffen auf eine neue Bundesregie-
rung, die sich dafür einsetzt, dass es in Europa wieder
sozialer und gerechter zugeht.
Denn auch für Europa gilt, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen: Das Wir entscheidet.
Unsere heutige Europäische Union darf nicht zu einer
Versorgungsstelle für die Befriedigung vermeintlicher
nationaler Interessen verkommen. Die Europäische
Union ist eine Gemeinschaft, und für eine Gemeinschaft
gilt immer noch: Sie ist dann stark, wenn sie auch ge-
meinschaftlich handelt.
Natürlich brauchen wir neue Impulse für Beschäfti-
gung in ganz Europa. Deshalb sage ich an dieser Stelle:
Es ist aus meiner Sicht nicht hinnehmbar, dass gut an-
derthalb Jahre nach der Beschlussfassung über den Pakt
für Wachstum und Beschäftigung immer noch nicht alle
Maßnahmen dieses Paktes umgesetzt sind. Auch wenn
es hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung einiger
Staaten den einen oder anderen Lichtblick am Horizont
gibt, so sind wir noch lange nicht über den Berg. Ich will
an dieser Stelle ergänzend zu dem, was die Bundeskanz-
lerin gesagt hat, betonen: Nicht nur die Staaten, die jetzt
keine Leistungen aus den Hilfspaketen mehr benötigen,
haben große Anstrengungen geleistet, sondern alle Staa-
ten, allen voran Griechenland, haben große Anstrengun-
gen geleistet. Das sollten wir an dieser Stelle würdigen.
Wir dürfen die Augen allerdings nicht davor ver-
schließen, dass wir es immer noch mit einer dramatisch
hohen Jugendarbeitslosigkeit zu tun haben. In drei Mit-
gliedstaaten ist jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit,
und in weiteren 16 Mitgliedstaaten liegt die Jugendar-
beitslosenquote bei über 20 Prozent. Deshalb reichen
– das sage ich sehr deutlich – die bisher verabredeten
Maßnahmen der EU zur Bekämpfung der Jugendarbeits-
losigkeit nicht aus.
Ich erwarte von der neuen Bundesregierung, dass sie den
schwarz-roten Koalitionsvertrag ernst nimmt, in dem
klar steht: Diese Bundesregierung muss für die Bekämp-
fung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa mehr tun als
ihre Vorgängerregierung.
Es gibt ein weiteres Thema, das aus meiner Sicht sehr
entscheidend ist, aber in der öffentlichen Debatte nicht
sehr oft die entsprechende Beachtung findet. Wir müssen
in der Europäischen Union Systeme schaffen, die es er-
möglichen, dass kleine und mittlere Unternehmen
schnell und einfach an Kredite kommen. Denn wie wol-
len wir die wirtschaftliche Gesundung nicht nur in Grie-
chenland voranbringen, wenn diejenigen, die dort neue
Arbeitsplätze schaffen wollen, die sich engagieren wol-
len, vor einem Bankensystem stehen, das ihnen keine
vernünftigen Kredite gibt? Das ist kein nationales
Thema, sondern eines, für das wir uns auf europäischer
Ebene einsetzen müssen.
Ich will kurz auf die sich im Trilog abzeichnende Ei-
nigung zu einer wichtigen Säule der Bankenunion, näm-
lich zu einem Abwicklungsmechanismus und Abwick-
lungsfonds für Banken, eingehen. Es ist völlig richtig,
dass es bisher der falsche Weg war, dass die Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler alleinige Haftung übernommen
haben. Deshalb finde ich es gut – auch das kann man im
schwarz-roten Koalitionsvertrag nachlesen –, dass laut
dem, was ich vom Ecofin höre, die Entwicklung auf der
europäischen Ebene jetzt in die richtige Richtung geht.
Es muss eine Haftungskaskade geben, bei der eines klar
ist: Die erste Priorität bei der Haftung haben die Eigentü-
mer der Banken und nicht die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler;
danach kommen die großen Bankgläubiger und nicht
die kleinen Sparer. Es ist gut, dass sich abzeichnet, dass
die Einlagensicherung zumindest für Einlagen bis zu
100 000 Euro gewährleistet ist und dass die kleinen Spa-
rerinnen und Sparer, sollte es zu Problemen kommen, in
sieben Tagen an ihr Geld kommen können. Das reicht
zwar noch nicht aus. Aber es zeigt, dass wir in die rich-
tige Richtung gehen. Auch diejenigen, denen das nicht
ausreicht, sollten zumindest diese Fortschritte nicht
ignorieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Schluss meiner Rede zur Situation der Flüchtlinge in Eu-
ropa kommen. Der Präsident des Europäischen Parla-
ments, Martin Schulz, hat in einer, wie ich finde, bemer-
kenswerten Rede am 24. Oktober vor dem Europäischen
Rat, vor den Staats- und Regierungschefs gesagt:
Lampedusa wurde zum Gleichnis für eine europäi-
sche Flüchtlingspolitik, die aus dem Mittelmeer ei-
nen Friedhof macht.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 255
Dietmar Nietan
(C)
(B)
Martin Schulz hat recht. Es ist ein Skandal, was jeden
Tag, auch heute, an den Außengrenzen der Europäischen
Union geschieht.
Martin Schulz hat den Staats- und Regierungschefs am
24. Oktober außerdem in das Stammbuch geschrieben:
Lampedusa muss ein Wendepunkt für die europäi-
sche Flüchtlingspolitik sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Entwurf der
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, der 45 Punkte
enthält, ist ganz am Ende, in den Punkten 41 und 42, zu
lesen, der Europäische Rat bekräftige seine Entschlos-
senheit, das Risiko zu verringern, dass es in Zukunft zu
weiteren Tragödien dieser Art kommt. Ich frage mich:
Was haben die Kommission und die Staats- und Regie-
rungschefs seit Anfang Oktober in Lampedusa getan?
Das ist zu wenig, was in diesen Schlussfolgerungen des
Europäischen Rates steht.
Deshalb ist es unsere Aufgabe – nicht nur die der
Bundesregierung –, sehr schnell daran zu arbeiten, dass
es grundlegende Reformen gibt, auch beim System von
Dublin II. Es kann nicht sein, dass sich reiche Staaten in
Europa weigern, bei der Aufnahme von Flüchtlingen So-
lidarität mit den Staaten zu zeigen, die an unseren Au-
ßengrenzen liegen. Das ist nicht das Europa, das ich mir
wünsche, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es kann auch nicht sein, dass die Drittstaatenabkom-
men, die wir mit Staaten wie Marokko treffen, den Cha-
rakter eines modernen Ablasshandels haben. Da wird
Drittstaaten etwas Geld gegeben, und dafür sollen die
dann die Flüchtlinge – ich sage das so deutlich – entsor-
gen. Wenn sie von Marokko in die Wüste geschickt wer-
den, dann zuckt man hier mit den Schultern nach dem
Motto: Wir haben mit denen doch ein Drittstaatenab-
kommen. – Das ist den Werten der Europäischen Union
nicht würdig. Wir alle müssen etwas dafür tun, dass sich
das schnell ändert.
Wir brauchen für die Europäische Union ein legales
Einwanderungssystem, wir brauchen mehr Solidarität
bei der Aufnahme von Flüchtlingen, und – ich sage das
sehr deutlich – wir sollten uns noch einmal den mehrjäh-
rigen Finanzrahmen der EU ansehen. Er spart nämlich
ausgerechnet bei Maßnahmen für internationale Hilfen.
Wenn wir es mit den Worten: „Wir wollen die Ursachen
von Flucht, Verfolgung und Armut bekämpfen“ ernst
meinen und gleichzeitig im mehrjährigen Finanzrahmen
bei Maßnahmen für internationale Hilfen kürzen, sind
wir zutiefst unglaubwürdig. An genau diesen Punkten
müssen wir arbeiten, muss diese Regierung arbeiten. An
diesen Punkten wird die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands in dieser Regierung arbeiten. Es soll ja
Leute gegeben haben – das habe ich mir sagen lassen –,
die an der europapolitischen Zuverlässigkeit der Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten gezweifelt haben.
Wir werden in den nächsten vier Jahren beweisen, dass
diese Zweifel unberechtigt waren.
Vielen Dank.
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Gehrcke
das Wort.
Schönen Dank, Herr Präsident. – Ich hätte mir die
Kurzintervention sparen können, wenn der Kollege
Nietan meine Zwischenfrage zugelassen hätte. Ich ver-
stehe gar nicht, aus welchem Grund man eine Frage
nicht zulässt. Aber wir üben ja alle noch hier im Hause.
Ich habe sehr gespannt darauf gewartet, dass Sie end-
lich auf Probleme zu sprechen kommen, die mit Frontex
zusammenhängen. Es wäre schön, wenn wir uns frak-
tionsübergreifend darauf einigen könnten, Frontex auf-
zulösen, weil wir nicht wollen, dass Flüchtlinge verfolgt
werden.
Wir wollen, dass die Fluchtursachen bekämpft wer-
den, aber nicht, dass Flüchtlinge verfolgt werden. Wir
wollen endlich Schluss machen mit Dublin II, einer Ver-
ordnung, die, wie Sie gesagt haben, dazu führt, dass sich
die reichen Staaten aussuchen können, wen sie aufneh-
men und wen sie nicht aufnehmen. Wir wollen, dass wir
uns in diesem Land Flüchtlingen gegenüber öffnen. Ich
habe mithilfe des Auswärtigen Amtes – dafür muss ich
es sehr loben – dazu beitragen können, dass einige we-
nige syrische Flüchtlinge aus dem Libanon nach
Deutschland geholt werden konnten, zum Beispiel eine
alte Frau, die zunächst ausgewiesen worden ist, obwohl
sie hier Asyl beantragt hatte. Mich hat das sehr erschüt-
tert. Ich habe mich dann ein paar Minuten gut gefühlt,
dass man da etwas tun konnte.
Gleichzeitig war mir ganz schlecht; denn eine Person
holen heißt, viele Zehntausende sitzen lassen. Ich
möchte, dass wir eine anständige Flüchtlingspolitik ma-
chen. Wie mein Kollege Dehm gesagt hat: Die Würde
des Menschen – nicht die Würde des Deutschen oder des
Europäers – ist unantastbar. – Das muss endlich einmal
durchgesetzt werden in diesem Land.
Ich will Ihnen das nicht vorhalten – es ist nun einmal
so: wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, zei-
gen immer auch Finger auf einen zurück –, aber ich bitte
Sie doch sehr: Reden Sie einmal mit Ihrem Kollegen
Olaf Scholz in Hamburg! Die Lampedusa-Flüchtlinge in
Hamburg nicht aufzunehmen, sie unter unwürdigen Be-
dingungen dort unter Druck zu setzen, das sollte eine so-
256 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Wolfgang Gehrcke
(C)
(B)
zialdemokratische Partei nicht zulassen. Treten wir alle
für eine andere Flüchtlingspolitik ein! Das können wir
gemeinsam machen, wenn Sie wollen.
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Wenn man in den letzten Monaten in den Haupt-
städten Europas unterwegs war, konnte man feststellen:
Alle warteten auf die Bundestagswahl und waren dann
ganz überrascht, dass man noch weiter warten muss: auf
den Koalitionsvertrag.
Man musste das Gefühl bekommen, es ist mit diesem
Koalitionsvertrag ein bisschen wie in dem Brief des
Apostels Paulus an die Philipper, wo geschrieben steht:
Ich selbst habe diese Wünsche und Sehnsüchte in
dich hineingelegt.
Ich habe das Gefühl, bei Ihnen ist das immer noch der
Fall.
Das deckt sich aber nicht unbedingt mit dem Text des
Koalitionsvertrages und erst recht nicht mit dem, was
wir im Zusammenhang mit dem Gipfel erleben.
Ich kann Sie beruhigen: Ich habe gegenüber den euro-
päischen Kolleginnen und Kollegen Erwartungsmanage-
ment betrieben und immer gesagt: Sie können von der
neuen Koalition in Berlin europapolitisch leider nicht zu
viel erwarten. – Ich muss zu meinem eigenen Leidwesen
gestehen, dass ich mich nach dieser Regierungserklä-
rung von Frau Merkel bestätigt sehe.
Aber man soll ja nicht immer gleich den biblischen
Maßstab ansetzen. Deshalb möchte ich versuchen, Ihren
eigenen Maßstab anzulegen. Sie sagen:
Für die Große Koalition ist und bleibt das europäi-
sche Einigungswerk eine der wichtigsten Aufgaben
…
Und Sie sagen:
Unser Ziel dabei ist … ein Europa der Stabilität, des
Wachstums …
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn ich mir an-
schaue, was für den Gipfel morgen auf der Tagesord-
nung steht und was für Herausforderungen in den nächs-
ten Monaten vor uns liegen, dann mache ich mir sehr
große Sorgen. Das Ziel von Stabilität und Wachstum
wird durch das, was Sie als Verhandlungsstrategie aus-
gegeben haben, in keinster Weise erreicht. Im Gegenteil,
Sie versäumen es, jetzt Entscheidungen zu treffen, die
Europa in 2014 auch in schwierigeren Zeiten zu Stabili-
tät und auch zu Wachstum bringen können.
Sie sind nicht darauf eingegangen, was für Entwick-
lungen anstehen: Irland und Portugal verlassen den Ret-
tungsschirm. Viele Staaten haben eine schwierigere in-
nenpolitische Lage als in der Vergangenheit – wegen
Wahlen, die anstehen, aber auch, weil die Krisenpolitik
Regierungen natürlich Körner kostet. Weiterhin können
vor dem Hintergrund des EZB-Stresstests der finanzielle
Zusammenhalt der Europäischen Union und die politi-
sche Glaubwürdigkeit für die Existenz des Euro auf den
Märkten als nicht ganz gesichert gelten. Angesichts des-
sen verstehe ich nicht, wie man mit einer so schwachen
Agenda auf diesen Europäischen Gipfel gehen kann.
Ich sehe in den nächsten Jahren – und auch bei die-
sem Gipfel – die Gefahr, dass einer Fragmentierung des
Euro, einer Fragmentierung des Binnenmarkts – unter
anderem, weil der Bankenmarkt sich fragmentiert –, aber
auch einer Renationalisierung von Entscheidungsstruk-
turen und einem künftigen Auseinanderentwickeln von
Staaten in Zentraleuropa – die einen mit dem Euro als
Umlaufwährung, die anderen ohne den Euro als Umlauf-
währung –, dass diesen gefährlichen Tendenzen, die im
Gegensatz zu all dem stehen, was immer deutsche Euro-
papolitik war, von dieser Bundesregierung immer noch
nichts entgegengesetzt wird. Was Sie als Verhandlungsli-
nie zur Bankenunion ausgegeben haben, ist der beste Be-
weis dafür.
Ich habe ein Beispiel aus Spanien gehört: Ein kleiner
Fahrradproduzent erhielt einen Auftrag der Stadt Kopen-
hagen, Citybikes herzustellen. Er wollte diesen Auftrag
für sein gesundes Unternehmen annehmen und hat keine
Bank gefunden, die ihm eine Finanzierung bereitstellen
konnte.
Sie müssen doch akzeptieren, dass man nur durch
eine Bankenunion, die die Kreditklemme für die kleinen
und mittelständischen Unternehmen in Südeuropa besei-
tigen kann, auch in der Lage ist, etwas gegen Jugend-
arbeitslosigkeit zu tun. Sie haben aber die Einigung, die
schon im letzten Juni erreicht worden war, zurückver-
handelt: Die Möglichkeit der direkten Bankenrekapi-
talisierung aus dem ESM ist nicht mehr enthalten, Sie
wollen keinen europäischen Bankenabwicklungsmecha-
nismus mehr, sondern nationale Mechanismen, und Sie
wollen schließlich, dass das Prinzip gilt, dass ein Natio-
nalstaat immer daran glauben muss, dass, wenn seine
Banken in Schwierigkeiten sind, sie nicht durch eine
mutige europäische Lösung aufgefangen werden. – We-
gen dieser Versäumnisse mache ich mir Sorgen.
Dann gibt es diese bilateralen Verträge, die das neue
Lieblingskind von Frau Merkel und scheinbar erlösungs-
bringend sind. Wenn man sich diese genau anguckt,
dann erkennt man: Das ist eine neue Scharade. In Wirk-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 257
Manuel Sarrazin
(C)
(B)
lichkeit degradieren Sie die europäischen Governance-
Mechanismen, die wir in den letzten Jahren unter großer
Anstrengung zu stärken versucht haben, und setzen sie
auf die Bank des Zuschauers. Sie sehen die nationale
Politik wieder als höchste Entscheidungsinstanz für na-
tionale Reformpfade an und sagen der Europäischen
Kommission: Nach unserem Gusto könnt ihr uns viel-
leicht am Ende unterstützen.
Damit schaffen Sie genau das Gegenteil von Verbind-
lichkeit. Anstatt aus den Erfahrungen in den 2000er-Jah-
ren die Lehren zu ziehen und die Verfahren zu stärken,
für die mehr Verbindlichkeit notwendig ist, setzen Sie
neue Verfahren ein, die Staaten – das sage ich Ihnen vo-
raus – in keinster Weise dazu animieren werden, die not-
wendigen Reformen wirklich anzugehen.
Es ist geradezu vielsagend, dass die Vorgaben der Euro-
päischen Kommission und des Rates an Deutschland für
seinen Haushaltsplan in diesem Jahr nicht angeguckt
werden, während hier die neue Verbindlichkeit gepredigt
wird.
Meine Damen und Herren, Europa steht vor großen
Herausforderungen, und ich habe wirklich den Wunsch
an die neue Koalition, dass man nicht wieder nur dann
zu Entscheidungen kommt und nur dann den Mut zu-
sammennimmt, Strukturen zu schaffen, mit denen man
auch in schwierigen Zeiten entscheidungsfähig ist, wenn
man mit dem Argument „Das ist alternativlos“ ultimativ
dafür werben kann, sondern dass man endlich einmal
rechtzeitig zu Entscheidungen kommt. Dafür wäre dieser
Gipfel eine Gelegenheit, die von Ihnen leider verpasst
wird.
Danke sehr.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Michael
Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Sarrazin,
ich werde in meiner kurzen Rede nachweisen, dass auf
dem Europäischen Rat eine ganze Menge beschlossen
werden wird – gerade hinsichtlich der Zukunft der Euro-
päischen Union im Zusammenhang mit den wichtigen
Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion.
Ich möchte aber mit der Feststellung starten, dass am
Beginn der Arbeit dieser Bundesregierung auch die Wei-
terarbeit an einem Thema steht, das uns in den letzten
vier Jahren im Deutschen Bundestag in ganz besonderer
Weise und sehr oft betroffen hat, nämlich die sogenannte
Euro-Krise.
Ich denke, dass wir kurz eine Bestandsaufnahme ma-
chen müssen, wo wir in dieser Euro-Krise jetzt stehen.
Meine These ist: Wir sind dabei, diese Euro-Krise zu
überwinden. Die Euro-Zone ist nach außen gesichert. Es
gibt seit Monaten – fast seit Jahren – keine nennenswer-
ten und schon gar keine erfolgreichen Spekulationen ge-
genüber dem Euro. Die Rettungsschirme funktionieren,
und zwar im Wesentlichen so, wie wir das hier im Bun-
destag beraten und beschlossen haben, und die Ergeb-
nisse entsprechen denen, die wir erreichen wollten.
Irland wird im nächsten Jahr als erstes Land den Ret-
tungsschirm verlassen. Irland hat eine hervorragende
und fortschrittliche Entwicklung hinter sich, und es
sieht, zumindest nach jetziger Aussage der irischen Re-
gierung, auch danach aus, dass ein Folgeprogramm nicht
nötig sein wird. Ich will aber dazu sagen, dass die Welt
nicht untergehen würde, wenn sich im nächsten Jahr he-
rausstellen würde, dass die Instrumente des ESM doch
noch genutzt werden müssten.
Irland zeigt aber nach meiner Überzeugung auch Fol-
gendes – das gilt vor allen Dingen für die Euro-Krisen-
länder –: Es ist besser und weniger schmerzhaft, wenn
man schnell und entschlossen Reformen beginnt, wie
das Irland 2010 getan hat. Es wird in jedem Fall schwie-
riger, wenn man längere Zeit zögert und längere Zeit
über Wege nachdenkt, schwierigen Reformen aus dem
Wege zu gehen. Das wäre ein Irrweg.
Aber es ist auch eindeutig: Irland ist längst noch nicht
vollständig aus der Krise heraus. Die Folgen der Krise
werden die irische Politik noch viele Jahre beschäftigen.
Ich glaube, unsere Aufgabe und die Aufgabe der Euro-
päischen Union besonders für die nächsten Jahre ist,
dass wir neben der Sicherung der Euro-Zone nach außen
die Wirtschafts- und Währungsunion festigen, fortentwi-
ckeln und dauerhaft so organisieren müssen, dass solche
Krisen, wie wir sie in den letzten vier Jahren erlebt ha-
ben, nicht mehr ausbrechen können. Unter anderem die-
sen Themen widmet sich der Europäische Rat morgen
und übermorgen.
Ich will ein paar Sätze zur Bankenunion sagen. Wir
haben in der letzten Legislaturperiode viel über den ers-
ten Pfeiler der Bankenunion diskutiert, nämlich eine
funktionierende Bankenaufsicht europaweit, für alle
Bankeninstitute in der Europäischen Union. Die Rege-
lungen dazu sind politisch und parlamentarisch be-
schlossen. Die Bankenaufsicht wird 2014 beginnen.
Ich halte es für wesentlich, dass wir beschlossen ha-
ben, die zentrale Aufsicht zunächst für die 130 größten
Bankinstitute gelten zu lassen. Für genauso wesentlich
halte ich, dass die Aufsicht für kleinere Banken in der
Hoheit der Nationalstaaten bleibt, natürlich mit der
Möglichkeit, dass bei besonderen Vorkommnissen die
zentrale Aufsicht durchgreifen kann. Entsprechende Er-
fahrungen mit kleineren Instituten wurden insbesondere
in Spanien gemacht.
Ich bin auch der Überzeugung, dass es richtig war, die
Europäische Zentralbank als den gemeinsamen Banken-
kontrolleur einzusetzen. Die Europäische Zentralbank
hat sich in den letzten Jahren als einer der entscheiden-
den Stabilitätsanker in der Europäischen Union und vor
258 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Michael Stübgen
(C)
(B)
allen Dingen in der Euro-Zone etabliert. Die institutio-
nelle Trennung zwischen Geld- und Aufsichtspolitik der
Europäischen Zentralbank wird funktionieren.
Morgen steht vor allen Dingen die Frage des zweiten
Pfeilers der Bankenunion zur Debatte, nämlich die Ein-
führung eines sogenannten gemeinsamen Abwicklungs-
mechanismus, der es unter geordneten Bedingungen
möglich macht, bestimmte Bankinstitute zu schließen,
wenn sie entweder in eine nicht mehr korrigierbare fi-
nanzielle Schieflage geraten sind oder ein nicht zu-
kunftsfähiges Geschäftsmodell verfolgen.
Natürlich ist in diesem Komplex jede Detailfrage
noch sensibler und noch schwieriger zu klären, als das
bei der gemeinsamen Kontrolle der Fall ist; denn
schließlich kann es auch eigene Banken treffen, in
Deutschland zum Beispiel Landesbanken. Natürlich ist
diese Frage hart umkämpft. Hier müssen vernünftige
Kompromisse gefunden werden.
Nach meiner Einschätzung ist der von der Euro-
Gruppe und vom Ecofin erarbeitete Kompromiss ein
richtiger und guter Kompromiss. Wir werden in Zukunft
mit der Fortführung dieser Lösung in der Lage sein, bei
Bankenproblemen nicht in erster Linie die Steuerzahler
bürgen und zahlen zu lassen, sondern es wird sicherge-
stellt, dass in erster Linie die Eigentümer, die Gläubiger,
die Aktionäre und Vorzugsaktionäre die Hauptlast zu tra-
gen haben, und zwar im Rahmen einer klaren Gewähr-
leistung und Verbesserung der Einlagensicherung zum
Schutz der Bankkunden.
Lassen Sie mich noch auf ein weiteres Thema zu
sprechen kommen, das morgen und übermorgen eine
wesentliche Rolle spielen wird, obwohl nicht abzusehen
ist, dass es schon zu einer endgültigen Klärung kommt,
hoffentlich aber zu politischen Festlegungen. Wir haben
die Situation – das muss man schlichtweg feststellen –,
dass wir in der Bewältigung der Euro-Krise zwar weit
gekommen sind, es als Folge der Krise aber jetzt so ist,
dass nur noch 3 der 17 Euro-Länder den Triple-A-Status
haben. Das sind Deutschland, Luxemburg und Finnland.
Das ist eine klare Folge dieser Krise. Ziel muss es sein
und war es immer in der Wirtschafts- und Währungs-
union, dass alle Euro-Länder den Triple-A-Status be-
kommen.
Wir wissen auch – das hat Mario Draghi vor wenigen
Tagen in Frankreich deutlich gemacht –, dass insbeson-
dere in Frankreich, aber auch in anderen Euro-Ländern
der Reformeifer nachgelassen hat. Mario Draghi hat in
Frankreich erklärt: Erstens. Die Reformanstrengungen
werden nicht mehr ausreichend vorangetrieben. Zwei-
tens. Es wird nicht auf Dauer gehen, dass man nur mit
Steuererhöhungen die Staatsfinanzen saniert. Drittens.
Weil die Reformen nicht vorangehen, gibt es einen In-
vestitionsstau, und die Arbeitslosigkeit verharrt auf ho-
hem Niveau.
Ähnlich ist die Situation im drittgrößten Euro-Land,
in Italien. Auch dort haben – das wissen wir – im Gegen-
satz zu der Zeit der Vorgängerregierung die Reform-
anstrengungen nachgelassen. Wenn das so bleibt, kann
diese Entwicklung wieder die gesamte Euro-Zone ge-
fährden.
Aus der Erwartung, dass es schwierig sein wird, die
Reformen voranzutreiben – denn es handelt sich im We-
sentlichen um unpopuläre Reformen –, ist die Idee der
sogenannten Vertragspartnerschaften entstanden. Die
Vertragspartnerschaften sollen zusätzlich zum Euro-
Plus-Pakt, zum Two-Pack, Six-Pack und Fiskalvertrag
mehr Sicherheit bzw. Umsetzungssicherheit dafür schaf-
fen, dass Länder ihre Reformen angehen, und zwar
durch bilaterale Verträge mit der Europäischen Kommis-
sion, in denen Art, Zeitraum und Zeitpunkt der Refor-
men detailliert geregelt sind. Außerdem soll daran auch
die Möglichkeit einer finanziellen Unterstützung ange-
schlossen werden, um zunächst negative Auswirkungen
dieser Reformen abdämpfen zu können.
In dieser Frage sind die EU-Länder noch ziemlich
weit auseinander. In den Vorbereitungen gibt es klare
Zielsetzungen. Ich unterstütze und halte es für richtig,
was die Bundesregierung in diesem Punkt vorantreiben
will. Ich hoffe und halte es für möglich, dass es morgen
und übermorgen eine politische Einigung dazu geben
wird. Denn es wird entscheidend sein, dass wir in der
jetzigen Situation dafür sorgen, dass die Euro-Länder
ihre Reformen so umsetzen, dass sie mehr Wettbewerbs-
fähigkeit und damit mehr Arbeitsplätze und mehr Kraft
bekommen, um wieder voranzugehen und auch die so-
zialen Probleme in ihren Ländern lösen zu können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir bleibt
am Schluss meiner Rede, der Bundeskanzlerin für den
Europäischen Rat alles Gute zu wünschen. Es geht um
Europa. Es geht um unsere Zukunft.
Danke schön.
Bärbel Kofler ist die nächste Rednerin für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte meine Redezeit einem Thema widmen, das
auch zwei meiner Vorredner schon angesprochen haben.
Ich bin seit acht Jahren Vorsitzende der Deutsch-Ukrai-
nischen Parlamentariergruppe, und ich möchte die Gele-
genheit heute explizit nutzen, im Namen dieser Parla-
mentariergruppe den mutigen Menschen in Kiew, die
dafür demonstrieren, dass sie Europäer sein dürfen, und
die zu Europa gehören wollen, unseren Respekt und un-
sere Unterstützung auszusprechen.
Ich finde es beachtenswert – wir sollten das als Parla-
ment entsprechend würdigen –, dass mehrere Hundert-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 259
Dr. Bärbel Kofler
(C)
(B)
tausend Menschen seit Wochen friedlich demonstrieren,
viel in Kauf nehmen, ihrer Arbeit und ihren Studienplät-
zen fernbleiben und versuchen, eine Ukraine zu unter-
stützen, die nach Europa kommt und die auch nach
Europa gehört.
Wir alle wissen: Der sperrige Begriff „Assoziierungs-
abkommen“ ist bestimmt nicht das, was die Menschen
auf die Straße treibt. Aber das, was dahintersteht, treibt
die Ukrainer um, und das muss auch uns umtreiben,
wenn wir über gemeinsame europäische Außenpolitik
reden, wenn wir wirkliche Unterstützung und Hilfe für
unsere Partner in diesem Prozess sein wollen. Es geht
um mehr als Freihandelsabkommen. Um die geht es
auch, aber es geht um mehr. Es geht dabei auch um an-
dere Fragen: Was für einen Veränderungsprozess bedeu-
tet das in einem Land wie der Ukraine? Was sind dort für
Umstrukturierungsprozesse notwendig?
An dieser Stelle sei die kleine Nebenbemerkung ge-
stattet: Es ist schon etwas unglaubwürdig, auch vonsei-
ten der ukrainischen Regierung, nach sieben Jahren des
Verhandelns über das Assoziierungsabkommen jetzt
plötzlich zu bemerken, dass es Anpassungskosten geben
wird. Eine Woche bevor der Gipfel in Vilnius stattfindet,
stellt man plötzlich fest: Es wird Transformationskosten
geben. – Ja, diese wird es geben. Aber man darf nicht
kurzfristige Politik betreiben, wie es in Moskau gesche-
hen ist, als der Ukraine durch Kredite und Hilfen im
Gasbereich kurzfristig aus einer wirtschaftlich prekären
Situation geholfen werden sollte, ohne ihr aber mittel-
und langfristige Perspektiven aufzuzeigen.
Es geht aber um mehr. Es geht auch um die Frage
– das muss die Ukraine als souveräner Staat selbst ent-
scheiden –, welche Standards, welche europäischen und
grundsätzlichen Standards, das Land in Zukunft setzen
möchte. Die Menschen in der Ukraine gehen – das ist
ganz klar – für ein besseres Leben auf die Straße. Viele
Menschen in der Ukraine treibt ihre sehr schwierige
wirtschaftliche und soziale Situation um. Aber die Men-
schen gehen auch für Rechtsstandards, eine Trennung
von Politik und Justiz, eine Beendigung der Einfluss-
nahme der Politik auf eigentlich unabhängige Gerichte
und Justizprozesse auf die Straße. Auch das ist Teil des
Abkommens. Es geht des Weiteren um eine Wahlrechts-
reform, eine Reform des Strafgesetzbuches und eine Re-
form der Staatsanwaltschaften in der Ukraine. Für all
dies gehen die Menschen in der Ukraine auf die Straße.
Dafür gebühren ihnen unsere Unterstützung und unser
Respekt.
Es geht für uns Europäer aber um noch mehr. Es geht
um das Zusammenwachsen der Nationen und der Völ-
ker. Jeder von uns kann das in vielen Städtepartnerschaf-
ten nachempfinden und nachleben. Ich kenne zahlreiche
Städtepartnerschaften in Bayern, die von den Bürgern
getragen werden und die einen wirklichen Austausch
zwischen den Zivilgesellschaften ermöglichen. Wenn
wir uns mit der Ukraine auseinandersetzen, müssen wir
einerseits die wirtschaftlichen Aspekte, also die Frage,
wie wir der Ukraine wirtschaftlich helfen können, ernst
nehmen und andererseits den zivilgesellschaftlichen
Aspekt in den Fokus rücken und die Chancen und Mög-
lichkeiten für ein ziviles Zusammenleben und Zusam-
menwachsen der Bürger stärken. Für mich gehört ganz
eindeutig die Visafreiheit für die Ukraine, und zwar als
Ziel eines Aktionsplanes, dazu.
Wie gesagt, wir alle kennen Projekte, die von Bürgern
getragen werden. Europa lebt davon, dass Menschen
diese Projekte mit Leben erfüllen und in den Mittelpunkt
stellen.
Wir sind momentan in einer schwierigen Situation.
Ich finde es richtig, was heute bereits mehrfach gesagt
wurde: Es darf in den Beziehungen zur Ukraine nicht um
ein Entweder-oder gehen. Die Ukraine darf nicht dazu
gedrängt werden, ihren Blick von den historischen und
familiären Beziehungen zu Russland abzuwenden. Jeder,
der in diesen Ländern einige Zeit war – ich habe drei
Jahre in Russland gelebt und gearbeitet –, weiß, dass es
enge familiäre, persönliche Beziehungen zwischen den
Ländern gibt, die auch ernst genommen werden müssen.
Aber ein Staat wie Russland darf sich auch nicht das
Recht herausnehmen, auf einen souveränen Nachbar-
staat wie die Ukraine, der sich in einer schwierigen wirt-
schaftlichen Situation befindet, Druck auszuüben und
ihn zu Entscheidungen zu bringen, die die Ukraine bei
freien Entfaltungsmöglichkeiten so nicht gefällt hätte.
Beide Aspekte müssen in der europäischen Politik be-
rücksichtigt werden. Auf beide Aspekte muss eingegan-
gen werden. Gewachsene Beziehungen müssen ernst ge-
nommen werden. Genauso ernst genommen werden
müssen aber auch Forderungen nach Achtung der Men-
schenrechte und der Souveränität. Ich glaube, die
Ukraine und insbesondere die ukrainische Regierung
sind gut beraten, endlich deutlich zu sagen, was sie wol-
len. Vonseiten der ukrainischen Regierung werden zur-
zeit sehr ambivalente Signale ausgesandt. Die finanzielle
Nachforderung von Präsident Janukowitsch wurde be-
reits angesprochen. Es ist nicht zielführend, hier in eine
Art Bieterkrieg einzutreten und über kurzfristige Maß-
nahmen zu sprechen. Aber wir müssen sehen – der Kol-
lege Nietan hat das bereits angesprochen –, welche
Möglichkeiten es im Rahmen der mittelfristigen Finanz-
planung auf europäischer Ebene gibt, um der Ukraine
aus der desolaten wirtschaftlichen Situation zu helfen,
und zwar unter Einbeziehung der Fragen betreffend die
Energieversorgung, die von fulminanter – auch sozial-
politischer – Bedeutung für die Ukraine sind. Es ist zu
wenig, zu sagen: Ihr müsst eure Haushaltsausgaben im
Bereich der Sozialtransfers, wobei es um Wohnungen
und um die Unterstützung der Bevölkerung geht, kürzen. –
260 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Dr. Bärbel Kofler
(C)
(B)
Ja, das muss passieren, aber es muss vorher etwas
passieren, damit den Menschen in der Ukraine ein be-
zahlbares Heizen ermöglicht wird. Ich glaube, wir sind
gut beraten, auf verschiedensten Wegen Hilfe und Unter-
stützung angedeihen zu lassen. Vielleicht wäre es gut,
wenn die EU, aber auch die deutsche Bundesregierung
ihr Augenmerk in der Zukunft mehr auf diese Fragen
richten könnten.
Ich finde es begrüßenswert, dass von verschiedensten
Seiten, sowohl von den EU-Außenministern als auch
von der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheits-
politik oder auch von dem EU-Parlamentspräsidenten
Martin Schulz, zwar deutliche Kritik geäußert wurde,
aber immer auch gesagt wurde: Die Tür für Verhandlun-
gen muss offen bleiben, und auch der Gesprächsfaden
– auch das möchte ich unterstreichen – mit Russland
darf nicht abreißen.
Wenn man sich kurz vor Weihnachten etwas wün-
schen darf, dann würde ich mir zum Schluss an dieser
Stelle wünschen, dass wir als Europäer, als EU, und als
deutsche Bundesregierung unsere Aufmerksamkeit und
unsere Empathie mehr nach Osteuropa lenken und uns
unseren osteuropäischen Nachbarn widmen, deren Sor-
gen ernst nehmen und aufgreifen, den Dialog mit beiden
Seiten, sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland,
stärken, es am Ende vielleicht doch noch schaffen, zu ei-
nem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zu gelan-
gen, und die Visaerleichterung und weitere Erleichterun-
gen für die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Ganz
besonders wünsche ich mir, dass friedliche Verhandlun-
gen die Oberhand behalten, dass es weiterhin friedliche
Demonstrationen geben kann und die Demonstrationen
nicht in eine Situation abgleiten, in der Gewalt am Ende
die Oberhand gewinnt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Hahn von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-
legen! Die Große Koalition hat sich gefunden. Wir ha-
ben gestern die Kanzlerin gewählt. Es hat sich eine neue,
gute Regierung gebildet. „Endlich“, werden die meisten
sagen, man könnte aber auch sagen: Gut Ding braucht
Weile. – Mit Blick nach Hessen, wo die Regierung noch
nicht so richtig steht, möchte ich sagen, Herr Sarrazin:
Vielleicht wird auch für dort gelten: Gut Ding braucht
Weile. – Auf alle Fälle haben wir rechtzeitig eine Regie-
rung, um sprach- und entscheidungsfähig bei dem kom-
menden Europäischen Rat Ende der Woche beraten zu
können.
Ein Schwerpunkt ist hierbei die Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik. Das möchte ich ausdrücklich begrü-
ßen. Eine Beschäftigung mit der GSVP in Europa ist
dringend geboten. Hier hat sich Deutschland etwas vor-
genommen. So verspricht der Koalitionsvertrag, dass un-
sere Regierung anknüpfend an diesen Gipfel neue Initia-
tiven zur Stärkung und zur Vertiefung der gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik in Europa ergreifen wird.
Wie ist die Lage? Europa war in der vergangenen Zeit
bei den Krisen in der geografischen Nachbarschaft eher
Zuschauer als Akteur. Das Fehlen einer GSVP und ge-
meinsamer Überzeugungen seitens der großen Länder
Deutschland, Frankreich und Großbritannien wurde zu-
letzt auch in Syrien offengelegt. In Libyen zeigten sich
nicht zuletzt die materiellen Grenzen von uns Europäern.
Die Erwartungen in die GSVP haben sich bisher nur un-
zureichend erfüllt. Vorsätze und überfällige Entschei-
dungen klaffen auseinander. Ich möchte hier nur die
Stichworte „Europäisierung der Streitkräfte“ oder „koor-
dinierte Spezialisierung auf nationaler Ebene“ nennen.
Auch unkoordinierte Haushaltskürzungen in Europa
sorgen für den Verlust wichtiger industrieller und tech-
nologischer Fähigkeiten. Gleichzeitig werden durch
Mehrfachstrukturen Milliarden verschwendet. Wir brau-
chen aber eine starke und selbstbewusste EU in der
Frage der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wa-
rum? Krisen, die uns mittel- und unmittelbar betreffen,
nehmen zu. Allein 2013 hat sich Deutschland bei weite-
ren Einsätzen in Mali und in der Türkei engagiert. Damit
ist auch eine noch stärkere Einsatzbelastung für unsere
Soldaten, aber auch für das Material und die Systeme
verbunden.
Die Praxis zeigt, dass die EU kaum in der Lage ist,
komplexe Einsätze allein zu bewerkstelligen. Die USA
wenden sich – das ist hinreichend bekannt – Richtung
Pazifik. Die NATO ist zudem auch nicht immer zwangs-
läufig das beste Instrument zur Krisenbewältigung. So
kann die EU beispielsweise mit Handel als krisenent-
schärfender Maßnahme ein weiteres Asset anbieten, das
die NATO so nicht bieten kann.
Deutschland kann wegen seiner beschränkten Größe
von 82 Millionen Einwohnern eigene Interessen global
– davon bin ich fest überzeugt – in einer Gemeinschaft
von 500 Millionen Menschen besser verfolgen. Die Ent-
wicklung technologischer Spitzenfähigkeiten lässt sich
im Nationalen nicht mehr finanzieren. Wer europäische
Unabhängigkeit in diesem Bereich haben möchte, muss
stärker europäisch kooperieren.
Wo wollen, wo müssen wir hin? Wir brauchen ein ge-
meinsames Verständnis als Security Provider. Wir müs-
sen die Lücken zwischen zivilen und militärischen Fä-
higkeiten schließen, und wir brauchen eine starke und
wettbewerbsfähige technologische Basis in Europa. Un-
ser Wohlstand in Deutschland und in Europa ist auf eine
stabile Welt angewiesen. Dies zu erhalten, ist unser urei-
genes Interesse. Unsere Größe und unser Erfolg sorgen
dafür, dass viele Nachbarn und Partner von uns ein be-
sonderes Engagement zur Weiterentwicklung der GSVP
erwarten. Wir haben bewiesen, dass wir ein verlässlicher
Partner sind.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 261
Florian Hahn
(C)
(B)
Wenn wir uns für ein Engagement entschieden haben,
sind wir schnell im Einsatz und übernehmen verlässlich
Verantwortung. Das zeigen die Einsätze in Afghanistan,
in der Türkei, im Kosovo und in allen anderen Ländern.
Ich erwarte mir deshalb von diesem Ratsgipfel erstens
ein klares politisches Signal, das heißt „Defence and Se-
curity matters“. Der Ratsgipfel muss ein Initialisierungs-
punkt sein, um die GSVP auf einer realistischen Grund-
lage mit Leben zu füllen.
Zweitens. Die GSVP muss zur Chefsache werden.
Ein jährlicher Gipfel auf Ebene der Staats- und Regie-
rungschefs muss beschlossen werden.
Drittens. Wir brauchen ein gemeinsames europäisches
Lagebild. Auch das muss in Auftrag gegeben werden.
Grundsätzlich lässt sich sagen: Europa ist wegen der
Finanz- und Schuldenkrise in einer schwierigen Lage.
Die Menschen sind daher europaskeptischer geworden.
Deshalb ist es eine besondere Herausforderung, genau
zu diesem Zeitpunkt die GSVP zu vertiefen. Das gelingt
nur, wenn ein klarer Nutzen erkennbar ist. Insofern soll-
ten wir uns konkret Projekte vornehmen, die realistisch
sind. Die Stiftung Wissenschaft und Politik schlägt dazu
in einem Papier vor, erstens ein europäisches Programm
für unbemanntes Fliegen als Technologietreiber zu ent-
wickeln, zweitens ein europäisches Luftüberwachungs-
geschwader als Kooperationstreiber aufzustellen und
den bestehenden europäischen Lufttransport noch zu
verstärken. Dies sollten wir ins Auge fassen.
Zur Beitrittspolitik möchte ich bemerken, dass ich die
Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Serbien wei-
terhin sehr skeptisch sehe. Die Bedingungen, die wir hier
im Haus im Juni beschlossen haben, sind aus meiner
Sicht nicht hinreichend eingehalten, beispielsweise im
Bereich Justiz oder beim Abbau von Parallelstrukturen.
Diese Beispiele sprechen eigentlich nicht für eine Eröff-
nung von Beitrittsverhandlungen.
Wir sind in der letzten Woche vor Weihnachten. Las-
sen Sie mich deshalb die Gelegenheit ergreifen, den vie-
len Soldatinnen und Soldaten, den Diplomaten, den Poli-
zisten und den zivilen Kräften zu danken, die in den
Einsätzen auch über Weihnachten ihren Dienst tun und
eigentlich gern bei ihren Familien wären. Ich wünsche
ihnen und ihren Familien frohe Weihnachten und für
2014 Glück, Erfolg und Gottes Segen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Kiesewetter von der
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der bevorste-
hende Gipfel ist auch für die europäische Außen- und Si-
cherheitspolitik von großer Bedeutung. Stellen Sie sich
vor: Erstmals seit 2008 beschäftigen wir uns wieder auf
der Ebene der Staats- und Regierungschefs mit europäi-
schen außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Es wäre
ein hervorragendes Ergebnis dieses Gipfels, wenn der
Europäische Rat bei all den Themen, mit denen sich die
Staats- und Regierungschefs beschäftigen müssen, jähr-
lich, wie der Kollege Hahn es eben ansprach, aber zu-
mindest zweijährlich auch das Thema der Außen- und
Sicherheitspolitik und der Gemeinsamen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik aufgreifen würde.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
auf die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik eingehen und in einem weiteren Teil zwei Aspekte zu
den Beitrittsverhandlungen nennen.
Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass wir eine ei-
genständigere und glaubwürdigere europäische Außen-
und Sicherheitspolitik brauchen. Aber wir wissen auch,
dass die finanzpolitischen Spielräume dafür erheblich
geschrumpft sind. Gerade deshalb, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ist eine erheblich engere Zusammenarbeit
erforderlich.
Dazu brauchen wir politischen Willen.
Die engen Finanzspielräume: Das, was wir in der
Wirtschafts- und Finanzpolitik erreicht haben, sollten
wir auch auf die Außen- und Sicherheitspolitik übertra-
gen. Warum? Wir haben 28 verschiedene Streitkräftepla-
nungsprozesse, wir haben 28 verschiedene zivile und
militärische Konfliktbewältigungsstrategien, und wir ha-
ben 28 verschiedene nationale Interessen. Wie bringen
wir das unter einen Hut? Jedenfalls so, wie wir es bisher
erlebt haben, ist es auf Dauer nicht möglich. Es ist nicht
bezahlbar und angesichts der Aufstellung der Europäi-
schen Union im globalen Wettbewerb auch nicht sinn-
voll.
Deshalb haben wir in unserem Koalitionsvertrag hier
eindeutig Handlungsbedarf festgehalten. Unser neuer
Bundesaußenminister wie auch unsere neue Bundesver-
teidigungsministerin haben bereits zum Amtsantritt be-
tont, wie wichtig engere europäische Kooperation ist.
Wir brauchen bessere Frühwarnsysteme, zivil wie mili-
tärisch. Wir brauchen verbesserte Reaktionsfähigkeiten,
verstärkte strategische Transportmöglichkeiten, vor allen
Dingen aber auch engere Vernetzung ziviler wie militäri-
scher Instrumente. Dazu hat der Bundestag in der letzten
Periode einiges an Vorleistungen erbracht. Wir brauchen
weiter eine stärkere Kooperation in der Beschaffungsin-
dustrie für die Sicherheit, aber auch für die Verteidi-
gungssektoren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, als Parla-
mentarier muss uns aber noch etwas anderes am Herzen
liegen: Wir müssen erklären, wozu wir mehr Europa in
der Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Notwendig
ist bessere Kommunikation gegenüber der Bevölkerung,
262 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Roderich Kiesewetter
(C)
(B)
aber auch gegenüber unseren strategischen Partnern;
denn wir müssen erklären: Was sind denn die Interessen
und strategischen Ziele der Europäischen Union, welche
Aufgaben wollen wir erfüllen und mit welchen zivilen
und militärischen Instrumenten, und – die Kollegen
Schockenhoff und Niels Annen haben es angesprochen –
in welchen Regionen wollen wir aktiv sein? Dafür haben
wir drei strategische Ansätze: die stärker vernetzte Si-
cherheit, die Anlehnungspartnerschaft, die im Koali-
tionsvertrag an prominenter Stelle genannt ist, und na-
türlich die Ertüchtigungsinitiative.
Erstens. Man kann viel über vernetzte Zusammenar-
beit, vernetztes Handeln sprechen; man kann den Com-
prehensive Approach wie eine Monstranz vor sich her-
tragen; wir müssen ihn endlich in die Praxis umsetzen.
In unserem Koalitionsvertrag ist sehr deutlich von der
Stärkung einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit
die Rede. In der Außen- und Sicherheitspolitik müssen
wir vernetzt denken und handeln. Es gilt, Krisenfrüher-
kennung, Krisenprävention, Ursachenbekämpfung und
Konfliktbewältigung als integrale Bestandteile zivil und
militärisch vernetzter Sicherheitspolitik mit konkreten
Projekten umzusetzen.
Wir haben auch entsprechende Institutionen, die an
prominenter Stelle aufgeführt sind. Ich nenne die Deut-
sche Stiftung Friedensforschung; ich nenne aber ganz
besonders als Institution, die funktioniert und die ausbil-
det, die Bundesakademie für Sicherheitspolitik.
Zweitens. Das strategische Konzept der Anlehnungs-
partnerschaft. Unsere Bundeskanzlerin hat dieses Kon-
zept vor einem Jahr bei der Generalstagung in Straus-
berg an prominenter Stelle öffentlich erwähnt. Worum
geht es da? Es geht schlichtweg darum, dass sich Grup-
pen europäischer Staaten in klar definierten Aufgaben-
feldern enger zusammenschließen und ihre zivilen wie
militärischen Krisenverhinderungsfähigkeiten aneinan-
der anlehnen. Entscheidend ist dabei, dass alle Staaten
gleichberechtigt sind – gleich wie groß sie sind, gleich
wie lange sie schon in der Europäischen Union sind,
gleich wie finanzstark sie sind.
Ein Anfang könnte sein, dass in diesen Staatengrup-
pen eine Angleichung der Ausbildungs- und Beschaf-
fungsprozesse erfolgt. Es könnten gemeinsame Projekte
– das wurde vorhin schon von Florian Hahn angespro-
chen –, zum Beispiel zur Luftbetankung, durchgeführt
werden. Es könnte außerdem – das ist das Wichtigste –
ein gemeinsam abgestimmtes, verlässliches Vorgehen
bei der Krisenbewältigung entwickelt werden.
Anlehnungspartnerschaft hilft auch bei den Sparan-
strengungen in den entsprechenden Verteidigungshaus-
halten. Ich glaube, sie zeigt erstmals den Weg auf, der
2005 und 2009 in den Koalitionsverträgen nur erwähnt
wurde. Die Vision einer europäischen Armee ist doch
viel leichter zu erreichen und in der Praxis umzusetzen,
wenn sich einzelne Staaten mit vergleichbaren Interes-
sen zu Gruppen zusammenschließen und sich später eine
europäische Armee aus den Kontingenten dieser einzel-
nen Staaten, die dann viel mehr Zusammenarbeit und
Struktur geschaffen haben, zusammensetzt. Ich glaube,
dieser Koalitionsvertrag kann europaweit ein Signal set-
zen.
Mein dritter Aspekt betrifft die Ertüchtigungsinitia-
tive. Sie zielt darauf ab, Partnerländer und regionale
Organisationen außerhalb der Europäischen Union zu
stärken, indem wir Ausbildungsangebote leisten, Bera-
tungsleistungen anbieten und natürlich durch die Zurver-
fügungstellung von Material unterstützen.
Im Übrigen hat sich Deutschland beim Europäischen
Rat mit vielen Konzepten und Ideen eingebracht. Wenn
dort bereits über unsere Ideen beraten wird, ist es viel
einfacher, diese umzusetzen, als erst beim Gipfel eigene
Ideen einzubringen. Deswegen danke ich allen, die be-
reits im Vorfeld intensiv daran mitgewirkt haben, unsere
neue Bundesregierung und unsere Bundeskanzlerin gut
aufzustellen, damit wir in Brüssel handlungsfähig sind.
Ich komme abschließend zur Beitrittsfrage betreffend
Serbien und Albanien. Unser Bundestag hat am 27. Juni
dieses Jahres eindeutige Bedingungen formuliert und ge-
fordert, dass die vollständige und nachhaltige Umset-
zung der Verpflichtung aus dem Implementierungsplan
festzustellen ist. Ich halte fest: Diese Forderungen sind
größtenteils umgesetzt. Man muss sich einmal vor Au-
gen führen, was vor einem Jahr von Serbien geleistet
wurde und was Serbien und Kosovo im vergangenen
Jahr an Fortschritten erzielt haben. Ich glaube, da hat die
aufmerksame Begleitung aus dem deutschen Parlament
heraus geholfen. Das sollten wir fortsetzen.
Nicht erfüllt ist die Forderung nach einem Neuaufbau
der Justizstrukturen im Nordkosovo. Allerdings haben
wir mehr Transparenz bei der Bezahlung serbischer Ein-
richtungen im Kosovo. Wir haben mehr Transparenz
beim Abbau der Parallelstrukturen. Wir haben endlich
Klarheit, dass auch die kosovarische Polizei serbische
Bewerber hat. Der Integrationswille wird also deutlich.
Wir sollten auf folgende drei Punkte achten:
Erstens. Es dürfen – im Gegensatz zum Fall Montene-
gro – keine andere Kapitel eröffnet werden als ausge-
macht. Insbesondere betone ich, dass die Verhandlungen
mit Kapitel 23 – die Grundrechte –, Kapitel 24 – die Jus-
tiz – und Kapitel 35 – die Beziehungen zum Kosovo –
des Koalitionsvertrages beginnen sollten.
Zweitens. Die serbischen Gemeinden dürfen kein
Staat im Staate Kosovo werden.
Drittens. Am Ende des Beitrittsprozesses muss ein-
deutig das Ziel einer rechtlich verbindlichen Vereinba-
rung, einer vollständigen Normalisierung der Lage und
einer De-facto-Anerkennung durch Serbien für den Ko-
sovo stehen.
Ich komme zu meinem letzten Punkt. Albanien hat
berechtigte Hoffnungen, zum Juni nächsten Jahres den
Kandidatenstatus zu erhalten. Wir in der CDU/CSU-
Fraktion können uns sehr gut vorstellen, dass dies zum
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 263
Roderich Kiesewetter
(C)
(B)
Juni nächsten Jahres erfolgt und die Beitrittsbemühun-
gen dieses Landes im Vergleich zu anderen durchaus
ehrgeiziger angegangen werden.
Meine Damen und Herren, unsere letzte Sitzungswo-
che fällt in eine bedeutende europäische Woche: Der
Staats- und Regierungsgipfel findet statt. Das bedeutet,
dass unser Bundestag Teil einer starken europäischen
Gemeinschaft ist. Wir sollten die nächsten vier Jahre
nutzen, um diese Gemeinschaft zu prägen, und zwar mit
Transparenz, mit klaren Informationen an unsere Bevöl-
kerung und mit der Bereitschaft, für eine stärkere zivil-
militärische Vernetzung in der Außen- und Sicherheits-
politik aufgeschlossen zu sein.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Hellmich
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue
mich, dass ich in dieser wichtigen Debatte zur Positio-
nierung der Bundesrepublik in der europäischen Diskus-
sion für meine Fraktion Stellung nehmen darf. Wir ha-
ben in den letzten Tagen sehr intensiv über Europa
diskutiert. Viele internationale Entscheidungen und Er-
eignisse in europäischen Staaten haben uns eigentlich
mehr Sorgenfalten ins Gesicht geschrieben als Freude
bereitet. Es wurde generell Zeit, dass es wieder einen eu-
ropäischen Gipfel zur Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik gibt. Seit 2008 ist eine lange Zeit
vergangen. Hohe Erwartungen sind formuliert.
Im Kern geht es bei diesem Gipfel darum, die verän-
derten Rahmenbedingungen für die europäische Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik zu erarbeiten. Die neuen
Gefahren und Herausforderungen für eine europäische
Strategie, zum Beispiel bei der Cyber Security, sind de-
tailliert dargestellt worden und werden breit diskutiert:
die Entwicklungen in der südöstlichen Nachbarschaft,
Flüchtlingsprobleme, die notwendigen Budgetkonsoli-
dierungen in allen europäischen Mitgliedstaaten, die
neue Konzentration der USA auf andere Regionen auf
unserem Globus, insbesondere auf Asien, aber vielleicht
auch die zunehmende Erkenntnis aller europäischen
Länder, dass kein europäisches Land für sich alleine die
Sicherheit der eigenen Bürgerinnen und Bürger mehr ge-
währleisten kann. Die Antwort auf diese Herausforde-
rungen ist, dass Europa seine Rolle im internationalen
Kontext stärker spielen muss; dies aber bitte abgestimmt
und gemeinsam und nicht getrennt und gegeneinander.
Rufen wir uns noch einmal die drei sogenannten
Körbe in Erinnerung, die beim Europäischen Rat disku-
tiert werden: Effizienz und die Wirksamkeit der GSVP
verbessern, zivile und militärische Fähigkeiten verbes-
sern sowie die Zusammenarbeit strategischer ausrichten
und die europäische Rüstungsindustrie stärken. Das sind
hohe Ziele, große Körbe mit vielen Inhalten und großen
Herausforderungen.
Ich freue mich, dass in diesem Zusammenhang gerade
die Aspekte der zivilen Zusammenarbeit und die Not-
wendigkeit der zivilen Maßnahmen in den Vordergrund
gestellt werden müssen und gestellt werden. Kern und
Ziel dieser Diskussion ist nicht, darüber zu reden, wie
man letztendlich in Einsätze geht, sondern wie man ro-
buste Einsätze verhindert, indem man nämlich über die
zivil-militärische Zusammenarbeit versucht, Konflikte
auf der Welt zu vermeiden und zu verhindern. Dazu die
bessere Abstimmung der europäischen Staaten zu errei-
chen, ist ein hehres Ziel und auch dringend nötig.
Die Ertüchtigungsinitiative zu einem Kern dieses Pro-
jektes zu machen, baut auf der bereits im Jahre 2011 ins
Leben gerufenen Ertüchtigungsinitiative auf. So sollen
die Partner und die jeweiligen regionalen Organisationen
in die Lage versetzt werden, selbst Verantwortung zu
übernehmen, selbst die eigenen Konflikte zu regulieren
oder zu vermeiden. Letztendlich dient es auch dem Ziel,
robuste Einsätze, in die wir gezwungen werden könnten,
zu verhindern.
Zu Ausbildungs- und Trainingsinhalten gehört natür-
lich nicht nur die Ertüchtigung der Einzelnen, die mit
dem System umzugehen haben, sondern es geht vor al-
lem um die Ertüchtigung und die richtige Nutzung der
Systeme selbst. Die Kombination von Ausbildung und
Ausrüstungsunterstützung muss wesentlich systemati-
scher geschehen als in der Vergangenheit. Dabei geht es
natürlich auch um einheitliche Waffensysteme. Darum
brauchen wir nicht herumzureden. Letztendlich hängt
die Möglichkeit, robuste Einsätze zu vermeiden, auch
mit der Ausrüstung der jeweiligen Region zusammen.
Die Strategie der NATO zur maritimen Sicherheit auf
die EU zu übertragen, wird dringend notwendig sein;
denn ohne sie wird es keinen Einsatz seitens der EU
mehr geben können. Es muss aber auch über die vor
zehn Jahren gegründeten und nie zum Einsatz gekomme-
nen EU-Battle-Groups nachgedacht werden. Eine dieser
Gruppen in eine Trainingsgruppe umzustrukturieren, ist
zwar in Ordnung, aber ob man dieses Konzept der Battle
Groups aufrechterhalten kann, wird auch auf diesem
Gipfel diskutiert werden.
Es müssen Fortschritte bei Pooling und Sharing er-
zielt werden. Das Leuchtturmprojekt des Lufttransport-
kommandos in Eindhoven wird als das Modell angese-
hen, das auf andere Bereiche übertragen werden kann.
Es muss mit aller Konsequenz vorangetrieben werden.
Um in den Bereichen Standardisierung und Zertifizie-
rung – dritter Korb – Fortschritte erzielen zu können, ist
die grundsätzliche Voraussetzung, dass in Europa Streit-
kräfte überhaupt zusammenarbeiten und kooperieren.
Das ist eine große Aufgabe der EDA.
Der Kollege Schockenhoff hat vorhin eingefordert,
man müsse eine europäische Strategie formulieren. Ja,
264 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Wolfgang Hellmich
(B)
ich bin sehr dafür. Aber solange man nur Strategien for-
muliert und vergisst, die Umsetzung in Angriff zu neh-
men, kann man sich an der Stelle eigentlich jede strategi-
sche Diskussion sparen.
Ich will im Hinblick auf die Frage der Kooperation
nur ein kleines Beispiel dafür nennen, wie es in den Tie-
fen und Niederungen der Politik jenseits der Höhen der
Programmformulierung aussieht: Das schwedische Un-
ternehmen Saab Training Systems ist selbstverständlich
eingeladen, sich für die Unterhaltung eines Gefechts-
übungszentrums in der Bundesrepublik zu bewerben,
und hat dies auch getan; das ist durchaus in Ordnung.
Gleichzeitig definiert aber Schweden seinen gesamten
Sicherheitsbereich als Closed Shop: Ausländische Un-
ternehmen haben keine Chance, sich für Projekte in
Schweden zu bewerben. Wenn das die Realität europäi-
scher Politik in ihren Niederungen ist, dann muss an der
Stelle irgendetwas nicht stimmen.
Ich glaube, dass wir in der Tat auch im Bereich der
staatlichen industrie- und rüstungspolitischen Ansätze
zur nötigen Offenheit kommen müssen. Solange staatli-
che industriepolitische Ansätze neben marktwirtschaftli-
chen Ansätzen existieren, und das auch noch in den bei-
den Nachbarländern Frankreich und Deutschland,
solange keine Marktzugangsgleichheit besteht, weil man
sich nicht an die Vorgaben zur europaweiten Ausschrei-
bung hält, und solange die europäischen Rüstungsexport-
richtlinien national je nach Belieben interpretiert wer-
den, solange all dies Realität ist, hat man eine Menge
mehr zu tun, als auf Gipfeln immer nur Programme zu
formulieren; man muss das tatsächlich in der Realität an-
packen.
Eine Marktbereinigung im Bereich der Rüstungs-
industrie nach dem Motto „Mal sehen, wem zuerst die
Luft ausgeht“ kann nicht der richtige Weg sein. Die bun-
desdeutsche Industrie hat nicht die Chance, sich über
den Staat zu refinanzieren, wie das in anderen europäi-
schen Ländern der Fall ist. Auch das ist ein Punkt, über
den bei der Frage der Rüstungspolitik gesprochen wer-
den muss, weil es an dieser Stelle keine Marktgleichheit
gibt. Das muss im Wesentlichen Gegenstand von bi- und
trilateralen Gesprächen zwischen England, Frankreich,
Italien und der Bundesrepublik sein; das sind die Länder,
um die es da im Kern geht. Ansonsten könnten wir uns
vorstellen, dass am Ende des ganzen Prozesses das pas-
siert, was wohl in der Türkei passieren sollte: Am Ende
stehen da chinesische Raketen. Das kann nicht im si-
cherheitspolitischen Interesse Europas und der Bundes-
republik liegen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie haben
gehört: Meine Erwartungen an die Ergebnisse dieses
Gipfels sind eher gedämpft; ich bin da nicht sehr eupho-
risch. Die Erfahrung, dass die einzelnen Nationen durch-
aus nicht bereit sind, ihre Kompetenzen aufzugeben, wo-
durch viele europäische Ansätze unterlaufen werden,
wird wohl auch hier im Zentrum stehen. Es ist der rich-
tige Ansatz, wenn tatsächlich Folgendes vereinbart wird:
In zwei Jahren findet ein weiterer Gipfel statt, bis dahin
wird ein Prozess der Evaluierung in Gang gesetzt, um zu
überprüfen, was bereits passiert ist. Wenn wir dann ein-
mal wissen, ob in Europa 3 000 Hubschrauber oder mehr
oder weniger, ob 1,5 Millionen Soldatinnen und Solda-
ten oder mehr oder weniger zur Verfügung stehen, wie
viele Schiffe, wie viele Flugzeuge vorhanden sind, dann
sind wir ein Stück weitergekommen. Ich denke, das ist
der richtige Weg. So können wir den nächsten Gipfel im
Jahre 2015 in den Blick nehmen und dort Konsequenzen
ziehen.
Ein letzter Punkt. Ich wäre sehr dafür, in Diskussio-
nen andere europäische Länder davon zu überzeugen,
dass unser Parlamentsvorbehalt richtig ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf!
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Brinkhaus.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie uns doch noch einmal über Banken reden. Herr
Dehm hat gerade gefragt, warum die SPD keine Wahl-
plakate gehabt hat, auf denen stand: Wir fordern das
Trennbankensystem. – Ganz einfach: Das entsprechende
Gesetz gibt es schon in Deutschland,
seit Juni dieses Jahres. Das haben Sie leider verpasst.
Frau Wagenknecht, wenn Sie so viele schlaflose
Nächte wegen der Derivate haben, muss ich Sie fragen:
Wo waren Sie denn in den letzten vier Jahren im Finanz-
ausschuss? Wo waren denn die Linken, als wir die Deri-
vate reguliert haben, als wir uns in unglaublich feinteili-
ger Kleinarbeit daran abgearbeitet haben? Da haben Sie
Volksreden gehalten. Im Übrigen ist das, was Sie sugge-
rieren, falsch, nämlich dass wir in Deutschland 300 Mil-
liarden Euro für die Bankenrettung ausgegeben haben.
Lassen Sie uns auch deshalb über Banken reden, weil
wir in den heutigen Tagen zwar nicht vor einem epocha-
len Schritt, aber vor einem Schritt in eine neue Epoche
stehen: die Einführung der Bankenunion. Ganz ehrlich:
Als die Kanzlerin am Morgen nach dem Gipfel, der am
29. Juni 2012 stattgefunden hat, wiederkam und sagte:
„Wir machen jetzt eine Bankenunion“, da hatte ich als
Finanzpolitiker so meine Zweifel. Da habe ich mir ge-
dacht: Wir haben schon so viel auf europäischer Ebene
gemacht, wir haben eine Aufsichtsbehörde, wir haben
ein einheitliches Regelwerk, und jetzt wollen wir auch
noch eine Bankenunion mit einheitlichen Aufsichtsme-
chanismen schaffen, die bei der EZB angesiedelt ist, mit
gleichen Regeln für die Abwicklung von Banken und
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 265
Ralph Brinkhaus
(C)
(B)
Veränderungen bei der Einlagensicherung – ist das denn
wirklich nötig?
Wenn man die Sache genauer betrachtet, stellt man
fest, dass das nicht nur richtig, sondern auch notwendig
ist; denn in den letzten fünf Jahren haben wir gelernt,
dass Banken mit ihren Geschäften vor nationalen Gren-
zen keinen Halt machen. Wir haben gelernt, dass Banken
in der Lage sind, ganze Volkswirtschaften zu verwüsten.
So war es in Zypern, in Irland und in Spanien. Stellen
Sie sich doch einfach einmal vor, was in der Schweiz
passieren würde, wenn dort eine der Großbanken in
Schieflage geraten würde. Wir haben noch etwas gelernt:
Wir sind mit unseren nationalen Gesetzen oft an Gren-
zen gestoßen, ob bei den Leerverkäufen, beim Hoch-
frequenzhandel oder beim Restrukturierungsgesetz. Wir
haben ferner gelernt, dass der Steuerzahler bei Banken-
schieflagen, bei Problemen am Kapitalmarkt viel zu früh
eingreifen musste, dass Aktionäre, dass Gläubiger viel
zu lange verschont worden sind. Ich glaube, dies sind
gute Gründe für eine europäische Lösung, für eine euro-
päische Bankenunion.
Die ist aber nicht so einfach. Sie könnten jetzt fragen:
Warum macht ihr das dann nicht? Warum ist das nicht
schon längst fertig? Stellen wir uns einfach einmal den
Verhandlungstisch in Brüssel vor und fragen uns, wer
was auf der Agenda stehen hat. Da sitzen Staaten, die
mit der Bankenunion die Möglichkeit verbinden, all ihre
bankbezogenen Altschulden auf den europäischen De-
ckel zu schreiben. Da ist die Europäische Kommission,
die sagt: Prima, jetzt haben wir einen super Schwung,
jetzt können wir unsere Kompetenz erweitern. Und da
sind wir und einige andere Staaten, die sagen: Na ja, wir
brauchen etwas, das rechtsfest ist, das nachhaltig ist, das
auch zukunftsfähig ist. Weil das so kompliziert ist, hat
der Deutsche Bundestag der Bundesregierung – jetzt
schaue ich auf die Sicherheitspolitiker der Bundesregie-
rung – ein robustes Mandat erteilt bzw. eine robuste Un-
terstützung zugesichert, indem er sich im Zuge der An-
nahme von Entschließungsanträgen dazu bereit erklärt
hat, Leitplanken zu setzen. Welche Leitplanken fordern
wir?
Herr Kollege Brinkhaus, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dehm?
Die Zwischenfrage des Kollegen Dehm ist mir sehr
willkommen, aber nur, wenn das keine Kurzintervention
ist, sondern tatsächlich eine Frage.
Ich will das Gefühl, bei Ihnen willkommen zu sein,
nicht überstrapazieren. – Es ist ein etwas merkwürdiges
Verständnis von einem Trennbankensystem, das Sie
möglicherweise im Kopf haben. Ich frage Sie, ob Sie
meine Irritation verstehen können. Die Deutsche Bank
ist bekanntlich eine der größten Investmentbanken der
Welt. Zur Deutschen Bank gehört auch die Postbank, die
Kunden betreut. Wo sehen Sie in Ihrem Trennbanken-
system die Trennung zwischen Investment und Kunden-
betreuung?
Wenn Sie sich das durchlesen, was wir in mühevoller
Kleinarbeit erarbeitet haben, dann stellen Sie fest, dass
wir bestimmte Geschäfte von dem Geschäft abspalten,
das Ihnen besonders wichtig ist. Wir haben das Einla-
gengeschäft und das klassische Bankgeschäft getrennt.
Im Übrigen ist das, was wir in Deutschland gemacht ha-
ben, dem ziemlich ähnlich, was in den USA gemacht
wurde. Also liegen wir damit gar nicht so schlecht.
Herr Kollege Brinkhaus, gestatten Sie eine weitere
Frage des Kollegen Sarrazin?
Dass am Ende der Debatte noch so viel Thermik auf-
kommt, ist unglaublich. Herr Kollege Sarrazin, für Sie
gibt es eigentlich erst gleich Anlass zu einer Zwischen-
frage.
Ich wollte das vorwegnehmen. – Herr Kollege
Brinkhaus, Sie haben gerade ausgeführt, die Bundes-
regierung würde für eine europäische Lösung bei der
Bankenunion einstehen. Vorgestern, glaube ich, war der
EZB-Chef Draghi im zuständigen Ausschuss des Euro-
paparlaments zu Gast. Dort hat er die Vorstellung
Deutschlands richtig harsch kritisiert und die Abgeord-
neten geradezu angefleht, das im Trilog wieder auf or-
dentliche Füße zu stellen, weil die gesamte Verhand-
lungslinie Deutschlands letztlich – Zitat; das ist auf
Englisch, ich muss es kurz übersetzen – ein Regime be-
deuten könnte, das nur dem Namen nach einheitlich sei.
Wie schätzen Sie das ein, und würden Sie vor dem Hin-
tergrund dieser Kritik von Herrn Draghi die Verhand-
lungsposition der Bundesregierung anders bewerten,
vielleicht als nicht im europäischen Sinne?
Lieber Herr Sarrazin, das Kapitel „Kritik der Grünen
und Kritik von Herrn Draghi an der deutschen Verhand-
lungsposition“ kommt gleich noch. Es wäre nett, wenn
Sie sich etwas gedulden könnten. Wenn ich dazu nichts
sage, können wir gerne in den Dialog eintreten. Das
kommt gleich noch, versprochen.
Ich möchte mit den Leitplanken, die wir gesetzt ha-
ben, weitermachen. Das Subsidiaritätsprinzip war uns
wichtig. Uns war wichtig, dass Banken nur dann Teil
dieses Systems werden, wenn sie einen Stresstest absol-
viert haben. Uns war wichtig, dass die finanziellen Las-
ten fair verteilt werden, und es war uns sehr wichtig,
dass das bewährte Einlagensicherungssystem, insbeson-
dere die Institutssicherung der Sparkassen und Volks-
banken, unberührt bleibt. Ich muss ganz ehrlich sagen,
266 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Ralph Brinkhaus
(C)
(B)
dass die Bundesregierung in ihren Verhandlungen – das
waren sehr harte Verhandlungen, die auch sehr viel Kri-
tik hervorgerufen haben; Sie haben es gesagt, Herr
Sarrazin – ziemlich viel erreicht hat: Wir haben ein ein-
heitliches Aufsichtssystem, das im Jahr 2014 an den
Start gehen wird. Das Subsidiaritätsprinzip wird berück-
sichtigt. Die kleineren Banken sind davon ausgenom-
men. Es wird einen Stresstest geben. Die Unabhängig-
keit der EZB wird gewahrt bleiben.
Wir sind auch bei der Schaffung eines einheitlichen
Aufsichtsmechanismus auf der Zielgeraden. Das ist der
Grund, warum Herr Schäuble heute nicht hier ist. Die
Bundeskanzlerin wird den Mechanismus auf dem Gipfel
mit beschließen. Wir werden einen Aufsichtsmechanis-
mus haben. Wir werden auch einen Fonds haben, durch
den es eine Haftungskaskade, also das, was wir immer
gefordert haben, geben wird. Das bedeutet, dass zuerst
die Anteilseigner der Banken herangezogen werden,
dass dann die Gläubiger mit Ausnahme der Kleinanleger
herangezogen werden, dass dann der von Banken finan-
zierte Fonds herangezogen wird und dass erst zum
Schluss der Steuerzahler herangezogen wird. Ich glaube,
dass das gut ist.
Jetzt kommen wir zur Kritik der Grünen und dazu,
warum sie unberechtigt ist. Ihr erster Kritikpunkt ist, das
gehe alles nicht schnell genug, wir seien ja schon andert-
halb Jahre damit beschäftigt. Dazu sagen wir: Qualität
geht vor Schnelligkeit. Es sind so viele Details zu klären.
Wir haben das ja bei unseren Beratungen zur Bankenab-
gabe und zum Restrukturierungsgesetz gesehen. Es ist
gut, dass wir uns die Zeit nehmen. Das ist besser, als
schnell irgendwelchen Unsinn zu verabschieden.
Jetzt kommen wir zum zweiten Kritikpunkt, der Ihnen
besonders am Herzen liegt. Die Grünen sagen – Herr
Draghi hätte das auch gerne –: Banken haben solch eine
Sprengkraft, das überfordert Nationalstaaten, also lasst
uns doch sofort alles auf einen Deckel schreiben, lasst
uns doch für Banken Euro-Bonds durch die Hintertür
einführen. – Wir sind natürlich dagegen. Wir wollen die
Nationalstaaten nicht aus der Verantwortung entlassen;
denn das Schicksal, das Wohl und Wehe von Banken,
wird ja nicht nur durch Regulierung beeinflusst, sondern
auch durch eine falsche Steuerpolitik wie in Frankreich,
dadurch, dass es keine Administration gibt wie in Grie-
chenland, durch eine falsche Wirtschaftspolitik, die Im-
mobilienblasen hervorruft wie in Spanien.
Ganz ehrlich, Herr Sarrazin, wenn ich auf die letzten
vier Jahre zurückblicke, muss ich sagen: Wenn wir seit
2010 immer das gemacht hätten, was die Grünen und an-
dere europäische Staaten von uns gefordert haben, dann
hätten wir Deutschland schon dreimal verschenkt, ohne
irgendeine Reform zu bewirken.
Unter dem Strich bleibt zu sagen: Ich habe am An-
fang darauf hingewiesen, dass ich immer gewisse Be-
denken habe, Kompetenzen nach Europa zu übertragen.
Ich glaube, das hat gute Gründe. Nicht jeder in Brüssel
hat das Subsidiaritätsprinzip verstanden. Die Geschich-
ten von Ölkännchen in Restaurants bis zu Glühbirnen
sind Legion. Aber wenn es an einer Stelle Sinn macht,
Dinge europäisch zu lösen, dann ist das bei der Banken-
union. Insofern ist es gut und richtig, dass wir das ma-
chen.
Es ist ebenfalls gut und richtig, dass sich der Bundes-
tag – übrigens auch aufgrund von Anträgen der damali-
gen Opposition – sehr intensiv mit dieser Sache beschäf-
tigt hat. Ich glaube, es muss zu unserem neuen
Selbstverständnis gehören, dass wir, wenn Dinge auf eu-
ropäischer Ebene geregelt werden, nicht aus der Verant-
wortung entlassen sind. Wir sind dazu aufgerufen, uns
zu positionieren. Wir sind dazu aufgerufen, der Regie-
rung für die Verhandlungen im Rat ein robustes Mandat,
eine robuste Unterstützung mit auf den Weg zu geben.
Das haben wir an dieser Stelle sehr vorbildlich gemacht,
und die Regierung hat das sehr vorbildlich umgesetzt.
Ich glaube, das kann für diese Legislaturperiode stilprä-
gend werden. So wie bei der Bankenunion sollten wir
auch mit anderen europäischen Fragen umgehen.
Mir bleibt an dieser Stelle noch, dem Bundesfinanz-
minister und der Bundeskanzlerin viel Erfolg, viel Glück
und auch einen starken Willen bei diesen Verhandlun-
gen, die tatsächlich sehr hart sind, zu wünschen. Wir alle
wollen eine Bankenunion, weil wir der festen Überzeu-
gung sind, dass eine gut organisierte Bankenunion – ich
betone: gut organisierte – ein weiterer wichtiger Schritt
ist, um die Finanzmärkte sicherer und besser zu machen.
Dafür sind wir alle vor fünf Jahren nach der Finanzkrise
angetreten. Wir haben viel geliefert. An dieser Stelle
müssen wir noch liefern, und das tun wir jetzt.
Danke schön.
Als letzter Redner in dieser Debatte spricht jetzt der
Kollege Gunther Krichbaum von der CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Brinkhaus hat gerade der Bundeskanzlerin und
dem Bundesfinanzminister gratuliert und ihnen alles
Gute gewünscht. Ich möchte von meiner Seite die guten
Wünsche und Gratulationen an den neuen alten Bundes-
außenminister, Herrn Steinmeier, nachholen. Wir freuen
uns, wenn ich das so für die Europapolitiker sagen darf,
auf eine gute und fruchtbare weitere Zusammenarbeit
und wünschen alles Gute.
Viele Themen, die jetzt beim Europäischen Rat eine
Rolle spielen werden, wurden schon angeschnitten, na-
mentlich auch die Situation in Irland.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 267
Gunther Krichbaum
(B)
In der Tat – ich glaube, wir sagen das nicht zu häufig,
sondern noch zu selten –: Die Rettungspolitik, die die
Europäische Union und die Euro-Zone an den Tag gelegt
haben, ist überaus erfolgreich. Das gilt insbesondere für
die Arbeit, die Klaus Regling als Chef des ESM geleistet
hat, indem er kompetent und im Stillen sehr vieles beein-
flusst hat.
Die Bürger haben in den letzten Jahren zunehmend
den Eindruck gewonnen, als müsse jedes Land noch ir-
gendwie unter einen Rettungsschirm passen, bis man
sich am Ende gemeinsam in einer Höhle befindet. Nein,
es ist Licht am Ende dieses Tunnels. Dass Irland den
Rettungsschirm als erstes Land verlassen kann, ist ein
ermutigendes Signal für alle weiteren Länder; Portugal
wurde schon erwähnt. Hier sind wir auf einem guten
Weg.
Auf dem Europäischen Rat werden natürlich nicht nur
Albanien und Serbien eine große Rolle spielen; hierzu
hat Kollege Kiesewetter das Erforderliche gesagt. Nur
ganz kurz: Ja, wir können es begrüßen, dass Albanien
zum 1. Juli 2014 den Kandidatenstatus bekommen wird.
Es werden damit aber noch keine Entscheidungen da-
rüber getroffen – das muss man in der Öffentlichkeit im-
mer wieder sagen –, wann Beitrittsverhandlungen aufge-
nommen werden. Aber es gilt, auch dieses Land an die
Standards der Europäischen Union heranzuführen.
Auch die Entscheidung, am 1. Januar 2014 mit Bei-
trittsverhandlungen mit Serbien zu beginnen, ist vertret-
bar. Wenn ich „vertretbar“ sage, dann deswegen, weil die
dicken Brocken am Anfang der Verhandlungen wegge-
räumt werden müssen. Das betrifft die Kapitel 23 und 24,
in denen es um die Bereiche „Justiz und Grundrechte“
sowie „Sicherheit, Freiheit und Recht“ geht, aber auch
das Kapitel 35, das unter anderem die gutnachbarschaft-
lichen Beziehungen beinhaltet. Was die gutnachbar-
schaftlichen Beziehungen betrifft, müssen wir darauf
achten, dass sich aus dem Abkommen, das jüngst zwi-
schen Serbien und dem Kosovo unterzeichnet wurde,
auch gute nachbarschaftliche Beziehungen entwickeln.
Es reicht nicht aus, dieses Thema in ein einziges Kapitel
zu packen und zu denken, damit sei alles erledigt. Nein,
der Gedanke der gutnachbarschaftlichen Beziehungen
muss sich vielmehr wie ein roter Faden durch die Bei-
trittsverhandlungen ziehen. Denn wenn ein Land Mit-
glied der Europäischen Union werden will, dann muss es
grenzüberschreitend denken und auch grenzüberschrei-
tend handeln. Auch hierzu eine persönliche Bemerkung
meinerseits: Mir fehlt in der serbischen Politik bisweilen
eine kritische Selbstreflexion im Hinblick auf die eigene
Geschichte.
Erst wenn diese erfolgt, ist eine Gesellschaft für weitere
Entwicklungen offen.
Die Östliche Partnerschaft, namentlich die Partner-
schaft mit den sechs Ländern Aserbaidschan, Armenien,
Weißrussland, Georgien, Moldau und Ukraine, wurde
2008 in dem Bewusstsein, aber auch mit dem Ziel ini-
tiiert, dass wir diese Länder gezielt an die Standards der
Europäischen Union heranführen wollen, ohne aller-
dings eine Aussage darüber zu treffen, ob es ihnen eines
Tages möglich sein wird, Mitglied der Europäischen
Union zu werden.
Die Europäische Union hat ein großes Interesse da-
ran, zu verhindern, dass es an ihren Außengrenzen ein
großes Gefälle gibt, sei es ein Gefälle wirtschaftlicher
Art, sei es eines im Bereich von Demokratie und Rechts-
staatswesen. Ein solches Gefälle würde automatisch zu
Spannungen führen, und solche Spannungen sind nie zu
unserem Vorteil. Das sehen wir gerade auch bei den Um-
brüchen in den nordafrikanischen Ländern.
Wenn wir die Östliche Partnerschaft weiterhin ernst
nehmen, dann müssen wir in diesem Bereich mehr tun.
Die Östliche Partnerschaft ist, obwohl es ernsthafte
Rückschläge gibt, nicht tot, wie manche vielleicht be-
fürchten. Die Eurasische Zollunion wurde angesprochen,
und auch die Situation in Russland wurde schon er-
wähnt; das muss ich an dieser Stelle nicht weiter vertie-
fen. Die betreffenden Länder haben allerdings unsere
Rückendeckung verdient. Ich meine damit zum einen die
Ukraine, zum anderen Moldau. Georgien ist auf einem
durchaus respektablen Weg. Aber die Entwicklungen in
anderen Ländern sind wohl eher ernüchternder Natur, als
dass sie ermutigend wären.
Gleichwohl: Für Moldau wünsche ich mir persönlich
mehr Aufmerksamkeit hier im Deutschen Bundestag.
Dieses Land ist oft eher im toten Winkel der Europapoli-
tik, als dass es im Zentrum stünde. Mit dem Transnis-
trien-Konflikt haben wir einen sogenannten Frozen Con-
flict mitten in Europa. Die russische Regierung hat
abermals verkündet, dass moldauischer Wein – eines der
Hauptexportgüter der Republik Moldau – den techni-
schen Standards, die für den Export nach Russland gel-
ten, nicht entspreche. Europa hat reagiert: Die Europäi-
sche Union hat die Bedingungen für den Import
moldauischen Weins gelockert. Das ist wichtig; aber die
moldauische Regierung braucht unsere Unterstützung.
Iurie Leanca hat nach schwierigen Monaten in der Ver-
gangenheit jetzt als Premierminister das Zepter in der
Hand. Er geht entschlossen den Weg nach Europa und ist
sich der Risiken – gerade des Risikos russischer Repres-
sionen – voll bewusst.
Ein Wort auch noch zur Ukraine. Ich glaube, wir soll-
ten die Ukraine, vor allem die Regierung der Ukraine,
nicht nur in einer Opferrolle sehen; das würde der Regie-
rung Janukowitsch, mit Verlaub, nicht gerecht. Ich habe
in diesen Tagen öfters gelesen, die Ukraine-Politik der
Europäischen Union sei gescheitert. Umgekehrt wird ein
Schuh daraus: Die Europapolitik der Regierung
Janukowitsch ist gescheitert. Ein Beispiel aus jüngster
Vergangenheit: Janukowitsch hat die Ausreise Julija
Timoschenkos zunächst bejaht; anschließend hat er sie
in der Rada, dem ukrainischen Parlament, jedoch wieder
hintertrieben, sodass das Parlament sie eben nicht mehr
gutgeheißen hat. Ich könnte viele andere Beispiele nen-
nen. Die Ukraine muss sich entscheiden, welchen Weg
sie gehen möchte. – Die Ukraine ist ein Land, das inner-
268 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Gunther Krichbaum
(C)
(B)
lich fast zerrissen ist zwischen dem östlichen Teil – der
Region Donezk, dem ganzen Donbass-Becken –, in dem
ausschließlich Russisch gesprochen wird, und dem west-
lichen Teil – um Lemberg und andere Städte herum –,
wo Ukrainisch gesprochen wird und man sich schon seit
vielen Jahren der Europäischen Union annähern möchte.
Deswegen werden wir das beherzte weitere Vorgehen
der Ukraine auf diesem Weg unterstützen. Aber es ist
wichtig, darauf hinzuweisen: Ein Land, das sich der Eu-
ropäischen Union annähern möchte, muss auch dazu be-
reit sein, die Standards der Europäischen Union und die
Werte der Europäischen Union zu teilen – wie Frieden,
wie Freiheit, wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt an-
sprechen: Ich denke, es ist wichtig, dass wir – wir alle in
unseren Fraktionen und Parteien – die Arbeit unserer ei-
genen Stiftungen, die mit ihren Rechtsstaatsprogrammen
vor Ort eine hervorragende Arbeit machen, stärken.
Ich habe in diesen Tagen einer sozusagen Brandmail
der Bundestagsverwaltung entnommen, dass sich noch
zu wenige Kolleginnen und Kollegen bereit erklärt ha-
ben, IPSler – die Kollegen wissen, wovon ich rede – auf-
zunehmen. Ich glaube, es wäre an der Zeit, noch einmal
zu überlegen, ob die Büros in dieser Zeit nicht noch den
einen oder anderen Praktikanten, besonders aus diesen
Ländern, aufnehmen können. Jeder von uns kann hier
seinen persönlichen Beitrag leisten.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/198. Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der
Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/199. Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, Bündnis 90/Die
Grünen und SPD abgelehnt gegen die Stimmen der Frak-
tion Die Linke.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/192. Mir liegt eine Erklärung
nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die wir zu Proto-
koll nehmen.1) Wer stimmt für den Entschließungsan-
trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Antrag ist
mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD
1) Anlage 2
und Linken gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.
Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 18/196 soll zur federführen-
den Beratung an den Auswärtigen Ausschuss und zur
Mitberatung an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung, den Verteidigungs-
ausschuss, den Ausschuss für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung und den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union über-
wiesen werden. Gibt es dazu weitere Vorschläge? – Ich
sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Fünf-
– Drucksache 18/200 –
Überweisungsvorschlag:
Hauptausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Fünf-
– Drucksache 18/201 –
Überweisungsvorschlag:
Hauptausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Große Koalition ist im Amt, und wir beginnen
gleich intensiv mit der inhaltlichen Arbeit, nämlich der
Gesetzgebung im Gesundheitsbereich.
Wir setzen mit diesen beiden Entwürfen für Arznei-
mittelgesetze zum einen das um, was wir zwischen den
Koalitionspartnern vereinbart haben. Viel wichtiger ist
aber: Wir setzen damit zum anderen auch das um, was in
den Debatten der letzten Monate – ich glaube, fraktions-
übergreifend von denjenigen, die die gesundheitspoliti-
schen Debatten verfolgen – als das Richtige erkannt
worden ist.
Worum geht es? Wir haben das jahrzehntelange Preis-
monopol der Pharmaindustrie in Deutschland mit dem
Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz ab 2011 im
Grunde gebrochen und erstmalig in der Geschichte der
Bundesrepublik gesagt: Ein neues Arzneimittel hat nicht
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 269
Jens Spahn
(C)
(B)
den Preis, den der Hersteller für die Patentlaufzeit fest-
setzt. – Wir sind die Tatsache angegangen, dass es in
Deutschland – das wurde vielfach gesagt – die höchsten
Arzneimittelpreise in Europa gibt, und haben beschlos-
sen, dass sich ein neues Arzneimittel in Zukunft bewei-
sen und zeigen muss, dass es besser als die Medikamente
ist, die bereits auf dem Markt sind. Deswegen führen wir
eine Nutzenbewertung durch, anschließend wird der
Preis auf Basis dieser Nutzenbewertung verhandelt und
festgelegt. Im Zuge der Umsetzung dieses Gesetzes ha-
ben wir gesagt: Das soll auch für Medikamente gelten,
die schon vor 2011 auf dem Markt gewesen sind.
Nun stellt sich heraus – das bestreitet auch niemand –,
dass es bei diesem sogenannten Bestandsmarkt, also den
Medikamenten von vor 2011, rechtliche, verfahrenstech-
nische und auch praktische Probleme bei der Umsetzung
einer solchen Nutzenbewertung gibt. Deswegen und
weil es für Hunderttausende Patientinnen und Patienten
in Deutschland Folgen hätte, deren Medikamente mögli-
cherweise nicht mehr verfügbar wären, wenn die Dinge
nicht wissenschaftlich fundiert nach alter Rechtslage ab-
gehandelt werden können, macht es aus unserer Sicht
Sinn, dass wir diesen Bestandsmarktaufruf beenden. Das
ist Bestandteil des einen Gesetzentwurfes.
Gleichzeitig sagen wir aber: Das, was wir im Bereich
der Arzneimittel sparen wollten und wollen, werden wir
durch andere Instrumente im Sinne der Versicherten und
der Beitragszahler einsparen. Deswegen wollen wir das
sogenannte Preismoratorium fortsetzen. Das heißt, für
diese Medikamente gilt der Preis vom 1. August 2009
weiter fort. Das würde sonst zum Ende dieses Jahres be-
endet werden.
Das werden wir durch die Gesetzgebung jetzt recht
zügig regeln können. Ich danke Grünen und Linken in
der Opposition ausdrücklich dafür, dass sie verfahrens-
technisch nichts dagegen haben, sodass wir das noch in
diesem Jahr sehr kurzfristig – heute in erster Lesung und
morgen in zweiter und dritter Lesung – beenden und
rechtssicher regeln können. Denn es besteht Konsens da-
rüber, dass die Preise in diesem Bereich Anfang des Jah-
res nicht steigen sollen.
Wir wollen die Preise dann erst einmal bis 2017 auf
diesem Niveau einfrieren und gleichzeitig den Zwangs-
rabatt von 6 auf 7 Prozent erhöhen. Er ist schließlich
dem sehr hohen Umsatz, den die Pharmaindustrie mit
der gesetzlichen Krankenversicherung macht, geschul-
det.
Alles in allem – das ist, glaube ich, die entscheidende
Botschaft – ist das ein klassischer, guter Kompromiss,
der besagt: Wir behalten das Instrument der Nutzenbe-
wertung von Arzneimitteln, wonach neue Medikamente
zeigen müssen – das gilt auch in Zukunft weiter –, dass
sie besser sind als das, was wir schon haben; sie müssen
ihren höheren Preis rechtfertigen. Dabei bleiben wir, das
setzen wir fort. Aber da, wo es in der Umsetzung rechtli-
che und praktische Probleme gibt, korrigieren wir.
Gleichzeitig wollen wir es möglich machen, dass die
Versicherten und die Beitragszahler profitieren und auch
sparen können. Deswegen beginnen wir heute mit der
entsprechenden Gesetzgebung, die aufgrund der Fristab-
läufe dringend ist, und werden das dann gemeinsam in
den nächsten zwei Tagen fortführen.
Ich will abschließend an dieser Stelle dem neuen
Bundesgesundheitsminister ganz herzlich gratulieren.
Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion freuen uns auf
eine gute Zusammenarbeit. Alles Gute!
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kathrin Vogler von
der Linken.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Heute liegen uns zwei Gesetzentwürfe
der Regierungskoalition zur Arzneimittelpolitik vor.
SPD und Union wollen das Preismoratorium für Arznei-
mittel ohne Festbetrag verlängern, damit die Preise nicht
wieder in den Himmel steigen. Ich sage ganz deutlich:
Ich freue mich, dass Sie hiermit ein Anliegen der Linken
aufgegriffen haben,
das wir schon im Juni in Form eines Antrags in den Bun-
destag eingebracht haben.
Tatsächlich drängt jetzt die Zeit; denn würde der
Preisstopp nicht noch diese Woche verlängert, dann
drohten ab dem 1. Januar 2014 Mehrausgaben für die ge-
setzlichen und auch für die privaten Krankenversiche-
rungen in Höhe von schätzungsweise 600 Millionen
Euro jährlich. Weil Sie ja im Koalitionsvertrag festge-
schrieben haben, die Arbeitgeberbeiträge nicht zu erhö-
hen, müssten diese Mehrausgaben, genau wie alle ande-
ren Kostensteigerungen, allein von den Versicherten
getragen werden. Das Preismoratorium ist also notwen-
dig und dringlich. Deswegen wird die Linke diesem Ge-
setzentwurf morgen zustimmen, und deswegen haben
wir auch dem beschleunigten Verfahren zugestimmt.
Der zweite Gesetzentwurf jedoch findet ebenso klar
nicht unsere Zustimmung. Sie wollen den Rabatt, den
alle Hersteller den gesetzlichen Krankenkassen einräu-
men müssen, von 6 auf 7 Prozent anheben. Dafür fällt
aber der Sonderrabatt von 10 Prozent auf die nicht fest-
betragsfähigen Arzneimittel zum Ende des Jahres weg.
Das bedeutet Kostendämpfung mit dem Rasenmäher an-
statt gezielter Politik gegen die Mondpreise der for-
schenden Pharmaindustrie.
Wir als Linke sagen: Wirkliche Innovationen, also
neue Mittel, die echte Fortschritte im Sinne der Therapie
bedeuten, sollen gut bezahlt werden. Scheininnovationen
hingegen – das ist leider die große Masse – dürfen nicht
teurer sein als bewährte Medikamente mit demselben
Nutzen.
270 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Kathrin Vogler
(C)
(B)
Damit kommen wir zum zweiten Teil des zweiten
Gesetzentwurfes. Sie wollen nämlich Arzneimittel, die
schon vor 2011 auf dem Markt waren, von der Nutzen-
bewertung freistellen. Seit 2011 gilt nämlich das Arznei-
mittelmarktneuordnungsgesetz, das AMNOG. Das re-
gelt, dass alle neuen Arzneimittel auf dem Markt auf
ihren Nutzen für die Patientinnen und Patienten über-
prüft werden, bevor Krankenkassen und Unternehmen
miteinander einen Preis vereinbaren. Das Prinzip in
Kürze: Was nicht mehr bringt als ein vorhandenes Medi-
kament, das soll auch nicht mehr kosten dürfen. Gut so
weit.
Auf Anfrage der Linksfraktion antwortet uns jetzt die
Bundesregierung, dass aktuell von den 243 patentierten
Arzneimitteln noch 199 auf diese Nutzenbewertung war-
ten. Tatsache ist, dass das Einsparpotenzial durch die
Nutzenbewertung, das uns damals die schwarz-gelbe
Koalition auf 2 Milliarden Euro jährlich beziffert hat,
noch nicht annähernd erreicht ist. Schon allein dies wäre
ein hinreichender Grund, an der Nutzenbewertung auch
für ältere Medikamente festzuhalten.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass bislang
nicht mehr als 180 Millionen Euro jährlich durch dieses
Verfahren eingespart werden. Bei einem Gesamtvolu-
men von 29,2 Milliarden Euro jährlich ist das kaum
mehr als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein.
Viel gravierender aus der Sicht der Patientinnen und
Patienten ist doch, dass Sie mit dem Verzicht auf die
Nutzenbewertung des Bestandsmarktes ohne Not ein In-
strument der Qualitätssicherung aus der Hand geben. Ich
zitiere aus Ihrem Koalitionsvertrag.
– Ja, ich habe ihn gelesen. Sie auch?
Darin heißt es im ersten Satz zum Abschnitt Gesund-
heitspolitik:
Im Zentrum unserer Gesundheitspolitik stehen die
Patientinnen und Patienten und die Qualität ihrer
medizinischen Versorgung.
Die Unterschrift unter der Ernennungsurkunde des
neuen Gesundheitsministers, dem auch ich herzlich gra-
tuliere, ist noch nicht ganz trocken, da erweist sich dieser
Satz schon als hohle Phrase. Wenn es nämlich konkret
wird, dann kapitulieren Sie doch leider wieder vor der
Industrie und deren wirtschaftlichen Interessen.
Als Begründung hat uns der Kollege Spahn gerade
die Schwierigkeiten, die das Verfahren zweifelsohne
macht, genannt. Denn die Unternehmen wehren sich mit
Klagen gegen die Einschränkung ihrer Profitmöglichkei-
ten. Sie wollen eben keine unabhängige Prüfung ihrer
Produkte. Das ist aus deren Sicht auch absolut nachvoll-
ziehbar: Unternehmen handeln im Interesse ihrer Aktio-
näre. Aber Sie als Bundesregierung, die hier im Hause
eine Mehrheit von 80 Prozent haben, sollten Politik für
die Mehrheit der Menschen machen und nicht für die
Minderheit der Aktionäre.
Daran werden wir als Linke Sie immer wieder erin-
nern. In diesem Sinne freue ich mich schon sehr auf die
Beratungen zu diesem zweiten Gesetzentwurf im Ge-
sundheitsausschuss.
Danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Karl Lauterbach.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister, auch
ich darf Ihnen im Namen meiner Fraktion zum neuen
Amt ganz herzlich gratulieren. Ich will hier nicht öffent-
lich darüber spekulieren, wer dort auch gerne gesessen
hätte.
Aber, wie gesagt, ich freue mich auf eine gute Zusam-
menarbeit und darf mich auch ganz herzlich für die Un-
terstützung bedanken, die Ihr Haus bei der Vorbereitung
dieser ersten wichtigen Gesetzesinitiative geleistet hat.
Wir werden als Große Koalition im Bereich der Ge-
sundheitspolitik viel bewegen. Wir haben diesem Be-
reich einen hohen Stellenwert eingeräumt, und wir wol-
len hier keine kleinen Brötchen backen. Das zeigt der
Koalitionsvertrag. Wir wollen Schwerpunkte bei einer
pragmatischen Politik setzen,
die konkrete Verbesserungen für Patienten, Pflegebe-
dürftige, Angehörige, Versicherte, Pflegekräfte, Ärzte
und andere Gesundheitsberufe in den Vordergrund stellt.
Wir wollen das nicht gegen die Interessen der Wirtschaft
machen. Das ist ganz klar.
Eine gute Gesundheit der Bevölkerung hilft der Wirt-
schaft mehr als alles andere. Wir werden die Produktivi-
tät dieser Gesellschaft und auch den sozialen Zusam-
menhalt nur erhalten können, wenn wir in die
Gesundheit aller Menschen investieren. Das wird der
Schwerpunkt der Arbeit dieser Großen Koalition sein
müssen.
Daher ist es auch kein Zufall gewesen, dass wir in den
Koalitionsverhandlungen mit dem Bereich Gesundheit
zuerst fertig gewesen sind. Es ist auch kein Zufall, dass
wir den ersten Gesetzentwurf im Bereich der Gesund-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 271
Dr. Karl Lauterbach
(C)
(B)
heitspolitik – für die erste, zweite und dritte Lesung –
einbringen. Es ist ein Gesetz mit Augenmaß. Es ist ein
Gesetz, mit dem wir einen Preisanstieg für die Arznei-
mittel unmittelbar im Januar abwenden können. Die
gleichen Medikamente würden ohne dieses Gesetz ohne
Begründung sofort teurer werden.
Wir bringen auch einen weiteren Gesetzentwurf mit
Augenmaß ein, der den Rabatt bei Arzneimitteln lang-
fristig sicherstellen wird: Der Rabatt wird von 6 Prozent
auf 7 Prozent erhöht werden.
Dieser Rabatt kann bei Bedürftigkeit der gesetzlichen
Krankenversicherung zu jedem Zeitpunkt auch darüber
hinaus erhöht werden. Das ist somit eine Augenmaßent-
scheidung. Ein höherer Rabatt wäre angesichts der Über-
schüsse der Krankenkassen zum jetzigen Zeitpunkt
kaum rechtlich vertretbar gewesen. Aber ein höherer Ra-
batt ist dann vertretbar, wenn die Finanzlage der gesetz-
lichen Krankenkassen es notwendig macht. Das ist also
eine pragmatische, gute Lösung.
Man darf nicht unterschätzen, dass wir vereinbart ha-
ben, das Verfahren der Bewertung des Nutzens der Me-
dikamente und der Preise im Rahmen des AMNOG zu
verbessern und fortzuführen. Das wird langfristig zu ei-
nem besseren Kosten-Nutzen-Verhältnis in der Arznei-
mitteltherapie führen und einen wesentlichen Beitrag zur
Sicherheit der Versorgung leisten. Nur noch Medika-
mente, die in Zukunft zugelassen werden, unterliegen
einmal diesem unabhängigen, freien Verfahren. Somit
können die gleichen Wirkstoffe nicht mehrfach teuer
verkauft werden. Damit sorgen wir für eine wesentliche
Verbesserung.
Des Weiteren schaffen wir Regelungen, die sicherstel-
len, dass die Verfahren zur Bewertung von Medikamen-
ten auf dem Bestandsmarkt, die zurzeit laufen, rechtsfest
zu Ende geführt werden. Wie Sie wissen, Frau Vogler,
geschieht dies gegen den Widerstand der Arzneimittelin-
dustrie. Wir führen diese Verfahren sauber zu Ende – ge-
gen den Widerstand der betroffenen Unternehmen. Wir
wollen in Anbetracht der anderen wichtigen Schwer-
punkte, die wir zu setzen haben, den Bestandsmarkt auf
seine Sicherheit prüfen, ihn aber nicht einem Kosten-
Nutzen-Verfahren unterwerfen, das sehr bürokratisch ge-
wesen wäre und letztendlich kaum Ertrag gebracht hätte.
Ich glaube, es handelt sich um ein Gesetz mit Augen-
maß.
Gerade die Gesetzgebung zum Preismoratorium wer-
den wir nur mit Ihrer Hilfe zu Ende bringen können. Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und
von der Linksfraktion, haben das Verfahren mitgetragen.
Dafür möchte ich mich im Namen meiner Fraktion ganz
herzlich bedanken. Es ist ein wichtiges Signal, dass Sie
an den Stellen mitarbeiten, wo wir gemeinsam Interes-
sen der Patienten vertreten.
Der Schwerpunkt unserer Arbeit wird auf der konkre-
ten Verbesserung der Behandlung der Patienten liegen.
Wir werden neue Programme einführen, zum Beispiel
für die Behandlung von chronisch Kranken mit Depres-
sionen und Rückenleiden. Wir werden für eine bessere
Verteilung bei den Hausärzten sorgen. Wir werden dort,
wo Facharztmangel herrscht, die Krankenhäuser für die
fachärztliche Versorgung öffnen. Wir werden in überver-
sorgten Gebieten die kassenärztlichen Vereinigungen
zwingen, die Arztsitze zurückzukaufen. Wir werden ver-
pflichtend vereinbaren, dass jeder Patient innerhalb von
vier Wochen einen Facharzttermin bekommt. Damit leis-
ten wir einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der
Zweiklassenmedizin.
Wir werden viele Regelungen treffen, die die Versor-
gung in Deutschland pragmatisch und konkret verbes-
sern. Das ist unsere Aufgabe in der Großen Koalition.
Zum Schluss bedanke ich mich ganz herzlich bei den
Verhandlungspartnern von der Union. Wir haben aus
meiner Sicht für die Große Koalition im Gesundheitsbe-
reich ehrgeizige und gute Ziele vereinbaren können. Ich
hoffe, dass wir diese zusammen mit Ihnen, Herr Gröhe,
auch erreichen werden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Harald Terpe von
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch von meiner Seite herzlichen Glückwunsch, Herr
Minister Gröhe. So neu und überraschend die Materie
für Sie vielleicht sein mag, so überraschend ist es natür-
lich auch, dass das erste Fachgesetz in dieser Legislatur-
periode ein Gesundheitsgesetz ist. Aber wie es immer so
ist: Ins Wasser geworfen zu werden, ist die beste Me-
thode, um schwimmen zu lernen. Auf gute Zusammenar-
beit!
Durch informelle Gespräche ist es gelungen, für ein
erstes eilbedürftiges Gesetz ein Verfahren zu wählen,
das, was die Fachlichkeit betrifft, einen regulären Pro-
zess mit Anhörung sowie zweiter und dritter Lesung er-
möglicht. Damit haben wir als Parlamentarier eine erste
Bewährungsprobe gut bestanden. Vielleicht ist das auch
ein hoffnungsvoller Anfang im Umgang mit der Opposi-
tion. Vielen Dank dafür.
Die Arzneimittelpolitik der Vorgängerregierung be-
stand aus dem Dreiklang Preismoratorium, Rabatt und
Nutzenbewertung von Arzneimitteln.
Jetzt sollen diese Regulierungselemente teilweise re-
vidiert bzw. nicht fortgeführt werden. Dazu liegen zwei
Gesetzentwürfe vor. Der zweite und umfangreichere Ge-
setzentwurf befasst sich zum einen mit der Fortsetzung
272 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Dr. Harald Terpe
(C)
(B)
des Preismoratoriums bis Ende 2017. Ich freue mich
schon auf die Beratungen im Fachausschuss, weil wir
uns natürlich über die Frage unterhalten müssen, ob der
Zeitpunkt richtig gewählt ist. Dazu ist schon gesagt wor-
den, dass er auch vorverlegt werden kann. Aus der Er-
fahrung des Übergangs in die neue Legislaturperiode
kann man sich auch fragen, ob man ihn nicht drei Mo-
nate nach hinten verlegen muss, damit wir nachher nicht
wieder in die Situation geraten, die wir in diesem Jahr
haben,
nämlich in einem verkürzten Verfahren arbeiten zu müs-
sen.
Es kann aber auch sein, dass wir uns darüber unterhalten
müssen, ob dieses Preismoratorium zielgenau ist.
Das Zweite ist die Festsetzung des Herstellerrabatts
auf 7 Prozent. Dazu muss man klar sagen: Das bedeutet
zunächst eine Kostensteigerung auf dem Arzneimittel-
markt, weil wir von 16 auf 7 Prozent zurückgehen. Zu-
nächst haben wir also mit einer Kostenerhöhung zu rech-
nen, die natürlich die gesetzlich Versicherten tragen
müssen. Auch das wird eine spannende Diskussion,
denke ich.
Das Dritte, für uns sehr Wesentliche, ist die Festle-
gung zur Fortführung der Nutzenbewertung. Da sage ich
ganz klar: Wir als Bündnisgrüne haben uns sehr viele
Jahre für die Nutzenbewertung der Arzneimittel einge-
setzt und waren damals auch sehr zufrieden, dass das in
der schwarz-gelben Koalition begonnen wurde. Nun ist
aber die Frage, wie wir zukünftig mit dem Bestands-
markt umgehen. Es wird das Argument gebracht, das sei
aufwendig und der Einspareffekt sei fraglich. Das mag
sein, aber wir haben nicht nur aus Einspargründen die
Bewertung des Bestandsmarkts begrüßt, sondern aus ei-
nem ganz anderen Grund: Es sind nämlich die Nutzenef-
fekte auch aus Patientenperspektive interessant. Schließ-
lich ist die Frage interessant, ob die Medikamente, die
man nutzenbewertet oder nicht, Standardvergleichsthe-
rapien für neu zu bewertende Arzneimittel sein können.
In diesem Zusammenhang ist aus fachlichen Gründen
natürlich die Diskussion interessant, ob das, was Sie vor-
haben, die richtige Entscheidung ist oder ob man viel-
leicht noch zielgenauer vorgehen muss.
Um diese Frage ausführlich auch im Ausschuss erör-
tern zu können, werden wir natürlich dem ersten, kürze-
ren Gesetzentwurf im verkürzten Verfahren zustimmen.
Die Idee, die wir hatten, war, das Preismoratorium erst
einmal für drei Monate zu verlängern, um dann eine or-
dentliche Anhörung durchführen zu können. Also, wir
werden dem zustimmen. Ich freue mich auf die Diskus-
sion im Fachausschuss, die wir bis Ende März führen
müssen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Michael Hennrich, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gestern Vereidigung des neuen Kabinetts,
heute Morgen Regierungserklärung zum Europäischen
Rat und jetzt Debatte zum Thema Preismoratorium für
Arzneimittel: Wir sind im Alltag angekommen.
Ich darf Ihnen, Herr Minister Gröhe, und auch Ihnen,
Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz, ganz herzlich
gratulieren, Ihnen, Herr Gröhe, zu dem neuen Amt; Sie,
Frau Widmann-Mauz, haben Ihr Amt als Staatssekretä-
rin schon ausgeübt. Wenn ich einen Wunsch äußern darf:
Ich mache seit elf Jahren Gesundheitspolitik und musste
erleben, dass ich mir immer wieder Gesetzentwürfe bei
Verbänden und sonst wo organisieren musste.
Es wäre schön, wenn wir mit dieser Unsitte brechen
würden und es vielleicht in Zukunft gelingt, dass auch
die Abgeordneten frühzeitig informiert werden.
Ich darf Ihnen, Herr Lauterbach, und Ihrer Mann-
schaft ganz herzlich für das konstruktive Miteinander bei
den Koalitionsgesprächen danken; Sie haben es ja schon
angesprochen. Das Ganze funktionierte reibungslos; das
gilt auch für die Gespräche mit dem Kollegen Jens
Spahn. Unsere Arbeitsgruppe war eine derjenigen, die
am schnellsten fertig waren, und das ohne großen Streit
in der Öffentlichkeit.
Ich denke, wir haben gute Beschlüsse gefasst. Sie ha-
ben es angesprochen: Die Themen „Versorgung“, „Kran-
kenhäuser“, „Pflege“ stehen im Mittelpunkt. Wir haben
keine gravierenden Veränderungen im Bereich der Arz-
neimittel vorgesehen. Das liegt daran, dass die schwarz-
gelbe Koalition in der letzten Legislaturperiode mit dem
Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz ein gutes Gesetz
auf den Weg gebracht, das allseits Anerkennung findet.
Wir haben erste Erfahrungen mit der frühen Nutzenbe-
wertung und der Preisverhandlung gesammelt.
Es gibt meines Erachtens zwei Fragen, die wir in die-
ser Legislaturperiode bezüglich des AMNOG im Blick
behalten müssen: Wird der Versorgungsalltag bei der
frühen Nutzenbewertung richtig berücksichtigt? Wie ist
mit der Preisfindung umzugehen? Ansonsten ist alles auf
gutem Wege.
Wir hatten ungeachtet dessen eine Klippe zu umschif-
fen, ein Problem zu lösen. Die Frage war: Wie gehen wir
mit dem Thema „Bestandsmarktaufruf/Verlängerung des
Preismoratoriums/Erhöhung oder Beibehaltung des Her-
stellerabschlags“ um? Ich glaube, dass wir mit den bei-
den vorliegenden Gesetzentwürfen einen guten und ver-
nünftigen Kompromiss gefunden haben.
Ganz wichtig war uns, dass es nicht zulasten der mit-
telständischen Industrie geht, wenn wir den Bestands-
marktaufruf beenden. Das wäre der Fall gewesen, wenn
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 273
Michael Hennrich
(C)
(B)
wir neben dem Preismoratorium den Herstellerabschlag
bei 10 Prozent belassen hätten. Ich glaube, es ist ein gu-
tes Signal, insbesondere an die mittelständische pharma-
zeutische Industrie, dass der Herstellerabschlag bei
7 Prozent liegt.
Insofern war es eine richtige Entscheidung, dass wir
das Thema Bestandsmarktaufruf beenden.
Herr Terpe und Frau Vogler, Sie haben gesagt, das sei
in erster Linie ein Vorhaben zugunsten der Industrie.
– Frau Vogler hat es aber gesagt. – Ich möchte Ihnen sa-
gen: Es ist auch ein Thema für die Patienten. Sie profi-
tieren davon, dass wir Versorgungssicherheit gewährleis-
ten, dass es keine Unsicherheiten dadurch gibt, dass
Produkte vom Markt genommen werden oder Ähnliches
geschieht.
Ich darf daran erinnern, dass alle Beteiligten, sei es
der G-BA, sei es die Industrie, seien es Patientenorgani-
sationen, sei es der GKV-Spitzenverband, also der Spit-
zenverband Bund der Krankenkassen, uns gebeten ha-
ben, den Bestandsmarktaufruf zu beenden, stattdessen
das Preismoratorium zu verlängern und den Hersteller-
abschlag in moderatem Maße zu erhöhen.
Wir erzielen mit diesem Gesetz, das jetzt vorgelegt
ist, Einsparungen in Höhe von rund 600 bis 700 Millio-
nen Euro. Wenn wir es bei dem Bestandsmarktaufruf be-
lassen hätten, hätten die Einsparungen bei maximal
260 Millionen Euro pro Jahr gelegen. Auch deswegen
denke ich, dass die Industrie weiterhin einen guten und
wesentlichen Beitrag dazu leistet, dass wir die Finanzen
der gesetzlichen Krankenversicherung stabil halten kön-
nen.
Ich halte es auch für richtig, dass wir das in zwei Ge-
setzgebungsverfahren machen: dass wir zum einen das
Preismoratorium um drei Monate, bis zum 31. März
2014, verlängern, damit wir Rechtssicherheit gewähr-
leisten, und dass wir im nächsten Jahr in einem geordne-
ten Verfahren alle wesentlichen Fragen klären, zum Bei-
spiel: Was ist unter dem Begriff „laufendes Verfahren“
zu verstehen? Wie gehen wir mit den Generika um? Sol-
len sie auch in den erhöhten Rabatt von 7 Prozent einbe-
zogen werden? All das klären wir in Ruhe im nächsten
Jahr, also nach Weihnachten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wün-
sche uns allen ein paar frohe Festtage.
Herzlichen Dank.
Es spricht jetzt die Kollegin Hilde Mattheis für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, auch mein Glückwunsch! Ich bedanke
mich an dieser Stelle vor allen Dingen bei den beiden
Oppositionsfraktionen, die mit dieser Fristverkürzung
einverstanden waren. Es zeigt sich, dass wir als Parla-
ment nicht nur in Kampfrhetorik miteinander arbeiten,
sondern bei wichtigen Belangen auch sachorientiert or-
ganisieren, beschließen und diskutieren können.
Das wird uns in Zukunft sehr wichtig sein. Für uns ist
klar, dass wir auch in diesem Parlament mit einer relativ
kleinen Opposition mit unseren Argumenten überzeugen
und eine breite Zustimmung erreichen wollen.
Wir wollen damit überzeugen, dass bei uns der Pa-
tient, die Patientin im Mittelpunkt stehen. Ich glaube,
man darf niemandem hier im Parlament abstreiten, dass
das wirklich der Ausgangspunkt für gesundheitspoliti-
sche Ziele und gesundheitspolitisches Handeln ist. Des-
wegen war es uns sehr wichtig, im Koalitionsvertrag die
Patientinnen- und Patientenorientierung festzuhalten.
Das gilt nicht nur beim Thema „Infrastruktur und Ver-
sorgung“ – das geht bis hin zur Pflegepolitik –, sondern
auch bei allem, was im Bereich „Arzneimittel“ und „Re-
gulierung des Arzneimittelmarkts“ ansteht.
Daher nochmals vielen Dank dafür, dass wir hier an
der Stelle, was das Preismoratorium anbelangt, nicht nur
dieses Vorgehen mit den verkürzten Fristen miteinander
vereinbaren konnten, sondern auch vereinbaren konnten,
dass wir uns in der Zeit danach, was das Thema Arznei-
mittel anbelangt, im ordentlichen Gesetzgebungsverfah-
ren den drei Punkten, um die es geht, wieder annähern.
Beim Thema Bestandsmarktaufruf werden wir bei der
Abwägung aller Argumente, Herr Terpe, immer auch die
Patientenorientierung – das habe ich ja eingangs gesagt –
im Blick haben; denn uns allen ist, glaube ich, klar, dass
es der Bevölkerung nicht nur darum geht: Ist ein Kran-
kenhaus in erreichbarer Nähe? Habe ich einen ordentli-
chen Facharztzugang? Habe ich in einem kleineren Dorf
oder in einer kleineren Kommune einen Hausarzt? Son-
dern auch: Bekomme ich das Arzneimittel, das mir hilft,
und kann ich es bezahlen?
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns in den nächs-
ten drei Monaten, so wie wir es uns vorgenommen ha-
ben, genau mit diesen Gesichtspunkten beschäftigen.
Das Thema Herstellerrabatt. Da kann man in der De-
batte sicherlich auch klären: Gibt es noch eine weitere
Spanne? Sind die Möglichkeiten noch größer? Wir ha-
ben uns jetzt auf einen Mengenrabatt von 7 Prozent statt
6 Prozent geeinigt.
– Das läuft aus; das wissen Sie.
274 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Hilde Mattheis
(C)
(B)
Wir haben außerdem gesagt: Das Preismoratorium soll
weitergelten, was mit Blick auf die Beitragszahlerinnen
und Beitragszahler ein wichtiger Schutz vor übermäßi-
gen Beitragssatzerhöhungen sein kann.
Frau Kollegin Mattheis – –
Ich habe es gesehen, Frau Präsidentin. – Ich glaube,
wir haben in den nächsten drei Monaten noch genügend
Zeit für die Diskussion, Frau Kollegin.
Jetzt geht es darum, in der angestrebten Frist zu ver-
abschieden und sicherzustellen, dass wir die 500 Millio-
nen Euro, die für die Krankenkassen und auch für die
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler pro Jahr auf dem
Spiel stehen, auch weiter einsparen, dass die Einsparung
von Gesetzes wegen in der Höhe weitergeführt wird und
eben keine Belastung entsteht.
Ich bin sicher, dass wir, wenn wir alle uns klarma-
chen, dass es nicht darum geht, hier in der Debatte kräf-
temäßig irgendwie zu bestehen, sondern darum, die
Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt unserer Über-
legungen zu haben, in den nächsten Monaten noch wei-
tere Möglichkeiten einer parlamentarischen Zusammen-
arbeit finden, die auch dann der Bevölkerung deutlich
machen, dass es nicht um „Opposition/Regierung“ geht,
sondern dass es auf manchen Gebieten auch darum geht,
miteinander Dinge zu verbessern.
Vielen Dank.
Als letzter Redner in der Debatte hat jetzt der Kollege
Stephan Stracke, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich darf mich zunächst den Glückwün-
schen an den neu ernannten Bundesgesundheitsminister
anschließen. Ich gratuliere Ihnen zu dieser neuen Auf-
gabe und wünsche Ihnen, aber auch Ihren Staatssekretä-
rinnen viel Erfolg bei dem, was wir uns gemeinsam vor-
genommen haben.
Gewiss, wir haben uns viel vorgenommen in dieser
Großen Koalition. Wir haben eines der besten Gesund-
heitssysteme der Welt. Dieses gilt es zu sichern und im
Interesse der Patientinnen und Patienten auszubauen.
Wir müssen uns fragen, welche Bedürfnisse und Sorgen
es gibt, und zielgerichtete Lösungen finden. Ich denke,
der Koalitionsvertrag beschreibt dies aufs Trefflichste.
Als Beispiel nenne ich den Bereich der hausärztlichen
Versorgung. Hier werden wir im Hinblick auf § 73 b
SGB V den Honorardeckel aufheben. Das ist genau das
richtige Instrument, um für die Niederlassung in der Flä-
che neue Anreize zu schaffen. Auch das, was wir uns bei
der Pflege und in anderen Bereichen vorgenommen ha-
ben, zeigt, dass wir eine Koalition sind, die viel machen
will. Es sind durchaus fordernde Aufgaben, denen wir
uns stellen. Der Koalitionsvertrag gibt uns hierfür die
richtige Marschroute vor.
Was wir uns vorgenommen haben, das machen wir
auch. Das zeigen die vorliegenden Gesetzentwürfe zum
Preismoratorium, zum Herstellerrabatt und zur Beendi-
gung des Bestandsmarktaufrufes, die wir in dieser Wo-
che verabschieden wollen.
Der Arzneimittelmarkt ist einer der dynamischsten
Märkte. Das gilt sowohl im Hinblick auf die Versorgung
mit innovativen Arzneimitteln als auch für die Preisent-
wicklung insgesamt. Wir wollen den Patientinnen und
Patienten die besten Arzneimittel zur Verfügung stellen
und innovative Produkte schnell auf den Markt bringen.
Wir wissen aber auch: Gerade patentgeschützte Arznei-
mittel kosten zum Teil viel Geld. Dies gilt – das zeigt ein
europäischer Vergleich – insbesondere für Deutschland.
Wir wollen aber nicht für bloße Werbeausgaben, sondern
für einen tatsächlichen Mehrwert zahlen. Deshalb haben
wir in der letzten Legislaturperiode unter Führung der
Union einen Paradigmenwechsel vollzogen. Jedes neue
Arzneimittel muss sich einer frühen Nutzenbewertung
unterziehen. Der Mehrwert, dessen Umfang in Verhand-
lungen zwischen Krankenkassen und Herstellern ausge-
handelt wird, wird dann bezahlt. Dieses Prinzip ist er-
folgreich; es hat sich bewährt. Die Nutzenbewertung hat
dem Gesundheitssystem bisher Einsparungen in Höhe
von rund 120 Millionen Euro erbracht. Diese Wirkung
wird an Breite gewinnen, wenn die Zahl der neuen be-
werteten Arzneimittel bzw. ihr Marktanteil steigt.
Wir haben immer deutlich gemacht: Dieses System ist
ein lernendes System. Deshalb werden wir Dinge, die
sich nicht bewährt haben, verändern. Das gilt beispiels-
weise für den Bestandsmarktaufruf. Er bewährt sich
nicht, weil Aufwand und Nutzen in keinem sinnvollen
Verhältnis zueinander stehen. Der administrative Auf-
wand für alle Beteiligten ist massiv, und das Einspar-
potenzial ist nur sehr schwer vorherzusehen, weil es
immer mit Preisverhandlungen verknüpft ist. Deshalb
werden wir den Bestandsmarktaufruf beenden. Wir ha-
ben uns vorgenommen, als Kompensation das Preismo-
ratorium fortzusetzen. Zusätzlich soll der Herstellerra-
batt von 6 auf 7 Prozent erhöht werden.
Auch wenn der eine oder andere meint, es sei leicht-
fertig, den Herstellerrabatt von 6 auf 7 Prozent zu erhö-
hen, ist es nicht etwa so, als könne man willkürlich an
den Stellschrauben drehen. Wir müssen im Blick haben,
welche rechtlichen Implikationen dadurch ausgelöst
werden, gerade in europarechtlicher Hinsicht. Deswegen
nehmen wir uns in den anstehenden Beratungen die not-
wendige Zeit, um uns mit der Frage zu befassen, was an
dieser Stelle tatsächlich Sinn macht und wie wir eine
Änderung auf den Weg bringen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 275
(C)
(B)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Klein-Schmeink?
Selbstverständlich.
Herr Stracke, Sie haben gerade sehr deutlich gemacht,
dass Sie Veränderungsbedarf sehen. Sie waren auch be-
reit, die Abschaffung der Nutzenbewertung für den Be-
standsmarkt und das Moratorium kurzfristig und ohne
Beratung auf die Agenda zu setzen und die Verabschie-
dung der vorliegenden Gesetzentwürfe durchzuziehen.
Ich frage Sie: Unter welchen Bedingungen hätten Sie
sicherstellen wollen, dass Sie sowohl beim Preismorato-
rium als auch beim Herstellerrabatt und bei der Nutzen-
bewertung ohne Beratung mit den Verbänden eine sach-
gerechte Lösung erreichen? Wenn alles so gekommen
wäre, wie Sie es geplant hatten, hätten Sie uns ja gestern
einen Gesetzentwurf vorgelegt, der heute zur Beschluss-
fassung vorgelegt und dann beschlossen worden wäre.
Was hat Sie bewogen, dies ohne Beratung im Parlament
tun zu wollen und dennoch zu einer sachgerechten Lö-
sung zu kommen?
Ihre Frage verwundert mich. Wir haben das Verfahren
doch im breiten Konsens besprochen. Wir haben gesagt,
dass wir das Preismoratorium auf den Weg bringen wol-
len; das tun wir auch. In einem weiteren Gesetzgebungs-
verfahren wollen wir das Thema „Bestandsmarkt und
Herstellerrabatte“ in den Ausschüssen gemeinsam be-
sprechen. Genau das tun wir. Darauf haben sich alle
Fraktionen verständigt. Es ist auch ein Angebot an die
Opposition, diesen Weg sofort zu beschreiten. Ich denke,
das ist auch gut so.
Gestatten Sie auch eine Zwischenfrage der Kollegin
Vogler?
Ja, gerne.
Herr Kollege, ich danke Ihnen, dass Sie diese Zwi-
schenfrage zulassen. – Wir haben schon die Erfahrung
gemacht, dass Große Koalitionen teilweise ganz erstaun-
liche mathematische Fähigkeiten entwickeln. Ich erin-
nere an die Regierung Schröder. Damals ging die SPD
mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer von null Pro-
zentpunkten in den Wahlkampf, die Union mit einer Er-
höhung von 2 Prozentpunkten. Dann wurden daraus
3 Prozentpunkte.
– Entschuldigung, das war Merkel.
Wie man hier jetzt bei „16 plus 1“ auf 7 kommt, ist
mir nach wie vor nicht erklärlich. Sie sagen immer, Sie
wollten den Herstellerrabatt von 6 Prozent auf 7 Pro-
zent erhöhen. Es ist aber doch so – da werden Sie mir
beipflichten müssen –, dass der Herstellerrabatt im Au-
genblick nicht bei 6, sondern bei 16 Prozent liegt.
16 Prozent plus 1 sind aber nicht 7 Prozent, sondern
17 Prozent. Der Sonderrabatt wurde eingeführt, um Ein-
sparungen in Höhe von 2 Milliarden Euro, die Sie sich
durch das AMNOG erhofft hatten, zu realisieren. Jetzt
wollen Sie den Sonderrabatt komplett abschaffen, ob-
wohl die Einsparungen in Höhe von 2 Milliarden Euro,
die uns durch das AMNOG versprochen worden sind,
noch lange nicht erreicht wurden. Ich frage Sie: Mit wel-
cher Rechenkunst kommen Sie darauf, dass 16 plus 1 7
ergibt? Müssten Sie nicht der Ehrlichkeit halber sagen:
„Gemessen am heutigen Zustand senken wir mit dem
Gesetzentwurf, den wir heute vorgelegt haben, den Her-
stellerrabatt für viele Produkte von 16 auf 7 Prozent“?
Verehrte Frau Kollegin, genau das Gegenteil ist der
Fall. Wir werden den Herstellerrabatt gegenüber der ge-
setzlichen Lage erhöhen; denn Sie haben einen wichti-
gen Punkt außer Acht gelassen. Wir haben die derzeitige
Erhöhung auf 16 Prozent bis zum 31. Dezember 2013
begrenzt.
Das heißt, wenn wir gar nichts täten – das wäre die jet-
zige Gesetzeslage –, ginge der Herstellerrabatt auf 6 Pro-
zent zurück. Wir erhöhen ihn aber auf 7 Prozent. Von da-
her kann von Rechenkunst keine Rede sein. Wir tun hier
genau das Richtige; denn wir haben die Arzneimittelver-
sorgung im Blick und setzen das um, was wir im Rah-
men des Solidarsystems als sinnvoll und bezahlbar anse-
hen. Die Balance, die wir gefunden haben, ist durchaus
gut.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die
Balance ist, wie gesagt, durchaus gut; denn es geht zum
einen darum, das Solidarsystem der gesetzlichen Kran-
kenversicherung möglichst bezahlbar zu halten und nur
den Preis zu zahlen, der tatsächlich sinnvoll ist. Das tun
wir im Rahmen des Arzneimittelmarktneuordnungsge-
setzes, wie wir es auf den Weg gebracht haben. Gestatten
Sie mir allerdings auch den Hinweis, dass ein bloßer
Blick auf die Kosten sicherlich zu kurz greifen würde.
Wenn es um Arzneimittel geht, geht es immer auch um
Behandlungsgeschichten, um Investitionen in die Ge-
sundheit. Deshalb begreifen wir die Pharmaindustrie
nicht nur als reinen Kostenfaktor, sondern auch als we-
sentliche Hilfestellung in unserem Gesundheitssystem.
Deshalb werden wir mit der Pharmaindustrie in einen
Dialog darüber eintreten, wie wir den weiteren Entwick-
lungen im Bereich der Arzneimittelversorgung für das
Wohl der Patientinnen und Patienten gerecht werden
können.
276 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Stephan Stracke
(C)
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam-
keit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 18/200 und 18/201 an den
Hauptausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderwei-
tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 19. Dezember
2013, 10 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
angenehmen Nachmittag.