Rede von
Manuel
Sarrazin
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Wenn man in den letzten Monaten in den Haupt-
städten Europas unterwegs war, konnte man feststellen:
Alle warteten auf die Bundestagswahl und waren dann
ganz überrascht, dass man noch weiter warten muss: auf
den Koalitionsvertrag.
Man musste das Gefühl bekommen, es ist mit diesem
Koalitionsvertrag ein bisschen wie in dem Brief des
Apostels Paulus an die Philipper, wo geschrieben steht:
Ich selbst habe diese Wünsche und Sehnsüchte in
dich hineingelegt.
Ich habe das Gefühl, bei Ihnen ist das immer noch der
Fall.
Das deckt sich aber nicht unbedingt mit dem Text des
Koalitionsvertrages und erst recht nicht mit dem, was
wir im Zusammenhang mit dem Gipfel erleben.
Ich kann Sie beruhigen: Ich habe gegenüber den euro-
päischen Kolleginnen und Kollegen Erwartungsmanage-
ment betrieben und immer gesagt: Sie können von der
neuen Koalition in Berlin europapolitisch leider nicht zu
viel erwarten. – Ich muss zu meinem eigenen Leidwesen
gestehen, dass ich mich nach dieser Regierungserklä-
rung von Frau Merkel bestätigt sehe.
Aber man soll ja nicht immer gleich den biblischen
Maßstab ansetzen. Deshalb möchte ich versuchen, Ihren
eigenen Maßstab anzulegen. Sie sagen:
Für die Große Koalition ist und bleibt das europäi-
sche Einigungswerk eine der wichtigsten Aufgaben
…
Und Sie sagen:
Unser Ziel dabei ist … ein Europa der Stabilität, des
Wachstums …
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn ich mir an-
schaue, was für den Gipfel morgen auf der Tagesord-
nung steht und was für Herausforderungen in den nächs-
ten Monaten vor uns liegen, dann mache ich mir sehr
große Sorgen. Das Ziel von Stabilität und Wachstum
wird durch das, was Sie als Verhandlungsstrategie aus-
gegeben haben, in keinster Weise erreicht. Im Gegenteil,
Sie versäumen es, jetzt Entscheidungen zu treffen, die
Europa in 2014 auch in schwierigeren Zeiten zu Stabili-
tät und auch zu Wachstum bringen können.
Sie sind nicht darauf eingegangen, was für Entwick-
lungen anstehen: Irland und Portugal verlassen den Ret-
tungsschirm. Viele Staaten haben eine schwierigere in-
nenpolitische Lage als in der Vergangenheit – wegen
Wahlen, die anstehen, aber auch, weil die Krisenpolitik
Regierungen natürlich Körner kostet. Weiterhin können
vor dem Hintergrund des EZB-Stresstests der finanzielle
Zusammenhalt der Europäischen Union und die politi-
sche Glaubwürdigkeit für die Existenz des Euro auf den
Märkten als nicht ganz gesichert gelten. Angesichts des-
sen verstehe ich nicht, wie man mit einer so schwachen
Agenda auf diesen Europäischen Gipfel gehen kann.
Ich sehe in den nächsten Jahren – und auch bei die-
sem Gipfel – die Gefahr, dass einer Fragmentierung des
Euro, einer Fragmentierung des Binnenmarkts – unter
anderem, weil der Bankenmarkt sich fragmentiert –, aber
auch einer Renationalisierung von Entscheidungsstruk-
turen und einem künftigen Auseinanderentwickeln von
Staaten in Zentraleuropa – die einen mit dem Euro als
Umlaufwährung, die anderen ohne den Euro als Umlauf-
währung –, dass diesen gefährlichen Tendenzen, die im
Gegensatz zu all dem stehen, was immer deutsche Euro-
papolitik war, von dieser Bundesregierung immer noch
nichts entgegengesetzt wird. Was Sie als Verhandlungsli-
nie zur Bankenunion ausgegeben haben, ist der beste Be-
weis dafür.
Ich habe ein Beispiel aus Spanien gehört: Ein kleiner
Fahrradproduzent erhielt einen Auftrag der Stadt Kopen-
hagen, Citybikes herzustellen. Er wollte diesen Auftrag
für sein gesundes Unternehmen annehmen und hat keine
Bank gefunden, die ihm eine Finanzierung bereitstellen
konnte.
Sie müssen doch akzeptieren, dass man nur durch
eine Bankenunion, die die Kreditklemme für die kleinen
und mittelständischen Unternehmen in Südeuropa besei-
tigen kann, auch in der Lage ist, etwas gegen Jugend-
arbeitslosigkeit zu tun. Sie haben aber die Einigung, die
schon im letzten Juni erreicht worden war, zurückver-
handelt: Die Möglichkeit der direkten Bankenrekapi-
talisierung aus dem ESM ist nicht mehr enthalten, Sie
wollen keinen europäischen Bankenabwicklungsmecha-
nismus mehr, sondern nationale Mechanismen, und Sie
wollen schließlich, dass das Prinzip gilt, dass ein Natio-
nalstaat immer daran glauben muss, dass, wenn seine
Banken in Schwierigkeiten sind, sie nicht durch eine
mutige europäische Lösung aufgefangen werden. – We-
gen dieser Versäumnisse mache ich mir Sorgen.
Dann gibt es diese bilateralen Verträge, die das neue
Lieblingskind von Frau Merkel und scheinbar erlösungs-
bringend sind. Wenn man sich diese genau anguckt,
dann erkennt man: Das ist eine neue Scharade. In Wirk-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 257
Manuel Sarrazin
(C)
(B)
lichkeit degradieren Sie die europäischen Governance-
Mechanismen, die wir in den letzten Jahren unter großer
Anstrengung zu stärken versucht haben, und setzen sie
auf die Bank des Zuschauers. Sie sehen die nationale
Politik wieder als höchste Entscheidungsinstanz für na-
tionale Reformpfade an und sagen der Europäischen
Kommission: Nach unserem Gusto könnt ihr uns viel-
leicht am Ende unterstützen.
Damit schaffen Sie genau das Gegenteil von Verbind-
lichkeit. Anstatt aus den Erfahrungen in den 2000er-Jah-
ren die Lehren zu ziehen und die Verfahren zu stärken,
für die mehr Verbindlichkeit notwendig ist, setzen Sie
neue Verfahren ein, die Staaten – das sage ich Ihnen vo-
raus – in keinster Weise dazu animieren werden, die not-
wendigen Reformen wirklich anzugehen.
Es ist geradezu vielsagend, dass die Vorgaben der Euro-
päischen Kommission und des Rates an Deutschland für
seinen Haushaltsplan in diesem Jahr nicht angeguckt
werden, während hier die neue Verbindlichkeit gepredigt
wird.
Meine Damen und Herren, Europa steht vor großen
Herausforderungen, und ich habe wirklich den Wunsch
an die neue Koalition, dass man nicht wieder nur dann
zu Entscheidungen kommt und nur dann den Mut zu-
sammennimmt, Strukturen zu schaffen, mit denen man
auch in schwierigen Zeiten entscheidungsfähig ist, wenn
man mit dem Argument „Das ist alternativlos“ ultimativ
dafür werben kann, sondern dass man endlich einmal
rechtzeitig zu Entscheidungen kommt. Dafür wäre dieser
Gipfel eine Gelegenheit, die von Ihnen leider verpasst
wird.
Danke sehr.