Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Bundeskanzlerin, während der fast drei Monate, in
denen Sie mit der SPD um den Koalitionsvertrag ge-
feilscht haben, haben sich in Griechenland aus Verzweif-
lung über ihre soziale Situation schätzungsweise
120 Menschen das Leben genommen. Während der glei-
chen Zeit haben in Spanien etwa 45 000 Familien ihre
Häuser oder Wohnungen durch Zwangsversteigerungen
verloren. Mehr als 10 000 Unternehmer – vor allem
kleine und mittlere – in den Krisenländern haben in die-
ser Zeit den Kampf gegen die Wirtschaftskrise verloren
und mussten Konkurs anmelden. Es gibt keine offizielle
Statistik darüber, wie viele Menschen in dieser Zeit in
Europa gestorben sind, weil sie lebensnotwendige Medi-
kamente nicht mehr bezahlen konnten, und schon gar
keine Statistik misst, wie viele junge Menschen mit die-
ser Gesellschaft innerlich für immer abgeschlossen ha-
ben, weil sie bei einer Rekordjugendarbeitslosigkeit von
60 Prozent nie eine Chance haben werden.
Gut dokumentiert ist dagegen: In den gleichen drei
Monaten hat sich das Vermögen der europäischen Milli-
onäre und Multimillionäre wieder einmal erhöht: um fast
100 Milliarden Euro.
So sieht Ihr Europa aus, Frau Kanzlerin, so sehen die
Folgen der Politik aus, die Sie ganz Europa diktieren, ei-
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ner Politik, die Banker und Oligarchen mit Samthand-
schuhen anfasst, aber die kleinen Leute dazu zwingen
will, für die Zockerverluste der oberen Zehntausend zu
bezahlen. Ich sage Ihnen, Frau Kanzlerin: Das ist nicht
christlich, das ist unmenschlich und brutal.
Ich habe noch gut im Ohr, wie uns – auch in diesem
Hause – immer wieder weisgemacht wurde, dass es gut
und richtig sei, dass die weisen Finanzmärkte über die
Zinsen entscheiden, die ein Staat auf seine Schulden zu
zahlen hat, und dass Regierungen auf Gedeih und Ver-
derb eine Politik machen sollen, mit der sie das Ver-
trauen der Märkte gewinnen. Seit einiger Zeit weiß man
nun etwas genauer, was es mit dieser Weisheit der
Märkte auf sich hat: Man weiß, dass zentrale Zinssätze
wie zum Beispiel der Libor von einer Handvoll Händler
manipuliert wurden. Man weiß auch, dass wenige In-
vestmentbanker die Wechselkurse gezielt gesteuert ha-
ben, und man weiß, warum solche Manipulationen mög-
lich sind: weil sogar auf einem riesigen Markt wie dem
Devisenmarkt, wo jeden Tag 5 Billionen Dollar umge-
setzt werden, etwa vier Bankgiganten ungefähr die
Hälfte des Marktvolumens kontrollieren. Auf dem Deri-
vatemarkt sind es etwa sieben Großbanken, die 90 Pro-
zent des Marktes beherrschen. Und da glauben Sie im
Ernst, dass die Zinsen für Staatsanleihen auf einem neu-
tralen Markt gebildet werden, der sachlich, weise und
selbstlos die Wirtschaftsdaten bewertet? Ich bitte Sie, so
naiv kann heute gar niemand mehr sein.
Wer die Finanzierung der Staaten von dieser Finanzma-
fia abhängig macht, der wird zum Spielball ihrer Betrü-
gereien und der hat sein demokratisches Gewissen aus-
verkauft. Genau so sieht die Politik in Europa aus:
4 500 Milliarden Euro sauer erarbeitetes Steuergeld wur-
den seit 2008 für die Rettung maroder Banken und Fi-
nanzinstitute verpulvert. In Deutschland ist die Staats-
verschuldung allein wegen der Bankenrettung um
360 Milliarden Euro angeschwollen – ein Betrag, im
Vergleich zu dem die Kosten eines flächendeckenden
Ausbaus von Kindertagesstätten mit einem Platz für je-
des Kind in diesem Land eine lächerliche Summe bilden
würden.
Sie wissen, dass die Leute es leid sind, für die abstru-
sen Geschäfte windiger Banker zu bezahlen. Deswegen
haben ja beide heutigen Großkoalitionäre im Wahlkampf
Besserung gelobt. Die SPD zum Beispiel hat in ihrem
Regierungsprogramm wörtlich versprochen, dass – ich
zitiere – „Steuerzahlerinnen und Steuerzahler … nie
wieder in Geiselhaft der Banken und Spekulanten ge-
nommen werden“ dürfen.
Herr Steinbrück ist mit dieser Botschaft über die Markt-
plätze gezogen. Es hat zugegebenermaßen nicht viel ge-
nützt; aber das ist noch keine Rechtfertigung dafür, drei
Monate nach der Wahl das Gegenteil dessen zu tun, was
man vor der Wahl versprochen hat.
Spätestens seit dem Treffen der EU-Finanzminister ist
doch völlig klar: Das Versprechen, dass kriminelle Wett-
buden künftig für sich selber haften, ist keinen Pfiffer-
ling wert gewesen.
In Art. 27 des ursprünglichen Richtlinienentwurfs wurde
stattdessen eine Ausnahmeregelung vereinbart, die es bis
einen Tag vor der Abwicklung einer Bank erlaubt, die
Eigentümer und Gläubiger mit Steuergeldern von jeder
Verantwortung freizukaufen. Für den Fall, dass Sie mir
nicht glauben, zitiere ich den Inhaber des Lehrstuhls für
Finanzierung und Kreditwirtschaft an der Ruhr-Univer-
sität Bochum, Professor Stephan Paul:
Der jetzige Richtlinienentwurf macht die Tür auf
und ermöglicht es, für – so heißt es dort – „gesunde
Banken mit tragfähigem Geschäftsmodell“ auch
vorher schon
– also vor der Haftung von Eigentümern und Gläubi-
gern –
Hilfszahlungen von staatlicher Seite zu gewähren.
Ich frage mich an der Stelle aber: Wenn eine Bank
gesund ist, wenn sie ein tragfähiges Geschäftsmo-
dell hat, wozu braucht sie dann staatliche Hilfszah-
lungen?
So weit Professor Paul.
Wenn Sie ihm nicht folgen wollen, überzeugt Sie viel-
leicht die Meinung von Markus Ferber, Europaabgeord-
neter der CSU und Mitglied im Finanzausschuss des Eu-
ropäischen Parlaments. Ich zitiere:
Mit diesem neuen Artikel wird eigentlich der Ver-
such unternommen, über die Hintertür wieder den
Steuerzahler einzuführen, lange bevor Eigentümer,
nachrangige Gläubiger und Einleger betroffen sind.
In einem internen Positionspapier jubelt die Rating-
agentur Standard & Poor’s – ich zitiere –:
Neue EU-Richtlinie erlaubt Regierungen, Banken
mit Steuergeldern zu retten.
Auch der von Ihnen vorhin zitierte Abwicklungsfonds
schützt die Steuerzahler doch überhaupt nicht. Dieser
Abwicklungsfonds soll 2016 aufgelegt werden und nach
zehn Jahren, also 2026, das grandiose Volumen von
55 Milliarden Euro erreichen. Ich erinnere noch einmal
daran: Die Finanzkrise hat die europäischen Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler bis jetzt 4 500 Milliarden Euro
gekostet. Das heißt, dieser Abwicklungsfonds wird,
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selbst wenn er im Jahr 2026 vollständig gefüllt ist, ge-
rade einmal ein Hundertstel dieser Summe abdecken.
Wir schreiben heute nicht 2026, sondern 2013, und es
ist bekannt, dass heute immer noch faule Kredite im
Umfang von etwa 1 Billion Euro in den Bilanzen der eu-
ropäischen Banken lagern. Im nächsten Jahr will die
EZB ihre Stresstests durchführen, und jeder weiß, dass
dabei natürlich ein erheblicher Kapitalbedarf ermittelt
wird. Deshalb frage ich Sie: Wer soll den denn bezahlen,
wenn es den Abwicklungsfonds überhaupt noch nicht
gibt und außerdem die Haftung von Eigentümern und
Gläubigern in der Richtlinie auf 8 Prozent der Bilanz-
summe reduziert ist?
Das heißt, Sie wollen weiter Steuergeld verbrennen,
und zwar für Banken, in Bezug auf die Sie bis heute
nicht das Kreuz haben, ihnen wenigstens vernünftige
Regeln aufzuzwingen, die sie dazu zwingen, ihre Auf-
gabe als Diener der Realwirtschaft, als Finanzier von
Innovationen und Investitionen endlich wieder einmal
wahrzunehmen.
Sie wollen Steuergeld für Banken verbrennen, denen Sie
bis heute noch nicht einmal abverlangen, wenigstens or-
dentlich Eigenkapital zu bilden, damit sie vielleicht ir-
gendwann einmal in Zukunft für ihre Verluste haften
können. Stattdessen sehen Sie seit Jahren zu, wie diese
Banken Boni und Dividenden nach Belieben ausschüt-
ten. Im Finanzsektor wird bis heute das meiste Geld ver-
dient. Die Zahl der Einkommensmillionäre in diesem
Bereich ist längst wieder auf Vorkrisenniveau.
Sie haben den Banken ganze 3 Prozent Eigenkapital
verbindlich vorgeschrieben. Ich sage Ihnen: Wenn man
als Unternehmen mit 3 Prozent Eigenkapital bei einer
Bank vorspricht, dann muss man damit rechnen, dass
man relativ schnell aus der Filiale gejagt wird. Bei den
Banken soll das aber offensichtlich ausreichend sein.
Die Wahrheit ist doch: Wir brauchen keine Banken-
union, sondern wir brauchen endlich eine ordentliche
Bankenregulierung.
Der Finanzinvestor Warren Buffett hat Derivate ein-
mal „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ genannt.
Wenn ich mir ansehe, dass die Deutsche Bank aktuell
mit solchen „finanziellen Massenvernichtungswaffen“
im Nominalvolumen von 60 000 Milliarden Euro he-
rumspielt, dann frage ich mich, wie Sie noch ruhig schla-
fen können.
Wir brauchen Regeln, die die Banken klein machen.
Wir haben doch nicht nur das Problem „too big to fail“,
das heißt, die Banken sind nicht nur zu groß, um zu fal-
len, sondern sie sind auch zu groß, um reguliert zu wer-
den. Das ist doch das Kernproblem: das Problem wirt-
schaftlicher Macht.
Das ist das Problem, das einst Walter Eucken als Vertre-
ter des Ordoliberalismus ins Zentrum seiner Theorie ge-
stellt hat. Er hat gesagt: Wirtschaftliche Macht kann man
nicht kontrollieren; man kann nur verhindern, dass sie
entsteht, oder man liefert sich ihr aus. – Sie haben uns
den Banken ausgeliefert, und genau so sieht Ihre Ban-
kenunion jetzt auch aus.
Wenn man dann noch weiß, dass die Aufsicht über die
europäischen Banken ausgerechnet an den ehemaligen
Investmentbanker und Goldman-Sachs-Mann Mario
Draghi übergeben werden soll, dann kann man nur sa-
gen: Gute Nacht.
Ich stelle deshalb für meine Fraktion fest: Diese Ban-
kenunion ist eine Lebensversicherung für Schrottbanken
und eine schwere Hypothek für die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler. Das ist Wahlbetrug, ganz klar Wahlbe-
trug und nichts anderes.
Sie von der SPD haben so schön plakatiert: „Das Wir
entscheidet.“ Ich glaube, es wäre ehrlicher gewesen, Sie
hätten plakatiert: „Die Deutsche Bank entscheidet, und
das Wir bezahlt.“ Das ist nämlich die Politik, die Sie ma-
chen.
Herr Steinmeier hat sich kürzlich auf einer Veranstaltung
des Arbeitgeberverbandes bitter beklagt, dass es die
Wirtschaftsbosse der SPD so wenig danken, dass sie sich
mit ihrer Agenda 2010 so massiv für deren Interessen ins
Zeug gelegt hat. Herr Steinmeier, ich sage Ihnen voraus:
Auch Ihren Kotau vor den Interessen der Banker und
Millionäre in der Europapolitik werden sie Ihnen nicht
danken. Das Einzige, was Sie mit dieser Politik errei-
chen, ist, dass die einst so stolze und einflussreiche Par-
tei Willy Brandts sich in der deutschen Politik mehr und
mehr überflüssig macht.
Ich komme nun zu einem weiteren Thema des
EU-Gipfels, dem Wettbewerbspakt.
Dieser Wettbewerbspakt soll offenbar Griechenland zum
Vorbild für die gesamte EU machen. Die nationalen Re-
gierungen sollen bilaterale Knebelverträge mit der Kom-
mission abschließen,
in denen sie sich zu so tollen Maßnahmen wie der Sen-
kung von Unternehmenssteuern, Entlassungen im öffent-
lichen Dienst, Einschränkungen des Streikrechts, An-
griffen auf Tarifverträge und vielem Schönen mehr
verpflichten. Um diese Politik gegen die Mehrheit der
Menschen abzusichern, sollen die Parlamente möglichst
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entmachtet werden. Frau Merkel, da kann ich mir den
Kommentar nicht verkneifen: Mir scheint Ihre Sensibili-
tät für demokratische Grundsätze da etwas selektiv zu
sein. Undemokratische Politik ist nicht nur in Russland
ein Problem. Undemokratische Politik ist auch ein Pro-
blem, wenn sie mit Ihrer Zustimmung auf einem EU-Gip-
fel verabschiedet wird.
Dass es im zweiten Teil des Gipfels auch noch um
Aufrüstung gehen soll, dass Sie sich also in der schwers-
ten Krise der EU offensichtlich auch noch darum sorgen,
wie man mehr Geld für Waffen aufbringen kann, das,
finde ich, setzt dem Ganzen die Krone auf.
Ich komme zum Schluss.
– Sie wollen das nicht hören; das kann ich mir schon
vorstellen. Sie müssen sich das aber anhören; tut mir
leid.
Dieser Koalitionsvertrag ist nicht nur in der Frage der
Bankenunion ein Koalitionsvertrag der gebrochenen
Versprechen. Was sich hier zusammengefunden hat, ist
keine Koalition der großen Aufgaben, sondern eine Ko-
alition der großen Ignoranz gegenüber den anstehenden
Aufgaben.
Wo tatsächlich die politischen Aufgaben unserer Zeit
liegen, daran hat, während Sie über so richtungweisende
Probleme wie die Pkw-Maut für Ausländer gestritten ha-
ben, Papst Franziskus in seinem jüngsten Apostolischen
Schreiben
sehr deutlich erinnert. Ich lege gerade dem Teil des Hau-
ses, der sich „christlich“ nennt, aber meines Erachtens
aufgrund der Wertevorstellungen seiner Politik damit
nichts mehr zu tun hat, sehr nahe, diese Botschaft einmal
zu lesen.
Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen
Das kann man dort zum Beispiel nachlesen. Oder auch:
Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt,
wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der
Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um
zwei Punkte an der Börse Schlagzeilen macht.
Sie, sowohl CDU/CSU als auch SPD, tun mit Ihrer
Europapolitik – da gab es auch in der letzten Legislatur
schon eine große Gemeinschaft – tatsächlich Ihr Bestes,
dass die Zahl der alten Menschen, die auf der Straße le-
ben müssen, in Europa steigt und nicht sinkt. Sie haben
mit Ihrem Koalitionsvertrag den Deutschen Aktienin-
dex, DAX, freilich nicht in die Baisse getrieben, sondern
ihn zu einem Jubelsprung angeregt. Es ist erschütternd,
dass Ihnen beides offenbar noch nicht einmal zu denken
gibt.
Die Linke zumindest nimmt die päpstliche Botschaft
ernst,
und zwar nicht nur zu Weihnachten. Meine Fraktion sagt
daher Nein zu dieser unverantwortlichen Europapolitik,
Nein zu einer Bankenrettung auf Kosten der Steuerzah-
ler, Ja zu Demokratie und Sozialstaat in Europa und des-
wegen Nein zur Politik dieser Großen Koalition.
Ich danke Ihnen.