Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte meine Redezeit einem Thema widmen, das
auch zwei meiner Vorredner schon angesprochen haben.
Ich bin seit acht Jahren Vorsitzende der Deutsch-Ukrai-
nischen Parlamentariergruppe, und ich möchte die Gele-
genheit heute explizit nutzen, im Namen dieser Parla-
mentariergruppe den mutigen Menschen in Kiew, die
dafür demonstrieren, dass sie Europäer sein dürfen, und
die zu Europa gehören wollen, unseren Respekt und un-
sere Unterstützung auszusprechen.
Ich finde es beachtenswert – wir sollten das als Parla-
ment entsprechend würdigen –, dass mehrere Hundert-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 259
Dr. Bärbel Kofler
(C)
(B)
tausend Menschen seit Wochen friedlich demonstrieren,
viel in Kauf nehmen, ihrer Arbeit und ihren Studienplät-
zen fernbleiben und versuchen, eine Ukraine zu unter-
stützen, die nach Europa kommt und die auch nach
Europa gehört.
Wir alle wissen: Der sperrige Begriff „Assoziierungs-
abkommen“ ist bestimmt nicht das, was die Menschen
auf die Straße treibt. Aber das, was dahintersteht, treibt
die Ukrainer um, und das muss auch uns umtreiben,
wenn wir über gemeinsame europäische Außenpolitik
reden, wenn wir wirkliche Unterstützung und Hilfe für
unsere Partner in diesem Prozess sein wollen. Es geht
um mehr als Freihandelsabkommen. Um die geht es
auch, aber es geht um mehr. Es geht dabei auch um an-
dere Fragen: Was für einen Veränderungsprozess bedeu-
tet das in einem Land wie der Ukraine? Was sind dort für
Umstrukturierungsprozesse notwendig?
An dieser Stelle sei die kleine Nebenbemerkung ge-
stattet: Es ist schon etwas unglaubwürdig, auch vonsei-
ten der ukrainischen Regierung, nach sieben Jahren des
Verhandelns über das Assoziierungsabkommen jetzt
plötzlich zu bemerken, dass es Anpassungskosten geben
wird. Eine Woche bevor der Gipfel in Vilnius stattfindet,
stellt man plötzlich fest: Es wird Transformationskosten
geben. – Ja, diese wird es geben. Aber man darf nicht
kurzfristige Politik betreiben, wie es in Moskau gesche-
hen ist, als der Ukraine durch Kredite und Hilfen im
Gasbereich kurzfristig aus einer wirtschaftlich prekären
Situation geholfen werden sollte, ohne ihr aber mittel-
und langfristige Perspektiven aufzuzeigen.
Es geht aber um mehr. Es geht auch um die Frage
– das muss die Ukraine als souveräner Staat selbst ent-
scheiden –, welche Standards, welche europäischen und
grundsätzlichen Standards, das Land in Zukunft setzen
möchte. Die Menschen in der Ukraine gehen – das ist
ganz klar – für ein besseres Leben auf die Straße. Viele
Menschen in der Ukraine treibt ihre sehr schwierige
wirtschaftliche und soziale Situation um. Aber die Men-
schen gehen auch für Rechtsstandards, eine Trennung
von Politik und Justiz, eine Beendigung der Einfluss-
nahme der Politik auf eigentlich unabhängige Gerichte
und Justizprozesse auf die Straße. Auch das ist Teil des
Abkommens. Es geht des Weiteren um eine Wahlrechts-
reform, eine Reform des Strafgesetzbuches und eine Re-
form der Staatsanwaltschaften in der Ukraine. Für all
dies gehen die Menschen in der Ukraine auf die Straße.
Dafür gebühren ihnen unsere Unterstützung und unser
Respekt.
Es geht für uns Europäer aber um noch mehr. Es geht
um das Zusammenwachsen der Nationen und der Völ-
ker. Jeder von uns kann das in vielen Städtepartnerschaf-
ten nachempfinden und nachleben. Ich kenne zahlreiche
Städtepartnerschaften in Bayern, die von den Bürgern
getragen werden und die einen wirklichen Austausch
zwischen den Zivilgesellschaften ermöglichen. Wenn
wir uns mit der Ukraine auseinandersetzen, müssen wir
einerseits die wirtschaftlichen Aspekte, also die Frage,
wie wir der Ukraine wirtschaftlich helfen können, ernst
nehmen und andererseits den zivilgesellschaftlichen
Aspekt in den Fokus rücken und die Chancen und Mög-
lichkeiten für ein ziviles Zusammenleben und Zusam-
menwachsen der Bürger stärken. Für mich gehört ganz
eindeutig die Visafreiheit für die Ukraine, und zwar als
Ziel eines Aktionsplanes, dazu.
Wie gesagt, wir alle kennen Projekte, die von Bürgern
getragen werden. Europa lebt davon, dass Menschen
diese Projekte mit Leben erfüllen und in den Mittelpunkt
stellen.
Wir sind momentan in einer schwierigen Situation.
Ich finde es richtig, was heute bereits mehrfach gesagt
wurde: Es darf in den Beziehungen zur Ukraine nicht um
ein Entweder-oder gehen. Die Ukraine darf nicht dazu
gedrängt werden, ihren Blick von den historischen und
familiären Beziehungen zu Russland abzuwenden. Jeder,
der in diesen Ländern einige Zeit war – ich habe drei
Jahre in Russland gelebt und gearbeitet –, weiß, dass es
enge familiäre, persönliche Beziehungen zwischen den
Ländern gibt, die auch ernst genommen werden müssen.
Aber ein Staat wie Russland darf sich auch nicht das
Recht herausnehmen, auf einen souveränen Nachbar-
staat wie die Ukraine, der sich in einer schwierigen wirt-
schaftlichen Situation befindet, Druck auszuüben und
ihn zu Entscheidungen zu bringen, die die Ukraine bei
freien Entfaltungsmöglichkeiten so nicht gefällt hätte.
Beide Aspekte müssen in der europäischen Politik be-
rücksichtigt werden. Auf beide Aspekte muss eingegan-
gen werden. Gewachsene Beziehungen müssen ernst ge-
nommen werden. Genauso ernst genommen werden
müssen aber auch Forderungen nach Achtung der Men-
schenrechte und der Souveränität. Ich glaube, die
Ukraine und insbesondere die ukrainische Regierung
sind gut beraten, endlich deutlich zu sagen, was sie wol-
len. Vonseiten der ukrainischen Regierung werden zur-
zeit sehr ambivalente Signale ausgesandt. Die finanzielle
Nachforderung von Präsident Janukowitsch wurde be-
reits angesprochen. Es ist nicht zielführend, hier in eine
Art Bieterkrieg einzutreten und über kurzfristige Maß-
nahmen zu sprechen. Aber wir müssen sehen – der Kol-
lege Nietan hat das bereits angesprochen –, welche
Möglichkeiten es im Rahmen der mittelfristigen Finanz-
planung auf europäischer Ebene gibt, um der Ukraine
aus der desolaten wirtschaftlichen Situation zu helfen,
und zwar unter Einbeziehung der Fragen betreffend die
Energieversorgung, die von fulminanter – auch sozial-
politischer – Bedeutung für die Ukraine sind. Es ist zu
wenig, zu sagen: Ihr müsst eure Haushaltsausgaben im
Bereich der Sozialtransfers, wobei es um Wohnungen
und um die Unterstützung der Bevölkerung geht, kürzen. –
260 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Dr. Bärbel Kofler
(C)
(B)
Ja, das muss passieren, aber es muss vorher etwas
passieren, damit den Menschen in der Ukraine ein be-
zahlbares Heizen ermöglicht wird. Ich glaube, wir sind
gut beraten, auf verschiedensten Wegen Hilfe und Unter-
stützung angedeihen zu lassen. Vielleicht wäre es gut,
wenn die EU, aber auch die deutsche Bundesregierung
ihr Augenmerk in der Zukunft mehr auf diese Fragen
richten könnten.
Ich finde es begrüßenswert, dass von verschiedensten
Seiten, sowohl von den EU-Außenministern als auch
von der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheits-
politik oder auch von dem EU-Parlamentspräsidenten
Martin Schulz, zwar deutliche Kritik geäußert wurde,
aber immer auch gesagt wurde: Die Tür für Verhandlun-
gen muss offen bleiben, und auch der Gesprächsfaden
– auch das möchte ich unterstreichen – mit Russland
darf nicht abreißen.
Wenn man sich kurz vor Weihnachten etwas wün-
schen darf, dann würde ich mir zum Schluss an dieser
Stelle wünschen, dass wir als Europäer, als EU, und als
deutsche Bundesregierung unsere Aufmerksamkeit und
unsere Empathie mehr nach Osteuropa lenken und uns
unseren osteuropäischen Nachbarn widmen, deren Sor-
gen ernst nehmen und aufgreifen, den Dialog mit beiden
Seiten, sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland,
stärken, es am Ende vielleicht doch noch schaffen, zu ei-
nem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zu gelan-
gen, und die Visaerleichterung und weitere Erleichterun-
gen für die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Ganz
besonders wünsche ich mir, dass friedliche Verhandlun-
gen die Oberhand behalten, dass es weiterhin friedliche
Demonstrationen geben kann und die Demonstrationen
nicht in eine Situation abgleiten, in der Gewalt am Ende
die Oberhand gewinnt.
Ich danke Ihnen.