Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin Göring-
Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
Wochen demonstrieren Tausende und Abertausende auf
dem Maidan in Kiew. Sie harren aus in Kälte und ertra-
gen die Gegenwehr der Staatsmacht. Die Menschen auf
dem Maidan und an vielen anderen Orten kämpfen lei-
denschaftlich für europäische Werte. Genau darum geht
es ihnen: ein Signal für dieses gemeinsame Europa der
Werte zu setzen.
Bei dem Konflikt in der Ukraine geht es um den sou-
veränen Staat Ukraine. Nein, es geht nicht um Entweder-
oder, sondern es geht darum, dass die Ukraine ein selbst-
ständiger, ein europäischer Staat werden muss und wer-
den darf. Dazu braucht sie von uns kein Vielleicht, kein
Möglicherweise und kein Ja-aber, sondern sie braucht
ein klares Bekenntnis: Wir unterstützen die Zivilgesell-
schaft, wir unterstützen diejenigen, die für die europäi-
schen Werte kämpfen, wir unterstützen die Menschen
auf dem Maidan, die für europäische Werte und für die
Demokratie kämpfen.
Genau darum muss es gehen, wenn wir über europäi-
sche Politik in diesen Tagen reden. Wir wissen ange-
sichts der gegenwärtigen Bedingungen noch nicht, ob in
der Ukraine im Jahr 2015 überhaupt noch demokratische
Wahlen, die erkämpft worden sind, stattfinden können.
Ich bin sehr dankbar, dass eine Reihe von Kolleginnen
und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und aus
dem Europaparlament in Kiew waren und deutlich ge-
macht haben: Ja, wir stehen an der Seite der Zivilgesell-
schaft. – Was das für diejenigen, die dort ausharren, be-
deutet, kann man, glaube ich, nicht hoch genug
einschätzen. Ich möchte gern, dass wir in dieser Legisla-
turperiode deutlich machen: Es geht nicht nur um ein
Europa der Wirtschaft und der Finanzen, sondern es geht
eben auch um ein Europa der Werte.
Während der orangenen Revolution, Frau Merkel, ha-
ben auch auf den Tischen der CDU/CSU-Fraktion Oran-
gen als Zeichen der Solidarität gelegen. Heute erleben
wir solche Zeichen von Solidarität immer nur mit einem
Untertitel und in Häkchen.
Herr Minister Steinmeier, Sie haben gestern davon
gesprochen, dass Sie Russlands Ausnutzen der Notlage
der Ukraine empörend finden. Das will ich unterstrei-
chen. Aber ich kann nur hoffen, dass es Ihnen damit
ernst ist und dass Sie auch gegenüber Russland tatsäch-
lich Klartext reden, wenn es um Solidarität mit der
Ukraine und der dortigen Zivilgesellschaft geht.
Sie haben von Modernisierungspartnerschaft geredet.
Allerdings ist ohne die Einhaltung der Menschenrechte
und ohne eine Demokratisierung Russlands eine solche
Modernisierung gar nicht möglich. Das ist Russland of-
fensichtlich egal, nach innen wie nach außen. Einem
Land, das die Olympischen Spiele ausrichten wird, aber
nach wie vor Menschenrechte missachtet und Menschen
in Haft hält, die sich der Putin-Politik widersetzen, dem
müssen wir bei allen Verhandlungen und Gesprächen,
egal worum es geht, deutlich machen: Nein, das akzep-
tieren wir nicht.
Es wäre wahrhaft ein gutes Signal, wenn Ihr Koali-
tionsvertrag beim Thema Osteuropa, wie an vielen ande-
ren Stellen auch, nicht nur ein Dokument des Vielleicht
und Ja-aber wäre. Er fällt sogar hinter das zurück, was
die Mehrheit des Deutschen Bundestages, übrigens über
Fraktionsgrenzen hinweg, im Jahr 2012 beschlossen hat.
Wichtige Passagen zur Unterstützung der Zivilgesell-
schaft sind aus den Entwürfen wieder herausgestrichen
worden. Warum? Geht es wieder einmal weniger um
Freiheitsrechte und Werte? Antworten auf die Frage, wie
auf die repressive und modernisierungsfeindliche Politik
Putins im Land, aber auch gegenüber Nachbarländern
wie der Ukraine reagiert werden soll, findet man im Ko-
alitionsvertrag dieser Legislaturperiode vergeblich. Ich
finde, das ist auch ein europäisches Armutszeugnis.
Ich glaube vor allem, dass die Geschundenen, diejeni-
gen in den Knästen, die Homosexuellen, die unter
furchtbaren Repressionen leiden werden, das nicht ver-
stehen können. Ich sage Ihnen: Auch ich verstehe es
nicht, dass der Kreml zum Modernisierungspartner wird,
obwohl Putin hinlänglich bewiesen hat, dass er an De-
mokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht interessiert ist,
weder in Russland noch in seiner Nachbarschaft. Wir er-
warten in dieser Legislaturperiode von Ihnen, dass Sie
das ändern, dass Sie klarmachen: Hier muss eine andere
Richtung eingeschlagen werden.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 249
Katrin Göring-Eckardt
(B)
Das sind wir denen schuldig, die auf dem Maidan de-
monstrieren, und das sind wir denen schuldig, die über-
haupt nicht jubeln können, wenn andere Fähnchen in
Sotschi schwenken.
Meine Damen und Herren, die EU ist Zivilmacht und
sogar Trägerin des Friedensnobelpreises. Aber statt zi-
vile Krisenprävention zu betreiben, wird dieser Gipfel
auch wie eine Finanzspritze für die schwächelnde Rüs-
tungsindustrie werden. In der EU bestehen heute schon
unzählige Doppelstrukturen und Überkapazitäten. Der
Druck, das Zuviel an Rüstungsgütern weiter ungebremst
in Drittstaaten außerhalb der EU und der NATO zu
exportieren, besteht weiter. Vorsichtigen Schätzungen ei-
ner EU-Studie zufolge verschlingt die Nichtkooperation
der EU-Mitgliedstaaten im Verteidigungsbereich heute
schon 26 Milliarden Euro; andere Schätzungen gehen
sogar von 100 Milliarden Euro aus – eine enorme
Summe, die allein dadurch entsteht, dass es mangelnde
Zusammenarbeit gibt.
Dennoch machen wir jetzt so weiter, statt Geld für
notwendige europäische Investitionen freizumachen,
beispielsweise im Bereich der Energiewende, der erneu-
erbaren Energien oder der Digitalisierung. Das wäre bes-
ser, als weiter in Maschinengewehre und Panzer zu in-
vestieren. Das ist der falsche Weg, und deswegen sage
ich ganz klar: Ziviles Europa heißt auch, dass hier Ko-
operation statt Überkapazität angesagt ist, dass hier das
Abbauen und tatsächlich zivile Krisenprävention ange-
sagt sind.
Ich will es ganz deutlich sagen: Kooperation bei Rüs-
tungsprojekten heißt für uns nicht Einstieg in den Droh-
nenkrieg. Da ist die Entwicklung gemeinsamer militäri-
scher Fähigkeiten kein Hintertürchen – sie darf kein
Hintertürchen sein! –, mit dem Deutschland in diesem
Bereich plötzlich einfach mal mitmischen kann, ohne
sich der innenpolitischen Debatte zu stellen. Nein, hier
muss weiter klar und deutlich sein: Der Einstieg in den
Drohnenkrieg darf nicht passieren und schon gar nicht
durch ein Hintertürchen mit deutscher Hilfe.
Frau Bundeskanzlerin, nicht nur wir, sondern auch
ganz Europa fragt sich: Welche Rolle will Deutschland
in der EU in Zukunft eigentlich spielen? Welche Vision
für die Zukunft der EU hat die alte und neue Kanzlerin?
Sie haben am Anfang Ihrer Regierungserklärung heute
gesagt, dass es gut und richtig ist, dass sich die erste Re-
gierungserklärung mit Europa beschäftigt. Ja, mit Eu-
ropa hat sie sich beschäftigt; eine Vision allerdings hat
gefehlt.
Um welche Impulse geht es eigentlich? Die europäi-
schen Partner wünschen sich doch zu Recht ein kon-
struktives Deutschland und vor allem Klarheit. Bei bei-
dem werden sie enttäuscht. Der Koalitionsvertrag zeigt,
dass Ihnen da der Mut fehlt. Ich weiß nicht ganz genau,
ob es damit zu tun hat, dass so viel verhandelt worden
ist. Man hat den Eindruck, hier soll weiter durchlaviert
werden. Lassen Sie mich dafür zwei Beispiele nennen,
um da eben nicht im Ungefähren zu bleiben.
Erstes Beispiel. Sie kündigen vollmundig an, die Ban-
ken endlich ohne Belastung der Steuerzahler abwickeln
zu wollen. Es war allerdings Herr Schäuble, der dafür
gesorgt hat, dass diese Abwicklung erst ab dem Jahr
2026 vollständig aus Beiträgen der Banken finanziert
werden soll. Bis dahin – bis zum Jahr 2026 – haften wei-
ter die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Ich jedenfalls stelle mir Klarheit, was Bankenabwick-
lung und was die Frage der Verursacher angeht, anders
vor. Deswegen sage ich klar und deutlich: Nehmen Sie
hier eine Veränderung vor. Dieses Durchlavieren und Hi-
nausschieben macht keinen Sinn.
Das zweite Beispiel, das ich anführen will: Sie haben
darüber geredet, Frau Bundeskanzlerin, wie die Situation
der Flüchtlinge in Europa ist. Passieren Tragödien wie
vor ein paar Monaten vor Lampedusa – dergleichen pas-
siert ja immer wieder –, dann stellen sich alle zusammen
hin und sagen: Wir sind sehr betroffen. Das darf nie wie-
der passieren. – Gleichzeitig machen Sie weiter mit einer
Abschottungs- und Abgrenzungspolitik, die nicht dazu
führt, dass es eine Entspannung für die Flüchtlinge gibt,
die über das Mittelmeer zu uns kommen. Sie werden
weiterhin zurückgeschickt, und sie werden weiterhin
nicht als Menschen behandelt, die in großer Not sind,
sondern als Menschen, die wir nicht gebrauchen können.
Das hat mit menschenwürdiger Flüchtlingspolitik nichts
zu tun.
Ich bin fest überzeugt, dass wir endlich dazu kommen
müssen, dass wir innerhalb der EU tatsächlich Solidari-
tät üben, vor allen Dingen auch Solidarität mit den Auf-
nahmeländern. Wir können Italien und die anderen Län-
der an den EU-Außengrenzen nicht mehr alleinlassen.
Da hilft es auch nichts, wenn wir weiter darüber reden,
wie viele Flüchtlinge es nun eigentlich sind, die wir tat-
sächlich aufnehmen und die andere tatsächlich aufneh-
men. Die Situation ist so, dass wir darüber nicht mehr
lange nachdenken dürfen, sondern dass wir sagen müs-
sen: Wir brauchen hier einen wirklichen Neuanfang, der
mit Kooperation zu tun hat. Es geht nicht, dass wir sa-
gen: Jetzt kann man das Problem vielleicht auch noch
auf die Türkei oder die nordafrikanischen Länder abwäl-
zen.
Es muss dazu kommen, dass wir endlich Dublin II
überdenken. Es muss dazu kommen, dass wir eine realis-
tische Aufnahmepolitik in der Europäischen Union vo-
rantreiben, und wir können das aus Deutschland heraus.
Es muss dazu kommen, dass Flüchtlinge den Ort, wo sie
Asyl beantragen, tatsächlich frei wählen können. Es
muss dazu kommen, dass in Flüchtlingslagern nicht
mehr Menschen sitzen, die ausgebildet sind, die jung
sind, die motiviert sind und die etwas tun wollen, dort
aber Monat für Monat festgehalten werden – unter wahr-
lich nicht sehr guten Bedingungen.
250 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013
Katrin Göring-Eckardt
(C)
(B)
Meine Damen und Herren, ich glaube, Flüchtlings-
politik der EU ist etwas, was in den nächsten Monaten
und Jahren endlich auf eine realistische Grundlage, auf
eine echte Einwanderungsgrundlage und vor allen Din-
gen auf die Grundlage wahrhafter Menschlichkeit und
Solidarität gestellt werden muss. Darauf kommt es an,
und dafür ist zu kämpfen.
Frau Merkel und Herr Steinmeier, bei der Politik der
EU und dem Beitrag Deutschlands geht es immer um
Wirtschaft und Finanzen, und das war auch heute wieder
so. Um Ökologie sorgen Sie sich nur am Rande. Aber es
geht vor allen Dingen um Werte und Freiheitsrechte: für
die Jugendlichen, die sich nach wie vor vergessen füh-
len,
weil Kleinstprogramme nicht helfen, für die Flüchtlinge
an den Außengrenzen – übrigens auch für diejenigen, die
innerhalb Europas auf der Flucht sind wie die Sinti und
Roma, die aus fürchterlichen Bedingungen aufgrund von
Diskriminierung hierherkommen – und für die Men-
schen auf dem Maidan, die unsere Werte verteidigen,
auch gegen einen russischen Diktator.
Ich möchte kämpfen für ein Europa der Freiheits-
rechte, der Werte und der Demokratie. Ich glaube, das ist
jetzt dran. Die Frage von Wirtschaft und Finanzen wer-
den wir weitertreiben müssen, aber das andere macht ei-
gentlich unser gemeinsames Europa aus.
Vielen Dank.