Rede von
Dietmar
Nietan
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Nein.
Sie spricht für eine neue Bundesregierung, die bei al-
len notwendigen Strukturreformen für mehr Wettbe-
werbsfähigkeit jetzt auch das Augenmerk auf die Sozial-
verträglichkeit von Strukturanpassungen legt, also für
eine durchaus neue Politik. Ich glaube, auf diese neue
Politik, die mit dem Eintritt der Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten in die Regierung möglich gewor-
den ist, haben viele Regierungschefs in Europa offen
– vielleicht auch insgeheim der eine oder andere Konser-
vative – gesetzt. Sie hoffen auf eine neue Bundesregie-
rung, die sich dafür einsetzt, dass es in Europa wieder
sozialer und gerechter zugeht.
Denn auch für Europa gilt, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen: Das Wir entscheidet.
Unsere heutige Europäische Union darf nicht zu einer
Versorgungsstelle für die Befriedigung vermeintlicher
nationaler Interessen verkommen. Die Europäische
Union ist eine Gemeinschaft, und für eine Gemeinschaft
gilt immer noch: Sie ist dann stark, wenn sie auch ge-
meinschaftlich handelt.
Natürlich brauchen wir neue Impulse für Beschäfti-
gung in ganz Europa. Deshalb sage ich an dieser Stelle:
Es ist aus meiner Sicht nicht hinnehmbar, dass gut an-
derthalb Jahre nach der Beschlussfassung über den Pakt
für Wachstum und Beschäftigung immer noch nicht alle
Maßnahmen dieses Paktes umgesetzt sind. Auch wenn
es hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung einiger
Staaten den einen oder anderen Lichtblick am Horizont
gibt, so sind wir noch lange nicht über den Berg. Ich will
an dieser Stelle ergänzend zu dem, was die Bundeskanz-
lerin gesagt hat, betonen: Nicht nur die Staaten, die jetzt
keine Leistungen aus den Hilfspaketen mehr benötigen,
haben große Anstrengungen geleistet, sondern alle Staa-
ten, allen voran Griechenland, haben große Anstrengun-
gen geleistet. Das sollten wir an dieser Stelle würdigen.
Wir dürfen die Augen allerdings nicht davor ver-
schließen, dass wir es immer noch mit einer dramatisch
hohen Jugendarbeitslosigkeit zu tun haben. In drei Mit-
gliedstaaten ist jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit,
und in weiteren 16 Mitgliedstaaten liegt die Jugendar-
beitslosenquote bei über 20 Prozent. Deshalb reichen
– das sage ich sehr deutlich – die bisher verabredeten
Maßnahmen der EU zur Bekämpfung der Jugendarbeits-
losigkeit nicht aus.
Ich erwarte von der neuen Bundesregierung, dass sie den
schwarz-roten Koalitionsvertrag ernst nimmt, in dem
klar steht: Diese Bundesregierung muss für die Bekämp-
fung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa mehr tun als
ihre Vorgängerregierung.
Es gibt ein weiteres Thema, das aus meiner Sicht sehr
entscheidend ist, aber in der öffentlichen Debatte nicht
sehr oft die entsprechende Beachtung findet. Wir müssen
in der Europäischen Union Systeme schaffen, die es er-
möglichen, dass kleine und mittlere Unternehmen
schnell und einfach an Kredite kommen. Denn wie wol-
len wir die wirtschaftliche Gesundung nicht nur in Grie-
chenland voranbringen, wenn diejenigen, die dort neue
Arbeitsplätze schaffen wollen, die sich engagieren wol-
len, vor einem Bankensystem stehen, das ihnen keine
vernünftigen Kredite gibt? Das ist kein nationales
Thema, sondern eines, für das wir uns auf europäischer
Ebene einsetzen müssen.
Ich will kurz auf die sich im Trilog abzeichnende Ei-
nigung zu einer wichtigen Säule der Bankenunion, näm-
lich zu einem Abwicklungsmechanismus und Abwick-
lungsfonds für Banken, eingehen. Es ist völlig richtig,
dass es bisher der falsche Weg war, dass die Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler alleinige Haftung übernommen
haben. Deshalb finde ich es gut – auch das kann man im
schwarz-roten Koalitionsvertrag nachlesen –, dass laut
dem, was ich vom Ecofin höre, die Entwicklung auf der
europäischen Ebene jetzt in die richtige Richtung geht.
Es muss eine Haftungskaskade geben, bei der eines klar
ist: Die erste Priorität bei der Haftung haben die Eigentü-
mer der Banken und nicht die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler;
danach kommen die großen Bankgläubiger und nicht
die kleinen Sparer. Es ist gut, dass sich abzeichnet, dass
die Einlagensicherung zumindest für Einlagen bis zu
100 000 Euro gewährleistet ist und dass die kleinen Spa-
rerinnen und Sparer, sollte es zu Problemen kommen, in
sieben Tagen an ihr Geld kommen können. Das reicht
zwar noch nicht aus. Aber es zeigt, dass wir in die rich-
tige Richtung gehen. Auch diejenigen, denen das nicht
ausreicht, sollten zumindest diese Fortschritte nicht
ignorieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Schluss meiner Rede zur Situation der Flüchtlinge in Eu-
ropa kommen. Der Präsident des Europäischen Parla-
ments, Martin Schulz, hat in einer, wie ich finde, bemer-
kenswerten Rede am 24. Oktober vor dem Europäischen
Rat, vor den Staats- und Regierungschefs gesagt:
Lampedusa wurde zum Gleichnis für eine europäi-
sche Flüchtlingspolitik, die aus dem Mittelmeer ei-
nen Friedhof macht.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 18. Dezember 2013 255
Dietmar Nietan
(C)
(B)
Martin Schulz hat recht. Es ist ein Skandal, was jeden
Tag, auch heute, an den Außengrenzen der Europäischen
Union geschieht.
Martin Schulz hat den Staats- und Regierungschefs am
24. Oktober außerdem in das Stammbuch geschrieben:
Lampedusa muss ein Wendepunkt für die europäi-
sche Flüchtlingspolitik sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Entwurf der
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, der 45 Punkte
enthält, ist ganz am Ende, in den Punkten 41 und 42, zu
lesen, der Europäische Rat bekräftige seine Entschlos-
senheit, das Risiko zu verringern, dass es in Zukunft zu
weiteren Tragödien dieser Art kommt. Ich frage mich:
Was haben die Kommission und die Staats- und Regie-
rungschefs seit Anfang Oktober in Lampedusa getan?
Das ist zu wenig, was in diesen Schlussfolgerungen des
Europäischen Rates steht.
Deshalb ist es unsere Aufgabe – nicht nur die der
Bundesregierung –, sehr schnell daran zu arbeiten, dass
es grundlegende Reformen gibt, auch beim System von
Dublin II. Es kann nicht sein, dass sich reiche Staaten in
Europa weigern, bei der Aufnahme von Flüchtlingen So-
lidarität mit den Staaten zu zeigen, die an unseren Au-
ßengrenzen liegen. Das ist nicht das Europa, das ich mir
wünsche, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es kann auch nicht sein, dass die Drittstaatenabkom-
men, die wir mit Staaten wie Marokko treffen, den Cha-
rakter eines modernen Ablasshandels haben. Da wird
Drittstaaten etwas Geld gegeben, und dafür sollen die
dann die Flüchtlinge – ich sage das so deutlich – entsor-
gen. Wenn sie von Marokko in die Wüste geschickt wer-
den, dann zuckt man hier mit den Schultern nach dem
Motto: Wir haben mit denen doch ein Drittstaatenab-
kommen. – Das ist den Werten der Europäischen Union
nicht würdig. Wir alle müssen etwas dafür tun, dass sich
das schnell ändert.
Wir brauchen für die Europäische Union ein legales
Einwanderungssystem, wir brauchen mehr Solidarität
bei der Aufnahme von Flüchtlingen, und – ich sage das
sehr deutlich – wir sollten uns noch einmal den mehrjäh-
rigen Finanzrahmen der EU ansehen. Er spart nämlich
ausgerechnet bei Maßnahmen für internationale Hilfen.
Wenn wir es mit den Worten: „Wir wollen die Ursachen
von Flucht, Verfolgung und Armut bekämpfen“ ernst
meinen und gleichzeitig im mehrjährigen Finanzrahmen
bei Maßnahmen für internationale Hilfen kürzen, sind
wir zutiefst unglaubwürdig. An genau diesen Punkten
müssen wir arbeiten, muss diese Regierung arbeiten. An
diesen Punkten wird die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands in dieser Regierung arbeiten. Es soll ja
Leute gegeben haben – das habe ich mir sagen lassen –,
die an der europapolitischen Zuverlässigkeit der Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten gezweifelt haben.
Wir werden in den nächsten vier Jahren beweisen, dass
diese Zweifel unberechtigt waren.
Vielen Dank.