Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.
Die Kollegin Ulla Lötzer feiert heute ihren 60. Ge-
burtstag. Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich, verbunden
mit allen guten Wünschen für die nächsten Jahre.
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung verein-
bart, während der Haushaltsberatungen in der nächsten
Sitzungswoche wie üblich keine Befragung der Bundes-
regierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen
Stunden durchzuführen. Sind Sie damit einverstanden?
Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stabilisierung der Finanzlage der Sozial-
versicherungssysteme und zur Einführung ei-
nes Sonderprogramms mit Maßnahmen für
Milchviehhalter sowie zur Änderung anderer
Drucksachen 17/507, 17/814
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses
Drucksache 17/928
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
b) Beratung der Beschlussempfehlung un
ext
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir debattieren heute über ein Ge-
setz mit dem etwas sperrigen Namen Sozialversiche-
rungs-Stabilisierungsgesetz. Mir als Germanisten geht
das etwas schwer über die Zunge.
Im Kern geht es darum, die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die unverschuldet von den Folgen der
globalen Finanz- und Wirtschaftskrise bedroht sind,
nicht im Stich zu lassen. Nachdem wir in der Vergangen-
heit bereits Schutzschirme über Banken und Unterneh-
men gespannt haben, erwarten die Menschen in unserem
Lande zu Recht von uns, dass wir sie mit den Folgen der
Krise nicht alleine lassen. Es wäre fatal, wenn die Men-
ruck hätten, Banken und Unternehmen,
der Krise wahrgenommen werden, würde
ln geholfen, aber sie selbst seien nicht
genug. Das Gegenteil ist der Fall. Wohl-
d des Be-
schuss) zu
Weinberg,
schen den Eind
die als Akteure
mit Steuermitte
systemrelevant
2508 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Norbert Barthle
stand und Wirtschaftswachstum sind nur mit aktiven und
leistungswilligen Bürgern möglich. Deshalb spannen wir
einen Schutzschirm über diese Bürger. Die leistungswil-
ligen Bürger sind es, die dieses Land voranbringen.
Die weltweite Wirtschaftskrise reißt spürbare Lü-
cken in die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme.
Deshalb hat die christlich-liberale Koalition vereinbart,
dass wir alles dafür tun wollen, die Lohnnebenkosten
stabil zu halten. Das erreichen wir, indem wir die krisen-
bedingten Einnahmeausfälle in der Sozialversicherung
einmalig mit Steuermitteln abfedern. Im Bereich der Bun-
desagentur für Arbeit hat die Wirtschaftskrise zu Einnah-
meausfällen und steigenden Ausgaben geführt. Für Ende
des Jahres rechnet die Bundesagentur deshalb mit einem
Defizit. Dieses Defizit werden wir durch einen einmali-
gen Bundeszuschuss ausgleichen. Im Regierungsentwurf
waren dafür 16 Milliarden Euro vorgesehen. Erfreuli-
cherweise hat sich die Konjunktur seitdem, wenn auch
verhalten, verbessert. Im Rahmen unserer gestrigen Bera-
tungen im Haushaltsausschuss haben wir deshalb be-
schlossen, diesen Zuschuss um 3,2 Milliarden Euro auf
12,8 Milliarden Euro zu verringern. Damit hat die Bun-
desagentur immer noch das will ich betonen genügend
liquide Mittel, um ihren Aufgaben gerecht zu werden.
Eines muss ich in diesem Zusammenhang betonen:
Wir haben den für Eingliederungsmaßnahmen für Ar-
beitslose vorgesehenen Aufwuchs der Mittel in Höhe von
900 Millionen Euro mit einer Haushaltssperre belegt. Das
soll nichts anderes heißen, als dass wir sicherstellen wol-
len, dass dieses Geld zweckentsprechend, vernünftig,
zielgerichtet, ökonomisch und sicher eingesetzt wird.
Diese Sperre werden wir, sobald die Ministerin ihr Kon-
zept für die Verwendung des Geldes vorlegt das kann
bereits in der nächsten Haushaltswoche sein , wieder
aufheben. Dann steht dieses Geld für all diejenigen zur
Verfügung, die wieder in Arbeit gebracht werden sollen.
Bei der gesetzlichen Krankenversicherung wird es
in diesem Jahr wegen krisenbedingter Auswirkungen auf
Beschäftigung und Löhne ebenfalls Beitragsausfälle ge-
ben. Diese gleichen wir durch einen zusätzlichen Zu-
schuss in Höhe von 3,9 Milliarden Euro aus. Davon er-
halten die landwirtschaftlichen Krankenkassen einen
Teilbetrag in Höhe von rund 23 Millionen Euro. Die Zu-
schüsse des Bundes zum Gesundheitsfonds belaufen sich
in diesem Jahr auf insgesamt 15,7 Milliarden Euro.
Auch das entlastet die Beitragszahler; denn ohne diese
Maßnahmen müssten wir die Sozialbeiträge zwingend
flächendeckend anheben.
Das Hartz-IV-Schonvermögen wird verdreifacht, in-
dem wir die Freibeträge von 250 Euro auf 750 Euro pro
Lebensjahr anheben. Auch hier löst die Koalition ihre
Zusage aus dem Koalitionsvertrag ein.
Nun hat die Krise auch vor der Landwirtschaft nicht
haltgemacht. Viele landwirtschaftliche Betriebe, insbe-
s
h
d
v
E
m
v
W
H
rü
e
li
la
d
d
li
m
2
L
ö
d
s
S
B
z
u
k
im
g
n
6
K
m
s
z
S
s
fe
d
Q
le
im
B
A
a
s
Eines muss man an dieser Stelle einmal betonen viel-
icht auch in Richtung der Linken, die an dieser Stelle
mer einen falschen Eindruck erwecken wollen :
ereits jetzt machen die Sozialausgaben 54 Prozent der
usgaben im Bundeshaushalt aus. In absoluten Zahlen
usgedrückt sind es 178 Milliarden Euro allein für die-
en Bereich.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2509
)
)
Norbert Barthle
Das ist nicht nur eine haushaltsrelevante Größenord-
nung, sondern spiegelt auch den hohen Stellenwert wi-
der, den die sozialen Sicherungssysteme in unserer Ge-
sellschaft haben.
Dies beweist auch die aktuelle Debatte über die
Hartz-IV-Regelsätze. Das Verfassungsgericht hat nicht
die Höhe der Zahlungen kritisiert, sondern nur die Me-
thode der Ermittlung der Regelsätze. Deshalb sind wir
gespannt auf die Berechnungen, die die Bundesarbeits-
ministerin vorlegen wird.
Das Verfassungsgericht hat uns auch verpflichtet, mit
sofortiger Wirkung eine Härtefallregelung für die
Übernahme dauernder atypischer Kosten von Hartz-IV-
Empfängern zu schaffen. Wir Koalitionshaushälter hat-
ten vorgesehen, eine entsprechende Zusatzregelung in
diesem Gesetz aufzunehmen, um den Menschen, die da-
rüber mehr Hilfe in Anspruch nehmen könnten, sofort zu
helfen. Damit wäre sehr schnell Rechtssicherheit für die
Behörden und die Bürger geschaffen worden. Allein im
Jahr 2010 hätten wir dafür 100 Millionen Euro zusätz-
lich für die Empfänger von Leistungen nach dem SGB II
vorgesehen. Sie merken, ich spreche im Konjunktiv;
denn leider ist es noch nicht so weit. Warum? Ausge-
rechnet die Sozialdemokraten, die sich immer als Sozial-
advokaten gerieren, haben verlangt, dazu eine Anhörung
durchzuführen.
Wenn man aber eine Anhörung durchführt, dann vergeht
mehr Zeit und dann können wir die Fristen, die für dieses
Gesetz vorgesehen sind, nicht mehr einhalten. Deshalb
mussten wir diesen Teil vom jetzt vorliegenden Gesetz-
entwurf wieder abtrennen. Das heißt, die Sozialdemokra-
ten haben eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern
in diesem Land in Sippenhaft genommen, um ihre takti-
schen Spielchen betreiben zu können. Ich finde das nicht
besonders schön.
Herr Kollege Barthle, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Kurth?
Jawohl, gerne.
Verehrter Herr Barthle, Sie sagen, die Abtrennung der
Härtefallklausel bzw. das Ansinnen der Opposition sei
ein taktisches Spielchen. Stimmen Sie mir zu, dass Sie
hier ansonsten bei jeder Gelegenheit betonen, Gründ-
lichkeit gehe vor Schnelligkeit? Stimmen Sie mir zu,
dass Sie, wenn im Haushaltsausschuss vereinbart wor-
den wäre, diese Regelung anzudocken, den eigentlich
z
S
e
a
S
le
b
K
z
S
te
D
R
w
G
s
S
R
S
s
fü
w
S
F
F
ta
d
G
m
d
P
g
Verehrter Herr Kollege, ich stimme Ihnen in einem
u: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. An dieser
telle muss man aber betonen, dass der Terminus Här-
fall im Sozialgesetz bereits hinreichend definiert ist.
eshalb wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, diese
egelung in dieses Gesetz aufzunehmen.
Nun haben Sie uns allen deutlich vor Augen geführt,
orum es Ihnen geht: um Kompetenzgerangel.
lauben Sie tatsächlich, die Menschen draußen interes-
iert es, welcher Ausschuss dafür kompetent sein soll?
ie wollen, dass schnell eine Regelung erfolgt und dass
echtssicherheit besteht. Das hätten wir erreicht, wenn
ie nicht auf Ihrer Kompetenz beharrt hätten. Sie müs-
en das nun draußen vertreten. Danke sehr.
Das war eigentlich ein wunderschöner Schlusspunkt
r meine Rede. Meine Redezeit ist ohnehin abgelaufen.
Ich bedanke mich.
Dass auf die Einsicht in das erreichte Ende der ge-
ährten Redezeit eine so prompte und zutreffende
chlussfolgerung erfolgt, nehmen wir mit besonderer
reude und mit Respekt zur Kenntnis.
Geburtstag hat heute übrigens auch der Kollege
ranz Josef Jung. Er hat zwar keinen runden Geburts-
g, aber gleichwohl einen, der alle guten Wünsche für
as nächste und die folgenden Jahre verdient. Herzlichen
lückwunsch!
Hat noch jemand Geburtstag? Meine Güte, wir machen
öglicherweise gleich noch eine Aktuelle Stunde für
iejenigen, die auch Geburtstag haben und uns von den
arlamentarischen Geschäftsführern vielleicht noch auf-
ezeigt werden.
2510 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Hagedorn
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir verabschieden heute ein Gesetz
vielmehr werden Sie es verabschieden , das einen
ganzen Bauchladen von Maßnahmen beinhaltet, die Sie,
Herr Kollege Barthle, schon im Detail dargestellt haben.
Darum kann ich mich an dieser Stelle etwas kürzer hal-
ten.
Eingangs will ich darauf hinweisen, dass dieser Ge-
setzentwurf vier Maßnahmen beinhaltet; der Kollege
Barthle hat sie gerade beschrieben. Die Sozialdemokra-
ten stimmen ausdrücklich zu, dass die Bundesagentur für
Arbeit in der Krise mit einem steuerfinanzierten Zu-
schuss gestützt wird.
Die Sozialdemokraten stimmen ausdrücklich zu, dass es
eine Verdreifachung des Schonvermögens geben wird.
Wir bedauern aber, dass diese Erkenntnis erst jetzt bei
Ihnen angekommen ist. Wenn es nach uns gegangen
wäre, hätte das viel früher geschehen können.
Die Sozialdemokraten stimmen auch zu, dass der Ge-
sundheitsfonds mit weiteren 3,9 Milliarden Euro ge-
stützt wird. Auch das ist in der Krise eine richtige Maß-
nahme.
Allerdings gibt es einen Teil dieses Gesetzentwurfes,
der nicht, wie uns sein Name glauben machen will, in
erster Linie der Stabilisierung der sozialen Sicherungs-
systeme dient, sondern eher Ausdruck der Klientelpoli-
tik ist, die wir von dieser Koalition schon kennen. Dabei
geht es um die Kuhprämie. Da auch ich aus dem ländli-
chen Raum komme, kann ich Ihnen sagen: Es ist sehr
wohl bei uns angekommen, dass die Milchbauern in ei-
ner schwierigen Situation sind. Der Kollege Wilhelm
Priesmeier hat schon in der ersten Lesung dieses Gesetz-
entwurfes für die Kollegen des Agrarausschusses deut-
lich gemacht, warum wir diesen Teil des Gesetzentwur-
fes nicht mittragen. Es ist nämlich ein untaugliches
Mittel. Damit erreicht man nicht das, was notwendig ist,
um den Milchbauern und der Landwirtschaft tatsächlich
zu helfen. Natürlich müssen wir deswegen dem Gesetz-
entwurf insgesamt unsere Zustimmung verweigern.
Das vorneweg.
Da man nun glauben könnte, dass es eine ganze
Menge Übereinstimmung zwischen uns gibt, muss ich
jetzt etwas Wasser in den Wein schütten. Zunächst zu Ih-
nen, Herr Kollege Barthle. Wir haben heute Nacht bis
Viertel nach drei im Haushaltsausschuss getagt. Es kann
sein, dass Ihre Erinnerung hinsichtlich der Härtefall-
regelung angesichts der kurzen Nacht, die wir hatten, et-
w
s
g
e
a
d
E
d
b
z
n
n
u
p
d
W
d
d
tü
a
h
w
v
s
a
o
s
U
w
s
d
Z
d
d
a
Ih
Wir stellen fest, dass die Koalition diese Anhörung
uch im Gegensatz zu allen großen Wohlfahrtsverbän-
en in unserem Land nicht gewollt hat. Sie wollten Ihre
ntscheidung letzten Endes durch die kalte Küche
urchsetzen. Der Kriterienkatalog, den Sie vorgelegt ha-
en, ist das eine; die 100 Millionen Euro, die Sie bereit-
ustellen versprechen, ist das andere. Aber wir sagen Ih-
en: Wir wollen uns zunächst die notwendige Zeit
ehmen und gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden
nd anderen kompetenten Akteuren in der Gesellschaft
rüfen, ob dies eine angemessene Antwort auf das Urteil
es Bundesverfassungsgerichts ist.
enn Sie jetzt versuchen, den Menschen weiszumachen,
ass ihnen, weil es zu einer Verzögerung kommt und
as nur, weil Sie Ihre Entscheidung nicht adäquat einge-
tet haben, indem Sie versucht haben, dieses Vorhaben
n das Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz anzu-
ängen , auch nur der Hauch eines Nachteils entstehen
ird, dann muss ganz klar gesagt werden: Das Bundes-
erfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass der An-
pruch auf Anwendung der Härtefallregelung ab sofort,
lso schon im Jahr 2010, besteht,
b Sie einen Gesetzentwurf einbringen oder nicht.
Rechtssicherheit hier gebe ich Ihnen recht wün-
chen sich sicherlich vor allem diejenigen, die für die
msetzung vor Ort zuständig sind. Aber es ist besser,
enn es eine vernünftige und ausgewogene Rechts-
icherheit gibt als eine durch die kalte Küche. So viel
azu.
Herr Kollege Barthle, im Zusammenhang mit dem
uschuss an die Bundesagentur für Arbeit sind Sie auf
ie 900-Millionen-Euro-Sperre eingegangen,
ie die Abgeordneten der Koalition gestern im Haushalts-
usschuss vereinbart haben. An dieser Stelle möchte ich
nen sagen: Ich freue mich, dass Sie meiner Erkenntnis
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2511
)
)
Bettina Hagedorn
gefolgt sind. Schon in der ersten Lesung dieses Gesetz-
entwurfes habe ich Ihnen prophezeit, dass die Bundes-
agentur für Arbeit am Ende nicht 16 Milliarden Euro
bekommen muss diese Zahl stand damals noch im
Haushalt, der nur eine Woche vorher eingebracht worden
ist , sondern dass es jetzt kennen wir die Zahl nur
12,8 Milliarden Euro sind.
Die an dieser Stelle eingesparten 3,2 Milliarden Euro
plus die 400 Millionen Euro, die beim Arbeitslosengeld II
weniger ausgegeben werden, sind die vermeintlichen
Einsparungen im Haushalt, die Sie in die Lage versetzen,
die Nettokreditaufnahme jetzt so massiv zu senken.
Das heißt, es handelt sich nicht wirklich um Einsparun-
gen, sondern um die Anpassung eines Schätzwertes auf-
grund einer verbesserten konjunkturellen Lage. Die Ver-
besserung der konjunkturellen Lage ist vor allen Dingen
das Ergebnis einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die wir
noch in unserer gemeinsamen Regierungszeit, im letzten
und vorletzten Jahr, betrieben haben und die die Grund-
lage dafür war, dass die Arbeitslosenzahlen in Deutsch-
land heute viel niedriger sind als in vielen anderen Län-
dern um uns herum.
Weil es in der Krise das Wichtigste ist, den Men-
schen, die in aller Regel ohne ihre Schuld arbeitslos wer-
den, tatsächlich Angebote zu machen, damit sie wieder
einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz be-
kommen, ist es unerlässlich, die Arbeitsmarktpolitik in
vollem Umfang zu erhalten. Die 900 Millionen Euro ha-
ben Sie zwar nicht gestrichen das ist richtig ; aber Sie
haben sie gesperrt. Dies wirkt de facto wie eine Kür-
zung,
es sei denn, Kollege Barthle, Sie tun wirklich das, was
Sie hier angekündigt haben. Daran werden wir Sie mes-
sen. Wenn es Ihnen gelingt, in den nächsten zwei, drei
Wochen die Sperre aufzuheben, dann haben Sie recht;
dann ist es nicht gekürzt. Aber wenn Sie damit erst in
den April, Mai oder Juni kommen, dann ist es de facto
eine Kürzung, und das versuchen Sie vor den NRW-
Wahlen lediglich zu vertuschen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
W
ti
G
h
z
H
d
z
Z
A
S
g
F
fa
m
Ic
fa
h
s
v
S
re
g
m
z
d
g
s
d
e
a
in
s
h finde dafür keine Begründung.
Gerne hätten wir zum Beispiel auch über die Härte-
llregelung im SGB II abschließend entschieden Sie
aben sie schon erwähnt , zu der uns das Bundesverfas-
ungsgericht einen Auftrag gegeben hat. Leider ist dies
on der SPD verhindert worden. Es bleibt also dank der
PD die Unsicherheit
es ist durchaus eine Unsicherheit sowohl für die Be-
chtigten als auch für auszahlenden Stellen. Ihre Be-
ründung ist sehr fadenscheinig, wenn Sie meinen, dass
an dies abtrennen müsse, anstatt es sofort auf den Weg
u bringen.
Hier wird jedenfalls von unserer Seite aus nichts
urch die kalte Küche eingeführt, sondern man muss
anz klar sagen, dass es für die Härtefallregelung einen
ehr vernünftigen, ausgewogenen Vorschlag gibt,
er sich auch am Wortlaut des Urteils orientiert und
inen beispielhaften und dabei ausdrücklich auch nicht
bschließenden Katalog von möglichen Härtefällen be-
haltet. Wir könnten damit den Vorgaben des Verfas-
ungsgerichts sehr schnell und solide Folge leisten. Ich
2512 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Dr. Claudia Winterstein
bedauere, dass dies von der SPD verzögert worden ist.
Aber wenn es von den Betroffenen Nachfragen gibt,
dann werden sicherlich Sie wie auch Herr Schneider
gerne zur Verfügung stehen und darüber Auskunft ge-
ben.
Die übrigen Regelungen des Gesetzentwurfs setzen
wir nun in Kraft. Hier geht es um wichtige Maßnahmen
zum Schutz von Arbeitsplätzen. Wir vermeiden damit
Beitragsanhebungen in der Sozialversicherung; es ist
also eine in der jetzigen Konjunkturlage sehr richtige
Maßnahme.
Aus Haushältersicht ist der wichtigste Posten natür-
lich der Zuschuss zur Bundesagentur für Arbeit. Das
Gesetz nennt hier ausdrücklich keinen Betrag; Sie haben
das vorhin erwähnt. Es sollten erst 16 Milliarden Euro
sein. Wir sind froh, dass es nun nur 12,8 Milliarden Euro
sind, weil es weniger Arbeitslose und ein nicht so starkes
Absinken der Zahl der sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsplätze gibt. Zu dem ebenfalls in diesem Gesetz
geregelten Zuschuss zur Krankenversicherung wird
meine Kollegin Ulrike Flach noch etwas sagen.
Der zweite sozialpolitisch bedeutsame Teil des Geset-
zes ist die Verdreifachung des Schonvermögens von
250 auf 750 Euro pro Lebensjahr und auf eine Maximal-
höhe von 50 250 Euro. Das ist ein wirklich großer
Schritt dahin, dass jemand, der unverschuldet in eine sol-
che Situation geraten ist, davor geschützt wird, dass im
Prinzip seine Vorsorge angegriffen wird. Durch die Er-
höhung des Schonvermögens tragen wir dafür Sorge,
dass jemand, der unverschuldet in die Situation gekom-
men ist, von Arbeitslosengeld II leben zu müssen, sein
Altersvorsorgevermögen behalten darf und nicht dafür
bestraft wird, dass er vorgesorgt hat.
Sie sind vorhin kurz darauf eingegangen, dass wir
gestern Abend 900 Millionen Euro des Eingliederungs-
budgets gesperrt haben. Als Haushälterin sollten Sie
wissen, dass es ein großer Unterschied ist, ob gekürzt
wird oder ob gesperrt wird. Wir wollen es einmal ganz
deutlich sagen: Wir haben im letzten Jahr für Eingliede-
rungsmaßnahmen 10,1 Milliarden Euro ausgegeben.
Wir haben in diesem Jahr hier nichts gekürzt und satteln
sogar 900 Millionen Euro drauf.
Wir haben das Budget mit einer Sperre versehen, weil
wir, wie ich schon in meiner letzten Rede zu diesem
Thema gesagt habe, möchten, dass zunächst die Wirk-
samkeit der Arbeitsmarktinstrumente überprüft wird, da-
mit die Weiterbildungsmaßnahmen, die wir anbieten, in
Zukunft wirklich effektiv sind und greifen. Es darf nicht
dazu kommen, dass Menschen von einer Weiterbil-
dungsmaßnahme in die nächste geschickt werden, ohne
dass dies einen Nutzen hat. Das ist auch im Sinne derje-
nigen, die Arbeit suchen.
Ziel ist ja, in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Wir
sagen ganz klar: In dem Moment, wo wir ein Konzept
v
e
h
V
d
W
h
n
b
le
v
n
fü
re
s
la
h
te
W
D
is
S
A
m
K
Ih
ic
K
h
le
p
D
c
k
c
v
enn von Ihrer Seite nur Verhetzungspotenzial kommt,
at das mit Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit
ichts zu tun. Ich denke, die Bürgerinnen und Bürger ha-
en ein Recht, zu erfahren, wie die Dinge sind: Wir stel-
n diese 11 Milliarden Euro zur Verfügung, sobald ein
ernünftiges Konzept vorliegt. Das werden Sie in den
ächsten Wochen und Monaten erleben.
Vielen Dank.
Die Kollegin Gesine Lötzsch ist die nächste Rednerin
r die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
n! Wir als Linke wollen stabile Sozialversicherungs-
ysteme. Wir finden, dass die Menschen, die jahrzehnte-
ng in diese Systeme eingezahlt haben, ein Recht darauf
aben, sich darauf verlassen zu können, dass diese Sys-
me funktionieren.
omit wir überhaupt nicht einverstanden sind, meine
amen und Herren von der rechten Seite dieses Hauses,
t, dass die Risiken für die Aufrechterhaltung dieser
ysteme immer mehr auf die Arbeitnehmerinnen und
rbeitnehmer abgewälzt werden, während die Unterneh-
en entlastet werden. Das ist doch eine Ursache der
rise. Diese Ursache haben Sie, Herr Kollege Barthle, in
rem Vortrag überhaupt nicht angesprochen. Damit bin
h nicht einverstanden.
Was mich an Ihrer Rede besonders gestört hat, Herr
ollege Barthle von der CDU/CSU, ist, dass Sie gesagt
aben: die Krise als wäre die Krise vom Himmel gefal-
n. Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist Ergebnis
olitischen Handelns und politischer Entscheidungen.
iese Regierung hat bisher nichts getan, um die Ursa-
hen der Finanz- und Wirtschaftskrise wirksam zu be-
ämpfen. Sie hat nichts getan, um den Bankern und Zo-
kern in den Arm zu fallen. Sie tun so, als wäre die Krise
om Himmel gefallen. Nein, die Krise ist auch Ergebnis
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2513
)
)
Dr. Gesine Lötzsch
Ihrer Politik. Dazu müssen Sie endlich stehen, dazu müs-
sen Sie sich bekennen.
Die Wurzel des Übels liegt in der andauernden neoli-
beralen Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Wir wissen doch alle, dass es einen Zusammenhang gibt
zwischen den Löhnen und Gehältern, den Einkommen in
unserem Land und der Sicherheit der Sozialversiche-
rungssysteme. Gestern haben wir vom Statistischen
Bundesamt die Nachricht erhalten, dass zum ersten Mal
seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland die
durchschnittlichen Bruttoverdienste gesunken sind. Der
Durchschnittsverdiener hat also nicht etwa weniger
Netto vom Brutto, er hat weniger Brutto. Die skandalöse
Lohnsenkungspolitik in unserem Land muss endlich
ein Ende haben; denn sie zerstört die Sozialversiche-
rungssysteme.
Meine Damen und Herren, es geht aber nicht nur um
die Durchschnittslöhne. Besonders schlimm ist für viele
Menschen doch insbesondere auch für viele Frauen ,
dass der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren enorm
angewachsen ist: seit 1995, in den letzten 15 Jahren also,
um 46 Prozent. Das heißt, über 6,5 Millionen Menschen
in Deutschland arbeiten für Löhne von 4 bis 7 Euro in
der Stunde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendje-
mand von CDU, CSU oder FDP bereit wäre, für derar-
tige Löhne zu arbeiten. Setzen Sie sich endlich dafür ein,
dass wir in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn
bekommen! Dann können wir auch die Sozialversiche-
rungssysteme wieder stabilisieren.
Sinkende Löhne, hohe Arbeitslosigkeit und ein aus-
ufernder Niedriglohnsektor bedeuten auch sinkende
Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, die Renten-
versicherung und das Gesundheitssystem. Den Zusam-
menhang Gute Löhne Stabile Sozialversicherungssys-
teme muss doch jeder begreifen. Mit allem anderen,
was hier geredet wird, geht man am Problem vorbei.
Vor allen Dingen fordern wir das will ich noch ein-
mal betonen , dass auch die Arbeitgeber, die Unterneh-
men, einen angemessenen Beitrag leisten. Sie haben mit
Ihrer Politik begonnen bei Kohl, fortgesetzt unter
Schröder, nochmals fortgesetzt unter Merkel dazu bei-
getragen, dass die Lasten immer mehr auf die Menschen,
die arbeiten bzw. die Leistungen aus diesem System
brauchen, abgewälzt wurden. Das ist unsozial, das ist der
falsche Weg, und dem stellen wir uns entgegen.
Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland
keine Hungerlöhne, sondern wir brauchen Löhne, von de-
nen Menschen in Würde leben können. Ich kann Ihnen
einmal kurz etwas vorrechnen: Schon ein Mindestlohn
von nur 7,50 Euro in der Stunde Sie wissen ja, dass wir
als Linke hier andere Vorstellungen haben; wir wollen bis
zum Ende dieser Legislaturperiode 10 Euro Mindestlohn
in
7
m
S
d
a
d
e
a
ra
d
g
n
A
D
v
le
d
d
w
w
h
rh
s
d
B
W
w
s
m
C
B
W
K
s
Markus Kurth ist der nächste Redner für die Fraktion
ündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!
enn diese schwarz-gelbe Regierung einen Gesetzent-
urf einbringt, der im Titel das Wort Stabilisierungsge-
etz enthält, dann entbehrt das nicht einer gewissen Ko-
ik. Stabilisieren Sie sich doch erst einmal selber!
Schäuble kämpft gegen die FDP-Steuersenker, die
SU kämpft gegen die FDP, die CSU-Landesgruppe in
erlin kämpft gegen die CSU in Bayern, und Guido
esterwelle kämpft allein gegen alle.
urzum: Die Anordnung, in der sich Schwarz-Gelb prä-
entiert, ist die einer Massenschlägerei.
2514 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Markus Kurth
Entsprechend der Zerstrittenheit des Regierungslagers
präsentieren Sie im Entwurf des Sozialversicherungs-Sta-
bilisierungsgesetzes gerade einmal den kleinsten gemein-
samen Nenner und eine ganz kurzfristige Perspektive.
Wir haben es hier mit notdürftigster Flickschusterei zu
tun, um die Sozialversicherung kurzfristig knapp über
der Wasserlinie zu halten.
Sie geben keine Antwort auf die drängenden Fragen
zur Zukunft der gesetzlichen und solidarischen Kranken-
versicherung, Sie geben keine Antwort auf Fragen zur
zumindest mittelfristigen Lage in der Arbeitslosenversi-
cherung, und Sie geben keine Antwort auf Fragen zu
mittel- oder langfristigen Perspektiven und zur Zukunft
der Milchwirtschaft. Sie stellen wieder einmal unter Be-
weis: Sie können es einfach nicht.
Wenn wir uns die Lage bei der Krankenversiche-
rung anschauen, dann wird deutlich: Im Moment ist der
Zuschuss natürlich unabwendbar. Dabei kann ich Ihnen
aber nicht den Hinweis ersparen, dass die strukturelle
Unterfinanzierung der gesetzlichen Krankenversiche-
rung erst durch den Gesundheitsfonds, also unter ande-
rem durch Sie von der Union, hervorgerufen wurde.
Sie bleiben jede Antwort auf die Frage der Perspektiven
bei den Maßnahmen zur Dämpfung der Ausgaben im
Bereich des Arzneimittelsektors schuldig. Wenigstens
das hätte doch Teil eines Sozialversicherungs-Stabilisie-
rungsgesetzes sein müssen, das seinen Namen verdient.
Ähnliches gilt für die Arbeitslosenversicherung. Im
Moment ist natürlich nichts anderes möglich als ein Aus-
gleich des Defizits durch einen Zuschuss. Sie können
aber bei dem Minibeitragssatz von 2,8 Prozent selbst
wenn Sie ihn auf 3,0 Prozent erhöhen nicht davon aus-
gehen, dass sich die Finanzierungslage in der Arbeitslo-
senversicherung in den nächsten Jahren stabilisieren
wird. Sie machen überhaupt keine Aussagen über die
Perspektiven ab 2011.
Frau Winterstein, ich muss Ihnen schon sagen: Wir
wissen, wie es läuft, wenn Sie jetzt die Sperrung von
900 Millionen Euro für aktive Arbeitsmarktpolitik ver-
brämen und sagen, dass Sie nicht kürzen, sondern nur
sperren. Wissen Sie nicht, wie das in der Vergangenheit
vielfach gelaufen ist? Da haben Sie so lange gesperrt, bis
die Träger die Mittel, die sie hätten einsetzen müssen,
am Ende nicht mehr einsetzen konnten. Das heißt, fak-
tisch handelte es sich um eine Kürzung, die Sie als Sper-
rung verkleidet haben.
Genau das Gleiche machen Sie im Moment mit dem
Programm JobPerspektive. In meiner Stadt, in meinem
Wahlkreis, wo wir mit dem Programm JobPerspektive
ü
s
te
d
d
u
v
v
s
tu
te
N
fa
g
k
fe
W
g
h
w
w
re
u
A
w
li
w
s
Z
b
A
d
m
Genau das haben Sie auch bei der Härtefallklausel
ersucht. Jetzt unternehmen Sie den untauglichen Ver-
uch, es uns in die Schuhe zu schieben und dann so zu
n, als ob wir etwas Gutes für Langzeitarbeitslose hät-
n verhindern wollen.
ehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass sämtliche Wohl-
hrtsverbände, zum Beispiel gestern Caritas, deutlich
efordert haben, dass es zu einer öffentlichen Anhörung
ommt und die Gelegenheit einer demokratischen, öf-
ntlichen Auseinandersetzung geschaffen wird.
ir sollten uns einfach so viel parlamentarische Kultur
önnen und uns nicht in Diffamierungsversuchen erge-
en.
Ich komme zum Schluss: Meine Damen und Herren,
enn diese Art von Notoperationspolitik das Beste ist,
as Sie können, sollten Sie es vielleicht mit dem Regie-
n lassen. Sie haben es versucht, aber Sie haben wieder
nter Beweis gestellt: Sie können es einfach nicht.
Das Wort erhält nun die Bundesministerin Ilse
igner.
Ilse Aigner, Bundesministerin für Ernährung, Land-
irtschaft und Verbraucherschutz:
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
ebe Kollegen! Dieser Gesetzentwurf steht für Verant-
ortung, Verlässlichkeit und Stabilisierung. Das Sozial-
taatsprinzip ist ein Kernstück unseres Gemeinwesens.
Wir stehen zu unserer Verantwortung. In schwierigen
eiten greifen wir der Krankenversicherung, der Ar-
eitslosenversicherung und der Landwirtschaft unter die
rme.
Verlässlichkeit heißt, dass erarbeitetes Vermögen für
ie private Altersvorsorge zu schützen ist, gerade wenn
an für längere Zeit arbeitslos wird. Die Verdreifachung
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2515
)
)
Bundesministerin Ilse Aigner
des Schonvermögens ist ein klares Signal und Teil eines
Schutzschirms für Arbeitnehmer.
So wird der Vermögensschutz für geldwerte Ansprüche,
die der Altersvorsorge dienen, deutlich verbessert; denn
Eigenvorsorge muss sich lohnen.
Wir greifen mit diesem Gesetzentwurf aber nicht nur
unter die Arme, sondern zeigen damit auch, dass auf
diese Bundesregierung in schwierigen Zeiten Verlass ist,
natürlich auch auf die sie tragenden Fraktionen.
Das wird auch an dem Sonderprogramm für die Land-
wirtschaft deutlich, das Teil des Gesetzentwurfs ist.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, 750 Millio-
nen Euro in zwei Jahren: So ein Programm hat es bisher
noch nicht gegeben.
Damit wollen wir die Betriebe in einer schwierigen Si-
tuation stabilisieren. Wir wollen die Leistungskraft er-
halten und die Zukunft sichern.
Die Bundesregierung hat sich den Erhalt der flächen-
deckenden Landwirtschaft und Landbewirtschaftung
zum Ziel gesetzt. Es ist deshalb richtig und wichtig, mit
dem Sonderprogramm ein stabiles Fundament für die
Leistungsbranche Landwirtschaft zu sichern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sprechen
dabei nicht von irgendeiner Branche. Wir sprechen von
der Branche, die dafür sorgt, dass wir ausreichend quali-
tativ hochwertige Lebensmittel erzeugen, die einen im-
mer größeren Beitrag zu den erneuerbaren Energien lie-
fert und zum Beispiel mit den Grünlandstandorten auch
einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz liefert.
Genau deshalb haben wir das Grünlandprogramm
aufgelegt. Es trägt zum Klimaschutz bei. In der schwieri-
gen Situation haben wir hier fokussiert. Das ist ein wich-
tiger Teil dieses Programms.
Wir wissen aber auch, dass wir durch Effizienzsteige-
rung einen weiteren Beitrag zur Senkung der Emissionen
leisten müssen. Auch das ist ein wesentlicher Beitrag
zum Klimaschutz.
Bei der Erarbeitung dieses Programms mussten wir
drei wesentliche Leitplanken einhalten. Das sind zum ei-
nen die EU-rechtlichen Vorgaben, etwa beim Beihilfe-
recht; zum anderen mussten wir versuchen, die Mittel so
schnell wie möglich den betroffenen Bäuerinnen und
Bauern zukommen zu lassen. Zudem mussten wir den
bürokratischen Aufwand in Zusammenarbeit mit den
Ländern möglichst gering halten. Das war ein schwieri-
ges Unterfangen, aber wir haben es geschafft.
m
d
B
d
p
s
a
d
b
s
M
s
M
b
h
w
w
d
w
je
d
W
n
s
je
p
s
E
s
e
E
k
fü
E
s
d
d
e
s
a
tu
g
d
is
tr
s
)
)
Ich begrüße Sie alle heute an Bord der Titanic.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Guido
Westerwelle stehen auf der Brücke. Nein, sie singen
nicht. Beide glauben zu wissen: Unser Schiff sinkt
nicht. Doch sie vergessen, dass der Eisberg, der in der
Abendsonne auf sie zuschwimmt, nur zu 10 Prozent
sichtbar ist und 90 Prozent davon unter Wasser schwim-
men. Die Mannschaft auf der Brücke streitet sich gerade,
in welchem Restaurant das nächste Versöhnungsge-
spräch stattfinden soll. Ministerpräsident Horst Seehofer
versucht, die Brücke zu erreichen, um einen neuen Kurs
durchzugeben, schafft es aber nicht; denn sein Landes-
gruppenchef macht nicht mit und funkt dazwischen.
Das alles könnte wie im Film ohne Konsequenzen
einfach so weiterlaufen. Aber wir sind weder im Film
noch im Kino. Wir sind in der Realität
und befinden uns in der schwersten Finanz- und Wirt-
schaftskrise, die Deutschland jemals gesehen hat.
Deutschland braucht eine Regierung, die Probleme löst
und mehr als 10 Prozent des Eisbergs im Blick hat.
Diese 10 Prozent des Eisbergs das ist das soge-
nannte Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz. Die-
ses Stückwerk stabilisiert nichts über den Tag hinaus. Es
gibt keine Antwort auf die Frage, wie wir unsere Sozial-
versicherungen zukunftsfest machen können, und das
obwohl Menschen zu Hungerlöhnen arbeiten müssen
und Kinder die Armut ihrer Eltern erben, ohne echte
Chance durch Bildung. Sozialversicherungen werden
stabilisiert, indem jeder seinen Beitrag zur Kranken-,
Renten- und Arbeitslosenversicherung aus eigener Kraft
leistet. Das setzt gute Arbeit voraus, von der man in
Würde leben kann. Das wissen beide auf der Brücke
ganz genau, aber der gesetzliche Mindestlohn ist bei die-
ser Regierung Fehlanzeige.
b
e
re
v
h
s
W
G
b
S
fü
c
a
s
2
w
m
D
A
d
tr
d
ü
d
s
z
S
n
D
c
fü
s
ru
k
d
K
e
H
te
b
te
Ic
d
d
v
B
s
re
g
Die Menschen wollen kein Stückwerk und brauchen
ute Arbeit: heute und in Zukunft. Sie können das nicht.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2517
)
)
Katja Mast
Das spüren die Menschen. Hören Sie endlich auf, wie
der Kapitän der Titanic die Augen vor der Wahrheit zu
verschließen. Noch können wir umsteuern, um eine Ka-
tastrophe zu vermeiden.
Das Wort erhält nun die Kollegin Ulrike Flach für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Mast, mit dem Stückwerk aus Ihrer Regierungszeit
befassen wir uns gerade. Das ist der Grund, warum wir
überhaupt Stabilisierungsgesetze in den Bundestag ein-
bringen müssen.
Ich finde es schon ziemlich vermessen, so zu tun, als ob
diejenigen, die jetzt an der Macht sind, für das zuständig
sind, was Sie uns eingebrockt haben. Ein bisschen mehr
Seriosität in diesem Zusammenhang wäre schon ange-
bracht.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird es gelin-
gen, die konjunkturbedingten Mindereinnahmen der ge-
setzlichen Krankenversicherung über einen einmali-
gen Bundeszuschuss von 3,9 Milliarden Euro für 2010
abzufedern. Damit das müssen die Menschen in die-
sem Lande wissen, damit sie nicht auf das hereinfallen,
was ihnen immer wieder in die Ohren geblasen wird
zahlen wir bereits jetzt 15,7 Milliarden Euro für den Be-
reich der Sozialversicherungssysteme. Das sind Steuer-
gelder, die auf den Weg gebracht werden, um ein Sozial-
versicherungssystem am Leben zu erhalten, dessen
Fundament zurzeit weder zukunftssicher noch stabil ist.
Der Gesundheitsfonds, dessen Wirksamkeit wir im-
mer angezweifelt haben, zeigt erste Wirkungen. Schon
damals haben sehr viele davor gewarnt, dass es die man-
gelnde Umsetzung erschweren wird, die Zusatzbeiträge
zu begrenzen. Heute werden diese Zusatzbeiträge erho-
ben. Die Kassen kommen mit dem Geld aus dem Fonds
nicht mehr aus. Die Zusatzbeiträge, übrigens ohne einen
Sozialausgleich, schlagen jetzt zu Buche. Nun kommt
die jetzige Opposition und schlägt vor, solche Zusatzbei-
träge abzuschaffen. Es ist geradezu abenteuerlich, wie
Sie vor den Folgen Ihrer eigenen Politik die Augen ver-
schließen.
Was wäre eigentlich überlegen Sie sich das einmal
zwei Sekunden lang , wenn Minister Rösler beim Fi-
n
e
D
L
h
k
s
W
V
m
z
D
E
im
B
s
d
H
g
te
is
w
c
S
Z
w
u
s
D
K
d
b
H
u
as ist sozusagen seine erste Amtshandlung in dieser
egislaturperiode gewesen. Wenn er das nicht getan
ätte, wäre nämlich das Defizit der gesetzlichen Kran-
enversicherung noch erheblich höher. Das haben
chließlich Sie uns hinterlassen.
enn also jemand aktiv gegen hohe Belastungen der
ersicherten vorgegangen ist, dann ist es diese Koalition
it diesem Minister gewesen, nicht Sie.
Wir müssen zu einer anderen, krisenfesteren Finan-
ierung kommen.
as ergibt sich natürlich auch aus der demografischen
ntwicklung. Wir haben immer mehr alte Menschen und
mer weniger junge. Das ist definitiv anders, als es zu
ismarckschen Zeiten war, in denen dieses System er-
onnen wurde.
Ja, Frau Hagedorn, dafür müssen wir nicht viele Stun-
en im Haushaltsausschuss sitzen; das liegt auf der
and. Aber es ist immer wieder schön, es Ihnen zu sa-
en.
Wir stehen noch immer am Ausgang der schwierigs-
n Wirtschaftskrise seit den 70er-Jahren. Noch immer
t die Arbeitslosigkeit hoch, und entsprechend zahlen
eniger Menschen höhere Beiträge in die Krankenversi-
herung ein. Hier zeigt sich, welche systemischen
chwächen die einkommensabhängige Finanzierung in
eiten der Wirtschaftskrise hat. Auch deshalb brauchen
ir übrigens eine Festschreibung der Arbeitgeberanteile,
m damit die Lohnnebenkosten zu senken und mehr Ein-
tellungen zu ermöglichen.
eswegen ist das ein Schirm für die Menschen, liebe
olleginnen und Kollegen von der Opposition. Es geht
och darum, den Menschen mit solchen Eingriffen ne-
en allen unbedingt notwendigen Reformen zu helfen.
Unabhängig davon haben wir dank der Erblast von
errn Steinbrück auch noch mit der Schuldenbremse
mzugehen auch das ist für uns Haushälter kein leich-
2518 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Ulrike Flach
tes Geschäft , um kommenden Generationen nicht nur
Schulden, sondern auch Handlungsspielräume zu hinter-
lassen.
Liebe Kollegen, die alte SPD-Losung Immer mehr
Staatsgelder in den Topf hat ausgedient. Wir werden ei-
nen neuen Weg gehen und haben aus diesem Grunde die
Kommission zur Reform des Gesundheitssystems auf
den Weg gebracht.
Wir haben damit einen Weg beschritten, der nicht nur für
eine stabile und zukunftsfeste Lösung sorgen wird, son-
dern der auch seriös durchgerechnet sein
und den Menschen in diesem Lande zeigen wird, dass
sie sich darauf verlassen können, dass sie es auch in Zu-
kunft noch mit einem Gesundheitssystem zu tun haben
werden, bei dem sie wirklich das bekommen, was sie
gerne haben wollen, und bei dem der Steuerzahler weiß,
dass er sein Geld nicht in einen unendlich tiefen Schlund
hineinwirft, ohne dass etwas Vernünftiges dabei heraus-
kommt.
Die Kollegin Dr. Martina Bunge ist die nächste Red-
nerin für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das Gesetz der Bundesregierung ist unseres Erachtens
eine Mogelpackung. Um beim Lebensmittel des Tages
zu bleiben: Es steht Milch drauf, es ist aber nur ein
bisschen Milch und viel Wasser drin.
Allein schon im Sinne des Verbraucherschutzes ist es
erforderlich, dass in einem Gesetz auch drin ist, was
draufsteht. Auf Ihrem heutigen Gesetz steht Sozialver-
sicherungs-Stabilisierungsgesetz.
In Wahrheit stabilisieren Sie nur ein bisschen, aber die
Bürgerinnen werden getäuscht und verunsichert.
Kein Versicherter, der jetzt Zusatzbeiträge zahlen
muss, kann erkennen, dass die Finanzierung der Kran-
kenversicherung dadurch stabil ist. Die Regierung gibt
vor, Großes zu tun, bleibt aber auf halbem Wege stecken.
Zusatzbeiträge sind kein Zeichen stabiler Sozialver-
sicherung. Zusatzbeiträge sind schlicht unsozial.
D
k
g
b
F
Z
C
a
h
te
w
s
S
v
W
s
b
D
s
is
ro
W
S
s
s
n
e
a
m
fü
n
1
V
M
v
D
D
h
z
M
s
u
Sie nehmen diese Zusatzbeiträge billigend in Kauf,
eil sie Ihnen die Weichen hin zu einer Kopfpauschale
tellen. Sie sagen, das Ganze sei, angereichert mit einem
ozialausgleich, doch auch wieder sozial eine neue Art
on sozial. Die Kopfpauschale ist alles andere als sozial.
eder ist der Sozialausgleich finanzierbar, noch ist es
ozial, den großen Teil der Bevölkerung zu Bittstellern
eim Staat zu machen.
aran ändert sich auch nichts, wenn Sie die Kopfpau-
chale scheibchenweise einführen. Die Kopfpauschale
t keine Stabilisierung, sondern die endgültige Bank-
tterklärung für die Sozialversicherung.
enn Sie, Herr Minister, kurzfristig wirklich etwas zur
tabilisierung der Sozialversicherung tun wollen, müs-
en Sie dem Antrag der Linken zustimmen, diese Zu-
atzbeiträge endlich abzuschaffen. Die Linke zeigt Ih-
en, wie es geht.
Keinem vernünftigen Menschen leuchtet es ein, dass
in Arbeitsloser die Krankenkasse weniger kosten soll
ls ein Beschäftigter. Wir alle wissen: Arbeitslosigkeit
acht krank. Trotzdem bekommen die Krankenkassen
r jede ALG-II-Bezieherin, für jeden ALG-II-Bezieher
ur rund die Hälfte des durchschnittlichen Beitrags:
26 Euro statt 260 Euro. Das bedeutet insgesamt einen
erlust von 5 Milliarden Euro. Korrigieren Sie diesen
issstand, und das Loch in der Krankenversicherung
on geschätzt 4 Milliarden Euro für 2010 ist weg.
as macht die Krankenversicherung kurzfristig stabil.
amit wäre dann endlich Schluss mit Verschiebebahn-
öfen. Dann können Sie Ihre undurchdachte, unfinan-
ierbare, unsoziale Kopfpauschale ruhig vergessen. Die
ehrheit der Bevölkerung will sie nicht. Sie will eine
olidarische Versicherung,
nd das sollte Ihnen Handlungsauftrag sein.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2519
)
)
Dr. Martina Bunge
Meine Fraktion macht dazu ein Angebot: die solidari-
sche Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Da ist
drin, was draufsteht. Wir werden Ihrer Mogelpackung
nicht zustimmen.
Danke schön.
Friedrich Ostendorff ist der nächste Redner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass wir heute erneut die 750 Millionen Euro
Kuhschwanz- und Grünlandprämie und das damit ver-
bundene Sonderprogramm hier im Parlament debattieren
können. Es gibt Gelegenheit, die tiefe Widersprüchlich-
keit der Agrarpolitik dieser Bundesregierung zu verdeut-
lichen. Ich will diese Widersprüchlichkeit an drei Bei-
spielen aufzeigen:
Thema Milchmengensteuerung. Das Bundeskartell-
amt, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss,
die High-Level-Group Milk bei der EU-Kommission,
die meisten Milchbauern und Milchbäuerinnen, die Staa-
ten Frankreich und Spanien, alle fordern sie das eine: die
Stärkung der Marktmacht der Milcherzeuger gegenüber
den Molkereien durch die Förderung von Erzeugerge-
meinschaften.
Was hingegen niemand gefordert hat, ist ein Subven-
tionsprogramm von 750 Millionen Euro.
Warum machen Sie das trotzdem? Warum geben Sie in
diesem Jahr locker 300 Millionen Euro Kuhschwanz-
und Grünlandprämie aus, stimmen aber gegen unseren
Antrag zur Förderung von Erzeugergemeinschaften in
Höhe von gerade einmal 3 Millionen Euro oder 1 Pro-
zent Ihrer Subventionsgießkanne? Warum verweigern
Sie sich so beharrlich der Debatte um die Milchmengen-
steuerung? Sie tun das natürlich nicht aus Versehen.
Sie tun es, weil die bäuerliche Landwirtschaft Ihrem
Weltbild von einer industrialisierten Exportlandschaft
widerspricht.
Nehmen wir das Thema Ökolandbau. Wir wollen
den ökologischen Landbau insbesondere im Bereich
Forschung fördern, schreiben Sie in Ihrem Koalitions-
vertrag. Das verkündet auch Frau Happach-Kasan auf
der Bio-Fach, der Weltmesse für biologischen Landbau.
Das klingt schön, ist aber schon ein gebrochenes Ver-
sprechen. Beide Agrarsprecher der Koalition verkündeten
am 9. Februar stolz die Verdoppelung der Mittel für ihre
Exportstrategie. Was sie uns damals aber verheimlichen
wollten, war, woher sie das Geld für diese Exportstrategie
nehmen wollen. Sie wollten dafür klammheimlich und
ohne Not die 16 Millionen Euro Forschungsmittel für
d
z
d
g
is
E
O
e
k
s
b
in
p
N
n
w
n
b
s
h
d
b
m
h
N
s
b
in
g
e
k
S
fr
c
In
P
L
m
fa
re
B
d
m
Das Wort erhält nun der Landesminister Karl-Josef
aumann, den wir in diesem Hause besonders gerne ein-
al mehr begrüßen. Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
n! Heute kommen wir einmal ohne Aufforderung des
undesverfassungsgerichts zu einer wichtigen Änderung
es SGB II. Ich sage bewusst: SGB II, und rate, nicht
ehr so viel von Hartz IV zu reden. Es ist nämlich schon
2520 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Minister Karl-Josef Laumann
ein Ding, dass in Deutschland eines der wichtigsten So-
zialgesetze nach einem Vorbestraften benannt ist.
Als wir vor fünf Jahren über das SGB II debattiert ha-
ben, stand das Thema Fordern und Fördern sehr stark
im Mittelpunkt. Es hat mittlerweile aber die Entwick-
lung gegeben, dass ein immer größerer Teil der Arbeit-
nehmer feststellen musste, dass ihre Arbeitsplätze nicht
sicher sind und sie, obwohl sie selber gut ausgebildet
sind, obwohl sie selber über viele Jahre bewiesen haben,
dass sie leistungsbereit sind, obwohl sie selber nichts
verkehrt gemacht haben, ein relativ hohes Arbeitsplatz-
risiko haben. Dieses Risiko ist im Übrigen in unserer
Arbeitswelt sehr unterschiedlich verteilt. Die vielen
Menschen zum Beispiel, die beim Staat arbeiten, haben
dieses Risiko so gut wie gar nicht. Die größte Branche,
die es mittlerweile in Deutschland gibt, ist das Gesund-
heitswesen. In unseren Bundesländern stellt diese
Branche im Durchschnitt mittlerweile zwischen 11 und
13 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeits-
plätze. Auch diese Branche wächst und ist relativ unab-
hängig von der konjunkturellen Entwicklung.
Dann gibt es in diesem Land Menschen immer
noch, Gott sei Dank , die noch in der Produktion arbei-
ten. Dieser Bereich macht ungefähr 20 Prozent unserer
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze aus. Insbe-
sondere diejenigen, die in der Produktion arbeiten und
auch von den Exportmärkten abhängig sind, sind oft von
problematischen Entwicklungen auf dieser Erde betrof-
fen, die weder ihr Unternehmen noch sie selber beein-
flussen können. Ich persönlich meine immer noch, dass
die Menschen, die in der Produktion arbeiten, in Wahr-
heit diejenigen sind, die uns in erster Linie den Wohl-
stand erarbeiten und dafür sorgen, dass wir überhaupt
noch etwas verteilen können.
Diese haben aber zugleich das größte Arbeitsplatzrisiko.
Da ich in meinem Leben auch einmal zu den Men-
schen gehört habe, die in der Produktion arbeiten, weiß
ich sehr genau, dass sie bei Hartz IV von Anfang an fol-
gende Debatte geführt haben:
Ist es richtig, dass ich, wenn ich ohne eigenes Verschul-
den meine Arbeit verliere, nach zwölf Monaten zum
Beispiel aus der Arbeitslosenversicherung herausfalle,
obwohl ich mit meinen Steuern und Beiträgen, weil ich
gut verdient habe, erheblich zur Finanzierung der sozia-
len Sicherungssysteme beigetragen habe, und damit
dann so behandelt werde wie jemand, der nie etwas zur
sozialen Sicherung in diesem Land beigetragen hat? Das
ist schon ein Thema bei den Leuten.
g
e
b
d
D
h
s
lä
h
a
d
ic
D
n
to
s
g
Ih
fü
re
re
e
h
W
ta
e
g
d
D
S
D
Ja, ja.
Deswegen war es richtig, dass wir das Arbeitslosen-
eld für langjährig Versicherte in der Großen Koalition
ndlich verändert haben. Es hat lange genug gedauert,
is Herr Müntefering die Notwendigkeit eingesehen hat;
enn der war in dieser Sache der Bremser.
ie schwarz-gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen
at schon im Juni 2005 in ihren Koalitionsvertrag ge-
chrieben, dass sie für die genannte Personengruppe eine
ngere Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld und ein
öheres Schonvermögen vorsehen will. Das Problem lag
lso all die Jahre nicht bei Schwarz-Gelb, sondern bei
er Blockadehaltung von Bundesminister Müntefering;
h war bei vielen Verhandlungen dabei.
Das wollen Sie nicht hören; aber das ist die Wahrheit.
eswegen liegen Sie in den Umfragen jetzt auch nur
och bei 23 Prozent. Das hat ja alles seine Gründe.
Historie ist Historie. Das alles können Sie in den Pro-
kollen des Deutschen Bundestages nachlesen.
Freuen Sie sich nicht zu früh.
Es gibt einen weiteren Punkt, den Sie klar sehen müs-
en: Wir haben jetzt erreicht, dass die Menschen auf-
rund einer Verdreifachung des Schonvermögens bei
nen war nur ein Schonvermögen vorgesehen, das dazu
hrte, dass die Leute am Ende bestenfalls eine Monats-
nte von 85 Euro bekamen im besten Fall eine Zusatz-
nte von 300 Euro erhalten. Das ist nicht zu viel; aber
s ist angesichts dessen, was ich am Anfang ausgeführt
abe, auch nicht mehr als recht und billig.
ir sorgen heute dafür, dass dieses Gesetz mehr Akzep-
nz bekommt.
Sie haben dies in den letzten fünf Jahren, obwohl wir
s immer wieder gefordert haben, nicht umgesetzt. Es
ibt im Übrigen Bundesanträge dazu; das alles ist ja in
en Parlamenten dokumentiert.
Nordrhein-Westfalen hat das im Bundesrat beantragt.
as alles können Sie doch in den Protokollen nachlesen.
ie waren diejenigen, die dies nicht umgesetzt haben.
ie neue Regierung ist ein halbes Jahr im Amt und
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2521
)
)
Minister Karl-Josef Laumann
macht dies. Dafür möchte ich mich im Namen von Nord-
rhein-Westfalen ganz herzlich bedanken.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Ferner für die
SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Herr Laumann, es ist schon ziemlich
dreist, muss ich sagen,
dass Sie hier sagen, Sie hätten die Erhöhung des Schon-
vermögens jetzt durchgesetzt. Ihre Partei, die Fraktion
der CDU/CSU und die Mitglieder Ihrer Partei in der
Bundesregierung haben im Sommer letzten Jahres ver-
hindert, dass der Gesetzentwurf, den Olaf Scholz dem
Kabinett vorgelegt hat, noch umgesetzt worden ist.
In diesem Gesetzentwurf war keine Verdreifachung der
Freibeträge, sondern eine Freistellung des gesamten Al-
tersvermögens im Zusammenhang mit irgendwelchen
Anrechnungen vorgesehen. Das ist die Wahrheit. Sie
werden bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl
mit solchen Halbwahrheiten keine Punkte machen; das
kann ich Ihnen sagen.
Ich möchte etwas zu dem Thema Zuschuss zur
Krankenversicherung sagen. Das Gesetz, um das es
heute geht, trägt den Namen Sozialversicherungs-Stabi-
lisierungsgesetz. Dazu kann man sagen: Stabil ist eines
in dieser Koalition, nämlich der Streit, der jeden Tag
zwischen München und Berlin und sonst wo ausgetragen
wird. Der Punkt ist: Es fehlen dieses Jahr knapp
8 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung. 3,9 Milliarden Euro werden einmalig ausgegli-
chen. Das heißt, das reicht mal eben bis Jahresende. Das
hat mit Nachhaltigkeit usw. nichts, aber auch gar nichts
zu tun. Das überdeckt die Probleme. Das ist Politik von
der Hand in den Mund. Sie haben vor allen Dingen kei-
nerlei Ansätze zur Problemlösung.
Jetzt mag es in einer solchen Situation schwierig sein,
über Beitragssatzanhebungen nachzudenken.
Ich sage ja, es mag schwierig sein, darüber nachzuden-
ken. Wenn ich aber Beitragssatzanhebungen aus-
schließe, wenn ich nicht mehr als 3,9 Milliarden Euro
aus Steuern einmalig in das System geben will, dann
muss ich sofort damit beginnen, bei den Ausgaben et-
was zu machen. Ich habe es gestern schon gesagt: Herr
Rösler, ein lieber, netter Onkel Doktor zu sein, reicht
nicht aus. Sie müssen endlich etwas vorlegen, damit die
Ausgaben im nächsten Jahr nicht noch weiter steigen.
H
B
k
S
d
m
is
b
n
K
k
is
h
L
E
E
G
D
a
a
v
d
a
m
n
h
M
v
a
v
T
p
le
u
n
re
u
la
1
m
d
e
err Rösler, laut Leipziger Volkszeitung wollen Sie:
Ein System, das sich ähnlich wie die soziale Markt-
wirtschaft selbst optimiert. Das ist unser Ansatz.
Wir wollen strukturelle Verbesserungen.
ei der Finanzkrise hat man gesehen, welche Auswir-
ungen selbst regulierende Finanzmärkte haben. Wenn
ie auf Selbstregulierung setzen, Herr Minister Rösler,
ann brauchen wir weder einen Bundesgesundheits-
inister noch ein Bundesgesundheitsministerium. Dann
t das alles überflüssig.
Sie sagen nicht, wie im nächsten Jahr 11 Milliarden
is 12 Milliarden Euro, die dann im System fehlen, fi-
anziert werden sollen, faseln aber gleichzeitig über eine
opfprämie, obwohl diese nicht finanziert ist und auch
ein Geld für einen Sozialausgleich vorhanden ist. Das
t Vogel-Strauß-Politik. So kann man keine Gesund-
eitspolitik für über 80 Millionen Menschen in diesem
and machen.
in Defizit in Höhe von 11 Milliarden bis 12 Milliarden
uro im nächsten Jahr bedeutete, dass jedes Mitglied der
KV knapp 20 Euro im Monat zusätzlich zahlen müsste.
a Sie nach eigener Aussage die 1-Prozent-Regelung,
lso die Deckelung, nicht ändern wollen, gehe ich davon
us, dass diese Regelung der Maßstab für den von Ihnen
orgesehen Sozialausgleich ist. Das wiederum bedeutete,
ass alle, die weniger als 2 000 Euro im Monat verdienen,
uf einen Sozialausgleich angewiesen wären. Ich habe
ich gestern noch einmal kundig gemacht: 33,4 Millio-
en Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung
aben ein Einkommen von weniger als 2 000 Euro im
onat. Das heißt, Sie wollen mehr als ein Drittel der Be-
ölkerung zu Bittstellern machen, die auf einen Sozial-
usgleich angewiesen sind, um die Beiträge zur Kranken-
ersicherung zahlen zu können, die sie vorher aus eigener
asche zahlen konnten. Das ist doch keine Gesundheits-
olitik.
Frau Flach, da Sie fragen, woher ich das weiß: Viel-
icht kann sich die Regierung endlich dazu bequemen,
nsere Fragen zu beantworten. Aber auch das passiert
icht, weil offenkundig niemand in dieser Regierung be-
it ist, vor dem 9. Mai die Karten auf den Tisch zu legen
nd deutlich zu machen, wer durch eine Kopfprämie be-
stet oder entlastet wird und wie die Lücke von
1 Milliarden bis 12 Milliarden Euro zwischen Einnah-
en und Ausgaben im nächsten Jahr geschlossen wer-
en soll.
Herr Präsident, der Kollege Bahr möchte mich gerne
twas fragen.
2522 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Da grübelt man doch, ob das eine spontane Einge-
bung oder eine langfristige Vereinbarung ist.
Wie auch immer, ich stelle jedenfalls Einvernehmen
zwischen möglichem Fragesteller und Redner fest und
erteile hiermit dem Kollegen Bahr das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. Es handelt sich nicht um
eine Verabredung, sondern um Gewohnheit aus den lan-
gen gesundheitspolitischen Diskussionen.
Frau Kollegin Ferner, ich möchte Ihnen eine Frage
stellen, weil Sie aufgrund bestimmter Annahmen eine
mögliche Gesundheitsprämie und das damit verbundene
Antragsverfahren kritisieren. Sie haben als SPD den Ge-
sundheitsfonds mit beschlossen. Die logische Folge ist,
dass Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben müssen. In
diesem Zusammenhang haben Sie die 1-Prozent-Grenze
angesprochen. Können Sie mir darlegen, wie hier der so-
ziale Ausgleich organisiert ist, den die SPD mit be-
schlossen hat? Nach meiner Erkenntnis müssen Millio-
nen Versicherte extra einen Antrag stellen. Dann müssen
die Krankenkassen prüfen, ob der Zusatzbeitrag höher
als 1 Prozent des Bruttoeinkommens ist. Das heißt, das
Verfahren bei den Zusatzbeiträgen, das Sie beschlossen
haben, ist nichts anderes als ein Antragsverfahren. Ihr
Konzept macht also Millionen Versicherte genauso zu
Bittstellern bei den Krankenkassen, weil ein Sozialaus-
gleich nicht automatisch gewährt wird, sondern extra ein
Antrag gestellt werden muss.
Nein, das kann man nicht mit Ja beantworten, lieber
Wolfgang Zöller; denn das wissen Sie ganz genau die
Geschichte ist nicht so gewesen.
Herr Kollege Bahr, hätten Sie in den langen gesund-
heitspolitischen Debatten zugehört, die wir in der letzten
Wahlperiode geführt haben, wüssten Sie, dass die Zu-
satzbeiträge einen Kompromiss darstellen, dass die Zu-
satzbeiträge für die Union eine Conditio sine qua non
waren. Dann würden Sie wissen, dass wir die Zusatzbei-
träge prozentual und paritätisch finanziert haben woll-
ten. Dann würden Sie wissen, dass zwei Gutachter der
eine wurde von der Union bestellt, das war Professor
Rürup, der andere wurde von uns bestellt, das war Pro-
fessor Fiedler
man darf nicht fragen, wenn man keine Antworten hö-
ren will
übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen sind, dass
ein Sozialausgleich bei den Zusatzbeiträgen fehlt. Sie
würden auch wissen, dass wir es waren, die bei unserem
damaligen Koalitionspartner bis zum Schluss darum ge-
w
a
w
h
B
a
d
g
d
o
k
R
g
d
m
K
is
m
g
h
Z
c
d
Ih
k
m
b
p
d
d
F
Ja, das ist ein schwieriges Wort, das man vor allen Din-
en den Menschen, die am Fernseher sitzen und nicht je-
en Tag Gesundheitspolitik machen, erklären muss. Der
orbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, der die
rankheitskosten abbildet und entsprechend ausgleicht,
t deutlich zielgenauer als bisher.
Frau Kollegin, ich wollte Sie nur darauf aufmerksam
achen, dass das eine nach meiner Einschätzung außer-
ewöhnlich umfängliche Antwort ist.
Nein, er möchte gerne hören, was ich noch zu sagen
abe, Herr Präsident.
Daran habe ich keinen Zweifel. Ich habe auch keinen
weifel daran, dass Ihr Interesse an einer noch ausführli-
heren Antwort unerschöpflich ist. Ich wollte Sie nur
ezent darauf aufmerksam machen, dass Sie für den Rest
rer eigentlich beabsichtigten Ausführungen noch 23 Se-
unden zur Verfügung haben.
Alles klar. Sie würden wissen, dass dieser Kompro-
iss deshalb gemacht worden ist. Damit ist die Frage
eantwortet, wahrscheinlich mehr, als Ihnen lieb ist. Ich
rophezeie Ihnen: Sie werden mit dem Kopfprämienmo-
ell baden gehen, weil es weder in der Koalition noch in
er Bevölkerung mehrheitsfähig ist.
Schönen Dank, Herr Präsident.
Frau Dr. Happach-Kasan erhält nun das Wort für die
DP-Fraktion.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2523
)
)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist richtig: Wir haben eine schwierige Situation in
Deutschland. Deswegen ist es gut, dass die christlich-
liberale Koalition
um Lösungen ringt und die beste Lösung für die Men-
schen in diesem Land erarbeitet, statt sie von der Straße
aufzulesen, wie uns das die Opposition immer mal wie-
der vorschlägt.
Wir befinden uns in einer Wirtschaftskrise. Es ist rich-
tig, dass die Landwirtschaft in dieser Situation Unterstüt-
zung erfährt, so wie auch andere Wirtschaftsbereiche
Unterstützung erfahren haben. Dem dient das Sonderpro-
gramm Landwirtschaft. Gleichzeitig haben wir in der Ko-
alition mit diesem Sonderprogramm den Ausstieg aus der
staatlichen Mengensteuerung bei der Milch vereinbart
und weitere nationale Sonderwege verhindert.
Herr Kollege Ostendorff, wer den Landwirten immer
noch erzählt, mit der staatlichen Mengensteuerung hät-
ten sie etwas Gutes, der belügt sie. Das ist nicht in Ord-
nung.
Der erzählt ihnen von etwas, das nicht zukunftsträchtig
ist. Er nimmt sie nicht mit auf den Weg in die Zukunft.
Ich glaube, das ist schlecht. Ihr Programm erinnert letzt-
lich an Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt.
Das zeigt, dass Sie noch nicht im 21. Jahrhundert ange-
kommen sind. Ich bitte Sie, in dieser Hinsicht voranzu-
gehen.
Gleichzeitig eröffnen wir damit auch den Weg in eine
neue Agrarpolitik, wie sie zum Beispiel der Agrarkom-
missar Dacian Ciolos aus Rumänien in seiner Rede im
Ausschuss dargestellt hat, nämlich den Abschied von der
Mengensteuerung und den alten Regulierungsmechanis-
men des Marktes, die versagt haben; denn die schwierige
Situation der Milchbauern liegt auch daran, dass sie ers-
tens die Milchquote hatten und zweitens die Interven-
tion. Damit wurde verhindert, dass marktfähige Struktu-
ren aufgebaut wurden.
Gleichzeitig fördern wir mit diesem Sonderprogramm
das Grünland. Grünland hat eine wichtige ökologische
Funktion. Grünlandumbruch verursacht in großem Um-
fang CO2-Emissionen. Aber es reicht nicht, ein Verbot
auszusprechen, sondern es müssen Perspektiven für die
Nutzung von Grünland eröffnet werden. Genau das ha-
ben wir hiermit gemacht.
g
L
h
ti
h
d
s
I
a
re
k
e
b
b
g
e
d
m
D
K
W
K
q
m
V
D
re
n
a
s
S
D
d
A
M
Die Beendigung der Wettbewerbsverzerrung durch
ine hohe Agrardieselsteuer ist von uns auf den Weg ge-
racht worden. Das wurde von uns initiiert. Außerdem
rauchen wir die Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Vor-
aben, damit die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe
rhalten bleibt. In diesem Sinne werden wir in Zukunft
ie Landwirtschaftspolitik gestalten, mit den Menschen,
it den Betrieben und im Interesse der Betriebe in
eutschland.
Danke schön.
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der
ollege Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion das
ort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
ollegen! Es ist schon interessant, zu sehen, wie Sie sich
uälen und winden, wenn Ihnen ein leibhaftiger Arbeits-
inister aus Nordrhein-Westfalen Ihre sozialpolitischen
ersäumnisse vorhält.
ie Fakten lassen sich am Ende aber nicht wegdiskutie-
n, liebe Kollegen von der SPD. Da können Sie hier
och so viel herumschreien. Die Anträge sind tatsächlich
us Nordrhein-Westfalen gekommen.
Frau Kollegin Ferner, man fragt sich natürlich, wie
ich die ehemalige Gesundheitsministerin, Frau
chmidt, fühlen muss, wenn sie Sie hier so reden hört.
as, was Sie von der sozialdemokratischen Fraktion in
en letzten Tagen gemacht haben, ist im Grunde eine
brechnung mit den Regierungsjahren und der Frau
inisterin Ulla Schmidt.
2524 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Jens Spahn
Sie wollen alles, was damals beschlossen worden ist, zu-
rückdrehen, auch das, was wir gemeinsam beschlossen
haben;
das habe ich in diesem Hause schon gestern gesagt. Das
gilt etwa für die Zusatzbeiträge, die eine Entkopplung
der steigenden Gesundheitskosten von den Arbeitskos-
ten bewirken. Das wurde auch und immer zu Recht von
Frau Ministerin Schmidt positiv begleitet und von uns
unterstützt.
Insofern müssen Sie intern, in Ihrer ehemaligen Re-
gierungsfraktion, vielleicht einmal klären, wie Sie sich
zu den letzten elf Jahren Regierungszeit verhalten wol-
len, ob Sie sich schämen für das, was Sie beschlossen
haben,
oder ob Sie zurückfallen wollen in den Populismus der
80er- und 90er-Jahre; denn das ist es, was wir in den
letzten Tagen hier erleben.
Ich will kurz auf den vorliegenden Gesetzentwurf be-
züglich der Dinge eingehen, die die gesetzliche Kran-
kenversicherung betreffen. In diesem Jahr erwarten wir
bei der gesetzlichen Krankenversicherung ein Defizit
von etwa 8 Milliarden Euro, das sich im Grunde aus
zwei Bestandteilen zusammensetzt:
Zum einen sind da die Ausgabensteigerungen zu
nennen, die wir insbesondere im ärztlichen Bereich, bei
den Krankenhäusern und den Arzneimitteln haben. Je-
der, der fortgesetzt sagt, wir sollten im Gesundheitswe-
sen endlich mehr sparen, der muss bitte auch konkret sa-
gen, bei welchen Ärzten und welchen Krankenhäusern
wir sparen sollen,
zumal wir die Ausgabenentwicklungen in der Großen
Koalition gemeinsam beschlossen haben: etwa für eine
bessere Versorgung in Ostdeutschland und für die Pfle-
gestellen in den Krankenhäusern. Ich glaube, diese Ent-
scheidungen waren richtig.
Neben den Ausgabensteigerungen haben wir zum
Zweiten durch die Krise bedingt Einnahmeausfälle in
Höhe von gut 4 Milliarden Euro in der gesetzlichen
Krankenversicherung. Es ist ein gutes Zeichen, dass die
c
3
s
d
u
n
s
tr
z
v
s
e
ja
u
h
e
1
w
S
im
A
G
le
ü
re
u
s
e
D
K
in
e
s
Ih
ti
z
te
e
d
g
enau das ist die Herausforderung, die wir angehen wol-
n. Heute ist es bei den Zusatzbeiträgen so: Wenn sie
ber 1 Prozent des Einkommens liegen, wird die Diffe-
nz zwischen dem, was von den Arbeitnehmerinnen
nd Arbeitnehmern eigentlich zu zahlen wäre, und die-
em 1 Prozent nicht bei den Kassen ankommen. Es wird
infach gekappt.
ieses Geld fehlt dann natürlich in der gesetzlichen
rankenversicherung.
Genau dieses System wollen wir weiterentwickeln,
dem wir einen sozialen Ausgleich aus Steuermitteln
inführen. Wenn Sie sagen, dass das für Sie keine Lö-
ung ist, dann müssen Sie zumindest auch sagen, was
rer Meinung nach die Lösung wäre. Ein paar konstruk-
ve Ansätze an der einen oder anderen Stelle kann man
umindest von der größten Oppositionsfraktion erwar-
n.
Kollege Lauterbach hat uns gestern wieder das hat
r schon im Dezember getan versprochen, dass wir ein
urchgerechnetes Konzept zur Bürgerversicherung vor-
elegt bekommen.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2525
)
)
Jens Spahn
Auf dieses durchgerechnete Konzept warten wir im
Grunde schon seit Jahren.
Sie wissen genau, warum Sie es nicht vorlegen. Bürger-
versicherung klingt schön, bedeutet aber, dass Sie Kapi-
taleinkünfte, Mieteinnahmen und vieles andere mehr
mitverbeitragen würden. Dazu müssten Sie sich äußern.
Ich kann gar nicht lügen, weil Sie gar kein konkretes
Konzept vorlegen.
Insofern kann man sich zu diesen Fragen nur spekulativ
äußern.
Sie müssten auch einmal sagen, wo die Beitragsbe-
messungsgrenze liegen soll. Sie wissen ganz genau, wa-
rum Sie dieses Konzept nicht vorlegen:
Dann würden die Menschen in diesem Land, insbeson-
dere die Facharbeiter und die Angestellten mit mittleren
Einkommen, merken, dass sie wieder einmal Ihre Ver-
sprechungen bezahlen sollen.
Deswegen erhalten wir keine konkreten Zahlen von Ih-
nen. Auch gestern wollten Sie nicht sagen, wie Sie die-
ses schön klingende Konzept der Bürgerversicherung
tatsächlich ausfüllen wollen.
Wer nichts tun will, muss das sagen Sie uns immer
alles so lassen, wie es ist.
Man sollte aber sagen, wie man mit diesen Herausforde-
rungen und Entwicklungen umgehen will. Wir geben mit
diesem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden
wollen, eine Antwort auf die Frage, wie wir mit dem De-
fizit in diesem Jahr umgehen. Ich glaube, damit machen
wir einen ersten wichtigen Schritt zur Stabilisierung der
sozialen Sicherungssysteme. Ich würde mich freuen,
wenn Sie die nächsten Schritte konstruktiv das wäre
einmal etwas Neues begleiten.
Ich bleibe bei dem, was ich gestern gesagt habe: Wir
machen uns frohen Mutes ans Werk.
B
s
1
u
D
ru
e
s
E
z
u
G
W
D
H
m
n
d
s
e
d
le
W
B
a
fü
k
le
D
ti
d
Guten Morgen, Herr Kolb. Meine sehr verehrten
amen und Herren! Herr Präsident! Wiederholt disku-
eren wir hier im Deutschen Bundestag über den Min-
estlohn. Zuerst zu den Fakten: In der feinkeramischen
2526 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Klaus Ernst
Industrie liegen die Tariflöhne zurzeit bei 8,95 Euro, in
der Kunststoffindustrie bei 8,18 Euro, im Einzelhandel
in NRW bei 7,73 Euro, in der Steine-und-Erden-Indus-
trie in Thüringen jetzt kommen wir weiter nach unten
bei 6,83 Euro, im Bewachungsgewerbe in Berlin bei
5,50 Euro und im Friseurhandwerk in Sachsen bei
3,06 Euro.
Das ist die Realität. Daran wird deutlich, wie sich Leis-
tung in diesem Lande lohnt. Ich kann Ihnen sagen Sie
von der FDP wissen das wohl am besten : Für dieses
Geld würden Sie morgens nicht einmal Ihr Augenlid he-
ben.
Meine Damen und Herren, der Niedriglohnsektor in
unserem Land hat inzwischen Ausmaße angenommen,
die unerträglich sind. 1,2 Millionen Menschen, 4 Prozent
der Beschäftigten, arbeiten für Löhne unter 5 Euro, für
Löhne unter 6 Euro arbeiten 2,2 Millionen Menschen,
für Löhne unter 7 Euro arbeiten 3,7 Millionen Men-
schen, und für Löhne unter 8 Euro arbeiten 5,1 Millio-
nen Menschen.
Man kann natürlich sagen: Das hat sich zufällig so
entwickelt. Dem ist aber nicht so. Ich erinnere an das,
was unser Exkanzler Schröder gesagt hat.
Er hat im Februar 1999, kurz nach seinem Amtsantritt,
verkündet ich zitiere wörtlich :
Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen
Im Jahr 2005 hat er in Davos gesagt Zitat :
Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir
haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufge-
baut, den es in Europa gibt.
Das stimmt.
Die Politik von Rot-Grün hat tatsächlich zu einer Aus-
weitung des Niedriglohnsektors geführt; das hängt auch
mit den Hartz-Gesetzen zusammen.
Heute hat der Niedriglohnsektor im Vergleich zu 1995
ein deutlich größeres Ausmaß. Im Jahre 1995 waren
29,3 Prozent der unter 25-Jährigen im Niedriglohnbe-
reich beschäftigt. Inzwischen sind 46,9 Prozent der unter
2
b
d
Ic
tu
s
L
u
o
h
b
te
d
W
1
D
ri
d
n
G
s
H
a
k
3
Z
W
d
H
te
Ich weiß gar nicht, warum Sie so brüllen. Wir sind
och nicht im Bierzelt!
Meine Damen und Herren, Leistung soll sich lohnen.
h frage mich nur: Für wen? Geht es Ihnen um die Leis-
ng der Erben, die Sie durch Ihre Gesetze vor einer be-
onderen Steuer bewahren wollen, geht es Ihnen um die
eistung der Hoteliers, die Sie bei der Mehrwertsteuer
m die Hälfte entlasten,
der geht es Ihnen um die Leistung der Steuerhinterzie-
er, Herr Kolb? Schließlich bemüht sich die FDP ja ganz
esonders dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Da-
n nicht in den Besitz des Staates gelangen.
Herr Kolb, ich sage Ihnen das ist das Traurige an
ieser ganzen Angelegenheit : Ihr Chef, Herr
esterwelle, kann nicht rechnen. In der Welt vom
1. Februar dieses Jahres hat er geschrieben ich zitiere :
Wer kellnert, verheiratet ist und zwei Kinder hat,
bekommt im Schnitt 109 Euro weniger im Monat,
als wenn er oder sie Hartz IV bezöge.
Mittlerweile liegen entsprechende Berechnungen vor.
ankenswerterweise hat auch das Bundesarbeitsministe-
um gerechnet. Es kam zu dem Ergebnis, dass jemand,
er arbeitet, immer mehr Geld bekommt als jemand, der
icht arbeitet. Herr Westerwelle hat also, was den
rundtenor der Aussage angeht, nicht die Wahrheit ge-
agt.
err Kolb, wenn man ausrechnet, wie viel die Kellnerin
us dem genannten Beispiel wirklich bekommt, dann
ommt man zu dem Ergebnis, dass sie, wenn sie arbeitet,
45 Euro mehr bekommt, als wenn sie nicht arbeitet.
wischen Wahrheit und Realität liegen bei Herrn
esterwelle also insgesamt 454 Euro.
Herr Kolb, angesichts dieser Rechenkunststücke kann
ie Bundesrepublik Deutschland von Glück sagen, dass
err Westerwelle Außenminister und nicht Finanzminis-
r ist.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2527
)
)
Klaus Ernst
Wäre er in Geografie genauso schlecht wie in Mathema-
tik und würde er bei seinen Auslandsreisen selbst flie-
gen, dann käme er in Uganda an, wenn er in New York
landen will.
Das ist das Problem, wenn Sie rechnen. Das Ziel, das Sie
mit dieser Debatte verbinden, ist natürlich ein anderes.
Ihr Ziel ist, diejenigen, die arbeiten, gegen diejenigen
auszuspielen, die nicht arbeiten. Sie sausen durch die
Gegend und verkünden Parolen, die die Menschen dis-
kriminieren.
Meine Damen und Herren, was macht die Bundesre-
gierung? Die Bundesregierung fabuliert in ihrer Koali-
tionsvereinbarung davon, dass sie sittenwidrige Löhne
abschaffen will. Anders formuliert: Sie will zunächst sit-
tenwidrige Löhne einführen, um letztlich eine Unter-
grenze beim Lohn einziehen zu können. Es ist wichtig,
sich vor Augen zu halten, was es real bedeuten würde,
wenn sittenwidrige Löhne gezahlt würden.
Ach, Herr Weiß, wenn Sie es wenigstens wüssten; aber
Sie wissen es nicht, Sie heißen nur so.
Herr Weiß, das Problem ist Folgendes: Wenn eine Fri-
seurin oder ein Friseur jetzt 3 Euro verdient und die
Grenze für sittenwidrige Löhne bei 30 Prozent unterhalb
des bezahlten Branchenlohns läge, dann dürfte diese Fri-
seurin oder dieser Friseur künftig 2 Euro verdienen. Das
ist Ihre Untergrenze.
Das, was Sie machen, ist eine staatliche Aufforderung
zum Lohndumping. Das geht nicht, Herr Weiß; das
sage ich in aller Klarheit.
Meine Damen und Herren, Ihre Vorschläge gehen ein-
deutig ins Leere. Im Übrigen bringen Sie immer das Ar-
gument, dass mit der Einführung des Mindestlohns Ar-
beitsplätze abgebaut würden. Wir haben folgende
Situation: Die Arbeitslosenquote bei Geringqualifizier-
ten liegt in den Niederlanden, wo es einen Mindestlohn
gibt, bei 4,8 Prozent, in Großbritannien, ebenfalls mit
Mindestlohn, bei 5,7 Prozent, in Schweden ebenfalls
mit Mindestlohn; dort ist er tariflich bei 7,3 Prozent
und selbst in den USA, wo es einen Mindestlohn gibt,
bei 8,3 Prozent. Bei uns in Deutschland beträgt die Ar-
beitslosenquote bei Geringqualifizierten ohne Mindest-
lohn 19,9 Prozent. Ich weiß nicht, woher Sie die Weis-
heit haben, Herr Weiß, zu sagen, dass die Einführung des
Mindestlohns zu einem Mehr an Arbeitslosigkeit in die-
sem Bereich führte.
D
e
w
w
W
ü
d
m
L
in
z
Ir
g
v
g
d
s
P
d
fü
in
v
D
d
d
c
d
k
S
d
in
re
ja
w
k
fü
w
m
fi
d
as ist durch keine Studie belegt. Jede Studie sagt Ihnen
twas anderes.
Deshalb halten wir es nach wie vor für dringend not-
endig, dass eine Untergrenze des Lohnes eingeführt
ird. Wir sagen in dieser Legislaturperiode: 10 Euro.
ir sehen, dass es in anderen Ländern, die nicht nur
ber eine Forderung diskutieren, real existierende Min-
estlöhne gibt, die nah an unsere Forderung herankom-
en. Vielleicht nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass in
uxemburg der Mindestlohn zurzeit 9,73 Euro beträgt,
Frankreich 8,86 Euro er ist übrigens 2010 um 1,7 Pro-
ent erhöht worden, in Luxemburg um 2,5 Prozent , in
land 8,65 Euro, in den Niederlanden 8,64 Euro, in Bel-
ien 8,41 Euro. Ich weiß nicht, warum Sie von der CSU,
on der CDU und von der FDP eigentlich glauben, dies
anz anders machen zu können, als es in anderen Län-
ern in Europa der Fall ist, zumal wir gleichzeitig wis-
en, dass wir inzwischen Geschäftsmodelle wie bei der
in AG finanzieren, Herr Weiß,
ie darauf hinauslaufen, dass der Steuerzahler die Löhne
r eine ganze Branche finanzieren soll, weil die Löhne
der jeweiligen Branche durch das Nichtvorhandensein
on Mindestlöhnen immer weiter nach unten abrutschen.
as Urteil in Sachen Pin AG hat sofort dazu geführt,
ass die Löhne abgesenkt wurden.
Letztendlich wird das Nichtvorhandensein eines Min-
estlohns in der gesamten Wirtschaft, auch in den Bran-
hen, in denen es momentan noch Tarifverträge gibt,
azu führen, dass der Lohn real abgesenkt wird. Dies
ann nicht unser Ziel sein.
ie sind als Regierung nicht auf so etwas vereidigt. Von
er Regierung sind heute ja nicht viele da; offensichtlich
teressiert dieses Thema nicht sehr viele in der Bundes-
gierung. Aber das verstehe ich auch: Deren Löhne sind
deutlich über dem Mindestlohn.
Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren: Wenn
ir uns dieses Problems nicht annehmen und nicht dazu
ommen, eine Grenze einzuziehen, dann wird das dazu
hren, dass sich die Menschen zunehmend fragen, in
elchem Interesse dieser Bundestag eigentlich Politik
acht: im Interesse derer, die von niedrigen Löhnen pro-
tieren, oder im Interesse der Menschen, die einen Min-
estlohn brauchen.
Ich danke fürs Zuhören.
2528 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Peter Weiß ist der nächste Redner für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es geht hier um ein ernstes Thema, das für Spiegelfech-
tereien nicht geeignet ist. Ich stelle grundsätzlich fest:
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben einen An-
spruch auf eine angemessene Entlohnung ihrer Arbeits-
leistung. Lohndumping und Lohndrückerei gehören
nicht zu einer sozialen Marktwirtschaft.
Zur sozialen Marktwirtschaft gehört gerechter Lohn für
gute Arbeit. Das muss das Prinzip unserer Politik und
auch unserer Wirtschaftsordnung sein.
Soziale Marktwirtschaft heißt auch: Tarifautono-
mie. Nicht eine staatliche Behörde, nicht der Deutsche
Bundestag, nein, Arbeitnehmer und Arbeitgeber einer
Branche wissen am besten, welcher Lohn für welche Ar-
beitsleistung angemessen ist.
Nicht ein Bundesminister und nicht ein Parlament sind
die Experten der Lohnfindung, sondern die Tarifpartner.
Deshalb wollen wir die Tarifautonomie und die Tarif-
partner stärken, damit es zu gerechten Löhnen in
Deutschland kommt.
Unsere Politik ist also: Vorrang nicht für den Staat, son-
dern Vorrang für Arbeitgeber und Gewerkschaften, Vor-
rang für die Sozialpartnerschaft.
In der Großen Koalition haben wir mit der Novellierung
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindest-
arbeitsbedingungengesetzes das geeignete gesetzliche In-
strumentarium geschaffen. Es funktioniert auch. Bereits
die vorige Bundesregierung hat in einigen Bereichen per
Rechtsverordnung entsprechende Mindestlöhne festge-
legt. Die neue Bundesregierung hat zum 1. Januar dieses
Jahres einen Mindestlohn für die Abfallwirtschaft festge-
legt. Zum 1. April werden die neuen Mindestlöhne für die
Gebäudereiniger es gibt mehrere Stufen; der höchste
Mindestlohn im Westen liegt bei 11,13 Euro und für das
Dachdeckerhandwerk bundesweit 10,60 Euro in Kraft
treten.
Allein diese Beispiele für die Festlegung branchen-
bezogener Mindestlöhne zeigen: Hätten wir einen
staatlich verordneten Einheitsmindestlohn für ganz
Deutschland, über alle Branchen hinweg , gäbe es
wahrscheinlich Bereiche, in denen dieser Mindestlohn
zu einer Überforderung der Betriebe führen würde,
sprich: Arbeitsplätze vernichten würde. Umgekehrt wür-
den in Bereichen, in denen per Tarifvertrag bereits hö-
here Mindestlöhne durchgesetzt sind, reihenweise Be-
tr
s
In
b
li
M
b
d
D
g
u
E
k
n
re
c
d
g
E
s
a
w
fü
li
lö
v
re
Z
U
im
d
a
o
d
k
M
fü
u
la
z
beiden Fällen wären die Arbeitnehmerinnen und Ar-
eitnehmer die Betrogenen. Deshalb bin ich zuversicht-
ch, dass wir durch die Einführung branchenbezogener
indestlöhne vorankommen.
Zurzeit wird über einen Mindestlohn für den Pflege-
ereich verhandelt. Ich halte diesen Mindestlohn für
ringend notwendig.
ie Aussichten sind gut, dass die Kommission, die auf-
rund der gemeinsamen Gesetzgebung von CDU/CSU
nd SPD eingesetzt wurde, Herr Kollege Schaaf, zum
nde des Monats März zu einem Abschluss ihrer Arbeit
ommt.
Auch liegt ein erster Antrag vor, einen Mindestlohn
ach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz einzufüh-
n, und zwar der Antrag der dbb tarifunion, einen sol-
hen Mindestlohn für Callcenter festzulegen.
Außerdem gibt es nach wie vor die Möglichkeit, Min-
estlöhne festzulegen, indem man Tarifverträge für all-
emein verbindlich erklärt.
s ist erfreulich, dass der Einzelhandel seine feste Ab-
icht erklärt hat, diesen Weg zu einem guten Lohn für
lle zu beschreiten. Im Einzelhandel haben Arbeitgeber
ie Arbeitnehmer die Absicht, einen Mindestlohn einzu-
hren, indem man Tarifverträge für allgemein verbind-
ch erklärt.
Im Übrigen signalisieren mittlerweile auch ausge-
st durch Skandale wie bei Schlecker die Arbeitgeber-
erbände aus dem Bereich der Zeitarbeit ebenfalls Be-
itschaft, auf diesem Weg eine unterste Lohngrenze für
eitarbeit in Deutschland festzulegen. Das ist erfreulich.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir, die
nion, sind aus guten Gründen dagegen, dass der Staat
System der sozialen Marktwirtschaft Einheitsmin-
estlöhne festlegt. Wir sind allerdings sehr dafür, dass
uf dem Weg über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
der über das Mindestarbeitsbedingungengesetz oder da-
urch, dass Tarifverträge für allgemein verbindlich er-
lärt werden, in jeder Branche, in der es notwendig ist,
indestlöhne festgelegt werden, die dafür sorgen, dass
r gute Arbeit ein auskömmlicher Lohn gezahlt wird,
nd damit Lohndumping und Lohndrückerei in Deutsch-
nd beenden.
Wir wollen diesen Weg gehen, weil wir davon über-
eugt sind, dass die Entscheidung, ob und wenn ja, in
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2529
)
)
Peter Weiß
welcher Höhe es in einer Branche einen Mindestlohn
geben soll, in erster Linie den Tarifpartnern obliegen
muss; denn Arbeitgeber und Gewerkschaften verstehen
es besser, einen Mindestlohn festzusetzen, als jede staat-
liche Behörde, und weil wir davon überzeugt sind, dass
ein für alle Branchen vom Staat festgesetzter Mindest-
lohn keine Lösung darstellt, sondern dass wir branchen-
bezogene Mindestlöhne brauchen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Vorrang
für Tarifautonomie und Vorrang für gute Lösungen, die
Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam erarbeiten
und die wir dann als Staat anschließend für allgemein
verbindlich für alle erklären: Das und nicht der Weg über
einen staatlichen Einheitsbrei, der letztendlich zur Zer-
störung der Tarifautonomie und zur Zerstörung des Ge-
staltungsspielraums von Arbeitgebern und Gewerkschaf-
ten führen würde, ist der richtige Weg, um zu guten
Löhnen in Deutschland zu kommen.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Ottmar Schreiner für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Zunächst einmal: Mein Wahlkreis grenzt an
Luxemburg und Frankreich. Wenn ich nach Luxemburg
oder Frankreich fahre und dort die Leute frage: Kommt
ihr mit eurem Einkommen einigermaßen hin?, dann
verstehen sie die Frage nicht. Der Kollege Ernst hat eben
auf die Mindestlohnregelung in Luxemburg hingewie-
sen. Dort sind es 9,70 Euro oder etwas mehr, in Frank-
reich sind es rund 8,80 Euro. Bei uns müssten einige
Millionen Löhne teilweise deutlich angehoben werden,
wenn wir auch nur das Niveau in Frankreich erreichen
wollten.
Das, was der Kollege Weiß gesagt hat Vorrang für
Tarifautonomie , klingt zunächst einmal gut. Bei nähe-
rem Hinschauen wird es dann aber schwierig. Herr Kol-
lege Weiß, wir haben in Deutschland eine insgesamt
deutlich rückläufige Tarifbindung. Im Jahr 2007 waren
nur noch 50 Prozent der westdeutschen und 33 Prozent
der ostdeutschen Betriebe einem Branchentarifvertrag
unterworfen. Bei den Beschäftigten sieht es nicht we-
sentlich besser aus. Das heißt, es gibt im wachsenden
Maße eine Lohnfindung jenseits der Flächentarife, und
da kommen Sie mit Allgemeinverbindlichkeitserklärun-
gen in nicht vorhandenen Tarifverträgen eben nicht wei-
ter. Damit kommen Sie in eine Sackgasse hinein.
Nun sage ich Ihnen einmal etwas zu der Allgemein-
verbindlichkeitserklärung, Herr Kollege Weiß. Ganze
1 Prozent der Tarifverträge werden nach dem Tarifver-
tragsgesetz für allgemein verbindlich erklärt, weil die
A
S
e
m
a
lö
d
d
n
d
N
S
d
in
S
d
s
m
s
v
in
V
v
b
e
h
d
g
n
lo
B
fä
z
in
s
J
g
Z
A
4
g
A
w
z
c
A
v
E
n
s
m
k
Ich will Ihnen noch etwas zum Arbeitslosengeld-II-
ezug sagen. Die Zahl der erwerbstätigen Hilfeemp-
nger entwickelt sich in einem rasanten Tempo. Auf
ehn Arbeitslose im Arbeitslosengeld-II-Bezug kommen
zwischen sechs Hartz-IV-Empfänger, die erwerbstätig
ind, davon aber nicht leben können. In den letzten vier
ahren stieg die Anzahl der erwerbstätigen Hilfeempfän-
er, deren Einkommen nicht ausreicht, um fast 500 000.
wischen 2005 und 2009 hat die Zahl der erwerbstätigen
rmen über alle Beschäftigungsformen hinweg um rund
5 Prozent zugenommen. Eine letzte Zahl: Im Jahr 2000
ab es in Deutschland 56 000 Arbeitnehmerinnen und
rbeitnehmer, die aufstockende Sozialhilfe beantragten,
eil ihr Einkommen gering war; diese Zahl hat sich in-
wischen versiebenfacht.
Inzwischen sind wir in Europa Spitzenreiter in Sa-
hen Niedriglöhne, aber auch in Sachen Niedrigstlöhne:
uch die Zahl derjenigen, die weniger als 5 Euro brutto
erdienen, ist in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen.
ine vergleichbare Lage gibt es nur noch in den Verei-
igten Staaten von Amerika. Dort reden die Experten
eit Jahren von Working Poor. Der deutsche Arbeits-
arkt droht nicht amerikanisiert zu werden, er ist ameri-
anisiert.
2530 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Ottmar Schreiner
Deshalb brauchen wir dringender denn je eine prakti-
kable, brauchbare Lohnuntergrenze, damit sich Arbeit in
Deutschland für diejenigen, die sich täglich abbuckeln,
wirklich wieder lohnt.
Die Koalition hat im Übrigen das genaue Gegenteil
davon vor: Sie will die Hinzuverdienstgrenzen weiter er-
höhen. Das führt im Ergebnis zu nichts anderem als zu
einer weiteren Ausweitung von Lohnverträgen zulasten
Dritter. Es ist eine Einladung an viele Arbeitgeber,
Lohnverträge mit Dumpinglöhnen abzuschließen, die
dann von Dritten, vom Staat und vom Steuerzahler, auf
ein halbwegs erträgliches Minimum aufgestockt werden
sollen. Das ist nichts anderes als staatlich begünstigtes
Lohndumping. Sie wollen diese Politik fortsetzen und
ausweiten. Das ist genau der falsche Weg.
Stattdessen brauchen wir vernünftige Lohnuntergren-
zen. Ich möchte das mit einem Zitat untermauern:
Unternehmen, deren Existenz lediglich davon ab-
hängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum
Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in die-
sem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre
Geschäfte zu betreiben. Mit einem zum Leben aus-
reichenden Lohn meine ich mehr als das bloße
Existenzminimum ich meine Löhne, die ein an-
ständiges Leben ermöglichen.
Das ist ein Zitat des ehemaligen amerikanischen Präsi-
denten Franklin Roosevelt aus dem Jahre 1933.
Wir sind in den letzten 77 Jahren eine unvergleichlich
reichere Gesellschaft geworden. Angesichts eines enorm
gestiegenen gesellschaftlichen Reichtums muss das, was
damals, Anfang der 30er-Jahre, galt, doch heute, im
Jahre 2010, erst recht gelten: Jeder muss für seiner
Hände und Köpfe Arbeit anständig entlohnt werden, um
ein anständiges, menschenwürdiges Leben führen zu
können.
Ich will die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU an einen ihrer politischen Ahnen erinnern: Ludwig
Erhard. Die Maxime der sozialen Marktwirtschaft so
habe ich Erhard verstanden war: Wohlstand für alle. Es
hieß nicht: Wohlstand für einige. Man kann Ihnen nur
sagen: Es wäre schön, wenn Sie diese Maxime nach wie
vor teilen würden; Sie scheinen sie nicht mehr zu teilen.
Die Maxime Wohlstand für alle war für Erhard gewis-
sermaßen das eiserne Grundgesetz der sozialen Markt-
wirtschaft. Wohlstand für alle ist nur bei guten Löhnen
für alle möglich. Es dürfen nicht immer mehr Menschen
mit Dumpinglöhnen, mit denen ein menschenwürdiges
Leben nicht möglich ist, nach Hause geschickt werden.
Deshalb: Tun Sie Buße und kehren Sie um!
d
m
b
W
Im
b
tu
m
tu
s
S
s
v
s
u
d
a
a
H
G
h
s
e
z
e
m
m
a
v
m
s
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb für
ie FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
öchte mit zwei Anmerkungen zu meinen Vorrednern
eginnen. Herr Kollege Ernst, Sie haben Guido
esterwelle kritisiert und dabei etwas Banales gesagt.
Kern haben Sie nämlich gesagt: Wer Sozialleistungen
ekommt, bekommt so viel wie jemand, der Sozialleis-
ngen bekommt. Sie haben den Bezieher von Hartz IV
it dem Erwerbstätigen verglichen, der zusätzlich Leis-
ngen nach Bundeskindergeldgesetz und Wohngeldge-
etz in Anspruch nimmt. Dann kommt das heraus, was
ie gesagt haben.
Tatsache ist, dass die Hans-Böckler-Stiftung es ist
icherlich unverdächtig, sie als Zeugen zu benennen
orgestern darauf hingewiesen hat, dass 500 000 Men-
chen in unserem Lande ihren Anspruch auf Wohngeld
nd Kinderzuschlag nicht geltend machen, obwohl sie
ie Voraussetzungen dafür erfüllen würden, und zwar
us Gründen, die sicherlich nachvollziehbar sind, die ich
ber in meiner kurzen Redezeit nicht erläutern kann.
err Ernst, das ist der 500 000-fache Beweis dafür, dass
uido Westerwelle in dieser Debatte tatsächlich recht
at.
Möchte die Kollegin Kipping eine Zwischenfrage
tellen? Ja.
Ich registriere ein Interesse der Kollegin Kipping an
iner Frage und die Bereitschaft des Redners, diese zu-
ulassen.
Aber ja, immer!
Bitte schön.
Sie haben die 500 000 Menschen angesprochen, die
inen Rechtsanspruch haben, den sie aber nicht geltend
achen. In der Fachsprache sind das die verdeckt Ar-
en. Erinnern Sie sich an die Debatten, die wir schon
uf der Grundlage eines Antrags der Linken zum Thema
erdeckte Armut geführt haben, im dem wir uns auch
it den Ursachen für verdeckte Armut auseinanderge-
etzt haben?
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2531
)
)
Katja Kipping
Zu diesen Ursachen zählen entweder mangelnde
Kenntnis oder aber Scham und Angst vor Stigmatisie-
rung. Viele haben Angst, das Kainsmal Hartz IV auf die
Stirn gedrückt zu bekommen. Insofern ist die hohe Zahl
der verdeckt Armen eher ein Beleg dafür, welchen be-
trächtlichen Schaden solche Äußerungen wie die von
Herrn Westerwelle bei den Menschen anrichten.
Frau Kollegin Kipping, ich kann mich an die Debat-
ten nicht erinnern, aber ich habe gestern einen Blick in
die Studie der Böckler-Stiftung geworfen und festge-
stellt, dass es offensichtlich viele Menschen gibt, die die-
sen bürokratischen Weg scheuen. Denn derjenige, der
den Kinderzuschlag bekommen will, muss vorher nach-
weisen, dass er die Voraussetzungen für den Wohngeld-
bezug erfüllt. Er muss seine gesamten Verhältnisse
offenlegen. Für denjenigen, der aus irgendwelchen
Gründen knapp die Anspruchsgrenze verfehlt, macht das
keinen Sinn.
500 000 Menschen in Deutschland sind davon betrof-
fen. Insofern ist das, was Sie möglicherweise theoretisch
in den Raum stellen, in der Praxis leider widerlegt, Herr
Kollege Ernst und Frau Kipping.
Ein weiterer Punkt ist: Der Kollege Schreiner hat ge-
sagt, Guido Westerwelle habe die Bezieher von Hartz IV
kritisiert. Das hat er aber ausdrücklich nicht getan.
Er hat nicht die Bezieher von Hartz IV kritisiert, sondern
die Gutmenschen in Deutschland, die nach dem Urteil
von Karlsruhe sofort reflexhaft die Erhöhung der Regel-
sätze gefordert und genau das getan haben, was Karls-
ruhe kritisiert hat, nämlich die Bedarfssätze ins Blaue hi-
nein zu schätzen. Sie dürfen nicht sozusagen politisch
gesetzt werden, sondern sie müssen konkret begründet
werden. Deswegen ist Ihre Kritik völlig unbegründet,
Herr Kollege Schreiner.
Der Kollege Ernst möchte eine Zwischenfrage stellen,
Frau Präsidentin.
Da Sie das gestatten, kann es jetzt geschehen.
Herr Dr. Kolb, Sie haben erwähnt, dass Menschen auf
staatliche Leistungen verzichten, obwohl ein Rechts-
anspruch besteht. Ist das nicht erstens ein Beweis dafür,
dass die Menschen den Staat keinesfalls ausnützen,
wenn sie die staatlichen Leistungen gar nicht in An-
spruch nehmen, die ihnen zustehen?
Zweitens sagen Sie immer, entscheidend sei, was
netto wirklich herauskommt. Ist es da nicht sinnvoll,
wenn diese Menschen, die aus irgendwelchen Gründen
auf die ihnen zustehenden Leistungen verzichten, durch
e
s
te
k
m
in
d
te
z
u
s
m
w
ic
n
n
Ü
L
A
D
li
A
a
tr
D
n
n
d
E
h
fr
w
e
A
D
ri
a
d
d
b
h
g
L
m
P
P
w
dann nehmen Sie mein zweites Argument , dass der
öhere Nettobetrag tatsächlich zu einer höheren Nach-
age nach Produkten führt, die in Deutschland hergestellt
erden. Im Klartext: Mehr Netto und die Nachfrage nach
inem japanischen Auto nutzen der Produktion und den
rbeitsplätzen in Deutschland überhaupt nichts.
as ist ein wesentliches Problem Ihrer Nachfragetheo-
e.
Sie haben nach dem Mindestlohn gefragt, und ich habe
uf diese Frage geantwortet. Wenn es den Effekt gäbe,
ass der Mindestlohn die Beschäftigungsquote erhöht,
ann müsste es auch einen optimalen Mindestlohn ge-
en, einen Wert, bei dem sich volkswirtschaftlich gese-
en das höchste Maß an Beschäftigung einstellt. Aber
enau das ist nicht der Fall. Mindestlöhne, die eine
ohnsteigerung ohne Berücksichtigung der Produktivität
it sich bringen, vernichten Arbeitsplätze. Das ist das
roblem. Das haben wir bei dem Feldversuch mit den
ostdienstleistungsunternehmen gesehen, als innerhalb
eniger Wochen nach Einführung des Mindestlohns
2532 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Dr. Heinrich L. Kolb
11 000 Arbeitsplätze weggefallen sind. Es gibt sehr ernst
zu nehmende Untersuchungen, wonach auch in anderen
Bereichen massenhaft Arbeitsplätze gefährdet sind und
wegfallen werden, wenn man Mindestlöhne nach Ihren
Vorstellungen einführt.
Sie können gerne noch nachlegen, wenn Sie wollen.
Der Kollege hat noch Fragebedarf.
Nun hat sich der Kollege Ernst aber hingesetzt. Nach-
dem es inzwischen offensichtlich gelungen ist, die Rede-
zeit zu verdreifachen, lasse ich weitere Fragen in diesem
Beitrag nicht mehr zu.
Das ist schade, Frau Präsidentin, aber ich akzeptiere
das selbstverständlich. Herr Kollege Ernst, ich habe
mir Ihren Antrag sehr genau angesehen und festgestellt,
dass Sie viel über Beschäftigte in unterschiedlichen Ver-
hältnissen reden, aber überhaupt nicht über die Arbeits-
losen. Die kommen in Ihrem Antrag schlicht und ergrei-
fend nicht vor.
Sie haben nur die Interessen der Beschäftigten im Sinn.
Das sehe ich als problematisch an; denn wenn ich Rot-
Grün in den Jahren 2004/2005 richtig verstanden habe,
dann war die Idee doch gerade, dass man einen Marktzu-
gang auch für diejenigen Menschen schafft, die einen
hohen Lohn nicht erwirtschaften können. Man hat doch
einen Niedriglohnsektor an unsere Volkswirtschaft an-
gebaut, um genau das zu ermöglichen. Heute sind Sie
überrascht, was daraus geworden ist. Sie, Frau Kollegin
Pothmer, waren erfolgreich mit Ihrer Politik. Sie
schauen jetzt aber ganz überrascht und tun so, als ob Sie
das nicht gewollt hätten. Ich muss Sie wirklich fragen,
ob Sie damals so wenig strategischen Weitblick gehabt
haben, dass Sie nicht abschätzen konnten, dass das he-
rauskommen wird, was heute Realität ist.
Ich will erwähnen, dass das Ifo-Institut eine Studie vor-
gelegt hat, wonach bei einem Mindestlohn von 7,50 Euro
1,1 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet
wären. Das RWI kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Es
beziffert die zusätzliche fiskalische Belastung durch den
Mindestlohn sogar auf 9 Milliarden Euro. Wir nehmen
also gesamtwirtschaftlich gesehen nicht mehr ein, son-
dern das kostet sogar 9 Milliarden Euro. Die Forderung
des DGB nach einem gesetzlichen Mindestlohn von
8,50 Euro würde nach diesen Berechnungen 1,5 Millio-
nen Arbeitsplätze kosten.
D
s
n
4
le
v
s
V
T
w
d
s
te
H
F
T
s
s
M
d
re
g
k
w
m
W
d
d
M
D
K
J
p
D
Ic
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die
raktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
hese, jeder Job sei besser als gar keiner, ist barer Un-
inn. Auch Sklavenarbeit ist Arbeit, aber nicht men-
chenwürdig. Lohndumping darf es in der sozialen
arktwirtschaft nicht geben. Deswegen muss man Min-
estlöhne einführen. Applaus, meine Damen und Her-
n von der CDU/CSU! Das hat nicht jemand von uns
esagt. Das hat auch kein Linker und kein Sozialdemo-
rat gesagt. Das hat Ihr Parteifreund Geißler gesagt.
Wissen Sie, wer dazu applaudiert hat? Wissen Sie,
er da die Laudatio gehalten hat? Ihre Bundeskanzlerin,
eine Damen und Herren von der CDU/CSU.
as hat die Bundeskanzlerin in der Laudatio gesagt, in
er Würdigung dieses letzten großen Sozialpolitikers in
er CDU/CSU? Herr Geißler habe in seiner Sozialpolitik
aßstäbe gesetzt.
as Streben nach sozialer Gerechtigkeit gehöre zu den
onstanten seines Wirkens.
etzt noch einmal zum Mitschreiben für Sie: Lohndum-
ing darf es in der sozialen Marktwirtschaft nicht geben.
eshalb brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn.
h bitte um Applaus für Herrn Geißler.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2533
)
Brigitte Pothmer
Aber so gehen Sie mit Ihren Altvorderen um.
Ich kann Ihnen nur sagen: Die Jungspunde, die heute
bei Ihnen Politik machen, haben einige Mantras. Ein
Mantra heißt: Wir wollen keinen gesetzlichen Mindest-
lohn. Ein anderes Mantra heißt: Wir wollen nicht wirk-
lich etwas gegen Lohndumping tun. Ein weiteres Mantra
heißt: Wir wollen Arbeitslosengeld II zu einem flächen-
deckenden Kombilohn machen. Dann tun Sie noch so,
als hätte das etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun.
Mein Gott, wie vermisse ich Herrn Geißler in Ihren Rei-
hen!
Die Studie der Hans-Böckler-Stiftung ist hier schon
angesprochen worden. Ich will nicht wiederholen, was
darin gesagt worden ist. Aber eines sollten wir uns klar-
machen: Das Problem der Geringverdienenden hat eine
ganz andere Dimension, als wir es bis jetzt gewusst und
geahnt haben. Es sind fast 1 Million Menschen, die Voll-
zeit arbeiten und von ihrem Lohn nicht leben können. Es
ist wirklich eine Schande dafür schäme ich mich ,
dass es diese Leute nicht vermögen, die Leistungen, die
ihnen zustehen, zu beantragen.
Reden Sie hier nicht so ein dummes Zeug, Herr Kolb.
Das hat natürlich auch etwas mit Stigmatisierung zu tun.
Daran ist Herr Koch schuld. Daran ist Herr Westerwelle
schuld. Sie brauchen doch ganze Bataillone von Leuten,
die dieses dumme Gerede von Herrn Westerwelle hier
im Parlament und anderswo verteidigen.
Aber all das nützt gar nichts. Das ist Stigmatisierung. Da
steht Stigmatisierung drauf, und da ist auch Stigmatisie-
rung drin.
Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kolb?
Ich finde, Herr Kolb hat uns heute lange genug beläs-
tigt. Ich habe jetzt einfach keine Lust mehr.
Herr Kolb, setzen Sie sich hin und hören Sie einfach ein-
mal zu.
g
w
E
a
d
s
g
g
D
H
s
k
ti
D
d
w
e
z
s
v
te
L
d
c
ri
S
z
lä
n
b
L
G
d
h
D
s
s ist ein Beweis dafür, dass der deutsche Arbeitsmarkt
us den Fugen geraten ist. Es ist ein schlagender Beweis
afür, dass die Tarifparteien eben nicht mehr in der Lage
ind, dieses Problem zu lösen. Wir reden deswegen über
esetzliche Mindestlöhne, weil die Tarifautonomie in
anzen Branchen nicht mehr funktioniert.
as ist der Grund, warum hier die Politik gefragt ist.
ier können Sie sich nicht länger aus der Verantwortung
tehlen.
Für die Betroffenen ist es eine Frage der Gerechtig-
eit. Aber für den Staat ist es eine außerordentlich wich-
ge ordnungspolitische Frage.
ie Verhältnisse sind inzwischen so, dass Arbeitgeber,
ie Dumpinglöhne zahlen, noch staatlich subventioniert
erden, und zwar mit dem Geld, das diejenigen als Steu-
rn zahlen, die für ihre Beschäftigten akzeptable Löhne
ahlen, sodass sie von denen wegkonkurriert werden, die
taatlich subventionierte Dumpinglöhne zahlen. Das ist
olkswirtschaftlicher Unfug. Wenn es tatsächlich so wei-
rgeht, dass die Steuerzahler zum Ausfallbürgen für
ohndumping werden, dann müssen wir als Politik han-
eln.
Dann reicht es eben nicht, Herr Weiß, noch ein biss-
hen an der Sittenwidrigkeit herumzudoktern. Sittenwid-
ge Löhne sind schon verboten; das ist doch nur weiße
albe. Der schlagende Beweis, dass wir mit branchenspe-
ifischen Mindestlöhnen nicht weiterkommen, ist doch
ngst erbracht. Ein bisschen Mindestlohn funktioniert
icht. Das ist wie ein bisschen Schwangerschaft oder ein
isschen Frieden; auch das funktioniert nicht.
Wir brauchen eine verbindliche Lohnuntergrenze.
iebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wir als
rüne wissen allerdings sehr genau, dass die Wirkung
er Einführung von Mindestlöhnen sehr stark davon ab-
ängt, wie der Prozess der Einführung gestaltet wird.
eswegen ist ein Mindestlohn von 10 Euro tatsächlich
ehr problematisch.
)
2534 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Brigitte Pothmer
Ich freue mich aber, dass ich in Ihrem Antrag lesen
konnte, dass Sie unseren Vorschlag der Einsetzung einer
Kommission zur Einführung von Mindestlöhnen, einer
Low Pay Commission,
übernommen haben; das ist doch immerhin eine Ent-
wicklung.
Meine Damen und Herren von der CDU und von der
FDP, die Zeit ist reif für die Einführung eines Mindestloh-
nes. Sie stehen historisch auf der falschen Seite. Nur noch
notorische Scheuklappenträger da geht mein Gruß an
die Freunde historischer Vergleiche, an die FDP können
so tun, als würde die Einführung von Mindestlöhnen den
Untergang des Abendlandes bedeuten.
In einem Jahr kommt die Arbeitnehmerfreizügig-
keit; das ist auch gut so. Sie werden aber hinweggefegt
werden, wenn Sie bis dahin nichts gegen Niedriglöhne
tun, wenn Sie bis dahin keine Mindestlöhne eingeführt
haben. Mir persönlich missfällt diese Vorstellung zwar
nicht. Aber im Sinne der Gerechtigkeit, im Sinne des so-
zialen Friedens in unserem Lande und im Sinne der Be-
troffenen kann ich nur hoffen, dass wir das Mindest-
lohnthema in Deutschland bis dahin gelöst haben.
Ich danke Ihnen.
Bevor ich dem Kollegen Kolb für eine Kurzinterven-
tion das Wort gebe ein Hinweis: Es gibt in unserer Ge-
schäftsordnung nicht das Recht auf Kurzinterventionen
zu jeder Zeit und mehrfach in jeder Debatte. Wir sind in
der Ältestenratssitzung übereingekommen, dass das wei-
terhin im Ermessen der jeweiligen Präsidentinnen und
Präsidenten steht und dass sie dabei natürlich auch be-
rücksichtigen, wer in einer Debatte schon ausführlich
gesprochen hat; außerdem berücksichtigen sie all die an-
deren Kriterien, die wir dazu vereinbart haben.
Wenn ich jetzt dem Kollegen Kolb das Wort gebe,
ist das also auf jeden Fall das letzte Mal innerhalb dieser
Debatte.
Die Kollegin Pothmer hat dann selbstverständlich das
Recht, zu erwidern, wenn sie das vorhat.
Bitte, Herr Kollege Kolb.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich sehr für die Mög-
lichkeit einer Kurzintervention, die ich auch wirklich
kurz halten möchte; ich will maßvoll damit umgehen.
c
b
w
g
s
s
L
b
e
m
z
Q
d
v
s
d
le
d
b
g
n
im
s
w
ti
z
w
d
re
d
D
H
s
w
Frau Kollegin Pothmer, die Möglichkeit, aufzusto-
ken, ist von Rot-Grün geschaffen worden; das war eine
ewusste Entscheidung in Ihrer Regierungszeit. Ich
ollte Ihnen mit meiner Zwischenfrage, die Sie nicht zu-
elassen haben, eigentlich nur sagen, dass die wach-
ende Zahl von Arbeitnehmern, die ergänzend Arbeitslo-
engeld II in Anspruch nehmen, für uns kein Indiz für
ohndumping ist.
Ich wollte das mit einer Zahl untermauern. In der Bau-
ranche gilt ein gesetzlicher Mindestlohn. Trotzdem gab
s 2008 mehr als 40 000 Arbeitnehmer, die ihr Einkom-
en mit Arbeitslosengeld II aufstocken mussten, und
war bei einem geltenden Mindestlohn von 9,50 Euro;
uelle: Bundesagentur für Arbeit.
Das ist aus meiner Sicht ein nachhaltiger Beweis dafür,
ass man mit einem Mindestlohn in einer großen Zahl
on Fällen den Bezug von Transferleistungen nicht aus-
chalten kann. Deswegen war Ihre damalige Entschei-
ung für die Aufstockung, für den ergänzenden Transfer-
istungsbezug richtig. Ich wollte Sie fragen, warum Sie
as heute eigentlich anders sehen.
Bitte schön.
Herr Kolb, die Frage ist doch: Wie sähe es in der Bau-
ranche aus, wenn wir keinen Mindestlohn hätten? Es
ibt 1 Million Menschen, die ergänzende Leistungen
ach dem SGB II bekommen. Gerade Sie treten hier
mer als Befürworter der Konkurrenzfähigkeit auf. Sie
chaffen völlig ungleiche Konkurrenzbedingungen,
enn ein Arbeitgeber, der Dumpinglöhne zahlt, subven-
oniert wird, während ein anderer, der ehrliche Löhne
ahlt, keine Subventionen erhält. Wir wollen eine Markt-
irtschaft; wir wollen Konkurrenz. Aber wir wollen
em einen Rahmen geben. Es geht darum, die Konkur-
nz nicht über Schmutzlöhne, sondern über die Qualität
er Produkte auszutragen.
Danke.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
r. Johann David Wadephul das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
erren! Nachdem die Kollegin Pothmer von den Jung-
punden gesprochen hatte, die in der Union die Verant-
ortung für Arbeits- und Sozialpolitik tragen, habe ich
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2535
)
)
Dr. Johann Wadephul
festgestellt, dass der Kollege Karl Schiewerling und der
Kollege Weiß auf ihrem Stuhl wirklich etwas gewachsen
sind, dass die ganze Anspannung der Woche von ihnen
gefallen ist. Wenn eine so anmutige und grundsätzlich
intelligente Frau wie Frau Pothmer die beiden Herren
hier als Jungspunde bezeichnet, dann muss ich sagen:
Das ist ein guter Auftakt für eine ordentliche Sachde-
batte.
Der Beitrag der Kollegin Pothmer war in einigen Punk-
ten aber vielleicht doch etwas übertrieben. Ich glaube,
dass es notwendig und sinnvoll ist, dass wir den Pulver-
dampf wegblasen und auf diejenigen Punkte schauen, bei
denen im ganzen Haus eigentlich Einigkeit besteht. Herr
Kollege Weiß hat für die Unionsfraktion schon gesagt
Sie können das unterschiedlich begründen; für uns ist
das christliche Menschenbild entscheidend : Natürlich
muss jeder Mensch ein Mindesteinkommen haben, von
dem er selber leben kann und mit dem er, so er für andere
Verantwortung trägt, für diese sorgen kann; das ist völlig
unstreitig.
Unstreitig ist auch das hat der Kollege Weiß eben-
falls gesagt , dass Dumpinglöhne sanktioniert werden
müssen, dass sie auch von niemandem gutgeheißen wer-
den und dass wir uns nicht dem unsäglichen Werbe-
spruch Geiz ist geil eines großen Elektronikdiscoun-
ters anschließen. Wir finden sicherlich Sparsamkeit
richtig. Geiz jedoch ist die Perversion der Sparsamkeit.
Deswegen ist es vollkommen richtig und notwendig,
dass Arbeitsgerichte Dumpinglöhne für rechtswidrig und
für nichtig erklären und dass sie den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, denen ordentliche Löhne vorenthal-
ten worden sind, den üblichen Lohn zusprechen, dass die
Arbeitgeber also verurteilt werden, einen ordentlichen
Lohn zu zahlen.
Das ist gut und das ist richtig so, und das soll auch so
bleiben.
Der Niedriglohnsektor ist hier mehrfach erwähnt
worden. Kollege Ernst hat hier vollkommen zu Recht die
Aussage des früheren Bundeskanzlers Schröder auf dem
Weltwirtschaftsforum in Davos zitiert: Wir haben einen
der besten Niedriglohnsektoren in Europa aufgebaut.
Diese Aussage wurde getätigt, Frau Kollegin Pothmer,
nachdem die entsprechenden Gesetze bei Zustimmung
der Grünen hier im Deutschen Bundestag eine parlamen-
tarische Mehrheit gefunden hatten.
Sowohl Sozialdemokraten als auch Grüne sollten sich
zu dem bekennen, was sie in diesem Bereich selber ge-
setzlich veranlasst haben, und sie sollten nicht so tun, als
wenn sie unter Gedächtnisverlust leiden würden.
p
d
te
v
s
a
s
K
In
ti
M
d
n
E
a
s
d
g
E
m
n
tu
im
m
d
d
z
u
w
U
la
d
s
b
s wird mehr Scheinselbstständigkeit und mehr Schwarz-
rbeit geben. Damit geben Sie diesen Menschen Steine
tatt Brot.
Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Zwischenfrage
es Kollegen Kurth?
Ja.
Bitte.
Herr Wadephul, da Sie die Verantwortung der damali-
en, von Rot-Grün getragenen Bundesregierung für das
ntstehen eines Niedriglohnsektors angeführt haben,
öchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
ehmen, dass im Vierten Gesetz für moderne Dienstleis-
ngen am Arbeitsmarkt, nachdem es dieses Parlament
Sommer 2003 passiert hatte und bevor es in den Ver-
ittlungsausschuss kam, eine Regelung enthalten war,
ie da lautete: Zumutbar ist eine Arbeit nur, wenn min-
estens der Tariflohn oder aber der ortsübliche Lohn ge-
ahlt wird? Können Sie sich erinnern, dass diese Lohn-
nterschranke, die in das Gesetz eingezogen worden
ar, dann im Vermittlungsausschuss auf Betreiben von
nion und FDP gekippt worden ist?
Lieber Herr Kollege Kurth, der SGB-II-Gesetzgebung
g doch das Prinzip zugrunde, dass wir in einem Bereich,
er sich bisher in Deutschland in Schwarzarbeit, Schein-
elbstständigkeit oder Nichtarbeit erschöpfte, Schätze he-
en
2536 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Dr. Johann Wadephul
bzw. Arbeitsmöglichkeiten schaffen wollten. Wir woll-
ten natürlich denjenigen, die diese Arbeit ausführen, zu-
sätzliche staatliche Leistungen gewähren. Dieses Ziel
werden Sie geradezu konterkarieren, wenn Sie Arbeit so
teuer machen, dass sie nicht mehr in Deutschland statt-
findet oder, weil die Anreize dafür wieder so groß ge-
worden sind, in Form von Schwarzarbeit stattfinden
würde. Deswegen ist diese Korrektur damals sinnvoll
gewesen. Ich bekenne mich durchaus dazu und nehme
somit das, was Sie gesagt haben, zur Kenntnis.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es reicht
nicht aus, wie es hier ja geschehen ist, auf europäische
Nachbarstaaten zu verweisen, sondern man muss auch
berücksichtigen, wie viel Geld dort aufgrund der Min-
destlöhne verdient wird bzw. welche Beträge als Min-
destlöhne festgelegt sind. Wenn Sie, Herr Kollege Ernst,
anführen, dass viele europäische Staaten einen Mindest-
lohn haben, müssen Sie auch sagen, ob Sie einen Min-
destlohn in Höhe von 1 Euro, wie er in Rumänien oder
Polen besteht, haben wollen.
Was hilft das einem Arbeitnehmer in Deutschland?
In Frankreich haben wir zwar einen höheren Mindest-
lohn auch auf die dortigen Regelungen wurde ja schon
verwiesen , aber in Frankreich gibt es deswegen die
höchste Jugendarbeitslosigkeit mit Folgen wie den Aus-
schreitungen in den Vorstädten. Das ist mittlerweile an-
erkannt. Diesen Jugendlichen helfen Sie in keiner Weise,
wenn die Arbeit zu teuer gemacht wird und damit junge
Menschen nach der Ausbildung nicht in Arbeit kommen,
sondern auf der Straße stehen und keine Zukunftshoff-
nungen mehr haben.
Die Erfahrungen mit Mindestlöhnen im europäischen
Ausland sind deswegen nicht so, dass man sie für
Deutschland nutzbar machen könnte und sagen müsste,
es wäre zwingend, hier in Deutschland Mindestlöhne
einzuführen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, nämlich
des Kollegen Birkwald?
m
s
d
li
w
g
ri
li
A
s
d
H
e
d
a
d
e
s
in
d
w
e
n
d
d
L
w
D
w
T
G
In
d
c
A
Im Übrigen sei an der Stelle noch einmal angemerkt,
err Kollege Birkwald: Wir sind durchaus dafür, dass in
inzelnen Branchen der Kollege Weiß ist ausführlich
arauf eingegangen Mindestlöhne festgelegt werden,
ber eben nur in einzelnen Branchen und nur dann, wenn
ie Tarifvertragsparteien eine entsprechende Vorlage
rarbeitet haben. Das ist unsere Auffassung. Ich denke,
o ist das auch richtig. Die Alternative wäre ja, dass wir
der Tat einen gesetzlichen Mindestlohn einführten und
ann hier im Hohen Hause Diskussionen darüber hätten,
elche Höhe angemessen ist. Meinen Sie, es würde zu
iner sachgerechteren Lösung für die Arbeitnehmerin-
en und Arbeitnehmer in Deutschland führen, wenn wir
arüber stritten, ob nun 7,50 Euro oder 8,50 Euro, wie es
er DGB jetzt beschließen will, oder 10 Euro, wie es die
inke für richtig hält, als Mindestlohn gelten sollen? Das
äre dann ein Thema im Bundestagswahlkampf in
eutschland. Damit ist niemandem geholfen, und des-
egen bekennen wir uns an dieser Stelle eindeutig zur
arifautonomie.
Herr Kollege, die Politik muss sich dort aus gutem
runde heraushalten. Dort gehört die Politik nicht hin.
Art. 9 unseres Grundgesetzes ist festgelegt, dass dies
ie Arbeitnehmer und Arbeitgeber in ihrer verbandli-
hen Organisation autonom regeln sollen. Das ist nicht
ufgabe der Politik.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2537
)
)
Gestatten Sie eine letzte Zwischenfrage, in diesem
Fall vom Kollegen Ernst?
Nein, ich bitte um Verständnis. Ich möchte versuchen,
den Gedankengang abzuschließen.
Ich möchte mich zum Schluss dem Antrag der Links-
partei zuwenden. Was Sie hier vorschlagen die Grünen
begrüßen das jetzt; ich kann nur anregen, sich das noch
einmal zu Gemüte zu führen ,
ist im Kern kein gesetzlicher Mindestlohn mehr, sondern
ein exekutiver Mindestlohn. Es mag sein, dass man sich
da an die Situation in der DDR erinnert hat. Wenn ein
nationaler Mindestlohnrat durch die Bundesarbeits-
ministerin einberufen werden soll,
dann hat das Parlament darauf übrigens überhaupt keine
Einwirkungsmöglichkeiten mehr. Dann gibt man das
völlig aus der Hand.
Dann beschließt die Regierung mithilfe eines von ihr
eingesetzten Gremiums diese Lohnbestimmung. Das ist
möglicherweise eine Rückkehr zu Denkmustern aus frü-
heren Zeiten im unfreien Teil Deutschlands. Aber das
entspricht nicht unseren Vorstellungen davon, wie die
Marktwirtschaft in Deutschland sozial organisiert wer-
den sollte.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Norma-
lerweise geht man davon aus, dass mit zunehmendem
Lebensalter Erkenntnisgewinne einhergehen. Ein Er-
kenntnisgewinn beim Thema Mindestlohn war bei den
Rednerinnen und Rednern der Koalition, insbesondere
jenen der CDU, überhaupt nicht feststellbar. Ich glaube,
in diesem Sinne hat Frau Pothmer von Jungspunden
gesprochen. In diesem Sinne sind sie Jungspunde.
S
T
fe
k
c
h
d
k
d
H
s
k
B
D
B
v
c
A
h
P
u
s
ri
c
d
tr
a
P
D
h
b
d
S
d
P
w
d
Herr Ernst, zur historischen Wahrheit und dazu, Er-
enntnisse zu gewinnen. Als wir damals darüber gespro-
hen haben, wie wir mit dem Niedriglohnsektor umge-
en, haben wir in der Tat sehr lange und ausführlich mit
en Gewerkschaften darüber verhandelt. Wir waren uns
lar darüber: Wir brauchen branchenspezifische Min-
estlöhne.
ier hat übrigens auch bei uns ein Erkenntniszuwachs
tattgefunden: Mit branchenspezifischen Mindestlöhnen
ommt man nicht mehr aus.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode sechs
ranchen in die Mindestlohnregelung einbezogen.
ie Einbeziehung der zentralen und entscheidenden
ranche hat die Union aber aus ideologischen Gründen
erhindert, nämlich die der Zeit- und Leiharbeitsbran-
he.
lle Voraussetzungen, die wir miteinander vereinbart
aben, das Hohelied der Tarifautonomie usw., das von
eter Weiß gesungen wird, waren erfüllt. Arbeitgeber
nd Arbeitnehmer hatten einen gemeinsamen Antrag ge-
tellt. Dann sagte die Union, es gibt konkurrierende Ta-
fverträge, und bezog sich auf die ihr nahestehenden
hristlichen Gewerkschaften, die ausschließlich gegrün-
et worden sind, um Lohn- und Sozialdumping zu be-
eiben. Sich auf diese mit dem Hinweis auf die Tarif-
utonomie zu beziehen, ist unglaublich.
Übrigens gilt das genauso für einen Mindestlohn im
ostbereich; Herr Kolb, Sie haben ihn vorhin erwähnt.
as Geschäftsmodell derjenigen, die PIN und sonst wie
eißen, war, Lohndrückerei und Sozialdumping von Ar-
eitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf dem Markt
urchzusetzen.
ie berufen sich darauf, dass sie ihr Geschäftsmodell in
iesem Lande nicht durchziehen konnten, weil wir den
ostmindestlohn eingeführt haben. Leider Gottes sind
ir bei der Zeit- und Leiharbeit gescheitert. Aber ich bin
er festen Überzeugung, dass man dies durch die Ein-
2538 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Anton Schaaf
führung eines allgemeingültigen gesetzlichen Mindest-
lohns korrigieren kann. Die Notwendigkeit hierfür ist
bereits ausdrücklich erklärt worden.
Die Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit spielt in
Ihren Überlegungen überhaupt keine Rolle. Ottmar
Schreiner hat die Situation in Luxemburg und Frank-
reich angesprochen. Herr Kolb hat mit dem Beispiel Po-
len darauf geantwortet. Dazu sage ich Ihnen, Herr Kolb:
Aus dieser Richtung wird es in den nächsten Jahren Pro-
bleme für Hunderttausende von Arbeitsplätzen in
Deutschland geben. Sie können darauf nur mit der Ein-
führung eines allgemeinen Mindestlohns antworten.
Es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit, wenn Sie
nicht riskieren wollen, dass Hunderttausende Arbeits-
plätze in diesem Land mit Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern aus dem Osten Europas besetzt werden, die
aus existenziellen Gründen nach Deutschland kommen.
Wenn Sie hier nicht handeln, sind Sie dafür verantwort-
lich, dass es Tausende oder sogar Hunderttausende Ar-
beitsplätze weniger in diesem Land geben wird. Sie ha-
ben aber bislang nicht eine einzige Antwort.
Peter Weiß, Sie haben in Ihren Koalitionsvertrag nur
hineingeschrieben, was sowieso durch Rechtsprechung
entschieden wurde, und haben mit Hinweis auf die
Tarifautonomie jede Arbeit und jede Bedingung für zu-
mutbar erklärt. Statt die Tarifautonomie zu stärken das
wäre eigentlich nötig , machen Sie sie kaputt. Sie unter-
laufen sie, wenn Sie festlegen, dass jede Arbeit zumutbar
ist, auch wenn der Lohn unter dem tarif- oder ortsübli-
chen Mindestlohn liegt. Sie machen die Tarifautonomie
kaputt, weil Sie bereit sind, zu tolerieren, dass Löhne un-
ter dem tarif- oder ortsüblichen Mindestlohn gezahlt
werden. Sie subventionieren das auch noch und entlas-
sen Arbeitgeber aus der Verantwortung, vernünftige
Löhne zu zahlen. So werden Sie die Tarifautonomie
nicht stärken, sondern die Arbeitgeber aus den Tarifver-
bünden regelrecht hinausjagen; denn diese wollen diese
Möglichkeit nutzen. Herr Weiß, mit der Politik, die Sie
machen, sind Sie eine Gefahr für die Arbeitsplätze in
diesem Land.
Es ist hoch spannend, zu sehen, was Sie bei der
Zumutbarkeit vorhaben. Sie wollen die Hinzuver-
dienstgrenzen anheben. Die Vorredner haben es schon
gesagt: Das ist in der Tat nichts anderes als staatlich sub-
ventionierte Lohndrückerei. Ich habe den Eindruck, dass
Sie die Korrekturen, die aufgrund der stattgefundenen
Fehlentwicklungen notwendig sind, in keiner Weise vor-
nehmen wollen. Sie sehen die Zukunft dieses Landes tat-
sächlich in einem flächendeckenden, subventionierten
Niedriglohnbereich.
Wie Sie damit Wohlstand und Sicherheit für die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer auch im Alter ge-
währleisten wollen, ist nicht erklärbar und begründbar.
G
H
d
te
s
F
E
d
V
E
M
L
li
s
g
te
in
u
n
B
d
w
S
S
Ic
im
n
a
in
b
d
W
e
w
n
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-
raktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
s ist wenig hilfreich, liebe Kolleginnen und Kollegen
er Opposition, wenn man in dieser Diskussion einfach
ergleiche mit dem europäischen Ausland zieht.
ntscheidend ist nicht der Durchschnittslohn bzw. der
indestlohn im europäischen Ausland, sondern die
ohnspreizung. In manchen osteuropäischen Ländern
egt der Mindestlohn bei 1 oder 2 Euro. Das ist ein we-
entlicher Aspekt, den es in der Debatte zu berücksichti-
en gilt. Das ist der erste Punkt.
Zweiter Punkt. Der Mindestlohn stellt nur einen An-
il an den Lohnkosten dar. Man muss die Lohnkosten
den verschiedenen Ländern miteinander vergleichen,
m zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen.
Lieber Herr Schreiner, Sie sprechen von der Amerika-
isierung unseres Arbeitsmarktes. Der Soziologe Ulrich
eck spricht von einer Brasilianisierung. Es ist müßig,
arüber zu diskutieren; denn das alles führt uns nicht
eiter.
Ich versuche es etwas einfacher und spreche Sie, Toni
chaaf, als Wirtschaftssubjekt an. Ich weiß nicht, ob
ie regelmäßig zur Maniküre in ein Nagelstudio gehen.
h gebe freimütig zu, dass ich das nicht tue, obwohl es
Umfeld des Bundestages welche gibt. Ich weiß auch
icht, ob Sie jeden Tag Ihren Mitarbeiterinnen und Mit-
rbeitern das hätten diese sicherlich verdient Blumen
s Büro mitbringen. Ich mache es jedenfalls nicht. Wir
eide gehören sicherlich nicht zu den Geringverdienern,
ie sich das alles nicht leisten können. Aber wir, die
irtschaftssubjekte, haben ein gesundes Preis- und Wert-
mpfinden, auf dessen Grundlage wir entscheiden, ob
ir für diese oder jene Leistung Geld ausgeben oder
icht.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2539
)
)
Pascal Kober
Das heißt, bei der Lohnfindung geht es nicht allein
um einen Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern, sondern auch um die Interessen der potenziel-
len Kunden, die die Preise zahlen müssen.
Frau Präsidentin, mein Kollege, Herr Schaaf, hat eine
Frage.
Wenn Sie diese Frage zulassen wollen, dann hat Kol-
lege Schaaf das Wort.
Ja.
Mit Ihrer Einlassung haben Sie den Unterschied
deutlich gemacht. In erster Linie ist Toni Schaaf kein
Wirtschaftssubjekt, sondern Mensch. Auch im Wirt-
schaftskreislauf geht es um die Würde des Menschen.
Glauben Sie ernsthaft, dass Sie es in Anbetracht der Tat-
sache, dass das Bundesverfassungsgericht sein Urteil auf
die Würde des Menschen abhebend formuliert hat,
durchhalten werden, diese Frage beim Lohn bzw. bei der
Subventionierung von Lohn zu ignorieren? Es geht um
die Würde des Menschen und nicht um Wirtschafts-
objekte einer Gesellschaft.
Lieber Toni Schaaf, ich habe Sie als Wirtschaftssub-
jekt und nicht als Wirtschaftsobjekt das haben Sie zu-
letzt falsch gesagt angesprochen. Das sind Sie. Sie ha-
ben diese Funktion. Das lässt sich nicht wegdiskutieren.
Das, was Sie jetzt machen, ist Rabulistik. Davon distan-
ziere ich mich. Ich glaube, auf diesem Niveau sollten wir
uns nicht unterhalten.
Natürlich ist die Welt nicht schwarz-weiß. Bei der
Lohnfindung gibt es einen Graubereich ich komme auf
Ihre Frage zurück , der die Gestaltung des Lohnes ent-
scheidet. Die Frage ist: Sind Menschen im Arbeitsmarkt
drin oder draußen? Ich sage Ihnen ehrlich: Es geht nicht
darum, schwarz-weiß zu malen. Wir von der FDP stellen
fest: Im Zweifel sind wir dafür, dass die Menschen in
d
z
m
s
n
z
E
in
G
m
W
d
m
E
p
s
W
M
le
S
U
K
n
e
a
g
S
b
s ist uns wichtig, die Menschen in den Arbeitsmarkt zu
tegrieren. Wir trauen der Politik nicht zu, in diesem
raubereich die richtige Entscheidung zu fällen. Das
achen die Tarifpartner im Austausch mit den vielen
irtschaftssubjekten, wodurch die Preis- und Lohnbil-
ung ermöglicht wird.
Da ich noch 33 Sekunden zur Verfügung habe,
öchte ich das noch ausführen:
s geht um die Frage, wie wir die Menschen in Arbeits-
rozesse integrieren. Wir wollen keinen Mindestlohn,
ondern ein Mindesteinkommen.
ir werden uns dezidiert gegen die Stigmatisierung von
indesteinkommen wehren, liebe Kolleginnen und Kol-
gen, insbesondere der Grünen. Aufstocken darf kein
kandal in dieser Gesellschaft sein.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
nionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
ollegen! Liebe Zuschauer! Frau Kollegin Pothmer, zu-
ächst herzlichen Dank. Wenige Tage vor dem Weltfrau-
ntag haben Sie mir ein Kompliment gemacht und mich
ls Jungspund der CDU/CSU bezeichnet. Das habe ich
erne auf mich bezogen. Auch der Kollege Karl
chiewerling fühlt sich als Jungspund sehr wohl.
Sie können mich gerne wieder einmal als Jungspund
ezeichnen. Ich habe damit kein Problem.
2540 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Paul Lehrieder
Lieber Kollege Ernst, Sie haben Ihren Vortrag mit ei-
nem Hinweis auf die Fakten begonnen. Das ist gut. Es
gibt einen intelligenten Spruch, der lautet: Politik, insbe-
sondere gute Politik, beginnt mit der Betrachtung der
Realität. Von vielen Vorrednern wurde bereits die Situa-
tion in den Nachbarländern angeführt. Ich will das
nicht zu sehr vertiefen, aber nicht unerwähnt bleiben
sollte die Erkenntnis, dass auch andere beschäftigungs-
politisch erfolgreiche Länder in unserer Nähe, die ein
funktionierendes Tarifsystem haben mit dem Aus-
schuss besuchen wir sie gern, beispielsweise Dänemark,
Finnland, Norwegen, Schweden und Österreich , kei-
nen gesetzlichen Mindestlohn haben. Dort geht die Welt
auch nicht unter, und auch dort sitzt man nicht vor der
EU-Freizügigkeit wie das Kaninchen vor der Schlange.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben
die Mindestlohnquoten in den Nachbarländern ange-
führt in Luxemburg beispielsweise liegt der Mindest-
lohn bei 9,73 Euro , die Sie im Lauf der Legislatur-
periode toppen wollen. Wie Ihrem Antrag zu entnehmen
ist, wollen Sie einen Mindestlohn von über 10 Euro bis
zum Ende 2013 einführen. Aber eines haben Sie verges-
sen. Was Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt wollen, wis-
sen wir nicht. Die Grünen wollen 7,50 Euro. Die Ge-
werkschaft will 8,50 Euro. Mir kommt das vor wie bei
einem Skatspiel: 18, 20, nur nicht passen. Das droht uns,
wenn sich der Staat in die gesetzliche Lohnfindung hi-
neinkniet.
Von meinen Vorrednern wurde bereits darauf hinge-
wiesen, dass wir oft genug hören, dass der Staat nicht der
bessere Unternehmer, geschweige denn der bessere Ban-
ker und sicherlich auch nicht der bessere Gewerkschafter
ist. Lieber Kollege Ernst, ich habe im Kürschner nachge-
schaut, ob Sie immer noch als Gewerkschaftssekretär
firmieren. Sie tun das. Wir können da darauf haben
meine Vorredner auch schon hingewiesen , wo die Ta-
rifvertragsparteien Löhne ausgehandelt haben, einen ta-
riflichen Mindestlohn gesetzlich übernehmen. Das ist
okay. Aber ein flächendeckender gesetzlicher Min-
destlohn funktioniert nicht.
Bitte, da kann man ruhig einmal klatschen, Herr
Ackermann.
Auch meine Fraktion könnte einmal klatschen.
Herr Ernst, der Titel Ihres Antrages das darf ich
vielleicht bestätigen ist ja nicht schlecht: Nie-
driglöhne bekämpfen Gesetzlichen Mindestlohn ein-
führen. Niedriglöhne wollen auch wir bekämpfen.
Die Frage ist nur, wie wir das machen. Wir müssen auf-
passen, dass wir mit den Niedriglöhnen nicht auch die
niedrigen Arbeitsplätze komplett bekämpfen, dass wir
nicht Arbeitsplätze vernichten. Darüber streiten wir im
Ausschuss, auf Fachebene. Was bringt ein gesetzlicher
Mindestlohn? Wir vertreten die Auffassung: Er macht
m
te
W
L
is
te
d
2
M
b
g
z
g
1
Ih
A
n
s
S
g
w
A
Q
In
ut 1,1 Millionen Arbeitsplätze vernichtet, und bei
0 Euro Mindestlohn Kollege Ernst, jetzt sind wir bei
nen sind es mehr als 1,9 Millionen Arbeitsplätze.
Von der Hans-Böckler-Stiftung. Ich gebe Ihnen die
ufstellung gern, Herr Kollege Troost. Kommen Sie
achher zu mir. Ich brauche es nicht. Dann können Sie
ich das einmal anlesen.
Zu Ihnen, Herr Kollege Ernst.
Kollege Lehrieder, ich wollte Sie gerade fragen, ob
ie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst zulassen.
Ich wollte gerade im vorauseilenden Gehorsam Ja sa-
en.
Dann hat der Kollege Ernst das Wort.
Danke, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. Ich
ill wissen, welche Studie Sie meinen. Mir liegt eine
ussage der Hans-Böckler-Stiftung vor. Ich will die
uelle nennen: Böckler Impuls, 3/2000. Dort heißt es
ich zitiere :
Die Wissenschaftler vom Institut Arbeit und
Qualifikation
haben einen Überblick über den
aktuellen Forschungsstand zusammengestellt. Da-
rin berichten sie von zahlreichen empirischen Stu-
dien aus den USA und Großbritannien, die Jobzu-
wächse infolge von Mindestlohn-Erhöhungen statt
der erwarteten Verluste beobachtet haben.
Welche Quelle zitieren Sie? Mir ist das nicht bekannt.
allen Quellen, auch Studien, die ich kenne, wird das
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2541
)
)
Klaus Ernst
Gegenteil von dem gesagt, was Sie gerade behauptet ha-
ben.
Herr Kollege Ernst, herzlichen Dank für den Ein-
wand. Ich weiß nicht, aus welchem Jahr Ihre Studie ist.
Sie haben 3/2000 gesagt.
Alles klar. Dann ist das möglicherweise sogar korrekt.
Meine Damen und Herren, ich habe die Frankfurter
Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 2010 zitiert, die
sich auf die Hans-Böckler-Stiftung bezogen hat. Ich bin
gerne bereit, diese Zahlen zu verifizieren und Ihnen pri-
vatissime zu erklären, wo sie herkommen.
Dafür bin ich sehr dankbar, Herr Troost. Das meine ich
wirklich ernst.
Ich bin mit der Beantwortung Ihrer Frage fertig, Herr
Ernst. Wir diskutieren über die richtigen Mittel und die
richtigen Wege, um ein Problem hier bei uns zu lösen.
Die Zuschauer an den Fernsehgeräten, aber auch die Zu-
schauer hier, im Plenarsaal, haben kein Verständnis,
wenn wir uns aus rein prinzipiellen Überlegungen auf
den Kopf hauen. Wir müssen schauen, wie wir eine Lö-
sung finden. Wir streiten um die richtigen Instrumente
für die Erreichung eines gemeinsam angestrebten Zieles.
Da sind wir noch weit auseinander.
Bei dem Thema Mindestlöhne haben Sie auch Frank-
reich angesprochen. Lieber Kollege Ernst, ich muss Sie
einmal fragen: Wissen Sie, wie hoch die Jugendarbeits-
losigkeit in Frankreich derzeit ist?
20 Prozent. Wissen Sie, wie hoch sie in Deutschland ist?
10 Prozent. Ein Mindestlohn führt also insbesondere bei
den Jugendlichen nicht zwangsläufig zu einer Vollbe-
schäftigung. Wissen Sie, wo die meisten Jugendauf-
stände sind? In den Vororten von Paris. Zum Glück ha-
ben wir diese Situation noch nicht.
Der Mindestlohn führt auch dazu, dass Jugendliche,
die vielleicht zudem Einstellungshindernisse haben, es
n
h
A
p
d
h
d
s
a
ri
B
s
li
z
D
li
s
c
is
li
N
li
h
E
7
z
in
k
M
K
b
d
e
v
lo
m
V
b
eshalb haben wir mit dem Kombilohn, mit der Mög-
chkeit des Aufstockens durchaus adäquate Mittel, die
oziale Absicherung von Geringverdienern zu errei-
hen.
Kollege Kober hat bereits darauf hingewiesen: Arbeit
t mehr, als Geld zu verdienen, Arbeit ist auch Verwirk-
chung des Grundrechts auf Menschenwürde.
atürlich ist Arbeit mit einem ausreichenden oder mög-
chst hohen Einkommen für jeden angenehmer; da
aben Sie völlig recht. Aber Sie müssen auch wissen:
gal über welchen Mindestlohn wir diskutieren, ob
,50 Euro, 8,50 Euro oder 10 Euro, eine Familie mit
wei kleinen Kindern werden Sie von keinem der derzeit
der Diskussion befindlichen Mindestlöhne ernähren
önnen.
Unsere Sozialleistungen entsprechen derzeit einem
indestlohnniveau von 11,80 Euro. Frau Kollegin
rellmann hat gestern bei der Diskussion feuchte Augen
ekommen, als ich das gesagt habe. Die nächste For-
erung lautet: Wenn ich mich und meine Familie von
inem Lohn ernähren können soll das wird in der Be-
ölkerung durchaus so gesehen , dann ist ein Mindest-
hn von 7 Euro oder 10 Euro zu wenig; diesen Familien
üssen wir mehr geben.
iele derjenigen, die jetzt ergänzende Sozialleistungen
eziehen, sind Familien.
2542 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Paul Lehrieder
Mit der Entfristung und Vereinfachung des Kinderzu-
schlages haben wir mit der SPD Gutes gemacht, lieber
Kollege Schaaf, lieber Kollege Juratovic.
Ich könnte noch einiges zu dem Thema sagen. Ich
schätze, dass dies noch nicht die letzte Diskussion über
diese Thematik war, lieber Kollege Ernst.
Versprochen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche Ihnen ein schönes Wochenende.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wer Arbeit leistet, verdient Wert-
schätzung und Fairness. Zu Wertschätzung und Fairness
in der Arbeitswelt gehört auch eine anständige Entloh-
nung. Wir haben in unserem Land aber viele Leistungs-
träger, die nicht anständig und fair entlohnt werden. Es
kann nicht sein, dass viele Beschäftigte trotz Vollzeit-
arbeit und Überstunden ihre Familien nicht ernähren
können, ohne vom Steuerzahler Almosen zu erhalten.
Die kalkulierte Almosenverteilung ist weder christlich
noch hat sie etwas mit Freiheit zu tun. Denn zur Freiheit
gehört auch finanzielle Freiheit.
Leistung muss sich wieder lohnen, fordern Sie, meine
Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Wer arbeitet,
müsse mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet.
Ja, da stimme ich Ihnen zu. Leistung lohnt sich aber erst
dann, wenn sie auch fair bezahlt wird.
Leistung lohnt sich, wenn man von der Arbeit, die man
leistet, menschenwürdig leben kann.
Daher wird sich Leistung für viele Leistungsträger in
Deutschland erst dann wieder lohnen, wenn wir einen
allgemeinen und flächendeckenden gesetzlichen Min-
destlohn haben.
te
u
a
D
h
re
W
k
ru
g
E
w
w
s
s
li
s
z
d
v
G
H
L
ta
R
n
lo
E
m
h
a
Ü
h
te
fa
w
B
s
d
n
azu fällt mir nur unser guter, alter Platon ein: Der
öchste Grad von Ungerechtigkeit ist geheuchelte Ge-
chtigkeit.
enn Sie es mit Ihrer Forderung nach mehr Gerechtig-
eit ernst meinen, müssen Sie sich in der Bundesregie-
ng für den Mindestlohn als gesetzliche Lohnunter-
renze einsetzen und nicht dagegen.
s ist eine Frage der Moral und wichtig für das Selbst-
ertgefühl, dass geleistete Arbeit auch anständig bezahlt
ird. Für ein gesundes Selbstwertgefühl eines Men-
chen ist es wichtig, dass er von seiner Vollzeitarbeit
eine Familie ernähren kann; das sagen auch die Fami-
enministerin und die Arbeitsministerin in vielen Talk-
hows.
Sicherlich gehören zum politischen Geschäft von Zeit
u Zeit auch Showeffekte. Doch irgendwann muss man
as, was man versprochen hat, auch umsetzen. Sonst
erliert die Politik noch mehr an Glaubwürdigkeit. Diese
laubwürdigkeit hängt übrigens auch direkt mit diesem
aus zusammen, wenn man bedenkt, unter welchen
ohnbedingungen Menschen hier im Deutschen Bundes-
g arbeiten: beim Fahrdienst, bei den Sicherheits- und
einigungskräften.
Werte Kolleginnen und Kollegen, es sprechen nicht
ur moralische Gründe für einen gesetzlichen Mindest-
hn. Lassen Sie mich drei weitere Gründe aufzählen:
rstens. Wenn wir Altersarmut vermeiden wollen, dann
üssen wir dafür sorgen, dass die Rentner von morgen
eute vernünftig einzahlen können;
uch das gehört zur politischen Glaubwürdigkeit. Im
brigen sind auch die heutigen Rentner bei der Erhö-
ung ihrer Renten auf die Lohnzuwächse der Beschäftig-
n angewiesen. Mit einem Mindestlohn schaffen wir
ire Renten, heute und in der Zukunft.
Zweitens. Wenn wir Mindestlöhne einführen, sorgen
ir für mehr Kaufkraft in Deutschland und kurbeln die
innennachfrage an, gerade jetzt in der Krise. Eine
tärkere Binnennachfrage schafft Arbeit. Deswegen wird
er Mindestlohn nicht zu einem Minus, sondern zu ei-
em Plus an Jobs führen.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2543
)
Josip Juratovic
Großbritannien hat den Mindestlohn bereits 1999 einge-
führt. Er hat dort weder zu Arbeitsplatzabbau noch zu
Arbeitsplatzverlagerungen geführt.
Drittens. Ein Mindestlohn würde bewirken, dass wir
in Deutschland nicht länger einen Wettbewerb um Un-
terbieten und Dumpinglöhne, sondern einen Wettbe-
werb um Innovation und Fortschritt hätten. Dieser
Meinung sind übrigens auch die meisten Unternehmen
in unserem Land. Sie sind der Auffassung, dass Lohnun-
terbietung nur Subunternehmen nutzt, die den schnellen
und rücksichtslosen Profit suchen, und zwar auf Kosten
der Qualität. Unser Motto muss deswegen lauten: Güns-
tig statt billig. Das ist vor allem im nächsten Jahr wich-
tig, wenn die Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten
aufgrund der Vollendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit
ohne Einschränkung in Deutschland arbeiten dürfen.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten
wollten einen gesetzlichen Mindestlohn bereits in den
vergangenen Jahren einführen. Mit unseren damaligen
Koalitionspartnern, CDU und CSU, ließen sich jedoch
nur Mindestlöhne für bestimmte Branchen einführen.
Doch gerade in der Krise hat sich gezeigt, dass alle Be-
schäftigten in Deutschland einen Mindestlohn brauchen.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich
appelliere auch an Ihr christliches Menschenverständnis:
Setzen Sie sich dafür ein, dass alle Beschäftigten in
Deutschland das für den Lebensunterhalt ihrer Familien
Notwendige allein aus ihrer Vollzeitarbeit bestreiten
können, und verstecken Sie sich nicht hinter der Tarif-
autonomie, die Sie vorher durch Unterstützung der
vermeintlich christlichen Pseudogewerkschaften ge-
schwächt haben.
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, in der
Sache sind wir uns gar nicht so fern.
Uns unterscheidet aber vor allem der Politikstil. Manch-
mal scheint Robin-Hood-Politik gerecht zu sein, und sie
kommt bei vielen Menschen zunächst einmal gut an.
Eine solche Robin-Hood-Politik gefährdet aber den ge-
sellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn Sie einen Min-
destlohn von 10 Euro fordern, dann bremsen Sie dieses
Projekt eher.
Ich gebe zu: 10 Euro sind nicht besonders viel. Aber
erstens ist es unseriös, wenn Sie einen Mindestlohnrat
einsetzen, seine Ergebnisse aber schon im Voraus be-
schließen wollen, und zweitens ist es unseriös, wenn wir
mit einem Mindestlohn starten, der höher als in jedem
anderen Staat der Welt ist
u
s
m
c
li
S
u
z
n
d
e
F
D
w
ru
d
h
A
F
ti
tr
u
a
li
S
d
a
tr
s
Das Wort hat der Kollege Reiner Deutschmann für die
DP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
amen und Herren! Meine Vorredner haben es schon er-
ähnt: Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt die Einfüh-
ng eines flächendeckenden und branchenübergreifen-
en Mindestlohns unabhängig von der Höhe ab. Für uns
at die Tarifautonomie absoluten Vorrang.
Aus diesem Grund möchte ich hier einige generelle
nmerkungen machen: Der uns vorliegende Antrag der
raktion Die Linke ist wie so viele Anträge dieser Frak-
on
Eben, eben. Die Linke erklärt sich zum alleinigen Ver-
eter der Rechte und Anliegen aller Arbeitnehmerinnen
nd Arbeitnehmer. Dabei blendet sie aber regelmäßig
us, wie die wirtschaftliche Lage dieses Landes tatsäch-
ch aussieht.
ie möchte Wohltaten in Form von unzähligen Milliar-
en Euro verteilen, ohne zu klären, wer diese Milliarden-
usgaben finanzieren soll. Sie schreibt Antrag über An-
ag, ohne zu erwähnen, wie die Finanzierung erfolgen
oll.
)
2544 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Reiner Deutschmann
Wenn Sie Ihre Anträge einmal zur Hand nehmen und
deren volkswirtschaftlichen Effekt kumulieren, dann
dürften Sie und selbst der Kollege Ernst feststellen, dass
unser Solidarsystem aus den Angeln gehoben würde,
wenn die Summen, die Sie ständig fordern, hier tatsäch-
lich beschlossen werden würden.
Aber vielleicht ist gerade dies Ihre Absicht.
Das Solidarsystem lebt von der Solidarität; das
steckt schon in diesem Begriff. Sie aber überstrapazieren
diesen Begriff seit Jahren und betrachten ihn als Ein-
bahnstraße.
Sie wollen Milliarden Euro der privaten und öffentlichen
Hand verteilen, als sei es Spielgeld. Kommen Sie aber
selbst in der politischen Verantwortung an,
halten Sie als Tarifpartner in Berlin die Beschäftigten
des öffentlichen Dienstes kurz.
Das ist Doppelzüngigkeit, und Ihre Doppelzüngigkeit ist
manchmal kaum noch auszuhalten.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der
Linkspartei, was eine solche Politik einbringt, sehen wir
derzeit in Griechenland. Dort hat der Staat jahrzehnte-
lang über seine Verhältnisse gelebt, ohne sich um eine
solide Gegenfinanzierung Sorgen zu machen.
Andere Generationen werden die Suppe auslöffeln müs-
sen, im Zweifelsfalle auch wir.
Leisten Sie, liebe Linke, doch lieber einen Beitrag dazu,
dass Kinder wieder Handlungsspielräume haben, anstatt
sie immer enger zu stricken.
Generationengerechtigkeit scheint für Sie ein Fremdwort
zu sein.
Was nun den Mindestlohn angeht, sind wirklich alle
Argumente ausgetauscht. Ob es 7,50 Euro oder 10 Euro
sind, gleich bleibt in allen Fällen, dass gerade diejenigen
getroffen werden, die über keine oder nur geringe Quali-
fikationen verfügen. Ihnen droht die lebenslange Ar-
beitslosigkeit. Mindestlöhne sind hier kontraproduktiv.
Höhere Mindestlöhne vernichten gerade im Niedriglohn-
sektor Arbeitsplätze, führen zu Schwarzarbeit und zu
Jobverlagerung ins Ausland. Verschließen Sie doch bitte
nicht die Augen vor der Realität!
E
c
d
m
s
m
D
c
m
g
g
F
s
g
K
d
m
v
K
u
D
L
n
D
n
s
S
G
B
w
d
G
ti
E
s
lö
d
e
ntscheidend ist ein Mindesteinkommen, und das errei-
hen Sie eben nicht mit einem Mindestlohn.
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
ie Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
an mich dieser Tage fragt, was die Linken denn so tun,
o kann ich mit Bert Brecht nur antworten: Sie bereiten
it großer Mühe ihre nächsten Irrtümer vor.
er gesetzliche Mindestlohn, den Sie fordern, ist ein sol-
her Irrtum, und er wird nicht dadurch besser, dass Sie
it der SPD und den Grünen Bundesgenossen im Irrtum
efunden haben.
Worum geht es eigentlich bei der grundlegenden Fra-
estellung der heutigen Diskussion? Es geht um die
rage, ob Menschen in ihrer Möglichkeit der Lebensge-
taltung ausschließlich den Marktmechanismen von An-
ebot und Nachfrage unterworfen werden. Dazu hat der
ollege Peter Weiß für die Union schon gesagt: Nein,
as wollen wir nicht. Wenn wir den Anspruch ernst neh-
en, dass Wirtschaft die Kulturleistung zur Daseins-
orsorge des Menschen ist, dann ist der Mensch Herr
ollege Kober hat es erwähnt natürlich nicht Mittel
nd Objekt der Wirtschaft, sondern Wirtschaftssubjekt.
ie traditionelle Wirtschaftspolitik wusste ebenso wie
udwig Erhard sehr gut, dass die Wirtschaft keine auto-
ome Sphäre, sondern auf den Menschen bezogen ist.
Das gilt auch für den Bereich der Lohnfindung, die in
eutschland anders als in anderen Staaten traditio-
ell Sache der Tarifparteien ist. Insofern ist die Diskus-
ion, die wir heute führen, eher ein Anzeichen für die
chwäche der Tarifpartner, vor allen Dingen der
ewerkschaften, als ein Anzeichen für ihre Stärke. Die
indungswirkung der Gewerkschaften lässt nach. Des-
egen stellt sich die Frage nach einer neuen Ordnung,
ie Frage, wie bei abnehmender Bindungswirkung der
ewerkschaften Tariffindung und Lohnfindung vernünf-
g stattfinden sollen.
Wir haben nicht vor, die Gewerkschaften durch die
inführung eines gesetzlichen Mindestlohns weiter zu
chwächen. Wir wollen branchenbezogene Mindest-
hne. Bei branchenbezogenen Mindestlöhnen bleiben
ie Gewerkschaften bei der Lohnfindung im Boot.
Nicht zielführend ist der Antrag der Linken. Hier gibt es
inen Überbietungswettbewerb wie bei eBay: 7,50 Euro
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2545
)
)
Dr. Matthias Zimmer
Mindestlohn, 8,20 Euro Mindestlohn, 9,40 Euro Min-
destlohn, 10 Euro Mindestlohn. Das ist nicht hilfreich.
Aber setzen wir uns mit den Begründungen auseinan-
der, die Ihrem Antrag zugrunde liegen: Sie behaupten,
die Einführung eines Mindestlohns führt nicht zum
Abbau von Arbeitsplätzen. David Neumark und
William Wascher haben 2008 über 300 Studien aus
mehreren Ländern ausgewertet, in denen es um die
Frage Mindestlohn/Arbeitsplätze geht. Schwerpunkt ist
die Zeit seit den 90er-Jahren. Drei Ergebnisse ihrer Aus-
wertung erscheinen mir bemerkenswert das sage ich
auch vor dem Hintergrund, dass Anton Schaaf einen Er-
kenntnisgewinn angemahnt hat; ich hoffe, dass dieser
Erkenntnisgewinn damit erfolgt : Die erste Erkenntnis
aus der Auswertung der Studien ist: Mindestlöhne füh-
ren zu einer Abnahme der Arbeitsmöglichkeiten für
niedrigqualifizierte Arbeitnehmer.
Der zweite Punkt: Mindestlöhne sind für Familien,
die in Armut leben, eher schädlich.
Der dritte Punkt: Mindestlöhne haben negative Ef-
fekte auf die Bildungschancen junger Arbeitnehmer.
Neumark und Wascher resümieren: Die überwiegende
Zahl der Studien zeigt, dass die Einführung von Min-
destlöhnen negative Aspekte mit sich bringt.
Ich gebe zu, meine Damen und Herren: Das ist nicht im
Sinne Ihrer Ideologie gewichtet; aber man muss das Er-
gebnis dieser Studien einmal zur Kenntnis nehmen.
Sie bemühen internationale Vergleiche und haben
eben behauptet, der Mindestlohn liege in Europa im
Schnitt bei 8,40 Euro. Einen Mindestlohn von mehr als
8,40 Euro haben in Europa nur fünf Länder; in fünfzehn
Ländern liegt der Mindestlohn unter 8,40 Euro. Wie Sie
angesichts dessen auf 8,40 Euro kommen wollen, das
kann nur sozialistische Mathematik leisten.
Ja, ja, wir müssen gewichten.
Das ist sozialistische Mathematik. Vielen Dank, Herr
Ernst, dass Sie mich extra darauf aufmerksam gemacht
haben.
Sie führen einige internationale Vergleiche an. So
heißt es in Ihrem Antrag:
Auch Großbritannien ist ein Beispiel dafür, dass die
Einführung eines Mindestlohns nicht zu Arbeits-
platzverlusten führt.
Ic
b
6
5
d
A
v
M
d
z
D
6
1
m
u
n
m
g
g
u
b
D
d
u
k
ru
n
D
8
tr
lo
D
b
B
b
z
a
Warten Sie doch einmal ab mit Ihrer Schreierei, bis ich
it meinem Argument zu Ende bin! Dann können wir
ns unterhalten.
Sie behaupten, die Einführung des Mindestlohns habe
icht zu Arbeitsplatzverlusten geführt. Das sehen Neu-
ark und Wascher in einer 2007 veröffentlichten Studie
anz anders. Dort heißt es, der Hauptteil der Forschun-
en über Großbritannien habe nur kurzfristige Aspekte
ntersucht, längerfristige Aspekte seien noch nicht bear-
eitet. Neumark und Wascher glauben nicht, dass die
aten aus Großbritannien eindeutig in die eine oder in
ie andere Richtung zeigen,
nd sie glauben auch nicht, dass Großbritannien ein star-
es Argument dafür ist, zu behaupten, dass die Einfüh-
ng eines Mindestlohns die Nachfrage nach Arbeit
icht reduziert. Das muss man zur Kenntnis nehmen:
ie Wissenschaft unterstützt Ihr Argument nicht.
In Frankreich liegt der gesetzliche Mindestlohn bei
,82 Euro. Sie behaupten in der Begründung Ihres An-
ags, dass die Arbeitslosigkeit durch diesen Mindest-
hn nicht gestiegen sei. Was Sie dabei verschweigen:
er Staat subventioniert den Mindestlohn, um negative
eschäftigungspolitische Konsequenzen aufzufangen.
eispielsweise reduziert er Sozialversicherungsbeiträge
is zum 1,6-Fachen des Arbeitslohns, und es gibt eine
weijährige Befreiung, wenn man Arbeitslose einstellt.
Kollege Zimmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
us der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Aber selbstverständlich.
2546 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Herr Kollege Zimmer, vielen Dank für die Möglich-
keit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Zu den internationalen Vergleichen. Dazu gibt es
eine Reihe von Studien, nicht nur die, die Sie eben ge-
nannt haben, sondern auch von anderen. Es ist sicherlich
richtig, dass es unterschiedliche Ergebnisse für unter-
schiedliche Länder gibt. Es gibt auch Länder, in denen es
negative Wirkungen durch den Mindestlohn gibt zu-
mindest in Teilbereichen. Die Jugendarbeitslosigkeit in
Frankreich ist ja schon angesprochen worden.
Wenn man sich aber die Ergebnisse aller bisherigen
internationalen Vergleiche für Großbritannien anschaut
es gibt Studien dazu; das wird auch in der Studie von
Neumark und Wascher stehen , dann stellt man fest,
dass es dort keine negativen Beschäftigungseffekte ge-
geben hat. Es gibt ein paar Studien, die sogar von positi-
ven Effekten sprechen. Insofern ist die Behauptung, dass
zwar in allen bisherigen Studien noch keine negativen
Effekte dargestellt wurden, diese in Zukunft aber wahr-
scheinlich irgendwann auftreten müssten, reine Ideolo-
gie.
Kennen Sie diese Studien zu Großbritannien, und
können Sie bestätigen, dass es bisher keine negativen
Beschäftigungseffekte gibt?
Unsere Schlussfolgerung daraus ist: Man muss den
Mindestlohn richtig gestalten, nämlich zum Beispiel so,
wie in Großbritannien. Das ist ein Land, das durchaus
mit unserem vergleichbar ist.
Lieber Herr Kollege Strengmann-Kuhn, vielen Dank
für die Frage. Ich weise lediglich darauf hin, dass Neu-
mark und Wascher in ihrer Studie gesagt haben: Es ist
noch zu früh, um abschließend beurteilen zu können, ob
es negative oder positive Effekte gibt. Sie sagen auch,
dass durch die Erkenntnisse darauf hingewiesen wird,
dass das angeführte Argument, durch den Mindestlohn
würden keine Arbeitsplätze vernichtet werden, in sich
nicht stimmig ist.
Mir scheint schon durch diese Stichprobe belegt zu
sein, dass Sie sich das zu einfach machen. Ihre Annah-
men, auf denen Sie Ihre Forderungen aufbauen, werden
durch die empirischen Befunde nicht gestützt.
Man könnte weitere kritische Fragen hinsichtlich Ih-
rer Position stellen, Herr Ernst. Warum muss der Min-
destlohn in Deutschland beispielsweise so deutlich über
dem in Frankreich liegen, obwohl die Lebenshaltungs-
kosten in Frankreich deutlich höher sind? Wie steht es
mit dem Verhältnis von Branchenmindestlöhnen zu ge-
setzlichen Mindestlöhnen? Sie wollen Erstere nur gelten
lassen, wenn sie höher sind als der gesetzliche Mindest-
lohn. Die Tarifautonomie ist aber doch grundgesetzlich
geschützt. Müsste sie nicht Vorrang vor dem Gesetz ha-
ben?
S
D
b
n
B
W
n
G
D
fü
v
s
S
L
A
h
g
A
d
)
)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der heute in zweiter und dritter Lesung auf unserer Ta-
gesordnung stehende Gesetzentwurf zur Umsetzung
steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerli-
cher Vorschriften enthält eine Vielzahl steuerrechtlicher
Vorschriften. Mit dem zügigen Abschluss des Gesetzge-
bungsverfahrens beweist die christlich-liberale Koalition
ihre steuerpolitische Handlungsfähigkeit.
Zum einen setzen wir zwingende EU-Vorgaben endlich
um;
zum anderen beschließen wir weitere konjunkturstär-
kende Maßnahmen.
Lassen Sie mich einen kurzen Überblick über den Ge-
setzentwurf geben.
Erstens. Die europarechtlichen Vorgaben, die umzu-
setzen waren, führten zur Neuregelung der Umsatzbe-
steuerung von Postdienstleistungen. Ich komme später
ausführlicher darauf zurück.
Zweitens. In Umsetzung eines EuGH-Urteils sind die
Zulageberechtigung und der entsprechende Sonderausga-
benabzug bei der sogenannten Riester-Förderung künftig
an die Mitgliedschaft in einem inländischen Alterssiche-
rungssystem gebunden, nicht mehr an die unbeschränkte
Steuerpflicht.
Drittens. In Umsetzung eines weiteren EuGH-Urteils
wird die steuerliche Abzugsfähigkeit von Spenden und
Mitgliedsbeiträgen grundsätzlich auf entsprechende Ein-
richtungen in einem EU-Mitgliedstaat ausgedehnt.
Viertens. Die degressive Gebäude-AfA kann rückwir-
kend für alle noch offenen Fälle auch für Gebäude im
EU-Ausland in Anspruch genommen werden.
Fünftens. Die nach dem Umsatzsteuerrecht erforderli-
chen zusammenfassenden Meldungen sind zum Zweck
einer besseren Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs
künftig monatlich zum 25. abzugeben.
All diese Maßnahmen basieren auf EU-Vorgaben. Wir
setzen aber auch konjunkturpolitische Impulse:
Erstens. Wir konkretisieren die Besteuerung bei Funk-
tionsverlagerungen. Diese entspricht jetzt internationalen
Standards und wird nicht mehr zulasten von Arbeitsplät-
zen in Deutschland gehen. Das wird gerade in den wich-
tigen Zukunftsbereichen Forschung und Entwicklung Ar-
beitsplätze schaffen. Mehr dazu erfahren Sie später von
meinem Kollegen Middelberg.
d
re
e
g
C
g
s
p
W
s
s
U
P
v
b
s
e
s
d
d
w
d
A
E
w
M
s
d
s
G
G
1
d
v
U
K
Ich komme jetzt zum wichtigsten Thema dieses Ge-
etzgebungsverfahrens, zur Neuregelung der Umsatzbe-
teuerung von Postdienstleistungen. Nach § 4 Nr. 11 b
msatzsteuergesetz waren die unmittelbar dem
ostwesen dienenden Umsätze der Deutsche Post AG
on der Umsatzsteuer befreit. Es gab also eine Exklusiv-
efreiung der Deutschen Post. Nach der heute zu verab-
chiedenden Neufassung wird einerseits die Umsatzsteu-
rbefreiung auf private Mitbewerber ausgedehnt, soweit
ie flächendeckend einen Universaldienst anbieten. An-
ererseits wird die Umsatzsteuerbefreiung sowohl für
ie Deutsche Post AG als auch für ihre privaten Mitbe-
erber auf die Erbringung sogenannter Post-Universal-
ienstleistungen beschränkt. Hier geht es also um eine
usweitung und zugleich um eine Einschränkung.
Die neue Regelung entspricht exakt dem Urteil des
uropäischen Gerichtshofs vom 23. April 2009,
onach öffentliche und private Unternehmer in den EU-
itgliedstaaten von der Umsatzsteuer zu befreien sind,
ofern sie Post-Universaldienstleistungen anbieten.
Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten,
as ist auch ein Stück Kontinuität: Dieser Teil des Ge-
etzentwurfs ist wortgleich der Gesetzesinitiative der
roßen Koalition, nämlich dem Entwurf eines Dritten
esetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes vom
0. Dezember 2008,
as wir in der letzten Legislaturperiode leider nicht mehr
erabschiedet haben.
Frau Kollegin Bätzing, ich komme gleich darauf; das
rteil vom 23. April hat daran nichts geändert.
Kollege Kolbe, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
ollegin Bätzing?
2548 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Ja, bitte.
Herr Kollege Kolbe, stimmen Sie mir zu, dass der Ge-
setzentwurf, den Sie jetzt einbringen, in der Tat zunächst
ein gemeinsamer Gesetzentwurf war, den wir in der
16. Legislaturperiode eingebracht haben, es aber nach
dem EuGH-Urteil aufseiten der SPD-Fraktion erhebliche
Bedenken und Zweifel gegeben hat, die wir schon da-
mals, in der 16. Legislaturperiode, formuliert haben?
Stimmen Sie mir auch dahin gehend zu, dass diese
Bedenken und Zweifel in der Anhörung durch die Sach-
verständigen bestätigt wurden?
Wäre es nicht sinnvoll, diesen Äußerungen der Sachver-
ständigen Gehör zu schenken, ihre Empfehlungen umzu-
setzen und gegebenenfalls seine Meinung zu korrigie-
ren?
Frau Kollegin Bätzing, ich war in beiden Gesetzge-
bungsverfahren Berichterstatter und erinnere mich, dass
die Gefechtslage stets schwierig war. Es gibt schwerwie-
gende wirtschaftliche Interessen auf beiden Seiten.
Das war aber im ersten Gesetzgebungsverfahren nicht
anders als im zweiten.
Im zweiten Gesetzgebungsverfahren waren eigentlich
keine neuen Argumente zu hören.
Das EuGH-Urteil können Sie jedenfalls nicht heran-
ziehen, um Ihre Meinung zu stützen. Es stützt eher un-
sere Meinung. Das werde ich noch näher ausführen.
Lassen Sie mich auf drei Punkte eingehen. Erstens.
Die Ausdehnung der Umsatzsteuerbefreiung für Post-
Universaldienstleistungen auch auf private Mitbewerber
war überfällig; denn der daraus bisher resultierende
Wettbewerbsvorteil der Deutschen Post AG war egal
wie man zur Neuregelung steht in jedem Fall europa-
rechtswidrig. Deshalb wird die Neuregelung im Grund-
satz auch von keiner ernst zu nehmenden Stimme bestrit-
ten. Nicht einmal die Deutsche Post AG lehnt sie im
Grundsatz ab. Sie war überfällig, und wir treten für ein
zügiges Inkrafttreten zum 1. Juli 2010 ein.
ti
d
s
z
s
n
z
B
B
s
ru
M
U
a
U
V
is
s
g
ri
v
A
K
ß
z
e
g
d
fe
h
E
s
v
g
s
In
D
v
li
P
fü
n
k
S
Gerade Sie von den Sozialdemokraten oder den Lin-
en werfen uns doch immer eine Verminderung des
teuersubstrats vor.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2549
)
)
Manfred Kolbe
Sie werfen uns vor, wir würden die Kommunen schädi-
gen. Hier treten Sie für Steuerbefreiungen ein, die mei-
nes Erachtens nicht zu rechtfertigen sind.
Warum sollen denn Massensendungen zu günstigeren
Preisen, die Unternehmen an Tausende oder Zehntau-
sende Aktionäre schicken, steuerbefreit sein? Warum
sollen Hunderttausende von Rundschreiben von Banken
oder Versicherungen an ihre Geschäftskunden steuer-
befreit sein? Das ist doch eine Schädigung des Steuer-
substrats.
Bei Sonderkonditionen besteht Umsatzsteuerpflicht. Ob
diese Sonderkonditionen individuell ausgehandelt oder
aufgrund von AGB vereinbart werden, kann doch keinen
Unterschied machen.
Anderenfalls könnten die Postunternehmen Sonderkon-
ditionen geradezu in den AGB verpacken und damit sel-
ber über die Umsatzsteuerpflicht bestimmen. Das kann
nicht sein.
Wir haben alles in allem einen gelungenen Kompromiss
gefunden. Ich werbe seitens meiner Fraktion um Zustim-
mung.
Danke.
Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der eher unspektakuläre Titel des heutigen
Gesetzentwurfs der Regierung verdeckt die tatsächliche
Tragweite des Artikelgesetzes. Bereits zum zweiten Mal
in dieser Legislaturperiode zeigt diese Regierungskolli-
sion ich benutze Kollision ganz bewusst , wie sie
mit der fundierten Meinung von Sachverständigen
aus Anhörungen und mit Änderungsvorschlägen aus
dem Bundesrat umgeht. Sie ignoriert sie.
Sicherlich ist unstreitig, dass nach der Liberalisierung
des deutschen Postmarktes gesetzgeberischer Hand-
lu
s
D
S
c
H
a
d
tr
K
d
d
s
H
g
w
s
s
fö
n
tr
d
g
d
z
z
fö
d
z
a
z
E
te
W
d
W
A
w
ru
e
as ist absolut unstreitig. Was den Bereich der AGB zu
onderkonditionen angeht, ignorieren Sie aber hartnä-
kig die Äußerungen der Sachverständigen.
err Kollege Dautzenberg hat im Finanzausschuss und
uch gerade eben gesagt, dass es nicht auf die Anzahl
er Sachverständigen ankomme, die eine Meinung ver-
äten, sondern auf deren Qualität.
ollegen von der Union, schließe ich daraus richtig, dass
ie CDU/CSU die Qualität und die Kompetenz sowohl
er Monopolkommission als auch die von Herrn Profes-
or Scholz bezweifelt?
aben Sie ihm das schon einmal persönlich gesagt? Ich
laube, der steht Ihnen ziemlich nahe.
Worum geht es in der Sache? Die EU hat ein Ziel. Sie
ill erreichen, dass in den Mitgliedsländern ein Univer-
aldienst im Postdienst gewährleistet ist, und dabei will
ie nicht lediglich die Privatpost der einzelnen Personen
rdern. Jeder, der einmal in Art. 12 der Postrichtlinie hi-
eingeschaut hat, wird das sofort feststellen. Die EU
ifft mit dieser Regelung in der Postrichtlinie zielgenau
eutsche AGB zu Sonderkonditionen; denn unter ver-
leichbaren Bedingungen eingelieferte Sendungen wer-
en gleich behandelt, und diese Bedingungen sind allen
ugänglich. Das ist gerade der wesentliche Unterschied
u individuellen Vereinbarungen.
Die EU will auch ganz bewusst Massensendungen
rdern. Sie hat verstanden, dass Universalpostdienst für
en Einzelnen nicht nur heißt, seinen Brief überall und
u jeder Zeit abschicken zu können, sondern auch, über-
ll und zu jeder Zeit Post, auch informatorische Post,
um Beispiel von der Gemeinde, vom Kegelverein, ob
inladungen, Zeitungen oder Spendenquittungen, erhal-
n zu können. Das ist die rechtliche Argumentation.
enn Sie diese nicht überzeugt, dann sollte es vielleicht
ie politische tun. Wir werden in die Wahlkreise gehen.
ir werden den Kirchen, den Schützenvereinen und den
utomobilklubs sagen, dass ihr Porto teurer wird,
eil die Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
ngskollision das so wollen, obwohl EU-Recht dem
ntgegensteht.
2550 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Sabine Bätzing
Wir werden ihnen sagen, dass ihre Vereinsmitglieder die
Zeche werden zahlen müssen; denn 300 Millionen Euro
Mehrkosten zahlen karitative Einrichtungen nicht ein-
fach aus der Portokasse, sondern sie müssen diese auf
ihre Mitglieder umlegen, wenn sie ihr Bestehen nicht ge-
fährden wollen. Herr Kolbe, Sie haben im Finanzaus-
schuss gesagt, es gehe Ihnen um Gerechtigkeit.
Sie haben gefragt, ob es gerecht sei, wenn ein Brief von
der Deutschen Bank an die Commerzbank umsatzsteuer-
frei ist.
Es geht mir dabei nicht um den Brief der einen Bank
an die andere. Es geht mir aber sehr wohl um den Brief
der Bank an den Kunden. Wenn dessen Porto nicht um-
satzsteuerfrei ist: Wer wird die Mehrkosten zahlen? Die
Deutsche Bank? Wohl kaum! Die Bank wird ihre Ge-
bühren für das Übersenden von Kontoauszügen anhe-
ben. Was wird passieren das war Ihr Beispiel , wenn
die Deutsche Bank für ihre Briefe an die Commerzbank
Umsatzsteuer zahlen muss? Wird sie weniger Gewinn
machen? Nein, sie wird auch diese Mehrkosten auf den
Kunden umlegen. Das ist die Wahrheit.
Sie sagen, das würde nicht passieren, weil durch den
Wettbewerb die Preise so gesenkt würden, dass es am
Ende für alle billiger würde. Ich warne vor dieser An-
nahme. Wer nämlich als Marktteilnehmer in diesen
Wettbewerb ohne Umsatzsteuerbefreiung eintritt, der
leistet keinen Universaldienst mehr. Der bringt nicht je-
den Brief zu jeder Zeit an jeden Ort und holt ihn auch
dort ab. Nein, der pickt sich die Rosinen heraus. Das war
es dann mit dem Universaldienst.
Wer das wie Sie unterstützt, der hängt die Menschen
in den ländlichen Gebieten ab, der sorgt dafür, dass es
dort noch teurer wird. Für die Post der Deutschen Bank
an alle Kunden in Berlin mag Ihre Idee funktionieren.
Wenn aber die Caritas in Rheinland-Pfalz an alle Mit-
glieder Briefe in den Westerwald verschickt, funktioniert
genau das nicht. Deshalb sind wir mit unserem Ände-
rungsantrag näher am Volk und folgen auch logischer-
weise dem geltenden EU-Recht.
Logisch ist es jedenfalls nicht, wenn Leasing-Unter-
nehmen und Firmen, die Teile ihres Betriebes ins Aus-
land verlagern, nun Steuervorteile erhalten sollen.
Die SPD hat die Regelungen, die Sie jetzt abschaffen
wollen, in der Großen Koalition durchgesetzt.
Dazu stehen wir; denn sie sind richtig. Sie sind ein Aus-
gleich für die Verbesserungen gewesen, die die Unter-
nehmen durch die Unternehmensteuerreform erhalten
haben.
D
m
s
m
U
d
n
D
K
g
S
n
W
s
b
M
o
g
D
re
s
w
R
E
u
h
d
e
s
b
d
och nun sollen sie wieder einseitig zulasten der Allge-
einheit zurückgenommen werden, um einige wenige
teuerlich zu begünstigen.
Mir ist nicht klar, wie nur eine einzige Oberbürger-
eisterin oder ein einziger Oberbürgermeister von
nion oder FDP diese Regierung noch verteidigen kann;
enn ihre eigenen Bundespolitiker vergrößern perma-
ent die finanziellen Defizite in den Kommunen.
urch die Maßnahmen dieses Gesetzes werden den
ommunen schon wieder das beruht auf Berechnun-
en der kommunalen Spitzenverbände; ich weiß, dass
ie denen anscheinend nicht mehr glauben 650 Millio-
en Euro weggenommen.
enn Sie die Kommunen kaputtmachen wollen, dann
agen Sie das offen. Unsere Unterstützung haben Sie da-
ei nicht.
Sie ignorieren weiter andere Meinungen beim Thema
itarbeiterkapitalbeteiligung, egal was Gewerkschaften
der die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sa-
en. Sie ignorieren auch den Bundesrat.
er Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, im Inte-
sse der Betrugsbekämpfung im Bereich der Umsatz-
teuer auch den Handel mit Schrott und Altmetallen so-
ie die Gebäudereinigung von Subunternehmen in das
everse-Charge-Verfahren aufzunehmen.
r begründet dies damit, Herr Kollege Volk, dass es sich
m betrugsanfällige Bereiche mit hohem Ausfallrisiko
andele. Das heißt doch nichts anderes, als dass der Bun-
esrepublik Deutschland in diesem Bereich laufend Geld
ntgeht. Die Bundesregierung stimmt dieser Feststellung
ogar in ihrer Gegenäußerung zu. Sie werde dieses Pro-
lem in einem der nächsten Steuergesetze angehen.
Was hindert Sie daran, es jetzt zu tun, und zwar in
iesem Gesetz?
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2551
)
)
Sabine Bätzing
Dass die Bundesregierung Gesetze umgehend einbrin-
gen kann, hat sie doch bei dem Thema CO2-Emmission
bewiesen. Da hat sie schnell reagiert. Es liegt also nicht
am Können. Also fragt man sich: Liegt es am Wollen?
Ich stelle mir die Frage, wieso die Bundesregierung die
Erarbeitung eines Gesetzes verschieben will, sodass mit
jedem Tag, an dem es nicht ergangen ist, hohe Steuer-
ausfälle verursacht werden. Warum nehmen Sie diese
Schäden in Kauf? Braucht Deutschland das Geld nicht,
oder wollen Sie es vielleicht gar nicht?
Ich komme zum Schluss. Warum ignorieren Sie bei
dem heute vorliegenden Gesetzentwurf schon wieder
durchgehend die fundierten Auffassungen der Sachver-
ständigen? Seriöse und ernstgemeinte Gesetzgebung
sieht anders aus. Deshalb hören Sie mit dieser Klientel-
politik auf!
Danke.
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nach dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz
mit massiven Steuererleichterungen für Familien legt die
konservativ-liberale Regierung das zweite große Steuer-
gesetz mit weiteren wichtigen Steuerreformen vor.
Der erste wichtige Punkt, den wir aus dem großen Pa-
ket der steuerlichen EU-Vorgaben umsetzen, ist die Neu-
regelung zur Funktionsverlagerung, deren Bedingungen
auf ein international übliches Maß zurückgefahren wer-
den. Die negativen Auswirkungen auf den Forschungs-
und Entwicklungsstandort Deutschland werden so besei-
tigt. Wir schaffen keine Steuerbefreiung, aber wir neh-
men eine Erleichterung in der Bewertung vor. Wir entbü-
rokratisieren also und erleichtern so die Anwendung des
Steuerrechts.
v
lu
n
F
v
m
d
n
n
a
z
D
D
d
la
s
ru
D
re
s
n
B
v
e
s
D
d
ä
d
V
m
U
z
p
b
G
g
m
li
ru
U
z
as schafft Arbeitsplätze vor Ort, erzeugt Wachstum in
eutschland und stärkt sowohl die Steuerbasis als auch
en Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutsch-
nd.
Ein weiterer Punkt ist die Gleichbehandlung von Lea-
ingunternehmen. Leasingunternehmen sind zur Finanzie-
ng von Investitionen der Unternehmen unentbehrlich.
eshalb haben wir die durch die Unternehmensteuer-
form der Großen Koalition eingeführte Substanzbe-
teuerung zurückgeführt und korrigieren die Hinzurech-
ung von Leasingraten bei der gewerbesteuerlichen
emessungsgrundlage. Leasingunternehmen leisten,
ergleichbar mit den klassischen Kreditinstituten,
inen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Finanz-
ituation in Deutschland, insbesondere des Mittelstands.
iese Leasingunternehmen wurden bisher gegenüber an-
eren Finanzunternehmen steuerlich benachteiligt. Das
ndern wir jetzt. Wir schaffen keine Steuerfreiheit, son-
ern eine dringend gebotene Gleichbehandlung.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Reverse-Charge-
erfahren im CO2-Handel. Die Bundesregierung reagiert
it konkreten Änderungen im Steuersystem, um dem
msatzsteuerbetrug beim Handel mit CO2-Verschmut-
ungsrechten einen Riegel vorzuschieben. Damit stop-
en wir zum einen die befürchteten Einnahmeausfälle
ei den Finanzämtern, und zum anderen bannen wir die
efahr eines Reputations- und Vertrauensverlustes des
esamten EU-Emissionshandels. Das ist eine Sofort-
aßnahme. Langfristig sollten wir aber auch diesbezüg-
ch die Umstellung von der Soll- auf die Ist-Besteue-
ng prüfen; denn die Ist-Besteuerung würde dem
msatzsteuerbetrug von vornherein die Grundlage ent-
iehen.
2552 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Dr. Daniel Volk
Einer der wichtigsten Punkte dieses Gesetzes ist aber
ohne Frage die Neuregelung der Umsatzbesteuerung von
Postdienstleistern. Die liberal-konservative Koalition hat
eine europarechtskonforme Regelung gefunden, die fai-
ren und echten Wettbewerb ermöglicht. Zunächst eine
gute Nachricht für unsere Bürger: Die Grundversorgung
also zum Beispiel auch die Osterpost bleibt auch in
Zukunft von der Umsatzsteuer befreit. Mit diesem Ge-
setz beenden wir aber ein Umsatzsteuerprivileg für nur
ein Unternehmen, um so endlich fairen Wettbewerb
durch chancengleiche Bedingungen zu ermöglichen.
Es ist nicht unsere Aufgabe, die Politik einzelner Fir-
men zu bewerten oder uns auf Kosten dieser zu profilie-
ren. Es ist aber unsere Aufgabe, die Rahmenbedingun-
gen so zu gestalten, dass alle die gleichen Chancen
haben. So darf es nicht sein, dass ein einzelnes Unter-
nehmen gegenüber 750 anderen bevorzugt wird. Mehr
Wettbewerb führt zu größerer Vielfalt, attraktiven Ange-
boten und niedrigeren Preisen. Die Preise werden nur
dann steigen, wenn es keinen Wettbewerb gibt.
Im April 2006 hat die Europäische Kommission die
einseitige steuerliche Bevorzugung des ehemaligen Mo-
nopolisten Deutsche Post angeprangert und ein Vertrags-
verletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet.
Während die Große Koalition nicht in der Lage war, eine
europarechtskonforme Änderung herbeizuführen das
lag wohl im Wesentlichen an der SPD , gab es im letz-
ten Jahr ein wegweisendes Urteil des Europäischen Ge-
richtshofes
Diese Vorgaben des EuGH setzen wir jetzt um.
Die Bevorzugung eines einzelnen Unternehmens wird
aufgehoben. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit
Postdienstleistungen ist weiterhin umsatzsteuerfrei.
Umsatzsteuerfrei sind also alle Leistungen, die der pri-
vate Haushalt typischerweise nachfragt. Alle anderen
Leistungen, solche, die über die Grundversorgung hi-
nausgehen, werden umsatzsteuerpflichtig.
Richtigerweise werden diejenigen Leistungen für
Großkunden, die aufgrund Allgemeiner Geschäftsbedin-
gungen zu günstigeren Preisen erbracht werden, in die
Umsatzsteuerpflicht einbezogen. Es bedurfte also offen-
bar erst eines Regierungswechsels in Deutschland, damit
die EU-Vorgaben umgesetzt und Sanktionen aus Europa
abgewendet werden.
le
s
p
Ü
k
ü
g
E
P
P
ti
g
e
m
re
ju
fr
s
e
w
s
F
K
e
D
la
d
re
d
e
S
re
u
brigens in Orten, wo es nicht einmal Sparkassenfilialen,
eschweige denn Postfilialen gibt.
Die GenoPost geht damit ganz bewusst in die Fläche.
s wird also auch weiterhin ein flächendeckendes
ostangebot geben, wenn auch nicht durch die gelbe
ost, sondern durch Wettbewerb. Während die Opposi-
on noch im staatsmonopolistischen Denken des vergan-
enen Jahrhunderts verharrt, erkennen wir die Chancen
ines fairen Wettbewerbs, der wie auf dem Telekom-
unikationsmarkt zu besseren Leistungen zu günstige-
n Preisen führt.
Zum Schluss können wir feststellen: Wir schaffen kon-
nkturstärkende Maßnahmen mit einem mittelstands-
eundlichen und unbürokratischen Gesetz, mit dem wir
teuerliche Ungleichheiten beenden und dem Steuerbetrug
inen Riegel vorschieben. Wir schaffen mehr Wettbe-
erb und mehr Wachstum für unser Land und für un-
ere Bürger.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die
raktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
ollegen! Nach so viel Ideologie vonseiten der FDP tut
s not, zum Kern des Gesetzes zurückzukommen.
er vorliegende Gesetzentwurf ist sozial ungerecht, be-
stet die angeschlagenen öffentlichen Kassen, insbeson-
ere die Kommunen, und er verkompliziert das Steuer-
cht. Die Linke wird ihn daher ablehnen. Wir haben
ies mit unserem Entschließungsantrag auch untermau-
rt.
Erste und wichtigste Botschaft dieses Gesetzentwurfs:
teuergeschenke für die Unternehmen, Stichworte: Neu-
gelung der Besteuerung von Funktionsverlagerungen
nd die Ausweitung der Gewerbesteuerprivilegierung von
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2553
)
)
Dr. Barbara Höll
Finanzdienstleistungsunternehmen. Die Große Koalition
hatte mit der Unternehmensteuerreform 2008 den Körper-
schaftsteuersatz von 25 Prozent auf 15 Prozent gesenkt.
Unter anderem damit erhalten die Unternehmen jährlich
eine Entlastung von 16 Milliarden Euro 16 Milliarden!
Es gab einige zaghafte Gegenfinanzierungsmaßnahmen,
durch die die Steuersenkung auf 5 Milliarden Euro
schöngerechnet wurde. Ob dieser Betrag allerdings je-
mals erreicht worden wäre, werden wir leider nie erfah-
ren; denn die schwarz-gelbe Bundesregierung setzt eine
Gegenfinanzierungsmaßnahme nach der anderen außer
Kraft.
Im Ergebnis kommen die Unternehmen in den unge-
schmälerten Genuss der gesamten Steuersatzsenkung
von 2008 in Höhe von 16 Milliarden Euro.
Hören Sie doch auf! Das ist doch ein Mythos, was Sie
hier erzählen.
Wie beim sogenannten Wachstumsbeschleunigungs-
gesetz zeigt sich Ihre Klientel das kann man schlicht
nachlesen als höchst spendabel als Reaktion auf die
prompte Umsetzung ihrer Wünsche. Diesmal waren es die
Finanzdienstleister, die sich für die Ausweitung der Ge-
werbesteuerprivilegierung brav bedankt haben. Bundes-
tagsdrucksache 17/769: Zwei Vermögensberatungsunter-
nehmen haben Anfang Februar insgesamt 200 000 Euro
an die CDU gespendet ein tolles Dankeschön!
Herr Dautzenberg, wenn Sie das jetzt erstaunt: Lesen Sie
einfach einmal in den aktuellen Drucksachen, welche
Spenden bestimmte Unternehmen ganz bestimmten
Fraktionen hier in diesem Hause zukommen lassen.
Ganz einfach: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
Danke schön für eine Steuersenkung. Das ist die Reali-
tät, die Sie mit diesem Gesetz hier wieder ganz klar zei-
gen.
Dreist ist zudem auch noch Ihre Aussage, die Sie auch
im Ausschuss gemacht haben, zu den finanziellen Aus-
wirkungen des Gesetzes: Die Steuergeschenke an die
Unternehmen würden die öffentlichen Kassen überhaupt
nicht belasten, nichts würde ihnen entgehen.
Was ist aber die Realität? Sie eröffnen neue Möglichkei-
ten zur sogenannten Steueroptimierung, sprich im Klar-
text: zur Steuervermeidung.
D
li
g
li
g
lu
s
S
Ih
d
te
6
c
a
b
P
le
d
ja
g
W
U
le
G
re
M
z
S
u
s
N
d
e
teht dieser Betrag schlicht und ergreifend auf dem
piel: Jawohl, 1,8 Milliarden Euro.
Sogar nach den von Ihnen vorgelegten Zahlen, nach
rem Finanztableau, sind die Kommunen die einzigen,
ie durch dieses Gesetz verlieren werden. In der Un-
rnehmensteuerreform 2008 ist doch nachzulesen:
69 Millionen Euro. Da sagen Sie einfach, die öffentli-
he Hand werde nicht belastet. Die Kommunen, die eh
m stärksten belastet sind, werden Sie wieder zur Kasse
itten.
Die Mehrwertsteuerneuregelung für verschiedene
ostdienstleistungen lehnen wir ab. Das hat meine Kol-
gin Frau Bätzing ausführlich dargelegt. Sie verfolgen
amit letztendlich nur ein Ziel das hat meine Kollegin
sehr deutlich gemacht, und Sie haben es hier auch dar-
elegt : Es geht Ihnen im Endeffekt nicht um mehr
ettbewerb, es geht Ihnen darum, die Deutsche Post als
nternehmen zu zerschlagen und die Universaldienst-
istungen in unserem Land einzuschränken.
Das ist die Realität.
Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen stellt Ihr
esetzentwurf eben keine Vereinfachung des Steuer-
chts dar. Im Gegenteil, er bringt einen erheblichen
ehraufwand sowohl für Steuerzahlerinnen und Steuer-
ahler als auch für die Finanzbehörden mit sich. Nehmen
ie doch einfach das Beispiel das ging bisher immer
nter der Abzugsfähigkeit von Spenden an ausländi-
che gemeinnützige Körperschaften.
un frage ich Sie wirklich einmal: Wie soll denn ein
eutscher Finanzbeamter je real die Gemeinnützigkeit
iner Liechtensteiner Stiftung kontrollieren?
2554 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Dr. Barbara Höll
Es wurde auch in der Anhörung bestätigt, dass das ein-
fach unmöglich ist. Hier ergeben sich Schwierigkeiten,
und es eröffnen sich Möglichkeiten zur Steuerhinterzie-
hung.
Ihr Gesetz ist schlecht gemacht. Sie nutzen die Mög-
lichkeiten nicht aus, und Sie belasten insbesondere
kleine und mittelständische Unternehmen durch eine zu-
sätzliche Frist zur Abgabe bestimmter Steuervoranmel-
dungen.
Das ist ebenfalls ein Aufblähen der Bürokratie.
Erstaunlich finde ich, mit welcher Sturheit Sie Ihre
Klientel bedienen,
indem Sie die Einwände aller Sachverständigen weitge-
hend ignorieren,
und Ihr Gesetz durchziehen. Wir werden das ablehnen.
Wir lassen uns diese Klientelpolitik auf Biegen und Bre-
chen nicht gefallen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Meine Damen und Herren! Herr Kolbe, es ist ja
manchmal ganz gut, nicht die Selbsteinschätzung, son-
dern die Fremdeinschätzung bei der Bewertung der eige-
nen Leistung hinzuzuziehen. Da fand ich es schon be-
zeichnend, dass Herr Professor Wiegard als Mitglied des
Sachverständigenrates bei den kürzlich stattgefundenen
Berliner Steuergesprächen geäußert hat, dass es viel-
leicht besser wäre, wenn Schwarz-Gelb die Finger vom
Steuerrecht lassen würde. Er empfinde es als Bedrohung,
so hat er gesagt, wenn die Koalition neue steuerrechtli-
che Änderungen plane. Warum das so ist daran kann
ich das gut nachvollziehen , das zeigt der vorliegende
Gesetzentwurf.
Nehmen wir die Mitarbeiterkapitalbeteiligung: Noch
von der Großen Koalition wurde die steuerliche Förde-
rung für Zusatzleistungen in Form von Kapitalbeteili-
gungen des Arbeitgebers an seine Angestellten einge-
führt. Schon damals haben wir gesagt: Diese Form der
Beteiligung ist nicht zielführend.
D
n
u
M
w
K
D
g
s
M
o
S
in
li
d
u
e
w
w
b
E
v
d
U
n
V
v
E
fe
k
d
n
d
nd müsste folgerichtig, Herr Dautzenberg, auch mehr
itsprache in diesem Unternehmen haben. Zweitens
ird das Gebot der Risikostreuung missachtet und eine
onkurrenz zur betrieblichen Altersvorsorge aufgebaut.
er Arbeitnehmer wird in eine doppelte Abhängigkeit
eführt: Er trägt das Arbeitsplatzrisiko, und er riskiert
eine Ersparnisse. Er haftet für Fehlentscheidungen des
anagements,
hne Einfluss nehmen zu können.
chwarz-Gelb verschärft diese Fehlentwicklung noch,
dem die Entgeltumwandlung des Monatslohnes steuer-
ch gefördert werden soll. Das ist ein Irrweg,
er obendrein für den Staat zu Mindereinnahmen führt
nd Bürokratie aufbaut. Das muss weg.
Beispiel Post; dies ist ein zentraler Punkt des Gesetz-
ntwurfes. Klar ist: Die EU-Vorgaben müssen umgesetzt
erden. Wir begrüßen Wettbewerbsorientierung dort,
o es richtig ist:
ei allen frei verhandelten Dienstleistungen. Aber die
U hat auch Vorgaben gemacht, die öffentliche Daseins-
orsorge durch den sogenannten Postuniversaldienst
urch die Mehrwertsteuerbefreiung zu fördern. Zum
mfang der öffentlichen Daseinsvorsorge gehört aber
ach unserer Auffassung nicht nur das flächendeckende
ersenden, sondern auch der flächendeckende Empfang
on Briefen und Paketen, und dies betrifft nicht nur den
inzelbrief, sondern auch die Massensendung. Eine Dif-
renzierung an dieser Stelle widerspricht dem Gedan-
en des Postuniversaldienstes und ist nicht an den Be-
ürfnissen der Bevölkerung ausgerichtet.
Die Infopost erreicht in Zukunft im Zweifel eben
icht die Bevölkerung in der Fläche, sondern nur die in
en Ballungszentren.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2555
)
)
Dr. Thomas Gambke
Die Verteuerung der Massensendungen betrifft vor allem
karitative Organisationen, Wohlfahrtsverbände oder Sport-
vereine, die alle ein höheres Aufkommen an Briefsendun-
gen haben.
Kollege Gambke, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Volk?
Bitte sehr.
Herr Kollege Gambke, Sie haben den Universaldienst
der Post, was das Briefeversenden angeht, angespro-
chen. Geben Sie mir recht, dass es vor 20 Jahren eine
ähnliche Diskussion gab, als es darum ging, dass im Be-
reich der Telekommunikation ein flächendeckendes An-
gebot sichergestellt werden sollte, und dass erst durch
den durch die damalige Regierung ermöglichten echten
Wettbewerb auf dem Telekommunikationsmarkt eine
weitaus bessere Versorgung aller Bürger zu weitaus
günstigeren Preisen erreicht wurde?
Herr Dr. Volk, ich verstehe den Vergleich, er ist aber
das muss ich Ihnen gerade als Techniker leider sagen
falsch.
Denn die Telekommunikation kann drahtlos erfolgen.
Sie können heute überall in der Bundesrepublik drahtlos
Kommunikation betreiben. Die Telekommunikation ist
etwas anderes als das Versenden eines Briefes. Es gehört
aber ebenfalls zur öffentlichen Daseinvorsorge, dass Sie
auch an einen Adressaten im Bayerischen Wald einen
Brief senden können. Das verhindern Sie mit diesem Ge-
setzentwurf.
Ich kann Ihnen, Herr Dr. Volk, nur sagen: Ihre Frage
macht deutlich, dass die FDP einzelne Klientelen im
Blick hat, aber nicht die Bedarfe aller Bürgerinnen und
Bürger in diesem Lande.
Kommen wir zu den Unternehmensteuern. Das Er-
gebnis der großen Unternehmensteuerreform 2008 war
die Senkung der Steuerlast von rund 40 auf 30 Prozent.
Das Ziel war, den Standort Deutschland zu stärken. So
weit, so gut. Gleichzeitig wurden aber neue Instrumente
wie die Zinsschranke oder die Bewertung der Funktions-
verlagerung eingeführt, um gezielt Fehlentwicklungen,
z
s
a
B
fa
re
im
m
b
s
s
g
m
ß
m
te
d
d
fl
te
s
d
g
s
a
g
li
d
D
D
ru
D
Vielen Dank für Ihren Hinweis. Ich kann das nur un-
rstreichen. Ich habe heute Morgen noch einen Brief an
en CSU-Oberbürgermeister von Landshut diktiert, in
em ich auf den Umstand aufmerksam mache, dass eine
ächendeckende Breitbandversorgung nicht gewährleis-
t ist und dass wir vonseiten des Staates eingreifen müs-
en, weil die private Organisation nicht zu einer flächen-
eckenden Breitbandversorgung geführt hat.
Zurück zu den Unternehmensteuern. Ich hatte bereits
esagt, dass die Regelungen sowohl bei der Zins-
chranke als auch bei der Funktionsverlagerung Fragen
ufwerfen. Aber beides einfach zu kassieren mit dem Er-
ebnis erheblicher Steuermindereinnahmen und zusätz-
ch auf die gewollte Lenkungsfunktion zu verzichten,
as ist eine Kapitulation vor den eigenen Zielen, Herr
autzenberg.
ie Koalition tut so, als ob es bei der Funktionsverlage-
ng nur um leichte bürokratische Veränderungen gehe.
e facto wird die Regelung aber abgeschafft. Ihre Wei-
2556 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Dr. Thomas Gambke
gerung, dies anzuerkennen, ist fast schon peinlich und
lässt an Ihrem Sachverstand zweifeln.
Wir können darüber streiten, ob die Mindereinnah-
men tatsächlich 1,8 Milliarden Euro betragen. Worüber
wir aber nicht streiten können, ist: Der Staat und vor al-
lem die Kommunen brauchen diese Einnahmen; sie wa-
ren fest eingeplant. Den Einnahmen stehen auch Ausga-
ben gegenüber. Daher kann man nicht einfach sagen:
Sorry, es tut mir leid, aber es funktioniert nicht, und des-
wegen kassieren wir das wieder ein.
Das ist bei einer Budgetposition von 1,8 Milliarden Euro
verantwortungslos.
Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie Ihre Verantwortung
wahr! Verzichten Sie auf weitere Steuersenkungen auf
Pump, und konzentrieren Sie sich auf Investitionen in
die Zukunft, in Bildung und in Maßnahmen zur Be-
kämpfung des Klimawandels! Wir werden diesem Ge-
setzentwurf nicht zustimmen.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für
die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
ich es in der Kürze zusammenfasse und einen Strich un-
ter das Gesetz ziehe:
Wir tragen zur Vereinfachung des Steuerrechts bei. Wir
leisten einen Beitrag zur Stärkung des Wirtschaftsstand-
ortes und auch zur Stärkung des Arbeitsplatzstandortes
Deutschland. Wir verbessern die Situation für die Ver-
braucher durch dieses Gesetz.
Eine kurze Bemerkung vorweg. Bei der Mitarbeiter-
kapitalbeteiligung sollte man sehr sorgfältig über die Ge-
staltung im Einzelnen nachdenken. Manches, was Sie
gesagt haben, ist zu bedenken, Herr Gambke. Aber das
P
z
S
B
M
s
e
ic
im
n
s
m
a
fü
A
s
h
m
w
w
g
z
v
D
d
u
w
s
K
n
B
u
a
u
S
k
m
D
Ich komme zu einem anderen Punkt, zur gewerbe-
teuerlichen Hinzurechnung bei den Leasingunterneh-
en. Fakt ist: Wir privilegieren keine Unternehmen,
uch keine Leasingunternehmen. Vielmehr sorgen wir
r eine Gleichbehandlung.
nsonsten hätten sich die Leasingunternehmen organi-
atorisch und gesellschaftsrechtlich umgestellt. Das
eißt, sie hätten den Finanzierungsteil ihrer Unterneh-
ung ausgegliedert. In gesellschaftsrechtlicher Hinsicht
äre das ohne Weiteres möglich gewesen. Dann hätten
ir auch keine steuerlichen Erträge erzielen können. An-
esichts dessen brauchen wir keine steuerlichen Ausfälle
u befürchten. Wir sorgen für eine Gleichbehandlung
on Unternehmen, die Finanzierungsgeschäfte tätigen.
ie Leasingunternehmen werden nun das gilt nur für
en Finanzierungsteil genauso behandelt wie Banken
nd Sparkassen.
Frau Kressl, nein, eben nicht. Die Leasingunternehmen
erden, was die Fremdgeschäfte angeht, genauso be-
teuert wie jedes andere Unternehmen in Deutschland.
Der zweite Punkt ist die Funktionsverlagerung. Der
ollege Volk hat es zutreffend dargestellt: Wir haben
ichts anderes gemacht, als das Steuerrecht in diesem
ereich zu vereinfachen. Wir machen es handhabbarer,
nd zwar nicht für die Unternehmen mit großer Steuer-
bteilung, Frau Kollegin Höll, sondern für die kleinen
nd innovativen Unternehmen in Deutschland.
ie sollen überblicken können, welche Steuern sie in Zu-
unft zu zahlen haben, wenn sie in die Situation kom-
en, eine Funktion ins Ausland verlagern zu müssen.
eswegen ist das, was wir tun, absolut richtig.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2557
)
)
Dr. Mathias Middelberg
Es bleibt im Übrigen das sage ich ganz klar beim
Prinzip der Bewertung des Transferpaketes. Es bleibt
auch beim Prinzip der Besteuerung der Funktionsverla-
gerung. Das hat Herr Kollege Volk ebenfalls klargestellt.
Das heißt: Wir besteuern wie bisher; wir ändern nur die
Methode zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage.
Wir geben den betreffenden Unternehmen die Chance,
dass wir uns, wenn sie in Zukunft die Informationen
über einzelne, auch immaterielle Wirtschaftsgüter offen-
legen, nach den einzelnen Verrechnungspreisen richten
und nicht nach den Transferpaketen.
Deshalb ist für mich klar, dass es hier keine Beeinträchti-
gung gibt. Gerade durch die Planbarkeit und Berechen-
barkeit einer Investition und einer möglichen späteren
Verlagerung Herr Volk hat es dargestellt stärken wir
den Investitionsstandort. Wir ermutigen die Unterneh-
mer, in Deutschland zu investieren und nicht von vorn-
herein an die Besteuerung zu denken und deshalb nach
China oder Indien zu gehen, weil sie wissen, wie sie spä-
ter behandelt werden. Das stärkt auf Dauer auch unsere
Steuerbasis.
Lassen Sie mich abschließend etwas zum Thema Post
sagen. Was Sie zu diesem Themenkomplex vorgetragen
haben, fand ich wirklich abenteuerlich.
Das glatte Gegenteil ist der Fall. Wenn man die Anhörung
aufmerksam verfolgt hat ich habe sie sehr aufmerksam
verfolgt , dann haben Sie völlig treffend dargelegt, dass
die Zahl der Gutachter aufseiten der Post AG gewesen ist.
Das ist zutreffend. Das kann keiner objektiv bestreiten.
Das sagt aber nichts über die Qualität der Aussagen aus.
Wir brauchen uns nur an einer Aussage zu orientieren,
nämlich an der Aussage des Europäischen Gerichtshofs.
Im Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist an keiner
Stelle von AGBs oder von AGB-Dienstleistungen die
Rede. Diese Begriffe sind von Gutachtern und anderen
Beteiligten in diese Debatte eingeführt worden. Herr
Kollege Kolbe hat es sehr dezidiert dargestellt: Im Urteil
des EuGH ist lediglich von postalischen Leistungen die
Rede, die den grundlegenden Bedürfnissen der Bevölke-
rung entsprechen.
E
G
G
D
e
d
s
a
n
re
le
Ic
s
n
P
b
ic
u
w
b
7
s
D
is
d
is
D
lo
sc
fe
b
w
er EuGH gibt hier allenfalls einen Rahmen vor; er legt
s nicht im Detail fest. Ich bin mir absolut sicher: Mit
em, was wir heute beschließen, bewegen wir uns in die-
em Rahmen und definieren wir die Grundversorgung
bsolut zutreffend.
Eines ist völlig abwegig: bei Caritas, Schützenverei-
en, Diakonie und anderen Vereinen die Angst zu schü-
n, sie müssten demnächst für ihre postalischen Dienst-
istungen mehr bezahlen als bisher.
h sage Ihnen voraus: Das glatte Gegenteil wird der Fall
ein. Heute ist ein Freudentag für alle diese Organisatio-
en, weil sie in Zukunft nicht auf die Leistungen der
ost angewiesen sein werden, sondern auf andere Wett-
ewerber ausweichen können.
Es ist bemerkenswert, wenn man bedenkt das habe
h bereits in der ersten Lesung ausgeführt; vor allem für
nsere Zuschauer auf den Rängen ist das interessant ,
as man vor 12 oder 15 Jahren für ein Telefongespräch
ezahlt hat. Ein zweiminütiges Ferngespräch hat damals
4 Cent gekostet. Heute zahlen sie für das gleiche Ge-
präch 3 Cent.
as entspricht einer Preisreduktion von 96 Prozent. Das
t mit Sicherheit ein Beitrag für die Verbraucher.
Ich kann es auch noch konkreter machen: Nehmen Sie
en Paketmarkt, der mit Konkurrenz schon gut versorgt
t. Da gibt es eine Menge Wettbewerber, die mit der
eutschen Post, mit DHL, konkurrieren. Bei den 10-Ki-
gramm-Paketen können Sie, bei Onlinefrankierung,
hon jetzt eine Preisreduktion von 10,50 Euro auf 5,90 Euro
ststellen. Das ist eine Reduktion um 44 Prozent.
Was wir heute machen, ist ein Beitrag für die Ver-
raucher. Eine Politik für niedrige Preise ist ein Stück
eit auch soziale Politik.
2558 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Dr. Mathias Middelberg
Deswegen habe ich überhaupt keine Probleme damit, in
der nächsten Woche zu dem Direktor der Caritas bei mir
vor Ort zu gehen. Bei dem habe ich einen Termin, und
ich werde ihm als Erstes berichten, dass er seine Post
demnächst günstiger verschicken kann.
Vielen Dank.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Nicolette Kressl von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich kurz zusammenfassen, warum die SPD-
Fraktion diesen Gesetzentwurf ablehnen wird.
Erstens. Nach der EuGH-Entscheidung und vor allem
nach der neuen Bewertung dieser EuGH-Entscheidung
durch Sachverständige hatten Sie die Chance, die güns-
tige Grundversorgung für bestimmte Massensendungen,
zum Beispiel von gemeinnützigen Körperschaften, si-
cherzustellen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich finde es
unglaublich dreist, die Sachverständigen in der Anhö-
rung zum Beispiel dadurch zu desavouieren, dass Sie die
veränderte Position der Monopolkommission als in-
kompetent bezeichnen. Dann können wir uns diese An-
hörungen in Zukunft auch sparen.
Auch den Verweis, dass die Caritas und die Kirchen
in Zukunft günstiger versenden können, akzeptieren wir
nicht. Das wird nämlich erst der Fall sein, wenn die Post
zu Hungerlöhnen ausgetragen wird. Sie machen das ent-
weder zulasten der Vereine oder zulasten der Beschäftig-
ten. Das kann aber doch nicht die Alternative sein.
Frau Kollegin Kressl, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dautzenberg?
Aber natürlich.
Bitte schön, Herr Dautzenberg.
Frau Kollegin Kressl, würden Sie mir in Ihrer Objek-
tivität zustimmen, dass von keinem Redner, auch von
keinem Redner meiner Fraktion, die Sachkompetenz der
Sachverständigen infrage gestellt worden ist, sondern
wir uns immer auf die Anzahl derer, die etwas befürwor-
tet haben, bezogen haben? Für unsere politische Ent-
s
te
D
K
n
V
Ic
p
d
K
z
P
D
s
m
n
te
O
D
li
n
S
a
k
v
S
a
v
te
d
n
w
Doch. Die logische Schlussfolgerung heißt: Es waren
war viele, aber nicht die Kompetenten, die diese neue
osition eingenommen haben. Es tut mir leid, Herr
autzenberg, aber da kommen Sie nicht mehr heraus.
Zweitens. Sie verstecken in diesem Gesetz durch zwei
chamhafte Umdrucke massivste Steuermindereinnah-
en für Bund, Länder und Kommunen. Das sagen nicht
ur wir. Das haben Sie auch in den Anhörungen mitge-
ilt bekommen. Erst vorletzte Woche hat Petra Roth,
berbürgermeisterin von Frankfurt und Präsidentin des
eutschen Städtetages, in Bezug auf dieses Gesetz deut-
ch gemacht: Das bedeutet noch einmal 650 Millio-
en Euro Mindereinnahmen für die Kommunen.
ie bittet dringend darum, im Interesse der Kommunen
uf diese Regelung zu verzichten. Ich sage das, damit
lar ist, dass wir uns das nicht ausgedacht haben.
Immer wieder wird das Argument der Einfachheit
orgebracht. Ich darf daran erinnern, dass wir von der
PD-Fraktion im Ausschuss gefragt haben, ob dieses
usführliche BMF-Schreiben zum Thema Funktions-
erlagerungen wegfallen würde; dann würde wenigs-
ns dieses Argument stimmen.
Die Antwort war: Nein, wird es nicht. Das heißt, we-
er die Versorgung der Kommunen mit Steuermitteln
och die Frage der Einfachheit sind geklärt. Sie hätten
irklich darauf verzichten sollen.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2559
)
)
Nicolette Kressl
Besonders schlimm finde ich ich habe es vorhin
schon gesagt , dass Sie das Aufribbeln der Gegenfinan-
zierung der Unternehmensteuerreform auch noch in zwei
schamhaften Umdrucken versteckt haben.
Ich finde, wenn man das tun will, sollte man öffentlich
dazu stehen und es auch so benennen, statt es in Umdru-
cken zu verstecken.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Kollegin Kressl,
ich glaube, die Übung im Finanzausschuss im Gesetzge-
bungsverfahren entsprach nicht der Übung der vergange-
nen elf Jahre. Dass beabsichtigte Änderungsanträge zu
einem Gesetzentwurf den Sachverständigen zur Anhö-
rung zugeleitet werden, damit sie die Möglichkeit haben,
zu diesen Anträgen Stellung zu nehmen, gehört dazu.
Dass ein Sachverständiger möglicherweise etwas ande-
res sagt, als man selbst empfindet, gehört auch dazu. Das
Privileg der Politik besteht aber darin, die Aussagen der
Sachverständigen zu werten.
Entschuldigung, es gab unterschiedliche Sachverstän-
dige; das ist in Anhörungen absolut normal und war auch
in vergangenen Legislaturperioden so.
Die Sachverständigen tragen dazu bei, die Tiefe der
Materie zu durchdringen. In der Vergangenheit wurden
aus Ihrer Sicht entsprechende Wertungen vorgenommen
und letzte Änderungen im Gesetzgebungsverfahren so
vorgenommen, wie Sie es für richtig gehalten haben. Wir
haben uns mit den Sachverhalten beschäftigt und die
Entscheidung so getroffen, wie wir es für richtig halten.
Das ist gegen keinen Sachverständigen gerichtet, son-
dern ganz normaler Bestandteil des Verfahrens. Weil wir
nicht alle Details beherrschen können, haben wir uns
kundig gemacht. Nachdem wir alle angehört haben, ha-
ben wir in einem sauberen, offenen und transparenten
Verfahren genau die Entscheidung getroffen, die heute
im Bundestag zur Abstimmung steht.
Herzlichen Dank.
U
D
V
ru
b
a
Ic
1
fi
h
v
D
m
w
n
d
e
d
w
d
a
d
d
ü
H
as entspricht im Übrigen sehr wohl dem bisherigen
erfahren. Sie wissen: Wenn Umdrucke nicht in Anhö-
ngen waren, können sie nachher nicht ins Gesetzge-
ungsverfahren aufgenommen werden. Das habe ich
uch gar nicht gesagt.
h habe gesagt, dass Sie es in diesem Gesetz verstecken.
Wenn Sie Steuermindereinnahmen in Höhe von
,7 Milliarden Euro verursachen,
nde ich nicht, dass Sie dies in einem Umdruck, ob An-
örung oder nicht, zum Gesetzentwurf zur Umsetzung
on EU-Vorgaben beim Thema Post verstecken sollten.
ann sollten sie ein Gesetz machen, über das Sie sinnge-
äß schreiben: Wir geben den Unternehmen jetzt alles
ieder, wie sie es bei der Gegenfinanzierung der Unter-
ehmensteuerreform schon immer wollten. Ich finde,
as wäre der richtige Weg für eine gute politische Aus-
inandersetzung.
Dass es unterschiedliche Bewertungen dessen, was
ie Sachverständigen sagen, gibt, ist völlig klar. Aber ich
ill noch einmal das Zitat aus dem Ausschuss nennen,
as lautete: Es kommt nicht auf die Quantität, sondern
uf die Qualität von Sachverständigen an. Ich finde,
as überschreitet die Grenzen, wie man mit Sachverstän-
igen umgehen sollte.
Ich lasse keine weitere Kurzintervention zu. Es ist un-
blich, eine Serie von Kurzinterventionen abzuhalten.
err Dautzenberg, ich bitte um Verständnis.
2560 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Sie haben sowieso die Mehrheit und werden sich im Ge-
setzblatt wiederfinden. Das sollte Sie befriedigen.
Ich schließe die Aussprache.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Ände-
rung steuerlicher Vorschriften, Drucksachen 17/506 und
17/813. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung in der Ausschussfassung anzunehmen, Drucksa-
chen 17/923 und17/939.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 17/926?
Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Der Änderungs-
antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen bei Zustimmung der Fraktion der SPD und der
Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/927 ab. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gegenstim-
men? Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustim-
mung der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Frak-
tionen der SPD und der Grünen abgelehnt.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz , Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
BAföG ausbauen und Chancengleichheit stär-
ken
Drucksache 17/884
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
A
W
b
n
d
b
a
M
M
B
B
te
te
g
w
s
V
z
d
re
b
S
E
n
n
c
d
z
g
1) Anlage 2
Gehring, Priska Hinz , Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Sozial gerechtes Zwei-Säulen-Modell statt eli-
tärer Studienfinanzierung
Drucksache 17/899
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
iderspruch? Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
eschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
er dem Kollegen Swen Schulz von der SPD-Fraktion
as Wort.
Ich bitte diejenigen Kollegen, die dieser Debatte nicht
eiwohnen wollen, den Saal zu verlassen, damit sich die
nderen auf den Redner konzentrieren können.
Bitte schön, Herr Kollege Schulz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
eine sehr verehrten Damen und Herren! Bildung ist
enschenrecht. Wenn die Gesellschaft das Recht auf
ildung ernst nimmt, dann muss sichergestellt sein, dass
ildung nicht von der Herkunft und nicht vom Geldbeu-
l abhängig ist. Eine Ausbildung darf nicht daran schei-
rn, dass man sie sich nicht leisten kann.
Leider sind wir von diesem Ziel weit entfernt. Die Er-
ebnisse einer aktuellen Studie geben Auskunft darüber,
arum sich Studienberechtigte gegen ein Studium ent-
cheiden. Es sind vor allem finanzielle Gründe. Drei
iertel von ihnen sagen, dass ihnen die nötigen finan-
iellen Voraussetzungen für die Aufnahme eines Stu-
iums fehlen. Sie fürchten Schulden und Studiengebüh-
n; unter Frauen ist diese Befürchtung übrigens
esonders stark ausgeprägt. Das gilt nicht nur für sozial
chwache, sondern bis weit in den Mittelstand hinein.
ine weitere Studie kommt zu dem Ergebnis, dass zu ei-
em großen Teil finanzielle Probleme zum Abbruch ei-
es aufgenommenen Studiums führen. Eine ganz ähnli-
he Entwicklung dürfte es auch bei denjenigen geben,
ie sich schulisch weiterqualifizieren wollen.
Es liegt ganz klar auf der Hand: Wir müssen die so-
iale Situation der Schüler und der Studierenden drin-
end verbessern.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2561
)
)
Swen Schulz
Das zentrale Instrument dafür ist das BAföG. Das
BAföG ist der Hebel, um Chancengleichheit zu fördern.
Hier müssen wir ansetzen.
Der aktuelle BAföG-Bericht zeigt, dass die Förde-
rungsquoten der Studierenden und Schüler in den letzten
Jahren gesunken sind. Zwar ist seit der letzten BAföG-
Erhöhung der Großen Koalition wieder eine leichte
Trendwende, ein leichter Anstieg zu beobachten, aber
nicht in dem Ausmaß, dass uns das zufriedenstellen
kann. Im Ergebnis kommt der Beirat für Ausbildungs-
förderung in seiner Stellungnahme zu dem Schluss, dass
die Förderbeträge für BAföG-Empfänger erhöht werden
müssen, dass vor allem aber die Freibeträge deutlich zu
erhöhen sind. Genau das ist der Vorschlag der SPD-
Fraktion. Wir wollen die Förderbeträge um 3 Prozent an-
heben und die Freibeträge deutlich, nämlich um
10 Prozent, erhöhen, damit mehr Menschen überhaupt
die Berechtigung zur Förderung erhalten und sich nicht
um andere Finanzierungsquellen kümmern oder aber auf
die Ausbildung verzichten müssen.
Wir wollen aber noch mehr verbessern. Ich nenne nur
ein paar Stichworte: Wir wollen die Kinderfreibeträge
und Kinderzuschläge anheben. Wir wollen die Alters-
grenzen deutlich anheben. Wir wollen Fachrichtungs-
wechsel erleichtern, Eltern in Ausbildung und denen mit
pflegebedürftigen Angehörigen besser helfen, und wir
wollen das BAföG künftig automatisch an die Preisent-
wicklung anpassen.
Darüber hinaus greifen wir einen neuen Vorschlag
auf. Wir wollen eine zweite Einkommensgrenze einfüh-
ren. Diejenigen, die nicht weit über der bisherigen Ein-
kommensgrenze für die BAföG-Förderung liegen, sollen
künftig ein unverzinsliches Darlehen erhalten können.
Bisher wird faktisch gesagt: Na ja, ihr verdient ja genug
Geld und könnt die Ausbildung eurer Kinder selber fi-
nanzieren. Wir wissen aber, wie viele Bürgerinnen und
Bürger, die ein geregeltes Einkommen haben, trotzdem
bei der Finanzierung der Ausbildung der Kinder Schwie-
rigkeiten bekommen. Sie sind heute auf den undurch-
sichtigen und teuren Kreditmarkt angewiesen. Ihnen
wollen wir staatlich helfen.
Wir machen mit diesen Vorschlägen das BAföG leis-
tungsfähiger, weiten den Kreis der Berechtigten in die
Mitte der Gesellschaft aus und machen darüber hinaus
das Angebot einer weiteren, neuen Unterstützung. Dies
ist ein starker Beitrag für bessere Bildungschancen für
alle.
Das ist nicht etwa Wolkenkuckucksheim aus der Opposi-
tion heraus. Wir haben unsere Vorschläge mit konkreten
Änderungsanträgen für den Haushalt untermauert.
80 Millionen Euro mehr allein im Jahr 2010 haben wir
beantragt. Aber die Regierungskoalition hat abgelehnt.
Stattdessen schlägt die Bundesregierung eine, wie sie
selbst sagt, moderate Anpassung des BAföG vor, offen-
b
c
s
P
le
d
h
u
B
Z
7
E
m
s
B
p
p
R
S
u
A
A
s
n
fa
v
te
fo
Ic
k
ri
S
v
fe
d
d
d
z
ber dann müssen Sie sich im Ausschuss vom Statisti-
chen Bundesamt anhören, dass deren Zahlen überhaupt
ichts darüber aussagen. Bums, wieder auf die Nase ge-
llen mit Ihren Tricks, liebe Kolleginnen und Kollegen
on der Regierungskoalition!
Was macht die Regierungskoalition ansonsten? Lau-
r Gipfel mit, wie ich sagen würde, fragwürdigem Er-
lg.
h erinnere an den letzten Bildungsgipfel der Bundes-
anzlerin. Aus der Pressemappe des Bundesministe-
ums für Bildung und Forschung habe ich hier einige
chlagzeilen vorliegen. Ich lese einmal vor: Ein Schritt
or, zwei zurück das ist ein Kommentar zu dem Gip-
l , Zukunft vertagt, Es reichte nur für einen Mini-
eal, Taschenspielertricks beim Bildungsgipfel, Bil-
ung auf dem Grabbeltisch, Trauerspiel. Das ist nicht
ie Opposition; es ist die Presse, die Ihnen ein Armuts-
eugnis ausstellt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
2562 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Ja, letzter Satz, Herr Präsident. Darum meine Auf-
forderung an die Regierungskoalition: Wir haben einen
umfassenden Antrag zu einer starken BAföG-Verbesse-
rung vorgelegt.
Zeigen Sie einmal Mut und Tatkraft, und stimmen Sie
diesem Antrag zu! Dann helfen Sie auch den Bürgerin-
nen und Bürgern.
Herzlichen Dank.
Für die Bundesregierung spricht jetzt Herr Parlamen-
tarischer Staatssekretär Dr. Helge Braun.
D
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege
Schulz, das BAföG ist jetzt seit 40 Jahren ein Sinnbild
für die Chancengerechtigkeit aller, an der Hochschulaus-
bildung teilzunehmen, und ein positiver Leuchtturm, der
auch in anderen Ländern viel Beachtung findet.
Wenn Sie hier die Vergangenheit ansprechen: Seit
2002 damals war die Bundesregierung eine andere;
Frau Edelgard Bulmahn von der SPD war Bildungsmi-
nisterin hat es keine relevante Erhöhung des BAföG
gegeben.
Ich rede gerade über die Zeit von Rot-Grün. Ich weiß
nicht, ob es Widerstand von den Grünen gab; jedenfalls
gab es unter der rot-grünen Regierung keine relevante
Erhöhung des BAföG.
2008 hat unter der Regierung von Angela Merkel Bil-
dungsministerin Annette Schavan das BAföG endlich
wieder angehoben, und zwar um 8 Prozent. Die Freibe-
träge wurden um 10 Prozent erhöht. Das war ein großer
Schritt für die BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger
in Deutschland.
d
d
d
k
d
E
h
N
2
s
e
h
s
u
b
D
a
k
c
S
m
la
m
s
N
D
B
s
e
s
Sie haben eine Frage gestellt. Die beantworte ich jetzt.
ach der BAföG-Erhöhung 2001 gab es 2002, 2003,
004 und 2005 keine adäquate Anpassung mehr.
Ich beantworte Ihre Frage gerne weiter. Unsere be-
ondere Leistung ist, dass wir jetzt, im Jahr 2010, gerade
inmal zwei Jahre nach der letzten Reform mit der An-
ebung der Freibeträge um 10 Prozent und der Bedarfs-
ätze um 8 Prozent, wieder eine Erhöhung vornehmen
nd diese sogar höher ausfällt als der Anstieg der Ver-
rauchspreise und der Anstieg der Löhne.
ie Kontinuität in der Entwicklung des BAföG, die wir
n dieser Stelle zeigen, ist historisch einmalig; damit
ann sich Ihre Regierungsphase in keiner Weise verglei-
hen.
Wir werden in diesem Jahr das BAföG erhöhen.
elbstverständlich werden wir auch noch andere Ele-
ente umsetzen. Wenn Sie die Studierenden in Deutsch-
nd fragen, was sie sich wünschen, ist das Erste, was
an Ihnen sagt: eine Vereinfachung, eine Entbürokrati-
ierung des BAföG. Genau das ist Teil der 23. BAföG-
ovelle.
ie Anhebung der Altersgrenze, damit im System von
achelor- und Masterstudiengängen in Zukunft die typi-
chen Bildungsbiografien besser abgebildet werden, ist
benfalls Teil dessen, was die Bundesregierung in die-
em Jahr macht.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2563
)
)
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
Wenn über bildungsferne Schichten und von Bil-
dungsarmut gesprochen wird, sage ich: Wer die BAföG-
Vollförderung von 648 Euro im Monat bekommt, hat da-
mit das zeigt die von Ihnen etwas einseitig zitierte
HIS-Studie auch finanziell durchaus die Möglichkeit,
ein Studium zu absolvieren; aus finanziellen Gründen
muss er es jedenfalls nicht abbrechen. Viel relevanter ist
die Frage, wovon es abhängt, ob sich jemand in Deutsch-
land ein Studium zutraut. Wie die HIS-Studie gezeigt
hat, sind nicht die finanziellen Verhältnisse Hauptgrund
dafür, sich ein Studium nicht zuzutrauen, sondern die
schlechten Schulnoten.
Deshalb ist es zentrale Aufgabe, im Bildungssystem da-
für zu sorgen, dass eine möglichst große Anzahl Men-
schen in Deutschland so gute Bildungsergebnisse hat,
dass sie sich ein Studium zutrauen. Wem es finanziell an
den Möglichkeiten fehlt, soll entsprechendes BAföG be-
kommen.
Zum Thema Steuern. Sie fordern, dass wir den Frei-
betrag um 10 Prozent erhöhen. Sie behaupten, es gehe
dabei um die Mitte der Gesellschaft.
Ich muss Ihnen sagen: Die Mitte der Gesellschaft ist
durch Steuern und Abgaben am höchsten belastet. Was
Sie wollen, ist nichts anderes, als Steuern und Abgaben
weiter zu erhöhen und darauf zu verweisen, dass die
Kinder der Mittelschicht im Gegenzug BAföG-unter-
stützt studieren können.
Das ist nicht die Politik einer christlich-liberalen Regie-
rung.
Nachdem ich auf den SPD-Antrag eingegangen bin,
will ich Ihnen sagen: Die Grünen haben auch einen An-
trag eingebracht. Mit Ihrem Zweisäulenmodell gehen
Sie natürlich in eine etwas andere Richtung. Sie wollen
eine 5-prozentige Anhebung der Freibeträge. Damit lie-
gen Sie sozusagen irgendwo dazwischen.
Klar ist aber: Das BAföG ist der Höhe nach sachge-
recht ausgebaut. Im Jahre 2008 haben wir es deutlich er-
höht. Sie sagen: Wir sehen nur einen ganz leichten An-
stieg. Die letzte Novelle ist im Oktober 2008 in Kraft
getreten. In der Studie, für die das BAföG und die Bezie-
her bis 2008 beobachtet wurden, haben wir einen An-
stieg gesehen, obwohl nur die letzten drei Monate in
dieser Studie erfasst waren. Deshalb bin ich davon über-
zeugt, dass nach der 22. jetzt auch die 23. BAföG-No-
velle einen deutlichen Anstieg der Zahl der BAföG-Be-
zieher zur Folge haben wird.
s
d
d
d
D
S
d
d
s
s
A
d
Ih
H
d
S
d
v
u
m
g
D
v
d
s
F
d
W
h
k
B
re
z
fi
d
d
eshalb ergänzen wir das BAföG durch ein nationales
tipendienprogramm, und wir bemühen uns auch um
en Ausbau der Bildungsdarlehen,
amit jeder seine Studienfinanzierung individuell, nach
einer Begabung und nach seinen sozialen Bedürfnissen,
o aufbauen kann, dass sie auf ihn maßgeschneidert ist.
lles auf ein Instrument zu setzen, ist nicht die Politik
ieser Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, als Letztes komme ich zu
rem Zweisäulenmodell. Was Sie hier fordern, ist im
inblick auf das Zusammenrücken und die Bedeutung
er Familien in Deutschland ein grundlegender Wandel.
ie wollen das Kindergeld umwandeln und es direkt an
ie Kinder fließen lassen, Sie wollen die Finanzierungs-
erantwortung von den Eltern auf die Kinder übertragen,
nd Sie wollen hinsichtlich der Zuschussfähigkeit nicht
ehr die Eltern, sondern die Kinder prüfen. Im gesamt-
esetzlichen Zusammenhang des Unterhaltsrechts in
eutschland müssen Sie dazu die Eltern aus der Solidar-
erantwortung für ihre Kinder entlassen und die Kinder
amit alleinstellen. Sie erhalten dadurch vielleicht einen
ozialen Zuschuss, aber der innere Zusammenhalt der
amilie und die Verantwortung der Eltern für ihre Kin-
er sind wichtige Bindeglieder, die wir erhalten wollen.
enn Sie dies auflösen wollen, dann müssen Sie das
ier deutlich sagen. Auch das ist nicht unsere Politik.
Das BAföG hat sich in 40 Jahren bewährt. Die Dis-
ussion über die bildungsfernen Schichten ist dieser
undesregierung ein großes Anliegen. Daraus resultie-
nd erhöhen wir das BAföG nach 2008 schon zum
weiten Mal. Wir führen neue Instrumente der Studien-
nanzierung ein und werden mit entsprechenden Bil-
ungsmaßnahmen mehr für diejenigen tun, die es im
eutschen Bildungssystem nicht so leicht haben.
2564 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
Die Bundesregierung wird damit ihrer Verantwortung
umfassend gerecht. Deshalb bitte ich Sie, dem Entwurf
für das 23. BAföG-Änderungsgesetz der Bundesregie-
rung zuzustimmen, wenn wir ihn eingebracht haben.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir verhandeln heute
im Bundestag die Frage, wie in Zeiten der anhaltenden
Krise und der zunehmenden sozialen Unsicherheit das
Studium und die Ausbildung von Millionen junger Men-
schen zukünftig gesichert werden sollen.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung
beantwortet diese Frage unter anderem mit einem natio-
nalen Stipendienprogramm. Mit Mitteln des Bundes und
der Länder, aber auch aus der Wirtschaft und von priva-
ten Geldgebern sollen 10 Prozent der Studierenden, die
in Ihren Worten Leistungsstärksten und Begabtesten,
mit 300 Euro im Monat gefördert werden.
Erste Erfahrungen mit dem Modell gibt es bereits in
Nordrhein-Westfalen. Herr Pinkwart kann gleich sicher-
lich auch noch einmal Stellung dazu nehmen. Von den
angestrebten 8 Prozent aller Studierenden werden bis-
lang allerdings nur 0,6 Prozent gefördert.
Nur wenige Hochschulen, wie zum Beispiel die RWTH,
die Technische Hochschule Aachen, mit engen Verbin-
dungen zur lokalen Wirtschaft und zu finanzstarken
Sponsoren können die Kapazitäten aufbringen, die ent-
sprechenden Gelder für das Stipendienmodell einzuwer-
ben. Kleinere Hochschulen in strukturschwachen Gebie-
ten sind chancenlos, an diesem Modell überhaupt
mitzuwirken.
Meine Damen und Herren, im schwarz-gelben Stipen-
dienprogramm steckt de facto die Privatisierung der
Hochschulbildung.
Um es deutlich zu sagen: Fast 40 Jahre nachdem sich
Schülerinnen, Schüler und Studierende das BAföG er-
kämpft haben, droht mit dieser Bundesregierung der
schleichende Ausstieg aus der öffentlichen Ausbildungs-
fi
p
B
d
h
s
c
w
7
S
d
R
h
c
d
in
Ä
B
lu
M
h
4
6
d
D
te
B
m
w
Z
e
e
d
b
s
D
C
d
F
d
Alle Studien zur sozialen Zusammensetzung in der
egabtenförderung belegen, dass etwa drei Viertel der
urch Stipendien Geförderten in Deutschland aus einer
ohen oder gehobenen Schicht kommen. Gleichzeitig
ehen wir, dass junge Menschen aus einkommensschwa-
hen Schichten immer öfter kein Studium aufnehmen,
eil sie vor den Verschuldungsrisiken zurückschrecken:
1 Prozent der Studienberechtigten begründen ihren
chritt, gar nicht erst ein Studium aufzunehmen, damit,
ass sie Angst vor dauerhafter Verschuldung und der
ückzahlung großer Darlehen haben. Das rührt auch da-
er, dass sie Sorge haben müssen, direkt nach dem Ba-
helorstudium eben keinen hoch bezahlten Job zu fin-
en, sondern vielleicht sogar in die Erwerbslosigkeit und
Hartz IV zu fallen. Wenn Sie diese Menschen und ihre
ngste ernst nehmen würden, dann würden Sie das
AföG wieder zu einem Vollzuschuss ohne Rückzah-
ngspflicht machen.
Durch die misslungene Einführung der Bachelor- und
asterstudiengänge und die überfrachteten Lehrpläne
aben viele Studierende heute eine Arbeitswoche von
0 Stunden und mehr. Seit langem ist bekannt, dass
3 Prozent der Studierenden zur Finanzierung des Stu-
iums parallel arbeiten müssen.
a die Studiengänge so überhaupt nicht in sechs Semes-
rn zu schaffen sind, müsste die Bezugsdauer des
AföG dringend verlängert werden; das Masterstudium
uss grundsätzlich in den BAföG-Bezug einbezogen
erden.
udem müssten die Altersgrenzen fallen, um individu-
lle Bildungswege überhaupt zu ermöglichen.
Bildungsbenachteiligungen beginnen übrigens nicht
rst an der Hochschule. Die Linke fordert deshalb auch,
as BAföG für Schülerinnen und Schüler an allgemein-
ildenden Schulen ab der 11. Klasse endlich wieder voll-
tändig einzuführen.
as ist ein längst überfälliger Schritt.
In der gestrigen Debatte zur Bologna-Reform hat die
DU/CSU noch einmal ziemlich eindrücklich gezeigt,
ass es ihr bei ihrem ganzen Handeln gar nicht um die
rage geht: Wie kommen wir zu mehr, zur besten Bil-
ung für alle? Vielmehr ist das Motiv Ihrer Politik letzt-
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2565
)
)
Nicole Gohlke
endlich das Aussieben und Aussortieren. So zitierte Herr
Schipanski den EFI-Bericht mit den Worten: Man muss
die Selektionsprozesse früher ansetzen
. Ich halte
das, ehrlich gesagt, für eine Frechheit gegenüber den
Menschen, die sich fast schon verzweifelt um gute Bil-
dung bemühen.
Wie tief lässt dieser Satz und Ihr völlig verengter Be-
griff der Leistungsstärksten und Begabtesten blicken!
Glauben Sie denn, dass Leistungsstärke und Begabung
einfach so vom Himmel fallen? Sind sie nicht gerade das
Produkt einer gezielten Förderung?
Was für ein mittelalterliches Menschenbild haben Sie ei-
gentlich? Haben Sie sich noch nie überlegt, dass unter
den besten 10 Prozent, die in den Genuss eines Stipen-
dienprogramms kommen würden, viele sein könnten, die
über gute Voraussetzungen verfügen, die eben nicht ne-
ben der Schule, neben dem Studium arbeiten mussten,
die schon durch ihr Elternhaus, ihre soziale Herkunft
oder ihr Wohnviertel die Möglichkeit hatten, den besten
Kindergarten, die beste Schule zu besuchen? Ich sage Ih-
nen: Wirkliche Bildungsförderung umfasst nicht nur
10 Prozent, sondern alle, besonders diejenigen, die nicht
von Hause aus mit den besten Voraussetzungen gesegnet
sind.
Die Finanzierung der Bildung und des Studiums ist
gerade in der Krise eine existenzielle Frage für alle. Die
Linke wird nicht tatenlos zusehen, wenn Sie weiterhin
auf die Privatisierung der Ausbildungsfinanzierung set-
zen. Bildung ist ein öffentliches Gut, das allen unabhän-
gig von ihrer sozialen Herkunft offenstehen muss.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Wissenschaftsminister des Lan-
des Nordrhein-Westfalen, Professor Andreas Pinkwart.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Deutschland muss mehr tun, um
jungen Menschen unabhängig vom Einkommen und der
Herkunft ihrer Eltern den Weg an die Hochschulen zu er-
leichtern.
Natürlich ist es wichtig, gerade jungen Menschen aus
Nichtakademikerfamilien Mut zu machen, ihre Talente
zur Entfaltung zu bringen.
A
fü
u
N
s
H
d
te
S
z
D
w
S
d
z
d
w
k
H
la
g
k
w
d
s
N
w
h
fö
d
d
ber, Frau Gohlke, das wird ihnen nicht durch die Aus-
hrungen erleichtert, die Sie vor laufenden Kameras
nd in Gegenwart von jungen Gästen gemacht haben.
atürlich ist es falsch, zu sagen, dass ein Bachelorab-
chluss der direkte Weg in die Erwerbslosigkeit oder in
artz IV sei. Das Gegenteil ist der Fall. Wer einen aka-
emischen Abschluss erwirbt, hat mit Abstand die bes-
n Arbeitsmarktchancen.
agen Sie das bitte laut! Ermutigen Sie junge Leute, ein-
usteigen, statt ihnen permanent Angst zu machen!
Ja, genau, darüber reden wir hier. Das ist auch gut so.
ie jungen Leute brauchen gute Voraussetzungen. Des-
egen müssen wir die Studienfinanzierung verbessern.
pätestens seit Beginn des Bologna-Prozesses bestand
ie Notwendigkeit dazu, weil es, wie wir alle wussten,
u einer Verdichtung der Lehrinhalte kommen würde.
Trotzdem sind Sie das sage ich gerade mit Blick auf
ie Opposition in der Zeit, als Sie Regierungsverant-
ortung hatten, in dieser Frage keinen Deut weiterge-
ommen. Sie haben zugelassen, dass das BAföG der
err Staatssekretär hat es angesprochen in Deutsch-
nd sieben Jahre lang nicht angehoben und damit enorm
eschwächt wurde.
Zwischen 2001 und 2008 waren Sie in Sachen BAföG
omplett untätig,
ährend die neue Regierung jetzt schon zwei Jahre nach
er letzten Aufstockung die Freibeträge und die Förder-
ätze anheben will. Die Grünen haben der 22. BAföG-
ovelle nicht einmal zugestimmt,
ie es meine Fraktion im Deutschen Bundestag getan
at. Wir haben es auch vonseiten der Länder massiv be-
rdert, gegen heftige Widerstände des damaligen Bun-
esfinanzministers, der nicht von der CDU, CSU oder
er FDP kam.
2566 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Herr Kollege Pinkwart, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Brase?
Aber gerne.
Bitte schön.
Herr Minister Pinkwart, wir kennen uns ja aus unserer
wunderschönen Heimat im Siegerland. Frau Daub
kommt ja auch von dort.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir
1998 das Volldarlehen beim BAföG, das damals Kohl,
Rüttgers und andere eingeführt hatten, wieder rückgän-
gig machen mussten, um vor allen Dingen Kindern aus
Arbeitnehmerfamilien eine bessere Ausstattung und eine
bessere Zukunft im Wege des Studiums zu bieten?
Lieber Herr Brase, ich gebe gerne zu, dass es beim
BAföG Fortentwicklungen gegeben hat, auch 2001. Das
will ich durchaus anerkennen.
Aber Sie haben das muss ich Ihnen entgegenhalten
dürfen; denn es geht um die jetzige Situation federfüh-
rend mit Frau Bulmahn den Bologna-Prozess in
Deutschland eingeführt, der vor zehn Jahren begann.
Sie haben auch seinerzeit in Nordrhein-Westfalen mit
den Grünen Regierungsverantwortung wahrgenommen.
Von 2001 bis 2008 bis dahin waren zumindest die So-
zialdemokraten auch in der Bundesregierung in der Ver-
antwortung haben Sie das BAföG nicht mehr ange-
passt.
Auch sonst haben Sie sich nicht um eine Verbesse-
rung der Studienfinanzierung gekümmert. Das entspricht
den Tatsachen, und das gilt es hier festzuhalten, damit
wir eine klare Ausgangslage für die weitere Debatte ha-
ben.
Sie haben sich zum Beispiel auch das gehört dazu
im Rahmen Ihrer Regierungsverantwortung in den letz-
te
d
d
d
S
U
S
s
D
H
d
n
d
li
s
B
g
is
h
in
d
n
b
v
n
s
li
w
s
ti
g
n
F
s
b
d
z
w
z
li
1
as mag vielleicht noch für den Sohn aus gutbetuchtem
ause attraktiv sein. Für alle anderen bedeutet es aber,
ass sie sich statt drei wissenschaftlichen Büchern nur
och eines kaufen können.
Sie müssen sich auch vorhalten lassen, dass Sie bei
en Begabtenförderungswerken eine nahezu ausschließ-
che Konzentration auf Universitätsstudierende zugelas-
en haben, und Sie haben hingenommen, dass die
egabtenförderungswerke die Fachhochschulen nahezu
änzlich außen vor gelassen haben.
Diese Bundesregierung ändert das jetzt endlich. Das
t richtig; denn wir wissen, dass gerade in den Fach-
ochschulen Bildungsaufsteiger zu finden sind. Gerade
den Fachhochschulen gibt es viele junge Menschen,
ie den zweiten Bildungsweg beschritten haben und
icht aus Akademikerfamilien kommen.
Ich begrüße es außerordentlich, dass es jetzt gelingt,
ei den Begabtenförderungswerken eine Aufstockung
on 80 Euro auf 300 Euro Büchergeld in Aussicht zu
ehmen und dafür Sorge zu tragen, dass die Fachhoch-
chulen im Bereich der Begabtenförderungswerke end-
ch eine verstärkte Aufmerksamkeit erhalten.
Wir sehen durchaus, dass wir beim BAföG ebenso
ie bei der ergänzenden Stipendienfinanzierung Verbes-
erungen brauchen. Es waren doch Sie von der Opposi-
on, die in der Vergangenheit wortreich mehr Stipendien
efordert haben. Der Kollege Oppermann etwa war als
iedersächsischer Wissenschaftsminister noch Feuer und
lamme für ein Stipendiensystem. Herr Gabriel hatte
ich im Niedersächsischen Landtag sogar bitter darüber
eklagt, dass für Stipendien zu wenig getan werde.
Es war immer die Opposition, die gesagt hat, gerade
ie Wirtschaft müsse mehr tun, um Stipendien möglich
u machen.
Genau das will die Bundesregierung erreichen. Wir
ollen neben einem verbesserten BAföG als starke
weite Säule ein Stipendiensystem schaffen und ermög-
chen, dass über die Begabtenförderungswerke bis zu
0 Prozent der Studierenden gefördert werden können,
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2567
)
)
Minister Dr. Andreas Pinkwart
kofinanziert vom Staat, den Hochschulen und den Priva-
ten in unserem Land.
Das ist ein schöner Zwischenruf. In Nordrhein-West-
falen sieht man, dass die Fachhochschulen von diesem
Stipendienprogramm genauso profitieren wie die Uni-
versitäten. Von diesem Stipendiensystem das sieht man
am Beispiel der Universität Duisburg-Essen profitieren
nicht nur die Hochschulen, die in günstig gelegenen Re-
gionen beheimatet sind, sondern auch die, die in vom
Strukturwandel besonders hart betroffenen Regionen lie-
gen.
Ich freue mich darüber, dass die Universität Duisburg-
Essen nicht nur die erste Universität war, die alle priva-
ten Kofinanzierungsmittel eingeworben hatte, sondern
auch die Universität war, die viel mehr Mittel eingewor-
ben hatte, als ihr zunächst an Stipendien in Aussicht ge-
stellt wurden, sodass wir das Programm aufstocken
mussten. Was noch viel wichtiger ist: Die Stipendiaten
sind jetzt da. Die Stipendiaten der Universität Duisburg-
Essen sind zu 38 Prozent Stipendiaten mit Migrations-
hintergrund oder BAföG-Bezieher. Das ist der entschei-
dende Punkt: Zusätzlich zur BAföG-Förderung gibt es
jetzt auch dieses leistungs- und begabungsbezogene Sti-
pendium, und es kommt genau denen zugute, die unserer
besonderen Aufmerksamkeit bedürfen.
Sie haben dieses zivilgesellschaftliche Potenzial bis-
her nicht nutzbar gemacht, und Sie wollen die Hoch-
schulen daran hindern, es in Zukunft nutzen zu können.
Ich frage Sie: Was ist das für eine Arroganz der Politik,
zu glauben, nur sie könnte festlegen, welche Kriterien
bei der Auswahl von Stipendien gelten sollen? Warum
ist es in Ordnung, wenn die Heinrich-Böll-Stiftung so
frage ich Sie mit staatlichen Mitteln Studierende mit
journalistischen Ambitionen fördert, und angeblich nicht
in Ordnung, wenn ein mittelständisches Unternehmen
Studierende der Ingenieurwissenschaften fördern will?
Da bitte ich um eine Antwort.
Ich finde es auch nicht redlich, Herr Schulz, wenn Sie
sich öffentlich gegen eine begabungsabhängige zweite
Säule der Studienfinanzierung aussprechen und gleich-
zeitig auf der Webseite der Friedrich-Ebert-Stiftung für
ein Probestipendium werben. Mit Genehmigung des Prä-
sidenten darf ich zitieren. Dort heißt es: Nur wer über-
durchschnittliche Leistungen zeigt, wird dann in die re-
guläre Begabtenförderung aufgenommen. Also, wer
S
w
le
im
s
d
z
tu
h
e
ih
L
n
fe
N
c
g
te
m
d
u
g
in
a
Z
s
Z
Herr Kollege Pinkwart, denken Sie bitte an die Zeit.
Ich bitte Sie von der Opposition deshalb sehr herzlich
Interesse der Studierenden, im Interesse der Hoch-
chulen: Unterstützen Sie die Bundesregierung, damit
ie BAföG-Säule möglichst stark bleibt und damit als
weite Säule ein Stipendiensystem für begabte und leis-
ngsbereite Studierende möglich wird, die es verdient
aben, unabhängig von ihrer Herkunft in unserem Land
ndlich die Anerkennung zu finden, die sie brauchen, um
re Talente und ihre Begabung in den Dienst unseres
andes, der Bildungsrepublik Deutschland, zu stellen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von Bünd-
is 90/Die Grünen.
Herr Pinkwart, erst einmal herzlich willkommen of-
nsichtlich beim NRW-Tag im Deutschen Bundestag!
ach Herrn Laumann hat nun Herr Pinkwart gespro-
hen. Offensichtlich ist es in Düsseldorf so ungemütlich
eworden, dass hier nun schon der zweite NRW-Minis-
r spricht. Herzlich willkommen bei uns!
Zu Ihrem Stipendienmurks komme ich gleich. Ich
öchte erst einmal für die Fraktion der Grünen sehr
eutlich sagen: Wenn es um Gerechtigkeit geht, wenn es
m Wachstum durch Bildung und Zukunftsfähigkeit
eht, dann funktioniert das nicht ohne höhere Bildungs-
vestitionen in eine viel bessere Studienfinanzierung,
ls wir sie heute haben.
Chancengleich statt sozial selektiv, so wollen wir den
ugang zum Studium sicherstellen. Das ist ein Unter-
chied zur FDP; denn die Herkunft darf eben nicht über
ukunft entscheiden.
2568 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Kai Gehring
Gerade weil das so ist, muss die staatliche Studienfinan-
zierung besser, gerechter, verlässlicher und leistungs-
fähiger werden, so wie es Rot-Grün 2002 durch eine sehr
ambitionierte BAföG-Reform vorgemacht hat.
Die Studienfinanzierung braucht jetzt einen mutigen
Umbau, der Aufstieg durch Bildung und mehr Teilhabe
verwirklicht. Dabei kann man durchaus auch bei den an-
deren Fraktionen kleine Fortschritte konstatieren. Es ist
gut, dass die SPD ihren Antrag vorgelegt hat; denn an ih-
rem BAföG-Antrag wird deutlich, was in der BAföG-
Novelle der Bundesregierung buchstäblich ausgespart
wird. Bei Union und FDP ist durchaus positiv zu erwäh-
nen, dass sie überhaupt Verbesserungen beim BAföG
planen, zwar nur mickrige, aber immerhin. Jahrelang
war schwarz-gelben Protagonistinnen und Protagonisten
nichts wichtiger, als aus der Abneigung gegenüber einer
klaren und staatlich garantierten Studienfinanzierung
keinen Hehl zu machen. Sie wollten am liebsten Studi-
enkredite für alle, was definitiv verkehrt ist und jetzt
hoffentlich der Vergangenheit angehört.
Sie beschreiten aber gleich den nächsten Holzweg,
nämlich das nationale Stipendienprogramm. Wir als
Grüne sagen ganz klar: Motten Sie dieses 300 Millionen
Euro teure nationale Stipendienprogramm ein! Stecken
Sie dieses Geld in eine deutliche BAföG-Erhöhung! Das
ist ein besserer Beitrag für mehr Bildungsgerechtigkeit
in diesem Land.
Das Stipendienprogramm ist die falsche Antwort auf
die soziale Schieflage beim Hochschulzugang. Es ist
eben kein Instrument, um junge Menschen aus anderen
Herkunftsgruppen für ein Studium zu gewinnen. Wir
wissen doch, dass Habitus und Herkunft durchaus mit-
entscheiden, ob man ein Stipendium bekommt oder
nicht. Insofern setzt dieses Programm die falsche Priori-
tät, da ohnehin Bildungsnahe einseitig gefördert werden.
Die Vergabe von Stipendien in Ihrem Programm das
sieht man ganz klar in NRW ist abhängig davon, wo
man studiert, welches Fach man studiert, ob es eine lo-
kale Stifterbereitschaft gibt und wie die Vergabepraxis
vor Ort ist. Ob man ein Stipendium bekommt oder nicht,
ist für die Studierenden nichts anderes als eine Stipen-
dienlotterie. Insofern hängt es am allerwenigsten von der
Leistung ab, ob man sich da durchbeißt oder nicht.
Sie wälzen die komplette Organisation der Stipendien
auf die Hochschulen ab. Die Hochschulen freuen sich
schon, wie sie Tausende von Stipendien akquirieren. Die
Hochschulrektoren werden vor lauter Terminen beim
R
S
W
P
w
re
v
u
w
d
z
v
g
e
H
m
m
R
s
e
b
fo
z
c
D
A
S
lä
fi
a
te
n
d
w
w
G
m
li
d
E
fr
te
B
s
Wenn Sie stattdessen wirklich einen Bildungsaufbruch
ollen, dann müssen Sie jetzt beim BAföG unverzüglich
ie Bedarfssätze und Freibeträge um mindestens 5 Pro-
ent erhöhen; denn die Anhebung um 2 Prozent, die Sie
orhaben, fängt noch nicht einmal die Kostensteigerun-
en seit der letzten Anpassung 2008 auf. Insofern wird
ine höhere Bildungsbeteiligung definitiv ausbleiben.
ier müssen Sie klotzen, anstatt zu kleckern.
Mit unserem Antrag machen wir deutlich, dass wir
ittelfristig keine kleinteiligen BAföG-Reparaturen
ehr wollen. Wir wollen endlich eine ambitionierte
eform der Studienfinanzierung. Wir wollen ein Zwei-
äulenmodell einführen. Dieses Zweisäulenmodell ist
ine intelligente Mischung aus bedarfsabhängigen und
edarfsunabhängigen Elementen. Es funktioniert wie
lgt: Es gibt künftig eine Säule 1, einen Studierenden-
uschuss. Den erhalten alle Studierenden als eine So-
kelförderung in gleicher Höhe als Basisabsicherung.
amit geben wir allen Studienberechtigten einen klaren
nreiz, ein Studium tatsächlich aufzunehmen. Mit
äule 2, dem Bedarfszuschuss, sichern wir eine uner-
ssliche soziale Komponente, weil das die Studien-
nanzierung weiter dringend braucht, damit Studierende
us einkommensarmen Elternhäusern gute Möglichkei-
n zur Finanzierung haben.
Neu an diesem Modell ist, dass die familienbezoge-
en Leistungen nicht mehr an die Eltern der Studieren-
en ausgezahlt oder ihnen steuerlich gutgeschrieben
erden, sondern Kindergeld und steuerliche Freibeträge
erden in den neuen Sockel für alle überführt. Dieses
eld kommt dann den Studierenden direkt zugute. Das
acht auch Schluss mit einer Ungerechtigkeit im Fami-
enlastenausgleich. Dem Staat sind die Studierenden in
er Familienförderung nämlich nicht gleich viel wert.
inkommensstarke Eltern erhalten derzeit über Steuer-
eibeträge deutlich mehr als einkommensschwache El-
rn über das Kindergeld. Deshalb ist das auch ein klarer
eitrag zu mehr Gerechtigkeit.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Gehring.
Ja, Herr Präsident.
Wir machen auch Schluss mit Teildarlehen und Ver-
chuldung nach dem Studium. Deshalb wollen wir, dass
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2569
)
)
Kai Gehring
beide Säulen als Vollzuschüsse ausgestaltet werden.
Denn auch die Frage, ob man hinterher BAföG-Darlehen
abzahlen muss, entscheidet darüber, ob man ein Studium
beginnt. Mit unserem Vorschlag gibt es keine finanziel-
len Gründe mehr, auf ein Studium zu verzichten.
Ich erwarte bei der Studienfinanzierung deutlich mehr
Mut und dass die richtigen Prioritäten gesetzt werden.
Das BAföG muss deshalb zum Zweisäulenmodell ausge-
baut werden, statt ein ungerechtes Stipendienprogramm
einzuführen. Dabei hoffe ich auf Ihre Zustimmung.
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Kaufmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
erspare mir Aussagen zu den verqueren Argumenten der
Opposition über Studiengebühren, Bologna und die an-
gebliche Privatisierung unseres Bildungssystems.
Uns liegen heute zwei Anträge vor, die beide gänzlich
einfallslos sind und daher am Ende auch erfolglos sein
werden.
Ganz ruhig bleiben. Lassen Sie mich erläutern, wa-
rum.
Zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist anzu-
merken, dass die dortigen Vorschläge nicht mehr sind als
alter Wein in neuen Schläuchen. Sie sprechen im Wesent-
lichen von Ideen, die vom Deutschen Studentenwerk und
in ähnlicher Form von der KMK mit dem Dreistufen-
bzw. dem Dreikörbemodell schon vor 15 Jahren vorgelegt
wurden.
Die SPD hatte bereits 1994 vergleichbare Ideen ent-
wickelt, und die Grünen haben im Sommer 1995 an ein
Modell mit einer Sockelfinanzierung gedacht, bei dem
Kindergeld und Steuerfreibeträge nicht mehr den Eltern
zugutekommen, sondern direkt an die Studierenden aus-
gezahlt werden. Schon damals wurden diese Vorschläge
von wechselnden Koalitionen als nicht finanzierbar ab-
gelehnt, und auch die SPD
u
B
w
z
h
b
h
le
fe
s
a
m
in
z
B
s
D
h
ra
u
D
R
n
e
n
d
te
a
s
D
Id
n
z
p
ti
d
Zudem hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts
um Familienlastenausgleich aus dem Jahr 1998 ernst-
afte Bedenken an der Realisierbarkeit dieses Dreikör-
emodells genährt, und diese Bedenken greifen auch
insichtlich des von den Grünen vorgelegten Zweisäu-
nmodells.
Bei den Grünen hat ungeachtet dessen bis heute of-
nsichtlich kein Lernprozess stattgefunden. Im Wider-
pruch zu der Idee vom lebenslangen Lernen füllen Sie
lten Wein in neue Schläuche und hoffen, dass es nie-
and merkt. Kreativität? Fehlanzeige!
Ich erspare Ihnen eine Fortsetzung der Chronik Ihrer
immer neuem Gewand daherkommenden Vorschläge
ur Studienfinanzierung ich nenne nur das Beispiel
AFF , Vorschläge, die Sie damals unter Rot-Grün
elbst nicht umgesetzt haben.
Nun aber zum SPD-Antrag.
ieses Haus hat bereits mehrfach und über alle Parteien
inweg festgestellt, dass Bildung die entscheidende Vo-
ussetzung für notwendige Innovationen in Wirtschaft
nd Gesellschaft ist.
eshalb ist es unsere wichtigste Aufgabe, die richtigen
ahmenbedingungen zu schaffen. Niemand soll von ei-
em Studium abgehalten werden, und jeder, der sich für
in Studium entscheidet, soll es auch aufnehmen kön-
en. Das BAföG als Sozialleistung hilft uns dabei. Doch
as genügt Ihnen nicht. Sie schütten in Ihrem Antrag un-
r dem Deckmantel der Chancengleichheit ein Füllhorn
n zusätzlichen Wohltaten aus. Willkürlich angestrebt
ind 100 000 zusätzliche BAföG-Empfänger.
a winkt am Horizont vielleicht doch schon wieder die
ee von einem BAföG für alle, wenn nicht gar von ei-
em Studium für alle.
Haben Sie sich denn einmal die Mühe gemacht, aus-
urechnen, was Ihre Vorschläge kosten? Auch in der Op-
osition sollte man nicht im luftleeren Raum argumen-
eren, sonst setzt man sich dem berechtigten Vorwurf
es Populismus aus.
2570 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Dr. Stefan Kaufmann
Sie werden jetzt argumentieren wollen, dass man für
das Ziel hinsichtlich der 100 000 zusätzlichen BAföG-
Empfänger das Geld verwenden könne, das für das na-
tionale Stipendienprogramm vorgesehen ist. Aber das
geht gerade nicht. Ziel des nationalen Stipendienpro-
grammes ist es, über eine Kofinanzierung aus privaten
Mitteln den staatlichen Förderbetrag zu verdoppeln. Da-
mit sollen zusätzlich 160 000 besonders leistungsfähige
Studierende gefördert werden. Das ist nicht etwa elitär,
das ist innovativ;
zumal bei der Auswahl der Stipendiaten ausdrücklich
auch soziale Kriterien herangezogen werden können.
Ich frage Sie: Wie kann man diese Chance auf zusätzli-
che Mittel für Bildung ablehnen und den helfend ausge-
streckten Arm des privaten Sektors bildlich zurück-
schlagen? Das ist in Zeiten knapper Kassen geradezu
verantwortungslos.
Doch auch beim BAföG setzen wir Zeichen Staats-
sekretär Braun hat es angesprochen : Zum Winter-
semester 2008/2009 haben wir die Bedarfssätze um
10 Prozent und die Freibeträge um 8 Prozent angehoben.
Dies wird, wir haben es gehört, zu einer signifikanten
Besserstellung der Geförderten führen.
Wir gehen noch einen Schritt weiter: Mit den von der
Bundesregierung in der 23. Novelle des BAföG vorgese-
henen Anhebungen der Bedarfsätze um 2 Prozent und
der Freibeträge um 3 Prozent greifen wir sogar künftigen
Einkommens- und Preisentwicklungen vor. Sie hinge-
gen, Kollege Schulz, konterkarieren Ihren eigenen An-
trag, wenn Sie, wie auf Seite 4 oben dieser Vorlage, eine
automatische Anpassung der Bedarfssätze und Einkom-
mensgrenzen an die Lebenshaltungskosten fordern. Dies
würde nämlich für 2009 und 2010 eine Steigerung von
nur 1 Prozent bedeuten. Von einer 3-prozentigen oder
gar 10-prozentigen Erhöhung, die Sie hier fordern, sind
wir also sehr weit entfernt.
Erklären Sie es mir, ja.
Noch etwas Grundsätzliches, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Fraktion: Die Formulierung in Ihrem
Antrag, wonach jungen Menschen ohne ein Studium Zu-
kunftschancen vorenthalten seien und ihre individuelle
Lebensführung beeinträchtigt werde, kann so nicht ste-
hen bleiben. Diese Formulierung ist beredter Ausdruck
Ihrer überheblichen Einstellung gegenüber jenen, die
eine berufliche Ausbildung absolviert haben und sich
über Meister- oder andere Weiterbildungskurse für eine
verantwortungsvolle Aufgabe in unserer Gesellschaft
qualifiziert haben oder qualifizieren wollen.
N
n
c
B
ß
U
a
re
g
u
li
Q
d
g
B
d
v
g
2
s
w
u
s
d
m
D
s
Ic
ti
e
b
d
ehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass nicht alle Bürgerin-
en und Bürger zur Verwirklichung ihrer Zukunfts-
hancen ein Hochschulstudium absolvieren müssen.
ildungs- und Innovationspotenziale können auch au-
erhalb des tertiären Systems gehoben werden.
nser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist nicht nur
uf akademische Fachkräfte ausgelegt.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
An zwei Punkten darf ich Ihnen zur Versöhnung noch
cht geben: Die Auszahlung der BAföG-Raten an Neu-
eförderte sollte möglichst ohne Verzögerung erfolgen,
nd die Information für Studierwillige über Fördermög-
chkeiten nach dem BAföG, aber auch aus anderen
uellen, muss nachhaltig verbessert werden. Alles an-
ere, was Sie hier vorschlagen, werden wir im zuständi-
en Ausschuss im Rahmen der Diskussion über das
AföG-Änderungsgesetz und auch das nationale Stipen-
ienprogramm beraten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marianne Schieder
on der SPD-Fraktion.
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-
en! Damit ihr Hoffnung habt, so heißt das Motto des
. Ökumenischen Kirchentages, der im Mai in München
tattfinden wird. Zu dessen Inhalt hatten wir am Mitt-
och einen parlamentarischen Abend. Auf dem Plakat
nd den Einladungen dazu sind zwei Mädchen darge-
tellt, die fröhlich und hoffnungsvoll Hand in Hand
urchs Wasser springen und, bildlich gesprochen, ge-
einsam den Weg ins Leben wagen und gehen.
ieses Bild hat mir so gut gefallen, dass ich mich ent-
chlossen habe, es auf die heutige Debatte zu übertragen.
h frage uns alle: Was müssen wir in der Bildungspoli-
k tun, damit junge Menschen Hoffnung haben?
Kollege Swen Schulz hat dargestellt, welche Defizite
s immer noch gibt, gerade was die Chancengerechtigkeit
etrifft, und wie sehr in Deutschland immer noch ganz
eutlich der Geldbeutel der Eltern darüber entscheidet, ob
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2571
)
)
Marianne Schieder
sich junge Menschen für ein Studium entscheiden können
oder ob sie darauf verzichten. Ich meine, es ist unbestrit-
ten, dass den jungen Menschen Hoffnung gegeben werden
muss es besteht dringender Handlungsbedarf , die aus
einkommensschwächeren Elternhäusern kommen und
Unterstützung brauchen, um sich zu trauen, ein Studium
aufzunehmen.
Die Bundesregierung setzt neben einer begrüßens-
werten, aber eher bescheidenen Verbesserung im Bereich
des BAföG auf ein Stipendienprogramm, orientiert an
dem, was in NRW versucht wird, aber alles in allem
nicht funktioniert. Herr Minister Dr. Pinkwart, das, was
Sie heute hier bezüglich des Funktionierens dieses Pro-
gramms in NRW dargestellt haben, war ein einziges
Schönreden, Schönrechnen und Die-Welt-schön-haben-
Wollen, aber keine Darstellung der Realität.
Die Hochschulen und Universitäten sollen jetzt die
Möglichkeit bekommen, bis zu 8 Prozent ihrer Studie-
renden mit monatlich 300 Euro zu fördern. Das Ganze
soll den Bund und die Länder alles in allem bis zu
300 Millionen Euro kosten. Die Wirtschaft und private
Förderer sollen kräftig mitfinanzieren.
Die Ausgestaltung des Bewerbungs- und Auswahl-
verfahrens liegt in der Verantwortung der Hochschulen.
Mit circa 160 000 Neuanträgen wird gerechnet. Bei dem
Punkt Auswahlkriterien heißt es: Begabung und Leis-
tung, Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung,
familiäre Herkunft und Migrationshintergrund sollen
eine Rolle spielen. Meistens ist aber, wenn Sie darüber
reden, nur die Rede von Begabung und Leistung, was
immer das sein soll. Ich gehe davon aus, dass damit No-
ten gemeint sind. Niemand kann bis jetzt sagen, in wel-
cher Relation die verschiedenen Faktoren, die in Ihrem
Referentenentwurf aufgeführt sind, zueinander stehen
sollen und woran man zum Beispiel konkret soziale Her-
kunft und gesellschaftliches Engagement festmachen
will.
Selbst die deutsche Wirtschaft hat ja schon Sie kön-
nen es in der Financial Times nachlesen die mangelnde
soziale Ausrichtung kritisiert.
Auch der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft
hat uns bestätigt, dass schon die bisherige öffentliche
Begabtenförderung darunter leidet, dass vor allem Stu-
dierende aus akademischen Besserverdiener-Haushal-
ten in deren Genuss kommen. Das ist nicht meine Aus-
sage; das ist ein Zitat. Auch von dieser Seite wird eine
sozialere Ausrichtung des neuen Stipendienprogrammes
gefordert.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union und von der FDP: Fragen Sie doch einmal an den
Universitäten und Hochschulen nach, was man dort über
Ihre neuen Ideen denkt.
D
g
e
v
re
fa
s
s
d
h
Ä
tu
G
b
n
F
u
s
v
w
te
n
z
ru
d
w
in
F
a
B
s
g
k
ri
w
s
b
u
m
a
n
d
M
u
m
n
s
ür BAföG gibt es bereits eine gut funktionierende und
usgebaute Verwaltungsstruktur. Die Vergabe von
AföG unterliegt klaren Richtlinien, die nachprüfbar
ind und die sozialen Realitäten objektiv berücksichti-
en. Wer Vernunft walten lässt und Chancengerechtig-
eit im Bildungssektor ernsthaft will, der muss die Prio-
tät auf eine umfassende Ausweitung von BAföG legen,
ie sie von uns gefordert wird. Unter BAföG können
ich junge Menschen nämlich etwas vorstellen, hier ha-
en sie nachvollziehbare und berechenbare Grundlagen
nd nicht vage Aussichten. Das gibt Hoffnung und
acht Mut, sich doch noch an ein Studium zu wagen,
uch wenn der Geldbeutel der Eltern nicht so dick ist.
Deswegen bitte ich Sie: Nehmen Sie Abstand von ei-
em System, das nicht funktioniert, wie es sich ja an
em Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt, das jungen
enschen nicht hilft und das uns nicht weiterbringt in
nserem Bemühen, auch die jungen Menschen dazu zu
otivieren, ein Studium anzutreten, deren Eltern derzeit
icht gerade üppig mit finanziellen Mitteln gesegnet
ind.
Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
2572 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Ja. In diesem Sinne: Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Ich hoffe auf eine bessere Einsicht Ihrerseits.
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Zukunft unseres Landes hängt mehr denn je von der
Ausbildung unserer Kinder ab.
Gerade jetzt in der Krise setzen wir als christlich-liberale
Koalition ein Signal und investieren über 12 Milliarden
Euro mehr in diesen Bereich. Eine solche Steigerung gab
es hier noch nie.
Wir brauchen in Zukunft das ist klar jeden Einzel-
nen mit seinen Talenten.
Ich gebe Ihnen recht: Der Geldbeutel der Eltern darf
nicht über die Bildung der Kinder entscheiden.
Wir bauen gerade auch deswegen die Unterstützung bei
der Ausbildungsfinanzierung kräftig aus. Die Bedarfs-
sätze beim BAföG werden nicht gesenkt, sondern er-
höht. Diese werden um 2 Prozent und die Freibeträge um
3 Prozent erhöht.
Das ist deutlich mehr als die Einkommens- und Preis-
steigerungen, die im BAföG-Bericht prognostiziert wor-
den sind. Zusätzlich zum BAföG führen wir ein nationa-
les Stipendiensystem ein.
Wir sehen auch Erfolge. Zum aktuellen Wintersemes-
ter haben 43 Prozent des Altersjahrgangs mit einem Stu-
dium begonnen. Vor zehn Jahren waren es noch 31 Pro-
zent. Die aktuelle HIS-Studie zeigt, dass immer mehr
Kinder aus bildungsfernen Schichten studieren. Deren
Studierquote ist um 6 Prozent auf 65 Prozent gestiegen.
Bei Kindern aus akademischen Elternhäusern betrug die
Steigerung nur 3 Prozent. Die Schere schließt sich also.
Jetzt kann man natürlich bei jeder Erhöhung nach ei-
ner weiteren, einer noch größeren rufen. Aber wir dürfen
eines nicht vergessen: Das BAföG ist eine Sozialleis-
tu
s
c
k
S
v
d
B
D
tu
o
d
e
S
b
S
k
d
la
a
b
d
u
te
e
a
s
a
d
is
a
d
li
D
c
re
g
ie Freibeträge und die Bedarfssätze auf einer sachlichen
asis weiterzuentwickeln.
as sind wir auch denjenigen schuldig, die diese Leis-
ngen durch ihre Steuern finanzieren, obwohl sie selbst
der ihre Kinder diese nie in Anspruch nehmen werden.
Hinzu kommt beim BAföG die Sondersituation, dass
ie Finanzierung eines Studiums für jeden Einzelnen
ine Investition darstellt. Diese Investition zahlt sich aus.
ie zahlt sich in einem deutlich niedrigeren Risiko, ar-
eitslos zu werden, aus.
ie zahlt sich aber auch in einem deutlich höheren Ein-
ommen aus.
Ich komme gleich zu den Frauen. In der OECD-Bil-
ungsstudie wird vorgerechnet, dass Männer in Deutsch-
nd, die direkt nach dem Schulabschluss ein Studium
ufnehmen, in ihrer Erwerbszeit mit einem Einkommens-
onus von 150 000 Euro rechnen dürfen. Für Frauen liegt
ieser Einkommensbonus, bedingt durch geringere Löhne
nd höhere Teilzeitquoten, bei 95 000 Euro.
Erlauben Sie mir die Anmerkung wir haben ja ges-
rn eine Debatte zum Weltfrauentag geführt , dass dies
in Punkt ist, an dem wir gemeinsam mit der Wirtschaft
rbeiten müssen. Der Einkommensunterschied zwi-
chen Mann und Frau ist für mich so nicht hinnehmbar;
ber das liegt nicht am BAföG.
Ich möchte zum Schluss meines Beitrags auf eine an-
ere Verantwortung dieses Parlaments hinweisen. Das
t die Verantwortung für unseren Bundeshaushalt. Die
ktuelle Situation des Bundeshaushalts, bedingt durch
ie Neuverschuldung, ist jedem in diesem Haus hinläng-
ch bekannt.
er sparsame Umgang mit den uns anvertrauten öffentli-
hen Geldern ist für mich ein Gebot der Generationenge-
chtigkeit. Vor diesem Hintergrund halte ich die jetzt
eplante BAföG-Erhöhung für mehr als angemessen. Ich
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2573
)
)
Dr. Reinhard Brandl
bitte die Opposition, dies anzuerkennen und im weiteren
Verlauf positiv zu begleiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/884 und 17/899 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe als letzten Tagesordnungspunkt den Tages-
ordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Marieluise
Beck , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rückschiebungen nach Griechenland sofort
aussetzen
Drucksachen 17/449, 17/822
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Helmut Brandt von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geschätzten Kol-
leginnen und Kollegen! Nachdem wir erstmals über die-
sen Tagesordnungspunkt am 28. Januar debattiert haben
und im Rahmen der Sitzung des Innenausschusses am
9. Februar die Diskussion noch einmal vertieft geführt
haben, befassen wir uns heute abschließend mit dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in dem die
Bundesregierung aufgefordert wird, weitere Überstel-
lungen von Asylbewerbern nach Griechenland im Rah-
men der Dublin-II-Verordnung sofort auszusetzen und
die Prüfung der Asylanträge durch die Ausübung des so-
genannten Selbsteintrittsrechtes nach Art. 3 Abs. 2 der
Dublin-II-Verordnung im nationalen Asylverfahren
durchzuführen. Dabei wird Ihr Antrag im Wesentlichen
damit begründet, dass das Bundesverfassungsgericht be-
kanntlich einige Beschlüsse im September letzten Jahres
gefasst hat, auf deren Grundlage einstweilige Anordnun-
g
e
g
im
s
s
fu
a
D
g
b
B
ri
g
Ih
g
ta
w
ri
s
ri
W
s
d
n
le
F
n
e
k
te
la
d
c
b
ru
b
n
D
k
s
re Argumente vermögen nicht zu überzeugen
doch, Frau Jelpke; auf Ihre Ausführungen gehe ich
leich noch zur Genüge ein ; denn die rechtliche und
tsächliche Situation ist eine gänzlich andere. Deshalb
erden wir Ihren Antrag ablehnen.
Was die Eilentscheidungen des Bundesverfassungsge-
chts anbelangt, ist unstreitig klar, dass damit eine ab-
chließende Bewertung durch das Bundesverfassungsge-
cht gerade nicht getroffen wurde.
ie Sie wissen, Herr Veit, basieren die Beschlüsse aus-
chließlich auf einer Abwägung des Gerichts zwischen
en Folgen, die ohne Erlass der einstweiligen Anord-
ung eintreten, wenn die Hauptsache für den Antragstel-
r erfolgreich wäre, und den Folgen des umgekehrten
alls. Das heißt im Klartext: Die einstweiligen Anord-
ungen, auf die Sie sich in Ihrer Begründung beziehen,
nthalten keine abschließenden Aussagen zur Zulässig-
eit der Überstellungen nach Griechenland. Sie enthal-
n auch keine Beurteilung der Situation in Griechen-
nd. Vielmehr lassen sie gerade die Erfolgsaussichten
er Verfassungsbeschwerde offen.
Das stimmt ganz. Mit einem Satz: Das grundsätzli-
he Festhalten daran, weitere Überstellungen gemäß Du-
lin-II-Verordnung durchzuführen, stellt keine Brüskie-
ng des Gerichtes dar.
Die Behauptung der Antragsteller, für sogenannte Du-
lin-II-Rückkehrer bestehe in Griechenland kein geord-
eter Zugang zum Asylverfahren, ist schlichtweg falsch.
ie griechische Regierung hat bereits im Jahr 2008 er-
lärt, dass es aufgrund des unverhältnismäßig hohen Zu-
troms von Asylbewerbern und Migranten erhebliche
2574 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Helmut Brandt
Probleme bei der Aufnahme und Durchführung von Ver-
fahren gegeben habe, die Lage sich aber deutlich verbes-
sert habe. Auch der UNHCR stellt in seinen Studien aus
den Jahren 2007 und 2008 fest, dass Dublin-II-Rückkeh-
rer grundsätzlich die Möglichkeit haben, einen Asylan-
trag zu stellen. Griechenland hatte bereits 2007 den Dub-
liner Büros der Mitgliedstaaten mitgeteilt, dass die
sogenannte Abbruchpraxis nicht mehr vollzogen wird.
Darüber hinaus hat die griechische Regierung im
Sommer 2009 das ist Ihnen bekannt das Asylantrags-
verfahren dezentralisiert. Ich gebe zu: Es ist noch etwas
früh, um die Auswirkungen abschließend zu beurteilen,
aber es ist sicherlich ein weiterer Fortschritt.
Die Bewertung der Vereinbarkeit von Regelungen des
griechischen Asylrechts mit EG-Recht obliegt im Übri-
gen der Europäischen Kommission. Uns liegen keinerlei
Erkenntnisse vor, die den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen stützen würden. Gegen Ihren Antrag spricht
auch die Praxis Belgiens, Dänemarks, Finnlands, Frank-
reichs, Großbritanniens, Italiens und anderer europäi-
scher Staaten, die Überstellungen nach Griechenland
grundsätzlich durchführen. Das gilt im Übrigen auch für
die höchstrichterliche Rechtsprechung in diesen Län-
dern. Ich weise auf die Entscheidung des niederländi-
schen Raad van State vom 31. August 2009 hin, wonach
nach Griechenland überstellt werden kann. Der öster-
reichische Asylgerichtshof entschied am 16. Januar 2009
in gleicher Weise und teilte mit, dass eine Verletzung
Ich spreche gerade von der europäischen Menschen-
rechtskonvention, und die ist überall gleich. Das ist nicht
nur in Deutschland so. Der österreichische Asylgerichts-
hof hat entschieden, dass eine Verletzung dieser Men-
schenrechtskonvention gerade nicht vorliegt. Alles, was
Sie zitieren könnten was Sie nicht tun , führt dazu,
dass man Ihrem Antrag nicht folgen kann.
Herr Kollege Veit hat in der Sitzung des Innenaus-
schusses auf die hohe Flüchtlingszahl in Griechenland
hingewiesen. Herr Veit, ich möchte Ihnen einige Zahlen
entgegenhalten; denn die Zahl der Asylbewerber in Grie-
chenland ist seit 2007 erheblich rückläufig,
und zwar ist sie von 25 113 im Jahr 2007 auf circa
12 000 Asylbewerber im Jahr 2009 gesunken. Das zeigt,
dass sich das Problem relativiert hat. Bei den absoluten
Zahlen liegt Griechenland im europäischen Vergleich
hinter Schweden, Frankreich und Großbritannien erst
auf Platz vier in der EU.
Die Bundesregierung geht daher nach unserer Auffas-
sung zu Recht davon aus, dass die griechische Regierung
die erforderlichen Maßnahmen ergreift bzw. bereits er-
griffen hat, um die früheren mit dem ehemals hohen Zu-
s
S
s
lu
P
ä
le
d
p
k
s
u
g
g
ri
li
g
z
k
g
re
d
li
v
e
k
v
g
a
v
la
e
A
W
s
g
s
s
g
s
Ü
w
la
G
F
J
d
d
b
M
g
Herr Winkler, ich komme gleich noch zu den Zahlen
nd dann sehen Sie, auf wessen Rücken wir das austra-
en.
Zwar erscheint nicht gänzlich ausgeschlossen, dass
egenwärtig und in Zukunft im Einzelfall noch Schwie-
gkeiten bei der Durchführung von Asylverfahren mög-
ch sind, aber wir können auch nicht ausschließen da
ebe ich Herrn Josef Winkler recht , dass das im Ein-
elfall zu Schwierigkeiten und Härten führt. Aber das
ann nach unserer Auffassung letztlich nicht ausschlag-
ebend sein; denn es liegen keine Hinweise auf gravie-
nde Verstöße gegen die fundamentale Gewährleistung
es Asylrechts oder Kerngewährleistungen des Flücht-
ngsrechts oder der Menschenrechte in Griechenland
or. Im Übrigen: Griechenland selbst weist zu Recht auf
ine bevorzugte Behandlung sogenannter Dublin-Rück-
ehrer hin.
Josef Winkler, in der Innenausschusssitzung wurde
on mir auch auf die Entscheidungen der Verwaltungs-
erichte in Deutschland hingewiesen, die unter Hinweis
uf die bereits erwähnten Entscheidungen des Bundes-
erfassungsgerichtes Rückschiebungen nach Griechen-
nd aussetzen. Genau das ist der richtige Weg. Nur bei
iner gerichtlichen Entscheidung zur vorübergehenden
ussetzung verlängern sich die Fristen zur Überstellung.
ürde ohne eine gerichtliche Entscheidung von Über-
tellungen nach Griechenland abgesehen, entstünde we-
en Ablaufs der Überstellungsfristen eine deutsche Zu-
tändigkeit zur Durchführung der Asylverfahren. Ich
age ganz klar: Das wollen wir nicht.
Außerdem das dürfte unstreitig sein würde der so-
enannte Pull-Faktor nach Deutschland noch weiter ver-
tärkt, wenn durch die zuständigen Behörden Dublin-
berstellungen nach Griechenland generell ausgesetzt
ürden. Schon 2009 war ein sprunghafter Anstieg uner-
ubter Einreisen an deutschen Flughäfen bei Flügen aus
riechenland zu verzeichnen. Nach den vorliegenden
eststellungen haben sich die unerlaubten Einreisen im
ahr 2009 gegenüber 2008 mehr als vervierfacht. Auch
as wollen wir verhindern.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trägt
er Situation in Griechenland Rechnung, indem es bei
esonders schutzbedürftigen Personen, zum Beispiel bei
inderjährigen, Flüchtlingen hohen Alters, bei Schwan-
eren, bei ernsthaft Erkrankten, Pflegebedürftigen oder
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2575
)
)
Helmut Brandt
solchen, die besonderer Hilfe bedürfen, von dem Selbst-
eintrittsrecht Gebrauch macht.
Ich nenne auch hier die Zahlen sie sind sehr erfreu-
lich : In 2009 wurde in 871 Fällen davon Gebrauch
gemacht. Demgegenüber wurden in nur 200 Fällen
Überstellungen durchgeführt. Daran sieht man, dass sehr
verantwortungsvoll damit umgegangen wird. Nach mei-
ner Auffassung bedarf es dieses Antrages daher gar
nicht.
Ferner wird der Überstellungszeitraum grundsätzlich
ausgeschöpft, um so eine zeitliche Streckung der Über-
stellung vorzunehmen und eine Entlastung Griechen-
lands zu erreichen. Mithin wird alles getan, was dazu
dient, den Griechen zu helfen.
Da die Kollegin Jelpke deutlich gemacht hat darauf
möchte ich noch zu sprechen kommen, wenn Sie mir ei-
nen Moment Ihre Aufmerksamkeit schenken ,
dass das Dublin-II-Verfahren von ihrer Partei grundsätz-
lich abgelehnt wird und sie dafür eintritt, dass sich
Flüchtlinge ihr Asylland selbst aussuchen dürfen, quasi
nach Katalog, ist darauf hinzuweisen, dass gerade die
Bundesrepublik Deutschland in diesem Fall mit einem
Flüchtlingszustrom zu rechnen hätte, der auch von der
Bevölkerung als nicht mehr hinnehmbar und unerträg-
lich angesehen würde. Das Dublin-II-Abkommen war
und ist insoweit Garant dafür, dass wir keine unkontrol-
lierten und von uns nicht mehr zu bewältigenden Asyl-
bewerberzahlen haben. Insofern kann das wirklich nur
Illusion bleiben.
Im Übrigen lassen wir Griechenland mit seinen Pro-
blemen nicht allein. Ich habe das eben zum Teil schon
gesagt; ich will das nicht wiederholen. Sowohl die An-
gebote des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
als auch die der Regierung, Hilfestellungen zu leisten,
sind Ihnen bekannt. Auch mit Blick auf die finanzielle
Hilfe aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds und die
wahrscheinliche künftige finanzielle Hilfe in organisato-
rischer und personeller Hinsicht durch das EU-Asylun-
terstützungsbüro denke ich, dass Griechenland die Mittel
erhält, die es braucht, um mit dem Flüchtlingsstrom fer-
tig zu werden.
Zusammengefasst bedeutet das: Es bedarf dieses An-
trages nicht, jedenfalls bedarf es der Maßnahme nicht,
weshalb wir den Antrag zurückweisen und ablehnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion.
H
v
a
ti
g
d
F
S
d
A
rü
a
re
te
M
d
d
d
S
S
a
v
Z
n
d
b
s
la
in
n
is
w
s
F
d
1
W
a
V
a
le
v
k
b
P
b
tr
Ansonsten muss ich Ihnen leider sagen: Der Innen-
usschuss hat im letzten Jahr im Juli eine Delegations-
ise nach Griechenland durchgeführt Delegationslei-
r war der Kollege Dr. Stadler; mit dabei waren Stephan
ayer von der CSU, der zwischenzeitlich ausgeschie-
ene Kollege Werner Wittlich, Gerold Reichenbach von
er SPD, Hartfrid Wolff von der FDP, Ulla Jelpke von
er Linkspartei und meine Wenigkeit , um sich über die
ituation der Flüchtlinge dort, vor allen Dingen über die
ituation der zwangsweise zurückgeführten Flüchtlinge
us Deutschland ein Bild zu machen. Dieses Bild weicht
on dem, das Sie gezeichnet haben, leider völlig ab.
war haben auch wir festgestellt, dass sich die Realität
icht ganz so katastrophal darstellt, wie es in den Schil-
erungen mancher NGOs über die Zustände zum Teil
ehauptet wird, aber das habe ich schon im Innenaus-
chuss gesagt und wiederhole es hier den aus Deutsch-
nd Zurückgeführten, den Zurückgeschobenen geht es
Griechenland keinen Deut besser, allerdings auch
icht schlechter als den übrigen Flüchtlingen. Aber das
t schlecht genug.
Das Interessante ist das erklärt, warum die Asylbe-
erberzahlen zurückgegangen sind , dass die griechi-
chen Behörden völlig außerstande sind, mit diesem
lüchtlingsstrom zurechtzukommen, ihm Herr zu wer-
en.
Nein, das ist immer noch so. Wir waren vom 8. bis
2. Juli 2009 dort.
ir haben die Schlangen mit Hunderten von Menschen
m Eingang zur Petrou Ralli so heißt die Behörde im
olksmund stehen sehen. Dort ist es Usus, dass sich
m Samstag Hunderte, Tausende anstellen, damit viel-
icht einige Hundert von ihnen in der folgenden Woche
orgelassen werden, um ihr Asylbegehren stellen zu
önnen.
Kein Wunder, dass die Zahl zurückgeht, wenn die Ar-
eitskapazitäten überhaupt nicht da sind. Sieben bis acht
olizeioffiziere und etwa ein Dutzend Dolmetscher bear-
eiten am Tag vielleicht zusammengenommen 80 An-
äge, also 400 in der Woche bzw. 20 000 im Jahr. Tat-
2576 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Rüdiger Veit
sächlich aber hat Griechenland das Problem, dass
jedenfalls in den letzten Jahren mit stark steigender
Tendenz etwa 150 000 Flüchtlinge kommen. Knapp
die Hälfte von ihnen kommt übrigens aus Albanien; das
ist eine Form von Arbeitsmigration. Wenn sie zurück-
geführt werden, kommen sie manchmal per Drehtür-
effekt wieder. Mehr als die Hälfte von denen, also rund
70 000 bis 80 000 im Jahr, wollen weiter in das übrige
Europa. Sie versuchen das dann auch illegal per Schiff,
etwa von Patras oder Igoumenitsa aus. Von daher hat
man es da mit einem erheblichen Problem zu tun.
Dieses Problem erstreckt sich dann auch auf die aus
Deutschland Zurückgeführten, auch wenn ihre Zahl ver-
nachlässigbar klein zu sein scheint. Aber auch für sie
gilt, dass Flüchtlinge dort in aller Regel kein ordnungs-
gemäßes Verfahren bekommen. Es gibt auch keine nen-
nenswerte Anerkennungsquote.
Sie haben auch keinerlei Anspruch auf Gesundheitsver-
sorgung. Ebenso haben sie in der Regel keine Möglich-
keit, sich ohne Weiteres eine Wohnung zu nehmen. Sie
haben mit einer sogenannten Pink Card, die ihnen ausge-
stellt wird, zwar für sechs Monate die Chance in der
Regel illegal zu arbeiten und damit ihren Lebensunter-
halt notdürftig zu fristen, aber im Großen und Ganzen
besteht dort ein ganz erhebliches Problem von Mas-
senobdachlosigkeit.
Ich würde Ihnen gern aus unserem Reisebericht vorle-
sen, was uns Minister Markogiannakis er ist der Vize-
Innenminister und Minister für öffentliche Ordnung
gesagt hat. Er stellte nochmals eindringlich die griechi-
sche Position dar: Obwohl Ziel der illegalen Migranten
nicht Griechenland sei, hindere man diese Personen an
der Weiterreise. Griechenland komme hier seinen Ver-
pflichtungen nach und drücke keinesfalls die Augen
zu. Griechenland sei nun aber einfach nicht mehr in der
Lage, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Man könne
dieser Invasion nicht Herr werden. Griechenland sei
erschöpft. Die offiziellen Statistiken zu illegalen Mi-
granten seien noch viel zu niedrig. Man müsse aktuell
von einer Zahl von circa 2 Millionen, also einem Aus-
länderanteil von fast 20 Prozent, ausgehen. Besonders
problematisch sei, dass es infolgedessen gerade in Athen
und Patras zu Gettobildung, Verelendung und damit ein-
hergehenden Reaktionen wie Rassismus und Fremden-
feindlichkeit komme, die in dem traditionell fremden-
freundlichen Griechenland bisher unbekannt gewesen
seien.
Vor diesem Hintergrund bin ich persönlich der Über-
zeugung dieser Überzeugung waren wir alle, die wir
dort waren , dass es mit der Dublin-II-Verordnung und
einer Fortentwicklung dieser Verfahrenszuständigkeiten
und auch mit FRONTEX-Einsätzen in Griechenland
nicht getan ist. Wenn man, wie unser Nachbar dort im
Südosten, einem derartig massiven Flüchtlingszustrom
ausgesetzt ist, dann darf das restliche Europa Griechen-
land bei dieser Aufgabe nicht allein lassen, sondern
muss sich dazu bequemen, selbst etwas großzügiger
Flüchtlinge aufzunehmen
u
F
w
g
D
li
s
D
g
w
re
k
P
z
v
s
lu
G
D
n
k
m
g
z
B
a
lo
F
d
le
te
s
R
m
n
s
F
fo
M
a
n
fu
A
g
nd bei der Durchführung von Verfahren zu helfen.
RONTEX kann schon deswegen keine richtige Ant-
ort sein, weil auch das haben wir dort gelernt die
esamte griechische Küste 15 000 Kilometer umfasst.
as ist ungefähr so viel wie die Küste des gesamten rest-
chen Mittelmeers. Das kann man nicht vernünftig
chützen, gegen Migranten schon gar nicht und vor allen
ingen nicht gegen solche, die auf dem Landweg diese
ibt es auch kommen. Wenn die Nachbarn, beispiels-
eise die Türkei, ihren europarechtlichen und völker-
chtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen und
eine Flüchtlinge zurücknehmen, dann verstärkt das das
roblem vor Ort.
Deswegen sagen wir: Wir müssen uns dafür einset-
en, dass die Dublin-II-Verordnung angemessen und
ernünftig, im Sinne von echter Lastenteilung fortge-
chrieben wird, nicht nur als reine Zuständigkeitsrege-
ng. Wir müssen darüber hinaus auch dafür sorgen, dass
riechenland mit seinen Problemen nicht alleine bleibt.
as hat mit den jetzigen wirtschaftlichen Problemen gar
ichts zu tun.
Vor dem Hintergrund ist doch eines, wie ich denke,
lar: Wenn aufgrund begründeter Zweifel an der Recht-
äßigkeit von Asylverfahren nach unseren Vorstellun-
en und wenn es nur der Ablauf ist, für den die Kapa-
itäten nicht ausreichen unser oberstes Gericht, das
undesverfassungsgericht, sagt, dass es sich ganz genau
nschauen will, ob die Betroffenen rechtlos und schutz-
s gestellt werden, und deswegen in mindestens sechs
ällen im Wege einstweiliger Anordnung entscheidet,
ass die Betroffenen nicht zurückgeschoben werden sol-
n, aber trotz dieser Situation keine Bereitschaft vonsei-
n der Regierung und der nachgeordneten Behörden be-
teht, das zu beachten und jedenfalls einstweilen von
ückschiebungen abzusehen, denke ich, hat das Parla-
ent alle Veranlassung, im Sinne des Antrages der Grü-
en nunmehr einen entsprechenden Entschluss zu fas-
en. Darum bitte ich Sie im ganzen Haus.
Danke sehr.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartfrid Wolff von der
DP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es muss
rmal verhindert werden, dass eine Person in mehreren
itgliedstaaten der Europäischen Union einen Asyl-
ntrag stellt. Deshalb ist es Ziel der Dublin-II-Verord-
ung, den EU-Mitgliedstaat festzulegen, der für die Prü-
ng eines von einem Drittstaatsangehörigen gestellten
sylantrags zuständig ist. Zuständig ist meist der Mit-
liedstaat, den der Antragsteller in der EU als ersten be-
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2577
)
)
Hartfrid Wolff
treten hat. Eine Folge dieser Verordnung ist, dass Rück-
führungen möglich sind. Im zuständigen Mitgliedstaat
sollte dann auch ein entsprechendes Asylverfahren
durchgeführt werden.
Die Rückführungen nach Griechenland stehen bereits
seit längerer Zeit zu Recht unter massiver Kritik bekann-
ter Organisationen wie Pro Asyl, Amnesty International
und UNHCR. Die Hauptprobleme sind: Griechenland hat
im Hinblick auf Asylsuchende eine besonders geringe
Anerkennungsquote. Asylsuchende werden bereits für
die Durchführung von Asylverfahren in Haftanlagen un-
tergebracht. Oft können sie gar keinen Asylantrag stellen.
Anwaltliche Vertretung wird ihnen nicht gewährt. Dol-
metscher werden nur bedingt hinzugezogen. Die Verfah-
ren die bereits angesprochene Petrou-Ralli-Straße ist
ein Beispiel dafür dauern viel zu lange und sind un-
glaublich schwierig.
In diese Überlegungen muss sicherlich mit einbezo-
gen werden, dass Griechenland aufgrund seiner geogra-
fischen Lage eine besonders hohe Zahl von Flüchtlingen
aufzunehmen hat. Von allen Seiten, einschließlich des
UNHCR und der EU, wird darauf hingewiesen, dass
Griechenland in den letzten Jahren erhebliche Anstren-
gungen unternommen hat, um die Bedingungen der
Asylverfahren zu verbessern. Jedoch besteht nachweis-
lich deutlicher Nachholbedarf.
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesrepublik Deutsch-
land ihre Hilfe für Griechenland auf dem letzten Rat der
Justiz- und Innenminister in praktischer Art angeboten
hat. Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit mit den
Grenznachbarn Griechenlands wichtig. Die Einhaltung
und Anwendung des Rückübernahmeabkommens mit
der Türkei ist auch insofern besonders bedeutsam.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist an-
gewiesen, jeden Einzelfall der Rücküberstellung nach
Griechenland sorgfältig zu überprüfen. Nach Angaben
von Pro Asyl wird bei besonders schutzwürdigen Grup-
pen, beispielsweise bei Minderjährigen und Kranken, in
Einzelfällen generell von der Abschiebung abgesehen.
Angesichts der prekären Lage der Asylantragsteller in
Griechenland erscheint es sinnvoll, momentan auf Rück-
überstellungen dorthin zu verzichten.
Ein generelles Selbsteintrittsrecht nimmt innerhalb
Europas aktuell ausschließlich Norwegen wahr. Die
diesbezügliche Forderung der Grünen läuft letztlich auf
eine deutsche Sonderrolle hinaus. Dies ist meines Erach-
tens auf Dauer nicht vernünftig.
Griechenland sollte nicht von seiner unabweisbaren
Verpflichtung zur Einhaltung der Menschenrechtsstan-
dards bzw. der Vorgaben der EU im Hinblick auf Asyl-
verfahren entbunden werden. Allerdings ist mittelfristig
eine gerechtere Verteilung der Lasten anzustreben. Die
Bundesrepublik Deutschland hat in den 90er-Jahren die
Hauptlast der Balkanflüchtlinge getragen. Die Verant-
wortung liegt aber bei allen Staaten der EU. Insbeson-
dere auf europäischer Ebene besteht Handlungsbedarf,
gerade wenn es darum geht, gemeinsam entsprechende
Regelungen zu treffen.
W
s
z
d
a
s
c
S
M
th
d
te
In
s
h
F
s
e
m
a
E
d
s
e
is
d
u
h
R
g
v
w
te
K
le
Das ist richtig; trotzdem wollte ich darauf hinweisen.
ir brauchen an dieser Stelle aber vor allem auf europäi-
cher Ebene eine vernünftige Lösung, die dringend an-
umahnen ist. Ich weiß, dass sich die Bundesregierung
er Sensibilität dieses Themas durchaus bewusst ist und
uch handeln möchte.
Es wäre wünschenswert, wenn die Grünen ihre an
ich berechtigte Kritik, vor allem an der Regierung Grie-
henlands, aber auch an den Regierungen anderer EU-
taaten, deutlicher an deren Adresse richten und die
issstände in Griechenland nicht nur in Deutschland
ematisieren würden.
Wenn Europa flüchtlingsfreundlicher werden soll,
arf kein Staat aus seiner Verantwortung für ein korrek-
s Verfahren entlassen werden. Wir sind der Meinung:
dividuell muss noch deutlich mehr getan werden hier
timme ich dem Kollegen Brandt zu , aber generell se-
en wir an dieser Stelle noch keinen Handlungsbedarf.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke von der
raktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zu-
tände im griechischen Asylsystem sind schlicht und
infach verheerend. Wie schlimm es dort zugeht, konnte
an übrigens vor wenigen Wochen in einem heimlich
ufgenommenen Video in einem Fernsehbericht sehen.
s wurde gezeigt, wie in einer Flüchtlingsunterkunft auf
er Insel Lesbos Hunderte von Menschen unter unbe-
chreiblichen hygienischen Bedingungen in einem Raum
ingesperrt waren, schlimmer als in jedem Knast. Dies
t meiner Meinung nach Grund genug, hier zu fordern,
ass die Bundesregierung sich endlich human verhält
nd aufhört, nach Griechenland rückzuschieben. Des-
alb unterstützt die Linke jeden Antrag, der in diese
ichtung geht.
Wir haben schon gehört, dass das Bundesverfassungs-
ericht mehrfach Abschiebungen nach Griechenland
erhindert hat. Die Bundesregierung sagt hier immer
ieder, es handele sich um Einzelfälle, und besteht wei-
rhin auf einer Einzelfallprüfung. Wir haben von dem
ollegen Veit gehört, dass im vergangenen Jahr eine De-
gation des Innenausschusses nach Griechenland gereist
2578 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010
)
)
Ulla Jelpke
ist. Ich frage mich ehrlich, Herr Kollege Brandt, warum
der Innenausschuss Reisen macht, wenn Sie nicht einmal
bereit sind, die Erkenntnisse, die die Delegation mit-
bringt, entsprechend zu verarbeiten.
Ich muss Ihnen wirklich sagen: Es gibt in ganz Athen
eine einzige Ausländerbehörde. Dort stehen an jedem
Freitag bis zu 3 000 Menschen, die einen Asylantrag
stellen wollen. 300 können überhaupt in einer Woche be-
arbeitet werden. Dabei halte ich es schon für einen Skan-
dal, dass dort Polizeioffiziere die Anhörung durchfüh-
ren, die in der Flüchtlingsproblematik nicht ausgebildet
wurden.
Die Linke lehnt die Dublin-II-Verordnung ab, weil die
EU will, dass Flüchtlinge in dem Land einen Antrag stel-
len, das sie zuerst betreten haben.
Im vergangenen Jahr sind von Deutschland in der Tat
nur 200 Rückschiebungen durchgeführt worden; von Ita-
lien sind es doppelt so viele gewesen. Von allen EU-
Staaten insgesamt wurden 3 000 Flüchtlinge nach Grie-
chenland rückgeschoben.
Dem Kollegen Brandt möchte ich hier noch einmal
sehr deutlich sagen, dass die griechische Regierung, die
Parlamentarier oder mit wem auch immer wir dort ge-
sprochen haben, im wahrsten Sinne des Wortes Hilfe
gerufen haben, und zwar nicht nur, was das Asylsystem
angeht, sondern vor allen Dingen, was die Rückschie-
bung angeht. Die Hilfe könnte darin bestehen, dass die
Europäische Union überhaupt darüber diskutiert, wie
eine gerechtere Umverteilung von Flüchtlingsströmen in
den EU-Staaten stattfinden kann. Sie wissen genauso gut
wie ich, dass in die EU-Randstaaten die meisten Flücht-
linge kommen, in den meisten Fällen übrigens über das
Mittelmeer. Hier muss unbedingt eine Regelung her, die
mit sich bringt, dass sich alle EU-Staaten solidarisch
verhalten und das Problem nicht auf die Randländer ab-
schieben.
Fakt ist jedenfalls, dass letztendlich die Flüchtlinge
den Preis zu zahlen haben. Ihre Schutzrechte spielen dort
überhaupt keine Rolle. Darüber kann Deutschland nicht
einfach hinwegsehen.
Das Bundesverfassungsgericht weiß dies im Übrigen
und entscheidet deswegen auch regelmäßig so. Deswe-
gen sollte die Bundesregierung auch die Urteile des Bun-
desverfassungsgerichts genauer beachten. Ich hoffe je-
denfalls, dass von diesem Gericht entschieden werden
wird, dass diese Rückschiebungen nicht mehr stattfinden
dürfen.
Wir unterstützen den Antrag der Grünen, sagen aber
auch: Ein Stopp der Überstellungen nach Griechenland
muss der erste Schritt zu grundsätzlichen Reformen der
europäischen Asylpolitik sein, eine Reform hin zu einem
Asylsystem, das den Geboten der Humanität und vor al-
len Dingen dem Flüchtlingsschutz gerecht wird. Dazu
müssen auch die Bundesregierung und die Fraktionen
dieses Hauses wissen: Wenn sie die Abkommen unter-
z
d
d
n
u
B
d
d
n
L
s
h
O
d
z
z
fa
d
G
m
d
e
v
n
V
n
R
D
d
n
m
li
b
S
E
li
M
A
Z
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
nd an diesem Tage hat der Kollege Josef Winkler von
ündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sonntag ist noch nicht, Herr Kollege Fricke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit
ramatischen Worten hat der griechische Ministerpräsi-
ent, Georgios Papandreou, diese Woche seine Bürgerin-
en und Bürger auf harte Einschnitte vorbereitet. Seinem
and drohe der Bankrott, es befinde sich in einer Kriegs-
ituation, sagte Papandreou. Daher sei die Regierung zu
arten Einschnitten gezwungen, und die Bürger müssten
pfer bringen.
Wie kommen Sie, Herr Kollege Brandt und ich frage
ie ganze CDU/CSU-Fraktion , vor diesem Hintergrund
u der Überzeugung, dass Griechenland ohne Probleme
eitnah einen fairen und anständigen Zugang zu Asylver-
hren gewährleisten kann? Das hat die letzten zwei bis
rei Jahre nicht funktioniert. Angesichts dessen, dass
riechenland vor einem Staatsbankrott steht und der Pre-
ierminister von einer Kriegssituation spricht, muss man
avon ausgehen, dass er anderes im Kopf hat, als sich um
ine Verbesserung des Asylverfahrens zu kümmern.
Wir sollten nicht durch eine forcierte Rückführung
on Flüchtlingen dazu beitragen, dass die Probleme
och zunehmen.
on einem fairen Verfahren, wie man es erwarten kann
ach dem internationalen Flüchtlingsrecht und den EU-
ichtlinien über die Aufnahme von Flüchtlingen, die
urchführung des Asylverfahrens und die Kriterien für
ie Anerkennung von Flüchtlingen auf diese Richtli-
ien haben sich die EU-Mitgliedstaaten geeinigt , kann
an nicht sprechen.
Darum hat das Bundesverfassungsgericht einstwei-
ge Anordnungen erlassen. Es stimmt nicht, wenn Sie
ehaupten, dass sich das Bundesverfassungsgericht zur
ache nicht geäußert hat. Es hat klar gesagt: Für diese
inzelfälle trifft es eine Entscheidung, weil die ihm vor-
egenden Berichte, die darauf hinweisen, dass es im
oment nicht möglich ist, in Griechenland ein faires
sylverfahren zu bekommen wenn man dort überhaupt
ugang zu einem Asylverfahren bekommt , plausibel
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 28. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. März 2010 2579
(C)
)
Josef Philip Winkler
sind. Das hat das Bundesverfassungsgericht als Grund-
lage für seine Eilentscheidung genommen.
Richtig ist: Das Bundesverfassungsgericht hat eine
Grundsatzentscheidung für den Sommer angekündigt.
Diese Grundsatzentscheidung werden wir abwarten müs-
sen. Es wäre aber absurd, davon auszugehen, dass das
Bundesverfassungsgericht einstweilige Anordnungen ein-
fach so erließe
die im Übrigen letzte Woche wieder verlängert wur-
den , ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob es in
Griechenland wirklich Probleme gibt.
Frau Kollegin Jelpke hat auf die Berichte über die
Probleme auf der Insel Lesbos hingewiesen. Sie haben
davon auch im Zeit-Dossier von letzter Woche lesen
können. Es fehlen Tausende Plätze für Asylsuchende. In
den letzten beiden Jahren sind über 10 000 unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge in Griechenland eingetroffen.
In ganz Griechenland gibt es momentan nur 405 Schlaf-
plätze in kindgerechten Unterkünften, und diese sind an
räumt , ist es nicht nachvollziehbar, wie Sie sagen kön-
nen, dass alles in Ordnung sei, dass man die Praxis wei-
terlaufen lassen könne. Sie widersprechen sich auch,
wenn Sie sagen, dass man Hunderte besonders schutzbe-
dürftige Flüchtlinge, weil ihnen in Griechenland Schlim-
mes drohe, auf keinen Fall abschieben könne und das
Amt gute Arbeit mache, wenn es diese Flüchtlinge hier-
behält, dass man alle anderen aber durchaus abschieben
könne in dieses krasse System, wo man keinen Zugang
zu einem Asylverfahren bekommt. Das ist widersprüch-
lich. Insofern haben Sie Ihre Ablehnung unseres Antra-
ges denkbar schlecht begründet, unter Menschenrechts-
gesichtspunkten erst recht.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel Rückschiebungen nach Griechen-
land sofort aussetzen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/822, den An-
ungünstigen Stellen konzentriert.
Da stellen sich schon Fragen. Anders als die Links-
fraktion das jetzt vorgeschlagen hat, geht es uns in unse-
rem Antrag nicht darum, die Dublin-II-Verordnung ein-
fach aufzukündigen. Wir fordern eine Aussetzung der
Rückschiebungen.
Wir haben uns in der Europäischen Union verpflich-
tet, faire Asylverfahren durchzuführen. Richtig ist: In
der Regel führt der Aufnahmestaat das Verfahren durch.
Wenn der Aufnahmestaat den Zugang zu einem Asylver-
fahren nicht gewährleisten kann Herr Veit und andere
haben das geschildert; selbst Herr Wolff hat das einge-
tr
1
fe
s
fr
a
o
B
e
(D
ag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
7/449 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
hlung? Gegenstimmen? Enthaltungen? Die Be-
chlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
aktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
ngenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
rdnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
undestages auf Dienstag, den 16. März 2010, 10 Uhr,
in.
Die Sitzung ist geschlossen.