Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich sage Ihnen einen guten Morgen und rufe gleich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 f und Zusatzpunkt 16 auf:11. a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Strukturreform in der gesetzlichen Krankenversicherung
- Drucksache 13/3608 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesundheitsstrukturgesetzes
- Drucksache 13/3607 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
- Drucksache 13/4691 -Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Kirschnerb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Knoche, Marina Steindor, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNENUmbau und Weiterentwicklung der Gesundheitsstruktur- Drucksachen 13/3612, 13/4691 -Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Kirschnerc) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/3695 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
- Drucksache 13/4692 -Berichterstattung:Abgeordnete Petra Ernstbergerd) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung 1997 - Krankenhaus-Neuordnungsgesetz 1997
- Drucksachen 13/3062, 13/3939 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
- Drucksache 13/4693 -Berichterstattung:AbgeordneterWolfgang Lohmann
e) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/3217 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
- Drucksache 13/4407 -Berichterstattung:AbgeordneterWolfgang Lohmann
Metadaten/Kopzeile:
9542 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1996
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthf) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung
- Drucksache 13/4615 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuß für Fremdenverkehr und Tourismus HaushaltsausschußSportausschußZP16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche, Marina Steindor, Kerstin Müller , weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas solidarische Gesundheitswesen für die Zukunft sichern- Drucksache 13/4675 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit
SportausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus HaushaltsausschußEs liegen drei Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und ein Entschließungsantrag der Gruppe der PDS vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen gesundheitspolitischen Debatte wird über eine Vielzahl von Gesetzentwürfen beraten, eine ungewöhnliche Vielzahl, muß man sagen. Sie ist, zumindest was das GKV-Weiterentwicklungsgesetz, das Krankenhaus-Neuordnungsgesetz 1997 sowie das Sechste und das Achte SGB-V-Änderungsgesetz betrifft, Ergebnis der Entscheidungen des Vermittlungsausschusses vom 6. März dieses Jahres.
Ich möchte zu Beginn auf diesen 6. März 1996 eingehen, da sich dort etwas bisher Einmaliges bei einem Beschluß über ein Krankenhausgesetz ereignet hat. Damals ging es um das Krankenhausstabilisierungsgesetz 1996, mit dem die Koalition die Ausgaben der GKV für den Krankenhausbereich ohne jede Ausnahme budgetieren wollte. Die SPD-Ländermehrheit im Bundesrat hatte zu diesem zustimmungsfreien Gesetz den Vermittlungsausschuß angerufen. Wild entschlossen hat die SPD-Bundestagsfraktion die Öffentlichkeit seinerzeit wissen lassen, daß sie über dieses Gesetz die Koalition zu Verhandlungen über alle vorliegenden Gesetze der dritten Reformstufe zwingen wollte. In der ihm eigenen Bestimmtheit hat uns der Kollege Dreßler in der Einbringungsdebatte am 1. Februar 1996
- ja, immer Sie - mitgeteilt - ich darf einmal zitieren -:
Wir verhandeln über alles, oder wir verhandeln gar nicht.
Weiterhin haben Sie in dieser Debatte gesagt - dabei haben Sie eine Anleihe bei Egon Erwin Kisch gemacht -:
Nichts ist erregender als die Wahrheit.
Nun muß ich allerdings sagen: Der Grad Ihrer Erregtheit, Herr Dreßler, dürfte am 6. März kaum noch steigerungsfähig gewesen sein, als nämlich die Länder im Vermittlungsausschuß mit 16 : 0 die unveränderte Annahme des Koalitionsentwurfs beschlossen.
Der Preis, den die Koalition für diese Zustimmung „gezahlt" hat, bestand lediglich in der Zusage, daß wir vier Gesetzentwürfe gleichzeitig im Bundestag beraten, um sie anschließend gemeinsam dem Bundesrat zuzuleiten. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Daher haben die Medien folgerichtig das Ergebnis vom 6. März zu einem - ich zitiere wieder - eindeutigen Sieg der Koalition erklärt.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß die Koalition bereits bei der Vorstellung der Eckpunkte der dritten Reformstufe erklärt hat, daß es ohne wirksame Reformen im stationären Bereich keine Reform im ambulanten Bereich geben werde.
Mit der unveränderten Verabschiedung des Krankenhausstabilisierungsgesetzes haben wir nicht nur diese Absicht in die Tat umgesetzt, sondern einen psychologisch wichtigen Teilerfolg erzielt. Denn die Gralshüter der Krankenhäuser, nämlich die Länder, die noch beim Gesundheits-Strukturgesetz 1992 durch das Hineinverhandeln zahlreicher Ausnahmetatbestände die Reform im stationären Bereich zum Teil fast bis zur Unwirksamkeit - ich vermeide zu sagen: bis zur Unkenntlichkeit - durchlöchert haben, haben sich angesichts ihrer eigenen Finanzlage erstmals nicht schützend vor die Krankenhäuser gestellt. Es wäre im Interesse der Sache wünschenswert, wenn die Länder beim weiteren Fortgang der Beratungen zum Krankenhaus-Neuordnungsgesetz 1997, das heute zur Verabschiedung ansteht, einen ähnlichen Realitätssinn an den Tag legen würden.
Die bittere oder - um im Dreßlerschen Jargon zu bleiben - erregende Wahrheit des 6. März 1996
Wolfgang Lohmann
bestand insbesondere darin, daß der Wunsch nach einem Lahnstein II nicht in Erfüllung gegangen ist und - ich erlaube mir heute diesen Hinweis - auch in den nächsten Wochen und Monaten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Erfüllung gehen wird.
Dieser 6. März hatte aber auch Auswirkungen auf die Dauer und die Intensität der Beratungen im Ausschuß. Das vorgezeichnete Verfahren der Anrufung des Vermittlungsausschusses mit der Einberufung einer Verhandlungskommission hat die Koalition veranlaßt, jetzt zu den Gesetzentwürfen nur einige wenige Änderungsanträge einzubringen und im übrigen die Beratungen zügig zum Abschluß zu bringen. Es genügt zu diesem Zeitpunkt, daß sich die Koalition über die weitere Zielrichtung einig ist und ihre Position in der Verhandlungskommission mit Nachdruck vertreten wird.
Meine Damen und Herren, eine öffentliche Auseinandersetzung über unsere beiden Reformgesetze findet derzeit leider überhaupt nicht statt. Sie wird überlagert durch den von der Koalition vorgelegten Gesetzentwurf zur Entlastung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung. Ohne Prophet sein zu wollen, wage ich die Prognose, daß wir im weiteren Verlauf der heutigen Debatte seitens der Opposition überwiegend Beiträge zu diesem Gesetz hören werden. Obwohl ich Lust hätte, die zum Teil unglaublichen Äußerungen und Stellungnahmen zu diesem Gesetzentwurf, insbesondere seitens einiger Kassenfunktionäre, zu kommentieren, möchte ich es heute unterlassen, weil es der gesundheitspolitischen Bedeutung der anderen Gesetzentwürfe nicht gerecht würde. Der Kollege Fink wird später zum Beitragsentlastungsgesetz und zu den öffentlichen Reaktionen sicherlich das Notwendige sagen.
Ich möchte mich jetzt darauf beschränken, deutlich zu machen, daß beide Gesetzgebungsvorhaben unabhängig voneinander zu sehen sind. Während das GKV-Weiterentwicklungsgesetz und das Krankenhaus-Neuordnungsgesetz 1997 Strukturgesetze sind, die ihre beitragsentlastende Wirkung erst mittelfristig entfalten, handelt es sich bei dem Beitragsentlastungsgesetz um eine einmalige Sofortmaßnahme zur Reduzierung der Beitragssätze um 0,4 Prozentpunkte. Dies geschieht durch einen Eingriff in den Leistungskatalog der GKV, den nur der Gesetzgeber selbst und niemand anders vornehmen kann. Wir sind während der Entstehungsgeschichte des GKV-Weiterentwicklungsgesetzes von der Selbstverwaltung immer wieder darauf hingewiesen worden, daß die Politik Einschnitte in den Leistungskatalog der GKV selbst verantworten muß.
Gestern haben wir hier ausführlich über die wachstums- und beschäftigungspolitischen Gesetzentwürfe aus dem Hause Blüm diskutiert und die angesichts von vier Millionen Arbeitslosen wirtschaftspolitische Notwendigkeit auch schmerzhafter Eingriffe festgestellt. Das Beitragsentlastungsgesetz setzt den Beitrag der Gesundheitspolitik zur Senkung der Lohnnebenkosten um. Es dient ausschließlich diesem Zweck.
Ein völlig anderes Konzept verfolgen dagegen die Gesetzentwürfe zur dritten Reformstufe. Weil es für das weitere Verfahren, insbesondere auch für die Strategie der Koalition in den Verhandlungskommissionen des Vermittlungsausschusses von großer Bedeutung ist, möchte ich noch einmal die den Gesetzentwürfen zugrunde liegende Grundphilosophie der Koalition erläutern.
Schon bei der Verabschiedung des GesundheitsStrukturgesetzes haben wir zur Überraschung vieler angekündigt, daß wir spätestens im Jahre 1996 über einen weiteren Reformschritt diskutieren werden. Bis Ende 1995 hat die SPD die Notwendigkeit dessen in Abrede gestellt. Die Finanzentwicklung der GKV in den letzten drei Jahren hat uns aber in unserer Einschätzung bestätigt. Ich erspare Ihnen heute, weitere Zahlen in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Frage lautet nun: Wie reagiere ich auf diese Entwicklung? Hier lassen sich zwei elementare Unterschiede zwischen Koalition und SPD festmachen.
In einer Bestandsaufnahme haben wir festgestellt, daß in den vergangenen zwei Jahrzehnten sage und schreibe 46 größere Gesetze mit über 6 800 Einzelbestimmungen in immer kürzer werdenden Abständen mit immer tiefer reglementierenden Maßnahmen in das Gesundheitssystem eingegriffen haben. Ernüchtert mußten wir dabei feststellen, daß alle Kostendämpfungsgesetze die Ausgabenexpansion und den Beitragssatzanstieg bestenfalls unterbrochen, aber nie dauerhaft gebremst haben.
Zu beobachten war auch, daß mit zunehmendem Abstand zum Inkrafttreten gesetzlicher Neuregelungen die ausgabenbegrenzenden Wirkungen und die Ausgabendisziplin der Beteiligten deutlich nachließen. In Reaktion darauf haben der Gesetzgeber und alle Regierungen durch sogenannte Notoperationen zwar punktuelle Wirkungen erzielen können, aber gleichzeitig dabei auch strukturelle Fehlentwicklungen zementiert oder sogar zusätzlich eingeleitet. Leider mußten solche Erfahrungen auch mit dem Gesundheits-Reformgesetz von 1988 und zum Teil mit dem Gesundheits-Strukturgesetz von 1992 gemacht werden.
Zum Einstieg in die Diskussion der dritten Stufe der Gesundheitsreform hatte die Koalition daher von Anfang an, das heißt Anfang 1995, für sich selbst die Frage zu beantworten, ob sie entweder den Weg in staatlichen Dirigismus und Zentralismus durch noch dichtere Reglementierung und noch stärkere Kontrollen fortsetzt oder ob sie eine Kehrtwende wagt und sich für einen Weg hin zu mehr Eigenverantwortung und mehr Gestaltungsfreiheit für die Selbstverwaltung in den Krankenversicherungen entscheidet.
Das Ergebnis - der Beifall nimmt das etwas vorweg - ist bekannt.
Die Koalition hat sich für ein Konzept entschieden, das der Selbstverwaltung Vorfahrt gewährt.
Wolfgang Lohmann
Die SPD hält an der alten, verstaubten Ideologie, am sattsam bekannten Gut-und-Böse-Schema fest, nach dem der Staat regelmäßig auftritt, um zu regeln, zu kontrollieren, zu steuern. Das entspricht dem Lieblingsmotto der SPD: Der Staat wird es schon richten.
Wir glauben das nicht, und wir glauben das seit einigen Jahren immer weniger. Das Gegenteil ist richtig.
So hat Minister Seehofer treffend festgestellt, daß möglicherweise der Staat nicht die Lösung des Problems, sondern das Problem selbst ist.
Deutlich wird dies, wenn Sie sich eine der Hauptursachen des aktuellen Defizits der gesetzlichen Krankenversicherung anschauen.
Herr Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Er wird jetzt fragen, ob ich nicht dabei gewesen sei. Ich habe ja deutlich gesagt: Ich war immer dabei.
Wir warten erst einmal seine Frage ab.
Ja, bitte.
Herr Lohmann, ich frage Sie wirklich:
Wissen Sie denn nicht, was in Ihren Gesetzentwürfen steht?
Oder ist Ihnen nicht bekannt, daß Sie per Gesetz die Senkung des Beitragssatzes vorsehen? Ist dies „Vorfahrt für die Selbstverwaltung"?
Ich habe gleich zu Anfang meiner Ausführungen - das haben Sie dann wohl überhört, weil Sie sich gerade mit Herrn Dreßler über die Erregung vom 6. März unterhalten haben - gesagt, daß man in der Tat die gesetzlichen Regelungen zur Beitragsentlastung von der dritten Stufe der GKV-Reform trennen muß. In der Tat ist das von der Logik her nicht unbedingt zu verbinden, aber in dieser neuen Situation
leisten wir im Rahmen des „Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung" einen eigenen Beitrag zur Kostenentlastung und damit zur Beitragssatzsenkung. Die strukturelle Änderung, über die wir hier ebenfalls reden, wollen wir vernünftig machen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal von der Kollegin Knoche?
Ja, bitte schön, wenn die Frage nicht so lang wie im Ausschuß ist.
Die Ausschüsse sind nichtöffentlich. Komisch, daß Sie das hier so darstellen. Wir hatten da sehr interessante Debatten, -
Monologe meinen Sie!
- die die Öffentlichkeit auf jeden Fall hätte hören sollen.
Meine Frage an Sie, Herr Kollege Lohmann: Sie haben gerade Ihre Rede mit einer sehr tiefgehenden Darstellung Ihres politischen Selbstverständnisses begonnen.
Würden Sie bitte einmal sagen, wie Sie sich die Sozialstaatsgarantien für das Gesundheitswesen und seine Struktur vorstellen, wenn Sie das gesamte Steuerungsinstrumentarium den Wettbewerbsprinzipien des Marktes überlassen?
Nirgendwo in unseren Vorlagen, auch nicht in den Diskussionsbeiträgen, haben wir gesagt, daß wir das gesamte Steuerungs- und Rahmensetzungsvermögen des Staates abschaffen wollen. Wir sagen nur - um das Stichwort „Rahmensetzung" zu betonen -: Der Staat soll überall da, wo die Beteiligten vor Ort, die in der Regel auch mehr davon verstehen, das selbst machen können, es ihnen überlassen und nur den Rahmen dafür setzen, daß der Prozeß fair, gerecht und sozial verträglich abläuft.
Wolfgang Lohmann
- Ich möchte jetzt gerne fortsetzen, Frau Knoche; denn wir kennen ja diese Dialoge, die unsere Zeit zu sehr in Anspruch nehmen würden.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat auf Grund einer weiteren Erfahrung der letzten Jahre die Konsequenzen gezogen: Wer die gesetzliche Krankenversicherung auch im Jahre 2000 und danach auf eine tragfähige, solide finanzielle Grundlage stellen will, wird dauerhaft keinen Erfolg haben, wenn er auf Lösungen setzt, die gegen die Beteiligten durchgesetzt werden müssen.
Konkret heißt das für uns: Wir werden nur mit den Patienten, den Ärzten, den Zahnärzten, der Pharmaindustrie, den Apothekern und den Vertretern der Krankenhauslandschaft und nicht durch ein Handeln gegen sie bei dieser Gesundheitsreform wirklich Erfolg haben. Nur eine Partnerschaftslösung, die auf Konsensfindung in den wesentlichen Punkten aufbaut, kann auf Dauer erfolgreich sein. Eine Partnerschaftslösung, die alle Wünsche zu 100 Prozent erfüllt, gibt es natürlich nicht. Entscheidend ist, daß wir in den Kernfragen mit den Beteiligten weitgehend übereinstimmen.
Für die Gesetze der dritten Reformstufe können wir feststellen, daß wir mit Ausnahme der Deutschen Krankenhausgesellschaft mit allen anderen Beteiligten des deutschen Gesundheitswesens weitgehende Übereinstimmung erzielt haben. Das ist der zweite gravierende Unterschied zwischen Koalition und SPD. Dies wird deutlich, wenn Sie sich vor Augen halten, welche Reaktionen Ihr Gesetzentwurf, Herr Dreßler, in der Öffentlichkeit ausgelöst hat.
Die Koalition hat sich für eine Grundphilosophie entschieden, die das eben Dargestellte umsetzt und die mehr Freiheit und Verantwortung für die Selbstverwaltung bei stabilen Beitragssätzen anstrebt.
Ein solches selbststeuerndes System in der gesetzlichen Krankenversicherung
- zum Glück habe ich den Lautsprecher -, das der Selbstverwaltung einerseits die notwendigen Gestaltungsspielräume eröffnet und andererseits Beitragssatzsteigerungen verhindert, die nicht zur Realisierung des medizinischen Fortschritts erforderlich sind, sondern auf Unwirtschaftlichkeit und Verschwendung zurückzuführen sind, gibt es bisher nicht.
Mit unserem Gesetzentwurf lösen wir staatlichen Interventionismus durch Verantwortung der Selbstverwaltung ab, schaffen im Vertrags- und Leistungsbereich Gestaltungsspielraum und versperren gleichzeitig den bequemen Weg, durch das Drehen an der Beitragssatzschraube expandierende Ausgaben durch zusätzliche Einnahmequellen zu finanzieren.
Nur zur Klarstellung: Das eben Gesagte gilt für die Gesetze der dritten Stufe und nicht, wie eben schon erwähnt, für den Sonderfall Beitragsentlastungsgesetz.
Mit der Organisationsreform und der Kassenwahlfreiheit des Gesundheits-Strukturgesetzes haben wir, übrigens gemeinsam, die Fundamente für eine neue Solidarordnung gelegt. Um mehr Bewegungsmöglichkeiten innerhalb der staatlich vorgegebenen Ordnung zu schaffen, geben wir jetzt der Selbstverwaltung die notwendige Gestaltungsfreiheit.
Von wesentlicher Bedeutung sind die zusätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten, die die Krankenkassen über die Satzung erhalten. Ich denke dabei insbesondere an die freiwilligen Leistungserweiterungen, die die Versicherten der einzelnen Krankenkassen ohne Beteiligung der Arbeitgeber zu finanzieren haben.
Hierzu haben wir mit einem Änderungsantrag den § 54 vor dem Hintergrund der Streichung der Gesundheitsförderung und Prävention um den § 20 SGB V ergänzt. Wir räumen den Krankenkassen die Möglichkeit ein, Leistungen zur Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung als Gestaltungsleistungen in der Satzung vorzusehen. Damit können alle Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung im bisherigen Umfang angeboten werden. - Sie kennen ja die Diskussion, die zur Zeit geführt wird.
Auch wenn die Krankenkassen die Streichung von § 20 nicht zum Anlaß nehmen sollten, sich künftig beim Thema Gesundheitsförderung auf sinnvolle und notwendige Projekte zu beschränken, und sämtlichen Wildwuchs unverändert beibehielten, käme man für die Versicherten auf einen rechnerischen Betrag von etwa 1,40 DM monatlich. Wenn sie dies also gemeinsam wollen, sollen sie dies auch können dürfen. Dann sollte eben von den Versicherten ein Betrag von 1,40 DM - oder welcher Betrag rechnerisch auch herauskommt - bezahlt werden.
Meine Damen und Herren, ich bin mir natürlich völlig darüber im klaren, daß es hier nicht allein auf den konkreten DM-Betrag ankommt, sondern auf eine grundsätzliche Entscheidung der Koalition, welche zukunftsweisenden Lösungen auf die Herausforderungen in den Sozialversicherungssystemen anzubieten sind. Natürlich löst ein solcher Vorschlag bei den Anhängern der Grundüberzeugung, keine Veränderung an der hälftigen Finanzierung der Gesundheitskosten vorzunehmen, die bekannten Abwehrreaktionen aus. Es müßte aber doch eigentlich einleuchtend sein, daß unseren arbeitsmarktpolitischen Problemen mit den alten Antworten nicht beizukommen ist.
Wenn wir in Zukunft Hochleistungsmedizin mit allen medizinischen und technischen Möglichkeiten für die Gesamtheit der Versicherten bis ins hohe Alter zur Verfügung stellen wollen, müssen wir den Mut haben, in vertretbarem Rahmen neue Finanzierungsformen anzuwenden;
Wollgang Lohmann
denn Beitragssatzsteigerungen - das ist ja inzwischen anscheinend doch Allgemeingut geworden - sind nicht mehr akzeptabel.
Doch was geschieht? Es werden uns Totschlagargumente entgegengeschleudert, auch von Ihnen, Herr Kirschner: Weg in die Zweiklassenmedizin, Grund- und Wahlleistung.
Wenn Sie sich, Herr Dreßler, zum Beispiel angesichts der dramatischen Finanzprobleme bei der Rentenversicherung an junge Berufsanfänger mit dem Hinweis wenden, sie sollten sich zusätzlich privat eine Altersversorgung aufbauen, dann frage ich Sie: Wo ist denn da eigentlich der fundamentale Unterschied zu unserem Vorschlag? Umgekehrt könnte ich Ihnen jetzt doch entgegenhalten, daß dies der Weg in die Zweiklassenrentengesellschaft ist, da einige sich die Zusatzversicherung möglicherweise leisten können und andere nicht.
Sie selbst haben auf dem Verbandstag der Betriebskrankenkassen am 26. März dieses Jahres in Bonn gefordert, nicht notwendige Leistungen, die nicht mehr solidarisch abgesichert werden sollen, aus dem Leistungskatalog auszugrenzen, und haben dies mit der Aufforderung verbunden, sich gegebenenfalls auf privater Basis außerhalb des Systems abzusichern.
Ich frage Sie deshalb: Warum soll es nicht möglich sein, auch innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung über rein versichertenfinanzierte Satzungsleistungen Veränderungen vorzunehmen?
Da wir dies im Bereich der Gesundheitsförderung und -prävention zum erstenmal praktizieren, werden wir nun von allen Seiten unter Beschuß genommen. Vor allen Dingen wird mit Tabellen nachgewiesen, welch große und segensreiche Wirkung beispielsweise die Maßnahmen der Gesundheitsförderung gehabt haben. Das mag ja alles sein. Ich muß aber gegenfragen: Warum haben wir, wenn die Prävention so erfolgreich ist, wie es jetzt dargestellt wird, eine steigende Zahl von Krankenhauseinweisungen? Warum haben wir immer mehr Behandlungsfälle bei niedergelassenen Ärzten?
Warum haben wir dann innerhalb von drei Jahren bei den stationären Vorsorge- und Reha-Kuren einen Zuwachs von über 50 Prozent? Warum ist die Krankheitsrate der Bevölkerung nicht drastisch gesunken?
Das heißt, wenn das so erfolgreich gewesen wäre, hätten die Erfolge ja längst sichtbar werden müssen.
Grundsätzliche Einigung zwischen Opposition und Koalition besteht in der Überzeugung, daß wir den ambulanten und den stationären Bereich stärker als bisher verzahnen müssen. Wir tun dies, indem wir hochspezialisierte fachärztliche Versorgung im Krankenhaus für den ambulanten Behandlungsfall erschließen. Dabei kann ich mir in der Diskussion über Einzelheiten durchaus noch Varianten vorstellen.
Nicht vorstellbar und somit nicht verhandelbar ist der SPD-Ansatz der institutionellen Öffnung der Krankenhäuser für die fachärztliche Versorgung. Nachdem der entsprechende SPD-Vorschlag einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hat, wurden anschließend einander diametral entgegenstehende Interpretationen von hochangesehenen Persönlichkeiten - in der SPD hochangesehen; ob dies in der Bevölkerung der Fall ist, weiß ich nicht - veröffentlicht. Während der eine von einem Mißverständnis sprach und davon, daß das alles gar nicht so gemeint sei, bestätigte ein anderer die Kriegserklärung an die niedergelassenen Ärzte.
Die Uneinigkeit wird auch an einem Brief des Gesundheitsministers von Rheinland-Pfalz an die Kassenärztliche Vereinigung Rheinhessen deutlich. Der Brief - übrigens rechtzeitig vor dem 24. März zugestellt - enthält folgende Passage:
Ich möchte Ihnen ausdrücklich erklären, daß ich es mir nicht vorstellen kann, daß die Landesregierung von Rheinland-Pfalz im Gesetzgebungsverfahren einer solchen Regelung
- gemeint ist der SPD-Vorschlag -
zustimmen kann. Genauso wie Sie sehe ich eine Gefährdung der bisherigen Strukturen und der Versorgung durch die niedergelassenen Ärzte. Ich möchte Sie bitten, die Damen und Herren Vorsitzenden der anderen Kassenärztlichen Vereinigungen über die Haltung der Landesregierung zu informieren.
- Rechtzeitig vor der Landtagswahl zugestellt!
Es steht - wie ich eben gesagt habe - eine ganze Reihe anderer Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung, die heute noch eine Würdigung erfahren werden. Wir nehmen Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, die nach dem 31. Dezember 1995 zugelassen werden, von der Festbetragsregelung aus. Auch das ist - vereinfacht gesagt - ein Beitrag, den Standort Deutschland für Forschung und für wirtschaftliches Wachstum zu verbessern.
Wir hatten sogar geglaubt, wir erfüllten damit eine Forderung des Kollegen Dreßler, der auf der Hauptversammlung des VFA am 30. November verkündet hat, er wolle etwas gegen die Arzneimittelreimporte
Wolfgang Lohmann
unternehmen. Ich möchte Sie, Herr Dreßler, noch einmal zitieren:
Etwas völlig anderes ist es, wenn dieser niedrigere Preis auf administrativem Weg durch ausländische Behörden erzwungen wird. Dies hat nichts mit freiem Handel zu tun und ist auch nicht das Risiko des Unternehmers. Hier ist der Reimport betriebswirtschaftlich schädlich und standortpolitisch fragwürdig.
So ist es.
Wir haben Sie dann beim Wort genommen. Inzwischen befinden Sie sich, was die Richtung betrifft, aber schon wieder auf einem anderen Dampfer.
Herr Lohmann, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Die Koalition verfügt über die überzeugenderen Konzepte. Wir haben eine Partnerschaft mit den meisten Beteiligten im Gesundheitswesen. Wir brauchen neue Wege und mutige Lösungsansätze. Bitte überwinden Sie Ihre ideologische Denkblockade und arbeiten Sie mit uns zusammen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte des heutigen Tages ist die direkte Fortsetzung unserer gestrigen politischen Auseinandersetzung.
Die heutigen Vorlagen zeigen: Die sozialpolitischen Kürzungsorgien der Koalition sollen nun auch in das Gesundheitswesen verlängert werden.
Ich will kein Mißverständnis aufkommen lassen: Nicht, daß es in diesem Hause etwa Streit darüber gäbe, daß in unserem Gesundheitswesen erhebliche Rationalisierungsreserven schlummern. Diese gibt es in der Tat, und sie müssen freigesetzt und verwirklicht werden. Genau das aber tut die Regierung nicht, weder mit dem, was heute in der zweiten und dritten Lesung des GKV-Weiterentwicklungsgesetzes, noch mit dem, was in erster Lesung als Beitragsentlastungsgesetz hier beraten werden soll. Beide Gesetze lassen die systemimmanenten strukturellen Schwächen im Gesundheitswesen unangetastet.
Sie verfolgen hingegen ein anderes Ziel: Sie wollen den sozialen Charakter unserer Krankenversicherung aushöhlen. In letzter Konsequenz geht es den Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. überhaupt nicht um das Gesundheitswesen.
Es geht ihnen nicht um die Einlösung der eigentlichen politischen Verpflichtung dieses Hauses, den Menschen in Deutschland eine optimale Gesundheitsversorgung zu kostengünstigen Konditionen zu bieten.
Es geht der Koalition in Wahrheit um gesellschaftspolitische Veränderungen.
Um diese zu erreichen, soll das Gesundheitswesen lediglich als Instrument herhalten. Der Umfang der Gesundheitssicherung soll offenkundig zukünftig in Abhängigkeit von Wirtschaft und Konjunktur ausgestaltet werden. Die Absicherung der Menschen gegen Krankheit soll eine Restgröße werden und durch das bestimmt werden, was wirtschafts- und finanzpolitisch übrigbleibt.
Kein Zweifel: Das paßt nahtlos in die gesellschaftspolitische Philosophie des Kürzungspaketes, das gestern zur Debatte stand. Denn herhalten müssen auch dieses Mal Lohnnebenkosten, Standort und internationale Wettbewerbsfähigkeit.
Wer die gesellschaftspolitische Diskussion in unserem Lande ehrlich bewertet, der kommt an der Feststellung nicht vorbei: Der Sozialstaat ist unter Druck geraten. Wer so manchen Beitrag zu dieser Diskussion gewichtet, dem drängt sich eine zweite Feststellung auf: Der gesellschaftliche Konsens über Rang und Aufgabe unseres Sozialstaates ist zerbrochen. Schlimmer noch: Einige Gruppen auch in diesem Hause stellen den Sozialstaat zur Disposition.
Sie können es sich mittlerweile sogar leisten, dies offen und unverhüllt zu tun.
Das alles, meine Damen und Herren, ist nicht vom Himmel gefallen, sondern ist Ergebnis einer gezielten Strategie zur Veränderung der Bewußtseinslage in unserer Gesellschaft. Die regierungsamtlich geschürte Debatte um die Höhe der deutschen Lohnnebenkosten, die angeblich die internationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes bedroht, ist kein Zu-
Rudolf Dreßler
fall. Das dabei eingesetzte Instrumentarium der Tatsachenverdrehung läßt vielmehr System erkennen.
Bewußt unterschlagen wird dabei nämlich, daß die eigentliche Meßgröße für die internationale Wettbewerbsfähigkeit, die Lohnstückkosten, also die Summe aus direkten Lohn- und aus Lohnnebenkosten, eher stabil ist und daß Deutschland dabei im internationalen Konzert im unteren Mittelfeld liegt.
Bewußt unterschlagen wird auch, daß es in den letzten Jahren nur einen einzigen Produzenten höherer Lohnnebenkosten gegeben hat: die regierungsamtliche Politik mit ihrem Unterfangen, die Folgen der deutschen Einheit hauptsächlich über die Kassen der Sozialversicherung abzuwickeln.
Auch die sogenannte Standortdebatte ist kein Zufall; auch sie ist inszeniert. Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik keine Debatte, die in der internationalen Wirtschaftswelt unserem Land so geschadet hat und noch immer schadet wie die leichtfertig vom Zaun gebrochene Standortdebatte.
Meine Damen und Herren, ich frage Sie - Hand aufs Herz -: Würden Sie in einem Laden kaufen, dessen Besitzer Möllemann selbst behauptet, eigentlich sei alles zu teuer, Lage und Umgebung des Betriebes seien mies und um die Qualität habe es auch schon einmal besser gestanden? Ich wiederhole: Das ist kein Zufall. Hier werden vielmehr gezielt hochsensible Sachverhalte und Problemstellungen instrumentalisiert, um sonst nicht erreichbare einseitige gesellschaftspolitische Veränderungen einzuleiten.
Es geht also überhaupt nicht um den Standort Deutschland, es geht in Wahrheit um die Struktur unserer Gesellschaft.
Nicht die Standortqualität soll verbessert, sondern
die Gesellschaft soll verändert werden. Und dafür
muß jetzt auch das Gesundheitswesen in die Mangel.
Ich bin weit davon entfernt, die Probleme, die wir in Deutschland haben und die auch im Gesundheitswesen offenkundig sind, wegreden zu wollen. Aber nur eine korrekte Analyse ihrer Ursachen kann wirklich Abhilfe schaffen. Es gibt keine die Fakten ersetzende Kraft der politischen Selbstsuggestion. Wer die überlasteten Kassen der Sozialversicherungssysteme als diagnostischen Beleg für das drohende Ende oder die ökonomische Unhaltbarkeit des Sozialstaates anführt, der mag zwar den Wunsch zum Vater seines Gedankens machen, aber er geht an der Wirklichkeit vorbei; vor allem verschließt er sich der entscheidenden Einsicht.
Diese Einsicht ist schmerzlich, sie ist aber unwiderlegbar: Unsere Sozialversicherungssysteme, die Renten-, die Kranken-, die Pflege-, die Unfall- und die Arbeitslosenversicherung, sind bei anhaltender Massenarbeitslosigkeit unfinanzierbar; denn Massenarbeitslosigkeit ist vielmehr ein nicht finanzierbares Risiko.
Nicht der Sozialstaat provoziert Massenarbeitslosigkeit - wie uns eingeredet wird -, sondern die Massenarbeitslosigkeit zerstört auf Dauer den Sozialstaat und seine Systeme. Die Zahlen belegen das.
Die Behauptung von der angeblichen Überlastung unserer Volkswirtschaft durch die Kosten für Sozialleistungen läßt sich nicht aufrechterhalten. Die Sozialleistungsquote in Westdeutschland ist von über 35 Prozent zu Beginn der 80er Jahre auf rund 30 Prozent im Jahre 1995 zurückgegangen. Wäre die Zahl der Arbeitslosen nicht auf heutigem, sondern auf dem Niveau von 1982, läge sie sogar deutlich unter 30 Prozent.
Ein Vergleich wirklich vergleichbarer Tatbestände also zeigt: Das Gerede von ausufernden, nicht finanzierbaren sozialen Belastungen ist eine Legende, ist vordergründige politische Stimmungsmache.
Und in den Einzelfeldern, in denen die Belastung tatsächlich angestiegen ist, ist es das Ergebnis der Politik dieser Bundesregierung.
Ich führe diese Tatsachen hier an, weil ich deutlich machen möchte, auf welcher ökonomischen und gesellschaftspolitischen Basis das derzeit von seiten der Bundesregierung vorgestellte Kürzungspaket steht. Das gilt auch für die sogenannte Beitragsentlastungsgesetzgebung aus dem Hause Seehofer. Zunächst einmal gilt auch für diesen Gesetzestitel, was für die Titel der anderen Kürzungsgesetze gestern gesagt wurde. Er stammt aus der Orwellschen Sprachschule.
In Wahrheit wird nämlich nicht entlastet,
in Wahrheit wird belastet. Das Beitragsentlastungsgesetz ist tatsächlich ein Krankenbelastungsgesetz.
Wir werden über die verhängnisvollen gesundheits- und sozialpolitischen Auswirkungen des Gesetzes in diesem Hause heftig streiten. Das ist notwendig, das ist richtig, das ist bei vielen Gesetzen ge-
Rudolf Dreßler
schehen. Aber worüber es bisher keinen Streit gegeben hat, das ist die gemeinsame Grundsatztreue zu den Eckpfeilern unseres Gesundheitswesens. Worüber es deshalb auch keinen Streit geben dürfte, das ist die Ausrichtung unseres Systems am Prinzip der Selbstverwaltung, und zwar einer Selbstverwaltung mit eigenständiger Verantwortlichkeit, eigener Finanzhoheit und Kompetenz.
Ein Blick in den Gesetzentwurf zeigt, daß dieser bisher parteiübergreifende Konsens nicht mehr existiert; denn erstmals beabsichtigt eine Bundesregierung, einen Krankenversicherungsbeitrag nicht durch die Entscheidung der Selbstverwaltung, sondern durch Gesetz zu fixieren. Das ist ein grundsätzlicher Bruch mit dem Prinzip der Selbstverwaltung, der für die Sozialdemokraten in jeder Hinsicht inakzeptabel ist.
Wer einmal das Tabu der gesetzlichen Beitragssatzfixierung in der Krankenversicherung bricht, wird davon nie wieder loskommen.
Ich prophezeie dieser Regierung, daß ein solcher Schritt sie einholen wird, spätestens im nächsten Jahr. Die Frage einer staatlichen Finanzwirtschaft in der Krankenversicherung, die Ausgaben und Einnahmen per Gesetz regelt, ist danach keine Frage mehr des Ob, sondern des Wann.
Gesetzliche Beitragsfixierung und Selbstverwaltungsprinzip sind miteinander unvereinbar. Wer der Selbstverwaltung die eigenständige Finanzverantwortung nimmt, der darf in der Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung schon gegenwärtig besichtigen, was an eigenverantwortlichen inhaltlichen Gestaltungsmöglichkeiten noch übrigbleibt.
Beitragssätze gesetzlich zu fixieren ist weder verboten noch verfassungswidrig. Das kann man natürlich wollen. Dann soll man aber offen sagen, daß man das Prinzip der Selbstverwaltung abschaffen will - statt wie der Bundesgesundheitsminister die Vorfahrt für Selbstverwaltung zu proklamieren.
Im übrigen: Wenn es stimmt, was derzeit hinter vorgehaltener Hand geflüstert wird - daß alle Kassen auf Grund des im Oktober dieses Jahres einsetzenden Wettbewerbs um die Mitglieder in der laufenden Rechnungsperiode mit einer Beitragsunterdeckung von 0,5 bis 0,7 Prozent arbeiten -, dann weiß jeder, was eine gesetzliche Beitragsfixierung auf aktuellem Niveau bedeutet: die gesetzliche Festschreibung eines Defizits von bis zu 10 Milliarden DM.
Wie wollen CDU/CSU und F.D.P. das wirklich verantworten? Wer will verantworten, daß zu diesem Milliardendefizit am 1. Januar 1997 nochmals eine erzwungene Beitragssatzsenkung von 0,4 Prozent hinzukommt, wie der Gesetzentwurf der Regierung das vorsieht?
Wenn diese Defizite im Verlauf des kommenden Jahres durch eine kräftige Beitragssatzerhöhung verpflichtend ausgeglichen werden müssen, dann gilt natürlich wieder das Seehofer-Motto „Vorfahrt für die Selbstverwaltung" in der Originalversion. Für diese wenig erfreuliche Arbeit wird tatsächlich die Selbstverwaltung in die Verantwortung genommen.
Der eigentlich verantwortliche Minister wird die Gelegenheit nutzen, in aller Öffentlichkeit Hohn über die Selbstverwaltung auszugießen, nach dem Motto: Ihr seht es ja, kaum ist der gesetzliche Beitragsstopp aufgehoben und die Selbstverwaltung eigenverantwortlich am Zuge, wird wieder alles teurer; denn die Beiträge steigen und steigen. Er wird daraus die politische Legitimation ziehen und abermals per Gesetz in die Beitragsautonomie eingreifen - natürlich aus zwingenden sachlichen Gründen. Es war ja schon immer so, Herr Geißler: Die besten Sachzwänge sind die, die man selbst konstruiert hat. Soll das verantwortliche Politik sein?
- Herr Geißler, Sie können das drehen und wenden, wie Sie wollen: Ich nenne das, was hier vorgelegt wird, hinterlistige Roßtäuscherei und sonst gar nichts.
Für die Sozialdemokraten ist die gesetzliche Beitragsfixierung der institutionell entscheidende Schritt zur Systemzerstörung. Wir werden ihn daher mit Entschiedenheit bekämpfen.
Daß für die SPD-Fraktion sowohl das sogenannte Beitragsentlastungsgesetz als auch das GKV-Weiterentwicklungsgesetz nicht nur von der politischen Grundabsicht, sondern auch von den Einzelbestimmungen her unannehmbar ist, kann die Koalition eigentlich kaum überraschen. Ich will das an Hand einiger Beispiele begründen.
Beispiel eins: Zahnersatz. Herr Seehofer sieht in seinem Gesetz vor, daß es Zahnersatz zukünftig nur für jene geben soll, die am 1. Januar 1997 18 Jahre alt sein werden.
Das hört sich zunächst ganz harmlos an: kein Zahnersatz mehr für Kinder und Jugendliche; denn die bräuchten ihn in der Regel ohnehin nicht. Herr Seehofer, warum sagen Sie diesen jungen Menschen nicht, daß sie für den Rest ihres Lebens - und würden sie 120 Jahre alt - keinen Zahnersatz mehr erhalten werden.
Warum verschweigen Sie den jungen Leuten, daß dabei im Laufe eines Versichertenlebens nach Schätzungen der Krankenkassen Kosten von bis zu 100 000 DM auf sie zukommen können, die sie natürlich selbst zu finanzieren haben?
Rudolf Dreßler
Warum verschweigen Sie, daß die jungen Leute, obwohl sie selbst nie Zahnersatzleistungen von ihrer Krankenkasse erhalten werden, sondern den Zahnersatz selbst bezahlen müssen, gleichwohl mit ihrem Beitragsgroschen den Zahnersatz der Älteren finanzieren müssen?
Warum verschweigen Sie, daß Sie mit Ihrem Vorschlag den sehnlichsten Wunsch der Zahnärzte erfüllen, die schon immer nichts lieber wollten, als zukünftig das, was sie bisher zu Kassenhonorarsätzen abrechnen mußten, zu Privathonorarsätzen abrechnen zu können, und zwar jede Krone, jede Brücke und jede Vollprothese?
Zahnersatz für diejenigen, die am 1. Januar 1997 18 Jahre und jünger sind, wird es nach Seehoferscher Absicht für den Rest ihres Lebens nur noch dann auf Kosten der Krankenkassen geben, wenn das ein Unfall oder eine ernste Erkrankung erfordert. Wissen Sie wirklich, was das bedeutet? Erst das Magengeschwür, das durch Störungen der Kaufunktion wegen fehlender Zähne entstanden ist, berechtigt zur Versorgung mit Zahnersatz.
Das, Herr Seehofer, hat mit Gesundheitspolitik nichts mehr zu tun; das ist der blanke, die Menschen mißachtende Irrsinn und sonst überhaupt nichts.
Beispiel zwei: Gesundheitsfürsorge. Es gibt derzeit allerlei öffentliche Aufregung über die Vorbereitungen einzelner Krankenkassen auf den Wettbewerbsprozeß. Das bezieht sich vor allem auf Maßnahmen der Mitgliederwerbung und das, was von einzelnen Krankenkassen als Begleit- oder Lockangeboten dazu bereitgehalten wird. Die Koalition möge uns bitte nicht erklären, daß vieles von dem, was sich da abspielt, Unsinn ist. Man weise uns bitte auch nicht darauf hin, daß das der Vergeudung von Mitgliedsbeiträgen manchmal bedrohlich nahe kommt. Beides wissen wir.
Wir haben Wettbewerb gewollt, und damit haben wir auch die freie Entscheidung der an ihm teilnehmenden Institutionen und Individuen gewollt. Wer meint, im Rahmen des Wettbewerbs teures Geld für Zweifelhaftigkeiten herauswerfen zu müssen, wird das über höhere Beiträge auffangen müssen, also in der Konsequenz an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Ich jedenfalls denke nicht im Traum daran, nach aufsichtsrechtlichen Maßnahmen zu rufen, um das zu verhindern. Die wettbewerbliche Konsequenz daraus ist vielmehr die Aufforderung an die Versicherten: Laßt euch das nicht gefallen! Wechselt zu jenen Kassen, die beitragsgünstiger sind, weil sie diesen Unfug nicht mitmachen!
Was das sogenannte Beitragsentlastungsgesetz angeht, füge ich deshalb an: Wer wie Herr Seehofer die Mißgriffe einzelner Krankenkassen in Sachen Wettbewerb - vom Bauchtanz bis zum Kochkurs auf Kassenkosten - als Alibi benutzt, um die gesamte Gesundheitsfürsorge nach § 20 des Sozialgesetzbuchs V aus dem Leistungskatalog zu entfernen, der ist kein Gesundheitspolitiker, sondern ein fast schon hemmungsloser Populist.
Er definiert die Sünden einzelner flugs zum Regelfall für das System um, damit er auf kaltem Wege das beseitigen kann, was ihn schon immer störte.
Damit das klar ist: Die Gesundheitsfürsorge ist sinnvoller Bestandteil einer Politik zur Vorbeugung gegen Krankheiten. Sie ist unverzichtbar. Wer dennoch auf sie verzichtet, handelt unverantwortlich.
Beispiel drei: Selbstbeteiligung. „Mit mir wird es weitere Belastungen der Patienten, etwa eine Ausdehnung der Selbstbeteiligung, nicht geben" - so Bundesgesundheitsminister Seehofer publikumswirksam noch zu Beginn dieses Jahres. Was macht er tatsächlich? Nach dem Motto: „Was schert mich mein Geschwätz von gestern?" erhöht er die Selbstbeteiligung doch: bei Arzneimitteln je nach Packungsgröße, bei Kuren oder bei dem, was nach dem Kahlschlag bei der Rehabilitation davon noch übrigbleibt.
Wie heißt es weiter bei der Koalition? „Alle Selbstbeteiligungen werden jeweils der wirtschaftlichen Entwicklung angepaßt". Oder noch schöner: „Sie werden dynamisiert". Hört sich das nicht toll an? In Wahrheit ist das aber höchst unanständig; denn es bedeutet: Alle Selbstbeteiligungen werden in regelmäßigen Abständen ständig weiter erhöht.
Das Gesetz kennt im Zusammenhang mit der Selbstbeteiligung die sogenannte Überforderungsklausel, die, wie ihr Name schon sagt, verhindern soll, daß kranke Menschen durch zu hohe Selbstbeteiligungsleistungen finanziell überfordert werden. Die Überforderungsklausel wirkt als Belastungsobergrenze und besagt, daß Versicherte mit beitragsrelevantem Einkommen bis zu 6 000 DM im Monat höchstens 2 Prozent ihres monatlichen Einkommens als Selbstbeteiligung aufbringen müssen, bevor sie befreit werden, und besserverdienende Versicherte mit einem Einkommen in Höhe von über 6 000 DM monatlich 4 Prozent zu bezahlen haben.
Was machen Herr Seehofer und die Christlich-Demokratische Union? Nachdem die Selbstbeteiligung zunächst für alle erhöht wurde, senken Sie die Belastungsobergrenze für die Besserverdienenden von 4 auf 2 Prozent - aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung, hört man.
Nun will ich mich nicht erkühnen vorzuschlagen, wie man diese Dinge von der Verwaltung noch einfacher machen lassen könnte, etwa indem man die unsinnige Selbstbeteiligung ganz abschafft.
Rudolf Dreßler
Ich will statt dessen eine schlichte Frage stellen. Herr Seehofer, wann machen Sie endlich eine Politik, bei der nicht nur der Besserverdienende, sondern auch Käthe und Otto Normalverbraucher in den Genuß solch großartiger Verwaltungsvereinfachungen kommen?
Wann beginnen Sie damit?
Die drei aufgeführten Beispiele, meine Damen und Herren, ihre Einzelheiten und Folgewirkungen belegen, warum die sozialdemokratische Bundestagsfraktion den Gesundheitsgesetzen ihre Zustimmung verweigern wird. Sie sind für uns in jeder Hinsicht inakzeptabel.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Knoche.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Zeig mir deine Zähne, und ich sage dir wie arm du bist. Autoritäre Selbstverschuldungstheorien durch Leistungsentzug und Bestrafungsrituale durch Zuzahlung gegenüber Kranken zeugt von dem Geist ihrer Verfechter. Das ist nicht die Philosophie des Sozialstaats.
Die Prävention faktisch abzuschaffen, bedeutet das Aus für 50 000 Selbsthilfegruppen. Der Verzicht auf betriebliche Gesundheitsprävention kostet die Systeme insgesamt jährlich zirka 100 Milliarden DM. 1,8 Milliarden DM Einsparung durch Kürzung des Krankengeldes, 2,3 Milliarden DM Mehreinnahmen durch erhöhte Zuzahlung, 1,3 Milliarden DM Einsparung durch Verzicht auf Prävention: Was ist das für eine Relation zu der Wirkung von Präventionen!
Der Gesundheitsminister macht sich zum Büttel der Arbeitgeberschaft, die ihn kürzlich schon wegen seiner überzogenen regressiven Politik kritisierte, und läßt Kranke die Zeche für die Lohndumpingpolitik und die Lohnnebenkostensenkung zahlen. Keine Zeit für Illusionen. Die CDU/CSU hat die christliche Sozialethik längst als Ballast abgeworfen.
Die Regierung provoziert den sozialen Frieden im Land. Was sie an dieser Stelle ernten muß, ist wirklich Widerstand.
Sie will die Zustimmung für ihr rabiates Kürzungspaket mit einem kurzen parlamentarischen Prozeß beenden. Mit machtpolitischer Siegergeste zeigt diese Regierung eigentlich ein sehr kaltes Herz. Die
Bevölkerung weiß, was diese Regierung meint, wenn sie von Selbstverantwortung für Krankheit redet.
Es ist die Aufkündigung einer emanzipatorischen Gesundheitspolitik. Es ist die Individualisierung der Krankheitsrisiken. Es ist der sukzessive Ausstieg aus der dualen Finanzierung der Krankenversicherung. Es ist der Abschied von dem ungeteilten Sachleistungsprinzip und damit eine Richtungswende in vorbismarcksche Zeit.
Diese wirklich obszönen Sparorgien,
die sie jetzt vorgelegt haben, gehen gegen die soziale Moral in diesem Land.
- Ich werde Ihnen jetzt dazu etwas sagen, Herr Zöller!
Zum Gesundheitsstrukturgesetz - ich beschränke mich dabei auf drei notwendige Feststellungen -: Erstens. Es gibt keine Not und keine Krise im Gesundheitswesen.
Nichts rechtfertigt es, ein intaktes System den Kräften des Marktes zu überlassen. Es wird wahrheitswidrig behauptet, wir hätten eine Kostenexplosion. Sie dient als Rechtfertigung für den Sozialstaatsausstieg.
Richtig ist: Bei erheblichen Leistungssteigerungen liegen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung seit 20 Jahren konstant bei 6 Prozent des Bruttosozialprodukts. 2 Millionen Menschen sind in diesem hochinnovativen Wirtschaftszweig beschäftigt. Die geringe Lohnquote stellt das größte Finanzrisiko dar. Es gibt keine Ausgabenexplosion, aber eine Einnahmenimplosion: Weil die Lohnquote durch Massenarbeitslosigkeit kontinuierlich sinkt, sind die Beitragssätze gestiegen,
nicht jedoch, weil es ein überbordendes Anspruchsdenken der Versicherten oder demographisch bedingte Belastungsgrenzen gäbe. Das muß einmal deutlich gesagt werden.
Die aktuellen Defizite der Kassen von 5 Milliarden DM resultieren aus Kostenverschiebungen, weil sie unter anderem an eine Wertschöpfungssteuer als neuen Arbeitgeberanteil bei Jobless-growth nicht zu denken wagen. Die Beitragssatzsteigerung anders zu begründen wäre gesundheitsökonomisch grob unlauter. Die Instrumentalisierung betriebswirtschaftlicher Bilanzen der Kassen zu Leistungsausgrenzungen grenzt an politischen Mißbrauch, den die Regierung hier für einen umfassenden Systembruch betreibt.
Monika Knoche
Allein aus Gerechtigkeitsgründen ist es geboten, eine egalitärere Versicherungspflicht herzustellen. Würden die Beitragsbemessungsgrenze und die Pflichtversicherungsgrenze dem Gleichstellungsgrundsatz folgend der Rentenversicherung angeglichen, könnten die Beitragssätze sofort um 0,67 Prozentpunkte gesenkt werden. Wie verlogen ist doch das Argument, man müsse alternativlos Leistungen streichen, um eine Reduzierung von 0,4 Prozentpunkten zu erreichen!
Einer finanziell leistungsfähigen Schicht von 10 Prozent der Erwerbstätigen ist es gestattet, sich über Privatkassen von der Solidarpflicht zu suspendieren.
Das auch noch zu fördern ist angesichts der strukturellen Probleme der Arbeitsmarktlage nicht nur nicht zukunftsfähig; wir Grünen finden, das wird allmählich fahrlässig.
Meine Herren von der rechten Bank, Ihr Pakt mit den Arbeitgebern, Ihre Oberschichtprivilegierung hat Sie in einen sozialdarwinistischen Gedankensumpf gezogen.
Das haben wir an diesem Kürzungspaket gesehen. Sie haben in der Beitragsfrage nämlich nie ernsthaft ökonomisch vernünftige und gesundheitspolitisch unerläßliche Argumente abgewogen.
Zweitens. Die Effizienzreserven liegen in einem systemimmanenten Prozeß, in einer systemimmanenten Strukturreform und nicht im Systembruch. Detailliert liegt ein wirklich wegweisendes Konzept von uns vor, das in der gesamten Diskussion mit Sachverständigen sehr wohl positiv beurteilt worden ist.
Wir haben heute zur Abstimmung Entschließungsanträge vorgelegt. Sie können nachlesen, wie man in der Gesundheitspolitik einen zukunftsweisenden Weg gehen kann.
Der deutsche Sonderweg „ambulanter Sicherstellungsauftrag der Kassenärzte" verhindert die notwendige Verzahnung. Das - auch diese Meinung wird in Expertenkreisen ungeteilt bestätigt - führt zu vermeidbaren Mehrausgaben von 20 Milliarden DM zu Lasten der Versicherten.
Mit einer Öffnung der Krankenhäuser für ambulante spezialärztliche Versorgung, die Sie mit Hartnäckigkeit und mit Verve ablehnen, und mit einer Neuorientierung auf die immer dringlicher werdenden integrierten Versorgungsnotwendigkeiten könnten teure und gesundheitspolitisch unsinnige und zum Teil patientenschädigende Doppelstrukturen vermieden werden. Das wissen Sie, seit Sie die Unmöglichkeit erkannt haben, für das Ausufern des ambulanten Operierens eine bedarfsgerechte Festlegung zu treffen. Nichtsdestotrotz chaotisieren Sie
über die Förderung ambulanter Praxiskliniken die bestehende Struktur zusätzlich.
Wenn schon die FAZ in dieser Woche bescheinigt - ich zitiere -:
Was jetzt beschlossen werden soll, wird ... zur ständigen Verschärfung der bürokratischen Dirigismen ... zur willkürlichen Rationierung ... notwendiger medizinischer Leistungen führen
zeigt das, daß diese Regierung, daß der zuständige Minister selbst in den konservativsten Teilen der Gesellschaft jeglichen Kredit für seine Gesetze verspielt hat.
Drittens. Was verbirgt sich hinter der euphemistischen Umschreibung „Vorfahrt für die Selbstverwaltung"? Es ist das Wettbewerbsprinzip. Dahinter versteckt sich die Preisgabe staatlicher Daseinsvorsorge für das hohe Gut Gesundheit. Es ist eine Ausrichtung des Gesundheitswesens in einer sich verfestigenden Zweidrittelgesellschaft auf eine Zweiklassenmedizin.
Konkurrenz wird das bürgerrechtliche Gleichheitsprinzip, nämlich das der freien Arzt- und Krankenhauswahl, zur Disposition stellen. Der Vertrags- und Kassenwettbewerb ist ein gesellschaftliches Experiment. Die Konkurrenz aller Akteure würde in allen Bereichen der Nachfrage und des Angebots von Gesundheitsleistungen zur Unübersichtlichkeit, zu Niveauverfall aller medizinischen, pflegerischen und psychosozialen Leistungsbereiche führen.
Einen sozialen Wettbewerb gibt es nicht. Wettbewerb lenkt die Ressourcen zu denen um, die jetzt schon die größte Zahlungsfähigkeit und zugleich die geringsten Krankheitsrisiken haben. Gewaltige Fehlallokationen, größere Kosten und Unterversorgung besonders bedürftiger Schichten wären die zwangsläufigen Folgen, und zwar auf der Ebene sowohl des ambulanten als auch des stationären Bereichs.
Wenn es keine einheitlichen und gemeinsamen Verträge der Kassen mit den Krankenhäusern und Versicherten gibt, werden jene Kassen, die die günstigsten Versicherten haben, die Drei-Sterne-Häuser und die extraordinären Arztpraxen unter Vertrag nehmen und mit ihnen exklusive Leistungspakete vereinbaren. Versicherte müssen schauen, ob ihre Versicherungskarte überhaupt eine Eintrittskarte in das Krankenhaus oder die Arztpraxis ihrer Wahl ist.
Das Zusammenwirken all dieser Faktoren wird unweigerlich dieses System destruieren. Es wird zu einem großen Gefälle kommen; ich habe das vom Anfang der Debatte an gesagt. Wenn Sie die Einheitlichkeit der Vertragsschließung aufheben, werden Sie das in Gang setzen.
Nach all den Diskussionen, die wir geführt haben, kann ich nur sagen, daß die Regierung weiß, was sie tut, daß sie weiß, welches Destruktionspotential sie freisetzt. Unter diesen Wettbewerbskautelen, die nichts mehr mit „Lahnstein" zu tun haben - das muß man an dieser Stelle auch der SPD zugute halten -, die die Krankenhäuser in die Zwangsjacke der Ver-
Monika Knoche
körperschaftung stecken und sie gegenseitig für Unwirtschaftlichkeiten verantwortlich machen, wird es auch hier zu einem beispiellosen Desaster kommen.
Ich will nun das Szenario nicht noch weiter ausmalen, weil ich weiß, daß es ungeheuer schwer ist, bei der Kompliziertheit des Gesundheitssystems zu vermitteln, welche Wirkungen sich zeigen werden, wenn heute mit diesen Gesetzen der Systembruch beschlossen wird. Aber ich kann sicher sagen: Wenn diese Gesetze Realität werden, wird nichts mehr bleiben, wie es ist. Wir werden unser Gesundheitssystem in einigen Jahren nicht mehr wiedererkennen.
Es darf unter den gesetzlich Versicherten keinen Wettbewerb um günstige Versicherte geben. Allen ist klar: Mit Satzungsleistungen, die demagogisch verbrämt als Wahlfreiheit daherkommen, wird eben nichts mehr bleiben können, wie es war. Mit einem solchen Wettbewerb wird Gesundheit zur Ware. Und das drückt sich in dem System der Beitragsrückerstattungen und allen anderen Privatversicherungselementen aus, die Sie jetzt in die Krankenkasse einführen wollen.
In einem stimme ich Herrn Dreßler aus vollem Herzen zu.
- Ja, er hat es auf den Punkt gebracht -. Er hat das gesagt, was Sie die ganze Zeit verstecken und undercovermäßig der Öffentlichkeit nicht sagen wollen: Die Benachteiligten sollen heute schon lernen, was sie morgen erwartet, nämlich nichts anderes als eine nackte Grundversorgung.
Mit ihren Gesetzen hat diese Regierung jetzt den politischen Offenbarungseid geleistet. Sie will die Sozialstaatlichkeit nicht mehr fortschreiben. Sie will den Systembruch und nimmt die Zweiklassenmedizin in Kauf. Der Markt wird die Wunden, die diesem System durch die neuen Gesetze geschlagen werden, nicht nur nicht heilen können, sondern auch vertiefen.
Ich rate Ihnen allen Ernstes: Wenn Sie weiterhin eine soziale, gerechte Gesundheitspolitik betreiben und ein System haben wollen, das in der Lage ist, Gleichheit und Gerechtigkeit herzustellen, dann ziehen Sie die Gesetzentwürfe zurück.
Als nächster spricht der Kollege Jürgen Möllemann.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir führen unsere heutige Debatte wie schon die gestrige vor dem Hintergrund eines riesigen Reformstaus in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Der Erneuerungsbedarf in diesen Bereichen ist mindestens so ausgeprägt wie jener Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Daß wir Politiker, die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, die Kirchen und Verbände auf den sich immer stärker abzeichnenden Handlungsbedarf, auf Krisensymptome nicht, zu spät oder nur halbherzig reagiert
haben, das hat zum einen zu Massenaustritten aus all diesen Organisationen geführt, zum anderen aber auch zu drei Krisen dramatischen Ausmaßes.
Erstens die Krise der Staatsfinanzen: Mehr als 2 000 Milliarden oder 2 Billionen DM öffentlicher Schulden bei gleichzeitiger Rekordhöhe von Steuern, Gebühren und Abgaben!
- Ich rede von öffentlichen Schulden bei Bund, Ländern und Gemeinden. Wenn das so weitergeht, daß Mißstände, die im gesamten Gemeinwesen zu verzeichnen sind, vom einen Platz auf den anderen verschoben werden, statt daß wir uns endlich einmal an die eigene Nase fassen und fragen, was wir eigentlich selbst auch falsch machen, dann werden wir die Probleme nicht lösen können.
Es gibt keine andere seriöse Möglichkeit als weniger Staat, weniger Staatsapparat, weniger Staatstätigkeit, weniger Staatsdiener, weniger Staatsbeteiligungen und weniger staatliche Leistungen, übrigens auch für die Staatsdiener.
Zweitens: die Krise des Arbeitsmarktes und wesentlicher Wirtschaftszweige. Immer mehr Waren, Ideen und Dienstleistungen, die auf Arbeitsplätzen in Deutschland produziert wurden, sind im internationalen Wettbewerb nicht mehr konkurrenzfähig, werden unverkäuflich. Also fallen die Arbeitsplätze weg. Daher müssen wir bessere Qualität zu niedrigeren Preisen produzieren. Nur solche Arbeitsplätze haben Bestand. Daß dafür mehr in Bildung, Wissenschaft und Innovation und weniger in Konsum und Soziales investiert werden muß, liegt auf der Hand.
Dies zu bestreiten oder zu verdrängen, die nötigen Korrekturen zu unterlassen wird nur dazu führen, daß wir bald 6 oder 8 Millionen Arbeitslose haben werden. Dann, meine Kolleginnen und Kollegen, fliegen uns Demokratie und Sozialstaat zugleich um die Ohren.
Drittens: die Krise der sozialen Sicherungssysteme. Wir alle haben diese mit Leistungen, Aufgaben und Erwartungen überfrachtet. Sie sind bei der gegebenen Lohnquote, beim Altersaufbau der Bevölkerung, bei der gegebenen und zu erwartenden Wirtschaftsentwicklung in ihrer jetzigen Struktur nicht haltbar. Wenn wir den arbeitenden Menschen, wenn wir aber auch den Betrieben, Verwaltungen und Praxen nicht irre Anteile von jeder erarbeiteten Mark für die Finanzierung der kollektiven Sicherungssysteme abnehmen wollen und damit Arbeitsplatzabbau und Leistungsverweigerung zugleich beschleunigen wollen, dann muß die automatische An-
Jürgen W. Möllemann
koppelung an Löhne und Gehälter beendet und ein neues Verhältnis zwischen Solidarität und Subsidiarität gefunden werden.
Meine Damen und Herren, wir müssen dieses Verhältnis neu definieren. Ein Solidaritätsbegriff, der immer mehr die persönliche Verantwortung durch staatliche Agenturen für alle Lebensbereiche ersetzt, führt eben zu dem Vollkaskosystem, das wir heute haben. Es wird uns aber schon morgen um die Ohren fliegen, wenn wir jetzt nicht mutig und energisch handeln. Statt Vollkasko hätten wir dann alsbald Vollfiasko.
Angesichts dieser Ausgangslage ist es geradezu grotesk, mit welcher verantwortungslosen Kurzsichtigkeit die Besitzstandswahrer in Parteien, Gewerkschaften und Verbänden tagtäglich jeden neuen Aufbruch aus dem heutigen Dilemma an den Pranger des sogenannten Sozialabbaus stellen.
So kann man ein zukunftsfähiges Verhältnis von Solidarität und Subsidiarität natürlich kaputtreden.
Was ist zu tun? Wir müssen Eigen- und Mitverantwortung der Bürger bei der Absicherung ihres Krankheitsrisikos deutlich stärken. Das geht natürlich nur, wenn der Staat den Bürgern nicht so tief in die Taschen greift, daß für Eigenvorsorge und Eigenbeteiligung nichts mehr bleibt.
Deshalb müssen sich Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ergänzen. Das Motto einer modernen, liberalen Sozialpolitik lautet daher: soviel Subsidiarität wie möglich, also Nachrangigkeit des staatlichen, gemeinschaftlichen Handelns, und Solidarität dort, wo sie nötig ist, aber auch nur dort, wo sie nötig ist, nicht umgekehrt. Hier ist in den letzten Jahren eine Schieflage eingetreten, die auch die Politik maßgeblich mitzuverantworten hat, auch wir Freien Demokraten. Ich halte überhaupt nichts davon, diese Debatte mit dem ausgestreckten Zeigefinger zu führen. Von dieser Hand zeigen drei Finger auf einen selbst zurück. Deswegen sollten wir das, glaube ich, bleiben lassen.
Es ist klar: Alles, was den einzelnen, den sozial Schwachen finanziell überfordert, muß solidarisch abgesichert werden, aber auch nicht mehr. Wir müssen die Prinzipien unseres Sozialstaates wieder vom bürokratischen Wasserkopf auf die Füße der Realität stellen. Das hat mit Sozialabbau rein gar nichts zu tun.
Natürlich ist es schmerzhaft, von liebgewordenen Gewohnheiten Abschied zu nehmen. Tagtäglich werden die Bürgerinnen und Bürger mit neuen Horrornachrichten über vermeintliche Einschnitte versorgt. Aber den größeren Fehler begeht nicht derjenige, der heute das vielleicht Unpopuläre tut, sondern derjenige, der den Leuten suggeriert, alles könne so weitergehen wie bisher.
Wir Liberalen haben vor knapp einem Jahr nicht weit von hier - im Wasserwerk - auf unserem gesundheitspolitischen Kongreß dargelegt, wie wir uns ein modernes, freiheitliches und zugleich bezahlbares Gesundheitswesen auf hohem medizinischen Niveau vorstellen. Unsere Antworten auf die eben geschilderten Probleme finden sich in den Gesetzesinitiativen, die wir heute beraten, deutlich wieder.
Wir Freien Demokraten wollen erstens: Reduzierung des Pflichtkataloges der gesetzlichen Krankenversicherung auf das medizinisch Notwendige; zweitens: Transparenz durch Kostenerstattung; drittens: Stärkung der Eigenverantwortung und Selbstbeteiligungen; viertens: Ende der gesetzlichen Budgetierungen; fünftens: Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Kassen; sechstens: Reform des Krankenhausbereichs; last not least: endlich eine Entrümpelung des verregelten und überbürokratischen Gesamtsystems.
Solidarität und Subsidiarität in ihrem Verhältnis zueinander neu zu definieren heißt: Wir müssen den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ganz praktisch von all dem befreien, was darin nichts zu suchen hat. Wir kommen nicht umhin, uns auf die wesentlichen Leistungen einer solidarischen Krankenversicherung zu konzentrieren. Das ist nun einmal die Hilfe für wirklich kranke Menschen.
Erste Schritte in diese Richtung haben wir unternommen. Der Zuschuß zu den Brillengestellen fällt weg. Will mir jemand ernsthaft erzählen, daß irgend jemand den Zuschuß in Höhe von 20 DM nicht selbst bezahlen kann? Wenn man einmal davon ausgeht, daß ein Brillengestell zirka drei Jahre lang hält, dann handelt es sich pro Jahr um Kosten in Höhe von 7 DM.
Der Zahnersatz, das heißt: die Absicherung des Zahnersatzes durch die gesetzliche Kasse, fällt für die Versicherten, die heute jünger als 19 Jahre alt sind, zukünftig weg. Das erzieht zur Zahnpflege.
- Ja, das ist gewollt. Diejenigen, die heute noch nicht 19 Jahre alt sind, müssen sich, wenn sie weiterhin einen derartigen Versicherungsschutz genießen wollen, privat absichern.
Wir nehmen die Gesundheitsförderung aus der hälftigen Beitragsfinanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer heraus. Ich war doch sehr erstaunt, welch ungeheure Wellen gerade diese Maßnahme geschlagen hat: Fitneßstudios, Krankenkassen, Selbsthilfegruppen aller Art, ja sogar die Arbeitgeber haben sich zusammengetan, um als Retter der Gesundheitsförderung in die Geschichte einzugehen.
Meine Damen und Herren, in welchem Film sind wir denn eigentlich? Wir haben mehr als 5 Millionen Arbeitslose; eine Besserung ist nicht in Sicht. Wir
Jürgen W. Möllemann
aber palavern darüber, ob Bauchtanzkurse weiterhin aus dem Solidartopf finanziert werden sollen.
Ich bestreite nicht, daß die Prävention eine wichtige Funktion hat.
Herr Kollege Möllemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Knoche?
Nein.
Vorsorgeuntersuchungen und GesundheitsCheck-up sind deshalb auch im Pflichtkatalog der gesetzlichen Krankenversicherung geblieben.
Ich halte auch die Arbeit der Selbsthilfegruppen für außerordentlich wichtig. Sie helfen Menschen in ganz schwierigen Situationen, mit ihrem Leben zurechtzukommen, und geben ganz konkrete Hilfestellungen. So etwas muß und wird selbstverständlich auch künftig möglich sein. Wir geben ja ausdrücklich den Krankenkassen die Möglichkeit, auch die Maßnahmen der Gesundheitsförderung, die sie heute anbieten, beizubehalten, dann allerdings finanziert durch die Beiträge der Versicherten.
Ich denke, es wird ganz hilfreich sein, wenn die Krankenkassen im einzelnen darlegen müssen, für welche Angebote sie von ihren Versicherten mehr Geld haben wollen. Dann wird auch die Finanzierung von Freizeitangeboten durch die gesetzliche Krankenversicherung ein Ende haben.
Ich meine allerdings, daß man den Pflichtkatalog der gesetzlichen Krankenversicherung noch weiter begrenzen kann. Wir werden das auch tun müssen. Es geht nicht darum, daß wir den Menschen etwas wegnehmen wollen, weil wir ihnen etwas nicht gönnen. Alles und jedes aber aus dem Solidartopf zu bezahlen
führt eben dazu, daß vieles nicht mehr geht, weil das System aus dem Ruder läuft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum nächsten Punkt. Unser Gesundheitswesen muß transparenter werden. Transparenz schafft man aber eben nicht durch ein Blankoscheck-System via Krankenschein oder Chip. Die Patienten - und zwar alle - sollen daher künftig eine Rechnung erhalten, wenn sie das wünschen. Warum sollen denn nur Privatpatienten, nur freiwillig Versicherte das Privileg der Rechnungslegung haben?
Die Kostenerstattung ist Voraussetzung für intelligent ausgestaltete individuelle Anreize zu wirtschaftlichem Verhalten.
- Ich muß mit dem, was ich hier sage, Ihren Nerv wohl ziemlich treffen, wenn ich mir anhöre, wie Sie unablässig dazwischenplärren. Gnädige Frau, ich habe mir Ihre Rede vorhin, die von Unterstellungen nur so wimmelte, dennoch still und aufmerksam angehört. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ein bißchen den parlamentarischen Gebräuchen folgen und auch einmal zuhören könnten.
Herr Kollege Möllemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wodarg?
Ja, bitte.
Herr Möllemann, ist Ihnen bekannt, daß auch jetzt schon jeder gesetzlich Versicherte, der eine Rechnung haben will, auch eine Rechnung bekommen muß?
Ich möchte gerne, daß das Kostenerstattungsprinzip, das jeden Arzt, jedes Krankenhaus, jeden Leistungserbringer dazu veranlaßt, deutlich zu machen, was geleistet worden ist und was das kostet, künftig die Regel wird. Ich setze darauf, daß auch die Versicherten ein Interesse daran haben. Deswegen gehen wir in diese Richtung.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Ja, natürlich.
Das hat er schon abgelehnt, Frau Knoche.
Nein, entschuldigen Sie bitte. - Frau Präsidentin, ich habe mich vorhin ge-
Jürgen W. Möllemann
I weigert, an einer bestimmten Stelle, weil ich einen Gedanken geschlossen vortragen wollte, eine Frage der Kollegin zuzulassen. Selbstverständlich tue ich das jetzt. Aber Sie erlauben mir schon zu bestimmen, wann ich unterbrochen werden möchte. - Bitte.
Dann wäre Frau Knoche die erste. - Erst Frau Knoche, dann Herr Kirschner.
Herr Kollege Möllemann, wenn Sie sagen, daß Sie das Kostenerstattungsprinzip in einen Zusammenhang mit mehr Wirtschaftlichkeit bringen wollen - wenn ich Sie richtig verstanden habe -, können Sie dann mir oder dem Bundestag erklären, wieso wir dort, wo wir das Kostenerstattungsprinzip haben, nämlich in der privaten Krankenversicherung, in allen Bereichen - mit Ausnahme des Arzneimittelbereiches - höhere Ausgabensteigerungen haben - das können Sie den Statistiken entnehmen - als in der gesetzlichen Krankenversicherung, wo dies doch angeblich zu mehr Wirtschaftlichkeit beiträgt?
Verehrter Herr Kollege Kirschner, ich stelle mir einmal vor, wir würden in unserem auf Wettbewerb, Transparenz und Eigenverantwortung angelegten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem Ihrer Logik folgen. Dann empfehle ich sehr, daß Sie ab sofort, wenn Sie mit einem Schaden an Ihrem Fahrzeug in Ihre Werkstatt fahren, sagen: keine Rechnung mehr, das wird schon stimmen, reichen Sie das der Versicherung ein. Auch wenn ich irgendwo einkaufen gehe, bekomme ich dann keine Rechnung mehr und bekomme nicht mehr gesagt, was der Preis der einzelnen Ware ist, sondern nur noch, wie hoch der Gesamtaufwand ist.
Nein, ich glaube, daß unser System nur dann kontrollierbar, frei und bezahlbar bleibt, wenn über jede Leistung Rechenschaft abgelegt wird, wenn über ihren Preis, wenn über die Zusammensetzung Rechenschaft abgelegt wird.
Warum eigentlich verteidigen Sie das Privileg der Privatversicherten, automatisch eine Rechnung zu bekommen, und warum wollen Sie das Privileg nicht gemeinsam mit uns brechen, damit alle, auch die Kassenpatienten, künftig wissen: Was ist geleistet worden, was kostet das?
Frau Knoche möchte noch fragen, Herr Möllemann.
Also doch.
Herr Kollege Möllemann, Sie haben die parlamentarischen Gepflogenheiten angesprochen. Es freut mich, daß Sie nun doch eine Nachfrage zulassen.
In der Tat haben mich Ihre Äußerungen sehr empört, als Sie meinten, die Leute sollten sich doch gefälligst die Zähne putzen.
Ich möchte Sie als Gesundheitspolitiker ansprechen: Können Sie der deutschen Bevölkerung, der Sie diese Verhaltensregel mit auf den Weg geben, sagen, welche sozialen, welche Bildungs-, welche Standes-, welche gesundheitlichen Voraussetzungen für den Zustand der Zahngesundheit der Bevölkerung, insbesondere der jungen Menschen, ausschlaggebend sind? Könnten Sie darstellen, in welcher Weise Präventionsprogramme greifen und welche es sein müssen, damit ein Effekt erzielt wird? Könnten Sie außerdem darlegen, ob die Individualprophylaxe in der Zahnarztpraxis tatsächlich nachweisbare Erfolge hatte?
Zum anderen: Kann ich davon ausgehen - -
Frau Knoche, das ist Stoff für eine ganze Rede.
Gut. - Noch eine Nachfrage zu Ihrem Rechnungslegungsprinzip: Verbinden Sie damit unweigerlich, daß auch Vorauskasse geleistet werden muß?
Frau Kollegin, selbst dem ehemaligen Bildungsminister fällt es nicht leicht, innerhalb der verbliebenen Redezeit den Zusammenhang zwischen formalem Bildungsgrad und Zahngesundheit darzulegen - obwohl das ein reizvolles Thema wäre, wie ich gerne einräume.
Wir wissen, daß die Art und Weise, wie schon Kinder im Kindergarten und in der Schule zur Zahnpflege angehalten werden, und die Tatsache, ob sie das Gelernte praktizieren, sehr viel damit zu tun haben, ob sie anschließend Schäden haben oder Zahnersatz brauchen. Es empört Sie, daß wir junge Menschen zum Zähneputzen anhalten wollen. Wenn Sie nicht mehr Grund zur Empörung in diesem Leben haben, dann beneide ich Sie.
Wir werden die Kostenerstattung als Voraussetzung für intelligent ausgestaltete individuelle Anreize zu wirtschaftlichem Verhalten ausprägen. Wir werden im Bereich des Zahnersatzes das Kostenerstattungsverfahren obligatorisch einführen. Das ist der richtige Weg. Es wird sich zeigen, daß dieses unbürokratische und transparente Verfahren sehr wohl auch auf andere Bereiche übertragbar ist.
Eigenverantwortung und Eigenbeteiligung gehören zusammen. Die heutigen Selbstbeteiligungsregelungen werden daher praktikabel ausgestaltet und erweitert. Wir haben die gesetzliche Selbstbeteiligung in einigen Bereichen erhöht. Das gilt für den
Jürgen W. Möllemann
Kur- und Rehabilitationsbereich mit Ausnahme der Anschlußheilbehandlungen; das gilt auch für die Zuzahlung bei Arzneimitteln.
Darüber hinaus erhalten die Krankenkassen die Möglichkeit, höhere Selbstbeteiligungen vorzusehen,
Selbstbehalte einzuführen und Versicherten Beitragsrückerstattungen zu gewähren.
Den Kritikern solcher Lösungen müßte es doch eigentlich zu denken geben, wenn nun sogar Ortskrankenkassen ihren Versicherten Beitragsrückerstattungen anbieten.
Wenn dies ein Wettbewerbsinstrument ist, wie viele beklagen, dann sage ich: recht so!
- Ja, sicher, das ist auch so. - Wenn man unser Gesundheitswesen auslüften will, muß man die Fenster öffnen und den frischen Wind des Wettbewerbs hereinlassen.
Die gesetzlichen Budgetierungen sind bei Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern aufgehoben worden. Es wird zukünftig wieder Sache der Selbstverwaltung sein, in den Verhandlungen zu beurteilen, in welchem Maße Anpassungen erforderlich sind. Dabei darf es nicht so sein, daß sich unumgängliche Entwicklungen nicht in der finanziellen Ausstattung widerspiegeln. Ich denke dabei zum Beispiel an Verschiebungen zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Wenn immer mehr Patienten von niedergelassenen Ärzten behandelt werden, die früher stationär im Krankenhaus behandelt wurden, dann muß das entsprechende Geld in den Sektor der niedergelassenen Ärzte transferiert werden.
Als Liberaler kann ich natürlich mit der Festschreibung des Beitragssatzes bis Ende dieses Jahres nicht besonders glücklich sein. Aber wir haben uns auf die Position verständigt,
daß es in der gegebenen Situation mit exorbitant hohen Steuern, Versicherungsbeiträgen und Abgaben wichtig ist, daß die Einsparungen durch unsere gesetzlichen Maßnahmen definitiv und garantiert an Versicherte und Betriebe weitergegeben werden.
Sparen ist kein Selbstzweck; vom Sparen soll derjenige etwas haben, der unser Gesundheitswesen finanziell am Laufen hält, also die Beschäftigten und ihre Betriebe gleichermaßen. Vom nächsten Jahr
steht es dann in der Verantwortung der Selbstverwaltung, die Beitragssätze festzusetzen.
Wir wollen die Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen. Das bedeutet unter anderem, daß sie nicht mehr gemeinsam verhandeln, sondern jede Krankenkasse bzw. Kassenart in bestimmten Bereichen für sich. Wir sehen in den heute zu verabschiedenden Gesetzentwürfen vor, daß die Krankenkassen nur noch dort einheitlich und gemeinsam verhandeln, wo dies medizinisch unerläßlich ist oder wo ein anderes Verfahren zu einem unerträglichen Mehraufwand führen würde.
Die Innovationsfreude und die Kreativität der Beteiligten müssen endlich wieder so zum Zuge kommen können, daß unser Gesundheitssystem dadurch Schritt für Schritt besser wird. Warum sollte sich eine Krankenkasse denn besonders anstrengen, wenn alle ihre Konkurrenten ebenso von ihren Ideen profitieren, weil alle einheitlich und gemeinsam an einem Tisch sitzen?
Wir haben uns bei den Regelungen darauf konzentriert, den Wettbewerb um die Beitragssätze zu stärken. Es kann auch nicht angehen, daß eine solidarische Krankenversicherung Wettbewerb über ein möglichst großes Leistungsangebot macht. Damit auch hier Bewegung hereinkommt, können die Kassen in Modellvorhaben neue, andere Leistungen im Rahmen ihres Aufgabenfeldes erproben. Warum soll eine Krankenkasse nicht zusammen mit den Ärzten •feststellen, ob die Akupunktur eine sinnvolle und gewollte Methode zur Schmerzbehandlung ist?
Die Reform im Krankenhausbereich muß energisch fortgesetzt werden; denn dieser Bereich hat mit einem Drittel der Ausgaben ein ungeheures Gewicht. Wir alle wissen, wie schwierig diese Reform ist. Ich gebe zu: Ich bin mit der gefunden Konstruktion der Gesamtvergütungen nicht zufrieden. Wenn die Budgetverhandlungen vor Ort insgesamt eine Summe ergeben, die über der ausgehandelten Gesamtvergütung liegt, so soll bei allen Krankenhäusern im Land linear gekürzt werden. Dies ist nicht gerade das, was wir unter einer leistungsgerechten Vergütung verstehen.
Ich bin deshalb froh, daß wir in der Koalition gemeinsam der Auffassung sind - in den Beratungen im Ausschuß habe ich gemerkt: wohl alle, über die Fraktionsgrenzen hinweg -, daß wir in den Beratungen des Vermittlungsausschusses, weil uns bisher keine bessere Lösung eingefallen ist, nach einer besseren Lösung suchen sollten.
Es ist uns darüber hinaus gelungen, einige wegweisende Änderungen vorzunehmen. So werden Fallpauschalen und Sonderentgelte nicht mehr in dem schwerfälligen Verfahren, das bisher galt, eingeführt, sondern von der Selbstverwaltung. Ich finde es gut, daß auch die SPD die Forderung erhebt, möglichst schnell möglichst viele Leistungen über Fallpauschalen und Sonderentgelte abzurechnen. Hier gibt es sicher ein Feld für eine konstruktive Zusammenarbeit.
Die Krankenkassen erhalten bei der Krankenhausplanung mehr Mitsprachemöglichkeiten. Das ist
Jürgen W. Möllemann
sinnvoll, weil sie die Finanziers des Ganzen sind. Denn bei der finanziellen Zurückhaltung der Länder im Investitionsbereich kann man wohl kaum noch von einer ausgeglichenen Finanzierung sprechen.
Versorgungsverträge im Krankenhausbereich werden nicht mehr von allen Krankenkassen einheitlich und gemeinsam abgeschlossen und gekündigt. Auch das bringt Bewegung in die Landschaft.
Und - was ich besonders wichtig finde - wir verbessern die Möglichkeiten für ambulante Praxiskliniken. Künftig kann in solchen Einrichtungen ein Patient auch einmal über Nacht dableiben und weiterbehandelt werden.
Ich bin gespannt, ob es die Länder diesmal schaffen, einmal nicht an ihrem landespolitischen Egoismus festzuhalten, und ob sie bereit sein werden, über ein sinnvolles Konzept zu reden. Dazu gehört für mich auch, daß die Länder die Instandhaltungskosten für weitere drei Jahre übernehmen. Ich bin auch sehr gespannt, ob sie bereit sein werden, den Übergang zu einer betriebswirtschaftlich sinnvollen monistischen Finanzierung im Krankenhausbereich zu akzeptieren. Dies kann natürlich nur geschehen, wenn für die entsprechende finanzielle Kompensation gesorgt wird.
Last not least: Wir müssen den Regelungsdschungel in unserem Gesundheitssystem lichten. Das Prinzip der Subsidiarität muß auch für den Regelungsbedarf des Gesetzgebers gelten. Das Motto muß hier lauten: soviel Handlungsspielraum für die Selbstverwaltung wie möglich und so wenig Bürokratie wie nötig.
Es geht einfach nicht, daß die Ärzte immer weniger Zeit für ihre Patienten finden, weil der Gesetzgeber sie mit immer neuen Verordnungen und Gesetzen überzieht. Die Aussetzung der Einführung des ICD-10 mit dem Ziel der Vereinfachung und Reduzierung auf das Nötige war deshalb richtig.
Die Großgeräteplanung wird entfallen. Die Prüfung der Krankenkassen, der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kassenzahnärztlichen Vereinigungen entfällt ebenfalls, um nur zwei weitere Beispiele zu nennen.
Aber dabei dürfen und werden wir nicht stehenbleiben. Die Bedarfsplanung bei Ärzten und Zahnärzten muß flexibilisiert werden; bei den Zahnärzten wird sie einvernehmlich wegfallen. Wir leisten uns heute den Luxus, jahrelang jungen Medizinern eine teure Ausbildung zu finanzieren, und sagen dann: Entschuldigung, es gibt schon zu viele von euch. - Entweder reduzieren wir die Ausbildungskapazitäten oder wir geben die starre Bedarfsplanung auf.
Wir haben die Bedingungen für Belegkliniken, für Praxiskliniken und für ambulante Praxiskliniken deutlich verbessert. Arztpraxen können im Falle eines Verkaufs künftig von einem vorübergehend tätigen Stellvertreter geführt werden, damit sie nicht brachliegen und an Wert verlieren. Alles andere werden wir im Zusammenhang mit der Novellierung der
Approbationsordnung für Ärzte noch einmal eingehend diskutieren.
Meine Damen und Herren, die vorliegenden Gesetzeswerke tragen eine liberale Handschrift - zugegeben. Ich bin auch gar nicht traurig darüber, daß Sie das kritisieren. Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß wir gut daran getan hätten, eine Entkoppelung zwischen steigenden Krankenversicherungsbeiträgen und steigenden Lohnzusatzkosten vorzunehmen. Ich bin davon überzeugt, daß wir auf mittlere Sicht diese strukturellen Komponenten noch einmal diskutieren müssen.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch einen Appell an den Bundesrat richten. Ich hoffe sehr, daß sich die SPD-regierten Bundesländer nicht aus parteipolitischem Kalkül der notwendigen und sinnvollen Reform verschließen werden. Wir brauchen diese Reform im Gesundheitsbereich, und wir brauchen das Beitragsentlastungsgesetz.
Es ist jetzt nicht mehr die Zeit für überholte Rituale, Reformvorschläge mit Abscheu und Empörung zur Kenntnis zu nehmen und am Ende keine eigene Alternative zu präsentieren.
Wir müssen mutig und energisch an die Reform aller unserer Sozialversicherungszweige gehen. Im Gesundheitswesen sind wir auf dem richtigen Weg.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit den heute zur Debatte stehenden Vorlagen geht es um die gesetzlichen Grundlagen der sogenannten dritten Reformstufe, welche Regierung und Koalition dem Gesundheitswesen verordnen wollen. Während alle einschlägigen Bemühungen bis zum Gesundheits-Reformgesetz von 1988 fast nur Kostendämpfungsmaßnahmen waren, deren Wirkung ohnehin stets nach kurzer Zeit verpuffte, gab es mit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 bekanntlich erste Ansätze zu echten Strukturveränderungen.
Das heute vorliegende Ergebnis ist jedoch niederschmetternd. Die EBM-Reform ist ein Scherbenhaufen. Eine Stärkung der hausärztlichen Tätigkeit hat nicht stattgefunden. Der Anteil spezialärztlicher Leistungen ist gegenwärtig höher denn je. Zu einer stärkeren Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung ist es nicht gekommen.
Auch die Veränderungen in der Krankenhausfinanzierung haben nicht zu den gewollten Ergebnissen geführt. Für das laufende Jahr wurde den Krankenhäusern dafür nun eine Art von Budgetierung aufgedrückt, die an Härte und Undifferenziertheit bisher ihresgleichen sucht.
Dr. Ruth Fuchs
Vielleicht erklären sich all diese Mißerfolge auch daraus, daß die Regierung zwischenzeitlich alle Hände voll damit zu tun hatte, sich im Zuge eines regelrechten Rollback weniger um die Verwirklichung der gesetzlichen Aufträge zu kümmern, sondern mehr darum, schon einmal erreichte Fortschritte möglichst wieder zunichte zu machen. Jedenfalls war sie sehr erfolgreich dabei, die Positivliste, die Pflegepersonalregelung bzw. die Festbetragsregelung für Medikamente zu kippen, auszusetzen oder aber wenigstens in ihrer Substanz zu unterhöhlen.
Es gibt also fast nichts, woran in einem positiven Sinne angeknüpft werden könnte.
Unter diesen Umständen in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als handele es sich hier um so etwas wie die Fortsetzung einer kontinuierlichen Reform in verschiedenen Stufen, von denen zwei bereits bewältigt seien, gehört wohl eher in das schillernde Reich der Gaukelei.
Die wesentliche Veränderung, die neben den Budgetierungen wirklich stattgefunden hat, ist die vom Risikostrukturausgleich begleitete Organisationsreform der Krankenkassen und die damit verbundene Vorbereitung der Wahlfreiheit der Versicherten. Aber ausgerechnet dieser Schritt in eine richtige Richtung soll nun gründlich mißbraucht und zum Ausgangspunkt einer neuen Ära im Gesundheitswesen werden - der Ara der direkten und offenen Konkurrenz der einzelnen Kassen um Mitglieder.
„Wettbewerb der Krankenkassen" und „Vorfahrt für die Selbstverwaltung" sollen die neuen Wundermittel sein, mit denen die Gebrechen des Gesundheitswesens endlich kuriert und die Beitragssätze in der Krankenversicherung stabilisiert werden können.
Natürlich sind stabile Beitragssätze ein wichtiges und notwendiges Ziel. Erreichbar dürfte es allerdings nur sein, wenn es in ein umfassendes Konzept für eine echte Strukturreform des Gesundheitswesens und für weitere Schritte zu einer dauerhaften Konsolidierung der finanziellen Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung eingebettet ist.
Die Hauptursachen der Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen liegen aber bekanntlich nicht primär in einer vermeintlichen Kostenexplosion, sondern zunächst einmal vor allem in den relativ zurückbleibenden Einnahmen in Folge sinkender Lohnquote und zunehmender Massenarbeitslosigkeit. Hinzu kommen dann noch die bekannten, politisch beschlossenen Verschiebebahnhöfe innerhalb der Sozialversicherung.
Unter diesen Bedingungen hat die Erhöhung der Beitragssätze stets nur bewirken können, daß der Anteil der Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung am Bruttoinlandsprodukt in etwa gleichgeblieben ist. Wenn wir ein auch in Zukunft leistungsfähiges Gesundheitswesen und Beitragssatzstabilität haben wollen, verlangt das vor allem eine sozialstaatlich orientierte Verbesserung seiner Einnahmensituation.
Solange diese Tatsache von der Regierung völlig ignoriert wird, besteht wenig Hoffnung auf eine dauerhafte Lösung, zumal die Aufwendungen für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung auch künftig weiter wachsen werden.
Im Gegensatz dazu geht es auch mit den vorliegenden Gesetzesvorhaben letztlich wieder nur einseitig um eine Umverteilung der Kosten zu Lasten der Versicherten.
Allerdings hat die Regierung aus der Geschichte ihres bisherigen Scheiterns auch gelernt. In Zukunft möchte sie, nachdem sie mit dem Beitragsentlastungsgesetz den sozialen Kahlschlag noch einmal gründlich selbst betreibt, möglichst nicht mehr in eigener Verantwortung budgetieren, Leistungen ausgrenzen oder Zuzahlungen erhöhen und auch nicht mehr für die Korrektur der strukturellen Fehler im Gesundheitswesen zuständig sein.
Da Beitragssatzerhöhungen künftig erheblich erschwert werden sollen, die Selbstverwaltungen aber auch dann nicht das Instrumentarium haben werden, um aus eigener Kraft wesentliche Rationalisierungsreserven zu erschließen, wird den Kassen nur ein Weg offenbleiben: weitere finanzielle Belastungen der Versicherten. Exakt dafür soll ihnen ein beachtliches Repertoire an Möglichkeiten neu zur Verfügung gestellt werden: Zusatzleistungen, die allein von den Versicherten zu finanzieren sind; Zuzahlungserhöhungen in eigener Entscheidung; Selbstbehalte im Rahmen von Kostenerstattungen; Beitragsrückgewähr und anderes mehr. Daß dies im einzelnen Maßnahmen sind, die die Versicherten, gemessen an ihren eigenen gesundheitlichen Interessen, falsch stimulieren und zugleich die Solidarität im ganzen beschädigen, sei hier nur erwähnt.
Im Klartext heißt das: In Zukunft sollen es die Selbstverwaltungen sein, die die Kürzungen bei Versicherten und Leistungserbringern auszuführen haben und anschließend natürlich als Überbringer der schlechten Nachricht dastehen müssen. Das bedeutet nichts anderes, als daß sich die Regierung endgültig aus ihrer Verantwortung für die Steuerung und Regulierung des Gesundheitswesens verabschieden will - dies ausgerechnet in einer Zeit, in der die Mittel knapper werden, in der die Sozialversicherungssysteme zunehmend unter Druck geraten und in der die Aufrechterhaltung der sozialen Funktionen des Gesundheitswesens mehr denn je sozialstaatliches Handeln erfordert.
Was die Selbstverwaltungen betrifft, so ist zu sagen, daß die potentielle Rolle, die sie im Gesundheitswesen spielen könnten, kaum zu überschätzen ist. Ihre Stärkung und innere Reform könnte sehr wohl zu sachgerechteren Entscheidungsfindungen, zu mehr Bürgernähe und Demokratie beitragen. Voraussetzung aber sollte sein, daß sie sich nicht nur wie bisher als einseitig interessengeleitete Institutions- bzw. Standesvertretungen verstehen, sondern den in ihnen versammelten Sachverstand in die Gestaltung eines Gesundheitswesens einbringen, das in erster
Dr. Ruth Fuchs
Linie am Wohl der Patienten und an den Gesundheitsinteressen der Bevölkerung orientiert ist.
Um es deutlich zu sagen: Hinter dieser Reform mit ihren scheinbar so griffigen Leitformeln verbirgt sich der bisher gefährlichste Angriff auf den gegenwärtig noch wirksamen sozialen Standard in der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung, auf das Solidarprinzip und auf die sozialstaatliche Verantwortung für ein sozial gerechtes und leistungsfähiges Gesundheitswesen.
Alle neokonservativen und neoliberalen Vorstellungen über die künftige gesellschaftliche Entwicklung werden in geradezu klassischer Form auf das Gesundheitswesen übertragen. Das Gesetz führt zur Deregulierung, zur Privatisierung von elementaren Lebensrisiken und zur Entsolidarisierung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Wird dieses Reformvorhaben Realität, dann ist der soziale Grundkonsens auf dem Gebiet des Gesundheitswesens aufgekündigt. Auch für diesen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit beginnt dann definitiv der Weg in eine andere Republik.
Unseren Vorstellungen von einer sozial gerechten und qualitativ hochstehenden Medizin, auf die jeder Mensch nach seinem Bedarf und nicht nach seiner Zahlungsfähigkeit Anspruch hat, entspricht dies nicht. Deshalb lehnen wir die vorliegenden Gesetze, mit denen die sogenannte dritte Stufe der Gesundheitsreform verwirklicht werden soll, entschieden ab.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Niemand wird bestreiten können, daß wir in Deutschland die elementaren Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Krankheit, Berufsunfall, Pflegebedürftigkeit und Alterssicherung so umfassend und auf so hohem Niveau absichern, wie dies in keinem anderen Land auf dieser Erde der Fall ist.
Absicht unserer Reformen ist es, das Niveau dieser umfassenden sozialen Absicherung der elementaren Lebensrisiken auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.
Meine Damen und Herren, wenn wir über Zukunftssicherung diskutieren, dürfen wir dies nicht immer auf die Bewahrung der Schöpfung reduzieren. Für die heutige junge und mittlere Generation ist genauso wichtig, daß wir die ökonomischen und sozialen Grundlagen in unserer Gesellschaft so gestalten, daß sie darauf vertrauen können, daß die Lebensrisiken auch in Zukunft auf hohem Niveau abgesichert sind.
Genauso unbestritten ist, daß eine Ursache für Arbeitslosigkeit die hohe Abgabenlast in der Bundesrepublik Deutschland ist.
Hohe Abgaben bedingen Arbeitslosigkeit, Arbeitslosigkeit bedingt höhere Sozialausgaben, und höhere Sozialausgaben bedingen wiederum höhere Sozialabgaben. Diesen Teufelskreis müssen wir durch Reformieren durchbrechen. Wir durchbrechen ihn nur, wenn wir zu Veränderungen bereit sind.
Frau Knoche, es ist nicht so, daß wir gewissermaßen verschiedene Dämpfungselemente aneinanderreihen und daß die Addition von verschiedenen Sparbemühungen eine Reform sei. Nein, meine Damen und Herren, wir lassen uns bei unseren Reformen von den Grundlagen der christlichen Soziallehre leiten,
nämlich solidarisch die Lebensrisiken abzusichern, die der einzelne oder seine Familie nicht tragen kann, auf der anderen Seite aber Eigenverantwortung verstärkt dort einzufordern, wo sie dem einzelnen zumutbar ist.
Solidarität und Eigenverantwortung sind ein Geschwisterpaar.
Solidarität auf hohem Niveau ist auf Dauer für die Menschen, die sie brauchen, nur möglich, wenn man von den Leistungsstärkeren in unserer Gesellschaft mehr Eigenverantwortung einfordert.
Meine Damen und Herren von der PDS, da Sie gelacht haben, möchte ich Ihnen sagen: Sie haben mit Ihrer Mutterpartei ein einzigartiges - und gescheitertes - Experiment in der ehemaligen DDR durchgeführt,
nämlich eine wohlfahrtsstaatliche Rundum-Absicherung mit dem Ergebnis, daß am Ende alle Menschen gleich arm waren.
Solidarität und Eigenverantwortung leiten uns auch in der Krankenversicherung. Es muß auch in der Zukunft so sein, daß eine Bypass-Operation, eine Nierentransplantation, eine Nierendialyse, eine aufwendige medizinische Diagnostik oder Therapie gemeinschaftlich getragen wird; denn sonst werden diese medizinischen Leistungen zum Privileg für die
Bundesminister Horst Seehofer
Menschen, die sich das privat leisten können, und das wollen wir nicht. Aber das ist nur möglich, wenn wir den Menschen sagen, daß in dem einen oder anderen Bereich im Gegensatz zur Vergangenheit mehr Eigenverantwortung und Eigenbeteiligung realisiert werden müssen.
Jetzt nenne ich Ihnen einige ganz konkrete Beispiele dieses Gesetzes.
Der Kollege Dreßler hat die Selbstbeteiligung bei Medikamenten kritisiert. Wir wollen die Selbstbeteiligung ab dem nächsten Jahr um eine 1 DM erhöhen. Herr Kollege Dreßler, Sie haben gesagt, dies sei zutiefst unsozial.
Jetzt will ich Ihnen einmal folgendes sagen: 1993 wurde die Selbstbeteiligung umgestellt; Grundlage war nicht mehr der Arzneimittelpreis, sondern Grundlage wurde die Packungsgröße. Durch diese Umstellung sind die Patienten in der Bundesrepublik Deutschland, gerade die chronisch Kranken, in einem Umfang wie nie zuvor, nämlich mit zusätzlich 800 Millionen DM belastet worden.
Das Wichtige dabei ist: Die Forderung für diese Umstellung kam von der SPD und wurde auf Wunsch der SPD realisiert.
Deshalb haben Sie kein Recht, jetzt die von uns vorgesehene Erhöhung der Selbstbeteiligung, die sehr bescheiden ausfällt, zu kritisieren. Ich möchte den Menschen einmal sagen: Eine 1 DM mehr Selbstbeteiligung bei einem Arzneimittel ist Voraussetzung dafür, daß wir die Medikamentenversorgung in Deutschland auf hohem Niveau für jedermann und „jedefrau" aufrechterhalten können, und zwar ohne Ansehen des Einkommens, des Standes oder der Herkunft.
Wir nehmen Rücksicht auf jene Menschen, die von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit her nicht in der Lage sind, die Selbstbeteiligung zu leisten, oder die wegen einer chronischen Erkrankung permanent auf Medikamente angewiesen sind. Es ist weitgehend unbekannt, daß 13 Millionen Kinder in Deutschland von jeder Selbstbeteiligung befreit sind und daß 8 Millionen Erwachsene auf Grund ihres geringen Einkommens ebenfalls von jeder Selbstbeteiligung befreit sind. Das heißt, gut 20 Millionen Menschen in Deutschland sind von der geltenden und künftigen Selbstbeteiligung befreit, weil wir auf die Einkommensverhältnisse und die Belastbarkeit der einzelnen Familien Rücksicht nehmen.
Jene Menschen, die über den Einkommensgrenzen liegen - sie sind übrigens beachtlich hoch und
liegen bei Verheirateten über 2 000 DM; das ist für Rentner sehr wichtig -, werden mit nicht mehr als 2 Prozent bei allen Selbstbeteiligungen - vom Medikament bis hin zu den Fahrtkosten, die anfallen, um medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen - belastet.
Ich kann also nicht erkennen, wo hier ein sozialer Kahlschlag stattfindet.
Künftig fallen die Zuschüsse in Höhe von 20 DM zum Brillengestell weg, die von den Krankenkassen im Regelfall alle drei, vier Jahre gezahlt wurden. Wenn es in dieser ökonomisch schwierigen Situation nicht mehr möglich ist, einen Zuschuß von 20 DM, alle drei Jahre gewährt, wegfallen zu lassen, dann sind wir Deutschen nicht in der Lage, unsere Zukunft zu sichern.
Zum schmucken Thema Kuren: Die Kurausgaben in der Bundesrepublik Deutschland sind seit 1992 um 50 Prozent gestiegen, obwohl die stationären Kuren durch die Gesundheitsreform budgetiert waren. Die Ausgaben für Kuren hätten nur so stark steigen dürfen wie die Löhne in der Bundesrepublik Deutschland. Tatsache ist: Sie sind um 50 Prozent gestiegen. Niemand wird mir erzählen können, daß dies medizinisch indiziert ist.
Es ist viel zur Verbesserung des Wohlbefindens, als Urlaubsersatz und ähnliches finanziert worden.
Ich kenne Menschen, die alle drei, vier Jahre eine Kur machen. Ich kenne andere, die noch nie in ihrem Leben eine Kur gemacht haben. Ich gönne jedem Menschen eine Kur, meinetwegen auch alle drei Jahre. Aber es ist kein Sozialraub, wenn wir für diese Erholungskuren die Selbstbeteiligung erhöhen und pro Kurwoche die Anrechnung von zwei Tagen Erholungsurlaub fordern.
Da in Deutschland nur noch pauschaliert und nicht mehr differenziert informiert wird, sage ich hier noch einmal, daß wir von dieser Erhöhung der Selbstbeteiligung bei Kuren alle Mütterkuren und alle Anschlußheilbehandlungen, die zur Rehabilitation nach einem Krankenhausaufenthalt notwendig sind, ausnehmen. Auch das ist eine soziale Dimension. Wir gehen also nicht nach der Rasenmähermethode vor.
50 Prozent mehr Ausgaben für Kuren in den letzten drei Jahren! Wenn die Signale stimmen, die ich für das erste Quartal 1996 bekommen habe, dann muß ich feststellen, daß sich diese Tendenz fortsetzt.
Bundesminister Horst Seehofer
Wie glücklich muß ein Land aus der Sicht der Kurorte sein,
wenn es angesichts von Massenarbeitslosigkeit keine anderen Probleme hat, als über die Höhe der Ausgaben für Kuren zu streiten!
Zum Zahnersatz: Meine Damen und Herren, es gibt bei Fachleuten der Zahnheilkunde nicht den geringsten Zweifel daran, daß in keinem Bereich des Gesundheitswesens dem Zusammenhang zwischen Prophylaxe und Vermeidung von Reparaturen durch Eigenverantwortung der Menschen so gut Rechnung getragen werden kann wie in der Zahnheilkunde.
- Herr Fischer, ich habe Ihnen hier schon einmal gesagt: Der alte bayerische Grundsatz „Die lautesten Kühe geben die wenigste Milch" trifft auf Sie zu.
Meine Damen und Herren, wir haben seit 1989 im Gesundheitsstrukturgesetz die Prophylaxemaßnahmen massiv verstärkt und seit 1993 die Versiegelung der Backenzähne bei Kindern und Jugendlichen eingeführt. Die Zahngesundheit hat sich in Deutschland in den letzten zehn Jahren sehr positiv entwickelt, weil die Prophylaxe verstärkt wurde.
- Und zwar nach dem Vorbild der Schweiz; Herr Kollege Thomae, Sie haben völlig recht.
Es muß doch möglich sein, umzusteuern und zu sagen: Wir verstärken die Prophylaxe. Wer sich regelmäßig dem Zahnarztbesuch unterzieht, ausreichende Mundhygiene und Prophylaxe betreibt, muß nach menschlichem Ermessen keinen Zahnersatz von der Krankenversicherung in Anspruch nehmen. Das ist der medizinische Ansatz unserer Umsteuerung, und den werden wir auch durchsetzen.
Natürlich kann man einen 60- oder 70jährigen Menschen nicht mehr vor die Tatsache stellen, daß es morgen keinen Zahnersatz mehr für ihn geben wird.
So wie wir Umweltbewußtsein und umweltgerechtes
Verhalten bei Kindern und Jugendlichen anstreben,
müssen wir damit beginnen, bei den Dingen, die der
Mensch in der Medizin wie in keinem anderen Bereich beeinflussen kann, nicht nur ein anderes Gesundheitsbewußtsein, sondern auch ein anderes Gesundheitsverhalten zu schaffen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wodarg?
Nein.
Meine Damen und Herren, wir nehmen nicht die Fälle aus, die Herr Dreßler hier genannt hat, sondern wir nehmen diejenigen aus, in denen zum Beispiel von Geburt an eine Behinderung vorliegt und deshalb Zahnersatz erforderlich ist. Wer eine ernsthafte Erkrankung der Mundhöhle in Kinder- oder Jugendjahren erleidet, der bleibt von der Ausgrenzung beim Zahnersatz ausgenommen - auch hier wieder eine differenzierte Maßnahme: Dort, wo man selbst steuern kann, stärken wir die Eigenverantwortung, aber bei dem, was dem eigenen Einfluß entzogen ist, gewähren wir sozialen Schutz.
Meine Damen und Herren, für mich ist - wie für den Kollegen Norbert Blüm - die Frage des Krankengeldes die sensibelste. Es spricht nicht gerade für ein hohes Maß an sozialer Verantwortung in der Bundesrepublik Deutschland, daß sich viele Funktionäre von Verbänden in Deutschland mit der Gesundheitsförderung - auf die ich noch zu sprechen komme - und den Kuren stärker auseinandersetzen - weil das ihren Aufgabenbereich und damit ihre Dotierung betrifft - als mit der Frage nach der Höhe des Krankengeldes. Das hat mich schwer erschüttert.
Das Krankengeld ist ein sensibler und schwieriger Punkt, und es würde mir zusetzen, wenn er öffentlich intensiver diskutiert würde. Aber es ist schon eigenartig, daß man alles andere intensiver diskutiert als diesen Punkt.
Ich gehe auf das Krankengeld auch deshalb ein, weil keiner der Vorredner von der Opposition das überhaupt für nötig gehalten hat.
Ich möchte der Öffentlichkeit erklären: Jawohl, das Krankengeld soll um 10 Prozent abgesenkt werden.
Bundesminister Horst Seehofer
Es wird heute im Regelfall in der Höhe des jeweiligen Nettolohns gewährt, und zwar für 78 Wochen.
Ich trage diese Maßnahme mit, weil sie sich in eine Grundentscheidung der Koalition einbettet, die wir von der Sozialhilfe bis hin zur Lohnfortzahlung realisieren wollen, nämlich daß jemand, der arbeitet, mehr bekommen muß als derjenige, der - aus welchen Gründen auch immer - nicht arbeitet. Das muß eine Grundposition in unserer Gesellschaft sein.
Meine verehrten Damen und Herren, ich möchte auch einmal auf folgenden Umstand hinweisen - er ist zwar nicht der entscheidende bei der Reform des Krankengeldes, aber wir dürfen ihn auch nicht ganz aus dem Auge verlieren -: Die Krankengeldausgaben in Deutschland sind in den letzten zwei Jahren von 14,6 auf 18,4 Milliarden DM gestiegen. Damit wird ein Trend fortgesetzt, der in vielen Jahren vorher auch schon festzustellen war. Das bedeutet eine Steigerung um 26 Prozent in zwei Jahren.
Auch das ist nicht medizinisch indiziert. Der Umfang dieser Steigerungsrate ist nach allen Indizien, die uns vorliegen, auch darauf zurückzuführen, daß auf Grund der Bezugsdauer des Krankengeldes von 78 Wochen natürlich auch das Krankengeld so wie andere Sozialleistungen beim Übergang in den Vorruhestand und in den vorgezogenen Rentenbezug immer sträker als Brücke benutzt wurde. Aber dafür ist die Sozialversicherung, das Krankengeld nicht gedacht, und deshalb müssen wir hier umsteuern.
Nun zur Gesundheitsförderung: Natürlich bleibt die Gesundheitsförderung in der Krankenkasse, die eine Kontinuität aufweist, die eine wissenschaftliche Begründung hat und auch wissenschaftlich evaluiert ist, erhalten. Dazu zählen die Schutzimpfungen. Ich würde mir wünschen, daß die gleichen Kassengeschäftsführer, die pausenlos in Fernsehsendungen nichtssagende, teure Spots für die Bevölkerung abliefern,
mehr für Schutzimpfungen werben würden, damit die Infektionskrankheiten, die sich weltweit ausbreiten, stärker bekämpft werden können
und nicht eines Tages auf die Bundesrepublik Deutschland überschwappen.
Ich würde mir wünschen, daß die Vorsorgeuntersuchungen, die wirklich wissenschaftlich begründet sind und die auch erhalten bleiben, stärker genutzt werden, seien es Vorsorgeuntersuchungen der Kinder, seien es Krebsfrüherkennungsmaßnahmen, sei es der Gesundheits-Check-up, der die Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Sinne der Prävention frühzeitig bekämpfen soll. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind immerhin noch in jedem zweiten Fall der Grund für den Tod eines Menschen.
Darüber wird von den Herren Funktionären in der Öffentlichkeit überhaupt nicht diskutiert. Dagegen bekomme ich täglich waschkörbeweise Post, was im Lande heute so alles unter dem Deckmantel der Gesundheitsförderung durchgeführt wird, in Wahrheit aber Marketing- und Werbemaßnahmen der Krankenkassen sind.
- Das ist kein Einzelfall. Herr Dreßler, wir sollten das nicht als Ausreißer und Ausnahme abtun.
Eine Broschüre der AOK Garmisch-Partenkirchen, Ausgabe Mai/Juni, umfaßt mit 15 Seiten ein umfangreicheres Angebot als das manchen Bundesligavereins. Dort ist zum Beispiel zu lesen: „Badminton für Anfänger". - Ich habe mal Tennis gespielt. Da hat mir mein Orthopäde gesagt, Tennis- und Badmintonspieler seien die besten Kunden für Orthopäden, weil bei keiner anderen Sportart die Sehnen und Gelenke so stark belastet würden. - Weiter finden Sie in dieser Broschüre: „Power Walking", „Kinder pflanzen Pflanzenkinder", „Muß Süßes Sünde sein?", „Fußreflexzonen-Massage", „AOK-Fit-Eß-Woche" - Spargelcremesuppen und Joghurtcreme,
Tofuschnitzel in Sesammantel gebraten, angerichtet auf einer Kräutercremesuppe mit Blattsalat und Vollkornreis.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen klipp und klar: Ich werde für nichts so kämpfen wie dafür, daß die gesetzliche Krankenversicherung künftig nicht mehr den Freizeitpark der Bundesrepublik Deutschland finanziert.
Natürlich gibt es auch sinnvolle Maßnahmen.
Hinsichtlich der derzeitigen Mutlosigkeit mancher Kassenvorstände, insbesondere der von Ersatzkassen, müssen wir uns die Frage stellen, ob wir irgendeinen Bereich ausnehmen können; allerdings würde das automatisch dazu führen, daß Maßnahmen aus den Bereichen, die wir als Gesetzgeber sozusagen verschlossen haben, in diesen Bereich verlagert würden. Deshalb muß der gesamte Bereich verschlossen werden. Kassen, die ein von der Erstattung ausgenommenes Angebot trotzdem machen wollen, sollen das tun. Sie sollten von ihren Versicherten dann aber einen Beitrag dafür verlangen.
Das alles sind Maßnahmen des Beitragsentlastungsgesetzes. In der Öffentlichkeit gibt es dazu un-
Bundesminister Horst Seehofer
geheure Vorwürfe. Wir sparen aber gar nicht für die Staatskasse: Die 7,5 Milliarden DM, die hier gespart werden, werden auf Mark und Pfennig denjenigen zurückgegeben, die die Beiträge zahlen - den Arbeitnehmern und den Betrieben.
Das abenteuerlichste Argument ist folgendes: Wenn das Geld zurückgegeben wird, hat der Gesetzgeber nicht das Recht, die eingesparte Summe für eine Beitragssenkung zu nutzen.
Wir sagen der Selbstverwaltung nicht: Spart 7,5 Milliarden DM und senkt die Beiträge! Vielmehr ermöglichen wir Politiker in unserer politischen Verantwortung die Sparsumme und wollen sicherstellen, daß diese an die Beitragszahler weitergegeben wird.
Wieso ist das ein Widerspruch zur Selbstverwaltungslösung? In der Rentenversicherung, in der Arbeitslosenversicherung und in der Pflegeversicherung, in allen drei Bereichen, haben wir Selbstverwaltung pur, setzt nur der Gesetzgeber die Beitragssätze fest. Da wird es doch erlaubt sein, daß der Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag, in einem Bereich, in dem er 7,5 Milliarden DM einspart, am 1. Januar 1997 die Beiträge per Gesetz um 0,4 Beitragspunkte senkt, damit vermieden wird, daß dieses Sparvolumen von 7,5 Milliarden DM zum Beispiel für eben genannte unsinnige Leistungen verwendet wird.
Ich möchte wie Wolfgang Lohmann und Jürgen Möllemann unterstreichen, daß wir den Irrweg der letzten 20 Jahre verlassen müssen, nämlich zu glauben, man könne mit immer mehr Paragraphen und Richtlinien zentral von Bonn oder Berlin aus ein so komplexes System wie das deutsche Gesundheitswesen steuern.
Auch hier gilt wieder ein Grundsatz der christlichen Soziallehre: Man soll einer größeren Einheit nichts übertragen, was eine kleinere genausogut erledigen kann. Deshalb sollen ab 1997 die Beteiligten im Gesundheitswesen ihre Geschicke selbst gestalten. Wir wollen nicht mit immer neuen Paragraphen und Richtlinien in dieses Alltagsgeschäft eingreifen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Bläss?
Nein.
Der Startschuß für diese Selbstverwaltungslösung erfolgt am 1. Januar 1997 auf einer um 0,4 Prozentpunkte abgesenkten Finanzbasis. Das ist angesichts der dramatischen ökonomischen Lage aller öffentlichen Haushalte die einzige Veränderung, die es zur bisherigen Politik gab.
Ich bin der festen Überzeugung, daß Nichthandeln der Politik in allererster Linie den Kleinverdienern schadet; denn Nichthandeln würde dazu führen, daß wir in absehbarer Zeit die sozialen Ansprüche an unser Sozialsystem nicht mehr realisieren könnten. Ich möchte nicht, daß eine Nierendialyse mit der Qualität von heute künftig nicht mehr von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden kann; denn dann wird sie zum Privileg für jenen, der sie sich privat leisten kann. Das möchte ich nicht.
Wir wollen die soziale Krankenversicherung auch in Zukunft: mit freier Arztwahl, mit Therapiefreiheit, mit Pluralität des Angebots und mit umfassendem sozialen Schutz für die Risiken, die der einzelne in Eigenverantwortung nicht tragen kann. Wir müssen umdenken und ein Stück mehr Eigenverantwortung realisieren, damit wir dieses solidarische System, wie es sich in über 100 Jahren entwickelt hat, erhalten können.
Herr Kollege Dreßler, hier hilft Ihr Verbalradikalismus nicht. Sie haben alle Maßstäbe verloren.
Wissen Sie, ich habe von „Sozialraub", von „Sozialdarwinismus", von „Kahlschlag" und von „Amoklauf" gelesen. Sie stehen völlig neben der Realität. Die Mehrheit der Bevölkerung fordert uns auf, unsere Sozialsysteme zu sichern.
Frau Knoche, was meinen Sie, wie oft mir im Deutschen Bundestag gesagt worden ist: Ziehen Sie Ihr Gesetz zurück! Sie haben das heute auch wieder getan. Gestern haben wir das eigenartige Phänomen erlebt, daß die gleiche SPD, die mich bei der Sozialhilfereform von diesem Pult aus aufgefordert hat, das Gesetz zurückzuziehen, im Vermittlungsausschuß Sparmaßnahmen zu Lasten der Behindertenwerkstätten beschließt, die dort weitaus tiefer eingreifen, als die Regierung vorgeschlagen hat.
- Es war so, Herr Kollege Struck. Wir haben gesagt: Die Pflegesätze für die Behindertenwerkstätten können so steigen wie die Bruttolöhne. Sie haben gesagt: Die können nur um 1 Prozent steigen. Wenn die Anpassung an die Bruttolohnentwicklung verheerend ist, wie Sie gesagt haben, dann ist das, was Sie im Vermittlungsausschuß mit Ihrer Mehrheit beschlossen und wir gestern abgelehnt haben, eine absolute Katastrophe.
Bundesminister Horst Seehofer
In der abstrakt definierten Reformbereitschaft - wir erleben das gerade -, in der Analyse dessen, was notwendig wäre und verändert werden müßte, sind die Sozialdemokraten Weltmeister. Aber in der konkreten Reformfähigkeit sind sie eine Reclamausgabe. Dieses Land braucht Menschen, die zu Veränderungen bereit sind, und keine Miniaturausgaben, die glauben, mit verstaubten und vorgestrigen Vorschlägen die Zukunft sichern zu können.
Wir sind zu dieser Zukunftssicherung bereit.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister Seehofer, da Sie mir keine Chance zu einer Zwischenfrage gegeben haben, möchte ich Sie hiermit fragen, ob Sie mit der Begründung des angeblichen Mißbrauchs im Bereich der Gesundheitsförderung auch die Streichung des § 20 Abs. 3 a Sozialgesetzbuch V für die mehr als 2 Millionen in 40 000 Selbsthilfegruppen organisierten chronisch kranken und behinderten Menschen rechtfertigen.
Gleichfalls möchte ich Sie fragen, inwiefern Sie das zu dem ins Verhältnis setzen, was die Bundesregierung im Bereich der Selbsthilfeförderung investiert hat. Sie wissen genau, daß das ein Bereich ist, der sich tatsächlich rechnet. Das hat zum Beispiel die Münchener Studie sehr deutlich gemacht.
Können Sie das gegenüber den tatsächlich Betroffenen wirklich verantworten? Ich gehe davon aus, daß auch Sie als zuständiger Minister in den letzten Tagen eine Unmenge an Protesten von den Betroffenen bekommen haben. Es ist ein Skandal, diese wirklich engagierten Menschen, die ein kostenloses Engagement leisten, dermaßen mit Schlagworten wie Aerobic und Bauchtanz zu diffamieren.
Möchten Sie Stellung nehmen? - Bitte, Herr Minister.
Meine Damen und Herren, die Krankenkassen haben bei 250 Milliarden DM genug Gelder, um einer Selbsthilfegruppe Krebs auch künftig Unterstützung zu leisten. Darum geht es überhaupt nicht.
Es geht um das, was ich auch mitgeteilt bekomme, und das ist der eigentliche Skandal: daß mir Gesundheits- und Fitneßcenter und verschiedene Sportvereine und Sportbünde Briefe schreiben, weil sie auch künftig eine Förderung durch die Krankenkassen erhalten wollen. Da liegt der eigentliche Skandal. Wenn die Krankenkassen, was sie vor einer Woche veröffentlicht haben, tatsächlich 50 000 haupt- und nebenamtliche Kräfte angestellt haben, um dies zu
finanzieren, meine Damen und Herren, dann ist das der eigentliche Skandal, der sich in der gesetzlichen Krankenversicherung abgespielt hat.
Das sind doch alles Nebenbeschäftigungen, und diese werden wir abschneiden. Ich bin selbst Mitglied einer solchen Selbsthilfegruppe Krebs, der man administrativ unter die Arme greift. Bei einem Finanzvolumen von 250 Milliarden DM wird das einer Kasse auch künftig möglich sein, ohne daß man auf den § 20 zurückgreift. Ich könnte Ihnen auch aus dem Bereich der Verwaltungsausgaben der Krankenkassen eine Reihe von Beispielen nennen: Vorstandsverträge, die so hoch dotiert sind, daß man das gar nicht öffentlich diskutieren darf. Da könnte man überall sparen und könnte mehr für die Selbsthilfegruppen tun.
Ich fordere deshalb die Krankenkassen auf: Reduzieren Sie Ihren Verwaltungsaufwand, und verwenden Sie die dabei erzielten Einsparungen für die Unterstützung seriöser Selbsthilfegruppen!
Das Wort hat der Kollege Klaus Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegenden Koalitionsgesetze - das muß ich Ihnen vorwerfen - zeigen:
Gesundheitspolitische Ziele werden von dieser Regierungskoalition ignoriert. Statt dessen betreiben Sie ein Kürzungsroulette. Soziale Ausgewogenheit wird zur bloßen Leerformel. Sie verschieben die solidarische Finanzierung in Milliardenhöhe zu Lasten der Patienten. Herr Bundesgesundheitsminister Seehofer, der soziale Lack ist nun auch bei Ihnen endgültig abgeblättert.
Kürzung des Krankengeldes und gleichzeitig Geschenke für die Leistungserbringer - dies paßt nicht zusammen.
Wenn Sie hier gerade Aerobic erwähnen oder was auch immer an Unsinn von den Krankenkassen teilweise finanziert wird, dann frage ich Sie: Wissen Sie nicht, daß das Bundesversicherungsamt zusammen mit den anderen Länderaufsichtsbehörden in den gemeinsamen Wettbewerbsgrundsätzen den Krankenkassen pro Mitglied und pro Jahr 6,20 DM für Werbung zugebilligt hat? Warum sind Sie nicht dagegen eingeschritten? Das sind immerhin 400 bis 450 Millionen DM. Dagegen hätten Sie doch etwas tun können, wenn Sie es nur gewollt hätten. So einfach, wie Sie es sich machen, sich hier hinzustellen und dies anzuprangern - damit werden Sie Ihrer Aufgabe nicht gerecht, Herr Bundesgesundheitsminister.
Klaus Kirschner
Meine Damen und Herren, mit den vorliegenden Gesetzentwürfen wird deutlich, daß es Ihnen nicht um Reformen geht - obwohl Sie dies ständig betonen -, in deren Mittelpunkt die Interessen der Patientinnen und Patienten sowie die Modernisierung der Versorgungsstrukturen stehen. Anstatt die Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen, verteuern Sie das Gesundheitssystem einerseits durch Nichtstun und auf der anderen Seite durch milliardenschwere Geschenke, für die jetzt die Kranken zahlen sollen. Das können Sie nicht leugnen.
- Das können Sie nicht leugnen. Die treffendste Karikatur der letzten Monate zum Treiben des Bundesgesundheitsministers stammt vom „Hamburger Abendblatt": Der Pharmabändiger Seehofer probt den Sprung des Löwen durch den Reifen. Nur ist es nicht die Pharmaindustrie, die bei diesem Sprung gebändigt wird, sondern der Minister selber darf durch den Reifen springen, den ihm die Pharmaindustrie hinhält.
Die Abschaffung der Positivliste im letzten Dezember ist eines dieser Beispiele. Damals ging es um die Frage, ob die Krankenkassen weiter für therapeutisch fragwürdige Arzneimittel zahlen sollen. Der Minister meinte, ja, und sprang durch den ersten Reifen. Dieser Sprung kommt den Beitragszahlern und nach Vorliegen des Krankenbelastungsgesetzes vor allem den Kranken teuer zu stehen: mit einem Qualitätssprungverlust von rund 2 Milliarden DM.
Ein weiteres Beispiel: Die Festbeträge der Stufen II und III sollen für Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, die ab Januar 1996 zugelassen werden, nicht mehr gebildet werden dürfen.
Wie begründen Sie dies? - Ich darf zitieren:
zur Erleichterung der Finanzierung von Arzneimittelinnovationen, als Anreiz zur verstärkten Investition in die Arzneimittelforschung, zur Stärkung des Pharmastandortes Deutschland.
All diese Gründe findet Seehofer so wichtig, daß er dafür - so steht es in der Begründung Ihres eigenen Gesetzentwurfes - in Kauf zu nehmen bereit ist, daß der Anstieg des allgemeinen Preisniveaus für Arzneimittel voraussichtlich zunehmen wird. Da ist der Herr Minister hellsichtig: Die Preise werden steigen, wenn es die Festbeträge für die betroffenen Mittel nicht mehr gibt.
Einen Satz später in der Begründung ist er jedoch blauäugig. Denn die Budgets werden mit Sicherheit nicht den Effekt der Preissteigerungen begrenzen. Die Budgets halten jetzt schon nicht die Kostenexplosion von über 6 Prozent im Arzneimittelbereich auf, wenn die letzten Meldungen des BKK-Bundesverbandes zutreffen: eine Überschreitung in Höhe von 500 Millionen DM im Westen, eine Überschreitung von 700 Millionen DM im Osten.
Schon die aktuelle Realität stimmt also mit der Theorie nicht überein. Denn bei der Anpassung der Budgets - auch hier nützt ein Blick in das Gesetz - sind die Veränderungen der Preise für Arzneimittel zu berücksichtigen. Von wegen Budgetneutralität! Herr Minister, meine Damen und Herren von der Koalition, bei Ihnen stimmt sogar die Theorie nicht mit der Theorie überein. Dies zeigt sich, wenn man die Gesetzesbegründung mit dem geltenden Gesetz vergleicht.
Was wird das Ganze kosten? Schon aktuell haben die Festbeträge der Stufen II und III zu einer jährlichen Einsparung von zirka 500 Millionen DM geführt. Gegenwärtig sind Gruppen in der Beratung mit einem zusätzlichen Einsparvolumen von 110 Millionen DM. Das mögliche Einsparvolumen schätzt der BKK-Bundesverband, der für die Festbeträge zuständig ist, auf 1 Milliarde DM. Das sind keine Peanuts. Ganz im Gegenteil, die Frage ist: Wer soll das bezahlen? - Wieder die Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung. Schließlich - auch das möchte ich deutlich machen - dürfte diese 1 Milliarde DM nicht einfach aus der Portokasse zu bezahlen sein.
Doch der Minister hat wie immer eine Gegenfinanzierung: In dem Krankenbelastungsgesetz von Bundesregierung und Regierungsfraktionen ist festgelegt, daß die Arzneimittelzuzahlung um 1 DM pro Verordnung angehoben werden soll. Das kostet die Patienten 700 Millionen DM. Im Klartext: Höhere Preise für die Pharmaindustrie, bezahlt mit höheren Zuzahlungen durch die Patienten. Das ist Ihre Politik.
Meine Damen und Herren, ich komme zum letzten Teil des zirzensischen Dreisprungs unseres Pharmabändigers Seehofer: Die Abgabeverpflichtung für importierte preiswerte Arzneimittel des § 129 Sozialgesetzbuch V soll gestrichen werden.
Es geht um einen aktuellen Umsatz von zirka 500 Millionen DM. Die Importabsätze sind kontinuierlich steigend, seitdem diese Vorschrift 1988 durch das GRG eingeführt wurde. Das haben Sie doch durchgesetzt.
Ein Markstein dieser Entwicklung war das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. Februar 1995, in dem der BGH dem pharmazeutischen Großhandel untersagte, importierte Arzneimittel weiterhin zu boykottieren. Mit diesem Urteil steht den Importeuren der gleiche schnelle Vertriebsweg offen wie allen anderen Unternehmen auch.
„Der deutsche Arzneimittelmarkt ist europäischer geworden", so kommentierte der Bundesgesundheitsminister am 22. Februar 1995 in einer Presseerklärung diese BGH-Entscheidung. „Jetzt kann der europäische Preiswettbewerb auch in Deutschland zur Geltung kommen", so zitiert ihn das „Handelsblatt" am 23. Februar 1995. „Das BMG rechnet damit, daß die vom BGH angesprochenen Einsparun-
Klaus Kirschner
gen von zirka 500 Millionen DM im Jahr jetzt Zug um Zug verwirklicht werden", so die eigene Presseerklärung des Bundesgesundheitsministers.
Das ist jetzt etwas mehr als ein Jahr her, Herr Minister. Was für eine Kehrtwendung! „Spring!", sagt der Pharmalöwe zum ministerialen Bändiger, und Seehofer springt wieder einmal.
Nach Sinn oder Unsinn der Kehrtwendung wird nicht gefragt. Es gehe um ein politisches Signal, heißt es in der Begründung, was immer das auch bedeuten mag.
Wie unsinnig der Vorschlag ist, läßt sich schnell darstellen: Europa ist ein zusammenwachsender Markt. In diesem Markt konzentrieren die Firmen ihre Produktionsstellen. 85 Prozent der importierten Arzneimittel werden an einer Produktionsstelle in Europa gefertigt, sind also quellenidentisch. Glauben Sie wirklich, Herr Minister, daß irgendein Unternehmen wegen dieser Entscheidung seine Produktion von Mailand nach Deutschland verlegt?
Bei den Importen geht es in aller Regel um bedeutende Produkte internationaler Firmen. Von den 40 im Verband Forschender Arzneimittelhersteller organisierten internationalen Firmen sind 30 Unternehmen Töchter ausländischer Konzerne. In drei von vier Fällen profitiert also nicht ein deutsches Unternehmen von der geplanten Subvention durch Importverzicht. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Fragen über Fragen, Herr Minister, die Sie als wendiger - zu wendiger - Minister aufwerfen. Alle Fragen machen aber deutlich, wie schlecht für die kranken Menschen, wie kostentreibend für die Krankenversicherung und wie unklar für den Standort Deutschland Ihre Vorschläge sind. Wie zutreffend war doch noch im Februar 1995 Ihre Bewertung zu den Importen! Ich zitiere Sie noch einmal, Herr Bundesgesundheitsminister: „Damit können die Krankenkassen viel Geld sparen. "
Mit dem Geldsparen für die Beitragszahler der Krankenkassen haben Sie offensichtlich mehr Probleme als mit Leistungskürzungen für die Versicherten oder dem Verteilen von Geldgeschenken an Teile der Leistungsanbieter. Wie anders ist die 840 Millionen DM teure, die Einkommen der Ärzte verbessernde zusätzliche Finanzspritze rückwirkend zum 1. Januar 1995 zu werten? Auch diese Zeche, die zudem völlig unsinnig ist und nicht zu strukturellen Verbesserungen für die Hausärzte führt, zahlt der Kranke.
Allein durch die von mir soeben aufgezeigten politischen Geschenke werden rund 4 Milliarden DM an Beitragsgeldern sinnlos verschleudert. 4 Milliarden DM - das muß man sich einmal vergegenwärtigen - werden durch aktives fehlgeleitetes Handeln verpraßt. Und da erzählen Sie uns, es müsse gespart werden!
Meine Damen und Herren, Ihre Gegenrechnung sieht im Gegenzug folgendermaßen aus: Die Erhöhung der Zuzahlungsbeträge bei Arzneimitteln um je 1 DM wird die Kranken auf Dauer mit 700 Millionen DM jährlich belasten. Ja, Herr Minister Seehofer, auch hier haben Sie eine Wendigkeit par excellence bewiesen, die den kranken Menschen teuer zu stehen kommt. Noch am 26. April 1995 haben Sie vor dem Gesundheitsausschuß des Bundesrates erklärt, daß Sie nicht bereit seien, den Weg einer Erhöhung der Selbstbeteiligung weiter zu gehen: „Wenn finanzieller Druck besteht, müssen wir uns etwas anderes überlegen." Die bittere Moral der Geschicht': Trau dem wendigen Bundesgesundheitsminister nicht.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundesgesundheitsminister hat vorher auf die von ihm vorgesehene Absenkung des Krankengeldes um 10 Prozent hingewiesen. Dies ist eine weitere massive, nicht zu akzeptierende Belastung von schwerkranken Langzeitpatienten. Daß Patienten und ihre Familien neben der Sorge um die Krankheit auch noch finanziell betroffen werden, das interessiert bei dem von eisiger sozialer Kälte geprägten Kürzungsroulette der Bundesregierung nicht.
Meine Damen und Herren, machen Sie es sich nicht so einfach. Schauen Sie doch einmal die Ergebnisse an: Vom Krankengeld, das dann um 10 Prozent weiter gekürzt wird, muß der Versicherte seinen Rentenversicherungsbeitrag, seinen Arbeitslosenversicherungsbeitrag und seinen Pflegeversicherungsbeitrag bezahlen. Er erhält nachher also noch rund 75 Prozent seines vorherigen Nettogehaltes. Dies wiederum bedeutet im Schnitt in der Bundesrepublik Deutschland rund 2 000 DM im Monat. Meine Damen und Herren, Sie alle wissen genau, daß Sie mit diesem niedrigen Einkommen nicht auskommen müssen.
- Das ist kein Unsinn, Herr Bundesgesundheitsminister. Sie wissen ganz genau, daß es zutrifft, was ich hier sage. Durchschnittlich 2 000 DM Krankengeld pro Monat ergibt die Berechnung.
- Das ist kein Witz, Herr Bundesgesundheitsminister. Ich bin gern bereit, Ihnen die Zahlen nachzuliefern, wenn Sie sie nicht haben.
Herr Kollege Kirschner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich, ja.
Herr Kollege Kirschner, würden Sie zustimmen, daß auch von der vorherigen 100-Prozent-Krankengeldzahlung diese Beiträge gezahlt wurden, so daß der Unterschied bei dem, was jemand bekommt, nicht etwa zwischen 100 Prozent und 90 Prozent minus Beitragszahlung liegt, sondern auch jetzt wieder bei netto 10 Prozent weniger?
Das habe ich doch überhaupt nicht bestritten, Frau Kollegin Limbach.
Es geht darum - deshalb sollten Sie dies nicht verharmlosen -, daß Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen haben - es wird noch beraten werden, aber es ist Ihr eindeutiger politischer Wille -, das Krankengeld um 10 Prozent abzusenken. Da sollten wir nicht so tun, als ob dies nur eine Kleinigkeit wäre. Sie wissen selber, daß dies bei dem durchschnittlichen Nettoeinkommen - ich habe vorhin die Zahlen der AOK Baden-Württemberg genannt - netto 2 000 DM Krankengeld bedeutet.
Damit kann man keine großen Sprünge machen. Darauf will ich Sie aufmerksam machen. Sie sollten nicht versuchen, dies in irgendeiner Form zu verniedlichen. Darum geht es letzten Endes.
Meine Damen und Herren, es geht weiter mit der Streichung, nämlich mit der Streichung des Zuschusses für Zahnersatz für Versicherte unter 19 Jahren. Damit wird die Versorgung mit Zahnersatz für diese Altersgruppe vollends vom Einkommen abhängig. Ich frage Sie: Soll man in Zukunft Arm und Reich an den Zahnlücken erkennen? Dies ist doch nur der erste Schritt - bekennen Sie sich doch dazu -, um den Zahnersatz mit einem kompletten Zahnlückengesetz vollends zu streichen. Offensichtlich ist eines Ihrer Gesundheitsziele - da sehen Sie, daß Sie sich von den Gesundheitszielen wegbewegen - die zahnlose Zukunft für viele Menschen.
Herr Minister Seehofer, es ist Ihre eigentliche Aufgabe als Gesundheitsminister, präventive zahnerhaltende Maßnahmen umfassend zu aktivieren und zu verbessern und nicht nach der Rasenmähermethode Patienten zu bestrafen.
Mit welcher Willkür die eigene Unfähigkeit zur Steuerung des Gesundheitswesens vertuscht werden soll, zeigt sich auch bei den Kürzungsvorschlägen zu den Kuren. Sie sollten doch zumindest soviel gesundheitspolitischen Verstand haben, wenn Sie schon von Prävention reden, um zu wissen, daß es bei Vorliegen der medizinischen Notwendigkeit überhaupt keinen Sinn macht, die Kurdauer zu verkürzen, das Wiederholungsintervall zu verlängern, die Zuzahlung zu erhöhen oder gar eine Urlaubsanrechnung vorzunehmen.
Auch bei der Streichung der Zuschüsse für Brillengestelle wird die Willkür, mit der hier vorgegangen wird, überdeutlich. Es ist ein Kürzungsvolumen, das - ich betone es noch einmal - nicht notwendig ist, weil es zweifach von Ihnen selbst verschuldet ist: einmal durch milliardenschwere regierungsseitige Geldgeschenke und einmal durch das Nichtangehen von ungelösten Problemen im Gesundheitswesen. Ein solches Sparvolumen wird vorgegeben, anschließend wird mit dem Rotstift ohne Sach- und Fachverstand zusammengestrichen.
Meine Damen und Herren, Sie stellen sich hier selbst ein katastrophales Armutszeugnis aus. Ihr ziel- und orientierungsloses Herumdoktern am Gesundheitswesen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Sie Ihren Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Strukturreform in der gesetzlichen Krankenversicherung damit anpreisen, daß die Selbststeuerungskräfte im Gesundheitswesen deutlich gestärkt werden müssen, indem den Selbstverwaltungen mehr Finanzverantwortung übertragen werden. Dieses Ziel, das auch unter dem Begriff „Vorfahrt für die Selbstverwaltung" vom Bundesgesundheitsminister in der Vergangenheit stark vermarktet wurde, ist sicherlich lohnend. Aber es ist das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht. Das ziellose Herumgemansche mit zahlreichen Einzelgesetzen erlebt nämlich jetzt mit den aktuellen Kürzungen der Koalition einen Gipfel der Inkonsequenz. Mit der vorgesehenen gesetzlichen Fixierung und Senkung der Beitragssätze wird massiv in die Selbstverwaltungskompetenz der gesetzlichen Krankenversicherung eingegriffen. Damit wird Ihr eigener Gesetzentwurf einschließlich seiner Begründung, der heute in zweiter und dritter Lesung zur Abstimmung gestellt wird, ad absurdum geführt. Welch eine Bankrotterklärung für den Konsensstifter vom Petersberg! Auch dies muß hierzu gesagt werden.
Meine Damen und Herren, Sie geben keine Antworten auf die zentralen Fragen zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung, zur Sicherung und Förderung von Wirtschaftlichkeit und Qualität der gesundheitlichen Versorgung und zum Handlungsbedarf, der sich durch die mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eingeleitete neue wettbewerbliche Orientierung ergibt.
Das unterscheidet uns von Ihnen. Genau bei diesen zentralen Fragen setzt der SPD-Entwurf eines GSG II an.
Die SPD will der „sprechenden Medizin" endlich den Stellenwert zuführen, den sie verdient hat. Zur Stärkung der Hausärzte ist es deshalb unabdingbar, daß die gemeinsame Selbstverwaltung beauftragt wird, einen eigenständigen einheitlichen Bewertungsmaßstab nur für Hausärzte zu schaffen, daß die Gesamtvergütung für Haus- und Fachärzte getrennt wird, daß Hausärzte ein eigenes Verhandlungsmandat erhalten und daß die Weiterbildung von Allge-
Klaus Kirschner
meinmedizinern in den Hausarztpraxen ausreichend finanziell gefördert wird.
Dieses Grundprofil für eine bessere hausärztliche Versorgung in Deutschland entspricht im übrigen den jahrelangen Forderungen der Hausärzte. Die Anhörungen im Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages haben dies bestätigt.
Das erweiterte Spektrum medizinischen Fachwissens, zunehmende Erfordernisse der Qualitätssicherung, ein verändertes Krankheitspanorama der Menschen und nicht zuletzt massive wirtschaftliche Zwänge erfordern Versorgungsalternativen zu dem heute etablierten Versorgungssystem. Eine den Anforderungen gerecht werdende ambulante Versorgungsstruktur läßt kooperative Versorgungsformen in den Mittelpunkt rücken, die es zu fördern gilt.
Einer Ihrer zahlreichen Gesetzesversuche sieht zwar die Möglichkeit neuer Versorgungsformen im GKV-System vor.
Herr Kollege Kirschner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zöller?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege Kirschner, Sie haben gerade behauptet, es sei eine Forderung der Kassenärzte, was der SPD-Entwurf beinhalte. Ich darf hierzu kurz etwas zitieren:
Die Kassenärzte lehnen die SPD-Vorschläge für die dritte Stufe der Gesundheitsreform ab. In einer Resolution, die beim 2. Kassenärztetag in Bonn verabschiedet wurde, wenden sie sich vor allem gegen die von den Sozialdemokraten beabsichtigte Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Versorgung. Dadurch würden niedergelassene Fachärzte in ihrer Existenz gefährdet.
Herr Kollege Zöller, wenn Sie mich schon zu zitieren versuchen, dann müssen Sie wenigstens zuhören. Ich bestreite überhaupt nicht, daß wir mit unserem SPD-Gesetzentwurf eine andere Sichtweite der Dinge als die Kassenärztliche Bundesvereinigung haben,
was beispielsweise unsere Forderung nach Öffnung der Krankenhäuser für eine ambulante fachärztliche Versorgung angeht. Nur, dort wird natürlich sehr stark mit Nebelkerzen geworfen. Wir haben gesagt: gemäß dem regionalen Bedarf. Es ist auch unbestritten, daß wir eine andere Position als die Kassenärzte haben, wenn wir sagen: Wir wollen eigene Sektionen, einen eigenen Honorarverteilungsmaßstab, ein eigenes Verhandlungsmandat, eigene Vergütungen
für Hausärzte und für Fachärzte. Das ist doch unbestritten.
Lieber Herr Kollege Zöller, Sie müssen mir nur zuhören. Ich habe hier gesagt: Wir wollen eine Stärkung der Hausärzte, der „sprechenden Medizin". Ich habe darauf hingewiesen, daß dies ganz eindeutig auch die Forderung der Hausärzte ist, einschließlich einer finanziellen Förderung der hausärztlichen Weiterbildung in den Praxen. Dies wird ganz eindeutig seitens der Hausärzte unterstützt. Sie werden doch zugeben, daß dies auch bei der Anhörung im Gesundheitsausschuß, in dem Sie genauso wie ich anwesend waren, bestätigt wurde.
- Lieber Herr Kollege Zöller, offensichtlich reden wir von zwei unterschiedlichen Tatbeständen. Anders kann ich dies nicht beurteilen.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen nur eines: Wenn Sie wirklich neue Versorgungsformen wollen - das schreiben Sie auch in Ihrem Gesetzentwurf -, dann dürfen Sie solche Modellvorhaben, die Sie ausschließlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen erproben wollen, nicht an einer Marke von 25 Prozent scheitern lassen. Sie wissen alle, daß Sie damit die notwendige Modernisierung letztlich überhaupt nicht schaffen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Mit unserem GSG II liegt dem Deutschen Bundestag ein Gesamtreformkonzept vor, mit dem die Versorgungsstrukturen modernisiert und stabile Beiträge gesichert werden.
- Durch das Globalbudget, lieber Herr Kollege Lohmann. Das sollten Sie sich einmal genau ansehen. Das ist der Unterschied zu Ihnen. Wir erhöhen eben nicht die Selbstbeteiligung, sondern wir wollen den Vertragspartnern wirklich die Möglichkeit geben, im Sinne von Selbstverantwortung und Vorfahrt für die Selbstverwaltung zu entscheiden. Das unterscheidet uns: Wir reden nicht nur davon, sondern wir schreiben das konkret in unseren Gesetzentwurf hinein.
Vor allen Dingen bleibt bei uns die soziale Gerechtigkeit gewahrt.
Meine Damen und Herren, damit keine Unklarheiten bestehen: Der vorgelegte Horrorkatalog der Bundesregierung ist für uns keine Gesprächsgrundlage.
Wir werden mit Ihnen nicht über 25 DM pro Kurtag verhandeln und 22,50 DM als sozialdemokratischen Erfolg verkünden. Das können Sie sich abschminken. Wir wollen Reformen; dafür stehen wir. Aber wir
Klaus Kirschner
wollen keinen sozialpolitischen Amoklauf. Das unterscheidet uns von Ihnen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ulf Fink.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden über das Beitragsentlastungsgesetz, und damit reden wir über das Zentralthema in der Bundesrepublik Deutschland, nämlich wie die viel zu hohe Arbeitslosigkeit wirkungsvoll bekämpft werden kann.
Am 23. Januar haben sich die Bundesregierung, die Arbeitgeber, aber auch die Gewerkschaften darauf verständigt, daß ein ganz wichtiger Beitrag zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit darin zu sehen ist, daß die Sozialversicherungsbeiträge nicht zu hoch sind, daß wir alle Bemühungen unternehmen müssen, um unter 40 Prozent zu bleiben. Das war, wie gesagt, nicht nur Auffassung der Bundesregierung, sondern auch Auffassung der Arbeitgeber und der Gewerkschaften. Mit dem Beitragsentlastungsgesetz wird der Versuch unternommen, diesem Ziel ein Stück näher zu kommen.
Auch wenn der Abgeordnete Rudi Dreßler gesagt hat, es gebe nur eine von der Regierung geschürte Diskussion über angeblich zu hohe Lohnnebenkosten: Das Präsidium der SPD hat sich ebenfalls dazu bekannt, daß bei den Lohnnebenkosten etwas getan werden muß.
Nun wird vorgeschlagen, 7,5 Milliarden DM einzusparen. Ich halte das für eine mutige und auch gute Leistung des Bundesgesundheitsministers. Denn was wäre denn gewesen, wenn er sich verweigert hätte? Wo wären dann 7,5 Milliarden DM eingespart worden? Dann hätten wir in den Bereichen der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung diese 7,5 Milliarden DM aufbringen müssen.
Wenn man weiß, daß die Heraufsetzung der Altersgrenze für Frauen im Jahr 2000 lediglich den Betrag von 2,5 Milliarden DM erbringt, und wenn man weiß, daß die Verschiebung der Erhöhung des Kindergeldes 4 Milliarden DM erbringt, erkennt man doch - hier dreht es sich um 7,5 Milliarden DM -, was man dann alles noch hätte tun müssen.
Deshalb gebührt dem Bundesgesundheitsminister ein Dank dafür, daß er mutig genug war, auch im eigenen Bereich Sparvorschläge vorzulegen.
Ich sage ein Zweites: Es macht wenig Sinn, wenn betont wird, man solle es der Selbstverwaltung überlassen, ob sie die Beitragssätze senkt oder ob sie sie nicht senkt. Unser Prinzip ist: Wer die Verantwortung für etwas trägt, der soll auch für die Folgen aufkommen.
Die Kassen haben vorher immer zu Recht kritisiert, daß es gesetzgeberische Entscheidungen gegeben hat, die auf die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung einen wichtigen Einfluß nehmen. Sie haben beim Gesetzgeber angemahnt, der Gesetzgeber möge seiner Verantwortung gerecht werden.
Aber was im positiven Falle gilt, gilt natürlich auch andersherum. Wenn sich der Gesetzgeber entschließt, Maßnahmen zu ergreifen, die nicht leicht sind, zum Beispiel die Erhöhung der Zuzahlung bei den Arzneimitteln oder die Senkung des Krankengeldes - um nur einige Maßnahmen zu nennen -, dann muß man ihm auch das Recht zubilligen zu sagen: Ich möchte, daß dieses Geld auf Heller und Pfennig den Versicherten und ihren Arbeitgebern wieder zugute kommt und nicht etwa für andere Zwecke mißbraucht wird.
Ich finde, das muß man dem Gesetzgeber nun wirklich zubilligen.
Ich möchte zu einem weiteren Punkt kommen. In der Diskussion sind, zum Beispiel von Herrn Kirschner, die Begriffe „Horrorkatalog", „Sozialdarwinismus" oder „irrsinnige, menschenverachtende Sparaktion" - das hat Rudi Dreßler gesagt - gefallen.
Ich möchte Sie wirklich bitten, im Ton etwas maßvoller zu sein.
Es geht bei Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 250 Milliarden DM jährlich um ein Einsparvolumen von 7,5 Milliarden DM. Jeder, der nachrechnen kann, weiß, das sind 3 Prozent der gesamten Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Wenn Sie dann in diesem Zusammenhang von „Sozialdarwinismus", von „menschenverachtendem Irrsinn" und von „Horrorkatalog" sprechen, sind Sie, meine Damen und Herren, wirklich nicht mehr in der Realität. Das kann niemand mehr nachvollziehen.
Es wird beispielsweise auch gesagt, die Eigenbeteiligung in Deutschland sei viel zu hoch. Sehen wir uns einmal die Zahlen, die das Volumen der Zuzahlung der privaten Haushalte bei den Krankenversicherungen widerspiegeln, im europäischen Vergleich an. In Deutschland werden 11,3 Prozent zugezahlt, in Österreich 13,9 Prozent, in Großbritannien 14,7 Prozent, in Frankreich 17,3 Prozent und in der Schweiz sogar 24,6 Prozent.
In diesem Zusammenhang sprechen Sie davon, daß bei uns der Beitrag, den das Individuum zu zahlen hat, der also nicht kollektiv finanziert ist, weit überzogen sei und daß man ihn demzufolge nicht mehr vertreten könne. Auch Sie müssen darüber nachdenken, welches Gleichgewicht wir denn für
Ulf Fink
die Sozialversicherungssysteme in Zukunft haben können. Wir können nur einen Teil kollektiv finanzieren, und wir müssen einen anderen Teil privat finanzieren. Daß wir uns hier nicht außerhalb der in Europa üblichen Größenordnung befinden, das zeigt der entsprechende Vergleich. Ich möchte Sie bitten, das wirklich ernst zu nehmen und solche Themen in anderer Form darzustellen.
Zu den einzelnen Maßnahmen ist schon eine ganze Menge gesagt worden. Aber ich möchte von meiner Seite aus gerne noch einige Themen ansprechen. Das eine Thema ist: Von den 7,5 Milliarden DM wird nur ein Teil über zusätzliche Selbstbeteiligung finanziert. Einen ganz gewichtigen Teil, auf den Sie gar nicht eingegangen sind, machen aber die Einsparungen im Krankenhaussektor aus. Es sind 800 Millionen DM im nächsten Jahr, ansteigend auf 2,4 Milliarden DM in drei Jahren. Von den Gesamteinsparungen in Höhe von 7,5 Milliarden DM sind allein 2,4 Milliarden DM Einsparungen bei den Krankenhausausgaben. Diese sind doch nun wirklich vertretbar. Denn wir führen zum 1. Juli die zweite Stufe der Pflegeversicherung, die stationäre Pflege, ein. Damit werden die Krankenkassen entlastet, weil dann nicht länger Pflegefälle in Akutkrankenhäusern versorgt werden müssen und die Kosten nicht mehr von der Krankenversicherung getragen werden müssen. Das ist eine sinnvolle und notwendige Einsparmaßnahme. Daher kann ich nicht verstehen, Herr Kirschner, daß Sie sagen, Sie wollten diesen Horrorkatalog ablehnen, obwohl Sie doch früher selber mit dafür gesorgt haben, daß diese Einsparungen durch die Pflegeversicherung der Krankenversicherung zugute kommen. Wenigstens dieser Maßnahme müßten Sie dann doch zustimmen.
Die Einsparungen im Krankenhausbereich machen einen erheblichen Teil der 7,5 Milliarden DM aus.
Sie sagten eben ferner, auch der Wegfall der Zuschüsse der Krankenkassen zu Brillengestellen gehöre zum Horrorkatalog und sei ein menschenverachtender Irrwitz. Viele Leute bezahlen heute für ihre Brille 400 oder 1 000 DM. Und da soll es menschenverachtender Irrsinn sein, wenn sie die 20 DM selber bezahlen müssen? Wo leben wir denn überhaupt? Das ist doch nicht zu glauben.
Nein, ich finde, man muß, wenn man sich über diese Themen sinnvoll unterhalten will, sehr viel korrekter und unmittelbarer argumentieren.
Dasselbe gilt auch für das Krankengeld. Auch da müßte doch der Grundsatz, daß man, wenn man eine Sozialversicherungsleistung bezieht, nicht mehr Geld bekommen soll, als man vorher als Arbeitender bekommen hat, von Ihnen anerkannt werden. Sie können doch nicht an der Tatsache vorbeisehen, daß das Krankengeld in den letzten beiden Jahren in den alten und den neuen Ländern von 13,3 Milliarden DM im Jahre 1993 auf 18,4 Milliarden DM im Jahre 1995 gestiegen ist, sich also um fast 50 Prozent erhöht hat. Bei einem Mehraufwand von rund 5 Milliarden DM weiß doch jeder, was passiert ist. Es ist im Grunde genommen folgendes gemacht worden: Da die Unternehmen nicht mehr bereit waren, ihre Sozialkosten zu bezahlen, haben sie sie nicht nur auf die Rentenversicherung verlagert, sondern auch auf die Krankenversicherung. Sie müssen doch mit mir einer Meinung sein, daß man so etwas unterbinden muß.
Herr Kollege Fink, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner? - Bitte, Herr Kollege.
Herr Kollege Fink, habe ich Sie richtig verstanden: Ist das für Sie die Begründung zur Kürzung des Krankengeldes für den einzelnen Betroffenen?
Ich wiederhole, was ich gesagt habe. Immer dann, wenn eine Lohnersatzleistung sehr viel höher ist als das, was man vorher verdient hat, und sehr viel höher ist als andere Lohnersatzleistungen, beispielsweise Frühverrentungsregelungen, Sozialplanregelungen, dann ist es doch kein Wunder, daß die Betreffenden dann auf diese Leistung ausweichen und nicht die anderen Leistungen in Anspruch nehmen. Das müßte doch auch Ihnen einleuchtend sein, Herr Kollege Kirschner.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich gerne noch einmal mit den Fragen der Prophylaxe, mit den Fragen der Gesundheitsvorsorge beschäftigen, die in dem Zusammenhang eine besondere Rolle spielen. Wir als Christlich-Demokratische/Christlich-Soziale Union geben der Prävention und besonders auch der Unterstützung von Selbsthilfegruppen eine ganz besondere Bedeutung. Schließlich waren wir es, die neue Paragraphen in die Krankenversicherung eingeführt haben. Gerade deshalb schauen wir ganz besonders genau auf diesen Punkt.
In dem Zusammenhang müssen drei Dinge beachtet werden.
Wir müssen uns zum einen darüber unterhalten, wie denn eine sinnvolle Finanzierung der Gesundheitsvorsorgemaßnahmen, der Präventionsmaßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland stattfindet. Es muß doch unbestritten sein, daß es nicht lediglich eine Aufgabe der Krankenversicherung ist, sondern nach Art. 74 unserer Verfassung ist es eine Aufgabe, die der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegt und die von Bund, Ländern und Gemeinden und der Krankenversicherung durchgeführt wird, also von mehreren Institutionen.
Ulf Fink
Wir werden in dem Hearing genau darauf zu achten haben, welche Gewichte heute der Gesundheitsvorsorge in der Bundesrepublik Deutschland von den verschiedenen Institutionen beigemessen werden. Ich weiß, wovon ich spreche, denn in Berlin, wo ich einige Jahre Verantwortung in der Gesundheitspolitik getragen habe, haben wir hohe Mittel für die Gesundheitsvorsorge, für die Früherkennung und für ähnliche Maßnahmen verwandt, und zwar finanziert aus Mitteln des Landeshaushaltes.
Schauen wir uns beispielsweise einmal die Relation damals in Berlin an. Da haben wir für gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen weit über 10 Millionen DM allein aus dem Landeshaushalt ausgegeben. Ich weiß von vielen anderen Gemeinden und Ländern, in denen Sie, die Sozialdemokraten, aber auch die Grünen Verantwortung tragen, daß Sie das bei weitem nicht auf die Beine gestellt haben. Ich weiß auch, daß die gesetzlichen Krankenversicherungen zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen nicht etwa gigantische Beträge aufgewendet haben, sondern sie haben bei 250 Milliarden DM Gesamtausgaben insgesamt 10 Millionen DM und nicht mehr für Selbsthilfegruppen verwandt. Deshalb werden wir in dem Hearing diesen Komplex genauestens einer Prüfung unterziehen müssen.
In diesem Zusammenhang möchte ich ein Zweites anführen. Es kann nicht angehen, daß man von seiten der SPD sagt: Ja, bitte, tut mehr für die Vorsorge. Wenn ich mir beispielsweise ein Land wie Nordrhein-Westfalen und den Betrag anschaue, den Nordrhein-Westfalen zur Unterstützung der Wohlfahrtspflege bereitgestellt hat, die sich für gesundheitliche Projekte in einem wesentlichen Bereich einsetzt, dann muß ich feststellen, daß der Betrag, den die Spielbanken früher ausschließlich der Stiftung freier Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen überwiesen haben, sich in einer Größenordnung von 150 Millionen DM pro Jahr bewegte. Man hat in Nordrhein-Westfalen mit einem Schlage davon 100 Millionen DM gestrichen und überweist den Wohlfahrtsverbänden jetzt nur noch 50 Millionen DM. Dieser Verlust von 100 Millionen DM hat die Gesundheitsfürsorge und die Gesundheitsvorsorge in Nordrhein-Westfalen auf das empfindlichste getroffen. Wenn Sie hier klagen, müssen Sie allerdings auch bereit sein, in den Ländern, in denen Sie selber die Verantwortung tragen, das, was Sie jetzt tatsächlich tun, durch etwas Besseres zu ersetzen.
Meine Damen und Herren, wir sind bei entsprechenden Ergebnissen des Hearings auch zu Veränderungen bereit. Wir werden uns genau anschauen, was dort vorgetragen wird. Aber an einem kommen wir nicht vorbei:
Wir werden und müssen bereit sein - auch die Sozialversicherung und die gesetzliche Krankenversicherung -, einen Beitrag dazu zu leisten, die zu hohen Lohnnebenkosten zu senken. Das sind wir den 4 Millionen arbeitslosen Menschen in Deutschland schuldig. An diese Verantwortung wollten wir Sie erinnern und nicht an das, was Sie an diesem oder jenem oder einem dritten Detail zu kritisieren haben.
Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Marina Steindor, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten Jahr haben die Debatten in diesem Hohen Hause zu der Erkenntnis geführt, daß die Finanzierungsprobleme der GKV wesentlich durch die Politik selbst entstanden sind.
Ich nenne hier die Pflegepersonalregelung, die Verschiebung der Kosten in andere Zweige der Sozialversicherung.
Was uns jetzt geboten wird, geht wieder genau in die gleiche, die falsche Richtung. Zusätzlich zu dem Gesetzeskomplex über das Gesundheitswesen, den wir seit Monaten beraten, werden wir nun mit einem sogenannten Beitragsentlastungsgesetz konfrontiert, das einzuführen für nötig befunden wird, und das, obwohl die Koalition unablässig behauptete, daß all die anderen Gesetze bereits diesem Zweck dienten.
Der Zweck, man wolle eine Beitragssatzsenkung erreichen, ist nur vorgeschoben. Der Abbau der gesetzlichen Krankenversicherung steckt in Wahrheit dahinter.
Sie beweisen erneut, daß die Patienten und die Versicherten schon lange nicht mehr im Mittelpunkt der Regierungspolitik stehen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind sogar unter dem Aspekt der Beitragssatzsenkung in einigen Punkten kontraproduktiv. Durch die Kürzung der Höhe der Lohnfortzahlung werden zunächst die Einnahmen der Krankenkassen vermindert.
Ich hätte meine gesamte Redezeit mit Zitaten von Ihnen, Herr Minister, füllen können,
mit Ihren Versprechen, die Versicherten nicht weiter mit Zuzahlungen zu belasten,
mit Ihren Aussagen über den notwendigen Konsens in der Gesundheitspolitik - weil das Gesetz der Pflicht zur Zustimmung des Bundesrates bedarf -, mit Ihren Bekenntnissen zum Solidarsystem, mit Au-
Marina Steindor
ßerungen gegen die Ausgrenzung von Leistungen der GKV
und über Ihr selbst aufgestelltes Prinzip von der Vorfahrt für die Selbstverwaltung und und und.
All das spielt beim Beitragsentlastungsgesetz keine Rolle mehr.
Standen Sie mit dem Lahnstein-Kompromiß noch als der tapfere Gesundheitsminister da, der es wagte, sich mit der einflußreichen Standesorganisation der Ärzte und der Pharmaindustrie anzulegen, so haben Sie jetzt Ihr Gesicht verloren. Oder - wie Peter Ziller von der „Frankfurter Rundschau" so treffend formulierte -: Bei Ihnen blättert der soziale Lack. Ich würde sagen: Er ist an manchen Stellen schon ganz ab,
und man kann das neoliberale Zwei-Klassen-Medizin-Modell erkennen.
Sie sind der verlängerte Arm des Politikkonzepts der F.D.P. geworden.
Wenn man der Rede von Herrn Möllemann gelauscht hat, in der er dieses neoliberale Konzept gefeiert hat, in der er gefordert hat, daß man neu definieren muß, was Subsidiarität und Solidarität sind, dann wird man darin den Beweis dafür gefunden haben, daß die jetzigen Liberalen nichts aus der Geschichte gelernt haben.
Wenn man den Redebeitrag mit den Beiträgen verglichen hätte, die Ihre liberalen Vorgänger gehalten haben, als im Reichstag von Bismarck die Reichsversicherungsordnung eingebracht worden ist, so hätte man feststellen können, daß dieser denen sehr ähnlich war. Schon damals sind Sie gegen die gesetzliche Krankenversicherung Sturm gelaufen.
Sie versuchen seit über 100 Jahren, mit ihrer Politik, mit diesem neoliberalen Konzept eine Rechnung zu begleichen. Sie haben nicht verstanden, welch immense Kulturleistung im solidarischen Absichern von kollektiven Lebensrisiken besteht. Das haben Sie hier ganz deutlich gezeigt.
Ein nicht zustimmungsbedürftiges Gesetz zu machen war schon lange der Traum der F.D.P.: Endlich ohne diesen lästigen Bundesrat regieren! Sie entwerten die Verhandlungen im Vermittlungsausschuß
über die zustimmungsbedürftigen Gesundheitsgesetze.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Möllemann?
Nein, ich möchte gerne fortfahren.
Abgelehnt.
Das vorgegebene Sparziel wird fast ausschließlich durch eine Belastung der Versicherten erreicht.
Die Entlastung der Arbeitgeber durch diese Maßnahmen ist marginal; die Versicherten hingegen werden immens belastet.
Verzeihung, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen?
Herr Kollege Möllemann, die Akustik ist dergestalt, daß Sie gerade nicht hören konnten, daß die Kollegin Ihre Zwischenfrage nicht zuläßt.
- Nein.
Bitte, Frau Steindor.
Ich halte es angesichts der politischen Verhältnisse im Kräftespiel zwischen Union und F.D.P. sowieso für ehrlicher, das Gesundheitsministerium endlich aufzulösen und diesen Bereich in das Wirtschaftsministerium einzugliedern. Dort könnte dann Herr Thomae Staatssekretär werden und seine F.D.P.-Vorstellungen offen darstellen.
Ein besonders zynischer Zug der Politik ist die Kürzung des Krankengeldes.
Die Ausführungen, die Herr Fink hier gemacht hat, lassen darauf schließen, daß noch weitere Kürzungen geplant sind.
Auf der anderen Seite machen Sie Geschenke an die Pharmaindustrie und an die Ärzteschaft, vor allem an die Zahnärzte. Ich bin fest davon überzeugt, daß sich diese medizinische Fachrichtung demnächst in Zahlmedizin umbenennen wird.
Marina Steindor
Die Demütigungen eines schlechten Gebisses auf Grund der Altersarmut werden wir erst in ein paar Jahrzehnten haben. Sie schleichen sich aus der politischen Verantwortung.
Insgesamt ist dies ein Konzept der Ausgliederung von Leistungen aus der GKV. Es ist, wie Herr Möllemann hier sehr schön ausgeführt hat, ein Modell für die monetäre Steuerung von Zahnpflege. Wahrscheinlich wird es demnächst Sparbüchsen in Form von großen Backenzähnen geben, die in den Badezimmern aufgestellt werden und in die die Kinder, wenn sie die Zähne wieder mal nicht geputzt haben, einen Teil ihres Taschengeldes abdrücken dürfen.
Sie machen dies alles nicht aus gesundheitspolitischen Gründen, sondern um virtuelle Arbeitsplätze zu bewerkstelligen.
Schon jetzt aber ist absehbar, daß es im Bereich der Gesundheitsförderung, bei Reha-Einrichtungen und Kurkliniken, zu Arbeitsplatzverlusten kommen wird. Das könnte ich Ihnen auch vorrechnen.
Einer der größten Skandale war der Auftritt unseres werten Gesundheitsministers, als er sich hier über angebliche Werbemaßnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgelassen hat.
In einigen Punkten ist es sicherlich zu Entgleisungen gekommen. Dafür aber trägt die Politik - hier spreche ich auch die SPD an - mit die Verantwortung. Sie haben die Kassen mit diesem unglückseligen Wettbewerb in diese Situation hineingetrieben.
Wenn Sie sich hier hinstellen und sich über Ernährungsberatung lustig machen, dann frage ich Sie, Herr Minister: Haben Sie eigentlich den Ernährungsbericht Ihres eigenen Ministeriums gelesen?
- So? Dann wissen Sie also, daß 113 Milliarden DM ernährungsbedingte Krankheitskosten entstehen.
Sie negieren die Tatsache, daß es durch Rauchen 40 Milliarden DM und durch Bewegungsmangel weitere 60 Milliarden DM an Gesundheitskosten geben wird. Sie negieren die gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnisse über Gesundheitsförderung. Sie betreiben eine Politik, mit der sie durch die Tatsache, daß Sie jetzt die Gesundheitsförderung in eine freiwillige Leistung im Rahmen der Satzung transformieren,
diese zu etwas abwerten, was nicht in den Regelkatalog der GKV gehört und deshalb Ihrer Logik nach überflüssig ist.
Das ist angesichts des demographischen Wandels gerade falsch. Denn wie wollen Sie denn eine lange Plateauphase von Wohlbefinden bewerkstelligen? Etwa mit der Verordnung teuerer Medikamente? Überhaupt kann man nur feststellen, daß Sie alle medizinsoziologischen Erkenntnisse über Schichtgradient und Krankheit negieren, nämlich daß gerade die Armen beispielsweise bei der Zahnprophylaxe noch nicht so dabei sind, wie wir uns das alle wünschen.
Sie setzen auf High-Tech-Maßnahmen. Es wird von der Realisierung des medizinischen Fortschritts gesprochen, und dann heben Sie die Festbetragsregelung bei patentgeschützten Arzneimitteln auf. Patent ist bei Ihnen immer gleichbedeutend mit Gentechnologie.
Sie setzen auf Methoden, die vielleicht in 20 Jahren medizinisch einsetzbar sein werden. Gesundheitsförderung wirkt hier und heute. Gesundheitsförderung wirkt auch beitragssatzentlastend.
Was Sie hier liefern, ist eine gesundheitspolitische Bankrotterklärung. Sie wollen nur ein medizinischkuratives Medizinsystem. Sie nehmen den Krankenkassen die Möglichkeit, Krankheiten zu verhindern.
Sie setzen auf ein technisch dominiertes Gesundheitssystem. Sie machen leere Versprechungen und belasten die Versicherten zugunsten der virtuellen Schaffung von Arbeitsplätzen. Sie machen dies alles in einem blindwütigen, meiner Meinung nach ideologisch motivierten Aktionismus. Es wird immer gefragt, was wir für Konzepte haben.
Abschließend ein letzter Satz.
Durch eine einfache Maßnahme hätten Sie sogar noch mehr Geld in die Kassen bekommen können, nämlich wenn Sie die Beitragsbemessungsgrenze und die Versicherungspflichtgrenze bei der Rentenversicherung angepaßt hätten.
Das Wort hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicher kann es besser werden, Herr Möllemann; dafür werden wir etwas tun.
Wer in den letzten Monaten und auch heute wieder die Debatten der Regierungskoalition um die Ausgaben im Gesundheitswesen verfolgt hat, dem wurde wirklich Erstaunliches suggeriert. In allen Medien haben Sie, Herr Seehofer, der Öffentlichkeit weiszumachen versucht, die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung rührten überwiegend daher, daß den Versicherten unter dem Deckmantel der Gesundheitsförderung allerlei Unsinniges, Nutzloses und auch Kurioses angeboten wird. Das mag manchmal der Fall gewesen sein; das war auch nicht in unserem Sinne.
Wer sich aber nun den von Ihnen vorgelegten Entwurf für ein Beitragsentlastungsgesetz - der Name ist eigentlich schon verräterisch genug - ansieht, wird feststellen: Ihr monatelanges Lamentieren über Bauchtanzkurse und Häkelkurse auf Krankenschein war nichts weiter als eine wohlvorbereitete Kampagne.
Es ging Ihnen vor allem darum, eine Stimmung zu erzeugen, die es Ihnen leichter machen würde, Ihr als Sparkonzept getarntes Zusammenstreichen von wichtigen und unverzichtbaren Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen durchzusetzen.
Dazu möchte ich vorweg folgendes sagen: Sie haben mit dieser Diffamierungskampagne und dem, was Sie in Ihr Gesetz gepackt haben, einen der schwersten gesundheitspolitischen Fehler der letzten Jahre begangen. Sie haben den gesetzlichen Kassen einen wahren Bärendienst erwiesen, indem Sie ihnen undifferenziert und pauschal vorwarfen, einen Freizeitpark Deutschland zu finanzieren. Da sind Sie, Herr Minister, ein gelehriger Schüler Ihres Kanzlers, der dieses Wort ja wohl geprägt hat.
Sie haben sich maßgeblich an einer massiven Imageschädigung der gesetzlichen Krankenkassen und ihrer Programme zur Gesundheitsförderung beteiligt, indem Sie mit Ihrem Gerede den so wichtigen Bereich der Krankheitsvorbeugung in den Ruf des Lächerlichen ziehen. Sie haben der Krankheitsvorbeugung den Makel des Überflüssigen, des Verzichtbaren verliehen, indem Sie den Krankenkassen den in § 20 SGB V verankerten gesetzlichen Auftrag zur Gesundheitsvorsorge fast gänzlich entziehen.
Herr Seehofer und meine Damen und Herren, wer so kurzfristig handelt, sollte sich wirklich überlegen, ob er noch zu Recht den Namen Gesundheitsminister verdient.
Mit einer sinnvollen Gesundheitspolitik nämlich hat das Zusammenstreichen von § 20 SGB V absolut nichts mehr zu tun. Ganz im Gegenteil: Sie machen aus unserem Gesundheitssystem ein reines Krankheitsverwaltungs- und Reparatursystem.
Statt zu sparen, stoßen Sie eine Entwicklung an, die zu erheblichen Mehrausgaben führen wird. Ich will Ihnen jetzt erklären, warum.
Sie drehen den Tausenden von Selbsthilfegruppen, die zu einem unentbehrlichen Bestandteil in unserem Gesundheitswesen geworden sind, den Hahn zu. Die Aufnahme der Gesundheitsförderung in das Sozialgesetzbuch wird von den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen als die entscheidende Reformoption des letzten Jahrzehntes bezeichnet. Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, auf den Sie immer gerne hören, hat in seinem Sondergutachten nicht die Streichung, sondern sogar den Ausbau der Gesundheitsförderung gefordert. Das gleiche haben auch Sie noch vor einem Jahr gesagt.
- Schauen Sie sich Ihre Reden an!
Es gibt eine ganze Reihe von Zahlen, die das sehr eindringlich bestätigen. Fast die Hälfte der 120 Milliarden DM an Lohnkosten bei krankheitsbedinger Arbeitsunfähigkeit wird durch chronisch-degenerative Erkrankungen verursacht, denen mit Vorsorgeprogrammen sehr sinnvoll begegnet werden kann.
83 Milliarden DM Kosten entstehen - meine Vorrednerin hat darauf hingewiesen - durch ernährungsbedingte Krankheiten, 40 Milliarden DM durch das Rauchen und 60 Milliarden DM durch Bewegungsmangel.
Allein das macht zusammen etwa 240 Milliarden DM an Krankheitskosten aus, denen durch gezielte Vorsorgeprogramme und durch gute Gesundheitsförderung effektiv begegnet werden kann. Wenn durch diese Programme auch nur ein einziges Prozent der genannten Kosten vermieden wird, sparen Sie schon 2,4 Milliarden DM, also glatt das Doppelte der 1,2 Milliarden DM, die Sie durch das Streichen der Gesundheitsförderung einsparen wollen. Herr Mi-
Regina Schmidt-Zadel
nister, man kann ein Gesundheitssystem durch falsches Rechnen auch kaputtsparen.
Lassen Sie mich aber auch noch auf einen anderen Aspekt eingehen, der sich nach meiner Einschätzung und nach der Einschätzung der Verbände fatal auswirken wird. In den letzten Jahren hat sich eine große Zahl von Selbsthilfegruppen gebildet, die, finanziell und organisatorisch unterstützt durch die Krankenkassen, gerade bei den chronisch kranken Menschen hervorragende Arbeit geleistet haben.
Viele dieser Gruppen kommen ohne die Mithilfe der Kassen entweder gar nicht auf die Beine, oder sie müssen sich nach kurzer Zeit auflösen. Diese Gruppen benötigen keine großen Beiträge für ihre Arbeit. Hier wird mit wenig Geld wichtige und effektive Arbeit geleistet.
- Sehr schön. Wir werden uns darüber unterhalten.
Die in § 20 enthaltene Möglichkeit zur Förderung dieser Selbsthilfegruppen ist nicht nur sinnvoll und richtig. Der entsprechende Absatz 3 a ist für diese Gruppen auch immer so etwas wie eine staatliche Anerkennung ihrer Bedeutung gewesen. Wenn diese nun wegfällt, wird eine tragende Säule unserer Gesundheitsförderung ins Wanken gebracht. Wenn man dies mit einem Beitragssatz von 1,40 DM begründet, dann muß ich sagen, daß das geradezu lächerlich ist.
Herr Minister Seehofer, Sie wissen nur zu gut, daß die berühmten Bauchtanzkurse wirklich die Ausnahme sind. Die Kassen selber schätzen den Anteil dieser unsinnigen Angebote auf gerade einmal ein Prozent aller Maßnahmen und gehen schon aus Wettbewerbsgründen selbst gegen diesen Wildwuchs an.
Die Mehrzahl der Präventivangebote aber - darin sind sich alle Experten einig - sind notwendig und bringen unter dem Strich mehr ein, als sie kosten.
- Dazu habe ich etwas gesagt, lieber Herr Kollege Thomae.
Die gesetzlich verankerte Gesundheitsförderung ist kein unnötiger Luxus; sie ist das A und O einer sinnvollen Gesundheitspolitik. Die Krankheit, die am
wenigsten kostet, ist die Krankheit, die erst gar nicht entsteht.
Herr Minister, noch einen Satz zu der Reclam-Ausgabe. Ich finde, das ist ein Lob für uns gewesen, denn Reclam-Ausgaben können sich in den Schulen Millionen von Schülerinnen und Schülern leisten. Das ist ganz in unserem Sinne. Wir wollen, daß die Leistungen des Gesundheitswesens sich auch in Zukunft noch alle leisten können.
Vielen Dank.
Ich erteile der Kollegin Eva-Maria Kors das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Frau Schmidt-Zadel, hören Sie mir einmal kurz zu? - Nein. Ich sage es aber trotzdem.
Sie haben eben die Selbsthilfegruppen angesprochen, und wenn Ihnen schon nichts anderes einfällt, als sie über die Beiträge zu finanzieren, mache ich Ihnen hier einen ernsthaften Vorschlag, der nicht ironisch gemeint ist. Wir nehmen 10 Millionen DM vom Medizinischen Dienst weg, und dann sind die Selbsthilfegruppen bestens versorgt.
- Das ist die Antwort auf Ihre Klage bezüglich der Selbsthilfegruppen.
Lassen Sie mich jetzt aber bitte zum Gesetzentwurf zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung 1997 kommen. - Wir können uns gleich unterhalten.
Meine Damen und Herren, unser Ziel ist, die anerkannt hohe Leistungsfähigkeit im Gesundheitswesen bei entsprechender Beitragsstabilität zu sichern. Die Beiträge für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen in Zukunft akzeptabel bleiben. Der weltweit gute Ruf der deutschen Gesundheitsversorgung muß erhalten bleiben, und beides stellt unser Gesetzentwurf sicher. Über eine Stärkung der Eigenverantwortung der unmittelbar Betroffenen und eine erhöhte Transparenz trägt unser Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Gesundheitswesens bei. Die Eckpfeiler für die Neuorientierung sind dabei für uns die Stärkung der Selbstverwaltung, die Schaffung von mehr Freiräumen für eigenverantwortliches Handeln, die Begrenzung staatlicher Regelungen auf das Notwendigste und der sozialverträgliche Wettbewerb und mehr Transparenz.
Eva-Maria Kors
Mit dem am 29. April 1996 durch den Bundestag beschlossenen Gesetz zur Stabilisierung der Krankenhausausgaben 1996 haben wir für das laufende Jahr die Notbremse gezogen. Leider haben die Schwierigkeiten bei der Verabschiedung dieser absolut notwendigen Sofortmaßnahme gezeigt, daß die Bereitschaft der SPD-geführten Bundesländer, in wirklich dringenden Fällen mit Regierung und Bundestag an einem Strang zu ziehen, sehr gering ist. Ich hoffe trotz der heutigen Debatte immer noch, daß wir bei der Krankenhausfinanzierung 1997 bei Ihnen auf mehr Kooperationsbereitschaft stoßen, als dies bisher der Fall war;
denn der nächste Wahltermin ist fern, unsere Vorschläge sind vernünftig,
und deshalb sollte Ihnen die Entscheidung leichter fallen als bisher.
Unsere Forderungen nach weniger Staat, mehr Freiraum für die Selbstverwaltung und Finanzverantwortung müßten an und für sich hier in diesem Hause konsensfähig sein.
Wir ziehen mit unserem Gesetzentwurf die Lehren aus der Vergangenheit und möchten Instrumente, die sich auf anderen Gebieten bewährt haben, auf den Krankenhaussektor übertragen. Deshalb halten wir eine landesweite Vereinbarung über die Gesamtvergütung durch die Selbstverwaltungspartner für erforderlich.
In der Vergangenheit wurde bereits eine Gesamtvergütung für Ärzte und Zahnärzte vereinbart, und dies mit Erfolg. Die Abschlüsse sind maßvoll und haben gezeigt, daß die Partner der Selbstverwaltung in der Lage sind, ihre Verantwortung zu übernehmen und ihr gerecht zu werden. Ab 1997 soll deshalb eine Vereinbarung zwischen den Krankenkassen und den Krankenhäusern über eine jährliche Gesamtvergütung getroffen werden. Die Budgetierung wird dann endgültig überflüssig.
Diese vereinbarte Gesamtvergütung ist dann von den Krankenhäusern einzuhalten, und die Defizite, zu denen die Krankenhäuser beigetragen haben, sind auch von diesen und nicht wie bisher von den Beitragszahlern auszugleichen.
Mit der Gesamtvergütung wird sichergestellt, daß die Ausgabenentwicklung im stationären Bereich kalkulierbar und maßvoll bleibt. Minder- und Mehrbelastungen einzelner Krankenhäuser können innerhalb der Gesamtvergütung ausgeglichen werden. Die Vergütung der Krankenhausleistungen erfolgt über Fallpauschalen, Sondergelder, Abteilungspflegesätze und den Basispflegesatz.
Die Leistungs-, Finanzierungs- und Beitragssatzverantwortung übertragen wir auf diejenigen, die dieser Verantwortung besser gerecht werden können
als jeder andere, nämlich die Selbstverwaltungspartner. Damit werden die positiven Effekte eines sozial verantwortbaren Wettbewerbs zur Sicherung der Leistungsfähigkeit und der Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung genutzt.
Notwendige Einsparungen im Krankenhaus dürfen keinesfalls zu einer Verschlechterung der Versorgungsqualität führen.
Ich bin davon überzeugt, daß dies auch nicht geschieht. Jeder Bürger muß im Krankheitsfall unabhängig von seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit umfassend versorgt werden. Die Rahmenbedingungen für eine auch in Zukunft qualitativ hochwertige Krankenhausversorgung schaffen wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf.
Je besser die Selbstverwaltungspartner mit ihren neuen Aufgaben zurechtkommen - Sie werden sehen, wie gut sie damit zurechtkommen werden -, um so weniger werden gesetzliche Regelungen benötigt, von denen in einem auf Selbstverantwortung angelegten System ohnehin nur zurückhaltend Gebrauch gemacht werden sollte.
Lassen Sie mich zur Gesamtvergütung und kollektiven Kappung bei Überschreitung der Summe der Einzelverträge noch folgendes anmerken: Wir stehen dazu, daß wir die Krankenhäuser, die schon bisher um eine verantwortungsvolle Kostengestaltung bemüht waren, nicht in unverdiente Schwierigkeiten bringen wollen. Wir werden deshalb darüber nachdenken, wie wir in diesem Punkt zu einer praktikablen und fairen Lösung kommen können.
Ich sage Ihnen bereits jetzt voraus, daß es nach diesem Gesetz kein Krankenhausfinanzierungsgesetz 1998 geben wird, und zwar einfach deshalb, weil wir heute eine Regelung verabschieden, die kein Stückwerk ist, sondern ein gut durchdachtes Gesetz, das die Selbstverwaltung in die Lage versetzt, autonom, schnell und angemessen auf künftige Entwicklungen zu reagieren.
Ein weiterer wichtiger Bereich unseres Gesetzentwurfs betrifft die Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung. Das nach wie vor unzureichend koordinierte Nebeneinander von niedergelassenen Ärzten einerseits und Krankenhäusern andererseits ist eine Hauptquelle der Unwirtschaftlichkeit in unserem Gesundheitswesen. In beiden Bereichen werden teure technische Kapazitäten vorgehalten. Täglich finden ebenso unnötige wie kostspielige Wiederholungs- und Mehrfachuntersuchungen statt.
Der Vorrang der ambulanten Behandlung muß stärker zur Geltung kommen;
denn die hohe Kostenintensität der stationären Leistungen macht eine Begrenzung der Krankenhausversorgung auf die Fälle notwendig, die der besonde-
Eva-Maria Kors
ren Ausstattung und Behandlungsmöglichkeiten der Krankenhäuser bedürfen. Ein Ziel unserer Reform lautet: So viel ambulant wie möglich, und so wenig stationär wie nötig.
Bereits mit dem Gesundheitsstrukturgesetz sind die Möglichkeiten der Krankenhäuser, ambulante Leistungen zu erbringen, entscheidend verbessert worden. Die in den Krankenhäusern vorhandenen besonderen fachlichen Qualifikationen und technischen Ausstattungen dürfen für die ambulante Versorgung aber nicht verschlossen sein.
Um dies zu ermöglichen, müssen Krankenhäuser, Krankenkassen und Kassenärzte mehr und vor allem flexiblere Gestaltungsmöglichkeiten erhalten.
Deshalb sieht unser Gesetzentwurf vor, daß qualifizierte Fachärzte in Krankenhäusern hochspezialisierte Leistungen zur Sicherstellung der örtlichen Versorgung nach Überweisung durch einen niedergelassenen Facharzt ambulant erbringen können.
Ein wichtiger Baustein in der besseren Verzahnung ist die Einführung des von uns vorgesehenen Instrumentes der ambulanten Praxiskliniken. Ich weiß, daß viele Krankenhäuser hierin eine unwillkommene Konkurrenz vermuten. Sie haben dies bei den Anhörungen zum Ausdruck gebracht.
Zwar geht es uns nicht darum - das sage ich ganz deutlich -, die Krankenhäuser vor Konkurrenz zu schützen; wir wollten aber auch keine neue Form stationärer Versorgung schaffen und haben deshalb reagiert. Der vorliegende Entwurf macht den ambulanten Charakter der Praxiskliniken deutlich.
Er sieht vor, daß Patienten allenfalls eine Nacht in der Praxisklinik verweilen und pro Arzt nicht mehr als zwei Betten, insgesamt aber nicht mehr als zehn Betten aufgestellt werden dürfen. In dieser Form kann man Praxiskliniken eigentlich nur begrüßen.
Es darf doch nicht wahr sein, daß heute jeder Patient, der lediglich eine Nacht unter ärztlicher Aufsicht verbringen muß, in eine stationäre Einrichtung überwiesen werden muß.
Wenn wir hiervon nicht abrücken, brauchen wir über eine bessere Verzahnung von ambulanter und stationärer Behandlung nicht weiter nachzudenken.
Die Praxiskliniken arbeiten an der Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Versorgung und sind ein unentbehrlicher Bestandteil dieser Verzahnung. Sie werden - das möchte ich ausdrücklich hinzufügen - nicht in die Krankenhausbedarfsplanung einberechnet.
Ein weiterer wichtiger Aspekt unserer Gesundheitspolitik ist die Qualitätssicherung. Die Qualitätssicherung ist Aufgabe der Ärzte, die diese bei der
Leistungserbringung zu verwirklichen haben. Hier gilt im stationären Sektor nichts anderes als im ambulanten. Deshalb ist es Aufgabe der Ärztekammern, notwendige Standards und Maßstäbe zu entwickeln und deren Einhaltung zu überwachen. Deshalb müssen auch die Ärztekammern mehr als bisher in die Planungen einbezogen werden.
Es ist meine feste Überzeugung, daß wir die Kreativität und den Sachverstand derer stärken müssen, die die Belange der gesundheitlichen Versorgung besser kennen und steuern können als der Staat. Dies gelingt uns aber nur, wenn wir die Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltungspartner ausweiten. Dazu trägt dieses Gesetz bei.
Die Krankenhäuser dürfen ganz sicher nicht zum Prügelknaben des Gesundheitswesens erklärt werden. Sie sind und bleiben eine wichtige Säule in der Gesundheitsversorgung. Aber wir wissen auch, daß die Krankenhauskosten seit 1992 überproportional gestiegen sind. Das verursachte bei der Krankenversicherung ein Defizit von über 8 Milliarden DM.
Auf der anderen Seite sind bei den Krankenhäusern Überschüsse in gleicher Höhe entstanden, woran sich zeigt, daß die Budgets - das vor allem auf Druck der Länder - zu großzügig bemessen worden sind. Derartige politisch verursachte Kostensteigerungen müssen durch die Stärkung der Selbstverwaltung zukünftig vermieden werden.
Dies erreicht unser Entwurf eines Krankenhaus-Neuordnungsgesetzes 1997, indem er die Selbstverwaltung stärkt und die Verantwortung in die Hände derer legt, die den Sach- und Fachverstand im Gesundheitswesen mitbringen und daher sowohl die Belange der Beitragszahler als auch der Leistungserbringer besser berücksichtigen können als der Staat.
Mit diesem Gesetz wird es uns nicht nur gelingen, die Kosten im Krankenhausbereich zu begrenzen. Es stellt auch sicher, daß die Leistungen weiterhin auf höchstem Niveau erbracht werden und deutsche Krankenhäuser auch zukünftig zu den besten der Welt zählen.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, diesem Gesetzentwurf zustimmen, haben Sie dazu beigetragen. Die Koalitionsfraktionen werden Ihnen mit gutem Beispiel vorangehen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir würden gern mitmachen, und wir wollen auch die Qualität der Krankenhausversorgung retten. Aber leider können wir Ihrem Gesetz nicht zustimmen, weil es Bereiche gibt, zu denen ich ganz klar sagen muß: Da-
Gudrun Schaich-Walch
für kann es die Hand der Sozialdemokratie nicht geben, weder hier noch im Bundesrat.
Es ist - darin sind wir mit Ihnen einer Meinung - notwendig, daß gespart wird. Es ist jedoch ganz wichtig klarzustellen, wo und bei wem gespart wird. Deshalb möchte ich darauf hinweisen, daß wir es nicht als sozial gerecht empfinden, wenn Sie Ende des Jahres mit 840 Millionen DM die Einkommen der Ärzte verbessern, aber diese 840 Millionen DM als Zuzahlungen von den Versicherten, und zwar von den Krankenversicherten hereinholen. Das ist doch der Punkt.
Sie differenzieren die Gemeinschaft der Versicherten in Gesunde und Kranke, und Sie zerbrechen damit die Solidarität dieser Versicherung.
Das läßt sich, so muß ich Ihnen sagen, an einigen Punkten ganz klar belegen. Dabei möchte ich nur einmal auf den Bereich der Kuren eingehen. Bei Kuren und Rehabilitationen soll es in Zukunft so sein, daß jeder Patient für die Dauer der Maßnahme pro Tag 25 DM in den alten Bundesländern und 20 DM in den neuen Ländern bezahlen muß. Das ist mehr als doppelt so viel wie bisher. Die Verweildauer wird generell von 4 auf 3 Wochen gekürzt ohne jegliche medizinische Indikation. Kuren können nur noch in einem Intervall von 4 anstelle von 3 Jahren in Anspruch genommen werden. Pro Aufenthaltswoche der Rehamaßnahme werden 2 Urlaubstage abgerechnet.
So, und jetzt frage ich Sie: Was wollten wir denn mit Rehabilitation erreichen? Wir wollten erreichen, daß die Menschen so lange wie möglich gesund und arbeitsfähig sind. Wir wollten damit auch erreichen, daß, wenn sie nicht gesund sind, ihre Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt wird. Das ist die eine Gruppe. Die zweite Gruppe ist die der chronisch Kranken. In diesem Fall spreche ich auch einmal für die Deutsche Rheumaliga und ihre Patientinnen und Patienten. Diese Patientinnen und Patienten sind in einem hohen Maße auf Rehabilitationsmaßnahmen in dem bisherigen vernünftigen Umfang angewiesen, damit sie überhaupt in der Lage sind, ihr Leben wenigstens teilweise zu bewältigen.
Sie sollten auch ein Interesse daran haben, dafür Sorge zu tragen, daß auch diese chronisch behinderten Menschen möglichst lange im Arbeitsprozeß bleiben und daß sie nicht in die Frühverrentung abgeschoben werden, in ein anderes soziales Sicherungssystem, weil man ihnen die notwendigen Hilfsmaßnahmen vorenthält.
Ich denke auch, daß wir über Sparmaßnahmen nachdenken müssen, aber das kann nur geschehen, indem man es von der medizinischen Indikation abhängig macht, ob jemand eine Kur bekommt oder
nicht, und nicht davon, ob er 25 DM pro Tag zuzahlen kann oder nicht.
Von der medizinischen Notwendigkeit muß auch die Dauer der Maßnahme abhängig sein. Ich bin der Überzeugung, daß der Arzt hier einen Auftrag hat, dem er gerecht werden muß. Und wenn er das nicht kann, dann müssen wir über Weiterbildungsmaßnahmen dafür sorgen - dafür haben wir 200 Millionen DM eingestellt -, daß der Arzt dazu in die Lage versetzt wird.
Die Aufgabe der Krankenkassen ist es, die Indikation zu prüfen und, wenn Zweifel aufkommen, den Medizinischen Dienst einzuschalten. Daneben sollten wir zusammen mit der Ärzteschaft auch einen Indikationskatalog entwickeln, der den Ärzten zur Hilfestellung ebenfalls noch an die Hand gegeben werden kann. Wenn wir so verfahren, dann bin ich der festen Überzeugung, daß wir das, was man als „Kurlaub" bezeichnet, in der Zukunft nicht mehr haben werden. Man wird das zwar nicht von heute auf morgen schaffen, aber es ist auch nicht verantwortbar, von heute auf morgen 200 Einrichtungen zu schließen und 18 000 Menschen arbeitslos zu machen. Das ist auch nicht verantwortbar.
Sie sind mitverantwortlich dafür, daß diese Strukturen geschaffen worden sind, wie sie jetzt sind. Deshalb sind Sie auch mitverantwortlich dafür, daß wir diese Strukturen auf ein Maß zurückfahren, das vernünftig ist, und zwar schrittweise und gesundheitspolitisch wie wirtschaftspolitisch sinnvoll.
Es muß auch sichergestellt werden, daß wir künftig bei Rehabilitationen und bei Kuren mehr auf Qualität achten. Denn wichtig für uns alle, auch aus Kostengründen, ist es, daß wir die Ziele, die wir anstreben und die ich vorhin genannt habe, auch tatsächlich erreichen.
Wir sehen auch die Notwendigkeit, daß Bettenkapazitäten, die überhöht sind, abgebaut werden, aber, wie ich schon sagte, schrittweise. Um das zu gewährleisten, ist es notwendig, daß sich die Krankenhäuser bei der Bettenplanung mit den Ländern einigen müssen. Dieses Muß ist ein ganz wichtiger Punkt, und darf sich nicht wie in Ihrem Gesetzentwurf nur auf die Anschlußheilbehandlung beziehen.
Einen Bereich vermisse ich in Ihrem Gesetzentwurf total, den Bereich der ambulanten wohnortnahen Rehabilitation. Bereits das Sachverständigengutachten von 1995 hat ausgesagt, daß sie medizinisch und auch unter Kostengesichtspunkten betrachtet sinnvoll sein kann und eventuell auch Einsparungen verspricht. Ich glaube aber auch, daß dieser Bereich aus gesundheitlichen und auch aus familienpolitischen Gründen weiter ausgebaut werden muß, als es jetzt der Fall ist.
Ich kann Ihnen aber auch sagen, was nicht geschehen darf: daß Menschen aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, des Verlustes des Lohnes und weil sie Zuzahlungen nicht finanzieren können, Reha-Maßnahmen nicht mehr in Anspruch nehmen
Gudrun Schaich-Walch
und statt dessen zu einem Teil in die Frühverrentung entlassen werden.
Ich erteile der Kollegin Dr. Ruth Fuchs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bereits mit der Gesundheitsreform verbundenen Abstriche an der sozialen Qualität der Krankenversorgung reichen der Regierung offensichtlich nicht. Mit einem sogenannten Beitragsentlastungsgesetz soll kurzfristig zusätzlich und noch rabiater in das Leistungsniveau der gesetzlichen Krankenversicherung eingegriffen werden.
Als Argument wird, wie immer bei der Ausweitung von Zuzahlungen und Leistungskürzungen, von der „Eigenverantwortung der Versicherten" gesprochen. Dabei ist es nun wirklich eine Binsenweisheit, daß im anbieterdominierten Gesundheitswesen die Versicherten den geringsten Einfluß auf Umfang und Höhe der ihnen verordneten Leistungen haben. Aber dort, wo der Begriff der Eigenverantwortung noch am ehesten einen Sinn macht, nämlich im Zusammenhang mit gesundheitsfördernden Lebensstil und Verhaltensweisen, will die Regierung gerade erst geschaffene Voraussetzungen wieder zunichte machen.
Die Einführung von Gesundheitsförderung, paritätisch finanziert und als Teil des gesetzlichen Leistungskatalogs, war zweifellos ein wichtiger Fortschritt auf dem Weg zum Ausbau präventiver Leistungen in der Gesundheitsversorgung.
Es ist nicht nur vernünftig, sondern entspricht völlig den internationalen Entwicklungen in der Prävention, ergänzend zu medizinischer Vorsorge und Früherkennung auch unmittelbar auf die Festigung der Gesundheit der Menschen hinzuwirken. Betriebliche Gesundheitsförderung, Bewegungskurse oder Ernährungsberatung haben eben durchaus ihren Sinn und tragen letztlich auch zur Wirtschaftlichkeit der gesundheitlichen Versorgung bei.
Nun soll wegen bekannter Fehlentwicklungen, die man sehr leicht korrigieren könnte, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und sollen sämtliche Leistungen der Gesundheitsförderung auf einen Streich beseitigt werden. Eine ebensolche grundsätzliche Fehlentscheidung ist es, den Kassen die Möglichkeit zur Förderung von Selbsthilfegruppen weitgehend zu nehmen. Es ist schon paradox: Es geht lediglich um eine Summe von 10 Millionen DM. Aber dafür würde vielen Tausenden von Selbsthilfegruppen die Förderung entzogen. Jeder weiß, daß dies nicht nur zu einer fachlichen Verschlechterung der Betreuung vieler Menschen führt, sondern auch dazu, daß ein lebendiges Element demokratischer Mitwirkung und Partizipation im Gesundheitswesen wieder zurückgedrängt wird.
Sozial- und gesundheitspolitisch ebenfalls völlig kontraproduktiv sind solche Vorhaben wie die vorgesehene vollständige Aussperrung der heutigen Kinder und Jugendlichen von zahnprothetischer Versorgung
oder die beabsichtigte Streichung der Finanzierung von Brillengestellen durch die gesetzliche Krankenversicherung. Mit letzterem würde erstmals die bisher noch mögliche Vollversorgung mit einer Sehhilfe abgeschafft.
Die Argumentation beim Zahnersatz muß als geradezu zynisch bezeichnet werden.
Jeder weiß, wie schlecht es in Wahrheit immer noch um die zahnmedizinische Prophylaxe in diesem Land bestellt ist. Hinzu kommt, daß vor allem die Kinder aus sozial schwächeren Familien wiederum besonders betroffen und besonders bestraft wären.
Während die Regierung im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform von „Vorfahrt für die Selbstverwaltung" spricht, scheut sie bei diesem Gesetz nicht vor einem neuen Gipfel administrativer Reglementierung zurück. So will sie nunmehr die Beitragssätze per Gesetz festschreiben bzw. am Beginn des Jahres 1997 quasi mit der Heckenschere kürzen. Dabei ist völlig unklar, ob die der Kürzung um 0,4 Prozentpunkte zugrunde liegende Einsparsumme überhaupt erreicht werden kann.
Das vorliegende Gesamtpaket enthält bekanntlich weitere sozialpolitische Grausamkeiten wie Kürzung des Krankengeldes, Anhebung der Arzneimittelzuzahlung, zusätzliche Belastungen bei Kuren und weitere Streichung von Mitteln für die Krankenhäuser. Was sie durchweg verbindet, ist nicht nur die sozialpolitische Kälte. Darüber hinaus sind all diese Grausamkeiten im Gegensatz zu den anmaßenden Erklärungen der Regierung weder begründbar noch wirklich notwendig. Sparpotentiale und Wirtschaftlichkeitsreserven im Gesundheitswesen gibt es bekanntlich nicht wenige. Um sie zu erschließen, muß man sich allerdings mit mächtigeren Kräften als mit kranken, behinderten oder älteren Menschen anlegen.
Mehr noch: Während wir glauben sollen, daß es die Zwänge der globalen Märkte sind, die künftig die Bezahlung von Zahnersatzleistungen, Brillengestellen und Kuren sowie die Unterstützung von Selbsthilfeinitiativen oder Gesundheitsförderung verhindern, denkt die Regierung nicht einmal im Ansatz daran, beispielsweise spekulative Geldgewinne und unverdiente Bodenpreissteigerungen abzuschöpfen oder große Steuerhinterziehungen zu unterbinden.
Mit dem Gesetz soll also die verhängnisvolle Gesamtstrategie der Regierung mit aller Härte auf das Gesundheitswesen übertragen werden. Auch hier
Dr. Ruth Fuchs
sind es allein die sozial Schwächeren und insgesamt die Lohnabhängigen, die im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leibe die Folgen dieser verfehlten Politik erfahren sollen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Petra Ernstberger, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Möge der Zahn der Zeit, der schon manche Träne getrocknet hat, auch über diese Wunde Gras wachsen lassen! " Diesen einmal scherzhaft gebildeten Satz möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen auf dieser Seite des Plenums zurufen, vor allem aber unserem Minister, der inzwischen bei der Bevölkerung als Dracula des Gesundheitswesens bekannt ist.
Ich möchte diese Debatte zum Schluß um eine weitere Pointe, betreffend die Regierungskoalition, ergänzen.
Diese Wunde, über die der Zahn der Zeit hätte Gras wachsen lassen können, ist die unsägliche Geschichte einer Mehrkostenregelung bei zahnerhaltenden Maßnahmen. Seit 1994 versucht die Bundesregierung, über das Vehikel des 8. Änderungsgesetzes zum SGB V das durch die SPD im Gesundheitsstrukturgesetz verhinderte Konzept der Regel- und Wahlleistungen geradewegs durch die Hintertür einzuführen.
Trotz Ablehnung durch den Bundesrat, trotz aller mannigfaltig vorgebrachten Kritik in den Ausschußsitzungen und trotz aller mahnenden Argumente der Sachverständigen in der Anhörung vom April dieses Jahres sind die Vertreter der CDU/CSU und F.D.P. weiter auf dem Marsch in ein anderes Krankenversicherungssystem,
das Parität und Solidarität als gleichsam antiquierte Relikte aus der Rumpelkammer des Sozialstaates flugs über Bord schmeißt und in dem ganz bewußt als zentrales Strukturmerkmal die Mehrklassenmedizin zementiert werden soll.
Es ist unbestritten, daß durch die Amalgamdiskussion in den Medien und die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vorgenommene Einschränkung der Indikationen für Amalgamfüllungen ein unbefriedigender Zustand in der Zahnmedizin entstanden ist. Zu verzeichnen sind sowohl ein verstärktes Angebot an alternativen Füllverfahren als auch die verstärkte Nachfrage nach diesen Verfahren.
Bis vor nicht allzu langer Zeit war es parteiübergreifender Konsens, daß die Versorgung kariöser Läsionen mit Füllungen im Rahmen der solidarischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen gewährleistet sei.
Die Erbringung dieser Leistungen erfolgte traditionell nach dem Sachleistungsprinzip.
Nun aber dieser zentrale Anschlag auf dieses tragende und bewährte Element unserer gesetzlichen Krankenversicherung: Ersonnen im Dunstkreis des politischen Olymps von Herrn Seehofer, aufgenommen und vorangetrieben von dessen konservativen und liberalen Fußtruppen wird die Abkehr vom Prinzip der Sachleistungen vollzogen.
Herr Möllemann und befehlsgemäß Herr Seehofer nehmen Abschied vom Grundsatz, daß alle Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen allen Versicherten im gleichen Umfang zugänglich sein sollen. Nach den Vorstellungen der gesundheitspolitischen und sozialpolitischen Amokläufer von dieser Seite wären Standardfüllungsleistungen mit erprobten und geeigneten Materialien einschließlich Komposit nicht mehr ohne zusätzliche Kosten für den Patienten verfügbar. Die große Mehrheit der Versicherten müßte ihre Füllungsleistungen über die Krankenkassenbeiträge zuzüglich weiterer Zuzahlungen finanzieren.
Meine Damen und meine Herren, heute heißt Breitenversorgung einfach Füllungsversorgung. Bei den Kunststoffüllungen ist es so, daß die Patienten zur Zeit 30 bis 50 DM zuzahlen müssen. Das heißt, bei vier Stück kämen sie auf 200 DM Zuzahlung und müßten sich darüber hinaus mit dem Zahnarzt auch noch über Ratenzahlungen streiten.
Ihnen, Herr Möllemann und Herr Seehofer, liegt erwiesenermaßen sehr viel an Ihrem Wählerpotential der Zahnärzte. Das, was Sie nun mit diesem Gesetz gemacht haben, ist nichts anderes als ein großartiges Geschenk an die Klientel der Zahnärzte.
Frau Kollegin, Herr Kollege Zöller würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich habe nur fünf Minuten.
Es wird Ihnen nicht angerechnet.
Mit dieser ganz edlen Gabe haben Sie für die nächste Zeit die Zahnärzte ruhiggestellt, denn die F.D.P. und die Zahnärzte ha-
Petra Ernstberger
ben damit erreicht, daß für letztere der erste Schritt in die Kostenerstattung gemacht wird.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Möllemann?
Nein. Ich habe die andere auch abgelehnt.
- Das vermute ich.
Herr Kollege Möllemann, die Frage ist abgelehnt.
Bei den Zahnärzten heißt es ja: Der liebste Patient ist mir der Privatpatient.
Bei der Anhörung im April hat Herr Brückmann vom Verband demokratischer Zahnärzte es auf den Punkt gebracht:
Wir haben im Moment eine Tendenz, daß bereits im Zahnersatzbereich der GKV-Leistungskatalog ohne weitgehende Berücksichtigung der medizinischen Indikation und der Effizienz auseinandergenommen wird. Wir bewegen uns jetzt in eine Richtung, daß die zahnärztlichen Basisleistungen, nämlich Zahnerhaltung, das tägliche Brot einer jeden Zahnärztin und eines jeden Zahnarztes und leider auch das tägliche Brot vieler Patienten, in einen Bereich gebracht werden, der nur noch privat liquidiert wird.
Ich teile die Einschätzung von Dr. Brückmann, daß diese von der Bundesregierung intendierte Entwicklung fatal und falsch ist.
Letztendlich bleiben nämlich von der geplanten Mehrkostenregelung bei zahnerhaltenden Maßnahmen
als Folgen - nomen est omen - Mehrkosten für die GKV und Mehrkosten für die Versicherten.
Beidem, Herr Minister Seehofer, werden wir von der SPD niemals zustimmen. Denn Sie hätten es zwar ganz gerne, aber noch sind wir nicht zahnlos.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen.Wir stimmen zunächst über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesundheitsstrukturgesetzes auf Drucksache 13/3607 ab. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 13/4691 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3607 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Umbau und zur Weiterentwicklung der Gesundheitsstruktur, Drucksache 13/4691 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/3612 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Strukturreform in der gesetzlichen Krankenversicherung, Drucksachen 13/3608 und 13/4691 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung: Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte vom Platz erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/4695. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von PDS und Bündnis 90/Die Grünen ist der Entschließungsantrag von den übrigen Mitgliedern des Hauses abgelehnt.Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/ 4715. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eeingebrachten Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 13/3695. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 13/ 4692, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Mai 1996 9583
Vizepräsident Hans KleinDritte Beratungund Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung 1997, Drucksachen 13/3062 und 13/4693. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen gedenken, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4721. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung 1997, Drucksache 13/4693. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist gleichlautend mit dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, über den wir soeben abgestimmt haben. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer stimmt ihr nicht zu? - Wer enthält sich der Stimme? - Das gesamte Haus ist dieser Beschlußempfehlung gefolgt.Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, Drucksachen 13/3217 und 13/4407. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. - Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/4714. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
- Manchmal wird es kompliziert.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4615 und 13/4675 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Entlastung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung auf Drucksache 13/4615 soll zusätzlich dem Sportausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12a bis 12d auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes
- Drucksache 13/4587 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung RechtsausschußAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß I 96 GOb) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur grundlegenden Korrektur des RentenÜberleitungsgesetzes
- Drucksache 13/216 -
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rudolf Dreßler, Wolfgang Thierse, Ottmar Schreiner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes- Drucksache 13/1542 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/4009 -Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Mascherbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung- Drucksache 13/4022 -Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel Antje HermenauIna AlbowitzDr. Konstanze WegnerVizepräsident Hans Kleinc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- zu dem Antrag der Fraktion der SPDNovellierung des RentenÜberleitungsgesetzes- zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Fischer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRentenkürzungen in den neuen Bundesländern- Drucksachen 13/20, 13/286, 13/4009 -Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Mascherd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Fischer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSozial verträgliche Abschmelzung der Auffüllbeträge und Rentenzuschläge in Ostdeutschland- zu dem Antrag der Gruppe der PDSAussetzen des Abschmelzens der Auffüllbeträge nach dem Rentenüberleitungsgesetz- Drucksachen 13/3141, 13/3043, 13/3960 -Berichterstattung: Abgeordneter Julius Louven
- Darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmen werden, herzlich bitten, den Raum so schnell wie möglich zu verlassen, damit wir mit den Beratungen fortfahren können.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Rudolf Kraus.
Begrenzungen wird es weiterhin geben für Personen, die auf Grund der Wahrnehmung politischer Verantwortung oder Mitverantwortung in der ehemaligen DDR ein besonders hohes Einkommen erzielt haben. Es geht um Personen ab der Funktion eines Hauptabteilungsleiters der Gehaltsstufe E 3 im Staatsapparat und um Personen in vergleichbaren Gehaltsstufen in anderen Bereichen, wie zum Beispiel bei der NVA, bei der Volkspolizei oder beim Zoll. Für die Zeit der Ausübung solcher Tätigkeiten wird das Einkommen weiterhin nur in begrenztem Umfang bei der Rentenberechnung zugrunde gelegt, und zwar in Höhe des jeweiligen Durchschnittsentgelts.
Für alle anderen Personen wird das tatsächlich bezogene Einkommen in vollem Umfang berücksichtigt. Hierdurch wird - abgesehen von den ehemaligen Mitarbeitern der Stasi - die Anzahl der Fälle, in denen Einkommensbegrenzungen vorzunehmen sind, von derzeit etwa 100 000 auf 25 000 reduziert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung: Die Neuordnung der Begrenzungsregelungen ist auch für die Verfolgten und Benachteiligten im SED-Regime akzeptabel. Unsere Neuordnung stellt sicher, daß überdurchschnittlich hohe Einkommen auch künftig nicht zu überdurchschnittlich hohen Renten führen. Dies gilt für Personen, die für die gesamtgesellschaftlichen Zustände in der DDR in besonderer Weise Verantwortung getragen haben. Eine Besserstellung gegenüber Personen, die in der ehemaligen DDR keine Karriere ma-
Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus
chen konnten oder auch wollten, soll weiterhin nicht erfolgen.
Darüber hinaus sollen mit dem Gesetz auch Härten beseitigt werden, die sich nach geltendem Recht dadurch ergeben, daß Dienstbeschädigungsrenten neben Altersrenten oder Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht geleistet werden können. Für Dienstbeschädigungen soll künftig neben der Rente aus der Rentenversicherung ein Dienstbeschädigungsausgleich entsprechend den Regelungen im Beamten- oder Soldatenversorgungsrecht gezahlt werden.
Jeder weiß, daß es keinen Königsweg in der sehr schwierigen Frage der Einkommensbegrenzung für bestimmte Angehörige von Zusatz- und Sonderversorgungssystemen in der ehemaligen DDR gibt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben wir eine vernünftige Lösung gefunden, die nach dem Ergebnis der Beratungen im Bundesrat am 3. Mai dieses Jahres von den Ländern unterstützt, zumindest aber mitgetragen wird. Darum bitte ich auch Sie um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf.
Danke schön.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Ulrike Mascher.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Im Renten-Überleitungsgesetz 1991 wurde vereinbart, als Vertrauensschutz während des Übergangs vom alten DDR-Rentenrecht auf die Regelungen nach dem Sozialgesetzbuch VI, also dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, Auffüllbeträge zu zahlen als Ausgleich für eine Differenz zwischen dem Rentenzahlbetrag nach altem Recht und der neuen dynamisierten Rente. Gleichzeitig wurde im Gesetz festgelegt, daß ab dem 1. Januar 1996 diese statischen Auffüllbeträge mit der jeweiligen jährlichen Rentenanpassung verrechnet und damit zurückgeführt oder abgeschmolzen werden. Der Rentenzahlbetrag wird also nicht kleiner; aber es gibt über mehrere Jahre, teilweise bis zu zehn Jahren, keine Anpassung. Angesichts der Steigerung von Lebenshaltungskosten oder der Mietsteigerungen bedeutet dies also faktisch eine Reduzierung des verfügbaren Alterseinkommens.
Die SPD hat deshalb auf Initiative unserer ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß einen Änderungsantrag zum Antrag der Grünen eingebracht, um zumindest einen Betrag in Höhe des steuerrechtlichen Existenzminimums vom Abschmelzvorgang freizuhalten. Leider gab es für diesen sozial gut begründeten Vorschlag auch bei den ostdeutschen CDU-Abgeordneten keine Zustimmung.
Wir werden uns heute bei der Abstimmung über den Antrag der Grünen der Stimme enthalten, obwohl wir die Absicht der Grünen unterstützen, daß eine Minderung des Abschmelzbetrages keine Belastung für die Versichertengemeinschaft bringen darf. Die gute Absicht allein genügt aber nicht. Wir haben
im Zusammenhang mit den aktuellen Finanzierungsproblemen der Rentenversicherung deutlich gemacht, daß die Kosten von ca. 4,5 Milliarden DM in diesem Jahr für die Auffüllbeträge endlich aus Steuermitteln finanziert werden müssen, um die Beitragszahler nachhaltig zu entlasten.
Verehrte Kollegen und Kolleginnen von der CDU/ CSU, abstrakte Reden um Systemfragen der Rentenversicherung helfen da auch nicht weiter. Handeln Sie endlich!
Das Renten-Überleitungsgesetz bleibt insgesamt eine große soziale Leistung im Einigungsprozeß. Aber leider war es von Anfang an mit einem Makel verhaftet. Mit Hilfe der Kürzung bzw. Begrenzung der Renten aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen sollte ein politisches Wert- oder Unwerturteil ausgedrückt werden, weit über die Entscheidungen der frei gewählten Volkskammer hinaus. Und dieser Makel wirkt immer noch fort. Das zeigen die unzähligen Briefe, die große Zahl der Petitionen, die den Ausschuß immer noch erreichen, und auch die immer wiederkehrenden Postkartenaktionen zeigen, hier ist immer noch keine Ruhe eingekehrt.
Ich weiß aus eigener Erfahrung von einer Reihe von Veranstaltungen in Ostdeutschland - die ostdeutschen Kollegen aus allen Fraktionen können das, glaube ich, bestätigen -, daß viele Rentner, obwohl sie gar nicht von den Kürzungen betroffen sind, das Gefühl haben: Irgend etwas stimmt mit der Rente noch nicht, ihnen ist etwas weggenommen worden, obwohl sie selber keine Kürzungen erfahren haben.
Die SPD hat deshalb - auch auf Grund der Expertenanhörungen im Ausschuß - immer wieder Initiativen gestartet, den politisch falschen, sehr grobschlächtigen Kürzungsmechanismus wieder aus dem Rentenrecht zu entfernen. Wir waren mit einem ersten Korrekturgesetz erfolgreich. Die große Korrektur ist allerdings an den Mehrheitsverhältnissen gescheitert. Aber unsere stete Forderung nach einer Korrektur hat nach einem längeren Schlingerkurs die CDU bzw. die Bundesregierung in Bewegung gebracht. Ich sage deshalb „Schlingerkurs", weil es einen gewissen Unterschied zwischen den vollmundigen Ankündigungen der ostdeutschen CDU-Abgeordneten zu Hause im Wahlkreis oder auch hier in Bonn und in entsprechenden Presseerklärungen und dem Gruppenantrag der ostdeutschen CDU-Abgeordneten gibt, der plötzlich auf dem Tisch liegt, aber ebenso plötzlich sang- und klanglos mit einer freundlichen Erklärung wieder aus dem Verkehr gezogen wurde.
Möglicherweise hat ja auch die Bundesregierung erkannt, daß Vorlagebeschlüsse des Bundessozialgerichtes beim Bundesverfassungsgericht, weil es das Gesetz, hier das Renten-Überleitungsgesetz, auf das
Ulrike Mascher
es bei seiner Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält,
ein deutlicher Hinweis auf einen Korrekturbedarf sind.
Ich habe allerdings erhebliche Zweifel, ob das, was heute in erster Lesung von der Regierung - der Parlamentarische Staatssekretär hat es sehr freundlich dargestellt - vorgelegt wird, Bestand hat. Denn nach wie vor gibt es Rentenkürzungen wegen besonderer Verantwortung oder Mitverantwortung für die Stärkung oder Aufrechterhaltung des politischen Systems der ehemaligen DDR, auch wenn der Personenkreis erheblich eingeschränkt wird. Daß diese Formulierung „Rentenkürzungen wegen besonderer Verantwortung oder Mitverantwortung für die Stärkung oder Aufrechterhaltung des politischen Systems der ehemaligen DDR" wirklich ausreichend trennscharf ist, wage ich zu bezweifeln. Ich fürchte, ich werde wieder Briefe von Menschen bekommen,
- nein, nicht von Frau Honecker -,
zum Beispiel von den Ingenieuren des Technischen Überwachungsdienstes der Eichämter, die sich fragen, warum sie bei der Einhaltung internationaler Abkommen eine besondere Stärkung des DDR-Systems geleistet haben und deswegen von Kürzungen bedroht sind. Das war in der Vergangenheit so. Das fällt jetzt mit Ihrem Gesetz heraus,
aber ich fürchte, Herr Grund, daß Sie auch mit der jetzigen schwammigen Formulierung nicht ausschließen können, daß wir wieder solche Personengruppen haben, die mit Recht fragen: Was haben wir denn hier getan, damit wir mit diesem Unwerturteil belegt werden und entsprechende Rentenkürzungen in Kauf nehmen müssen?
- Ich habe Sie nicht verstanden.
- Lieber Kollege, ich wäre vorsichtig mit dieser großen moralischen Keule. Diese große moralische Keule haben Sie schon beim Renten-Überleitungsgesetz geschwungen. Es ist dann trotzdem zu einer Korrektur gekommen.
Sie haben sie nach dem ersten Korrekturgesetz geschwungen, weil Sie glaubten, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Wenn Sie sie jetzt wieder schwingen, dann warne ich Sie. Wir werden zu einer weiteren Korrektur kommen, und Sie werden dann Ihre Keule, die Sie jetzt mit so großer moralischer Entrüstung schwingen, wieder einpacken müssen. Seien Sie da vorsichtig!
Die SPD begrüßt es, daß es einen Ausgleich für Dienstbeschädigungen gibt. Dieser Punkt war auch in unserem Gesetzentwurf enthalten.
Was immer noch fehlt, ist eine Beseitigung der Benachteiligung bei der Rentenüberführung für die Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post für die Zeit zwischen 1971 und 1973. Ich gehe davon aus, daß unser Versuch, mit einem Änderungsantrag noch eine kleine Korrektur am Gesetzentwurf der Regierung anzubringen, erfolgreich sein wird. Ich jedenfalls würde mich für die Postbediensteten und die Reichsbahner freuen, wenn uns das gemeinsam gelänge. Sie haben sicher genauso wie ich unzählige Briefe von Betroffenen bekommen. Ich glaube, hier ist eine Korrektur notwendig.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung haben wir nun ein zweites Korrekturgesetz zum Renten-Überleitungsgesetz. Ich bin sicher: Es ist nicht das letzte. Denn auch dieses Korrekturgesetz heilt nicht die grundsätzliche Verletzung der Wertneutralität unseres Rentenrechtes; es wird deshalb nicht die notwendige befriedende Wirkung haben. Ich bedauere das sehr, und ich hoffe, daß wir uns irgendwann einmal wieder - sei es um Mitternacht, sei es Freitagnachmittag um eins - hier zur Beratung eines weiteren Korrekturgesetzes treffen werden. Ich hoffe, daß wir nicht so lange warten müssen, bis das Bundesverfassungsgericht uns eine entsprechende Änderung aufgibt.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Engelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rentenüberleitungspolitik der Koalition für die neuen Länder hat den Rentnerinnen und Rentnern in Ostdeutschland eine erhebliche Erhöhung und ein beeindruckendes Wachstum ihrer Altersbezüge beschert.
Nach zwei Diktaturen auf deutschem Boden können die Rentner in Ostdeutschland ihren Lebensabend in Freiheit und sozialer Sicherheit verbringen.
Wolfgang Engelmann
Aus den 16,7 Milliarden DDR-Mark, die im letzten Jahr der DDR den Ruheständlern gewährt wurden, ist heute ein Rentenauszahlungsbetrag in Höhe von 73 Milliarden DM geworden. Erstmals werden Kriegsopferrenten und große Witwenrenten gezahlt.
Aus der Durchschnittsrente der Männer in Höhe von 572 Mark wurden Anfang 1996 1746 DM. Für Frauen stieg dieser Betrag von 432 Mark auf 1 076 DM. Prägen wir uns diese Zahlen ein! Wir sollten sie uns öfters einprägen. Die Rentenüberleitungspolitik bleibt ein großer Erfolg bei der Schaffung der sozialen Einheit Deutschlands.
An dieser Stelle möchte ich meinen besonderen Dank Minister Blüm, seinen Mannen in seinem Hause und den Rentenversicherungsträgern aussprechen, die in dieser Zeit eine immense Arbeit geleistet haben, damit die Rentenüberleitung in der Form durchgeführt werden konnte, wie es sie jetzt gibt.
Das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz besagt im wesentlichen: Für Personen, die für die Stärkung und Aufrechterhaltung des DDR-Systems einen erheblichen Beitrag geleistet haben, soll in bezug auf die Zeit dieser Tätigkeit eine Sonderregelung gelten. Ein überdurchschnittliches Einkommen, das aus diesen Tätigkeiten resultiert, soll nicht seinen Niederschlag in einer ebenfalls überdurchschnittlichen Rente finden.
Das sind wir denen schuldig, die in der DDR auf Grund ihrer systemkritischen Einstellung in ihrer beruflichen Entfaltung nachhaltig behindert, diskriminiert und verfolgt wurden.
Jedoch hat die typisierende Betrachtung nicht immer zu befriedigenden Ergebnissen geführt. Zur Zeit bezieht sich die Begrenzung des Einkommens bei der Rentenberechnung auch auf Personen, die für die Stützung der DDR keine wesentliche Bedeutung hatten. Es ist das erklärte Ziel der CDU-Abgeordneten aus Ostdeutschland, das Einkommen dieser Personen bei der Berechnung der Rente künftig voll zu berücksichtigen. Damit wird die gesetzgeberische Absicht des AAÜG nicht aufgegeben, sondern präziser zum Ausdruck gebracht.
Konkret: Die Begrenzung des bei der Rentenberechnung berücksichtigungsfähigen Einkommens wird auf die Einkommen konzentriert, die Ausdruck einer politisch, gesellschaftlich oder einkommensmäßig herausragende Stellung mit besonderer Verantwortung oder Mitverantwortung für die Stützung des DDR-Systems waren. Dies trifft ab der Funktion eines Hauptabteilungsleiters im Staatsapparat, Gehaltsstufe E 3 - das wurde hier schon gesagt -, sowie für Personen mit vergleichbaren Gehaltsstufen bei der NVA, der Volkspolizei und beim Zoll zu. Für das Einkommen, das in Ausübung einer solchen Tätigkeit erzielt wurde, soll es bei den bisherigen Begrenzungen bleiben.
Die jetzigen Regelungen für hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit bleiben bestehen.
Begrenzungen gelten heute noch für 100 000 Personen. Nach dem neuen Recht sind es nur noch 25 000.
Mit dem vorliegenden Entwurf werden die Bemühungen der CDU-Abgeordneten aus Ostdeutschland um eine Korrektur des AAÜG bestätigt, und zwar ohne Schlängelkurs, Frau Mascher.
Bereits im März 1994 hatten wir Änderungsbedarf angemeldet; eine entsprechende Absichtserklärung wurde in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Die von der Arbeitsgruppe der CDU-Ost-Abgeordneten, der auch ich angehörte, vorgelegten Beratungsergebnisse fanden in den Antrag vom 6. Oktober 1995 Eingang.
Schließlich führte der Antrag der Koalition dazu, daß die Bundesregierung heute den Entwurf eines AAÜG-Änderungsgesetzes vorlegt, nachdem auch mit den neuen Ländern eine Einigung erzielt werden konnte.
Die Neuregelungen der Begrenzung werden den sozialen Ausgleich fördern und den sozialen Frieden weiter stärken.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe der Abgeordneten Andrea Fischer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offensichtlich haben wir uns überhaupt nichts Neues mehr zum Thema zu sagen. Wir haben hier alle Argumente ausgetauscht.
Ich gebe deswegen seitens meiner Fraktion nur noch zu Protokoll: Die Rentenversicherung taugt nicht als Instrument der Vergangenheitsbewältigung.
Für die Sozialpolitik leitend kann nicht eine politische Bewertung des Werts der Arbeit sein. Die bestehenden Regelungen haben vielfach zu Ungerechtigkeiten geführt.
Andrea Fischer
Eines allerdings ist heute neu: Nachdem wir die Debatte schon so oft geführt haben und die Regierung der Opposition immer gesagt hat: Ihr habt mit eurer Kritik daran unrecht, hat die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf anerkannt, daß die Kritik zumindest in Teilen berechtigt war.
In der Begründung zum Gesetzentwurf ist ausdrücklich von Regelungen die Rede, die - so heißt es wörtlich - zu „Unverständnis" geführt hätten.
Seitens der Fraktion der Bündnisgrünen kann ich nur sagen: Jede Verbesserung dieses mißratenen Teils des RentenÜberleitungsgesetzes wird von uns begrüßt.
Es bleibt allerdings eine grundsätzliche Differenz. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, bezieht sich auf das gesetzgeberische Ziel, eine soziale Akzeptanz durch Kürzung von Renten erreichen zu wollen. Das ist genau das, was wir in den letzten Jahren gelernt haben: Diese soziale Akzeptanz erreichen wir mit dem Mittel der Rentenkürzung offensichtlich nicht.
Ich glaube auch, daß wir weiterhin dieselben Schwierigkeiten hinsichtlich der Abgrenzung und der unterschiedlichen Bewertung haben werden, wenn man von der gedanklichen Konstruktion ausgeht - wie es in dem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt -, daß es um die Kürzung der Einkommen für solche Tätigkeiten geht, die, abstrakt betrachtet, für den SED-Staat von besonderer Nützlichkeit waren. Das ist genau das, was so unglaublich strittig ist. Wir haben uns sehr viel dabei gedacht, als wir uns bei unserem Korrekturvorschlag zum SPD-Entwurf explizit auf die Mitarbeiter des MfS bezogen haben.
In den Ausschußberatungen wird wirklich noch einmal die Frage zu klären sein, ob das denn praktikabel ist. Die Rentenversicherungsträger haben immer darauf hingewiesen: Je differenzierter man darangeht, um so größer wird das Problem der Neuberechnung. Wir wissen, daß wir im Zusammenhang mit der Neuberechnung bei den Rentenversicherungsträgern in den vergangenen Jahren ohnehin schon extreme Belastungen hatten. Wir brauchen also dringend noch einmal eine Stellungnahme der Rentenversicherungsträger dazu.
Nach diesen Prüfungen müssen wir sehen, ob man sich zumindest auf den eingeschränkten Rahmen, den die Bundesregierung jetzt vorsieht, einläßt, nach dem Motto: Jede Verbesserung ist besser als der Status quo. Aber ich halte noch einmal fest: Der vorliegende Gesetzentwurf behebt das grundsätzliche Problem nicht. Die Bundesregierung bewegt sich in diesem Punkt wie eine Schnecke.
Ich bin der Auffassung, das Buch „Rentenüberleitung" gehört endlich geschlossen. Ich schließe mich der Auffassung der Kollegin Mascher an. Auch ich habe große Skepsis, ob mit diesem Gesetzentwurf ein befriedendes Ende dieser quälenden Geschichte erreicht wird.
Ich sage noch einmal: In Sachen Auffüllbeträge hätten wir gerne - und sei es in der korrigierten Form, wie es die SPD in ihrem Vorschlag vorsieht - eine weitere Regelung gehabt. Wir bedauern es sehr, daß sich die Bundesregierung dem verweigert hat; denn da haben wir es wirklich mit einem großen sozialpolitischen Problem zu tun, das viele, insbesondere Frauen, in Ostdeutschland betrifft, die sehr niedrige Renten zu gewärtigen haben. Bei allem Erfolg in der Rentenüberleitung müssen wir nämlich auch konzedieren, daß es diese niedrigen Rentenbeträge noch gibt. Deswegen bedauern wir es außerordentlich, daß sich die Bundesregierung nicht zu einer weiteren Übergangsregelung durchringen konnte.
Es spricht nun der Abgeordnete Uwe Lühr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir unterhalten uns heute wieder einmal über das leidige Thema RentenÜberleitungsgesetz, obwohl der Korrekturbedarf in diesem Hohen Haus längst festgestellt worden ist und von niemandem geleugnet wird.
Neben den schon im parlamentarischen Verfahren behandelten Entwürfen liegt heute - ich muß wirklich sagen: leider erst heute; Herr Minister, hören Sie gut zu - der Entwurf der Bundesregierung vor, dem der Bundesrat in seiner 696. Sitzung am 3. Mai vom Grundsatz her zugestimmt hat. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält leider nicht - wie meine Partei es für erforderlich gehalten hat - die vollständige Aufhebung des sogenannten Kappungskataloges auf Grund der Zugehörigkeit zu bestimmten Gehaltsgruppen und Versorgungssystemen. Der Kreis der Betroffenen wird lediglich kleiner, allerdings um 75 Prozent.
Das Problem der Novellierung des Renten-Überleitungsgesetzes, welches von allen Seiten gesehen wird, lag von Beginn an in der Tatsache, daß die Konsensfindung über Art und Umfang der Novellierung sowohl in der Koalition als auch zwischen und mit den neuen Bundesländern sehr schwierig war.
Herausgekommen ist mit dem Regierungsentwurf ein Kompromiß, der vielen Betroffenen hilft und der auch die Akzeptanz der neuen Bundesländer gefunden hat. Deshalb ist dieser Entwurf der Regierung auch der einzige, der reelle Chancen hat, mehrheitlich in diesem Hohen Hause angenommen zu werden. Nur aus diesem Grund lehnt die F.D.P.-Fraktion alle anderen heute zur Beratung stehenden Anträge ab.
Die Regelungen, die im Regierungsentwurf vorgesehen sind, finden im übrigen auch die Zustimmung fast aller Betroffenenverbände.
Der Regierungsentwurf erfüllt eine Reihe von Forderungen nicht. So schweigt er sich zum Beispiel über die angemeldeten Ansprüche der ehemaligen Post- und Bahnbediensteten und Mitarbeiter im Gesundheitswesen aus. Auch von der freiwilligen Zu-
Uwe Lühr
satzrente findet sich darin kein Wort. Ich hätte mir hier einiges mehr gewünscht.
Der inneren Vereinigung wäre es nur förderlich, wenn in den kommenden Ausschußberatungen zügig ein breiter Konsens in diesem Hause vorbereitet werden könnte. Auch dazu ist die Opposition herzlich eingeladen.
Die rasche Verabschiedung der Änderung des Renten-Überleitungsgesetzes ist auch eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit, gerade in einer Zeit, in der Sparen und Zukunftsfähigkeit sozialer Sicherungssysteme im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Die Betroffenen haben mit viel Geduld auf eine politische Lösung der aus ihrer Sicht bisher ungerechten Behandlung gewartet. Es ist an der Zeit, zu dieser Lösung zu kommen und die Betroffenen nicht weiter zu enttäuschen.
Ich gebe der Abgeordneten Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute stehen alle dem Bundestag zur Verfügung gestellten Vorschläge zur Änderung und Korrektur der Rentenüberleitung zur Debatte. Eigentlich wäre das ein Anlaß zur Freude, wenn die Vorschläge wirklich gegeneinander abgewogen werden könnten. Aber im selben Atemzug sollen der Entwurf der Regierungskoalition eingebracht und alle Oppositionsanträge und -gesetzentwürfe weggestimmt werden.
Wie hatte doch noch am 18. April Herr Kollege Hörster von der CDU/CSU die SPD, die die Aufsetzung ihres Gesetzentwurfes auf die Tagesordnung begehrte, beschwichtigt: Die Einführung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung nach seiner Rückkehr aus dem Bundesrat sei abzuwarten, damit dann „im Gesamtspektrum dieser komplizierten Materie alle Positionen beleuchtet werden können". Aber das wäre wohl zuviel des Guten an parlamentarischsachlichem Stil gewesen.
So wird sich das weitere parlamentarische Verfahren nur um den Regierungsentwurf drehen. Es ist bedauerlich, daß der diskussionswürdige Vorschlag des Berliner Senats nicht bis in den Bundestag vordringen konnte.
Wir haben sehr wohl registriert, daß das vor allem an der ablehnenden Haltung des einzigen rein SPD-regierten ostdeutschen Bundeslandes, Brandenburgs, lag, während dagegen die SPD im Bundestag die völlige Abschaffung des Rentenstrafrechts propagiert. Im übrigen, Herr Kollege Lühr, denke ich, daß zumindest der SPD-Gesetzentwurf nach Ihren Ausführungen heute eine Mehrheit bekommen könnte.
Daß die Bundesregierung heute überhaupt einen derartigen Gesetzentwurf vorlegt, sehen wir allerdings auch als ein Verdienst des unermüdlichen parlamentarischen Bemühens der PDS zur konsequenten Beseitigung des Mißbrauchs von Rentenrecht als Strafrecht an.
- Ich weiß gar nicht, warum Sie so wütend sind.
Wer hätte vor nicht allzulanger Zeit angenommen, daß ein großer Teil der Betroffenen wirklich ohne jede willkürliche Begrenzung davonkommt? Andererseits bleibt sich aber eine konservative Regierung mit der Anwendung des uralten Prinzips „Teile und herrsche" treu. Neu wird willkürlich definiert, wer nun als besonders „systemverbunden" eingestuft wird und dafür mit der Rente bestraft bleibt.
Die PDS kann auch schwerlich trösten, daß das Gesetz ein Schritt in die richtige Richtung ist. Dem müßten aber bald weitere folgen. Doch wie lange war der Zeitraum zwischen Einsicht, Versprechen, Hoffen und Tat? Wir befürchten: Wenn das Gesetz der Bundesregierung verabschiedet ist, wird das Kapitel Rentenüberleitung in dieser Legislaturperiode nicht wieder aufgeklappt. Wir wollen nicht bis zum Jahr 2000 auf die anderen notwendigen Änderungen warten und werden das Gesetzgebungsverfahren nutzen, um mit Änderungsanträgen all das einzubringen, was nach unserer Meinung korrigiert werden muß, so da wäre: die völlige Beseitigung des Strafrechts, und zwar rückwirkend.
Eine unverzeihliche Unterlassung ist für uns, sich nicht den Überführungslücken bei DDR-Anwartschaften zuzuwenden wie der Anerkennung der Zeiten von Blinden und Sonderpflegegeldempfänger und -empfängerinnen, den Zeiten sogenannter mithelfender Ehefrauen von Land- und Forstwirten, Handwerkern und anderen Selbständigen, der Anerkennung von Aspiranturen und Frauensonderstudien. Sie kennen das alles inzwischen. Zum wiederholten Male will ich darauf aufmerksam machen, daß sich dann auch viele Auffüllbeträge erübrigen würden, die mittlerweile völlig sinnwidrig abgeschmolzen werden. Deshalb fordern wir den Stopp.
Überfällig ist für uns, sich endlich auch mit dem Versorgungsunrecht zu beschäftigen, das Tausende Angehörige von Zusatz- und Sonderversorgungen trifft. Altersruhegelder von Angehörigen der Intelligenz, des öffentlichen Dienstes -
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
- ich bin beim letzten Satz - und der Streitkräfte der Bundesrepublik West erreichen durch beamtenrechtliche und berufsständische Versorgungen sowie Zusatzversorgungen von Bund und Ländern doppelt und dreifach höhere Beiträge gegenüber den Berufskolleginnen und -kollegen Ost.
Frau Kollegin, ich muß Sie jetzt wirklich bitten, zum Ende zu kommen. Sie haben Ihre Redezeit erheblich überschritten. Bitte schließen Sie Ihre Ausführungen ab.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich wenigstens noch diesen Satz sagen?
Solange all diese Probleme nicht gelöst sind, werden Sie mit erhöhtem und wachsendem außerparlamentarischem Widerstand konfrontiert sein. Die PDS wird all diese Probleme immer wieder ins Parlament bringen.
Wir haben nun eine Reihe von Abstimmungen zu erledigen, zunächst über einen Vorschlag zur Überweisung. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes auf den Drucksachen 13/4587 und 13/4718 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur grundlegenden Korrektur des RentenÜberleitungsgesetzes auf Drucksache 13/216. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/4009, Buchstabe a, den Gesetzentwurf der PDS abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 13/216 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der PDS zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung gegen die Stimmen der PDS mit allen anderen Stimmen des Hauses abgelehnt worden ist. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Korrektur des RentenÜberleitungsgesetzes auf Drucksache 13/1542. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/ 4009 ebenfalls unter Buchstabe a, auch diesen Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 13/1542 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS abgelehnt worden ist. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ehe wir in den Abstimmungen fortfahren, möchte ich Ihnen sagen, daß auf der Tribüne der Außenminister unseres Nachbarlandes Polen zusammen mit dem Bundesaußenminister Platz genommen hat. Ich möchte Sie, Herr Minister Rosati, herzlich in unserem Hause begrüßen.
Wir freuen uns, daß Sie hier sind. Wir wissen, daß die Beziehungen zwischen unseren Ländern immer herzlicher und enger werden.
Wir fahren in den Abstimmungen fort. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Novellierung des Renten-Überleitungsgesetzes, Drucksache 13/4009, Buchstabe b ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/20 für erledigt zu erklären. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung einmütig angenommen worden ist.
Weiter stimmen wir über die Beschlußempfehlung des Auschusses für Arbeit und Sozialordnung zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu den Rentenkürzungen in den neuen Bundesländern ab, ebenfalls Drucksache 13/4009, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/286 für erledigt zu erklären. Wer dieser Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Fraktionen der Koalition und der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/4009 die Annahme einer Entschließung. Wer dieser Entschließung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung und damit die Entschließung mit den Stimmen der Fraktionen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden ist.
Dann stimmen wir ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu einer sozial verträglichen Abschmelzung der Auffüllbeträge und Rentenzuschläge in Ostdeutschland, Drucksache 13/3960. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3141 abzulehnen. Wer dem Antrag auf Ablehnung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? -
Dann stelle ich fest, daß der Antrag mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Stimmenthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt worden ist.
Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Aussetzung des Abschmelzens der Auffüllbeträge nach dem RentenÜberleitungsgesetz auf Drucksache 13/3960. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3043 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung auf Ablehnung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der übrigen angenommen worden ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfragen der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Dr. Angelika Köster-Loßack, Wolfgang Schmitt und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Politik der Bundesregierung und entwicklungspolitische Ansätze zum Schutz der tropischen Wälder unter besonderer Berücksichtigung Brasiliens Teil I und Teil II
- Drucksachen 13/1637, 13/1638, 13/3338 -
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Angelika Köster-Loßack.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bisherige nationale und internationale Tropenwaldpolitik hat versagt. Sie konnte ihrem Anspruch nicht gerecht werden.
Seit 1988 wurden Tropenwaldländer in der Größenordnung von rund 1 Million Quadratkilometer zerstört. Zum Vergleich: Wurden 1980 weltweit noch etwa 7,5 Millionen Hektar Tropenwald vernichtet, wuchs die jährliche Zerstörung zwischen 1980 und 1994 auf durchschnittlich 15,4 Millionen Hektar an.
Während die aktuelle Handels-, Finanz- und Wirtschaftspolitik die Zerstörungsrate steigen ließ, nahm der Bundestag 1990 den Zweiten Bericht der Enquete-Kommission zum Thema „Schutz der tropischen Wälder" an, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, nachdrücklich dafür einzutreten, „daß der Umfang der jährlichen Vernichtung in jedem Tropenwaldland bis zum Jahr 2000 unter der Vernichtungsrate des Jahres 1980 liegt".
1994 jedoch bewertete die Enquete-Kommission angesichts der geringen Fortschritte „die bisherigen Bemühungen zum Schutz der tropischen Wälder lediglich als Ansätze, die in wesentlichen Teilen Korrekturen und Ergänzungen bedürfen. "
Unter anderem empfahl die Enquete-Kommission eine Umweltverträglichkeit allen zwischenstaatlichen Handelns, Schuldenerleichterungen für Tropenwaldländer und die Bereitstellung neuen Kapitals. Doch in der Anwort auf unsere Große Anfrage zeigt sich die Bundesregierung in der Wahrnehmung der Zerstörungsursachen als äußerst beschränkt.
Verantwortlich für die Tropenwaldvernichtung sind in ihren Augen vorrangig die Bevölkerungsentwicklung, Armut und Bewußtseinsdefizite. Faktoren wie weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen, das Handeln der Finanzinstitute und eine inkohärente Politik der Geber- und Empfängerländer werden in ihrer Bedeutung entweder heruntergespielt oder ausgeblendet.
Die Verantwortung von Großgrundbesitzern, Holzkonzessionären, Bergbaukonzernen und Entwicklungsbanken wird nicht beachtet oder, wie am Beispiel der Weltbank zu sehen ist, falsch eingeschätzt. So ist ein großer Teil der afrikanischen Regenwälder von deutschen und europäischen Holzhändlern entwaldet worden, oft mit infrastruktureller Unterstützung durch die Entwicklungsbanken. Die Weltbank gefährdet heute noch immmer durch laufende Straßensektor-, Bergbau- oder Regionalentwicklungsprojekte Primärwälder.
Verbal erkennt die Bundesregierung zwar teilweise die Bedeutung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen wie zum Beispiel die Auslandsverschuldung an, doch in ihrer Tropenwaldschutzpolitik setzt sie einseitig auf die Entwicklungszusammenarbeit. Damit überschätzt und überfordert sie dieses Instrument.
Die Entwicklungszusammenarbeit kann nur einen bescheidenen Beitrag zur Rettung des Tropenwaldes leisten, solange die gesamtwirtschaftlichen Interessenkonstellationen nicht geändert werden. Außerdem hat die deutsche Finanzielle Zusammenarbeit bis Anfang 1995 712 Millionen DM für den weltweiten Tropenwaldschutz zur Verfügung gestellt. Doch fast 80 Prozent der Mittel waren 1995 noch nicht abgeflossen.
Die aktuelle Projektpraxis zeigt auch, daß Projekte der Entwicklungszusammenarbeit in der Regel nichts gegen die inkohärente Politik, die ich bereits erwähnt habe, und kontraproduktive Rahmenbedingungen erreichen können. Das Pilotprogramm in Brasilien ist dafür nur ein Beispiel.
In Brasilien hat sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit seit 1988 am stärksten im Tropenwaldschutz engagiert und das Pilotprogramm zur Bewahrung der tropischen Regenwälder aufgelegt. Dem Projektbericht der Kreditanstalt für Wiederaufbau zur Tropenwalderhaltung ist zu entnehmen, daß bis Anfang 1995 von den für die Waldschutzzonen Brasi-
Dr. Angelika Köster-Loßack
liens zugesagten 30 Millionen DM nur 3,3 Millionen DM zur Auszahlung kamen.
Seit Anfang 1996 - genauer: seit der Unterzeichnung des Dekrets 1775/96 durch Präsident Cardoso - drohen beim Demarkierungsprogramm zur rechtlichen Absicherung der Siedlungsgebiete indigener Völker gravierende Rückschritte. 1992 hatte der Deutsche Bundestag für den Schutz der Indianer Amazoniens 30 Millionen DM als Zuschuß bewilligt. Mehr als 34 Millionen Hektar der Amazonasregion sollten juristisch gegen den Druck von außen geschützt werden. Durch die im Dekret 1775/96 eingeräumten Widerspruchsrechte für Großgrundbesitzer, Holzunternehmer, Bergbauvertreter, Spekulanten und Regionalpolitiker aber wird das Demarkierungsprogramm jetzt massiv bedroht.
So wurden zum Beispiel sechs Ländereien, die noch 1993 im Pilotprogramm mit höchster Priorität demarkiert werden sollten, auf Grund des Drucks von Außeninteressen 1995 aus dem Programm herausgenommen und 1996 nach Inkrafttreten des neuen Dekrets angefochten. Es ist kein Zufall, daß fünf dieser Gebiete im Staate Para liegen. Dieser ist das Zentrum von Landkonflikten, das durch das schreckliche Massaker an Landlosen auch in die europäischen Schlagzeilen geraten ist, eine Hochburg der Demarkierungsgegner, die mit Unterstützung des heutigen brasilianischen Justizministers Jobim versuchen, ihre wirtschaftlichen Interessen gegenüber den in der Verfassung von 1988 verankerten Rechten der Indianer durchzusetzen.
Nach Inkrafttreten des Dekrets im Januar kam es zu einer dramatischen Zunahme von Übergriffen auf Indianerterritorien. Bis Mitte März 1996 wurden schon 13 Invasionen ermittelt, acht davon gefährden Indianergebiete, die durch deutsche EZ-Projekte unterstützt werden sollen. Das Dekret 1775 wird deshalb nicht nur von den wichtigsten indianischen Dachorganisationen abgelehnt, sondern auch vom Juristenverband, der nationalen brasilianischen Wissenschaftlervereinigung und der brasilianischen Bischofskonferenz sowie von vielen NROs.
Bis zum 8. April gingen weit über 1 000 Widersprüche ein, die bis zum 8. Juni von der Indianerbehörde FUNAI, die unter geringer Finanz- und Personalausstattung leidet, bearbeitet werden müssen. Nach Ablauf dieser Frist ist es allein Sache des Justizministers, nichtöffentlich und ohne festgelegte Kriterien Entscheidungen über Gebietsgrenzen und/oder Entschädigungen zu treffen. An diesem Beispiel wird der begrenzte Handlungsspielraum der Entwicklungszusammenarbeit deutlich.
Wir fordern in diesem Zusammenhang von der Bundesregierung, sich erstens bilateral und multilateral dafür einzusetzen, daß die brasilianische Regierung das Dekret 1775 zurücknimmt und endlich dafür sorgt, daß die Demarkierungen der indianischen Territorien wie geplant umgesetzt werden.
Dafür hat sich auch schon das Europäische Parlament ausgesprochen.
Zweitens soll die Bundesregierung in einen wirksamen Dialog mit Nichtregierungsorganisationen und den Vertretern der indigenen Völker eintreten, um sich über deren Erfahrungen bei der Umsetzung der Demarkierungen zu informieren, und sie bei der Durchführung dieses Prozesses stärker beteiligen.
Drittens muß die Regierung sicherstellen, daß keine deutschen Entwicklungshilfegelder für die Verkleinerung oder Aufhebung bereits demarkierter Gebiete eingesetzt werden.
Die Bundesregierung soll sich zudem dafür stark machen, daß sich die Weltbank überall dort, wo Weltbank-Projekte betroffen sind, bei den beteiligten brasilianischen Counterparts für die Rücknahme der Anfechtungen einsetzt.
Falls nach dem 9. Juni dieses Jahres, dem Ablauf der Bearbeitungszeit für die Einsprüche, die Verkleinerung der indianischen Territorien erfolgt oder dies absehbar ist, müßten die deutschen Gelder für das Demarkierungsprogramm eingefroren werden. In Abstimmung mit den anderen Geberländern sollte die Bundesregierung der brasilianischen Regierung klarmachen, daß sie nicht mehr mit der Bewilligung von Mitteln rechnen kann, solange nicht eine kohärente Umsetzung der bereits im Detail ausgehandelten Projekte nachgewiesen ist.
Momentan wäre es aber meines Erachtens verfrüht, die Gelder für das Demarkierungsprogramm zu sperren. Vorrangig müssen jetzt Mechanismen erprobt werden, die den Mißbrauch der Gelder vermeiden, gleichzeitig aber die finanzielle Basis des Rechtsschutzes für die Indianergebiete weiter ermöglichen.
Im größten Regenwaldland der Welt, in Brasilien, ist aber der Tropenwaldschutz nicht nur durch die rücksichtslose Durchsetzung der alten oligarchischen Interessen gefährdet; die politischen Rahmenbedingungen für eine tragfähige Umweltpolitik gibt es leider auch nur in Ansätzen.
Sowohl die brasilianische Bundesregierung als auch die Landesregierungen, mit Ausnahme des Staates Amapá, unterstützen direkt oder indirekt den Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Wälder. Ein besonders abschreckendes Beispiel bietet das durch den extremen ökologischen Raubbau und soziale Konflikte geprägte Industriegebiet von Grande Carajás, von dem sogar die offiziellen Vertreter der Weltbank in Brasilien im letzten Jahr gesagt haben, sie würden es nicht wieder finanzieren, wenn die Entscheidung heute getroffen werden müßte.
Tropenwaldschutz ist eine wirtschafts-, umwelt-
und entwicklungspolitische Querschnittsaufgabe sowohl für uns als auch für die Tropenwaldländer. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich international für ein völkerrechtlich verbindliches Instrumentarium zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt der Wälder einzusetzen. In diesem Sinne müssen Verhandlungen für ein Waldpro-
Dr. Angelika Köster-Loßack
tokoll im Rahmen der Konvention über die biologische Vielfalt unterstützt werden.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Empfehlungen der Enquete-Kommission, die sie in ihrem Zweiten Bericht zum Schutz der tropischen Wälder gegeben hat, umzusetzen und die Debatte auch um soziale und ökologische Mindeststandards im internationalen Handel voranzutreiben. Das gilt in diesem Zusammenhang insbesondere für den Handel mit Holz.
Die Bundesregierung wird aufgefordert, in der bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit nur solche Projekte zu fördern, die nach überprüfbaren und verläßlichen Kriterien einer naturnahen Waldnutzung und dem Naturwalderhalt zugeordnet werden können. Im Rahmen ihres Politikdialogs muß sie sich für eine umfassende Landreform in den Tropenwaldländern und für eine Beteiligung der zivilgesellschaftlichen Gruppen einsetzen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß!
Insbesondere muß die betroffene Bevölkerung stärker an der Planung und Durchführung von Projekten und Programmen beteiligt werden.
Ich bitte Sie, unseren Antrag zu unterstützen. Vielen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus-Jürgen Hedrich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte ich mich bei Ihnen vom Bündnis 90/Die Grünen herzlich dafür bedanken, daß Sie der Bundesregierung mit Ihrer Großen Anfrage die Möglichkeit gegeben haben, ihre Aktivitäten im Rahmen von Tropenwaldschutzprogrammen darzustellen. Ich glaube, wir können eine beachtliche Bilanz aufweisen.
Auch mit dem, was Sie, Frau Köster-Loßack, hier vorgetragen haben, und den Forderungen, die Sie erhoben haben, können wir weitgehend übereinstimmen. Ich glaube, daß ich das an dieser Stelle so formulieren darf.
Ich bin auch ziemlich sicher, daß Sie damit einverstanden sind, wenn ich trotz des Tatbestandes, daß Sie sich schwerpunktmäßig auf Brasilien bezogen haben - ich komme darauf gleich zurück -, darauf hinweise, daß die Problematik des Schutzes des Tropenwaldes nicht auf Brasilien beschränkt ist. Diese Frage spielt auch in vielen anderen Teilen der Erde eine Rolle und bereitet uns Sorgen. Dort gibt es Positives und Negatives zu vermelden.
Wenn man zu Tropenholzboykotten aufruft, muß man sich darüber im klaren sein, daß viele Bürger von diesen Hölzern, zum Beispiel deren Export, leben. Auf der anderen Seite muß man wissen, daß dann, wenn keine ökonomische Nutzung möglich ist, das Interesse vieler Menschen verlorengeht, den Wald, von dem und in dem sie leben, wirklich zu schützen.
Häufig ist der Schutz eine Sisyphusarbeit, und manchmal kommen wir zu spät. Aber für viele Wälder dieser Erde ist es noch nicht zu spät. Das gilt auch für Brasilien.
Sie haben einen ganz wichtigen Punkt angesprochen: Es ist entscheidend, daß wir die Bürger vor Ort einbinden. Das gilt nicht zuletzt für die indigenen Völker. Wir beide haben uns ja vor 14 Tagen, in unterschiedlichen Gesprächen, mit den Repräsentanten der indianischen Völker unterhalten. Ich habe ihnen von seiten der Bundesregierung zusagen können, daß wir die Interessen dieser indigenen Völker nachhaltig berücksichtigen und die Berücksichtigung dieser Interessen auch gegenüber der brasilianischen Regierung anmahnen werden.
Wir haben eine weitere gute Gelegenheit zum Gespräch, da eines der jährlich stattfindenden Treffen zur Beratung des Pilotprogramms für Brasilien Anfang September in Bonn stattfinden wird. Dann wird zum Beispiel auch das von Ihnen angesprochene Dekret auf dem Prüfstand stehen, nämlich die Frage, in welcher Weise die Bundesregierung von Brasilien nach wie vor daran festhält, daß die Demarkierung von Indianergebieten fortgesetzt wird.
Wir werden auf jeden Fall darauf achten, daß dieser Mechanismus erhalten bleibt. Ich bedanke mich übrigens ausdrücklich, daß auch Sie hier wiederholt haben, daß wir davon abraten, jetzt die Demarkierungsprozesse zu stoppen, weil wir davon ausgehen, daß bald nach der juristischen Bewertung der Einsprüche die klassischen Demarkierungsarbeiten fortgesetzt werden können.
Eine abschließende Bemerkung: Es ist aus unserer Sicht in der Tat von ganz entscheidender Bedeutung, daß wir Bewußtseinsbildung betreiben - bei uns, aber natürlich auch gerade in den Ländern, wo die politisch Verantwortlichen noch nicht immer das Maß an Bereitschaft zur Zusammenarbeit erreicht haben, das notwendig wäre, um den Tropenwald wirklich zu schützen.
In dem Sitzungsraum unseres Ausschusses hängt ein Bild mit der berühmten Zeile: „Der Tropenwald
Parl. Staatssekretär Klaus-Jürgen Hedrich
ist weit weg, aber nicht mehr lange". Wir wollen dazu beitragen, daß der Tropenwald in Brasilien noch sehr, sehr lange weit weg ist.
Herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Mathias Schubert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Schutz der tropischen Wälder ist spätestens seit Mitte der 70er Jahre ein globalökologisches Dauerthema. Die Einsicht, daß Erhalt oder Zerstörung dieser Wälder Einfluß auf die gesamte Biosphäre der Erde haben, wurde national wie international längst zum Allgemeingut nicht nur einer Elite von Politikern und Fachleuten, sondern auch einer breiten Öffentlichkeit.
Der Druck, diese Wälder wirksam zu schützen, wächst seitdem ständig. Folgerichtig jagen sich internationale Konferenzen, wurden weltumspannende Organisationen gegründet, Projekte erarbeitet und ins Werk gesetzt. Es müßte bei so viel Aktionismus zu erwarten sein, daß der Schutz der tropischen Wälder auf der Seite der Erfolgsbilanz der globalen Herausforderungen steht. Wir wissen alle, daß dem nicht so ist.
Die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema und die Antwort der Bundesregierung offenbaren einige Gesichtspunkte dieses Dilemmas. Ich greife ein markantes Beispiel heraus: Auf die Frage, welchen politischen und praktischen Sinn einzelne Tropenwaldschutzprojekte und -programme haben, wenn die nationale Politik der entsprechenden Staaten die Gefährdung oder Zerstörung von Tropenwaldgebieten zuläßt, antwortet die Bundesregierung mit den Hinweisen auf eingeschränkte Spielräume der Partnerregierungen sowie auf einen Dschungel an Interessenkonflikten in den Partnerländern, und sie verweist auf die Notwendigkeit von politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Änderungen in diesen Ländern.
Diese Antwort sagt mehr, als sie vielleicht sagen soll. Sie beinhaltet nämlich das Eingeständnis, daß unsere Anstrengungen zum Schutz der Tropenwälder in vielen Fällen von höchst zweifelhafter Wirkung sind
und so in dem Verdacht stehen, als wenig wirksame Rechtfertigung dafür dienen zu müssen, daß bilaterale wie multilaterale Schutzprojekte und -programme zum großen Teil nur Symptombastelei sind.
Diese Antwort enthält aber noch ein Problem: Sie bestätigt nämlich die Vermutung, daß wir exemplarisch in unseren Bemühungen um den Schutz der Tropenwälder immer noch zu sehr davon geleitet sind, daß die globalen Herausforderungen in der Dritten Welt und nicht auch bei uns gelöst werden müssen.
Der Vertreter Ghanas hat diesen Fehlschluß und seine möglichen internationalen Folgen auf dem Umweltgipfel in Rio 1992 mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht - ich zitiere -:
Die weltweite Partnerschaft wird dann nicht funktionieren, wenn wir in den Entwicklungsländern permanent ignoriert oder belehrt werden sowie uns andauernd neue Verhaltensvorschriften gemacht werden, die, wie wir alle wissen, unsere Entwicklungschancen verschlechtern. Wenn sich diese Einstellungen nicht ändern, können und wollen wir uns den Industrieländern bei unserer großen gemeinsamen Aufgabe, die Welt neu zu gestalten, nicht anschließen.
Es geht bei diesen Feststellungen nicht um die Aufrechnung von Schuld. Es geht um den Kern des Dilemmas. Noch nie wurde international so viel für die Erhaltung der Tropenwälder getan. Doch nichts verhindert bislang die weitere Vernichtung, obwohl sich die Gesamtfläche der tropischen Wälder schon dramatisch auf weniger als 50 Prozent ihrer ursprünglichen Fläche verringert hat. Ein großer Teil dieser Situation ist auf unser zwanghaftes Helfersyndrom zurückzuführen, dessen guter Wille scheitern muß, weil er viel zu sehr unsere eigenen Interessen mit den Schutzprogrammen zusammen exportiert und viel zuwenig anerkennt, daß wir die betreffenden Länder nicht in unsere großen Zoos und unsere heilen botanischen Gärten verwandeln können.
Soweit ich sehe, besteht ein breiter Konsens darin, daß der Schutz der tropischen Wälder eine globale Verantwortung erfordert, die sich keineswegs in ökologiepolitischen Maßnahmen erschöpfen darf, sondern ein Zusammenspiel auch der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Komponenten sein muß. Wenn dem so ist, lohnt es sich, exemplarisch nach Möglichkeiten zu fragen, wie solche Vernetzungen die Wirksamkeit des Tropenwaldschutzes erhöhen könnten.
Als erstes Beispiel sei noch einmal an Arun III erinnert. In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich die Bevölkerung Nepals verdoppelt und der dortige Waldbestand halbiert. Der dadurch entstandene ökologische Notstand korrespondiert mit einem wirtschaftlichen - besonders energiewirtschaftlichen - und sozialen Notstand. Das Arun-Wasserkraftwerk sollte nicht nur die Energiemisere Nepals beenden, sondern auch die sozialen und ökologischen Parallelwirkungen eindämmen.
Hätten wir als einer der Hauptgeldgeber von Anfang an stärker darauf gedrungen, zugleich mit Arun III dezentrale Alternativprojekte zu erarbeiten,
Dr. Mathias Schubert
wären Nepal wohl ein Jahrzehnt energiewirtschaftlicher Stagnation, ein Jahrzehnt sozialen und ökologischen Abstiegs und - damit verbunden - ein Jahrzehnt überlebensnotwendigen, aber selbstzerstörerischen Waldraubbaus erspart geblieben.
Zweites Beispiel: In Nordbrasilien stehen riesige Erzverhüttungswerke, die fast ausschließlich Holzkohle, gewonnen aus primärem oder sekundärem Regenwald, als Energieträger benutzen. Die ökologischen, aber auch die gesundheitlichen Folgen für die Menschen sind verheerend. Wenn die Bundesregierung besonders ihre im Lateinamerikakonzept formulierten wirtschaftlichen Interessen ernst nimmt: Wäre es dann nicht auf Grund unserer oft beschworenen sozialökologischen Globalverantwortung wenigstens eines Versuches wert, gemeinsam zum Beispiel mit der deutschen Stahl- und Energiewirtschaft den Brasilianern ein fundiertes Investitionsprojekt anzubieten, das dort auf eine Energieträgerwende zielt, ökologisch und gesundheitspolitisch sinnvoll ist und uns zudem auch noch die Möglichkeit eröffnete, energiewirtschaftliches Know-how vom Neuesten und damit Energiesparendsten zu exportieren?
Ein letztes Beispiel. Die Statistiken sind eindeutig: Mit etwa 90 Prozent trägt die Landwirtschaft den Löwenanteil an der Tropenwaldzerstörung. Die Ursachen dafür sind natürlich vielschichtig und größtenteils in den Verteilungs- und Sozialverhältnissen dieser Länder zu finden. Doch machen wir uns nichts vor: Manche Ursachen liegen auch in einigen unserer zumeist unreflektierten Lebensgewohnheiten. Besonders in Lateinamerika existiert eine geradezu tropenwaldfressende extensive Tierwirtschaft, die vom Rinderexport für gelb-rote und andersfarbige Imbißketten in den Industrieländern lebt.
Es ist somit deutlich, daß es nicht an Theorien und gutem Willen mangelt, den Tropenwald zu schützen. Der Mangel liegt im unzureichenden praktisch-politischen Umsetzungsvermögen.
Die Kardinalforderung für einen nachhaltigen Schutz der Tropenwälder besteht erstens nach wie vor in der Entwicklung integrierter Konzepte, die insbesondere auch die wirtschaftlichen Interessen der betreffenden Länder gleichberechtigt einbezieht. Den Widerspruch zwischen blumiger Öko-Rhetorik und globaler Partnerschaft einerseits sowie dem tatsächlich regierenden Interessenpoker zwischen Nord und Süd andererseits kann nur der Norden auflösen.
Zweitens wird die Erhaltung der Tropenwälder nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn die Industriestaaten und die internationalen Organisationen nicht allein Hilfsprogramme anbieten, sondern ihre ökonomischen Potentiale zum Aufbau nachhaltig stabiler Wirtschafts-, Sozial- und Umweltentwicklungen einsetzen.
Drittens werden unsere Schutzinteressen für die Tropenwälder erst dann bei den Partnerländern auf politisch-moralische Anerkennung hoffen dürfen, wenn wir unsere selbstproduzierten globalen Gefährdungen - Stichwort: CO2-Reduktion - ernsthaft und glaubwürdig selbst zu beheben beginnen.
Viertens sind alle Programme weiterzuentwickeln, die die Inwertsetzung der Tropenwälder als Wirtschaftsfaktor für die betreffenden Länder unterstützt. Tropenholzeinschlagverbote und Tropenholzimportverbote haben zwar einen gewissen romantischen Charme, entwerten aber gerade die Wälder für diese Gesellschaften und tragen so zu deren Zerstörung bei. Wir dürfen besonders hier nicht mit zweierlei Maß messen. Der jährliche Holzexport Brasiliens ist geringer als der jährliche Holzeinschlag im Schwarzwald.
Fünftens sind nach wie vor nationale Aufklärungsprogramme bei uns nötig, um die Ursachen, die Verantwortung, die Zusammenhänge und die Folgen von Tropenwaldraubbau, Klimakatastrophe, Umweltflüchtlingen, Bodenerosion usw. auch bei uns selbst zu erkennen und zu verinnerlichen.
Sechstens werden wir auch bei diesem Thema im eigenen Lande nur dann vorankommen, wenn Entwicklungspolitik nicht mehr zuerst Hilfspolitik bleibt, sondern Querschnittspolitik wird.
Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist der Schritt von einer Politik der Symptomkuriererei hin zu einer Politik der Prävention. Die ist nicht nur wirksamer, die ist in aller Regel auch billiger, und sie dient vor allem auch unseren eigenen Interessen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Roland Kohn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Schutz der Wälder in den tropischen Regionen der Erde stellt eine der größten Herausforderungen unserer Zeit dar. Regional wie global hat die Zerstörung der Tropenwälder verheerende Auswirkungen auf Klima, Umwelt und langfristige Lebenschancen der Menschen.
Die Bevölkerung von Tropenwaldgebieten ist weithin auf die Nutzung des Waldes zur Deckung ihres Bedarfs an Holz, Nahrung und Energie angewiesen. Brennholz und Holzkohle beispielsweise sind die wichtigste Energiequelle der ländlichen Bevölkerung in der Dritten Welt. Rund 2 Milliarden Menschen brauchen diese zum Heizen und Kochen.
Roland Kohn
Der Verzicht auf diese natürlichen Ressourcen ist für die betroffenen Länder deshalb kein gangbarer Weg. Wir müssen unsere Partnerländer bei der Einführung einer nachhaltigen Forst- und Holzwirtschaft unterstützen, damit der Bevölkerung diese Ressourcen langfristig zur Verfügung stehen.
Eine ebenso schwerwiegende Konsequenz für die ökologische Entwicklung hat die Tropenwaldzerstörung, einschließlich der Brandrodung: Sie trägt nämlich mit rund 20 bis 25 Prozent zum weltweiten CO2-
Ausstoß bei.
Wegen ihrer immensen Artenvielfalt und ihrer Bedeutung für das globale Klima liegt der Schutz der Tropenwälder daher im elementaren Interesse auch der Industriestaaten.
Wir Liberalen unterstützen die Politik, den betroffenen Entwicklungsländern zu helfen, einer weiteren Vernichtung der Tropenwälder entgegenzuwirken. Die Bundesregierung hat bereits seit Ende der 80er Jahre den Schutz der tropischen Wälder zu einem Schwerpunkt der deutschen Entwicklungspolitik gemacht. Die Mittel, die jährlich zum Schutz der Tropenwälder aufgebracht werden, wurden seit 1988 erheblich ausgeweitet und betragen inzwischen rund 300 Millionen DM. Dies sind rund 15 Prozent der international für Programme der Tropenerhaltung bereitgestellten Gelder. Deutschland ist damit der größte bilaterale Geber auf diesem Gebiet.
Meine Damen und Herren, entscheidend ist jedoch: Alle Entwicklungsvorhaben und -projekte müssen konsequent auf ihre Umweltverträglichkeit hin überprüft werden. Inzwischen werden vor allem auf Initiative der Bundesregierung auch diejenigen Projekte, für die die Weltbank eine Finanzierung erwägt, einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen. Dabei werden und müssen insbesondere die Interessen der jeweils betroffenen Bevölkerungsgruppen einbezogen werden.
Sowohl in der bilateralen als auch in der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit wurden damit die Lehren aus den Fehlern früherer Projekte und Strukturanpassungsprogramme gezogen.
Trotz aller Anstrengungen ist das Ausmaß der tropischen Waldzerstörung nach wie vor besorgniserregend hoch. Unsere Politik kann nur Hilfe zur Selbsthilfe sein.
Sie muß zugleich die Rahmenbedingungen ändern. In den Entwicklungsländern selbst müssen wir bei den Problemen des Bevölkerungswachstums und der Massenarmut zu Fortschritten kommen. Notwendig ist eine Agrarreform, um eine gerechte Landverteilung zu erreichen. Die Entwicklungsländer müssen in ihrem Bereich für die notwendigen institutionellen und politischen Voraussetzungen für eine positive wirtschaftliche Entwicklung sorgen.
Unsere Hilfe muß auf Voraussetzungen für dauerhafte Entwicklungen setzen. Denn es ist ganz klar: Wir haben nach wie vor erhebliche Probleme. Wir als Industriestaaten müssen zwei Punkte ganz besonders voranbringen. Ich begrüße es, daß durch den Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen der von den Entwicklungsländern geforderten Liberalisierung in den Bereichen „tropische Produkte" und „Rohstoffprodukte" Rechnung getragen wurde. Das ist ein erster Schritt hin zu einer gleichberechtigten Teilnahme der Entwicklungsländer am Weltmarkt.
Wir müssen diesen Weg auch deshalb konsequent weiterverfolgen, weil die Art und Weise der künftigen Entwicklung der Entwicklungsländer nicht abgekoppelt sein darf von der Entwicklung der Weltwirtschaft.
Wir Liberalen werden jedenfalls nicht eher ruhen, bis alle Handelshemmnisse und protektionistischen Maßnahmen zu Lasten der Entwicklungsländer beseitigt sein werden.
Dies ist die Aufgabe, die wir zu erledigen haben. Wir haben erste Schritte getan. Es bleibt aber noch unglaublich viel zu tun. Packen wir's an!
Das Wort bekommt nun die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung stellt fest, daß nur 2 bis 10 Prozent der Tropenwaldvernichtung aus unsachgemäßen Formen der Holznutzung resultieren. Nur zu einem verschwindend kleinen Teil sei Deutschland an Importen von Tropenholz beteiligt. Das mag alles sein. Ist sie deshalb aber weniger verantwortlich?
Nein, denn Deutschland setzt als drittgrößter Gläubiger der Entwicklungsstaaten genauso wie IWF und Weltbank bei seinen Wirtschaftsbeziehungen auf Privatisierung, Deregulierung und Freihandel. Mangels industrieller Basis kann die Schuldenlast der Trikontländer nur noch mit weiter ausgedehnter Land- und Forstwirtschaft sowie mit Rohstofflieferungen, also mit Naturzerstörung, ausgeglichen werden. Dem fällt in vielen Ländern auch der Regenwald zum Opfer.
Dies passiert in einem Prozeß, in dem - wie die Bundesregierung feststellt - in Relation zu den Industriegütern die Preise für Agrargüter ständig zurückgehen.
Eva Bulling-Schröter
Ein Bericht des „World Wide Fund for Nature" weist nach, daß das Wirtschaftswachstum in Costa Rica Milliardenwerte an natürlichen Ressourcen gekostet hat. Der Aufbau von riesigen Rinderherden zur Steigerung von Handelseinnahmen zerstörte die traditionelle Landwirtschaft genauso wie große Waldgebiete. Die einsetzende Erosion verwüstet fruchtbares Land. Die Wirtschaft wuchs zwar nominell, doch der Wert der Wälder, Acker und Fischbestände sank in 20 Jahren um 4 Milliarden US-Dollar.
Die von Brasilien in den letzten Jahren erwirtschafteten Handelsüberschüsse gingen vollständig zur Schuldentilgung drauf. Mehr als ein Drittel der Ausfuhren bezog sich dabei auf Produkte der Land- und Forstwirtschaft oder des Bergbaus.
Die Schuldenlast ist bis heute nur geringfügig auf unter 100 Milliarden Dollar gesunken. Aber zu welchem Preis? - Der Druck der Gläubiger hat Brasilien eine neoliberale Wirtschaftspolitik aufgezwungen. Die Wirtschaft ist gewachsen; die Inflation gebremst. Der durchschnittliche Monatslohn eines Brasilianers ist allerdings seit 1983 um ein Drittel gesunken, während umgekehrt der Monatsverdienst der Reichsten um 18 Prozent stieg.
40 Prozent der Brasilianer arbeiten bitterarm in der Schattenwirtschaft, hauptsächlich auf dem Land. Sie werden von Latifundistas benutzt, um immer neue Feld- und Weidegebiete zu erschließen. Dabei werden der Regenwald und die Siedlungsgebiete der Ureinwohner zerstört.
Wen wundert es, daß Bonner Programme zum Schutz der brasilianischen Indianer weitgehend ins Leere laufen? Gerade sind rund 3 000 brasilianische Goldsucher in das Gebiet der Yanomani-Indianer eingedrungen, weil das Reservat am Amazonas seit März aus finanziellen Gründen nicht mehr von der nationalen Indianerbehörde überwacht werden kann. Tragisch!
Ein Stopp der Regenwaldvernichtung und der Schutz der dortigen Bewohner erfordern in erster Linie nicht punktuelle Hilfsprogramme, sondern eine umfassende Neuorientierung der internationalen wirtschafts- und entwicklungspolitischen Zusammenarbeit der Länder.
Ich erteile nun das Wort dem Abgeordneten Dr. Christian Ruck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stellen fest, daß die Vernichtung der Tropenwälder ein erschreckendes Maß erreicht hat und unvermindert anhält, trotz der Konferenz von Rio. Das weltweite Desaster in den Wäldern und Savannen hat sich noch verstärkt, da inzwischen durch die Verhältnisse in Rußland auch weite Teile der nördlichen Wälder kurz und klein geschlagen werden. Die Vernichtungsrate zeigt eher steigende Tendenz, und allein zum Brennholzsammeln werden im Jahr 2000 rund 2,4 Milliarden Menschen mehr Holz in ihrer Umgebung abschlagen, als nachwachsen kann.
Dies bedeutet, daß wir mit unveränderter Geschwindigkeit auf die ökologischen und ökonomischen Folgen dieser Naturzerstörung zurasen - sie wurden zum Teil schon genannt: regionale und globale Klimaverschlechterung, Verknappung der Süßwasserreserven usw. - mit all den schlimmen bekannten und prognostizierten Folgen für den Lebenswert ganzer Regionen, für die Lebenschancen ganzer Völker und für die ganze Völkergemeinschaft.
In einer so dramatischen Situation ist es richtig und wichtig - auch wenn es jetzt schon Freitag nachmittag ist -, vorbehaltlos zu diskutieren, was wir anders oder besser machen müssen. Aber dabei gilt es auch, die Erfolge zu sehen, die uns Perspektiven aufzeigen können: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist nicht nur quantitativ im Tropenwaldschutz Vorreiter, sondern hat, Herr Schubert, den natürlichen Ressourcenschutz als Querschnittsaufgabe in fast allen Projekten und Programmen fest verankert.
Die globale Umweltfazilität von Weltbank und Vereinten Nationen hat ihre Pilotphase bestanden und leistet gute Arbeit. Unbestritten hat sich auch bei den internationalen Entwicklungsbanken, insbesondere der Weltbank, ein Sinneswandel vollzogen. Selbst in Brasilien - das muß man gerechterweise sagen - ist vieles zum Besseren in Bewegung gekommen.
Nach zähem Vorlauf sind viele unserer bilateralen oder von uns initiierten multilateralen Programme und Projekte in Gang gekommen und laufen gut. Als Beispiele nenne ich die Sicherung der Waldschutzzonen und die Verbesserung der Wasserwirtschaft, etwa im Süden Brasiliens. Manche Länderregierungen in Brasilien sind dabei äußerst engagiert, zum Beispiel in Amapa. Selbst der berühmt-berüchtigte Gouverneur des Bundesstaates Amazonas, Herr Mendez, der vorher angeblich im Wahlkampf kostenlos Kettensägen verteilt hat, soll eine Wendung um 180 Grad vollzogen haben. Auch höre ich von unseren Entwicklungsexperten vor Ort, daß die brasilianische Bundesregierung und die Parlamentarier in Brasilien im Laufe der letzten Jahre einen spürbaren Meinungswandel zugunsten des Tropenwaldschutzes vollzogen haben und daß es gerade Präsident Cardoso ist, der das seit 1995 spürbar anschiebt.
Aber wir sehen natürlich auch mit großer Sorge die neuen Tendenzen in der Indianerpolitik Brasiliens. Ich glaube, das haben alle, Bundesregierung, Parlamentarier und Nichtregierungsorganisationen, zum Ausdruck gebracht. Die brasilianische Regierung wiederum hat durch den Justizminister immer wieder erklärt, daß sich für die Indianer auch mit dem neuen Dekret nichts zum Negativen ändern wird. Hier sollten wir ihn beim Wort nehmen und warten,
Dr. Christian Ruck
was am 8. Juli passiert, wenn die Katze aus dem Sack gelassen wird, und dann entsprechend reagieren.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, viele Projekte und Projekterfolge im einzelnen und auch manch positiver politischer Meinungswandel in den Entwicklungsländern selbst und bei uns können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Maßnahmen zum Schutz und zur Rettung der Wälder allgemein und der Tropenwälder im besonderen weltweit verbessert und intensiviert werden müssen, und zwar sowohl von unserer Seite aus als auch in den Tropenländern selbst. Lassen Sie mich dabei fünf Punkte nennen, die aus meiner Sicht für einen langfristigen Erfolg unserer Politik unabdingbar sind.
Erstens. Auch gute Umweltvorhaben in der Entwicklungspolitik können noch verbessert und ausgeweitet werden, insbesondere auch in internationaler Sicht. Ich denke dabei zum Beispiel an Projekte, bei denen gerade der Schutz der Wälder gegenwärtiges und zukünftiges Einkommen für die Bevölkerung vor Ort garantiert - hier haben wir einige gute Beispiele etwa im Bereich von Nationalparkprojekten, wo die umwohnende Bevölkerung wirklich unmittelbar das Geld bekommt, das dort verdient wird -, an Programme, die eine breitere Umweltbildung in der Bevölkerung und bei den Entscheidungsträgern vermitteln, an Hilfe beim Aufbau einer effizienten Umweltadministration und Umweltgesetzgebung und schließlich an Programme, mit denen bereits erprobte Methoden der nachhaltigen Waldnutzung und einer umweltverträglichen Landesplanung und Raumordnung in großem Maßstab durchgesetzt werden.
Ich glaube, zu einer Schicksalsfrage in der Entwicklungszusammenarbeit wird auch der Transfer von Technologie, und zwar gerade im Energiebereich. Dabei muß es durch angepaßte Technologie gelingen, den unglaublichen Brennholzbedarf gerade in der Dritten Welt zu befriedigen und so allmählich wieder annähernd eine Balance zwischen Angebot und Nachfrage herzustellen.
- Frau Eid, die Bundesregierung tut hier, glaube ich, was sie kann. Nur gibt es hier auch einige Akzeptanzschranken in der Dritten Welt - das haben wir neulich diskutiert -, für deren Überwindung wir erst noch ein Rezept finden müssen.
- Auch bei uns. Dazu komme ich noch.
Zweitens. Wir müssen noch stärker als bisher die Ursachen oder Begleiterscheinungen der Umweltzerstörung an der Wurzel packen, das heißt - das wurde auch von meinen Vorrednern schon betont - die Armutsbekämpfung und die Eindämmung des Bevölkerungswachstums verstärken. - Der neueste Bevölkerungsbericht bestätigt übrigens, daß der Kampf gegen letzteres nicht so hoffnungslos ist, wie mancher gedacht hat. - Dies bedeutet auch das Einwirken auf die internationalen und vor allem nationalen Rahmenbedingungen. So wäre zum Beispiel eine Erhöhung der Entwicklungshilfe oder eine weitere Entschuldung in vielen Ländern Lateinamerikas, zum Beispiel auch in Brasilien, ohne eine effiziente Sozial- und Agrarreform vollkommen sinnlos.
Drittens. Bei dem Versuch, durch nationale und internationale Vereinbarungen das Eigeninteresse der Tropenwaldländer an der Erhaltung ihrer Naturschätze zu wecken, müssen wir in den nächsten Jahren endlich einen Durchbruch erzielen. Das gilt sowohl für eine praktikable Kennzeichnung von Tropenholz aus umweltverträglicher Holzgewinnung als auch für Modelle zum Beispiel in Costa Rica, mit denen das ungeheure wissenschaftliche Potential von Tropenwäldern beispielsweise für die internationale Medizin und Pharmazie in einem fairen Interessenausgleich zwischen waldbesitzendem Land und High-Tech-Forschungsland genutzt werden kann.
Viertens. Die internationale Entwicklungspolitik leidet nach wie vor an gewaltigen Einbußen ihrer Schlagkraft, weil sie von seiten der Gebernationen noch zu wenig koordiniert ist. Die Umwelt- und Entwicklungsinstitutionen der Vereinten Nationen beispielsweise sind schwachbrüstig und in viele Einzelteile zerfleddert. Auch die Arbeitsteilung zwischen Europäischer Union und den Einzelstaaten ist in der Entwicklung nicht vorhanden, und - was noch schlimmer ist - selbst die bilateralen Entwicklungspolitiken innerhalb der Geberländer widersprechen sich oft gegenseitig diametral, zum Beispiel die Deutschlands und Frankreichs zum Thema Tropenwaldschutz oder die Deutschlands und Japans.
Schließlich fünftens. Gerade der Fall Brasilien zeigt uns, wie wenig wir insgesamt Einfluß auf die Entwicklungs- und Umweltpolitik reicher, großer und selbstbewußter Tropenwaldstaaten nehmen können. Wir können Projekte anbieten, wir können Know-how anbieten, aber ansonsten können wir vor allem nur versuchen, auf allen Ebenen politische Überzeugungsarbeit zu leisten. Dies gilt nicht nur für Reisende in Sachen Umwelt- und Entwicklungspolitik.
Wir sind allerdings bei unserem Einwirken auf Politiker der Tropenwaldländer um so glaubwürdiger, je ernsthafter wir unser Kooperationsangebot gestalten - zum Beispiel im Rahmen der weiteren Öffnung unserer Märkte - und je ernsthafter und entschlossener wir in unserem eigenen Natur- und Umweltschutz in den nächsten Jahren vorankommen.
Damit schließe ich die Aussprache.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4713 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Bedauerlicherweise können wir unseren zahlreichen Besuchern keine weitere Unterhaltung bieten. Wir haben nach dieser Woche sicherlich alle Abstand und Besinnung verdient. Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein frohes Pfingstfest.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 12. Juni 1996, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.