Rede von
Monika
Knoche
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Zeig mir deine Zähne, und ich sage dir wie arm du bist. Autoritäre Selbstverschuldungstheorien durch Leistungsentzug und Bestrafungsrituale durch Zuzahlung gegenüber Kranken zeugt von dem Geist ihrer Verfechter. Das ist nicht die Philosophie des Sozialstaats.
Die Prävention faktisch abzuschaffen, bedeutet das Aus für 50 000 Selbsthilfegruppen. Der Verzicht auf betriebliche Gesundheitsprävention kostet die Systeme insgesamt jährlich zirka 100 Milliarden DM. 1,8 Milliarden DM Einsparung durch Kürzung des Krankengeldes, 2,3 Milliarden DM Mehreinnahmen durch erhöhte Zuzahlung, 1,3 Milliarden DM Einsparung durch Verzicht auf Prävention: Was ist das für eine Relation zu der Wirkung von Präventionen!
Der Gesundheitsminister macht sich zum Büttel der Arbeitgeberschaft, die ihn kürzlich schon wegen seiner überzogenen regressiven Politik kritisierte, und läßt Kranke die Zeche für die Lohndumpingpolitik und die Lohnnebenkostensenkung zahlen. Keine Zeit für Illusionen. Die CDU/CSU hat die christliche Sozialethik längst als Ballast abgeworfen.
Die Regierung provoziert den sozialen Frieden im Land. Was sie an dieser Stelle ernten muß, ist wirklich Widerstand.
Sie will die Zustimmung für ihr rabiates Kürzungspaket mit einem kurzen parlamentarischen Prozeß beenden. Mit machtpolitischer Siegergeste zeigt diese Regierung eigentlich ein sehr kaltes Herz. Die
Bevölkerung weiß, was diese Regierung meint, wenn sie von Selbstverantwortung für Krankheit redet.
Es ist die Aufkündigung einer emanzipatorischen Gesundheitspolitik. Es ist die Individualisierung der Krankheitsrisiken. Es ist der sukzessive Ausstieg aus der dualen Finanzierung der Krankenversicherung. Es ist der Abschied von dem ungeteilten Sachleistungsprinzip und damit eine Richtungswende in vorbismarcksche Zeit.
Diese wirklich obszönen Sparorgien,
die sie jetzt vorgelegt haben, gehen gegen die soziale Moral in diesem Land.
- Ich werde Ihnen jetzt dazu etwas sagen, Herr Zöller!
Zum Gesundheitsstrukturgesetz - ich beschränke mich dabei auf drei notwendige Feststellungen -: Erstens. Es gibt keine Not und keine Krise im Gesundheitswesen.
Nichts rechtfertigt es, ein intaktes System den Kräften des Marktes zu überlassen. Es wird wahrheitswidrig behauptet, wir hätten eine Kostenexplosion. Sie dient als Rechtfertigung für den Sozialstaatsausstieg.
Richtig ist: Bei erheblichen Leistungssteigerungen liegen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung seit 20 Jahren konstant bei 6 Prozent des Bruttosozialprodukts. 2 Millionen Menschen sind in diesem hochinnovativen Wirtschaftszweig beschäftigt. Die geringe Lohnquote stellt das größte Finanzrisiko dar. Es gibt keine Ausgabenexplosion, aber eine Einnahmenimplosion: Weil die Lohnquote durch Massenarbeitslosigkeit kontinuierlich sinkt, sind die Beitragssätze gestiegen,
nicht jedoch, weil es ein überbordendes Anspruchsdenken der Versicherten oder demographisch bedingte Belastungsgrenzen gäbe. Das muß einmal deutlich gesagt werden.
Die aktuellen Defizite der Kassen von 5 Milliarden DM resultieren aus Kostenverschiebungen, weil sie unter anderem an eine Wertschöpfungssteuer als neuen Arbeitgeberanteil bei Jobless-growth nicht zu denken wagen. Die Beitragssatzsteigerung anders zu begründen wäre gesundheitsökonomisch grob unlauter. Die Instrumentalisierung betriebswirtschaftlicher Bilanzen der Kassen zu Leistungsausgrenzungen grenzt an politischen Mißbrauch, den die Regierung hier für einen umfassenden Systembruch betreibt.
Monika Knoche
Allein aus Gerechtigkeitsgründen ist es geboten, eine egalitärere Versicherungspflicht herzustellen. Würden die Beitragsbemessungsgrenze und die Pflichtversicherungsgrenze dem Gleichstellungsgrundsatz folgend der Rentenversicherung angeglichen, könnten die Beitragssätze sofort um 0,67 Prozentpunkte gesenkt werden. Wie verlogen ist doch das Argument, man müsse alternativlos Leistungen streichen, um eine Reduzierung von 0,4 Prozentpunkten zu erreichen!
Einer finanziell leistungsfähigen Schicht von 10 Prozent der Erwerbstätigen ist es gestattet, sich über Privatkassen von der Solidarpflicht zu suspendieren.
Das auch noch zu fördern ist angesichts der strukturellen Probleme der Arbeitsmarktlage nicht nur nicht zukunftsfähig; wir Grünen finden, das wird allmählich fahrlässig.
Meine Herren von der rechten Bank, Ihr Pakt mit den Arbeitgebern, Ihre Oberschichtprivilegierung hat Sie in einen sozialdarwinistischen Gedankensumpf gezogen.
Das haben wir an diesem Kürzungspaket gesehen. Sie haben in der Beitragsfrage nämlich nie ernsthaft ökonomisch vernünftige und gesundheitspolitisch unerläßliche Argumente abgewogen.
Zweitens. Die Effizienzreserven liegen in einem systemimmanenten Prozeß, in einer systemimmanenten Strukturreform und nicht im Systembruch. Detailliert liegt ein wirklich wegweisendes Konzept von uns vor, das in der gesamten Diskussion mit Sachverständigen sehr wohl positiv beurteilt worden ist.
Wir haben heute zur Abstimmung Entschließungsanträge vorgelegt. Sie können nachlesen, wie man in der Gesundheitspolitik einen zukunftsweisenden Weg gehen kann.
Der deutsche Sonderweg „ambulanter Sicherstellungsauftrag der Kassenärzte" verhindert die notwendige Verzahnung. Das - auch diese Meinung wird in Expertenkreisen ungeteilt bestätigt - führt zu vermeidbaren Mehrausgaben von 20 Milliarden DM zu Lasten der Versicherten.
Mit einer Öffnung der Krankenhäuser für ambulante spezialärztliche Versorgung, die Sie mit Hartnäckigkeit und mit Verve ablehnen, und mit einer Neuorientierung auf die immer dringlicher werdenden integrierten Versorgungsnotwendigkeiten könnten teure und gesundheitspolitisch unsinnige und zum Teil patientenschädigende Doppelstrukturen vermieden werden. Das wissen Sie, seit Sie die Unmöglichkeit erkannt haben, für das Ausufern des ambulanten Operierens eine bedarfsgerechte Festlegung zu treffen. Nichtsdestotrotz chaotisieren Sie
über die Förderung ambulanter Praxiskliniken die bestehende Struktur zusätzlich.
Wenn schon die FAZ in dieser Woche bescheinigt - ich zitiere -:
Was jetzt beschlossen werden soll, wird ... zur ständigen Verschärfung der bürokratischen Dirigismen ... zur willkürlichen Rationierung ... notwendiger medizinischer Leistungen führen
zeigt das, daß diese Regierung, daß der zuständige Minister selbst in den konservativsten Teilen der Gesellschaft jeglichen Kredit für seine Gesetze verspielt hat.
Drittens. Was verbirgt sich hinter der euphemistischen Umschreibung „Vorfahrt für die Selbstverwaltung"? Es ist das Wettbewerbsprinzip. Dahinter versteckt sich die Preisgabe staatlicher Daseinsvorsorge für das hohe Gut Gesundheit. Es ist eine Ausrichtung des Gesundheitswesens in einer sich verfestigenden Zweidrittelgesellschaft auf eine Zweiklassenmedizin.
Konkurrenz wird das bürgerrechtliche Gleichheitsprinzip, nämlich das der freien Arzt- und Krankenhauswahl, zur Disposition stellen. Der Vertrags- und Kassenwettbewerb ist ein gesellschaftliches Experiment. Die Konkurrenz aller Akteure würde in allen Bereichen der Nachfrage und des Angebots von Gesundheitsleistungen zur Unübersichtlichkeit, zu Niveauverfall aller medizinischen, pflegerischen und psychosozialen Leistungsbereiche führen.
Einen sozialen Wettbewerb gibt es nicht. Wettbewerb lenkt die Ressourcen zu denen um, die jetzt schon die größte Zahlungsfähigkeit und zugleich die geringsten Krankheitsrisiken haben. Gewaltige Fehlallokationen, größere Kosten und Unterversorgung besonders bedürftiger Schichten wären die zwangsläufigen Folgen, und zwar auf der Ebene sowohl des ambulanten als auch des stationären Bereichs.
Wenn es keine einheitlichen und gemeinsamen Verträge der Kassen mit den Krankenhäusern und Versicherten gibt, werden jene Kassen, die die günstigsten Versicherten haben, die Drei-Sterne-Häuser und die extraordinären Arztpraxen unter Vertrag nehmen und mit ihnen exklusive Leistungspakete vereinbaren. Versicherte müssen schauen, ob ihre Versicherungskarte überhaupt eine Eintrittskarte in das Krankenhaus oder die Arztpraxis ihrer Wahl ist.
Das Zusammenwirken all dieser Faktoren wird unweigerlich dieses System destruieren. Es wird zu einem großen Gefälle kommen; ich habe das vom Anfang der Debatte an gesagt. Wenn Sie die Einheitlichkeit der Vertragsschließung aufheben, werden Sie das in Gang setzen.
Nach all den Diskussionen, die wir geführt haben, kann ich nur sagen, daß die Regierung weiß, was sie tut, daß sie weiß, welches Destruktionspotential sie freisetzt. Unter diesen Wettbewerbskautelen, die nichts mehr mit „Lahnstein" zu tun haben - das muß man an dieser Stelle auch der SPD zugute halten -, die die Krankenhäuser in die Zwangsjacke der Ver-
Monika Knoche
körperschaftung stecken und sie gegenseitig für Unwirtschaftlichkeiten verantwortlich machen, wird es auch hier zu einem beispiellosen Desaster kommen.
Ich will nun das Szenario nicht noch weiter ausmalen, weil ich weiß, daß es ungeheuer schwer ist, bei der Kompliziertheit des Gesundheitssystems zu vermitteln, welche Wirkungen sich zeigen werden, wenn heute mit diesen Gesetzen der Systembruch beschlossen wird. Aber ich kann sicher sagen: Wenn diese Gesetze Realität werden, wird nichts mehr bleiben, wie es ist. Wir werden unser Gesundheitssystem in einigen Jahren nicht mehr wiedererkennen.
Es darf unter den gesetzlich Versicherten keinen Wettbewerb um günstige Versicherte geben. Allen ist klar: Mit Satzungsleistungen, die demagogisch verbrämt als Wahlfreiheit daherkommen, wird eben nichts mehr bleiben können, wie es war. Mit einem solchen Wettbewerb wird Gesundheit zur Ware. Und das drückt sich in dem System der Beitragsrückerstattungen und allen anderen Privatversicherungselementen aus, die Sie jetzt in die Krankenkasse einführen wollen.
In einem stimme ich Herrn Dreßler aus vollem Herzen zu.
- Ja, er hat es auf den Punkt gebracht -. Er hat das gesagt, was Sie die ganze Zeit verstecken und undercovermäßig der Öffentlichkeit nicht sagen wollen: Die Benachteiligten sollen heute schon lernen, was sie morgen erwartet, nämlich nichts anderes als eine nackte Grundversorgung.
Mit ihren Gesetzen hat diese Regierung jetzt den politischen Offenbarungseid geleistet. Sie will die Sozialstaatlichkeit nicht mehr fortschreiben. Sie will den Systembruch und nimmt die Zweiklassenmedizin in Kauf. Der Markt wird die Wunden, die diesem System durch die neuen Gesetze geschlagen werden, nicht nur nicht heilen können, sondern auch vertiefen.
Ich rate Ihnen allen Ernstes: Wenn Sie weiterhin eine soziale, gerechte Gesundheitspolitik betreiben und ein System haben wollen, das in der Lage ist, Gleichheit und Gerechtigkeit herzustellen, dann ziehen Sie die Gesetzentwürfe zurück.