Rede von
Klaus
Kirschner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegenden Koalitionsgesetze - das muß ich Ihnen vorwerfen - zeigen:
Gesundheitspolitische Ziele werden von dieser Regierungskoalition ignoriert. Statt dessen betreiben Sie ein Kürzungsroulette. Soziale Ausgewogenheit wird zur bloßen Leerformel. Sie verschieben die solidarische Finanzierung in Milliardenhöhe zu Lasten der Patienten. Herr Bundesgesundheitsminister Seehofer, der soziale Lack ist nun auch bei Ihnen endgültig abgeblättert.
Kürzung des Krankengeldes und gleichzeitig Geschenke für die Leistungserbringer - dies paßt nicht zusammen.
Wenn Sie hier gerade Aerobic erwähnen oder was auch immer an Unsinn von den Krankenkassen teilweise finanziert wird, dann frage ich Sie: Wissen Sie nicht, daß das Bundesversicherungsamt zusammen mit den anderen Länderaufsichtsbehörden in den gemeinsamen Wettbewerbsgrundsätzen den Krankenkassen pro Mitglied und pro Jahr 6,20 DM für Werbung zugebilligt hat? Warum sind Sie nicht dagegen eingeschritten? Das sind immerhin 400 bis 450 Millionen DM. Dagegen hätten Sie doch etwas tun können, wenn Sie es nur gewollt hätten. So einfach, wie Sie es sich machen, sich hier hinzustellen und dies anzuprangern - damit werden Sie Ihrer Aufgabe nicht gerecht, Herr Bundesgesundheitsminister.
Klaus Kirschner
Meine Damen und Herren, mit den vorliegenden Gesetzentwürfen wird deutlich, daß es Ihnen nicht um Reformen geht - obwohl Sie dies ständig betonen -, in deren Mittelpunkt die Interessen der Patientinnen und Patienten sowie die Modernisierung der Versorgungsstrukturen stehen. Anstatt die Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen, verteuern Sie das Gesundheitssystem einerseits durch Nichtstun und auf der anderen Seite durch milliardenschwere Geschenke, für die jetzt die Kranken zahlen sollen. Das können Sie nicht leugnen.
- Das können Sie nicht leugnen. Die treffendste Karikatur der letzten Monate zum Treiben des Bundesgesundheitsministers stammt vom „Hamburger Abendblatt": Der Pharmabändiger Seehofer probt den Sprung des Löwen durch den Reifen. Nur ist es nicht die Pharmaindustrie, die bei diesem Sprung gebändigt wird, sondern der Minister selber darf durch den Reifen springen, den ihm die Pharmaindustrie hinhält.
Die Abschaffung der Positivliste im letzten Dezember ist eines dieser Beispiele. Damals ging es um die Frage, ob die Krankenkassen weiter für therapeutisch fragwürdige Arzneimittel zahlen sollen. Der Minister meinte, ja, und sprang durch den ersten Reifen. Dieser Sprung kommt den Beitragszahlern und nach Vorliegen des Krankenbelastungsgesetzes vor allem den Kranken teuer zu stehen: mit einem Qualitätssprungverlust von rund 2 Milliarden DM.
Ein weiteres Beispiel: Die Festbeträge der Stufen II und III sollen für Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, die ab Januar 1996 zugelassen werden, nicht mehr gebildet werden dürfen.
Wie begründen Sie dies? - Ich darf zitieren:
zur Erleichterung der Finanzierung von Arzneimittelinnovationen, als Anreiz zur verstärkten Investition in die Arzneimittelforschung, zur Stärkung des Pharmastandortes Deutschland.
All diese Gründe findet Seehofer so wichtig, daß er dafür - so steht es in der Begründung Ihres eigenen Gesetzentwurfes - in Kauf zu nehmen bereit ist, daß der Anstieg des allgemeinen Preisniveaus für Arzneimittel voraussichtlich zunehmen wird. Da ist der Herr Minister hellsichtig: Die Preise werden steigen, wenn es die Festbeträge für die betroffenen Mittel nicht mehr gibt.
Einen Satz später in der Begründung ist er jedoch blauäugig. Denn die Budgets werden mit Sicherheit nicht den Effekt der Preissteigerungen begrenzen. Die Budgets halten jetzt schon nicht die Kostenexplosion von über 6 Prozent im Arzneimittelbereich auf, wenn die letzten Meldungen des BKK-Bundesverbandes zutreffen: eine Überschreitung in Höhe von 500 Millionen DM im Westen, eine Überschreitung von 700 Millionen DM im Osten.
Schon die aktuelle Realität stimmt also mit der Theorie nicht überein. Denn bei der Anpassung der Budgets - auch hier nützt ein Blick in das Gesetz - sind die Veränderungen der Preise für Arzneimittel zu berücksichtigen. Von wegen Budgetneutralität! Herr Minister, meine Damen und Herren von der Koalition, bei Ihnen stimmt sogar die Theorie nicht mit der Theorie überein. Dies zeigt sich, wenn man die Gesetzesbegründung mit dem geltenden Gesetz vergleicht.
Was wird das Ganze kosten? Schon aktuell haben die Festbeträge der Stufen II und III zu einer jährlichen Einsparung von zirka 500 Millionen DM geführt. Gegenwärtig sind Gruppen in der Beratung mit einem zusätzlichen Einsparvolumen von 110 Millionen DM. Das mögliche Einsparvolumen schätzt der BKK-Bundesverband, der für die Festbeträge zuständig ist, auf 1 Milliarde DM. Das sind keine Peanuts. Ganz im Gegenteil, die Frage ist: Wer soll das bezahlen? - Wieder die Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung. Schließlich - auch das möchte ich deutlich machen - dürfte diese 1 Milliarde DM nicht einfach aus der Portokasse zu bezahlen sein.
Doch der Minister hat wie immer eine Gegenfinanzierung: In dem Krankenbelastungsgesetz von Bundesregierung und Regierungsfraktionen ist festgelegt, daß die Arzneimittelzuzahlung um 1 DM pro Verordnung angehoben werden soll. Das kostet die Patienten 700 Millionen DM. Im Klartext: Höhere Preise für die Pharmaindustrie, bezahlt mit höheren Zuzahlungen durch die Patienten. Das ist Ihre Politik.
Meine Damen und Herren, ich komme zum letzten Teil des zirzensischen Dreisprungs unseres Pharmabändigers Seehofer: Die Abgabeverpflichtung für importierte preiswerte Arzneimittel des § 129 Sozialgesetzbuch V soll gestrichen werden.
Es geht um einen aktuellen Umsatz von zirka 500 Millionen DM. Die Importabsätze sind kontinuierlich steigend, seitdem diese Vorschrift 1988 durch das GRG eingeführt wurde. Das haben Sie doch durchgesetzt.
Ein Markstein dieser Entwicklung war das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. Februar 1995, in dem der BGH dem pharmazeutischen Großhandel untersagte, importierte Arzneimittel weiterhin zu boykottieren. Mit diesem Urteil steht den Importeuren der gleiche schnelle Vertriebsweg offen wie allen anderen Unternehmen auch.
„Der deutsche Arzneimittelmarkt ist europäischer geworden", so kommentierte der Bundesgesundheitsminister am 22. Februar 1995 in einer Presseerklärung diese BGH-Entscheidung. „Jetzt kann der europäische Preiswettbewerb auch in Deutschland zur Geltung kommen", so zitiert ihn das „Handelsblatt" am 23. Februar 1995. „Das BMG rechnet damit, daß die vom BGH angesprochenen Einsparun-
Klaus Kirschner
gen von zirka 500 Millionen DM im Jahr jetzt Zug um Zug verwirklicht werden", so die eigene Presseerklärung des Bundesgesundheitsministers.
Das ist jetzt etwas mehr als ein Jahr her, Herr Minister. Was für eine Kehrtwendung! „Spring!", sagt der Pharmalöwe zum ministerialen Bändiger, und Seehofer springt wieder einmal.
Nach Sinn oder Unsinn der Kehrtwendung wird nicht gefragt. Es gehe um ein politisches Signal, heißt es in der Begründung, was immer das auch bedeuten mag.
Wie unsinnig der Vorschlag ist, läßt sich schnell darstellen: Europa ist ein zusammenwachsender Markt. In diesem Markt konzentrieren die Firmen ihre Produktionsstellen. 85 Prozent der importierten Arzneimittel werden an einer Produktionsstelle in Europa gefertigt, sind also quellenidentisch. Glauben Sie wirklich, Herr Minister, daß irgendein Unternehmen wegen dieser Entscheidung seine Produktion von Mailand nach Deutschland verlegt?
Bei den Importen geht es in aller Regel um bedeutende Produkte internationaler Firmen. Von den 40 im Verband Forschender Arzneimittelhersteller organisierten internationalen Firmen sind 30 Unternehmen Töchter ausländischer Konzerne. In drei von vier Fällen profitiert also nicht ein deutsches Unternehmen von der geplanten Subvention durch Importverzicht. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Fragen über Fragen, Herr Minister, die Sie als wendiger - zu wendiger - Minister aufwerfen. Alle Fragen machen aber deutlich, wie schlecht für die kranken Menschen, wie kostentreibend für die Krankenversicherung und wie unklar für den Standort Deutschland Ihre Vorschläge sind. Wie zutreffend war doch noch im Februar 1995 Ihre Bewertung zu den Importen! Ich zitiere Sie noch einmal, Herr Bundesgesundheitsminister: „Damit können die Krankenkassen viel Geld sparen. "
Mit dem Geldsparen für die Beitragszahler der Krankenkassen haben Sie offensichtlich mehr Probleme als mit Leistungskürzungen für die Versicherten oder dem Verteilen von Geldgeschenken an Teile der Leistungsanbieter. Wie anders ist die 840 Millionen DM teure, die Einkommen der Ärzte verbessernde zusätzliche Finanzspritze rückwirkend zum 1. Januar 1995 zu werten? Auch diese Zeche, die zudem völlig unsinnig ist und nicht zu strukturellen Verbesserungen für die Hausärzte führt, zahlt der Kranke.
Allein durch die von mir soeben aufgezeigten politischen Geschenke werden rund 4 Milliarden DM an Beitragsgeldern sinnlos verschleudert. 4 Milliarden DM - das muß man sich einmal vergegenwärtigen - werden durch aktives fehlgeleitetes Handeln verpraßt. Und da erzählen Sie uns, es müsse gespart werden!
Meine Damen und Herren, Ihre Gegenrechnung sieht im Gegenzug folgendermaßen aus: Die Erhöhung der Zuzahlungsbeträge bei Arzneimitteln um je 1 DM wird die Kranken auf Dauer mit 700 Millionen DM jährlich belasten. Ja, Herr Minister Seehofer, auch hier haben Sie eine Wendigkeit par excellence bewiesen, die den kranken Menschen teuer zu stehen kommt. Noch am 26. April 1995 haben Sie vor dem Gesundheitsausschuß des Bundesrates erklärt, daß Sie nicht bereit seien, den Weg einer Erhöhung der Selbstbeteiligung weiter zu gehen: „Wenn finanzieller Druck besteht, müssen wir uns etwas anderes überlegen." Die bittere Moral der Geschicht': Trau dem wendigen Bundesgesundheitsminister nicht.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundesgesundheitsminister hat vorher auf die von ihm vorgesehene Absenkung des Krankengeldes um 10 Prozent hingewiesen. Dies ist eine weitere massive, nicht zu akzeptierende Belastung von schwerkranken Langzeitpatienten. Daß Patienten und ihre Familien neben der Sorge um die Krankheit auch noch finanziell betroffen werden, das interessiert bei dem von eisiger sozialer Kälte geprägten Kürzungsroulette der Bundesregierung nicht.
Meine Damen und Herren, machen Sie es sich nicht so einfach. Schauen Sie doch einmal die Ergebnisse an: Vom Krankengeld, das dann um 10 Prozent weiter gekürzt wird, muß der Versicherte seinen Rentenversicherungsbeitrag, seinen Arbeitslosenversicherungsbeitrag und seinen Pflegeversicherungsbeitrag bezahlen. Er erhält nachher also noch rund 75 Prozent seines vorherigen Nettogehaltes. Dies wiederum bedeutet im Schnitt in der Bundesrepublik Deutschland rund 2 000 DM im Monat. Meine Damen und Herren, Sie alle wissen genau, daß Sie mit diesem niedrigen Einkommen nicht auskommen müssen.
- Das ist kein Unsinn, Herr Bundesgesundheitsminister. Sie wissen ganz genau, daß es zutrifft, was ich hier sage. Durchschnittlich 2 000 DM Krankengeld pro Monat ergibt die Berechnung.
- Das ist kein Witz, Herr Bundesgesundheitsminister. Ich bin gern bereit, Ihnen die Zahlen nachzuliefern, wenn Sie sie nicht haben.