Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir führen unsere heutige Debatte wie schon die gestrige vor dem Hintergrund eines riesigen Reformstaus in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Der Erneuerungsbedarf in diesen Bereichen ist mindestens so ausgeprägt wie jener Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Daß wir Politiker, die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, die Kirchen und Verbände auf den sich immer stärker abzeichnenden Handlungsbedarf, auf Krisensymptome nicht, zu spät oder nur halbherzig reagiert
haben, das hat zum einen zu Massenaustritten aus all diesen Organisationen geführt, zum anderen aber auch zu drei Krisen dramatischen Ausmaßes.
Erstens die Krise der Staatsfinanzen: Mehr als 2 000 Milliarden oder 2 Billionen DM öffentlicher Schulden bei gleichzeitiger Rekordhöhe von Steuern, Gebühren und Abgaben!
- Ich rede von öffentlichen Schulden bei Bund, Ländern und Gemeinden. Wenn das so weitergeht, daß Mißstände, die im gesamten Gemeinwesen zu verzeichnen sind, vom einen Platz auf den anderen verschoben werden, statt daß wir uns endlich einmal an die eigene Nase fassen und fragen, was wir eigentlich selbst auch falsch machen, dann werden wir die Probleme nicht lösen können.
Es gibt keine andere seriöse Möglichkeit als weniger Staat, weniger Staatsapparat, weniger Staatstätigkeit, weniger Staatsdiener, weniger Staatsbeteiligungen und weniger staatliche Leistungen, übrigens auch für die Staatsdiener.
Zweitens: die Krise des Arbeitsmarktes und wesentlicher Wirtschaftszweige. Immer mehr Waren, Ideen und Dienstleistungen, die auf Arbeitsplätzen in Deutschland produziert wurden, sind im internationalen Wettbewerb nicht mehr konkurrenzfähig, werden unverkäuflich. Also fallen die Arbeitsplätze weg. Daher müssen wir bessere Qualität zu niedrigeren Preisen produzieren. Nur solche Arbeitsplätze haben Bestand. Daß dafür mehr in Bildung, Wissenschaft und Innovation und weniger in Konsum und Soziales investiert werden muß, liegt auf der Hand.
Dies zu bestreiten oder zu verdrängen, die nötigen Korrekturen zu unterlassen wird nur dazu führen, daß wir bald 6 oder 8 Millionen Arbeitslose haben werden. Dann, meine Kolleginnen und Kollegen, fliegen uns Demokratie und Sozialstaat zugleich um die Ohren.
Drittens: die Krise der sozialen Sicherungssysteme. Wir alle haben diese mit Leistungen, Aufgaben und Erwartungen überfrachtet. Sie sind bei der gegebenen Lohnquote, beim Altersaufbau der Bevölkerung, bei der gegebenen und zu erwartenden Wirtschaftsentwicklung in ihrer jetzigen Struktur nicht haltbar. Wenn wir den arbeitenden Menschen, wenn wir aber auch den Betrieben, Verwaltungen und Praxen nicht irre Anteile von jeder erarbeiteten Mark für die Finanzierung der kollektiven Sicherungssysteme abnehmen wollen und damit Arbeitsplatzabbau und Leistungsverweigerung zugleich beschleunigen wollen, dann muß die automatische An-
Jürgen W. Möllemann
koppelung an Löhne und Gehälter beendet und ein neues Verhältnis zwischen Solidarität und Subsidiarität gefunden werden.
Meine Damen und Herren, wir müssen dieses Verhältnis neu definieren. Ein Solidaritätsbegriff, der immer mehr die persönliche Verantwortung durch staatliche Agenturen für alle Lebensbereiche ersetzt, führt eben zu dem Vollkaskosystem, das wir heute haben. Es wird uns aber schon morgen um die Ohren fliegen, wenn wir jetzt nicht mutig und energisch handeln. Statt Vollkasko hätten wir dann alsbald Vollfiasko.
Angesichts dieser Ausgangslage ist es geradezu grotesk, mit welcher verantwortungslosen Kurzsichtigkeit die Besitzstandswahrer in Parteien, Gewerkschaften und Verbänden tagtäglich jeden neuen Aufbruch aus dem heutigen Dilemma an den Pranger des sogenannten Sozialabbaus stellen.
So kann man ein zukunftsfähiges Verhältnis von Solidarität und Subsidiarität natürlich kaputtreden.
Was ist zu tun? Wir müssen Eigen- und Mitverantwortung der Bürger bei der Absicherung ihres Krankheitsrisikos deutlich stärken. Das geht natürlich nur, wenn der Staat den Bürgern nicht so tief in die Taschen greift, daß für Eigenvorsorge und Eigenbeteiligung nichts mehr bleibt.
Deshalb müssen sich Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ergänzen. Das Motto einer modernen, liberalen Sozialpolitik lautet daher: soviel Subsidiarität wie möglich, also Nachrangigkeit des staatlichen, gemeinschaftlichen Handelns, und Solidarität dort, wo sie nötig ist, aber auch nur dort, wo sie nötig ist, nicht umgekehrt. Hier ist in den letzten Jahren eine Schieflage eingetreten, die auch die Politik maßgeblich mitzuverantworten hat, auch wir Freien Demokraten. Ich halte überhaupt nichts davon, diese Debatte mit dem ausgestreckten Zeigefinger zu führen. Von dieser Hand zeigen drei Finger auf einen selbst zurück. Deswegen sollten wir das, glaube ich, bleiben lassen.
Es ist klar: Alles, was den einzelnen, den sozial Schwachen finanziell überfordert, muß solidarisch abgesichert werden, aber auch nicht mehr. Wir müssen die Prinzipien unseres Sozialstaates wieder vom bürokratischen Wasserkopf auf die Füße der Realität stellen. Das hat mit Sozialabbau rein gar nichts zu tun.
Natürlich ist es schmerzhaft, von liebgewordenen Gewohnheiten Abschied zu nehmen. Tagtäglich werden die Bürgerinnen und Bürger mit neuen Horrornachrichten über vermeintliche Einschnitte versorgt. Aber den größeren Fehler begeht nicht derjenige, der heute das vielleicht Unpopuläre tut, sondern derjenige, der den Leuten suggeriert, alles könne so weitergehen wie bisher.
Wir Liberalen haben vor knapp einem Jahr nicht weit von hier - im Wasserwerk - auf unserem gesundheitspolitischen Kongreß dargelegt, wie wir uns ein modernes, freiheitliches und zugleich bezahlbares Gesundheitswesen auf hohem medizinischen Niveau vorstellen. Unsere Antworten auf die eben geschilderten Probleme finden sich in den Gesetzesinitiativen, die wir heute beraten, deutlich wieder.
Wir Freien Demokraten wollen erstens: Reduzierung des Pflichtkataloges der gesetzlichen Krankenversicherung auf das medizinisch Notwendige; zweitens: Transparenz durch Kostenerstattung; drittens: Stärkung der Eigenverantwortung und Selbstbeteiligungen; viertens: Ende der gesetzlichen Budgetierungen; fünftens: Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Kassen; sechstens: Reform des Krankenhausbereichs; last not least: endlich eine Entrümpelung des verregelten und überbürokratischen Gesamtsystems.
Solidarität und Subsidiarität in ihrem Verhältnis zueinander neu zu definieren heißt: Wir müssen den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ganz praktisch von all dem befreien, was darin nichts zu suchen hat. Wir kommen nicht umhin, uns auf die wesentlichen Leistungen einer solidarischen Krankenversicherung zu konzentrieren. Das ist nun einmal die Hilfe für wirklich kranke Menschen.
Erste Schritte in diese Richtung haben wir unternommen. Der Zuschuß zu den Brillengestellen fällt weg. Will mir jemand ernsthaft erzählen, daß irgend jemand den Zuschuß in Höhe von 20 DM nicht selbst bezahlen kann? Wenn man einmal davon ausgeht, daß ein Brillengestell zirka drei Jahre lang hält, dann handelt es sich pro Jahr um Kosten in Höhe von 7 DM.
Der Zahnersatz, das heißt: die Absicherung des Zahnersatzes durch die gesetzliche Kasse, fällt für die Versicherten, die heute jünger als 19 Jahre alt sind, zukünftig weg. Das erzieht zur Zahnpflege.
- Ja, das ist gewollt. Diejenigen, die heute noch nicht 19 Jahre alt sind, müssen sich, wenn sie weiterhin einen derartigen Versicherungsschutz genießen wollen, privat absichern.
Wir nehmen die Gesundheitsförderung aus der hälftigen Beitragsfinanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer heraus. Ich war doch sehr erstaunt, welch ungeheure Wellen gerade diese Maßnahme geschlagen hat: Fitneßstudios, Krankenkassen, Selbsthilfegruppen aller Art, ja sogar die Arbeitgeber haben sich zusammengetan, um als Retter der Gesundheitsförderung in die Geschichte einzugehen.
Meine Damen und Herren, in welchem Film sind wir denn eigentlich? Wir haben mehr als 5 Millionen Arbeitslose; eine Besserung ist nicht in Sicht. Wir
Jürgen W. Möllemann
aber palavern darüber, ob Bauchtanzkurse weiterhin aus dem Solidartopf finanziert werden sollen.
Ich bestreite nicht, daß die Prävention eine wichtige Funktion hat.