Nein.
Meine Damen und Herren, wir nehmen nicht die Fälle aus, die Herr Dreßler hier genannt hat, sondern wir nehmen diejenigen aus, in denen zum Beispiel von Geburt an eine Behinderung vorliegt und deshalb Zahnersatz erforderlich ist. Wer eine ernsthafte Erkrankung der Mundhöhle in Kinder- oder Jugendjahren erleidet, der bleibt von der Ausgrenzung beim Zahnersatz ausgenommen - auch hier wieder eine differenzierte Maßnahme: Dort, wo man selbst steuern kann, stärken wir die Eigenverantwortung, aber bei dem, was dem eigenen Einfluß entzogen ist, gewähren wir sozialen Schutz.
Meine Damen und Herren, für mich ist - wie für den Kollegen Norbert Blüm - die Frage des Krankengeldes die sensibelste. Es spricht nicht gerade für ein hohes Maß an sozialer Verantwortung in der Bundesrepublik Deutschland, daß sich viele Funktionäre von Verbänden in Deutschland mit der Gesundheitsförderung - auf die ich noch zu sprechen komme - und den Kuren stärker auseinandersetzen - weil das ihren Aufgabenbereich und damit ihre Dotierung betrifft - als mit der Frage nach der Höhe des Krankengeldes. Das hat mich schwer erschüttert.
Das Krankengeld ist ein sensibler und schwieriger Punkt, und es würde mir zusetzen, wenn er öffentlich intensiver diskutiert würde. Aber es ist schon eigenartig, daß man alles andere intensiver diskutiert als diesen Punkt.
Ich gehe auf das Krankengeld auch deshalb ein, weil keiner der Vorredner von der Opposition das überhaupt für nötig gehalten hat.
Ich möchte der Öffentlichkeit erklären: Jawohl, das Krankengeld soll um 10 Prozent abgesenkt werden.
Bundesminister Horst Seehofer
Es wird heute im Regelfall in der Höhe des jeweiligen Nettolohns gewährt, und zwar für 78 Wochen.
Ich trage diese Maßnahme mit, weil sie sich in eine Grundentscheidung der Koalition einbettet, die wir von der Sozialhilfe bis hin zur Lohnfortzahlung realisieren wollen, nämlich daß jemand, der arbeitet, mehr bekommen muß als derjenige, der - aus welchen Gründen auch immer - nicht arbeitet. Das muß eine Grundposition in unserer Gesellschaft sein.
Meine verehrten Damen und Herren, ich möchte auch einmal auf folgenden Umstand hinweisen - er ist zwar nicht der entscheidende bei der Reform des Krankengeldes, aber wir dürfen ihn auch nicht ganz aus dem Auge verlieren -: Die Krankengeldausgaben in Deutschland sind in den letzten zwei Jahren von 14,6 auf 18,4 Milliarden DM gestiegen. Damit wird ein Trend fortgesetzt, der in vielen Jahren vorher auch schon festzustellen war. Das bedeutet eine Steigerung um 26 Prozent in zwei Jahren.
Auch das ist nicht medizinisch indiziert. Der Umfang dieser Steigerungsrate ist nach allen Indizien, die uns vorliegen, auch darauf zurückzuführen, daß auf Grund der Bezugsdauer des Krankengeldes von 78 Wochen natürlich auch das Krankengeld so wie andere Sozialleistungen beim Übergang in den Vorruhestand und in den vorgezogenen Rentenbezug immer sträker als Brücke benutzt wurde. Aber dafür ist die Sozialversicherung, das Krankengeld nicht gedacht, und deshalb müssen wir hier umsteuern.
Nun zur Gesundheitsförderung: Natürlich bleibt die Gesundheitsförderung in der Krankenkasse, die eine Kontinuität aufweist, die eine wissenschaftliche Begründung hat und auch wissenschaftlich evaluiert ist, erhalten. Dazu zählen die Schutzimpfungen. Ich würde mir wünschen, daß die gleichen Kassengeschäftsführer, die pausenlos in Fernsehsendungen nichtssagende, teure Spots für die Bevölkerung abliefern,
mehr für Schutzimpfungen werben würden, damit die Infektionskrankheiten, die sich weltweit ausbreiten, stärker bekämpft werden können
und nicht eines Tages auf die Bundesrepublik Deutschland überschwappen.
Ich würde mir wünschen, daß die Vorsorgeuntersuchungen, die wirklich wissenschaftlich begründet sind und die auch erhalten bleiben, stärker genutzt werden, seien es Vorsorgeuntersuchungen der Kinder, seien es Krebsfrüherkennungsmaßnahmen, sei es der Gesundheits-Check-up, der die Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Sinne der Prävention frühzeitig bekämpfen soll. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind immerhin noch in jedem zweiten Fall der Grund für den Tod eines Menschen.
Darüber wird von den Herren Funktionären in der Öffentlichkeit überhaupt nicht diskutiert. Dagegen bekomme ich täglich waschkörbeweise Post, was im Lande heute so alles unter dem Deckmantel der Gesundheitsförderung durchgeführt wird, in Wahrheit aber Marketing- und Werbemaßnahmen der Krankenkassen sind.
- Das ist kein Einzelfall. Herr Dreßler, wir sollten das nicht als Ausreißer und Ausnahme abtun.
Eine Broschüre der AOK Garmisch-Partenkirchen, Ausgabe Mai/Juni, umfaßt mit 15 Seiten ein umfangreicheres Angebot als das manchen Bundesligavereins. Dort ist zum Beispiel zu lesen: „Badminton für Anfänger". - Ich habe mal Tennis gespielt. Da hat mir mein Orthopäde gesagt, Tennis- und Badmintonspieler seien die besten Kunden für Orthopäden, weil bei keiner anderen Sportart die Sehnen und Gelenke so stark belastet würden. - Weiter finden Sie in dieser Broschüre: „Power Walking", „Kinder pflanzen Pflanzenkinder", „Muß Süßes Sünde sein?", „Fußreflexzonen-Massage", „AOK-Fit-Eß-Woche" - Spargelcremesuppen und Joghurtcreme,
Tofuschnitzel in Sesammantel gebraten, angerichtet auf einer Kräutercremesuppe mit Blattsalat und Vollkornreis.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen klipp und klar: Ich werde für nichts so kämpfen wie dafür, daß die gesetzliche Krankenversicherung künftig nicht mehr den Freizeitpark der Bundesrepublik Deutschland finanziert.
Natürlich gibt es auch sinnvolle Maßnahmen.
Hinsichtlich der derzeitigen Mutlosigkeit mancher Kassenvorstände, insbesondere der von Ersatzkassen, müssen wir uns die Frage stellen, ob wir irgendeinen Bereich ausnehmen können; allerdings würde das automatisch dazu führen, daß Maßnahmen aus den Bereichen, die wir als Gesetzgeber sozusagen verschlossen haben, in diesen Bereich verlagert würden. Deshalb muß der gesamte Bereich verschlossen werden. Kassen, die ein von der Erstattung ausgenommenes Angebot trotzdem machen wollen, sollen das tun. Sie sollten von ihren Versicherten dann aber einen Beitrag dafür verlangen.
Das alles sind Maßnahmen des Beitragsentlastungsgesetzes. In der Öffentlichkeit gibt es dazu un-
Bundesminister Horst Seehofer
geheure Vorwürfe. Wir sparen aber gar nicht für die Staatskasse: Die 7,5 Milliarden DM, die hier gespart werden, werden auf Mark und Pfennig denjenigen zurückgegeben, die die Beiträge zahlen - den Arbeitnehmern und den Betrieben.
Das abenteuerlichste Argument ist folgendes: Wenn das Geld zurückgegeben wird, hat der Gesetzgeber nicht das Recht, die eingesparte Summe für eine Beitragssenkung zu nutzen.
Wir sagen der Selbstverwaltung nicht: Spart 7,5 Milliarden DM und senkt die Beiträge! Vielmehr ermöglichen wir Politiker in unserer politischen Verantwortung die Sparsumme und wollen sicherstellen, daß diese an die Beitragszahler weitergegeben wird.
Wieso ist das ein Widerspruch zur Selbstverwaltungslösung? In der Rentenversicherung, in der Arbeitslosenversicherung und in der Pflegeversicherung, in allen drei Bereichen, haben wir Selbstverwaltung pur, setzt nur der Gesetzgeber die Beitragssätze fest. Da wird es doch erlaubt sein, daß der Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag, in einem Bereich, in dem er 7,5 Milliarden DM einspart, am 1. Januar 1997 die Beiträge per Gesetz um 0,4 Beitragspunkte senkt, damit vermieden wird, daß dieses Sparvolumen von 7,5 Milliarden DM zum Beispiel für eben genannte unsinnige Leistungen verwendet wird.
Ich möchte wie Wolfgang Lohmann und Jürgen Möllemann unterstreichen, daß wir den Irrweg der letzten 20 Jahre verlassen müssen, nämlich zu glauben, man könne mit immer mehr Paragraphen und Richtlinien zentral von Bonn oder Berlin aus ein so komplexes System wie das deutsche Gesundheitswesen steuern.
Auch hier gilt wieder ein Grundsatz der christlichen Soziallehre: Man soll einer größeren Einheit nichts übertragen, was eine kleinere genausogut erledigen kann. Deshalb sollen ab 1997 die Beteiligten im Gesundheitswesen ihre Geschicke selbst gestalten. Wir wollen nicht mit immer neuen Paragraphen und Richtlinien in dieses Alltagsgeschäft eingreifen.