Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, es liegt Ihnen eine Liste betr. Überweisung von Vorlagen der Bundesregierung vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen. Sie sollen gemäß § 76 Abs. 2 GO an die zuständigen Ausschüsse überwiesen werden. Gegen die Überweisung dieser Vorlagen erhebt sich kein Widerspruch; es ist so beschlossen. Damit sind überwiesen:
1. Vorlage des Präsidenten des Europäischen Parlaments betr. Entschließung des Europäischen Parlaments über die gegenwärtige Lage der Europäischen Gemeinschaft
an den Auswärtigen Ausschuß,
2. Vorlage des Sprechers der deutschen Delegation in der Beratenden Versammlung des Europarates betr. Bericht über die Tagung der Gemeinsamen Versammlung des Europäischen Parlaments und der Beratenden Versammlung des Europarates vom 24. bis 25. September und der Beratenden Versammlung des Europarates vom 27. September bis 1. Oktober 1965
an den Auswärtigen Ausschuß,
3. Vorlage des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betr. Bericht über die Auswirkungen der EWG-Marktorganisationen auf dem Agrargebiet
Bezug: Beschluß des Bundestages vom 5. Februar 1964
an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — federführend— und den Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen — mitberatend —,
4. Vorlage des Bundesministers für Verkehr betr. Bestimmungen der Verkehrsnovellen von 1961
Bezug: Beschluß des Bundestages vom 30. Juni 1965
an den Verkehrsausschuß.
Wir fahren nun in der Aussprache über die Regierungserklärung fort. Das Wort hat zunächst der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Nicht nur einem ausländischen Brauche, sondern meinem eigenen Empfinden folgend, möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen dem Kollegen Schiller zu seiner Jungfernrede gratulieren. Ich sehe ihn leider nicht.
Meine Damen und Herren, die Debatte zu einer Regierungserklärung soll eine Grundsatzaussprache sein, nicht ein Wettbewerb der Kraftausdrücke, kein Versteckspiel hinter geistreichen Zitaten
— wobei „geistreich" sich auf die Verfasser und nicht auf die Zitierer bezieht —
und auf keinen Fall ein Fest der Beschimpfungen. Es schadet nichts, wenn das Temperament einmal durchgeht; das kommt schon wieder zurück. Wir haben es ohnehin schwer, eine Grundsatzdebatte ohne Langeweile zustande zu bringen. Wie soll man das auch können, wenn es grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten entweder nicht gibt oder man sie nicht ansprechen will.
Es ist eine alte politische Erfahrung: wenn es sachlich nichts zu streiten gibt, dann beginnt die persönliche Polemik.Herr Kollege Schiller, ich möchte Sie fragen,
ob Sie es eigentlich gar nicht gemerkt haben, daß Sie beim sachlichen Teil Ihrer Rede bei Ihren Freunden kaum Beifall geerntet haben, aber dafür um so mehr erstaunte Gesichter.
Es ist eben vieles anders geworden. Die gute alte Zeit, da die beiden Professoren Nölting und Erhard in diesem Hohen Hause fochten, ist längst dahin. Das war eine politisch lebendige und das war eine
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Bundesminister Schmückerkämpferisch bewegte Zeit. Aber es war auch eine einfache, unkomplizierte Zeit. Es gab echte Unterschiede, und jede Seite legte Wert darauf, diese Unterschiede deutlich zu zeigen. Das ist vorbei. Die SPD hat aus der Niederlage ihres Sozialismus die Konsequenzen gezogen und ein modern gestrichenes Wirtschaftsprogramm entwickelt, für das gestern unser Kollege Schiller gesprochen hat. Der zum Neoliberalismus bekehrte Sozialist beweinte dann Ludwig Erhards vermeintliche Abkehr vom Liberalismus. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie mögen es mir als eine Unfreundlichkeit ankreiden, daß ich an die Zeit vor Godesberg erinnere. Ich tue das aber nicht um der Polemik willen; ich tue das aus zwei Gründen.
- Ich habe nicht verstanden. Herr Wehner, beiIhnen sehe ich immer nur das grimmige Gesicht, aber ich höre so schlecht, was Sie sagen. — Ich erinnere an die Zeit vor Godesberg aus zwei Gründen. Erstens möchte ich meine eigene Überzeugung auch öffentlich und hier bekräftigen, daß es keinen Zweck hat, sich mit Argumenten herumzuschlagen, die gar nicht mehr gebraucht werden. Ich bin davon überzeugt, daß die heute führenden Wirtschaftspolitiker der SPD anders denken als ihre Vorgänger. Herr Schiller argumentiert so mutig, daß es zeitweilig seinen eigenen Genossen — oder muß man heute „Kollegen" sagen? — den Atem verschlägt.Ich bin gewillt, mich mit Ihren Argumenten von heute auseinanderzusetzen.
— Meine Damen und Herren, wenn wir etwas tun, was Sie fordern, dann sagen Sie: wie gnädig! und polemisieren. Tun wir etwas nicht, was Sie fordern, dann schimpfen Sie darüber. Wie man's macht, von Ihnen kriegt man immer Kritik. Gerade das wollte ich aufgeräumt wissen.
Daher verüble ich Ihnen nicht Ihren nicht ganz unpolemischen Versuch, sich als die besseren Marktwirtschaftler darzustellen. Sie haben schon eine Meisterschaft darin entwickelt, Konsequenzen, die wir aus unserer eigenen Auffassung ziehen müssen, als Ihre Forderungen darzustellen. Sie brauchen bei dieser Methode nur etwas über das Ziel hinauszuschießen, und schon sind Sie vorn.Der zweite Grund: Ich möchte durch die Annahme Ihrer heute gültigen Argumentation erreichen, daß Sie selber eine wesentliche Klarstellung beisteuern. Sie müssen sich entweder deutlich absetzen von denjenigen Sozialdemokraten, die in Führungsgremien außerhalb Ihrer Partei, beispielsweise in parteineutralen wirtschaftlichen Organisationen, einen ungebrochenen Drang zum Sozialismus haben, oder Sie müssen dort in Ihren eigenen Reihen Ihre Belehrungs- und Bekehrungsaktionen aktivieren. Daß Sie eine Chance haben, im eigenen Kreise erfolgreich zu wirken, bevor Sie uns auf die Schulbank drücken, hat Ihnen der Beifall Ihrer Fraktion gezeigt, der nicht nur der rhetorischen Kunst, sonderndoch auch dem Sachgehalt der Rede des Kollegen Schiller gezollt wurde!
Ich wiederhole: Wenn wir hier keine Zeit mehr mit überholten Diskussionen verschwenden wollen, dann muß von unserer Seite dafür gesorgt werden, daß nicht immer wieder in die Rumpelkiste gegriffen wird. Es muß von Ihnen dafür gesorgt werden, daß nicht nur die SPD als Partei, sondern auch Ihre Parteimitglieder, die führend in der Wirtschaft stehen, keine sozialistischen Experimente mehr fordern.
Ich halte es dabei für eine durchaus vertretbare Form, Herr Schiller, daß Sie dies behutsam über die Gründung von Kommissionen wie bei der Mitbestimmung — das war Ihr einziger Beitrag zu diesem Thema — anstreben. Gründen Sie aber nicht zu viele neue Kommissionen und überlassen Sie auch dem Parlament etwas von dem interessanten Teil der Arbeit!Für die Anhänger der sozialen Marktwirtschaft ist das Godesberger Programm in seinem wirtschaftlichen Teil um so echter, wie es dort, wo Sozialdemokraten wirtschaftliche und politische Positionen haben, verwirklicht wird.Mit dieser Vorbemerkung möchte ich nicht gesagt haben, daß ich keinerlei Meinungsverschiedenheiten mehr sehe. Wer meinte, die SPD habe mit dem Godesberger Programm sozusagen mit der sozialen Marktwirtschaft gleichgezogen, der übersieht die Fortentwicklung der sozialen Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft hat, seit sie die Vollbeschäftigung erreicht hat — was man ihr von Ihrer Seite nie zugetraut hat —, methodisch manche Veränderungen vornehmen müssen. Auch ich bitte Sie darum, daß man bei der Debatte über diese Veränderungen ebenfalls aktuell und nicht mit vorgestrigem Bezug diskutiert.Soviel ist aber richtig, daß ,die heutigen Unterschiede teils verdeckter, teils feiner geworden sind. Sie sind nicht mehr wie die früheren in Schwarzweiß-Malerei darstellbar. Aus diesem Grunde ziehe ich es vor, nicht in kompliziert klingende Definitionen zu flüchten, sondern am Bespiel die Grundeinstellung zu erläutern und, worauf es ankommt, auch zu beweisen.Herr Kollege Schiller hat früher einmal die Parole aufgestellt: nicht anders, sondern besser machen. Das war auch die ungeschriebene Überschrift über seine gestrige Rede. Ich darf Ihnen sagen: Diese Parole reicht mir nicht.
— Ich wollte es gerade sagen, Herr Kollege Barzel.— Daß Sie nichts anderes machen würden, meine Herren von der SPD, glaube ich Ihnen ebensowenig, wie daß Sie es besser machen würden.Aber ist Ihre Parole nicht eine politische Gleichmacherei, die Kernfragen aufwirft? Ich frage mich: Wenn wir alle gleich dächten und wir uns nur im
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Bundesminister SchmückerHandwerklich-Methodischen unterschieden, wozu dann politische Parteien?
Nur um einen Vorwand für zwei oder drei Organisationen zu haben, die sich dann später im Proporz wieder zusammentun?
Nein, meine Damen und Herren, so nicht. Die grundsätzlichen Unterschiede mögen — darüber können wir uns freuen — geringer geworden sein. Aber verschwunden sind sie nicht:Ich möchte an dieser Stelle nur von einem Unterschied sprechen. Mir reicht es keineswegs, daß die Sozialisierung als politischer Programmpunkt gut verpackt in die Mottenkiste gesteckt wird. Mir ist schon viel zuviel sozialisiert in Deutschland. Wir sollten auch bei Rückschlägen entschlossen sein, weiter zu reprivatisieren.
Das bedeutet, daß wir Krisen marktwirtschaftlich überwinden müssen und daß wir von den Unternehmern und allen an der Wirtschaft Beteiligten die entsprechenden Anstrengungen verlangen müssen.
— Ich habe gerade gesagt, daß wir allen Enttäuschungen zum Trotz weiter reprevatisieren müssen, wenn es uns ernst darum ist, den Sozialismus nicht aufkommen zu lassen.
Herr Schiller und auch Herr Erler, entgegen allen parlamentarischen Kampfregeln und vielleicht auch nur, um einige Zwischenrufe bei Ihnen herauszulocken, gebe ich Ihnen zu, daß Sie in etlichen Punkten recht haben. Warum soll ich meine Kraft vergeuden mit dem Beschönigen von Fehlern, die auch ich sehe? Ich nehme die Kraft lieber, um die Fehler zu beseitigen. Aus Angst vor Prügeln Fehler zu verheimlichen, das lohnt nicht; ändern ist gescheiter.
Meine Damen und Herren, während ,Sie noch in vollen Zügen die Kritik genießen, hat die Bundesregierung bereits gehandelt.
Aber so schlecht kann doch alles nicht gewesen sein. Denn, Herr Schiller — ich sehe ihn leider immer noch nicht —, Ihre erfolgreiche Tätigkeit in Berlin ist doch nicht zuletzt auf die Bundeshilfe zurückzuführen, die der Bund auf Grund der guten wirtschaftlichen Lage zur Verfügung stellen kann.
Daß Wohlstand kein Paradies bringt, sondern neue Sorgen recht eigener Art, das hat sich inzwischen doch herumgesprochen.
Jeden Tag treten neue Sorgen auf, und wenn diesebewältigt sein werden, gibt es wieder neue Aufgaben. Herr Schiller hat soviel Zeit darauf ver-wandt, philosophische Gedanken einzustreuen. Nur dieser, dieser wesentliche Gedanke hat gefehlt.Im Gegenteil, er glaubte sogar, es sei richtig, gegen die höhere Einsicht zu polemisieren und die Nutzanwendung daraus mit Strammstehen zu vergleichen. Nun, Herr Schiller, jeder von uns gebraucht mal einen Ausdruck, der anders von der Zunge kommt, als man ihn gedacht hat. Das ist auch mir schon passiert. Sie haben einmal die Parole ausgegeben, Sie wollten alle Rechte und Freiheiten schützen und die Menschen nur vor der Freiheit des Irrtums bewahren. Meine Damen und Herren, das ist ein typischer Widerspruch in sich, wie er mehrfach in Ihren Ausführungen zutage getreten ist. Wir müssen erwarten, daß gemeinschaftlich gehandelt wird, nicht auf Grund von Befehlen, sondern auf Grund besserer Einsicht. Ich muß Ihnen offen sagen, wenn wir darauf nicht vertrauen können, dann lohnt es sich nicht, Mensch zu sein.
— Meine Damen und Herren, wollen Sie das etwa bestreiten? Wollen Sie etwa die Meinung vertreten, daß man nur durch Befehle zu guten Ergebnissen kommen kann?
— Ach Gott, Herr Wehner, wissen Sie, ich bin von Natur aus so unmilitärisch, daß das also völlig daneben war, was Sie gerade gerufen haben.
Wir schnüffeln so viel in unseren gegenseitigen Lebensläufen herum; vielleicht sehen Sie sich diese Passage bei mir auch einmal an.Darf ich nun zu einigen Ausführungen der Kollegen Erler und Schiller kommen. Herr Erler, Sie haben uns einen Vorwurf gemacht, der mir gut gefallen hat. Sie haben uns immer wieder zugerufen, wir hätten die Mehrheit. Das ist richtig, Herr Erler.
Jedesmal, wenn wir von unserer Mehrheit Gebrauch machen wollten, haben Sie gesagt, wir sollten auf Sie mehr Rücksicht nehmen. Das nächste Mal werden wir Sie daran erinnern, daß wir die Mehrheit haben.
Meine Damen und Herren, so geht es ja nicht, daß man sich verständigt und dann nachher auch noch die Prügel dafür bezieht.Sie haben dann einen Vorschlag gemacht, der meiner eigenen Initiative eine neue Publizität gegeben hat. Sie haben gesagt, im Rahmen des Gemeinsamen Marktes ließen sich zusätzlich privatwirtschaftliche Verflechtungen zum Nutzen beider Länder, Frankreichs und Deutschlands, entwickeln. Meine Damen und Herren, soll ich Ihnen jetzt die Liste der Verhandlungen und der Erfolge vortragen? Ich glaube, das ist nicht notwendig. Aber, Herr Erler, Sie müssen doch wissen, es kann Ihnen doch nicht entgangen sein, daß gerade dieser Punkt
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Bundesminister Schmückersofort von mir nach der Übernahme meines Amtes aufgegriffen worden ist, daß wir eine gemeinsame Kommission gebildet haben, und zwar nicht nur auf Regierungsebene, sondern auch auf der Ebene der Verbände, daß die ersten Erfolge dieser Zusammenarbeit bereits da sind und daß wir genau auf den Punkt hinzielen, den Sie dankenswerterweise erwähnen. Herr Erler, ich freue mich, daß Sie diesen Punkt angeschnitten haben, nur war er nicht berechtigt als Forderung, sondern als Unterstreichung dessen, was wir tun.
Sie haben einen zweiten Punkt angeführt, der auch von Herrn Schiller erwähnt worden ist, nämlich den Interzonenhandel. Meine Damen und Herren, jeder wird mir zugeben, daß es wenig sinnvoll wäre, hier eine breite Debatte über den Interzonenhandel zu führen. Ich stimme mit Ihnen voll und ganz überein, daß wir alle Anstrengungen machen sollten, das Volumen des Interzonenhandels, das — verglichen mit den übrigen Handelsströmen — leider, leider sehr gering ist, so weit auszudehnen, wie es nur irgendwie geht. Sie wissen aber sehr genau, von welcher Seite die Grenzen gesetzt werden. Ich gehöre zu denen — und die Bundesregierung hat mich darin unterstützt —, die befürworten, die Maßnahmen, die wir in der Bundesrepublik getroffen haben und die sich für den Interzonenhandel nachteilig auswirken, mit finanziellen Leistungen zu überbrücken, mit denen mancher, der die Zusammenhänge nicht kennt, nicht einverstanden ist. Ich habe die Bitte, daß alle dazu beitragen, diesen Interzonenhandel behutsam zu behandeln, auch politisch behutsam zu behandeln
und auszuweiten, soweit es nur irgendwie geht und es in unseren Kräften steht. Diese Klammer dürfen wir nicht verlieren.Ich habe dann — vielleicht hat Herr Schiller in diesem Moment einmal den Saal verwechselt — eine Zensur bekommen. Nun, das ist sicherlich mal nötig. Aber wenn ich mich gegen Zensuren wehre, so einfach deswegen, weil Zensuren Argumente ersetzen sollen, und das ist gar nicht schön. Das war im Zusammenhang mit der Energiepolitik. Ich komme im einzelnen auf diese Dinge noch zurück. Ich möchte vorweg nur so viel sagen. Was Herr Schiller „famos" genannt hat, ist in Wahrheit eine schreckliche Simplifikation meiner Vorschläge. Ich kann Herrn Schiller nur empfehlen, nicht nur eine Zeitung, vor allem nicht nur seine Zeitung, sondern viele Zeitungen zu lesen. Aus dem Gesamtbild heraus hätte er ein solches Urteil nicht gefällt.Um aber nicht nur eine Widerrede stehen zu lassen, möchte ich eine kurze Begründung geben. Alle Beteiligten sind sich klar darüber, daß eine Rücknahme der Kapazität notwendig ist; das geht nach verschiedenen Rezepten. Das erste wäre: Die Unternehmer tragen die Lasten allein. Ich glaube, das ist unzumutbar, weil wir ihnen in anderen Zeiten auch Lasten zugemutet haben. Jetzt muß an die Solidarität appelliert werden. Die zweite Möglichkeit ist, daß der Staat die Lasten übernimmt, d. h. daß ersozialisiert. Das ist für mich der allerletzte Weg, auch wenn viele von Ihnen diesen Weg für richtig halten. Eine gemischte Lösung ist für mich nur eine Variante dieser Sozialisierung. Der dritte Weg, der bisher nicht diskutiert worden ist — und auf den habe ich aufmerksam gemacht —, ist: Die Wirtschaft beteiligt sich selbst. Dazu gehört natürlich in erster Linie auch der Teil der Wirtschaft, der die Erfolge der Änderung der energiewirtschaftlichen Situation in seine Tasche stecken kann. Das ist doch ganz selbstverständlich. Auch bei den übrigen Strukturprogrammen haben wir dieses Prinzip immer und von allen Seiten unbestritten genannt. Meine Damen und Herren, ich will mit den Eigentümern und mit den Interessenten des Energiemarktes sprechen; das ist doch die natürlichste Sache von der Welt. Ich muß mich gegen den Vorwurf wehren, die Bundesregierung habe kein energiepolitisches Konzept. Ich weiß, daß das energiepolitische Konzept der SPD darin besteht, der Bundesregierung vorzuwerfen, sie habe keines.
Aber im übrigen stelle ich fest, daß diejenigen, die einen solchen Vorwurf erheben, meistens nur anderer Meinung sind als wir und das dann hinter diesem allgemeinen Vorwurf verdecken.Und nun zu den einzelnen Vorschlägen, die Herr Kollege Schiller hier vorgetragen hat. In der Mitteilung des SPD-Pressedienstes auf Seite 9 unten finden wir als ersten Vorschlag: Umkehr der schleichenden Inflation durch Deflation und Verlust der Vollbeschäftigung kein richtiger Weg. Ich kann nur sagen: Einverstanden! Ich frage mich nur, wer hat das vorgeschlagen?Zweitens: Preis- und Lohnstopp ungeeignet. Sehr einverstanden! Meine Damen und Herren, Sie haben das nicht so beobachten können, aber bei diesem Wort „Preis- und Lohnstopp" hätten Sie die Gesichter in Ihren Reihen sehen müssen. Ich kann Herrn Schiller nur empfehlen: Lesen Sie weiterhin tüchtig Ihren Kollegen die Leviten.
Das ist es ja gerade: es geistert bei uns die Wahnvorstellung herum, als könne man mit Lohn- und Preisstopp die Dinge in Ordnung bringen. Wenn das aber nicht geht, dann ist doch das einzige Rezept die Einsicht und das Handeln nach der Vernunft, und gerade dazu appelliere ich,
und ich bitte, mir das nicht als Befehl zum Strammstehen auszulegen.Drittens haben Sie über einen mittelfristigen Finanzplan gesprochen. Ich sage dazu: Einverstanden!Viertens der Konjunkturrat! Herr Schiller, Sie sind schlecht informiert. Seit 1956 haben wir einen solchen Konjunkturrat. Er arbeitet zwar hinter verschlossenen Türen und nicht für Funk und Fernsehen. Das kann man bedauern, aber, meine Damen und Herren, manche Arbeit lebt davon, daß sie hinter verschlossenen Türen gemacht wird, weil sonst nur in den Bildschirm hineingeredet wird oder —
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Bundesminister Schmückerwie man früher sagte — zum Fenster hinausgeredet wird. Wir haben die Länderfinanzminister- und -wirtschaftsministerkonferenz, darüber hinaus einen wirtschaftspolitischen Ausschuß „Bund - Länder", und ich will gern mit Ihnen darüber diskutieren, meine Damen und Herren, ob es möglich ist, diese Einrichtungen zusammenzufassen und ihnen eine größere Publizität zu geben. Aber wenn ich nur Parlamentarier wäre, würde ich mich dagegen wehren. Ich würde dafür sorgen, daß diese politische Diskussion in den Wirtschaftsausschuß geht und dort nicht nur wirtschaftsrechtliche Fragen behandelt werden. Ich warne davor, den interessanten Teil der Politik. aus dem Parlament herauszudrücken und ihn einigen Einrichtungen zu geben, die über den Wassern schweben und denen man dann respektvoll begegnen muß.
Sie haben dann fünftens zur Kuponsteuer gesprochen. Ich muß Ihnen sagen, dieser Konjunkturrat hat die Frage der Aufhebung der Kuponsteuer bereits geprüft und ist eindeutig zu einem negativen Ergebnis gekommen.
— Jawohl, Herr Kollege! — Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten noch einen zusätzlichen Kapitalimport; dann würde doch die Nachfrage steigen. Wie würde dann das Ergebnis beim Preisspiegel sein? Ein solcher Kapitalimport brächte doch eine Ausweitung des Geldvolumens mit einer Steigerung der Nachfrage, die zwangsläufig zu Preissteigerungen führen müßte.Herr Schiller war damals nicht im Parlament. Herr Erler, Sie haben seinerzeit bekanntgegeben, daß die SPD sich bei der Kuponsteuer — wenn ich mich recht entsinne — der Stimme enthält. Sie haben das gesagt, nachdem ich Sie darauf hingewiesen hatte, daß es hier nicht nur um ein wirtschaftspolitisches Problem geht, sondern daß es sich darum handelt, jedermann gleich und gerecht zu behandeln. Denn es kam darauf an, diejenigen Spekulanten, die an der Steuer vorbei Kapitalbewegungen vornehmen, durch diese Steuer zu erfassen, wie das die anderen Länder auch tun. Wenn wir das nicht auch machen, dann ist es doch ganz klar, daß wir einen Sog auslösen. Ich kann nur sagen: es besteht zur Zeit kein Anlaß, an dem bestehenden Gesetz etwas zu ändern.In einem sechsten Punkt sprachen Sie, Herr Kollege Schiller, über zusätzliche landwirtschaftliche Einfuhren und über Auslagerungen. Der Herr Ernährungsminister hat sich in den letzten Tagen zu diesem Thema geäußert. Ich bin seiner Auffassung, und sie deckt sich im wesentlichen auch mit Ihren Vorschlägen.Nun komme ich zur ach so beliebten Preisbindung der zweiten Hand; das ist nebst dem Ladenschluß eigentlich das interessanteste Thema in jeder Mittelstandsversammlung. Ich muß daran erinnern, daß sich die Sozialdemokraten in Berlin im Wirtschaftsausschuß nicht zu einer klaren Ablehnung durchgerungen haben und daß sie im späteren Verlauf einen stufenweisen Abbau der Preisbindung gefordert haben.Jetzt kommt Herr Schiller und fordert die sofortige Aufhebung. Ich möchte das einmal klarstellen, auch für diejenigen, die anderer Meinung sind.Unser Weg ist dagegen, daß wir ein öffentliches, jedermann zugängliches Register eingeführt haben. Ich habe die Hoffnung, daß dadurch Mißbräuche beseitigt werden. Ich weise darauf hin, daß mit dem Zusammenwachsen des europäischen Marktes zu einer Wirtschaftsunion für die Preisbindung der zweiten Hand wahrscheinlich kein Platz mehr sein wird und daß die gegenwärtige Phase als Übergangszeit betrachtet werden muß.In Ihrem achten Punkt haben Sie zur Einordnung der Politik der Tarifparteien in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gesprochen. Einverstanden!
— Meine Damen und Herren, das kann jedem von uns passieren, das ist weiter nicht so tragisch. Herr Schiller wird sicherlich den vorhergehenden Teil nachlesen; sonst können wir uns nachher auch noch darüber unterhalten.Ich bin dagegen, daß man dieses Thema immer mit dem Tenor anschneidet, daß jeweils der andere vorangehen müsse. Jawohl, ich bekenne mich dazu, daß der Bund das gute Beispiel setzen muß. Aber zu den öffentlichen Händen gehören auch die Länder und die Gemeinden und vor allen Dingen die Großstädte; Sie sind doch so stolz darauf, meine Damen und Herren von der SPD, daß die meisten Großstädte unter Ihrer Führung und damit unter Ihrer Verantwortung — auch Ihrer konjunkturpolitischen Verantwortung — stehen.
Herr Schiller, Sie haben den Vorwurf erhoben, die Bundesregierung habe 1964 nichts getan; Sie haben das mit einigen Punkten begründet, ich komme auf diese Punkte zurück. Zur sauberen Debatte gehört es aber, Herr Schiller, daß Sie dann auch das erwähnen, was getan worden ist. Die Zollsenkung haben Sie nicht erwähnt.
Jetzt muß ich daran erinnern, warum wir die Umsatzausgleichsteuer nicht geändert haben. Dieser Gedanke ist von uns sehr sorgfältig, sehr lange — vielleicht sogar zu lange — geprüft worden. Ich übernehme in diesem Augenblick nicht die Argumente, die von der Außenwirtschaft vorgebracht worden sind, die sagte, es sei eine partielle Aufwertung. Aber es war als Gegenargument von Bedeutung, daß die umsatzsteuerliche Wettbewerbsneutralität zwischen dem In- und Ausland gestört wird. Das entscheidende Argument für uns war, daß die von uns geforderte Steuerharmonisierung in der EWG nicht durch eine solche Maßnahme noch weiter hinausgerückt werden durfte.
Das muß man doch dann hinzufügen. Genauso wieman nicht einfach sagen kann, die Bundesregierunghabe ohne weitere Debatte die flexiblen Wechsel-
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Bundesminister Schmückerkurse nicht akzeptiert, weil sie unter allen Umständen gegen solche flexiblen Kurse sei. Der entscheidende Punkt ist doch auch hier die internationale Vertragslage. Selbst wenn wir es gewollt hätten, hätten wir es doch nicht durchsetzen können. Wir sind doch an Verträge gebunden, denen wir beigetreten sind. Warum wird das nicht hinzugefügt? Diese Umstände machten doch eine Debatte über diese Möglichkeiten fast nutzlos.Herr Schiller — es ist ein Glück, daß Sie zu diesem Zeitpunkt da sind —,
Sie haben die sofortige Veröffentlichung des Gutachtens des Sachverständigenrates gefordert. Sie haben das zweimal wiederholt und Beifall von Ihren Freunden bekommen. Sie haben gesagt: Mehr Respekt vor dem Gutachtergremium! Ich weiß nicht, ob Sie einen Fall haben — ich bin mir keiner Schuld bewußt —, wo ich dem Gutachtergremium den schuldigen Respekt versagt hätte. Sie können mir keinen Fall nennen. Aber wenn Sie mehr Respekt verlangen, so kann ich Ihnen nur empfehlen: haben Sie, meine verehrten Kollegen von der SPD, etwas mehr Respekt vor dem Gesetz, das Sie selber mit beschlossen haben.
Denn in diesem Gesetz steht drin, daß das Gutachtergremium sein Gutachten selber veröffentlicht
I und daß die Bundesregierung die Stellungnahme bekanntgibt und daß dies nach acht Wochen zu geschehen hat. Meine Damen und Herren, Sie können doch hier nicht eine Forderung aufstellen und beklatschen, die gegen das Gesetz verstößt, nachdem Sie vorher von uns mehr Respekt gefordert haben!
Wenn Sie eine Änderung wollen, müssen Sie die Initiative ergreifen und eine Gesetzesänderung durchführen. Es ist bekannt, daß ich der Meinung bin, daß diese Fristen falsch sind — Herr Kurlbaum wird es vielleicht sagen —, wie auch andere Dinge in diesem Gesetz vielleicht nicht ganz richtig sind. Aber wenn man das ändern will, muß man die Gesetzesinitiative ergreifen. Man kann nicht einfach von der Bundesregierung verlangen, sie solle etwas tun, was sie nach dem Gesetz überhaupt nicht darf.
Herr Minister, gestatten Sie eine Frage?
Ja.
Bitte, Herr Kurlbaum!
Herr Minister, Sie haben soeben schon kurz angesprochen, was ich jetzt fragen wollte.
Ist es Ihnen aber nicht bekannt, daß unsere Anstrengungen noch weitergegangen sind als die des Ministeriums? Sie wissen doch wohl, daß wir uns im Wirtschaftsausschuß ganz außerordentlich darum bemüht haben, dieses Gesetz in dem Sinne zu ändern, daß das Gutachten sofort nach Fertigstellung veröffentlicht wird, damit sich Bundesregierung, Opposition und Öffentlichkeit gleichzeitig damit beschäftigen können.
Herr Kollege Kurlbaum, diese Überlegungen, die ich weitgehend teile, berechtigen Sie doch nicht zu dem Verlangen, ein Gutachten, das nach der gesetzlichen Vorschrift nach acht Wochen vorgelegt werden muß, unverzüglich vorzulegen. Darauf kommt es doch an.
Es geht doch nicht darum, daß wir hier über eine Änderung sprechen — über die ich ja mit mir reden lasse; ich bin .sogar der Meinung, daß das Gesetz geändert werden muß; denn dieses Gutachten muß vorliegen, wenn die Haushaltsberatungen beginnen. Wir haben im vorigen Jahr keine Zeit gefunden, weder im Wirtschaftsausschuß noch hier, eine ausführliche Debatte zu führen. — Das Wort „Respekt" müßte eigentlich in diesem Augenblick fallen. - Aber es geht doch nicht an, daß Sie so tun, als ob die Bundesregierung wider ihre Pflicht handeln und mit der Veröffentlichung des Gutachtens säumig werden würde. Das ist doch einfach nicht der Fall. Ich möchte Sie bitten, es mir mit meinen Erwiderungen nicht so leicht zu machen.
Lassen Sie mich nun versuchen, eine Darstellung aus meiner Sicht zu geben. Mit Recht mißt man den Erfolg der Wirtschaftspolitik an der Beschäftigungslage, am Lebensstandard und an der Stabilität des Geldes. Wir haben das Beschäftigungsproblem im positiven Gegensatz zu manchen anderen westlichen Ländern erfolgreich gemeistert. Wir können auch zufrieden sein mit der Entwicklung des Lebensstandards — nicht etwa in dem Sinne, als ob es keine Aufgaben mehr gäbe; wenn aber das Erreichte mit dem Möglichen verglichen wird, so ist der Erfolg unbestreitbar. Nicht befriedigen kann uns aber die Entwicklung des Geldwertes, also der Preise. Es hat keinen Sinn, diese Sorgen zu verniedlichen.Ich zögere deswegen auch ein wenig, auf die internationalen Vergleichszahlen zu verweisen, weil mir dies eventuell als ein Bagatellisierungsversuch ausgelegt werden könnte. Aber ich muß diesen Vergleich anstellen, damit wir in der Wirklichkeit bleiben und nicht illusionär diskutieren.Wir stehen in einer engen wirtschaftlichen Verflechtung mit unserer Umwelt und können unsere Probleme nicht isoliert sehen. Schauen wir uns also einmal die internationalen Zahlen an! Wenn wir den September 1965 mit dem Jahresdurchschnitt 1960, also mittelfristig — das ist ja Ihre Überlegung —, vergleichen, dann finden wir folgendes: An der Spitze stehen die Vereinigten Staaten mit
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Bundesminister Schmücker6,9; dann kommt die Bundesrepublik mit 15,8; die Schweiz folgt mit 17,8, England mit 19,6, Schweden mit 21, Frankreich mit 22,7, Holland mit 24,3, Italien mit 27,5.Wenn ich die aktuellen Zahlen nehme — und das sind die Zahlen, die uns beunruhigen —, so muß ich feststellen, daß wir Deutschen von dem zweiten auf den vierten Platz abgerutscht sind. Dabei kann man aber vielleicht — ich sage das bei allem Respekt vor der Statistik anderer Länder — über die Zahlen einiger Nachbarn streiten. Fest steht auf jeden Fall: besser als wir stehen nur die Vereinigten Staaten und zum Teil die Schweiz da.Es liegt nahe, bei diesen beiden Ländern und nicht bei den anderen nachzusehen, wie sie ,es gemacht haben. Dabei müssen wir gleich Abstriche machen. In der amerikanischen Wirtschaft mit 190 Millionen Menschen in einem Markt, mit einem Sozialprodukt von 650 Milliarden Dollar und einigen Arbeitslosen herrschen andere Verhältnisse als bei uns, ebenso in der kleineren Schweiz mit überschaubaren Größen. In einem aber, so scheint mir, sind uns die Vereinigten Staaten und auch die Schweiz überlegen: In beiden Ländern herrscht trotz oder, wie ich annehmen möchte, gerade wegen ihrer föderativen Ordnung ein höheres Maß an privater und öffentlicher Bereitschaft zur Solidarität. Ich erinnere an die Reaktion der amerikanischen Wirtschaft auf die Zahlungsbilanzbotschaft des Präsidenten. Ich bitte, auch einmal die Methode der Veröffentlichung und der Debatte des Sachverständigengutachtens in den Vereinigten Staaten zu diskutieren. Ich erwähne die Abstimmungen in den Schweizer Kantonen, bei denen angeblich unpopuläre Restriktions-und Stabilisierungsmaßnahmen die Zustimmung beachtlicher Mehrheiten gefunden haben.Ein solches solidarisches Zusammenstehen in der Wirtschaft — und unter Wirtschaft verstehe ich alle Beteiligten, also auch die Gewerkschaften — gibt es bei uns leider noch nicht. Das ist zwar bedauerlich; aber einen Vorwurf können allenfalls diejenigen erheben, die den Appellen der Bundesregierung gefolgt sind, nicht aber diejenigen, die bei jeder Gelegenheit das Gegenteil taten. Ich sehe auch mit einiger Sorge, wie das gegenseitige Absprechen der Objektivität im politischen Raum dazu führt, daß man immer mehr nach Instanzen ruft, die jenseits der parlamentarischen Kontrolle stehen.
Welch ein Glück, meine Damen und Herren von der SPD, daß wir in Sachen Haushalt nicht Ihren Vorschlägen gefolgt sind! Wie müßte das Streichen dann wohl ausfallen! Was dagegen die konjunkturpolitischen Einzelmaßnahmen angeht, so habe ich niemals bestritten — und ich tue das auch heute nicht —, daß die SPD-Fraktion einige gute Vorschläge gemacht hat. Sie hat auch, was ich anerkenne, den von uns vorgeschlagenen Maßnahmen mehrfach ihre Unterstützung gegeben. Ich hoffe und ich werbe darum, daß dies auch weiterhin so sein möge. Aber, meine Damen und Herren, ich muß auch die breite Öffentlichkeit gewinnen. Die Politik der Stabilisierung kann nur Erfolg haben, wenn alle amWirtschaftsleben Beteiligten — und das ist jeder von uns — mitarbeiten.
Die Mitarbeit aller kann jedoch nicht erreicht werden, wenn die Regierung versuchen würde, bedrohliche Entwicklungen zu bagatellisieren. Es ist keineswegs leicht, die Karten offen auf den Tisch zu legen; denn nur zu viele versuchen dann, die Karten zu vertauschen und den Schwarzen Peter dem jeweils anderen zu geben. Warnungen der Regierung werden immer wieder zu Vorwürfen gegen sie verfälscht. Aber, meine Damen und Herren, ich vertraue darauf, daß unsere Bürger ein klares Ohr haben und unterscheiden können.Die wirtschaftliche Situation des Jahres 1966 sieht so aus: Das Bruttosozialprodukt steigt real um knapp 5 %; nominal erhöht es sich jedoch um gut 8,5 % auf anähernd 450 Milliarden DM. Wir haben somit unsere Ansprüche in einer Größenordnung zwischen 15 und 20 Milliarden DM über den realen Zuwachs hinaus gesteigert. An dieser Überbeanspruchung sind alle, ausnahmslos alle beteiligt. Der Staatsverbrauch wächst 1965 um mehr als 11 %, die Ausgaben der Unternehmer für Ausrüstungsinvestitionen steigen um rund 13 %, und der private Verbrauch nimmt um rund 91/2 % zu. Die Bruttolöhne und -gehälter je Beschäftigten werden um etwa 8,5 % steigen, netto sogar um 9,5 %.Trotz der hohen Sparrate hat diese Steigerung ihre Wirkung nicht nur auf den Konsum. Bei einem Produktivitätszuwachs von etwa 4 1/2 % hat sie ihn auch auf die Kostenentwicklung. Die Folgen der Überbeanspruchung unserer Wirtschaft spüren wir bei den Preisen. Es hilft kein Taschenspielertrick. Diese Folgen sind die unerbittliche Konsequenz unseres gesamtwirtschaftlichen und politischen Verhaltens. Wir sehen das auch deutlich an unserer außenwirtschaftlichen Position. Die Einfuhr hat auf fast allen Gebieten sprunghaft zugenommen. Mit einer Steigerungsrate von rund 21 % geht sie über die recht günstige Exportentwicklung von 10 % weit hinaus. Unser Handelsbilanzüberschuß ist von 5 1/2 Milliarden DM in den ersten 10 Monaten des Vorjahres auf 680 Millionen DM in der gleichen Zeit 1965 zusammengeschmolzen. Zusammen mit dem steigenden Defizit in unserer Dienstleistungsbilanz und bei den Übertragungen sind wir damit in den laufenden Posten der Zahlungsbilanz in einen beträchtlichen Fehlbetrag hineingeraten. Noch können wir uns den verstärkten Rückgriff auf die Märkte des Auslandes leisten; aber eine weitere Aufblähung der Einkommen und Kosten müßten wir sehr bald mit einer Gefährdung unserer Wettbewerbsposition bezahlen. Und dies, meine Damen und Herren, ist der entscheidende Satz: Was wir heute tun, ist wesentlich; von mir aus kann es knurrend getan werden; aber wir müssen es tun. Es kommt darauf an, daß wir handeln.
Wir haben genug Beispiele dafür, wie schmerzlich und langwierig die Wiederherstellung des inneren und äußeren Gleichgewichts ist. Erkennen wir deshalb die untrüglichen Zeichen und handeln wir da-
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Bundesminister Schmückernach. Wir müssen, so hart es im Einzelfall auch sein mag, die öffentlichen Ausgaben drastisch beschneiden. Der von der Bundesregierung für 1966 vorgeschlagene Haushalt von 69,4 Milliarden DM ist nach meiner Meinung eher zu hoch als zu niedrig angesetzt. Mit dem Haushalt 1966 muß der Bund — und damit haben alle Kritiker das Recht und die Chance, sich zu beteiligen — ein für alle gültiges Vorbild setzen. Über den Haushalt aber entscheiden Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag, und zwar alle drei Instanzen gemeinsam, ohne Teilung der Verantwortung und ohne Aufteilung in Lob und Tadel. Die Verantwortung tragen alle.
Wir dürfen den Haushalt nicht nur unter fiskalischen Gesichtspunkten sehen; aber es wäre schon gut, wenn wir das wenigstens täten. Er muß konjunkturpolitisch betrachtet werden. Dazu drei Punkte:Erstens. Auch ein ausgeglichener Haushalt reicht in dieser Situation noch nicht als Beitrag des Staates zur Preisstabilität aus.
Wir müssen sogar überlegen, ob wir nicht einen Teil der dann eingehenden Einnahmen stillegen sollten.
Zweitens. Neben dem Haushalt 1966 geht es auch schon um 1967 und die Vorbelastung für die weitere Zukunft. Eine mittelfristige Vorschau auf die Haushaltsentwicklung der nächsten vier bis fünf Jahre ist deshalb unumgänglich notwendig. Der Finanzminister wird sie vorlegen. Ich hoffe, daß wir alle entsprechend handeln.Drittens. Konjunkturgerechte Finanzpolitik erfordert den antizyklischen Einsatz aller öffentlichen Haushalte, auch der Länder, der Gemeinden und der Sozialversicherung. Erfolgreich können die Bemühungen aber nur dann sein, wenn alle aus höherer und besserer Einsicht bereit sind, sich einzureihen. Daran mangelte es bisher. Es hat gar keinen Sinn, das zu ignorieren: der Bundestag trägt dabei wie die Bundesregierung und der Bundesrat eine hohe Verantwortung.Da immer wieder Vorschläge über neue Kommissionen gemacht werden, möchte ich auch etwas dazu beitragen. Ich würde es begrüßen, wenn sich auch der Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages verstärkt einschalten könnte. Auf jeden Fall muß erreicht werden, daß — was 1965 wegen der Überbelastung nicht gelungen ist — die wirtschaftliche Lage und die wirtschaftspolitischen Schlußfolgerungen auf Grund des Sachverständigengutachtens gründlich diskutiert werden. Diese Beratungen müssen und werden sich — davon bin ich überzeugt — auch bei den Einzelbeschlüssen auswirken.Ich begrüße besonders die Vorschläge, die Herr Kollege Barzel gemacht hat. Er hat ein altbekanntes Thema aufgegriffen, und der Herr amtierende Präsident hat diesen Vorschlag auch mehrfach gemacht: Ausgaben nur im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Haushalts! Wenn wir das erreicht haben, sind wir ein gutes Stück weitergekommen.Zu dem Wirtschaftsausschuß möchte ich noch einmal sagen, daß das nächste Gutachten des Sachverständigenrates eine günstige Gelegenheit bietet, die wirtschaftspolitische Diskussion in diesem Hause zu forcieren, zu beflügeln und dafür zu sorgen, daß sie nicht nur draußen — ich sagte vorhin: über den Wassern —, jenseits der parlamentarischen Kontrolle stattfindet; auch wir wollen einen interessanten Teil der Debatte hier im Hause behalten, Herr Kollege Schiller.Einordnen aber müssen sich auch die Sozialpartner. Dieser Bereich ist unbestreitbar wesentlich für die Stabilität. Die Lohn- und die Arbeitszeitpolitik sind maßgebend für die Preisentwicklung. Ich möchte es deutlich sagen, Tarifvereinbarungen, die eine bestimmte Preissteigerung vorwegnehmen, sind nach meiner Meinung unverantwortlich und widersprechen allen Stabilitätsbemühungen.
Sie sind ein erster Schritt zu den verderblichen Gleitklauseln, mit denen einige Länder böse Erfahrungen gemacht haben. Das gilt nicht nur für die Löhne, das gilt auch für die Arbeitszeit.Wir müssen die Arbeitszeitfrage außerdem im Zusammenhang mit der wachsenden Verantwortung aller Mitarbeiter im Wirtschaftsleben sehen. Je mehr die Arbeitnehmer zu Mitarbeitern mit eigener Verantwortlichkeit werden, um so weniger läßt sich ihre Arbeitszeit in eine bestimmte Stundenzahl und eine bestimmte Einteilung hineinpressen.
— Was hat denn das damit zu tun?
- Ich habe Ihnen vorhin gesagt, daß die Eigenverantwortung des Arbeitnehmers sich nicht in bestimmte Arbeitszeiten hineinpressen läßt. Und wie können Sie außerdem die Behauptung aufstellen, ich sei gegen die Mitbestimmung? Ich habe den Gesetzen hier zugestimmt. Ich war aber damals wie heute der Meinung, daß das ein Ausgangspunkt sei und daß wir die echte Mitbestimmung erst durch Mitbesitz erreichen können.
Ich möchte diesen Gedanken nicht durch den Zwischenruf verwischen lassen und will ihn deshalb wiederholen: Je mehr die Arbeitnehmer zu Mitarbeitern in eigener Verantwortlichkeit werden, um so weniger läßt sich ihre Arbeitszeit in eine bestimmte Stundenzahl und eine bestimmte Einteilung hineinpressen. Die Situation im Mittelstand, bei den Selbständigen zeigt das doch zur Genüge. Zur Gegenseitigkeit, zur Solidarität gehört es auch, daß in der Arbeitszeit die Extreme nicht zu weit auseinandergerückt werden. Gesamtwirtschaftlich können wir uns, wenigstens auf absehbare Zeit, eine weitere Arbeitszeitverkürzung überhaupt nicht leisten. Jetzt machen Sie ruhig den Zwischenruf hinsichtlich jener Anzeige, über die ich mich genau-
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 147
Bundesminister Schmückerso gewundert habe wie Sie und mit der ich mich nicht identifiziere. Der Rückgang der Zahl der Arbeitskräfte ist nicht zuletzt eine späte Last des Krieges, die wir tragen müssen. Das nimmt uns niemand ab. Die geburtenschwachen Jahrgänge zwingen uns schon jetzt, alle Reserven zu mobilisieren. Eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit — jedenfalls in dieser Situation — würde gegen jede volkswirtschaftliche Vernunft verstoßen. Wer sie fordert, der sollte dann wenigstens in Sachen Stabilität den Mund halten.
Die letzten Jahre haben immer deutlicher gezeigt, daß ohne die Unterstützung der Unternehmer und der Gewerkschaften die Stabilität nicht gesichert werden kann. Unternehmer und Gewerkschaften haben einen erheblichen Spielraum für marktunabhängige preis- und lohnpolitische Entscheidungen, die dann von der Gesamtheit getragen werden müssen. Die Vorstellung, Regierung und Notenbank könnten durch die Wettbewerbs- und Konjunkturpolitik die Einordnung in die gesamtwirtschaftlichen Erfordernisse erzwingen, geht an der Realität vorbei. In unserer freiheitlichen Wirtschaftsgesellschaft kann die staatliche Wirtschaftspolitik a 11 ein ohne Gefährdung der Vollbeschäftigung und der internationalen Zusammenarbeit die Stabilität nicht mehr gewährleisten. Die Wirtschaftspolitik muß von allen Gruppen verlangen, daß sie Rücksicht nehmen auf die gesamtwirtschaftlichen Belange. Wenn das nicht gelingt, meine Damen und Herren, dann scheitert die freiheitliche Wirtschaftsordnung, und ohne politische Debatte kehren zurück der Plan und der Zwang. Und das muß verhindert werden.
Ich werde in engem Kontakt mit meinen Ressortkollegen die bisherigen gelegentlichen Zusammenkünfte mit den Repräsentanten der wichtigsten Gruppen der Wirtschaft intensivieren und zu einem ständigen Gespräch über die aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen ausbauen. Der Herr Bundeskanzler hat zu dem ersten Gespräch bereits eingeladen. Wir wollen zu einer umfassenden und regelmäßigeren Aussprache über die Möglichkeiten der Koordinierung und der Zusammenarbeit kommen. Über die Schwierigkeiten sind wir uns durchaus im klaren. Ich möchte auch von Anfang an klarstellen, daß solche Gespräche keineswegs eine Vorstufe zu irgendeiner Art von Bundeswirtschaftsrat sind, der nach meiner Überzeugung mit unserer Ordnung nicht vereinbar ist.
Es sollen weder die Tarifautonomie noch die unternehmerische Freiheit noch der politische Entscheidungs- und Führungsanspruch von Parlament und Regierung in Frage gestellt werden.
Worum es geht, ist vielmehr, durch größere Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit und die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge bei allen die Bereitschaft zur freiwilligen Einordnung zu stärken.Herr Kollege Schiller, das mit dem „Strammstehen" hat mir gar nicht gefallen, und darum möchteich hier noch einmal sagen: das Unternehmen, das ich vorschlage und gegen das Sie ja nicht sind, hat einen starken Verbündeten, nämlich die öffentliche Meinung. Diese öffentliche Meinung muß mobilisiert werden. Ich hoffe, auch einen starken Verbündeten hier im Hause zu haben; denn das Notwendige muß so und so getan werden, und wenn es durch Zwang getan werden muß, heißt das durch Gesetze, durch Administration; und ich möchte die Verwaltung sehen, die dann entsteht, um das durchzuführen. Angesichts dieser unausweichlichen Situation sollte es, meine ich, eigentlich nicht schwer sein, die Vernunft aufzubringen, das zu tun, was notwendig ist.Erfolgreich können diese Bemühungen natürlich nur dann sein, wenn der Staat, Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat mit gutem Beispiel vorangehen. Wir können nicht von der Wirtschaft — und ich rechne die Gewerkschaften dazu — ein Zurückstecken ihrer Forderungen erwarten, wenn wir selbst nicht bereit sind, bei unseren Entscheidungen harte Disziplan zu üben. Das bedeutet in jedem Fall, auch denen gegenüber hart zu bleiben, die von uns Härte immer nur dann fordern, wenn sie selbst gerade nicht beteiligt sind.
Nach meiner Überzeugung sind ständige Konsultationen ein notwendiges und bedeutsames Element der freiheitlichen Wirtschaftspolitik. Die Kredit- und die Finanzpolitik müssen natürlich weiterhin ihre Steuerungsfunktion für den Wirtschaftsablauf haben.Eine wesentliche Unterstützung kann die Stabilität aus der Strukturpolitik gewinnen. Die Strukturpolitik soll — wenn auch nicht nur — Reserven mobilisieren. Das Wort „Strukturpolitik" ist nicht mehr ganz so verpönt wie vor einigen Jahren.
Aber es ist auch ganz gut, daß noch einiger Argwohn geblieben ist; denn für allzu viele ist Strukturpolitik nur ein Vorwand, unwirtschaftliche Positionen auf Staatskosten zu erhalten.
Das ist schlecht, das geht nicht. Die Strukturpolitik darf Strukturwandlungen nicht verhindern. Sie muß vielmehr die Strukturveränderungen so fördern, daß die Mobilität von Arbeit und Kapital regional und sektoral erleichtert wird, daß Strukturwandlungen sich mit einem Minimum an wirtschaftlichen und sozialen Härten vollziehen und daß keine einseitigen Strukturen entstehen.Arbeitskräfte und Kapital sind knapp; sie werden es auch in Zukunft sein. Darum darf das Kapital nicht dort verharren, wo seine geringere Rentabilität auch der Gesamtheit zum Nachteil wird. Es ist gefährlich für unsere Wettbewerbsfähigkeit und für unser weiteres Wirtschaftswachstum, wenn das knappe Kapital nicht dem bestmöglichen wirtschaftlichen Fortschritt dient. Unsere Wirtschaft aber muß mit dieser Frage unternehmerisch fertigwerden. Der Staat soll helfen, nicht durch Investitionskontrollen, auch nicht durch dirigistische Maßnahmen. Im Steuerrecht, im Gesellschaftsrecht und in der Kapitalmarktorganisation müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen
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148 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Bundesminister Schmückerwerden, daß das Kapital dort angelegt wird, wo es am dringendsten benötigt wird. Mit der Neufassung des § 6 b des Einkommensteuergesetzes und mit der Initiative für die Kapitalbeteiligungsgesellschaften ist bereits ein guter Anfang gemacht worden.Aber darüber hinaus kann der große Kapitalbedarf der Wirtschaft ohne die Beteiligung breiter Schichten nicht gedeckt werden. Eigentumsbildung ist daher keineswegs nur ein soziales oder soziologisches, sondern ein eminent wichtiges ökonomisches Problem. Darum habe ich in den sozialen Hilfen zur Eigentumsbildung immer nur eine Initialzündung gesehen. Auf die Dauer gelingt die Kapitalbildung unter Beteiligung breitester Schichten nur in einem wirtschaftlich gesunden Klima. Die Vermögensbildung in breiten Schichten muß für die Unternehmer wie für die Sparer in gleicher Weise attraktiv sein.Die Mobilität des Kapitals darf nicht vor unseren Grenzen haltmachen. Die Internationalität der Wirtschaft ist erfreulicherweise schon so weit fortgeschritten, daß sich ihr niemand mehr entziehen kann. Die Kapitalverflechtung über die Grenzen hinweg ist eine natürliche und notwendige Folge der wirtschaftlichen Integration. Daß es beim Einsatz deutschen Kapitals im Ausland und bei ausländischen Investitionen in der Bundesrepublik nicht ohne Reibungen abgeht, ist nur natürlich. Auch mir ist nicht unbekannt, daß einzelne ausländische Investoren eine Politik betreiben, die man nur mit Sorge verfolgen kann. Aber wir wissen auch, daß es sich hierbei um Ausnahmen handelt. Insgesamt können wir mit dem Einsatz ausländischen Kapitals in der deutschen Wirtschaft sehr zufrieden sein. Er beweist uns, daß die ausländischen Investoren Vertrauen in unsere wirtschaftliche Entwicklung haben. Es wäre gut, wenn deutsche Investoren sich ihrerseits stärker im Ausland engagierten. Die Bundesregierung wird alles tun, das zu unterstützen.Die Arbeitskräfte werden in den nächsten Jahren noch knapper, als sie es heute schon sind. Es ist Ihnen bekannt, daß, wenn wir keine Gastarbeiter hätten, wir schon einen Rückgang der Zahl der Arbeitskräfte hätten. Arbeitskräfte müssen deshalb dort tätig werden können, wo sie sich und der Allgemeinheit — das ist identisch — den größten Nutzen bringen. Die Bildungs- und Ausbildungspolitik darf den Menschen nicht an zu enge Formen binden; sie muß die Mobilität fördern, sie muß auf die Begabung und den Bedarf der Wirtschaft eingehen. Manches an guter Tradition scheint dabei aus den Fugen zu geraten, und der einzelne wird vor Probleme gestellt, die er allein nicht lösen kann. Er wird es aber leichter schaffen, wenn er sieht, daß es vielen Menschen gleich ihm ergeht und die Gemeinschaft sich um ihn kümmert. Er wird sogar bald sehr froh sein, dann nämlich, wenn er in seinem neuen Bereich merkt, daß es ihm besser geht als vorher.Die Wirtschafts- und Sozialpolitik kann wohl dafür sorgen, daß jeder eine Arbeit hat; aber sie kann nicht garantieren, daß jeder in dem einmal erlernten Beruf und an dem gleichen Arbeitsplatz bis zumEnde seines Lebens bleiben kann. Die Mobilität der Arbeitskräfte steht heute gleichberechtigt neben der Treue im Beruf. Was notwendig ist, das entscheiden jeweils die Umstände. Wenn wir uns heute fragen, ob es mehr an Beharrlichkeit oder Mobilität fehlt, so meine ich, wir müßten mobiler werden. Das muß geschehen, auch wenn das Arbeitsrecht — immer noch im Ehrgeiz, dem Beamtenrecht nachzueifern — die Mobilität eher hindert als begünstigt. Ich weiß, daß auch die Gewerkschaften von der Notwendigkeit der beruflichen Mobilität überzeugt sind. Um so erstaunlicher ist es, daß die Begleiterscheinungen der Mobilität, nämlich das Abwandern aus bestimmten Branchen und Berufen, Alarmmeldungen auslösen. Dann gibt es Protestmärsche, Aufregung ergreift die Menschen, und es wird mal wieder auf „die da in Bonn" geschimpft, wenngleich in einer solchen Situation nichts dringender notwendig ist, als Ruhe und Vernunft zu wahren. Einerseits fordert man von der Bundesregierung Maßnahmen zur Mobilitätsförderung, andererseits nennt man sie „Automationsmuffel", weil sie nicht genügend tue, um den bedrohten Arbeitsplatz des einzelnen gegen den technischen Fortschritt und gegen den Strukturwandel zu sichern. Diese widerspruchsvolle Argumentation muß vom Tisch; sie ist unsauber, sie vernebelt und hemmt den Fortschritt. Wir werden im Bundestag sehr bald Gelegenheit haben, über konkrete Maßnahmen zur Förderung der Mobilität zu sprechen.Die Strukturwandlungen in unserer Wirtschaft fordern auch künftig unsere ganze Aufmerksamkeit. Deshalb habe ich in meinem Hause eine eigene Unterabteilung für Strukturpolitik eingerichtet. Sie umfaßt alle hierfür relevanten Arbeitsbereiche. Es sind mutige Überlegungen notwendig, um eine ausgeglichene Wirtschafts- und Sozialstruktur zu schaffen. Für die Wirtschaft werden damit neue Wachstumsmöglichkeiten erschlossen. Vor allem in den industriell schwach entwickelten Gebieten stecken noch erhebliche Reserven. Ihre Nutzung verschafft auch der Landwirtschaft neue Absatzchancen. Ich gebe zu erwägen, die landwirtschaftlichen Regionalprogramme in die gesamtwirtschaftlichen Strukturüberlegungen besser einzubauen. Finanzreform und regionale Strukturpolitik hängen eng zusammen. Ohne eine gerechte Verteilung der Steuerquellen bleiben alle Förderungsmaßnahmen Stückwerk. Die Regionalpolitik braucht auch in der Zukunft viel Geld. Natürlich muß auch hier jede Ausgabe überlegt werden. Gesamtwirtschaftlich gibt es aber kaum lohnendere Investitionen als bei den regionalen Strukturprogrammen, und wir werden deshalb die bewährten bisherigen Programme weiter ausbauen. Das sind: die Förderung der Bundesausbauorte durch Hilfen für Industrieansiedlung, die Entwicklung der Bundesausbaugebiete durch Verbesserung der Infrastruktur und Kredithilfen für die gewerbliche Wirtschaft, die Unterstützung des Zonenrandgebietes, das besonders hart an der deutschen Teilung zu tragen hat.Regionale Strukturprobleme stehen nicht selten in engem Zusammenhang mit den Wandlungen in der sektoralen Struktur der Wirtschaft. Die großen Agrargebiete sind ebensosehr Beispiele wie das
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Bundesminister SchmückerRuhrgebiet und manche der traditionellen Textilregionen. Es ist nicht schwierig, in der Strukturpolitik die Zustimmung zu Prinzipien zu erhalten — das ist ja meistens leicht —; sehr schwer ist es dagegen, das Ja zu Maßnahmen im Einzelfall zu bekommen. Ich möchte es hier vor dem Deutschen Bundestag einmal offen aussprechen: ich bedauere es sehr, daß der Rationalisierungsverband für die Baumwollindustrie noch immer fehlt, obwohl wir alle Anstrengungen gemacht haben und jede Unterstützung angeboten haben.Der Strukturwandel fordert unternehmerische Tatkraft, viel unangenehme Einsicht und langfristig orientierte politische Entscheidungen. Das gilt in besonderem Maße für die Veränderungen im Energiebereich. Sie wissen, das in diesem Frühjahr beschlossene Programm sollte 6 Millionen t Steinkohle für vier Jahre neutralisieren. Bei der Durchführung dieses Programms traten erhebliche Schwierigkeiten auf. In einem Gespräch mit Ministerpräsident Meyers habe ich sie ausräumen können. Das Energieproblem ist nicht ausschließlich national zu sehen. Es ist ein Problem Europas, und damit ist auch eine europäische Lösung notwendig. Wir können nach dem Montanvertrag einem Lieferzwang in die anderen Partnerländer unterworfen werden. Eine entsprechende Abnahmeverpflichtung unserer Partner fehlt leider. Das kann nach meiner Meinung nicht so bleiben. Ich werde mich um eine Klärung bemühen, ohne das Handeln zu Hause hinauszuzögern. Ein früheres Handeln war wegen der gespaltenen Kompetenz von Luxemburg und Brüssel nicht möglich. Die beschlossene Fusion der Behörden — auch wenn sie ohne deutsche Schuld hinausgezögert werden sollte — gibt einen echten Ansatz.Ich möchte hier ausdrücklich sagen, daß wir nicht gewillt sind, nur die Vorratshaltung für die anderen zu übernehmen .Wenn hier eine gemeinsame Vorratshaltung betrieben werden muß, dann müssen sich auch alle an den Kosten beteiligen, insbesondere diejenigen, die in der Not auf diese Vorratshaltung reflektieren.Der Unternehmensverband Ruhrbergbau hat mich in den vergangenen Wochen über die eigenen Vorstellungen des Steinkohlenbergbaus informiert. Ich werde in nächster Zeit weitere Gespräche mit den Vertretern der Mineralölindustrie, der Stahlindustrie — die ja selbst großen Kohlebesitz hat — und insbesondere auch mit der Elektrizitätswirtschaft führen. Bei dem Gesamtprogramm denke ich nicht an eine quantitative Garantie irgendwelcher Art. Jede gesamtwirtschaftlich vertretbare Energiepolitik muß den Unvermeidbarkeiten des Wirtschaftsablaufes Rechnung tragen. Die Kohleförderung muß den Absatzmöglichkeiten angepaßt werden und nicht umgekehrt. Das macht harte Anstrengungen aller Beteiligten notwendig. Die vordringlichste Sorge der Bundesregierung wird es dabei sein, sicherzustellen, daß Nachteile für die betroffenen Bergleute nicht eintreten und daß die soziale Sicherung des deutschen Bergmanns auch weiterhin gewährleistet bleibt.Meine Damen und Herren, darf ich nun noch einige Anmerkungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft machen. In den öffentlichen Diskussionen haben den Vorrang auch heute noch die politischen Gesichtspunkte. Ich sehe darin keinen Nachteil, denn das drückt den ungebrochenen Willen der europäischen Völker zu einer politischen Einigung aus. Und was ist für uns — gerade angesichts der Krise — dringender als das Festhalten an diesen europäischen Zielen! Manches der Unruhe, die heute über dieses und jenes laut wird, ist in Wahrheit politische Unruhe, es ist Sorge um die politische Zukunft Deutschlands und Europas. Im letzten Sommer sind wir deutlich daran erinnert worden, daß wirtschaftliche Einigung noch nicht ohne weiteres die politische Union bringt. Mir liegt heute daran, noch einmal die ökonomische Seite der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft herauszustellen und daran zu erinnern, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft maßgeblich Anteil an der Steigerung auch un-unseres Lebensstandards hat. Ein Verzicht auf die EWG oder ihre Einschränkung würde sich nachteilig auch auf unsere Lebensverhältnisse auswirken. Manche Mängel unserer wirtschaftlichen Entwicklung, z. B. die unzureichende Preisstabilität, sind auch eine Folge davon, daß wir noch keine Wirtschaftsunion haben, also den großen elastischen Binnenmarkt in Europa noch nicht herstellen konnten.Der werdende Binnenmarkt hat sich allerdings sehr eindrucksvoll entwickelt: Das Bruttosozialprodukt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist von 1958 bis 1965 um 38 % gestiegen. Das Wachstum ist zum großen Teil durch eine Produktionssteigerung pro Kopf, also durch erhöhte Produktivität erreicht worden. Der Handel der Mitgliedstaaten untereinander ist von 1958 bis 1964 um 168 °/o gestiegen. Im Vergleich dazu hat der Welthandel, ohne den Handel innerhalb der EWG, nur um 50%zugenommen. Was ein ungehinderter Warenaustausch für die Konjunktur — insbesondere für die Handelsbilanzen — der einzelnen EWG-Länder bedeutet, haben wir alle schon sehr deutlich erfahren. Unser Außenhandel reagiert jetzt viel schneller und stärker auf unterschiedliche konjunkturelle Spannungen in den einzelnen Ländern. Diese hohe Elastizität hilft kurzfristig die Stabilisierung zu erleichtern. Halten die Spannungen aber länger an, so stecken wir uns gegenseitig mit der Inflation an. Brüssel muß deshalb gerade auch für die gemeinsame Konjunkturpolitik wieder aktionsfähig werden. Ebenso notwendig sind die Brüsseler Entscheidungen, um die Kennedy-Runde vorwärtszubringen. Ihr Erfolg ist wesentlich für gute und freundschaftliche Wirtschaftsbeziehungen zur übrigen freien Welt, insbesondere für die Milderung der wirtschaftlichen Aufteilung Europas, für die Überbrückung des Grabens. Für uns Deutsche sind die angestrebten Zollsenkungen außerdem gerade in unserem gegenwärtigen Bemühen um die Stabilität wichtig. Wo man auch hinsieht, wir alle werden mit unserem eigenen wirtschaftlichen Problem ohne weitere Fortschritte in der EWG nicht mehr fertig. Ich appelliere deshalb erneut und eindringlich an unsere französischen Freunde, daß die Verhandlungsrunde bald wieder vollständig sein möge. Wir müssen das begonnene Werk gemeinsam fortsetzen. Nicht nur unsere, auch die Interessen Frankreichs, die Interessen
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Bundesminister Schmückeraller Sechs und die Interessen aller, die mit den Sechs im freundschaftlichen Handelsverkehr verbunden sind, stehen auf dem Spiel,Ich darf zusammenfassen. Stabilität und weitere Aufwärtsentwicklung in einer gesunden Wirtschafts-und Sozialstruktur verlangen von uns folgendes:Erstens. Die Politik der sozialen Marktwirtschaft muß fortgeführt und den gewandelten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen entsprechend ausgebaut werden.Zweitens. Notwendig sind Weltoffenheit und unbeirrbares Festhalten an der europäischen Integration.Drittens. Der Bundeshaushalt muß nicht nur kurzfristig in Ordnung gebracht werden. Notwendig ist die Einfügung der Haushaltspolitik in die längerfristigen Zielsetzungen der Stabilitäts- und Wachstumspolitik.
Das erfordert, daß Bund, Länder, Gemeinden und auch die Sozialversicherungsträger mitarbeiten. Es müssen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine gemeinsame antizyklische Finanzpolitik und für mehrjährige Haushaltsplanungen geschaffen werden. Das erfordert auch den politischen Willen zur Einordnung der Einzelentscheidungen in das gesamtpolitische Interesse und in die gesamtpolitischen Möglichkeiten. Der Bund — und dies geht alle seine Organe an — muß hier mit guten Beispielen vorangehen.Viertens. Alle diese Bemühungen müssen durch die Entscheidungen der Sozialpartner unterstützt werden. Die Bundesregierung wird mit den Repräsentanten der großen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen eine entsprechende Aussprache einleiten.Fünftens. Es ist notwendig, die Struktur- und die Wettbewerbspolitik so fortzuentwickeln, daß die für Wachstum und Stabilität erforderlichen Strukturwandlungen gefördert und erleichtert werden. Dazu gehört aber auch die Bereitschaft der Unternehmer und der Arbeitnehmer zu größerer Mobilität und zur Anpassung an die Veränderungen der Technik, des Marktes und der Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur.Meine Damen und Herren, die heutigen Aufgaben der Wirtschaftspolitik sind zwar anders, keineswegs aber leichter. Sie sind differenzierter und vielschichtiger geworden. Eine gesunde Wirtschaft ist die feste und die beste Grundlage für unsere gesamte Innen- und Außenpolitik.
Die bisherige stabile wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung hat wesentlich zur Festiggung im Innern und zur Wiederherstellung unseres Ansehens draußen beigetragen. Es liegt an uns und nur an uns, an unserer Einsicht und an unserer Solidarität, diesen Weg konsequent fortzusetzen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Burgbacher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im „Volkswirt" Nr. 47 war folgendes zu lesen, was ich mit Erlaubnis des Präsidenten hier kurz wiedergebe:Polemik statt Information, das ist das trübe Fazit aus der bisherigen Preisdebatte. Und das gerade zu einem Zeitpunkt, da Information notwendig wäre, um einer Preishysterie entgegenzuwirken, die sich herauszubilden droht, je länger dieser unqualifizierte Streit anhält. Dabei liegen die Tatsachen zur Preisentwicklung auf dem Tisch, und man braucht wirklich nicht Nationalökonom zu sein, um sie zu sehen. Gewisse Schwierigkeiten mag es vielleicht dem einen oder anderen bereiten, daß nicht ein oder zwei Ursachen für die Preissteigerungen verantwortlich zu machen sind, sondern daß es ein ganzes Bündel von Einflüssen ist, die sich gegenseitig berühren, durchdringen und potenzieren.Das vor allem hätten Sie, Herr Kollege Professor Schiller, wissen müssen.
— Den habe ich nicht da.
— Bitte sehr, wenn es Ihnen Freude macht:Wollte man nach der Lautstärke der Auseinandersetzung über die derzeitigen Preissteigerungen urteilen, so befänden wir uns mitten in einer galoppierenden Inflation. Die Regierung ist heftigen Angriffen der Opposition und der Gewerkschaften ausgesetzt. Ihr schlechtes Gewissen äußert sich in Unsicherheit.Das ist das Zitat, das Sie wollten; aber das andere ist ja nicht gerade in Ihrem Sinne.Nun, auch ich möchte unseren Kollegen Schiller - wie das üblich ist — zu seiner Jungfernrede beglückwünschen. Ich bitte aber um Entschuldigung, wenn das beinahe das einzig Positive ist, was ich dazu sagen kann.
Wir haben einmal — wenn diese persönliche Bemerkung erlaubt ist — bei dem Kongreß der IG-Metall eine Diskussion über Automation gehabt. In dieser Diskussion habe ich Sie als achtenswerten und beachtenswerten Gegner kennen und schätzen gelernt, und deshalb habe ich mich tatsächlich stundenlang auf eine Erwiderung vorbereitet. Ich glaube aber, daß es gar nicht nötig gewesen ist.
Sehen Sie, man soll doch in Zusammenhängen denken und soll in die Tiefe gehen. Was aber haben Sie
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Dr. Burgbachergemacht? Sie haben zum Teil handfeste Polemik geboten, und zwar unter dem Beifall Ihrer Freunde. Sie sind sehr auf der Oberfläche geplätschert, ohne den Zusammenhängen in der Tiefe nachzuspüren, und Sie haben einiges Richtige gesagt, und zwar ohne den Beifall Ihrer Freunde.
Warum haben Sie es nötig — —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Erler?
Bitte!
Herr Kollege Burgbacher, nach dem 'bisherigen Verlauf der Debatte hätte ich von Ihnen gern einmal gewußt, ob Sie wirklich der Meinung sind, daß Polemik ein ausschließliches Monopol der Regierung und der Regierungsparteien zu sein hat.
Natürlich bin ich nicht dieser Meinung, und ich stimme Ihnen auch darin zu, daß es für das Hohe Haus besser wäre, wenn wir ein wenig weniger Polemik und ein wenig mehr Sache machten;
aber da bin ich wegen der Polemik beweispflichtig.Sie haben gesagt, die Umkehrung der Verhältnisse sei in den letzten eineinhalb Jahren unter der Kanzlerschaft unseres verehrten Herrn Professors Erhard erfolgt; mehr haben Sie nicht gesagt. Aber damit wollen Sie doch den Eindruck erwecken, daß er an der Veränderung dieser Verhältnisse schuld sei. Sie wissen doch genau, daß das unwahr 'ist.
Und dann kommt noch etwas Tolleres. Sie haben gesagt, die Regierung habe eine bewußte Anpassung der Preise nach oben betrieben. Sie haben gesagt: „hausgemachte Inflation". Sie wissen, daß auch das nicht wahr ist.
Sie kennen doch die Interdependenz der europäischen Wirtschaft oder sollten sie kennen. Sie wissen, daß Sie Forderungen gestellt haben, die bis jetzt in der ganzen Welt — auch in den Ländern, in denen Ihre Freunde regieren — niemals annähernd so erfüllt worden sind wie bei uns.
Sie haben gesagt, die Regierung habe das — statt Kontrolle — zugelassen. Welche Kontrolle meinen Sie denn?
Ist 'das eine Kontrolle gegen die freiheitliche Ordnung? Oder was verstehen Sie unter dem Pauschalbegriff Kontrolle? Sie haben wiederholt von „unbestimmten Formulierungen in der Regierungserklärung" gesprochen, zum Teil in nicht schönen Worten.Aber das Wort „Kontrolle" ist — gelinde gesagt — doch sehr wolkig und sehr auslegungsfähig.
Sie haben gesagt, das Vertrauen des Volkes sei erschüttert.
Ich finde, es ist ein beachtenswerter Mut, das hier nach dem Ergebnis der Bundestagswahlen vom 19. September auszusprechen.
Aber ich will Ihnen sagen, wer das Vertrauen erschüttert: Alle diejenigen — und da nehme ich niemanden aus —, die die sehr wichtige Preisfrage zur Schicksalfrage der deutschen Volkswirtschaft machen wollen. Vertrauen ist ein ganz diffiziles Gefäß. Man kann Konjunkturen zerreden.
Man kann durch eine im Verhältnis zur Hauptsache nicht maßhaltende Kritik sehr viel an Vertrauen zerstören. Auch die Kritik an einer wichtigen negativen Erscheinung — und das sind diese Preissteigerungen; die müssen wir bekämpfen — muß aber im Zusammenhang mit dem Ganzen gesehen werden.Sie haben weiter gesagt, die Sparmaßnahmen wären für 1965 bitter nötig gewesen. Ich kann mich in diesem Zusammenhang an Anträge der SPD-Fraktion im Augenblick nicht erinnern, welche sie für 1965 gestellt hat.
Soviel ich weiß, wird der Etat 1965 ungefähr ausgeglichen sein.Sie sagten, das Programm für 1966 könnte nach Ansicht des BDI gefährlich werden. Ja, aber was statt dessen, Herr Kollege Schiller? Wir sind der Meinung, daß dieses Programm möglichst unverändert sowohl nach der Regierungserklärung wie nach dem Haushaltssicherungsgesetz in allen Punkten ohne Ausnahme schnellstens durchgeführt werden muß.
Der Haushaltsausgleich ist zwingend. Über das Prinzip des Ausgleichs kann gar nicht debattiert werden.Nun ist uns von der Opposition wiederholt vorgeworfen worden, wir hätten erst nach der Wahl über diese Dinge gesprochen. Der Bundeskanzler hat schon auf die Ausführungen in der Kabinettssitzung vom 12. August hingewiesen. Ich möchte darauf hinweisen, daß wir vor der Wahl in aller Öffentlichkeit auf einem Wirtschaftstag der CDU mit Tausenden von Teilnehmern fast nichts anderes beraten haben als das, was heute vor uns liegt.
Ich würde bei der Haushaltssystematik gerne eine schärfere Trennung der vermögenswirksamen Ausgaben von den anderen sehen. Ich finde, daß dem Investitionsproblem bei dieser Debatte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden müßte. Wir investieren etwa 80 bis 100 Milliarden DM im Jahr152.Metadaten/Kopzeile:
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Dr. Burgbacherund finanzieren das zu etwa 30 % aus echten Sparkapitalien, und bei den anderen 70 % liegt der Schwerpunkt von 40 % bei den öffentlichen Haushalten mit deren laufenden Einnahmen, den Steuern; die restlichen 30 % kommen aus der Wirtschaft über deren Preise. Das Investitionsprogramm ist notwendig und wird noch lange anhalten, wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen. Der Kapitalmarkt gibt zur echten Kreditfinanzierung langfristiger Investitionen nicht genug her. Wir müssen die Investitionen, die die öffentlichen Hände und die Wirtschaft vornehmen müssen, auch honorieren. Wer sie erarbeitet, wird dafür bezahlt, und er tritt dann mit dieser Kaufkraft auf dem Markt an, aber nicht um Investitionsgüter, die er gerade gefertigt hat, sondern um Konsumgüter zu kaufen; diese sind aber nicht in dem erforderlichen Umfange da. Es besteht nach meiner Ansicht ein enger Kausalzusamenhang zwischen der Nachfrageüberhitzung und der Finanzierung der Investitionen über den Preis oder — was das gleiche ist — bei der öffentlichen Hand über die Steuern.Dieser Zustand ist aber nur mit einer Verbesserung des Kapitalmarktes zu beheben. Herr Kollege Schiller hat das gestern in seinem Punkteprogramm auch gefordert. Aber wie? Er hat von den 35 Milliarden DM Investitionen der öffentlichen Hand gesprochen. Stimmt! Der Kapitalmarkt — daran geht kein Weg vorbei — kann nur durch Konsumverzicht von uns allen angereichert werden; es gibt keinen anderen Weg. Ohne den Willen des gesamten Volkes, diesen Weg zu gehen, werden wir in der Preisfrage zu keinem voll befriedigenden Ergebnis kommen, es sei denn, wir unterlassen Investitionen und kommen dann aus dieser Ecke in noch größere Kalamitäten, was Vollbeschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit betrifft.
Nun gibt es viele, die meinen, die öffentlichen Investitionen seien gar nicht produktiv, deshalb müsse man sie aus laufenden Einnahmen bezahlen und könne dafür keine Schulden machen. Einer der allerersten Volkswirte — ich glaube, es war ein Engländer — hat das auch gemeint. Er hat vor mehreren hundert Jahren geschrieben, ein Schweinehirt sei produktiv, weil er Sauen züchte, ein Universitätsprofessor sei unproduktiv, weil man nichts von ihm sehe.
Wir wollen zunächst einmal ganz klar feststellen, daß zum Funktionieren einer modernen Industriegesellschaft, wie wir sie haben, die sogenannte Infrastruktur genauso notwendig ist, wie es die eigentlichen Produktionsbetriebe sind;
nicht zuletzt sind auch die Bildungsinvestitionen produktiv. Der Einwand, man könne für Investitionen keine Kredite aufnehmen, weil sie nicht produktiv seien, ist nach meiner Ansicht nicht stichhaltig.In dem Zusammenhang ein kurzer Blick auf die Entwicklung des öffentlichen Anteils am Bruttosozialprodukt. Im Jahre 1913 betrug er 13 % und 380 Mark pro Kopf, im Jahre 1928 23 % und 520Mark pro Kopf, im Jahre 1965 32 % und 2454 DM pro Kopf, darunter der Anteil der Sozialaufwendungen 23,2 %. Damit ist die öffentliche Hand auch der größte Auftraggeber. Hier liegen in der Tat gewisse Möglichkeiten für eine handfeste Konjunkturpolitik, die vielleicht noch besser genutzt werden sollten.Dazu würde aber eine Art Lenkungsstelle für die öffentlichen Investitionen gehören. Wir müssen sorgfältig prüfen, ob das noch tragbar ist. Hiermit wäre ein relativ leicht zu handhabendes Instrument gegeben, die Kunjunktur — regionaler oder überregionaler Art — zu dämpfen oder anzuregen.Was haben wir auf der Vermögensseite alles getan? Ich darf darauf hinweisen, daß das deutsche Volk seit 1950 etwa 650 Milliarden DM zusätzliches Volksvermögen gebildet hat; darin ist die Vermögensbildung der öffentlichen Hand enthalten. Die öffentlichen Hände haben davon etwa 250 Milliarden DM über laufende Steuern finanziert. Die 650 Milliarden sind der Zuwachs des Volksvermögens, die 250 Milliarden stammen von der öffentlichen Hand. Können wir auf die Betrachtung dieser Zahl — die Entwicklung setzt sich fort — bei den angestellten Überlegungen ganz verzichten?Mir liegt eine Spezialübersicht für die Jahre 1961 bis 1964 vor. Danach betragen die Gesamtausgaben der öffentlichen Hand für die Vermögensbildung in diesen vier Jahren 107 Milliarden DM. Davon wurden 50 Milliarden durch Kreditaufnahme oder Vermögensveräußerung — 17 Milliarden — und Rückflüsse von Darlehen — 33 Milliarden — gedeckt. 57 Milliarden DM wurden in den vier Haushaltsjahren aus unseren laufenden Steuern auf der Vermögensseite gespart. Ich wiederhole: 57 Milliarden DM sind in vier Haushaltsjahren an öffentlichem Vermögen neu gebildet worden. Das sind im Schnitt des Haushaltsjahres fast 15 Milliarden DM, natürlich Bund, Länder und Gemeinden zusammen. Ist das nicht ein Punkt, der in der, ich möchte beinahe sagen, moralischen Wertung unserer Probleme mit gesehen werden muß?Die private Spartätigkeit, die ja für unser Sorgenkind Kapitalmarkt von Bedeutung ist, hat sich gut entwickelt. Die jährliche Barsparsumme beträgt 17 Milliarden DM. Aber die Tatsachen beweisen, daß diese private Spartätigkeit, diese Befruchtung des Kapitalmarktes, der bei uns gegebenen Situation nicht genügt. Ich erlaube mir anzumerken: ein Volk, das für Rauchwaren und Spirituosen 25 Milliarden DM im Jahr ausgibt, darf sehr wohl auf diese wichtige, wenn nicht entscheidende Hilfe zur Stabilisierung der Preise angesprochen werden, nämlich den Kapitalmarkt so zu beschicken, daß wir keine Verzerrung in der Investitionspolitik über Preise und Steuern hinnehmen müssen.In den Ausführungen des Kollegen Schiller war so unterschwellig festzustellen, daß er der bösen Regierung ungefähr für alles Negative die Schuld zumißt. Nun, Herr Kollege Schiller, wenn ich mir Ihre verschiedenen Zitate von Schopenhauer bis Brecht und Ihre ganze Behandlung der Regierungserklärung vor Augen halte, so muß ich sagen: Sie haben zumindest nicht darauf hingewiesen, was alles
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 153
Dr. Burgbacher„schuldig" ist: Vollbeschäftigung, Übernachfrage, Steigerung der Ansprüche von uns allen,
unsere Umwelt, die anderen Länder, die soeben schon genannte mangelnde Kapitalbildung. Und dann, Herr Kollege: Hätten Sie bei Ihrem Status nicht ein Wörtchen sagen müssen über die Interdependenz innerhalb des Gemeinsamen Marktes, über die Tatsache, daß 60 bis 80 % ,des Gemeinsamen Marktes auf diesem Gebiet sozusagen vollendet sind, daß es ein Problem geworden ist, ob wir eine deutsche Volkswirtschaft haben oder ob diese schon Teil einer europäischen Volkswirtschaft ist, und daß deshalb keine Maßnahme allein von der nationalen Regierung her gesehen werden kann, sondern daß alles nur in der Interdependenz der europäischen Zusammenhänge gesehen werden muß?
Es wäre doch wohl notwendig gewesen, dies mindestens anzudeuten. Ich bin deshalb der Meinung, daß von diesem Hause aus nicht nur an uns selbst appelliert werden muß, die Haushalte unter allen Umständen echt — ohne Geld- und Kreditschöpfung — auszugleichen, sondern auch an alle in der Wirtschaft die Forderung gerichtet werden muß, in den Betrieben, in den Unternehmen und sogar in den privaten Haushalten in der gleichen Weise zu denken, mit dem Akzent: Denkt an die Kapitalbildung, welche die Stabilisierung eurer Zukunft bedeutet. So gesehen ist es absolut berechtigt und leider dringend notwendig, daß sich unser verehrter Bundeskanzler immer wieder an alle wendet. Die Auffassung, aus der heraus er das tut, lebt aus dem Respekt vor der Freiheit; denn wer an den einzelnen appelliert, aus eigenem Entschluß zu handeln, respektiert die Freiheit;
wer nach Kontrollen und Räten ruft, lebt in der Gefahr, sie zu vergessen.
Wir können nicht ganz auf die Betrachtung der Zusammenhänge verzichten. Ich stimme freilich unserem Freund Schmücker darin bei, daß man, wenn man zu sehr die Zusammenhänge aufzeigt, den Vorwurf bekommt, das Problem der Preise verniedlichen zu wollen, und das will ich absolut nicht, unter gar keinen Umständen. Ich will aber vermeiden, daß vom Preisproblem her eine Erschütterung in unser Volk und in unsere Volkswirtschaft kommt.Das Bruttosozialprodukt ist von 1954 bis heute — von 1954 ab habe ich die Zahlen — gestiegen: in Belgien um 40%, in Holland um 90 %, in Frankreich um 140 %, in Dänemark um 120 %, in Großbritannien um 80 %, in der Schweiz um 100% und in der Bundesrepublik um 140%. Frankreich und die Bundesrepublik haben also seit Bestehen des Gemeinsamen Marktes, d. h. seit 1957, interessanterweise die gleich hohen Steigerungsraten. Wir haben in den Ausführungen unseres Bundeswirtschaftsministers gehört, wie enorm die Warenströme innerhalb des Gemeinsamen Marktes geflossen sind. Das veranlaßt mich, darauf hinzuweisen, daß, um es ganz kurz und brutal zu sagen, wir die Opfer, die wir im Interesse des Gemeinsamen Marktes z. B. beim Getreidepreis gebracht haben, mehr als x-fach hereingeholt haben durch die Verstärkung der Warenströme und der Wirtschaftsbeziehungen innerhalb des Gemeinsamen Marktes um 170 % gegenüber dem Weltdurchschnitt von 50%.
Wir haben einen Teufelskreis: Investitionszwang wegen des Wettbewerbs, wegen der Automation, wegen des Arbeitskräftemangels; denn sehr viele Investitionen haben keinen anderen Zweck als den, Arbeitskräfte durch technische Kräfte zu ersetzen. Wir haben die Vollbeschäftigung und wollen 'sie auch behalten. Wir haben Kriegsfolgelasten außergewöhnlicher Art, wir haben voraussichtlich steigende Verteidigungsaufwendungen. Und dies alles in Freiheit! Und dann einen stabilen Preis, unter dem viele einen starren Preis verstehen! Ich bitte, über den Unterschied zwischen Preisstarrheit und Preisstabilität nachzudenken. Starre Preise sind für Produkte mit Lohnanteil in einer Zeit der berechtigten Entwicklung des Stundenlohns von 1 bis gegen 5 DM natürlich einfach eine Illusion, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.Wir haben einen Preisindex für die Lebenshaltung. Wir haben nichts Besseres; aber es wird sich lohnen, diesen Preisindex für die Lebenshaltung anzusehen, der vom Statistischen Bundesamt immer mit enormer Akribie ermittelt wird. Wir können für die Errechnung dankbar sein. Aber wer hat sich denn schon mal die Mühe gemacht, diesen Index anzusehen! Errechnet wird der Normalbedarf einer vierköpfigen Normalfamilie. Daß sich aber dieser Normalbedarf im ständigen Fluß befindet und daß nun einmal — halb scherzhaft, halb ernsthaft — zur Reinigung vor 15 Jahren ein Zuber, eine Bürste und ein Putzlappen gehörten, während es heute ein Mop und ein Staubsauger sind, oder daß Küchengeräte früher die alten Töpfe waren, jetzt aber die normalen technischen Einrichtungen sind, daß die Ausgaben für Urlaub und Erholung steigen, ja, daß die Mieten steigen, und zwar zur Beseitigung einer nicht marktgerechten Miete, nicht wegen des Marktes, sondern zur Beseitigung einer bisher vorliegenden Subvention, das ist alles in diesen zur Zeit 3,8% drin.Ich habe hier z. B. eine Berechnung bis einschließlich 1964. Dort betragen die Kosten für die Lebenshaltung — bei Basis 1958 = 100 — für 1964 113,7 Punkte. Zu diesen 113,7 Punkten haben beigetragen die Wohnungsnutzung mit 134,9 Punkten, die Dienstleistungen mit 124,6 Punkten — wen wundert das, wenn eine Putzfrau oder eine Haushilfe entsprechend dem Markt verdienen will und soll — und die verarbeiteten Nahrungsmittel mit 115 Punkten, während die nichtverarbeiteten Frischwaren 104 Punkte aufweisen. Die Bevölkerung geht immer mehr von den Frischwaren zu Konserven über, vor allen Dingen in Familien, in denen die Frau mitarbeitet. Daß das eine Veränderung des Lebenhaltungsindex bedeuten muß, liegt ebenfalls auf der Hand. Das ist die einzige Basis für unsere These von 4 oder 3 '% oder dafür, wie Herr Kollege Schiller es sich wünscht,
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Dr. Burgbacherdaß wir sozusagen in den nächsten Jahren auf dem Verordnungswege auf 1 % kommen.Ich habe hier den Index vom September 1965. Da ist die Wohnung mit 21 Punkten, Bildung und Unterhaltung mit 12 Punkten und Bekleidung mit 10 Punkten beteiligt. Aber wie ist es nun mit dem Hauptanteil Ernährung im Großen gesehen? Im Jahre 1964 betrugen die ausgabefähigen Einnahmen nach Abzug von Steuern und Beiträgen für den normalen Haushalt 913 DM. Davon entfielen auf Ausgaben für Nahrungsmittel 286 DM, das sind 33,6 %. Bitte, hören Sie genau zu: 1964 betrug der Anteil der Ernährung am normalen 4-Personen-Haushalt 33,6%. Auf demselben Gebiet betrug der Prozentsatz 1962 35,3, 1958 39 und 1950 46. Der Anteil für Ernährung am normalen 4-Personen-Haushalt ist also trotz der Preisveränderungen von 46 auf 33,6 % zurückgegangen.
Unser Kollege Schiller hat mit Recht vom Inflationsempfinden im deutschen Volk gesprochen. Aber ich nehme ihm ein wenig übel, daß er nicht auf den Unterschied zwischen der Ursache dieses Inflationsempfindens und der heutigen Zeit eingegangen ist. Herr Kollege Schiller, Sie wissen genau: die Inflationen von 1923 und 1945 zeichneten sich durch eine ständige ungeheure Steigerung des Geldumlaufs und durch einen ständigen ungeheuren Rückgang des Warenangebotes aus mit dem Ergebnis der Armut. Wer möchte behaupten, daß die Entwicklung, die uns heute bekümmert, den Eindruck macht, wir wären auf dem Weg zur Armut?! Hier haben wir einen Mangel im Menschen selbst. Es wäre doch wahrhaftig ein Wunder, wenn bei den an sich unvollkommenen Menschen in Freiheit alles auf einmal möglich wäre. Das erkennen, heißt nicht, die Hände in den Schoß legen, sondern nur, die Dinge richtig einordnen.Der Herr Wirtschaftsminister hat bereits darauf hingewiesen, daß wir hinsichtlich der Veränderung des Lebenshaltungskostenindex früher an zweiter Stelle lagen und jetzt an vierter, günstiger Stelle liegen. Ich möchte darauf hinweisen, daß der Index der Lebenshaltungskosten in Holland, Frankreich, der Schweiz und England, Herr Kollege Schiller, nach neueren Ermittlungen in diesem Jahr um 5 % steigt. Das ist sehr bedauerlich und gar keine Entschuldigung, aber wenn die Opposition so scharfe Angriffe gegen die Regierung richtet, dann muß sie sich den Hinweis gefallen lassen, daß andere Länder, in denen auch keine Esel regieren — in England regieren sogar Ihre Kollegen, Herr Schiller —, das auch nicht besser machen können.
Über die Lohnentwicklung hat der Herr Wirtschaftsminister schon gesprochen; da kann ich es kurz machen. Obwohl aber der Herr Bundespressechef einmal aufgefallen ist, weil er die Binsenweisheit gesagt hat — er hat sich, glaube ich, nur in einer Zahl geirrt —, daß die Realkaufkraft des Stundenlohnes gegenüber den Preisen aller Güter und Leistungen ständig gestiegen ist, möchte ich darauf hinweisen, daß der Faktor zwischen Nominallohn- undReallohnerhöhung in der Bundesrepublik nach Angaben des Statistischen Bundesamts immerhin 0,75 beträgt. Drei Viertel der Erhöhung sind also auch nach der Indexberechnung echte Kaufkrafterhöhung. Dieser Faktor beträgt in Belgien 0,71, in den Niederlanden 0,66, in Italien 0,62, in den USA 0,61, in Großbritannien 0,58, in Japan 0,54 und in Frankreich 0,43. Es ist uns also gelungen, dem Ideal mit diesem Faktor von 0,75 am nächsten zu kommen, während die anderen Länder weit ungünstigere Zahlen zu verzeichnen haben.Nun möchte ich etwas einblenden. Wenn in den Zeitungen die Lage der Post und der Bahn erörtert wird, lese ich: „Eine neue Preiswelle kommt auf das deutsche Volk zu." Was wollen wir eigentlich? Wollen wir Bahn und Post, wie sich das für zum größten Teil 'wirtschaftliche Unternehmen gehört, möglichst frei von Defizit führen, oder wollen wir das nicht? Ist heute noch — ich bitte um Entschuldigung — eine Reihe von Sozialtarifen berechtigt, die aus einer Zeit stammen, die völlig andere Einkommensverhältnisse hatte? Können wir Bahn und Post überhaupt in Ordnung bringen, ohne den Mut zu haben, über diesen Rubikon zu gehen?
— Der Beifall ist dünn, ich sehe es schon. Aber glauben wir ja nicht, daß wir dieses Stück des echten Ausgleichs der Haushaltslage bewältigen können nach der Methode: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!Nun haben 'wir so die Gewohnheit, bei Haushalten und auch bei Lohnveränderungen von der „Zunahme des Bruttosozialprodukts" zu sprechen. Das ist ein wichtiges Hilfsmittel für den schwachen Menschengeist. Aber dazu muß man etwas sagen. Wenn wir beispielsweise von einem durchschnittlichen Zuwachs des Bruttosozialprodukts in Höhe von 5% sprechen, so umfaßt diese Aussage in den verschiedenen Branchen Veränderungen in dem Bereich von minus 10% bis plus 40%, und die Mischung des gewogenen Mittels ergibt dann die 5%. Diese 5 % bilden für uns praktisch eine Krücke, auf die wir uns stützen. Im Zeitalter der Vollbeschäftigung ist aber kaum Raum für eine echt differenzierte Lohnpolitik, nicht etwa deshalb, weil die Menschen, die die Lohnpolitik machen, bös sind, sondern weil es einfach in der Natur der Dinge liegt, daß die Höhe der Löhne nicht annähernd dem unterschiedlichen Wachstum in den einzelnen Branchen — von minus 10 bis plus 40 % — entsprechen kann, weil das arbeitsmarktmäßig nicht geht. Was soll denn angesichts dieser Kosten .die Branche mit minus 10 % um Gottes willen machen? Entweder Konkurs oder Liquidation oder Preiserhöhung. Nun sollte die Branche mit plus 40 % auch etwas machen. Sie sollte eigentlich die Preise senken; denn es gibt auch Lohngewinner, nicht nur Lohnverlierer.Der Gerechtigkeit halber muß man sagen, daß auf vielen Gebieten echte Preissenkungen erfolgt sind. Nehmen Sie die Entwicklung der Energiepreise, nehmen Sie die Entwicklung der Preise von Waschmaschinen, Kühlschränken, Fernsehgeräten, Radio-
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Dr. Burgbachergeräten, und nehmen Sie die Automobilindustrie, in der zwar weniger Preissenkungen, dafür aber gewaltige Qualitätsverbesserungen zu verzeichnen sind, die einer Preissenkung gleichkommen.Erfreulicherweise und mit Recht will das deutsche Volk immer die beste Qualität. In den Statistiken des Statistischen Bundesamtes können unmöglich alle Qualitätsverbesserungen erfaßt werden. Eis ist der kein Statistiker, der nur die Zahl liest. Nur der ist ein Statistiker, der die Zusammenhänge versteht, die hinter der Zahl stehen und zu der Zahl geführt haben. Wer diese Zusammenhänge nicht versteht, kann gewaltig in die Irre gehen.Auf die Verbrauchernachfrage, die aus den Investitionslöhnen entsteht, habe ich hingewiesen. Ich sehe hierin einen der stärksten Gründe — neben anderen — für den Importsog, den wir zur Zeit haben. Das Zahlungsbilanzdefizit von 7 Milliarden DM in diesem Jahr ist ein Zeichen. Es ist nicht schlimm, wenn es bei diesem einen Mal bleibt. Wenn sich das aber wiederholt, ist es sehr schlimm. Deshalb — ceterum censeo — muß der Kapitalmarkt durch Sparprozesse angereichert werden. Sonst werden wir aus dieser Misere kaum herauskommen.Eine Veränderung des Preisfächers infolge Vollbeschäftigung, Übernachfrage und Hochkonjunktur ist unvermeidlich, und, meine Damen und Herren, das Marktgesetz, daß bei steigender Nachfrage die Preise steigen, können wir nicht abschaffen. Wir können nicht immer den Nutzen der Wettbewerbsordnung für uns in Anspruch nehmen, aber dann, wenn es uns an einer Ecke einmal nicht paßt, sagen, so hätten wir es nicht gemeint. Oder aber wir verlieren die Vollbeschäftigung und bekommen Erwerbslose wie die Vereinigten Staaten. Ich glaube aber nicht, daß es in diesem Hohen Hause jemanden gibt, der das im Ernst anstrebt.Es wird immer wieder darauf hingewiesen — auch in dieser Debatte ist das schon zweimal geschehen —, daß es in den USA nicht solche Preisveränderungen gebe. Auch der Herr Bundeswirtschaftsminister hat mit Recht angeführt, daß die Veränderungen von 1960 auf 1965 in den USA im Durchschnitt 6,9 betragen, während sie sich bei uns auf 15,8 % belaufen. Auch da sagt man einfach: In den USA gibt es solche Veränderungen nicht wie bei uns, also ist es bei uns Mist! Warum aber gibt es in den USA nicht Veränderungen dieses Ausmaßes? Nun, das Bruttosozialprodukt ist in den USA von 286 Milliarden Dollar im Jahre 1950 auf 585 Milliarden Dollar im Jahre 1963 gestiegen, also um 104,6 %. In der Bundesrepublik ist .das Bruttosozialprodukt von 98 Milliarden DM im Jahre ,1950 auf 377 Milliarden DM im Jahre 1963 gestiegen, also um rund 285,4 %. Der durchschnittliche Brutto-Stundenverdienst eines Industriearbeiters ist in den USA von 1,44 Dollar im Jahre 1950 auf 2,46 Dollar im Jahre 1963, also um 70,8 % gestiegen. In der Bundesrepublik ist der Stundenlohn von 1,41 DM im Jahre 1950 auf 3,79 DM im Jahre 1963, also um 168,8 % gestiegen. Die Gegenüberstellung ergibt also: Bruttosozialproduktanstieg +104/+285, Lohnanstieg +70/+168. Glauben Sie nicht, daß es geradezu eine Selbstverständlichkeitist, daß die Veränderungen des Preisfächers in einer Volkswirtschaft, die sich um so viel weniger expandiert hat als die unsere, anders sein müssen als bei uns?! Außerdem gibt es ja in den USA keine Vollbeschäftigung, sondern immerhin noch 4 Millionen Erwerbslose.Ich bin also der Meinung: Man sollte durchaus alle Tatbestände erwähnen; aber man sollte ihnen auf den Grund gehen, bevor man sie einer Regierung politisch-propagandistisch um die Ohren schlägt.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn alle in Deutschland, insbesondere die Sozialpartner, entweder eine vollkommene Atempause einlegten oder ein Jahr lang mit sehr geringen Veränderungen arbeiteten. Daran würde niemand ernsten Schaden nehmen. Das wäre eine Besinnungspause, in der wir den Haushalt in Ordnung bringen könnten und in der die Wirtschaft und alle etwas Ruhe hätten.
Ich möchte mir erlauben, diesen Appell, von dem ich weiß, daß seine Befolgung für den einen oder anderen ein Opfer bedeuten wird, an alle zu richten, weil ich glaube, es ist an der Zeit, daß das deutsche Volk sozusagen einmal einen Reistag einlegt.
Herr Kollege Schiller hat preispolitische Ziele genannt, und ich gebe zu, ich bin mit seinen preispolitischen Zielen ziemlich einverstanden.
Aber ich glaube, hier ist es ein bißchen so wie auch sonst in der Adventszeit: da schreiben alle großen und kleinen Kinder Wunschzettel, aber das Christkind bringt nicht alles. Ich bin also mit Herrn Schiller völlig der Meinung, daß es gut wäre, wenn aus den 4 % Preissteigerung 3 °/o würden und aus den 3 % dann 2 N. Waren .Sie es oder Ihre Fraktionskollegen, die einmal gesagt haben, wenn Sie an die Macht kämen, würden Sie für 1 % sozusagen garantieren wollen. Na — auch um den Preis möchte ich das nicht erleben.
Wie wollen Sie denn das machen, Herr Kollege Schiller? Das ist doch ein Wunschtraum! Wie wollen Sie denn zwingend erreichen, daß jedes Jahr 1 % heruntergeht? Sagen Sie mir doch einmal, wie das in freiheitlicher Ordnung in einem Teil des Gemeinsamen Marktes und bei der Tatsache, daß die Konkurrenten auf den Weltmärkten auch noch mitreden — erstaunlicherweise —,
zugehen soll. Solche Forderungen dem Lieschen Müller vorlegen, heißt doch — ich bitte um Entschuldigung —, mindestens unbewußt bei diesen Leuten einen falschen Eindruck erwecken zu wollen; denn Sie wissen, daß das auch nicht möglich ist, aber diese
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Dr. BurgbacherLeute hoffen dann, daß es so sein könnte, während es eine Illusion ist.
Keiner in der Welt hat das bis jetzt geschafft. Keiner!
Ich bin bescheidener mit meinen Zitaten, ich gehe nicht zu Brecht und Schopenhauer, ich gehe nur zu Neckermann und sage: aber Schiller macht's möglich!
Auch auf die Gefahr hin, daß ich jetzt bei der Opposition aultalle, möchte ich mich dem Appell des Bundeskanzlers anschließen, dem Appell zu einer Stunde Mehrarbeit, mit dem er aber gemeint hat, dab Jeder von uns — jeder von uns! — eine Stunde — oder symbolisch: die Stunde ist auch ein Symbol —
noch mehr arbeiten soll.
— Lieber Herr Wehner, schonen Sie doch Ihre Nerven, seien sie doch ruhiger!
Die eine Stunde ist als Symbol genannt. Gemeint ist: mehr arbeiten von uns allen. Denn es ist doch nicht zu bestreiten, daß diese eine Stunde Mehrarbeit 4b0 0U0 Aroeitskrafte und 10 Milliarden Bruttosozialprodukt mehr bedeutet. Das ist doch in einer Diskussion, in der wir um einige hundert Millionen, um Stabilitat ringen, kein Katzendreck; entschuldigen Sie den Ausdruck, ich nehme ihn zurück.
Das kann man doch nicht einfach als eine dumme Redensart vom Tisch wischen. Daß sowieso länger gearbeitet wird, als in den Tarifverträgen steht, Herr Wehner, das weiß ich, und das möchte ich Ihnen ausdrücklich bestätigen.Nun muß ich etwas über Energiewirtschaft einblenden. Zunächst möchte ich feststellen, daß die Bundesregierung die einmal gegebene — nicht juristische, aber materielle — Zusage, der Kohle die echte Chance zu geben, 140 Millionen Tonnen pro Jahr zu verkaufen, bis zu diesem Jahr trotz aller Schwierigkeiten eingehalten hat. Dabei ist zuzugeben, daß das Ergebnis nicht durch ein, sagen wir einmal, festes Energiekonzept, sondern durch eine Summe von Mitteln, die jeweils sorgfältig geprüft und angewandt wurden, zustande gekommen ist. Wie der Herr Bundeswirtschaftsminister gesagt hat, sind alle Verantwortlichen — oder: alle, die sich verantwortlich glauben — der Meinung, daß diese Menge bei der gegebenen Marktlage nicht mehr aufrechterhalten werden kann und daß außerhalb des Rationalisierungsverbandes noch 15 Millionen Tonnen durch Stillegung und sogenannte Quotenvernichtung echt vom Markt verschwinden sollen. Das geht aber nur, meine Damen und Herren, wenn nicht nur das geschieht, sondern auch überlegt wird, wie die dann verbleibenden 120 oder 125 Millionen Tonnen einigermaßen marktgerecht bleiben können. Dazu gehört eventuell auch die Novellierung unseres Gesetzes über die Verstromung der Kohle.Jetzt spreche ich als Fritz Burgbacher, nicht für die Fraktion. Wenn man Zechen stillegt, ist es natürlich unsinnig, die Heizölsteuer degressiv zu lassen. Die Degression der Heizölsteuer muß verschwinden.
Jetzt wird es ganz persönlich: Von mir aus kann dieRegierung auch von der Möglichkeit der Erhöhung,die sie gesetzlich in der Hand hat, Gebrauch machen.Nebenbei bemerkt: Für Energie-Importe geben wir zur Zeit in unserer Zahlungsbilanz knapp 3 Milliarden DM pro Jahr aus. Es fängt ja wieder an, etwas vornehmer zu werden, über Devisen zu sprechen.Dann meinen wir, daß die sogenannte Selbstbeschränkung des Öls, die bisher nicht gegriffen hat, verschärft werden muß. Wenn das nicht geht, dann kommt eines Tages die Kontingentierung oder Lizenzierung. Ich möchte ausdrücklich sagen: Das Bundeswirtschaftsministerium hat sich in der Frage der Selbstbeschränkung eine ungeheure Mühe und Arbeit gemacht. Die großen Ölgesellschaften haben auch versucht, sich daran zu halten. Die Störungen kommen von den Kleinen, von den Newcomers, von den Outsiders. Aber woher die Störung kommt, ist schließlich egal. Entscheidend ist, ob die Selbstbeschränkung funktioniert oder nicht funktioniert.Diese Dinge muß man im Zusammenhang sehen. Die Arbeitskräfte für die 15 Millionen t, ungefähr 45 000 Bergarbeiter, die sehr großen Gelände, die die Zechen haben, sind nach unserer Auffassung dann ein geeignetes Instrument für die Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen. Die Regierung Nordrhein-Westfalens muß sich rechtzeitig, Zug um Zug, etwas einfallen lassen, um andere Industrien auf diese Flächen und damit die Bergarbeiter in ihren Wohnungen nahtlos in Arbeit zu bringen. Das ist zur Zeit das Programm. Für meine Person muß ich deutlich sagen: Das Programm besteht nicht allein in der Stillegung von 15 Millionen t, sondern es besteht auch in einem gewissen Schutz der verbleibenden 125 Millionen t.Was der Herr Bundeswirtschaftsminister gesagt hat, kann ich als Mitglied des Europäischen Parlaments und als Vorsitzender des Energie-Ausschusses dreimal unterstreichen. Die Verfasser der Pariser Verträge für die Montanunion konnten sich Kohleüberfluß überhaupt nicht vorstellen. Sie haben nur an Kohlemangel gedacht. Das waren alles keine Dummköpfe, sondern sehr kluge Leute. Nun haben wir den Kohleüberfluß. Übrigens in Klammern bemerkt: Innerhalb von eineinhalb Jahren hat das Europäische Parlament über Kohlemangel und über Kohleüberfluß beraten. Man sollte deshalb etwas vorsichtiger sein in der Meinung, daß das, was heute auf dem Gebiet Öl-Kohle de facto vor sich geht, für ewige Zeiten verbrieft sei.
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Dr. BurgbacherWir haben auf diesem Gebiet gerade dieses eine Wunder: innerhalb von eineinhalb Jahren vom Mangel zum Überfluß.Nun hat man in die Pariser Verträge hineingeschrieben: Die Kohle muß redlich verteilt werden über die Sechs. Bei meinen Verhandlungen in Italien habe ich die Italiener gefragt: Wollt ihr auf diese redliche Verteilung verzichten? Nein, haben sie gesagt; wenn irgendeine Krise oder sonst etwas eintritt, müssen wir unsere Kohlenquote wieder von euch fordern. Das trifft sich mit dem Herrn Bundeswirtschaftsminister. Darauf habe ich dem Herrn Minister Colombo, der damals die Verhandlungen geführt hat, gesagt: Dann müssen Sie auch im Verhältnis der Quoten bezahlen, sonst bekommen Sie kein Gramm Kohle, auch wenn bei Ihnen Gott weiß was los ist. Es ist absolut richtig, alles das auch in den europäischen Zusammenhang zu stellen.Am Rande will ich noch bemerken, daß wir jetzt Zechen stillegen, die in den übrigen fünf Ländern der Gemeinschaft zu den Spitzenzechen gehören.Der Anteil der Bundesrepublik am Weltexport betrug 1955 6,6% und 1964 9,5%. Im gleichen Zeitraum mußten die USA und Großbritannien Einbußen hinnehmen, nämlich von 16,6 auf 15,3 % bzw. von 9,1 auf 7,2%. Unser Anteil an den Importen ist von 5,8 % auf 8,1 % im Jahre 1964 gestiegen und wird dieses Jahr wahrscheinlich leider — in diesem Falle leider — noch mehr steigen.Aus der Zahlungsbilanz ist folgendes zu sagen. Der Negativsaldo bei den Reisedevisen beträgt 3 Milliarden DM pro Jahr. Die Überweisung der Gastarbeiter nach Hause machen 1,6 Milliarden DM aus. Die Zinsverpflichtungen aus ausländischen Investitionen kann man nur schätzen; ich habe sie mal auf eine Milliarde DM geschätzt. Dann kommen die Energieimporte mit 2,7 Milliarden DM und die Verteidigungsaufträge. Da ist also gar nicht so viel Luft drin, wenn man nicht unsympathische Eingriffe vornehmen will.In der Diskussion ist auch von den Schulden der öffentlichen Hand gesprochen worden und manchmal so, als ob sie eine große Sünde wären. Es kommt darauf an, wofür. Die Amerikaner, die jetzt ein Bruttosozialprodukt von 600 Milliarden Dollar haben, haben eine Staatsschuld von 300 Milliarden Dollar, also von 50 % eines Bruttosozialprodukts. In der Bundesrepublik beträgt das Bruttosozialprodukt rund 400 Milliarden DM. Die Verschuldung der öffentlichen Hände beträgt 75 Milliarden DM. Wenn man noch andere Schulden, die man den öffentlichen Händen zurechnen kann, hinzunimmt, kommt man auf ungefähr 100 Milliarden DM. Das sind also 25 % eines Bruttosozialprodukts. Nebenbei, die Auslandsverschuldung der Bundesrepublik selbst beträgt keine 4 Milliarden DM.Über den Unterschied zwischen der klassischen Inflation und unseren heutigen Preissteigerungen habe ich gesprochen. Ich glaube, da sind wir nicht verschiedener Meinung. Hier habe ich den Mut, einen persönlichen Wunsch vor dem Hohen Hause auszusprechen. Ich würde mich freuen, wenn man sich entschließen könnte, an Stelle von Inflation vonPreissteigerungen zu sprechen. Das ist nicht nur ein Streit um Worte. Ein ganzer Teil der Übernachfrage lebt aus dem Hintergrund des Wortes „Inflation".
Es wäre gut, wenn wir uns der psychologischen Verantwortung bewußt würden. Herr Kollege Schiller hat sich gestern zeitweise als Psychoanalytiker betätigt und wird mir hoffentlich bei dieser psychologischen Würdigung recht geben. — Na?
Unsere Parolen darf man wohl wie folgt zusammenfassen: Wachstum bei stabilen Preisen; da begegnen wir uns, Herr Kollege Schiller, in der Ablehnung der Deflation. Das Rezept ist also: ausgeglichene Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden, von Unternehmen und von Bürgern — wobei ich bei den Bürgern die Sparrate meine —, Atempause bei Löhnen und Preisen. Auch möchten wir alle deutschen Unternehmen aufrufen, die Beanspruchung des Kreditmarkts oder der Preise zu mildern und ihre Eigenkapitalbasis zu erhöhen durch Auflegung von klein gestückelten Aktien, die wir gelegentlich Volksaktien nennen. Wir möchten, daß alle Bürger in noch stärkerem Maße am Produktivitätsvermögen in irgendeiner Weise beteiligt sind. Dabei deckt sich das sozialpolitische Ziel mit dem volkswirtschaftlichen und dem finanzpolitischen völlig. Ich weiß, daß das nicht bei allen Unternehmen möglich ist, weil manche feste Familienverhältnisse oder feste Beteiligungsquoten haben; es ist aber bei sehr vielen möglich. Ich persönlich bin auch der Meinung, daß der Markt trotz der Enge, die er sonst heute hat, für solche Kleinaktien relativ offen ist. Auch diese Forderung liegt im Interesse unserer Eigentumspolitik; sie liegt aber auch auf der Linie der Anreicherung des Kapitalmarkts durch Konsumverzicht, des Rückgangs der Nachfrage und der Stärkung des Kapitalmarkts.Nur zur Prüfung möchte ich einen weiteren Gedanken äußern, weil es sich hierbei um eine sehr schwierige Angelegenheit handelt. Er ist schon einmal erörtert worden, ist dann aber wieder fallengelassen worden; ich meine die Einführung des gespaltenen Einkommensteuersatzes für Konsumeinkommen oder Investiveinkommen. Es ist eine sehr schwierige Überlegung, wie wir die Sache in Angriff nehmen können, ohne daß der Haushalt erneut in Gefahr kommt. Wir sollten uns die Angelegenheit aber doch vornehmen; denn ich bin davon überzeugt, daß hier sehr viel drinliegt.Die meisten der von Ihnen, Herr Schiller, vorgetragenen Punkte — auf die ich jetzt nicht näher eingehen will — hätten auch von uns geschrieben sein können. Warum haben Sie eigentlich diese relativ klugen Punkte in ein sozialistisches Kampfpapier eingewickelt?
— Ich kann Sie leider nicht hören, Herr Wehner; ich würde Ihnen sonst gern antworten.Übrigens, Herr Kollege Erler, Sie haben gestern dem Herrn Bundeskanzler vorgeworfen, daß er sein Regierungsprogramm vorveröffentlicht habe. Sie
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Dr. Burgbachermüssen mit Ihrem Kollegen Schiller sprechen, dessen Ausführungen gestern auch keine Uraufführung waren.
Das war die wörtliche Wiedergabe seines Pressegesprächs vom 14. September 1965; die wörtliche Wiedergabe, hier habe ich sie. Ich habe nämlich alles von Ihnen Erreichbare zusammengesucht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Kollege Burgbacher, würden Sie daraus vielleicht den Schluß ziehen, daß die Sozialdemokraten in der Debatte bewiesen haben, daß Sie auch nach der Wahl zu dem stehen, was sie vor der Wahl verkündet haben?
Das ist eine richtige Frage;
aber das ist nicht meine Frage. — Das ist genauso eine Vorveröffentlichung vor dem Parlament wie die Regierungserklärung. Daß Sie als Opposition, nachdem Sie vor der Wahl viel versprochen haben, was Sie in der Regierung nicht zu halten brauchen, bei dem bleiben können, was Sie vorher gesagt haben, ist auch kein Kunststück.
Was Sie, Herr Kollege Schiller über Mitbestimmung gesagt haben, sollte geprüft werden. Sie werden sich sicher noch an Ihren Aufsatz aus dem Jahre 1952 erinnern,
in dem steht, daß die Forderung nach inner betrieblicher Mitbestimmung als ein Ersatz für die Sozialisierung anzusehen sei. War es derselbe?
Das ist ein beachtenswerter Aufsatz, und ich zitiere ihn positiv: „Thesen zur praktischen Gestaltung unserer Wirtschaftspolitik aus christlicher Sicht im Jahre 1952". Den Auführungen des Kollegen Schiller zu diesem Thema habe ich nichts hinzuzufügen. Daß das Thema zu der Regierungserklärung gehört, habe ich vorhin schon gesagt.
Sie haben ein Wort gesagt: „Ihr Tisch ist nicht unser Tisch".
— und nicht unser Tisch.
— Nein, nein, Sie haben sagen wollen: Seht mal schön, wie ihr da herauskommt; uns geht das nichts an. Sie haben doch so schlechte Erfahrungen mit dem Wörtchen „nein" gemacht; warum wollen Sie es wieder aus der Mottenkiste herausholen?
— Das war das Zitat von Bert Brecht. Professor Freud würde Überlegungen darüber anstellen, welche psychoanalytischen Zusammenhänge zwischen diesem Nein von Bert Brecht und dem Nein der SPD in den vergangenen Jahren bestehen.
Warum lieben Sie das Wort Nein so sehr? Wollen
Sie als Opposition nicht einmal sagen: Wir auch, ja
— aber anders!
Bitte, Herr Abgegeordneter Erler!
Glauben Sie, Herr Kollege Burgbacher, daß die Taktik „Wir auch, ja — aber anders" die ungeteilte Zustimmung Ihres Kollegen Barzel fände, der doch nach mehr Opposition gerufen hat?
Der Kollege Barzel, für den ich nicht die Vollmacht habe zu antworten, wird alles, was an konstruktiven Vorschlägen von Ihrer Seite kommt, gewissenhaft prüfen und wird keine Hemmung haben, dafür, wenn es gut ist, einzutreten.
— Die Vorschläge in dem Papier waren ganz gut
— jetzt will ich ihm die Freude nicht nehmen, daß ich gesagt habe, sie seien gut —, es fehlten aber die Ausführungsmöglichkeiten.Stärkung des Kapitalmarktes; die Präsidenten sollen sich zusammensetzen! Meinen Sie denn, daß damit das Kapital plötzlich vom Himmel herunterregnet, weil die Präsidenten in einer Kommission zusammensitzen?Sehen Sie, Herr Kollege Schiller, hier sind wir an einem wichtigen Punkt. Sie haben gestern ein für meine Begriffe überdimensionales Zutrauen zu den Begriffen „Planung" und „Institutionen" gezeigt. Jeder hat seine Vergangenheit, und keiner hat alles vergessen; das ist ja ganz klar. Aber ist diese Vorliebe — Sie haben X Räte empfohlen — für Planung und Institutionen nicht noch ein Rest des alten sozialistischen Denkens?
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Dr. BurgbacherIst das nicht sozusagen der Rest der Planwirtschaft— oder wie ich das nennen soll?
Ich habe versucht, Ihnen zu beweisen, daß die Preisdynamik, die wir so ernst nehmen, von unzähligen Faktoren abhängig ist. Ich finde es lebensfremd, nun zu glauben, eine Kommission oder ein Rat könnte das ändern. Nehmen Sie es mir nicht übel, das kann ich einfach nicht verstehen.
Dann haben Sie die formierte Gesellschaft lächerlich gemacht.
— Ich bin bald fertig. Ich spreche nicht länger als andere auch.
Sie haben dann von der Gemütlichkeit gesprochen. Sie haben die formierte Gesellschaft als formierte Gemütlichkeit bezeichnet. Wenn ich jetzt ein bißchen polemisch sein wollte, dann müßte ich Sie fragen, ob Ihr politisches Ideal die Ungemütlichkeit ist;
aber das tue ich nicht, weil mir das zu billig ist.
Aber genauso billig war auch das Wort von der Gemütlichkeit.
Sie haben an sich ganz recht, wenn Sie angedeutet haben, daß der Herr Bundeskanzler jetzt sozusagen in eine weitere Phase seines erfolgreichen politischen Lebens tritt und — außer den bisherigen Grundsätzen — nunmehr auch zum Menschen vordringe. Das ist doch ein ehrenhafter Standpunkt eines Bundeskanzlers. Was versteht er unter der formierten Gesellschaft? Darunter versteht er doch vor allem eine Gesellschaft in Harmonie, wo nicht die einzelnen Interessengruppen wie wilde Tiere bei der Fütterung sich den größten Fetzen aus dem Fleisch reißen wollen,
sondern wo in friedlicher Zusammenarbeit und Harmonie das Bruttosozialprodukt sozusagen verteilt wird, wenn ich das Wort gebrauchen darf.
Mir ist bei dieser Debatte ein Wort des indischen Philosophen und Dichters Rabindranath Tagore eingefallen, der gesagt hat: Das Wesen der Gemeinschaft besteht nicht in Einförmigkeit, sondern in Harmonie. — Das ist das Ziel des Bundeskanzlers.
Das Wort hat der Abgeordnete Starke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es wäre verlockend, jetzt auch noch einiges zu den Ausführungen von Kollegen Burgbacher zu sagen. Er hat eine Fülle von Fragen angeschnitten, über die wir uns sicherlich in nicht allzu ferner Zeit hier im Hause einmal unterhalten werden. Er hat die Frage angeschnitten, wie die Investitionen finanziert werden sollen. Im Zusammenhang damit sprach er von dem Gemeinschaftswerk. Das wird man hier erörtern müssen, wenn die Vorschläge für die Finanzreform vorliegen; deshalb sollten wir uns das jetzt vielleicht schenken. Ich bin nicht so ganz sicher, Herr Kollege Burgbacher, daß die von Ihnen in Gedanken erörterte Lenkungsstelle für öffentliche Investitionen für die Konjunkturpolitik sehr gut zu verwenden wäre. Diesem Irrtum fällt man so leicht anheim; Sie haben ihn auch bei der SPD erwähnt. In Zahlen sieht das so schön aus. Aber es schlägt sich doch dann nieder beim Brückenbau, beim Bau eines Krankenhauses oder dergleichen in der Gemeinde oder in einem Land.Ich gestehe offen, daß mir die Preisentwicklung manchmal etwas mehr Sorgen macht; Herr Burgbacher möchte die Gefahren hier nicht so wahrhaben. Auch darüber werden wir sicherlich einmal sprechen.Natürlich stehen wir voll und ganz hinter Ihren Vorstellungen, Herr Kollege Burgbacher, von einer Besinnungspause. Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß ich das 1961/62 schon einmal versucht habe. Sie wissen, daß das sehr schwer durchzusetzen ist. Es kommt dann der berühmte Nachholbedarf — und damit Ansprüche an das Sozialprodukt — derjenigen, die glauben, sie seien bisher zu kurz gekommen.Gestatten Sie, daß ich jetzt mit einigen Bemerkungen auf die Ausführungen des Herrn Kollegen Schiller eingehe. Er hat gestern in seiner Jungfernrede— wie er betont hat — zu einer Reihe von Problemen Stellung genommen. Ich gestehe offen, daß ich die sachliche Alternative, Herr Kollege Schiller, die Sie geben wollten, vermisse. Ich habe sie nicht gehört. Der Herr Kollege Burgbacher hat bereits gesagt, daß die Kritik, die sehr reichhaltig bemessen war, den wesentlichen Inhalt Ihrer Ausführungen ausgemacht habe. Ich würde es sogar so ausdrücken: Sie haben sehr beckmesserisch Mängel der Regierungserklärung erwähnt. „Beckmesserisch" sage ich deshalb, weil eben die sachliche Alternative hinterher fehlte.
— Ich weiß nicht, ob Sie Herrn Burgbacher ganz richtig verstanden haben. Ich habe ihn anders verstanden.
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160 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Dr. Starke
— O ja, Herr Schmitt-Vockenhausen, ich werde darauf eingehen.
— Nun, ich habe bisher noch nicht so sehr lange gesprochen, im Verhältnis zu Herrn Burgbacher bis jetzt noch sehr kurz.Also beginnen müssen wir nun einmal mit 1964, das ist mir ein sehr wichtiges Anliegen. Dabei bin ich in einer Schwierigkeit. Der Kollege Schiller war im Sommer 1964 noch nicht hier. Aber beginnen muß man mit dem Sommer 1964. Das, was Sie zum Sommer 1964 vorgebracht haben, Her Kollege Schiller, kann man einfach nicht sagen. Herr Burgbacher hat es mit Recht beanstandet. Nehmen Sie sich einmal das Protokoll über die Sitzung des Bundestages vom 25. Juni 1964 vor! Damals hatten wir eine große Konjunkturdebatte. Wenn man das mit Ihnen Punkt für Punkt durchginge, könnten Sie gar nicht halten, was Sie gesagt haben. So leicht kann man sich das nicht machen, auch wenn Sie seinerzeit nicht in diesem Hohen Hause waren.
— Gewiß, Herr Wehner, ich werde es gleich tun.
— Ich spreche im Augenblick zu Herrn Schiller.Sie haben gesagt, die Regierung habe nichts getan, die SPD habe damals ein Programm gehabt. Herr Burgbacher hat es Ihnen ja schon vorgehalten. Sie haben dann davon gesprochen, daß man bewußt die Preise und Löhne an das Ausland angeglichen habe, die sogenannte „hausgemachte Inflation".Nun, Herr Kollege Möller hat damals über die hohen Ausgaben der öffentlichen Hand gesprochen. Ich will jetzt dazu nur ein Wort sagen, weil er, wie ich höre, noch sprechen wird. Aber wenn Sie das auf Seite 6537 einmal nachlesen — ich mache das ganz kurz —, dann finden Sie so viele Vorbehalte von Herrn Kollegen Möller bezüglich dessen, was alles noch zusätzlich getan werden müßte, daß natürlich der erste Satz von der Notwendigkeit der Einschränkung der öffentlichen Ausgaben nicht mehr recht glaubwürdig ist. Das ist das eine. Die öffentlichen Ausgaben spielen ja eine Rolle. Das war erst vor einem Jahr. Lesen Sie das Protokoll über die Sitzung vom 25. Juni 1964 auf Seite 6537 noch einmal nach, Herr Kollege Schiller! Sie haben damit begonnen; deshalb muß ich das erwähnen.Ich habe mich gewundert, daß Sie das Gemeinschaftswerk angeführt haben, weil durch die Gedanken, die darin enthalten sind, Steuersenkungen nicht mehr möglich sein werden. Ich bin Ihrer Meinung. Aber daß Sie es tun, —?! Vergessen Sie nicht, Herr Kollege Möller hat vor einem Jahr ganz anders über Steuersenkungen gesprochen!
Lesen Sie das einmal nach! Wir haben mit denSteuersenkungen unter einem ganz erheblichenDruck gestanden. In der deutschen konjunkturpolitischen Situation halten wir sie nach wie vor für richtig. Herr Kollege Möller hat für die SPD mit so viel Vorbehalten davon gesprochen, daß ich mich wundere — oder soll ich sagen: freue? —, daß Sie nach einem Jahr völlig umgeschwenkt sind.
Nun, nachher kam Herr Kollege Kurlbaum, und Sie müssen mir schon gestatten, daß ich dazu etwas sage; denn es geht ja um das Programm. Sie haben hier kurz erklärt: „Die Opposition hatte damals ein Programm, und ich will Ihnen einmal sagen, was alles von dem abgelehnt worden ist, was man etwa tun könnte." Dann ist die Frage: Was bleibt als Programm? Da wurde also zunächst gesagt, daß die Zollsenkungen nicht ausreichten. Schön, natürlich, das kann man sagen. Darauf hat Herr Kurlbaum erklärt — lesen Sie es nach, Herr Kurlbaum, wenn Sie es nicht mehr wissen —: Die Bindung des Bundeshaushalts an den Anstieg des Sozialprodukts sei gar nicht zu verstehen. Es sei nicht zu verstehen, warum man diese Bindung verlange. — Ja, lesen Sie es nach! Ich habe das alles gestern abend nachgelesen, weil Herr Schiller mich darauf gebracht hat.In dieser Situation, in der wir damals waren und heute noch mehr sind, spielt der Anstieg des öffentlichen Haushalts eben leider eine Riesenrolle. Das ist die Schwierigkeit, in der wir uns befinden. Das war 1964 auch schon so.Und dann kommt das nächste. Da wird die Couponsteuer erwähnt. Ja, sehen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie machen sich das sehr leicht! Herr Schiller, Sie haben gesagt: „Dazu komme ich später." Das war das erste. Ich habe bloß meine Notizen von Ihrer Rede; sonst habe ich sie noch nicht gelesen. Später haben Sie gesagt: Ob sie bleiben soll, muß der Konjunkturrat entscheiden. Aber Sie haben nichts dazu gesagt, ob sie richtig oder falsch war. Herr Röpke schreibt gerade in der „Neuen Zürcher Zeitung", sie sei völlig falsch. Nun ja, ich bin nicht ganz seiner Meinung. Ich will Ihnen nur sagen, daß Herr Kurlbaum auch vor einem Jahr nicht mehr dazu beitrug — ich sage das bei aller Freundschaft, Herr Kurlbaum —, als daß er erklärte, sie sei höchst problematisch. Ja, wissen Sie, irgend etwas muß man ja tun, muß die Regierung tun. Sehen Sie, in dem Augenblick, in dem die Opposition das sagte, wirkte die Ankündigung der Couponsteuer schon, als ob sie eingeführt worden wäre. Das darf man doch nicht übersehen. Zugleich hatte die Notenbank — natürlich in Übereinstimmung mit der Bundesregierung — die Mindestreservenpolitik eingeleitet und eine Verweigerung der Verzinsung für Auslandsgelder ausgesprochen. War das gar nichts? Das war sehr viel; es war so viel, daß sich die Dinge dann sehr schnell geändert haben.Sodann steht in der Rede von Herrn Kurlbaum noch: daß sich die Löhne und Preise und die Arbeitszeit im Rahmen des Anstiegs der Produktivität halten sollten — bitte, lesen Sie es nach; da steht es wörtlich —, sei eine Zumutung. — Ja, da weiß ich nicht, was man sagen soll.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 161
Dr. Starke
Es kommt ein weiterer, sehr interessanter Punkt. Gerade kurz vorher war die Gewerkschaftsdenkschrift über die Anhebung öffentlich gebundener Preise erschienen. Da wurde gesagt, die öffentlichen Preise stiegen und dies mache das ganze Unglück aus. — Nein, das ist nicht so, Herr Professor Schiller. Sie wissen es doch ganz genau, und dazu muß man Stellung nehmen. Herr Barzel hat es gestern als ein Strukturproblem bezeichnet. Es geht um die Dienstleistungen, um die lohnintensiven Betriebe. Damit muß man sich beschäftigen. Wenn dann die Preise deshalb, weil sie steigen wollen, durch die öffentliche Hand gebunden werden, müssen Subventionen gezahlt werden. Hier stecken die Probleme.
Ich bedauere, daß Sie, Herr Kollege Schiller, eigentlich auf diese Probleme nicht eingegangen sind. Dort stecken die heutigen Probleme, die offenen Probleme unseres Anstieges der Einkommen, gegen die wir uns gar nicht wenden. Man muß nur die Folgen und die Probleme sehen, die damit kommen.In diesem Programm der SPD wird dann gesagt, die ganzen Bemühungen in der EWG hätten gar keinen Zweck — hier sitzt ja der Bundeswirtschaftsminister —, das komme ja doch alles zu spät. Wörtlich steht das da wieder. Ich kann gar nicht verstehen, was Sie sagen wollen. Was heißt denn das? Der Herr Kollege Schmücker hatte sich bereits im April um die konjunkturpolitischen Vereinbarungen in der EWG bemüht. Das war gar nicht einfach. Natürlich waren sie dazu gedacht, uns in der damaligen Situation zu helfen. Sie haben auch geholfen. Das sehen Sie daran, daß sich die Verhältnisse umgekehrt haben. Jetzt sind wir in der inneren Disziplin nicht mehr ganz so gut wie — — Na ja, das wissen Sie ja. Aber damit, daß man einfach sagt: „Das war nichts", kommt man, glaube ich, eben nicht weiter.Herr Barzel hat also — um nochmals darauf zurückzukommen — von den Schwierigkeiten der Dienstleistungsbetriebe und der lohnintensiven Betriebe gesprochen und diese Sache als Strukturproblem bezeichnet. Heute hat Herr Burgbacher auch wieder etwas dazu gesagt. Ich will den Haushaltsfragen nicht vorgreifen, die sicherlich nachher noch angesprochen werden. Es werden ja noch der Kollege Möller und der Bundesfinanzminister sprechen. Nehmen Sie nur die Agrarpolitik! Die Preise steigen doch nicht deshalb, weil das den Leuten paßt, sondern weil die Kosten steigen und Menschenhand nicht überall durch mechanische Kräfte zu ersetzen ist. Nehmen Sie die Bahn als Dienstleistungsbetrieb, nehmen Sie die Post, nehmen Sie die Behörden! Das sind auch Dienstleistungsbetriebe im volkswirtschaftlichen Sinn. Nehmen Sie die Bauwirtschaft, nehmen Sie die Kohle mit 50'% Lohnanteil; deswegen befindet sie sich in einer katastrophalen Lage. Dann haben Sie schon haushaltsmäßig 3 bis 5 Milliarden an Subventionen, die da drinstecken, die man vielleicht bei einer anderen Gesamtpolitik irgendwie einsparen könnte. Das sind die echten Probleme, um die es hier geht.
In diesen Betrieben steigen die Kosten, weil die Löhne und weil die Soziallasten steigen, die mit den Löhnen gekoppelt sind. Sie wissen, daß hier auch ein ganz besonderes mittelständisches Problem liegt. Auch damit werden wir uns zu befassen haben.Dann ist von dem Importanstieg gesprochen worden. Die Fertigwareneinfuhr ist gegenüber dem Vorjahr um 35%, glaube ich, gestiegen, und zwar deshalb, weil sie vielfach in dem Bereich unserer lohnintensiven Betriebe liegt und dort die Kosten gestiegen sind. In der Tat, wenn man Ein- und Ausfuhr von Fertigwaren und anderen Waren aufgliedert, dann sieht man, daß die Preise für die Exporte bei Fertigwaren stärker gestiegen sind als die Preise für die Einfuhren von Fertigwaren. Wegen dieser Kosten- und Preissteigerungen bei uns haben wir so hohe Einfuhren. Das sind die Probleme dieser Dienstleistungsbetriebe. Das ist das Strukturproblem. Das kann man nicht übersehen.Nun kommt der Clou des Ganzen: Das Programm der SPD bestand außer einigen Dingen auf dem Wettbewerbsgebiet, auf die ich hier nicht eingehen will, darin, daß die Umsatzsteuer im grenzüberschreitenden Verkehr verändert werden sollte, um die Einfuhr zu erleichtern und den Export zu erschweren. Und hier, Herr Kollege Schiller — das haben Sie ja wörtlich erwähnt —, muß ich Ihnen sagen: So geht es auch nicht. Denn das ist damals Wochen und Wochen immer wieder erörtert worden. Sie machen es sich zu leicht. Der Herr Bundeskanzler hat nach diesem Protokoll gesagt — ich erinnere mich noch ganz deutlich —, daß wir es ja nicht nur in der EWG mit der Konkurrenz zu tun hätten, die sich damals in einem Inflationstempo befand, so daß unsere Ausfuhren nach dort sehr stark stiegen, sondern daß wir es auch mit anderen Ländern zu tun hätten, in denen sich die Inflation nicht verstärkte wie z. B. in den USA, wo in dieser Beziehung lange Jahre Stabilität bestand. Und weil man wie bei der Aufwertung, die der Herr Bundeskanzler damals ablehnte, auch bei der Veränderung der Umsatzsteuer im grenzüberschreitenden Verkehr zwar nach Warenbereichen, aber nicht nach Ländern differenzieren kann, haben wir davon Abstand genommen. Das darf man nicht einfach weglassen, und man darf nicht sagen: Ihr habt nichts getan, und wir hatten ein Programm.
— Darüber haben wir damals diskutiert. Herr Kollege Kurlbaum, ich muß einmal sagen, was mir dabei aufgefallen ist. Ich finde nicht, daß es gut ist, wenn man es sich so leicht macht. Wenn hier gesagt worden wäre: Darüber wurde diskutiert, die Regierung meinte das, wir das — schön. Aber wenn Sie einfach sagen: Sie haben gar nichts getan, und was wir vorgeschlagen haben, haben Sie abgelehnt, dann ist das eine Vereinfachung, die mich stört.
Dann haben Sie noch die Frage der Abschreibungen erörtert, und das werden wir auch noch einmal zu erörtern haben. Ich wundere mich natürlich, daß
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162 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Dr. Starke
auf der einen Seite gesagt wurde — so etwas leichthin —, man solle die Sätze der Abschreibungen nach oben bzw. nach unten verändern, und daß andererseits gestern der Herr Kollege Schiller davon sprach, daß man auch die Unternehmerinitiative im Feldzug gegen die Preissteigerungen erhalten müsse. Aber lesen Sie dazu, was der Herr Kollege Kurlbaum im vorigen Jahr dazu gesagt hat.Durch die Notenbankmaßnahmen, durch das Kuponsteuergesetz und eine Reihe von anderen Einflüssen veränderte sich die Lage sehr schnell. Und nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, damit wir uns gar keinem Irrtum hingeben: Von dem Augenblick an, als die Dinge sich veränderten, wurde die innere Disziplin in Fragen der Währung, des Geldes, der Kreditpolitik und der Finanzpolitik wieder ausschlaggebend. Hier setzt dann das ein, was sich im Jahre 1965 begeben hat. Sie haben gesagt, im ersten Halbjahr 1965 seien die Ausgaben zu hoch gewesen. Die Ausgaben stiegen um etwa 12 % und das reale Sozialprodukt um 5 %. Da stehen wir dann in den Ereignissen von 1965. Ich wollte Ihnen erst einmal die Basis entziehen, von der Sie ausgingen: 1964 nichts getan, bewußte Inflation, und ,dann kamen die Folgen. Herr Burgbacher hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Sie die internationale Verflechtung durch die EWG weggelassen haben, in der wir stehen und die weit über das sonstige Maß hinausgeht. Wir haben nicht mehr die alten Grenzen in der EWG, sondern es geht alles offen über die Grenzen, nicht nur Mensch und Waren, sondern auch Kapital und Einflüsse aller Art.Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich noch ein Wort zur Notenbank sagen, weil wir ja wissen, daß die Notenbank damals Maßnahmen getroffen hat, die sich bewährt haben. Wenn wir heute immer wieder kritische Worte über die Notenbankpolitik hören, dann stelle ich zunächst einmal fest — ich glaube, das kann ich, Herr Bundeskanzler —, daß sie im vollen Einvernehmen mit der Bundesregierung handelt. Lassen Sie mich das hier einmal so sagen: Wenn die Notenbank diese Kreditrestriktion im Einvernehmen mit der Bundesregierung für richtig hält und die öffentliche Hand sich in ihrer Finanz- und Haushaltspolitik nicht so verhält, wie es sein sollte, dann muß doch die Schlußfolgerung nicht die sein, daß nun auch die Notenbank einen falschen Weg gehen sollte, vielmehr sollte man sich doch bei der öffentlichen Hand lieber bemühen, den richtigen Weg zu gehen.
Selbstverständlich bin auch ich der Meinung, daß es besser wäre, wenn wir überall, auch in den sozialdemokratisch regierten Ländern und den sozialdemokratisch regierten Städten, eine Politik der öffentlichen Hand hätten, bei der die Notenbank sich leichter täte; denn es wäre töricht, die Probleme auf die Dauer nur durch eine Restriktion bei der Wirtschaft lösen zu wollen. Das ist ja eine der Fragen, vor denen wir stehen.Nun kommt das Jahr 1965. Ich möchte mir erlauben, noch kurz auf das einzugehen — ich habe gehört, daß später noch andere Kollegen dazu sprechen werden —, was Herr Althammer gestern zusammengestellt hat, nämlich diese mühevolle Arbeit, die zeigen soll, wie die SPD sich bei den öffentlichen Ausgaben verhalten hat. Ich will darauf nur noch einmal verweisen. Ich möchte aber auch — Herr Kollege Möller, Sie werden mir das nicht übelnehmen — mit zwei, drei Sätzen sagen: Auch ich war geradezu bestürzt, als Ihre Finanzierungsvorschläge im Sommer 1965 kamen. Diese Veränderungen und diese nicht klare Darstellung, die in der Öffentlichkeit alles Verzerrte, hat — so möchte ich mir einmal erlauben zu sagen — der SPD auch nicht genutzt. Sie hat nicht das Vertrauen erweckt, von dem der Kollege Schiller sprach und sagte, daß man es brauche.
Sie haben eben auf der einen Seite — um es einmal ganz nüchtern zu sagen — den von der Regierung eingebrachten und im Parlament veränderten Gesetzen, zum Teil mit Erhöhungsvorschlägen, zugestimmt — ob das nun 50 oder 60 Gesetze und 6 Milliarden DM Ausgaben sind, spielt gar keine Rolle —, und außerdem haben Sie Ihre 20 Programme vorgelegt und gesagt, Sie könnten sie finanzieren. Wenn jetzt eine Notwendigkeit besteht, Gesetze, die von uns und von Ihnen gemeinsam verabschiedet sind, zu ändern, aufzuheben, zu verschieben, dann sollten wir einmal in den nächsten Wochen und Monaten beobachten, ab Sie etwa alle diese 20 Programme, die Sie vor der Wahl verkündet und von denen Sie gesagt haben, man könne sie 'bezahlen, nun ,auch wieder als Anträge hier einbringen werden.
Das ist nämlich notwendig, um klaren Tisch zu machen.Herr Kollege Schiller ist leider jetzt nicht hier. Ich muß das noch einmal aufgreifen, was Herr Burgbacher schon gesagt hat. Ich habe es nicht verstanden, wenn Herr Kollege Schiller angesichts der Situation, wie ich sie soeben dargestellt habe und von der niemand sagen kann, daß sie nicht gegeben sei, sagt: Das ist „nicht unser Tisch", sondern „Ihr Tisch". Dann müssen wir eben zwei Tische haben, dann bringen Sie Ihre 20 Programme, und wir machen jetzt das Sparprogramm.
Ich warte jetzt darauf, wie Sie vorgehen werden. Ich werde mir erlauben, im Laufe der nächsten Monate noch einmal anzufragen, wie das mit den Programmen steht. Unterdessen werde ich sie einmal sammeln. Ich habe 'sie zwar zu einem erheblichen Teil, aber ich werde sie noch vervollständigen.
— Herr Wehner, da wäre ich Ihnen dankbar; schicken Sie sie mir. Die Hälfte habe ich, die andere Hälfte fehlt mir. Das Zonenrandprogramm habe ich natürlich.
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Dr. Starke
Nun kommt das, was Herr Kollege Schiller bezüglich des Sparprogramms gesagt hat. Das war für mich sehr wichtig, und dazu möchte ich von Herrn Kollegen Schiller noch Einzelheiten hören. Er hat nämlich gesagt: Jetzt fängt die Regierung an zu sparen, wo es für 1966 vielleicht schon zu spät und falsch ist.
Diese Frage der heraufziehenden Krise, die man etwa durch erhöhte öffentliche Ausgaben bekämpfen müsse, würde ich ganz gern geklärt haben.Ich finde also, so sagte ich: man hat es sich dabei ein bißchen zu leicht gemacht. Ohne in die spätere Haushaltsdebatte einzugreifen, muß ich sagen, es ist eben eine alte Krux; die Gemeinden haben nicht genug Geld — auch ich denke so — — ; wir haben die Gemeinschaftsaufgaben, die angesprochen wurden; eine Steuererhöhung soll nicht möglich sein; es muß eine expansive Lohnpolitik betrieben werden, um auf diese Weise die nötigen Sparkapitalien zu bekommen, mit denen sich die Bevölkerung an der Wirtschaft beteiligen kann; wir haben die 20 Programme der SPD, und wir haben die verabschiedeten Gesetze. Das alles zusammen ist eben zuviel auf einmal.Ich glaube — ich habe mir erlaubt, das schon vor einem Jahr in meiner Rede in der Junidebatte zur Konjunktur auszuführen —, es gibt eben drei Aufgaben. Die eine Aufgabe ist die, daß wir unsere Wirtschaft erhalten, ausbauen und entwickeln, weil sie den künftigen Lebensstandard bringen soll. Das Zweite sind die Gemeinschaftsaufgaben, und die dritte Aufgabe sind die Eigentumsbildung und die Verbesserung der persönlichen Situation des Staatsbürgers. Ich habe mir damals erlaubt, zu sagen: es hat keinen Zweck, heute über das fehlende Geld bei der öffentlichen Hand und morgen über die mangelnde Eigentumsbildung beim kleinen Mann zu sprechen. Man muß das im Zusammenhang sehen, und daran scheint es mir bei uns doch immer wieder zu fehlen.Nun muß ich noch auf die „Binsenwahrheiten" eingehen, von denen Herr Schiller gesprochen hat. Ich will hinsichtlich der Mehrarbeit gar nicht auf Einzelheiten eingehen. Ich möchte dem Hohen Hause namens meiner politischen Freunde nur noch einmal sagen: wir sind der Auffassung, daß in der Situation, in der wir uns befinden, angesichts der Zahl der offenen Stellen, angesichts der nicht vorhandenen Arbeitslosigkeit und angesichts von 1,2 Millionen Gastarbeitern in der Tat die Frage der Arbeitszeit im Vordergrund steht. Wir stehen auf dem Standpunkt, daß der Arbeitswille der Menschen, der ja da ist — das wissen Sie wie wir —, auch angesprochen werden soll. Wir werden unseren Gedanken der Lohnsteuerfreiheit der Überstunden weiterverfolgen und unseren diesbezüglichen Antrag wieder im Bundestag einbringen.
Ich gehe nicht auf die Beschwerde des Kollegen Schiller darüber ein, daß das Gutachten des Sachverständigenrates jetzt nicht vorliegt. Ich hätte es auch gern gehabt. Nun werden wir eben im Januar eine gute Debatte darüber haben. Wir werden dann von Herrn Kollegen Schiller nach seiner heutigen Jungfernrede etwas Genaueres, etwas Detaillierteres über die Punkte hören, die ich mir anzuführen erlaubt habe. Darauf bin ich sehr gespannt.Nicht verstanden habe ich die Sache mit dem Sachverständigenrat, der mehr Autorität haben müsse. Da Herr Kollege Schiller nicht im Saal ist, seien Sie doch so freundlich, ihn zu bitten, daß er dazu Stellung nimmt: ob er damit meint, daß wir flexible Wechselkurse einführen sollen. Das war doch der Hauptvorschlag des Gutachterrats. Ich habe sonst nicht verstanden, was „mehr Autorität" heißen soll.Für Gespräche mit den Sozialpartnern sind auch wir. Ich verweise hier wieder auf meine Rede vor einem Jahr. Wir wünschen uns eine ständige Plattform für solche Gespräche, ohne großen Perfektionismus; nicht gleich paritätische Besetzung bis in die Handelskammern, aber ein ständiges Gremium, in dem man über die Dinge spricht. Das verhärtet die Fronten weniger, und das erscheint uns wichtig.Zusammenfassend muß ich sagen — Herr Kollege Schiller hat dazu auch nur in ganz großen Umrissen etwas gesagt, aber auch ich will meine Meinung andeuten —: die mittelfristige Vorausschau haben wir doch jetzt über die EWG. Wir sind daran beteiligt. Dann die Frage der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, einer langfristigen Haushaltspolitik, die Arbeit an der Reichshaushaltsordnung, an dem konjunkturpolitischen Instrumentarium. Ja, da möchte ich Ihnen wie vor einem Jahr sagen — und ich habe ja auch ein wenig Erfahrung aus meiner Tätigkeit als Finanzminister —: wir haben mehr konjunkturpolitische Befugnisse auf Grund von Gesetzen, insbesondere des jährlichen Haushaltsgesetzes, als wir anwenden. Solange das der Fall ist, kann es nicht nur am Instrumentarium liegen. Diesen allzu starken Glauben an Programme, an Pläne, an technische Mittel, an Ausschüsse und Räte teile ich nicht. Ich bin der Meinung, daß alle diese Dinge sein müssen, daß aber der Wille zu politischen Entscheidungen das Maßgebliche ist. Und wenn Sie mir einmal gestatten, das auf Grund meiner geringen politischen Erfahrungen zu sagen: wenn überhaupt etwas gefehlt hat, dann eher politischer Mut als technische Mittel. Insgesamt ist aber doch der Weg, den wir gehen wollen, ein guter Weg. Ich will dabei gar nicht zu den Einzelheiten Stellung nehmen; jeder wird etwas an dem Sparprogramm der Regierung auszusetzen haben, auch ich; darüber werden wir uns unterhalten. Nur müssen wir wissen, daß wir ganz am Anfang stehen. Herr Schiller hat dazu gesagt: Das ist „nicht unser Tisch", das ist „Ihr Tisch". Das halte ich nicht für gut. Wir werden von Ihnen hören müssen, wie es eigentlich sein soll.Zum konjunkturpolitischen Instrumentarium werden wir — das wissen Sie wie ich — eine echte Ergänzung in den Vorschlägen der Kommission für die Finanzreform haben, die sich mit ihren Arbeiten, wie ich hoffe, nunmehr einem guten Ende nähert. Diese Vorschläge werden Befugnisse für die Regierung wie für die Notenbank vorsehen. Damit kann man — ich will jetzt keine Einzelheiten er-
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Dr. Starke
wähnen — wohl einverstanden sein. Kein großes Instrumentarium! Das hat auch Herr Burgbacher gesagt. Nüchterne, ja, beinahe hausbackene Sätze wie die, die Herr Barzel hier gebracht hat, sind manchmal besser als große technische Instrumentarien. Sicher isst es richtig, daß man Ausgabebeschlüsse nur einmal im Jahr, und zwar anläßlich der Verabschiedung des Haushalts, faßt und daß der Haushaltsausschuß mehr eingeschaltet wird.Für nötig halten wir ferner — das ist eine Bitte, Herr Bundeskanzler — einen Finanzplan. Dieser liegt mir, wie Sie wissen, seit 1961 am Herzen. Herr Barzel hat ihn, was wir sehr begrüßen, gestern für die Kriegsfolgeleistungen angekündigt. Wir bitten darüber hinaus um einen Finanzplan für die Legislaturperiode. Er ermöglicht es, Schwerpunkte zu setzen. Ein solcher Finanzplan ermöglicht es, neue Dinge abzulehnen, weil das andere, was man schon in Angriff genommen hat, noch nicht finanziert ist.
Wir werden deshalb die von Herrn Barzel vorgeschlagene Haushaltspolitik als Teil einer konstruktiven Gesamtpolitik mit allen Kräften unterstützen.Jetzt komme ich zu dem Feldzugsplan des Herrn Schiller gegen die Preissteigerungen. Leider ist Herr Schiller nicht da. Nach meinen Notizen muß ich ihm sagen: Dieser Teil hat mich zutiefst enttäuscht. Man hat doch auch selber Überlegungen darüber angestellt, was man tun könnte, und hat geprüft, wo die neuralgischen Punkte sind und wo man nicht weiterkommt. Da heißt es in dem Feldzugsplan gegen die Preissteigerungen zunächst, man müsse das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen. Nun muß ich ehrlich sagen, ich denke da immer an die Wahlergebnisse, und wenn man das tut, dann weiß man, wie es steht. Sie können nicht einfach zwei Monate nach der Wahl sagen, die Politik der Bundesregierung sei völlig falsch, sie genieße kein Vertrauen, und Sie würden das anders und besser machen.
— Nein, Herr Wehner, in diesem Punkte der Regierungspolitik allerdings sind wir nicht nur Teilhaber;da fühle ich mich sogar ein bißchen als Avantgardist.
— Ich weiß nicht, ob Ihnen das Volk all das dankt, was Sie so machen.
— Vielleicht sprechen Sie nachher einmal von hier oben.
- Nein, Herr Wehner, Sie können mich nicht als Interessenten abtun bei dem, was ich sage. Wir sind allerdings gemeinsam Zonenrandinteressenten zum Beispiel!Herr Schiller hat davon gesprochen, es müßten klare quantitative ökonomische Ziele gesetzt werden. Dann kam das berühmte Beispiel mit dem realen Sozialprodukt — wir wissen, wie problematisch das mit der Vorankündigung des realen Bruttosozialprodukts ist, wie es mit dem nominellen ist — das schon einfacher — und mit dem Produktivitätsfortschritt. Man sollte, so sagte er, der Bevölkerung klarmachen, daß nur dann, wenn das eine das andere übersteigt, die Arbeitszeit verkürzt werden könne, sonst nicht. Warum so umständlich? Wir sagen doch ganz nüchtern — und das versteht jeder —: in der Situation kann man sie nicht verkürzen. Das genügt doch!
Daß wir die Preissteigerungsrate auf ein erträgliches Ausmaß zurückführen wollen, ist ebenfalls nichts Neues. Das wollen wir doch auch! Die Frage ist nur, wie man das macht.
— Jeglicher Vorschlag fehlt!Dann heißt es — und jetzt kommt es —: Aber das Bruttosozialprodukt muß um soundso viel steigen. Ich bin im Zweifel, ob ein solcher Satz richtig ist. Ich will ein praktisches Beispiel anführen. Als mein damaliger Kollege, der französische Finanzminister Giscard d'Estaing — ein sehr kluger Mann, mindestens finanzpolitisch; niemand kann bestreiten, daß seine Politik sehr wirksam ist; ich habe sehr oft mit ihm darüber gesprochen — seine Politik begann, mußte er zunächst eines machen, nämlich alle Zahlen des großen Planungsamtes herabsetzen. Das wäre zu dem Vorschlag zu sagen, im voraus festzulegen, welche Steigerung des Bruttosozialprodukts man erreichen will. Da muß man eben revidieren, wenn man sieht, daß die Blütenträume nicht reifen. Ich spreche jetzt nicht vom Haushalt, sondern vom Bruttosozialprodukt.Ich bin auch sehr im Zweifel, ob diese Orientierungshilfen, von denen Herr Schiller sprach, entscheidenden Einfluß auf die Tarifpartner haben würden. Ich komme auf die Tarifpartner gleich noch einmal zurück; das ist nämlich der Kern des Ganzen.Bezüglich folgender technischen Mittel stimmen wir mit Herrn Schiller überein. Das ist heute selbstverständlich: eine allgemeine Deflation rettet uns nicht; davon kann auch keine Rede sein. Aber wir sollten auch nicht von Deflation sprechen in einem Zeitalter der Überbeschäftigung und der Geldentwertung, wie wir es im Augenblick haben; und darüber, daß ein Preis- und Lohnstop uns nicht weiterhilft, sind wir Gott sei Dank — Sie seit dem Godesberger Programm, möchte ich sagen — einer Meinung. Worauf es ankommt, ist, der Bevölkerung auch die Zusammenhänge zwischen Preis und Lohn, Lohn und Preis noch mehr darzulegen.Daß auch wir einen balancierten Finanzplan uns wünschen und haben wollen, habe ich erwähnt. Aber selbst wenn Sie ihn haben — worum ich ringe —, kommt doch das politische Ringen, ob man ihn einhält. Und damit bewegt sich Herr Schiller eben nicht etwa in einem festen Plan, was man konkret tunDr. Starke
soll, sondern er sagt auch nur, genauso wie wir, er würde es versuchen und würde sehen, wie weit er komme.Der Konjunkturrat — nun, ich habe über etwas Ähnliches gesprochen. Nach den Darstellungen, die Herr Schiller gab, wäre das beinahe eine Art Wirtschaftskabinett. Auch dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn man so etwas hätte und es so benennen will.Etwas schwieriger ist es schon mit den Versorgungslücken. Es gibt nämlich in der Landwirtschaft Versorgungslücken, die man nicht ausfüllen kann. Das sehen wir im Augenblick! Das klassische Beispiel sind die Kartoffeln. Wenn wir eine schlechte Kartoffelernte haben, können wir die fehlenden Mengen bekanntlich nicht ersetzen, weil es sie nirgends richtig gibt, insbesondere nicht in der westlichen Welt.Eines aber muß ich sagen — vielleicht hätte man darauf an Stelle von Herrn Kollegen Schiller eingehen sollen —: daß die ganze EWG-Agrarpolitik nicht so ganz glücklich in dieses Konzept eines Feldzuges gegen die Preissteigerung hineinpaßt. Also die Brötchen werden nicht billiger. Herr Kollege Burgbacher, ich bin auch noch nicht so ganz sicher, ob der Anstieg des Handelsverkehrs zwischen Frankreich und uns nun schon die Frage der Getreidepreissenkung abgetan hat; die scheint mir uns noch erheblich im Magen zu liegen.Und nun kommt der Kernpunkt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie sich die Rede von Herrn Kollegen Schiller ansehen, finden Sie etwa als Punkt 8 — so habe ich es mir notiert — die sogenannte Einkommenspolitik. „Einkommenspolitik" ist ein moderner Ausdruck, der über das Wort „Lohnpolitik" hinausgeht und alle Einkommen umfassen soll. Im Europäischen Parlament — die Frau Kollegin kennt das alles sehr genau —befassen wir uns für die Zukunft sehr viel mit diesen Dingen. Insbesondere Ihr verstorbener, von mir hoch geachteter Kollege Deist hat sich darum sehr bemüht. Deshalb kann man so schwerwiegende Probleme, um die wir dort ringen und um die auch Herr Marjolin, der Ihnen politisch doch nicht ganz fernsteht, ringt, nicht so leicht mit der Erwähnung des Wortes „Einkommenspolitik" abtun. Die Einkommenspolitik ist nämlich der Kern des Ganzen. Der Kollege Schiller hat gesagt — und hier hat er sich's am allereinfachsten gemacht —: „Die Einkommenspolitik muß sich in das Rahmenwerk der Gesamtrechnung einfügen" — selbstverständlich reibungslos —, und nun geht's weiter: „ohne daß die Autonomie der Tarifpartner dabei berührt wird"!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da liegt doch alles drin! Das ist doch idas Problem: Wie zwingt man ohne Zwang!
Sie werden jetzt nicht glauben, daß ich die Autonomie der Tarifpartner aufheben will. Nichts liegt mir ferner! Sie bejahen sie auch; Sie haben es gesagt. Wir alle bejahen sie. Aber wir müssen wissen,daß diese Freiheit eben das Ringen mit dem anderen und mit sich selbst erfordert. Es genügt nicht, zu sagen: „Da muß man Einkommenspolitik treiben."Und nun will ich Ihnen noch etwas mehr sagen; das müssen Sie mir gestatten, weil das, was ich zitieren will, auf mich einen tiefen Eindruck gemacht hat. Sehen Sie, Sie sind hier nicht in der Regierung; Sie können leicht solche theoretischen Sätze aufstellen. Im europäischen Parlament sitzt Herr Marjolin als Vizepräsident der Kommission. Nun ist das natürlich keine europäische Regierung. Das würden wir ja auch gar nicht mehr zu sagen wagen. Aber er sitzt dort als Vizepräsident für die Wirtschaftspolitik, sagen wir einmal: als Wirtschaftsminister. Bei uns kann man über so etwas ruhig sprechen, man kann es so ausdrücken. Herr Marjolin — Sie wissen, wo er politisch steht — hat im Januar 1964 gesagt: „So geht das nicht weiter in der EWG". Das war, bevor im April 1964 die Konjunkturvereinbarung kam. Da hat Herr Marjolin eine flammende Rede zur Konjunkturpolitik gehalten. Darüber haben wir voriges Jahr gesprochen. In dieser Rede hat er gesagt, daß es auf eine Einkommenspolitik ankomme, und dann hat er konkrete Vorschläge gemacht, was Herr Kollege Schiller nicht getan hat.Nun erinnere ich mich sehr deutlich, daß die sozialistische Fraktion des Europäischen Parlaments Herrn Marjolin mit dem schwersten Geschütz beschossen hat. Wenn Sie wollen, haben wir darüber eine Debatte. Dann lese ich Ihnen einmal Teile davon vor. Alles, was Herr Marjolin vorschlug, war schlecht. Alles, was Herr Marjolin vorschlug, war gefährlich. Aber was man eigentlich tun sollte bei der „Regierung" , die dort ihre politische Ansicht zur Diskussion stellte, hat man nicht gesagt.Ich habe damals Herrn Marjolin naturgemäß unterstützt, mit vollem Herzen unterstützt, weil das, was er wollte, richtig war: so wie ich mir das auch einmal als Finanzminister gedacht habe.Aber zu sagen: Dann muß man eine Einkommenspolitik machen, die sich reibungslos einfügt, — und wenn sie das nicht tut, ist die Regierung schuld, so geht es eben nicht!
Es tut mir leid, Herr Kollege Schiller ist hinausgegangen, er mußte wahrscheinlich weg. Man kann mir nicht den Vorwurf machen, er sei nicht hier gewesen, er kann es ja auch nachlesen. Ich bin auf diese Dinge bewußt eingegangen; denn das sind Dinge, die er wissen muß, wenn er hier für Sie Wirtschaftspolitik macht.
Sie wissen ja, daß die „Times" geschrieben hat: Da gibt es einen Omnibus, der hat kein Reiseziel. Das war die Bundesregierung. Nun kann man natürlich sagen — und es liegt nahe, das zu sagen —: Sie hat doch ein Reiseziel! Immerhin sind wir bei Ihnen bis zum Godesberger Programm gekommen. Das ist schon etwas. Im übrigen aber bezog sich dieser Satz der „Times" — worauf ich Sie aufmerksam machen darf — nicht auf die gegenwärtig zur
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Dr. Starke
Debatte stehende Politik, sondern auf die Regierungsbildung. Damit will ich nicht sagen, daß es richtig ist, was die „Times" gesagt hat. Ich will nur sagen: Es bezog sich gar nicht auf diese Dinge.Nun sind wir also dabei, wieder einmal die ersten Schritte in Richtung auf ein Sparprogramm zu tun, in eine richtige Richtung. Aber wir stehen erst am Anfang. Es ist eine Politik ohne Illusionen. Wer wüßte das nicht von uns, die wir uns jetzt damit befassen müssen! Ein fester Wille zur Stabilität, eine Besinnung tut in dieser Situation not. Ich möchte Ihnen jetzt noch einmal sagen — so habe ich es vor einem Jahr zusammengefaßt, und ich kann heute nicht mehr sagen —: Eine Marktwirtschaft, die Sie bejahen und die Herr Schiller bejaht, mit ihrem freien Spiel — das wir wollen — braucht einen festen Rahmen in einer Wettbewerbsordnung, und sie braucht einen festen Rahmen in einer straffen, ganz straffen Finanz- und Kreditpolitik. Im vorjährigen Protokoll steht hier: Beifall von Ihnen, Herr Kollege Möller. Sie werden das sicher auch dieses Jahr tun.
Darin sind wir einig.
Nun kommt es auf den Weg an. Herr Kollege Schiller hat uns keinen Weg gewiesen, und ich gestehe Ihnen offen: Das hat mich enttäuscht. Das Sparprogramm steht im Vordergrund. Der Finanzplan über die Kriegsfolgelasten hinaus ist der nächste Schritt. Die Finanzreform mit allen Verästelungen ist der weitere Schritt. Ich bin der Meinung, meine verehrten Damen und Herren in diesem Hohen Hause, das ist unser aller „gemeinsamer Tisch" ; darum werden wir gemeinsam ringen müssen.
Wir von der jetzigen Koalition haben nun einmal schon ab 1949 gute Grundlagen geschaffen. Sie sind so gut, daß wir sie auch jetzt noch nicht ganz haben zerstören können. Das weiß die Bevölkerung. Sie dürfen nicht nur bestimmte Dinge von heute kritisieren, sondern Sie müssen insgesamt sagen, wie alles laufen soll. Darauf wird es ankommen. Wir ringen genauso um das Vertrauen in der Bevölkerung. Aber ihre wirtschafts- und finanzpolitische Alternative habe ich vermißt.Herr Kollege Schiller, Sie sind leider jetzt erst wieder hereingekommen. Was Sie jetzt gehört haben, war nicht alles, was ich gesagt habe. Glauben Sie nicht, daß ich das bloß so zusammenfasse! Ich sage noch einmal: Nicht nur Ihre Kritik hat mich enttäuscht — sie ist Ihr gutes Recht, und sie ist auch nützlich und gut —, mich hat auch das eine enttäuscht: Sie haben nicht kritisiert, was sich augenblicklich hier und da abspielt, sondern Sie haben in dem Duktus Ihrer ganzen Ausführungen gewissermaßen durchschimmern lassen, Sie hätten den richtigen Weg und Sie hätten — deutlich für mich — ihn auch schon immer gehabt. Das möchten wir gern von Ihnen noch einmal deutlicher hören,
wie man zu der heutigen Situation unseres Volkes schneller und besser hätte kommen können. Dann kommt das zweite, wie man das, was man hat, erhält. Mit Lehrsätzen, gut formuliert, schaffen wir hier in der Praxis keine Grundlage, von der aus man handeln kann.
— Das würde ich noch nicht einmal sagen. Das h wollte ich hier eigentlich stehenlassen.
Herr Dr. Starke, Herr Abgeordneter Wehner möchte eine Frage stellen.
Herr Dr. Starke, weil Sie hier Sätze und die große Praxis der Regierung gegenüberstellen: Würden Sie in diesem Zusammenhang einmal wenn schon nicht sagen, so doch überlegen, wie dann das Verhalten des Bundeskanzlers im August dieses Jahres einzuschätzen war, als der Vonsitzende einer großen Organisation — in diesem Fall war es der Deutsche Gewerkschaftsbund — ihn ersuchte, eine Möglichkeit zu schaffen, daß sich die von der Regierung berufene Sachverständigenkommission gutachtlich zur Preisentwicklung äußert? Ich habe noch im Ohr — und wenn ich es so wie manche von Ihnen machte, läse ich Ihnen diese Sache vor —, wie damals der Bundeskanzler sehr scharf und, wie ich fand, sehr unklug darauf geantwortet hat. Finden Sie nicht, daß hier Ihre Kritik daneben trifft, weil man hier auf Dinge hinzielt — sicherlich auch Schiller —, die man eigentlich machen müßte, weil man sie machen kann?
Herr Kollege Wehner, wir sind da, glaube ich, gar nicht sehr weit voneinander entfernt. Ob es zu jenem Zeitpunkt, einen Monat vor den Wahlen, richtig oder falsch gewesen wäre, das Gutachten der Sachverständigenkommission zu hören, während der Auftrag der Regierung einen Monat oder zwei Monate später ablief, darüber kann man sicherlich streiten. Aber was zutage gefördert worden wäre, wäre doch sicherlich nichts anderes gewesen. Der Herr Kollege Kurlbaum hat vor einem Jahr — Sie müssen entschuldigen, ich habe das heute nacht alles noch einmal nachgelesen; das war eine große Aufmerksamkeit — gesagt: Es hat doch keinen Zweck, immer neue Gutachten und immer neue Geschichten; all das liegt schon lange vor, das wissen wir; nur die Regierung tut nichts!
Daß Sie voriges Jahr nichts vorgeschlagen haben, habe ich vorhin schon gesagt, und daß Herr Kollege Schiller dieses Jahr nichts vorgeschlagen hat, habe ich ebenfalls gesagt. Aber wir werden ja von Ihnen wahrscheinlich noch mehr hören.
— Ja, sicher.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 167
Dr. Starke
Es lag auch ein gewerkschaftliches Gutachten vom Mai 1964 vor. Über das habe ich vorhin kurz gesprochen.
— Herr Kollege Wehner, lassen Sie mich nur diesen Satz zu Ende führen. — Zu dem habe ich auch etwas gesagt. Da hat man auch dargelegt, daß bestimmte Preise -- das waren nämlich wieder die Preise für Dienstleistungen und die öffentlich gebundenen Preise — gestiegen waren. Das wissen wir. Das ist der Ausfluß dessen, was wir alle gemeinsam tun. — Bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich Ihnen noch eine Zusatzfrage stellen, Herr Kollege. Es geht mir jetzt gar nicht darum, zu fragen, ob Sie richtig gehandelt haben. Wäre das, möchte ich fragen, für die Regierung, gleichgültig wie sie zusammengesetzt ist und wie wir sie bewerten, nicht der gegebene Anlaß gewesen, ungeachtet des Wahlkampfs den Tisch zu schaffen, von dem Sie hier immer reden, an dem man nämlich Orientierungshilfen gibt, an dem man Informationen über die Entwicklung gibt, und warum ist das nicht geschehen? Gibt es hier einen Unterschied zwischen Wort und Tat bei der Regierung und ihren Parteien?
Nein, Herr Kollege Wehner, das glaube ich nicht. Für mich ist das ganz ernst. Ich habe das nicht bloß zum Spaß gesagt. Damit sich die Fronten nicht immer so verhärten, bin ich für Gespräche von Sozialpartnern und Regierung, Verbrauchern und Wissenschaft. Nur bin ich gegen die Perfektionierung in der Organisation. Ich bin für Gespräche in loser Gestalt.
Ich darf jetzt einmal aus meiner persönlichen Erinnerung sprechen. Ich denke daran zurück, daß der Bundeskanzler, als er Wirtschaftsminister war, solche Gespräche sehr oft geführt hat. Sehr oft fanden in seinem Hause — ein paarmal bin ich noch dabei gewesen — auch Gespräche mit den Gewerkschaften usw. statt. Ob er jetzt als Bundeskanzler noch solche Gespräche geführt hat, vermag ich im Augenblick nicht zu sagen. Ich habe nur unsere Meinung gesagt — und wir werden dieser Meinung nachgehen —, daß solche Gespräche nützlich sind. Denn es gibt mehr gemeinsame Punkte, als es nach außen manchmal den Anschein hat. Aber es gibt auch neuralgische Punkte, in denen wir uns sehr scharf gegenüberstehen. Das einmal herauszuarbeiten, wäre sicherlich für die weitere Entwicklung nützlich.
Ich fasse jetzt, weil ich Schluß machen möchte und das, was ich sagen wollte, auch gesagt habe, unsere Auffassung in einem Satz zusammen. Wir wollen mehr Wohlstand, wir wollen mehr Möglichkeiten aus unserer Volkswirtschaft in der Bundesrepublik, hier, in diesem freien Teil Deutschlands. Aber wir sagen in unserer Situation: lieber langsam mehr Wohlstand bei stabilem Geld als einen schnellen Wohlstand, einen Scheinwohlstand durch Geldentwertung.
Lassen Sie mich noch etwas sagen; ich tue es zwar an sich nicht gern, aber es reizt doch ein bißchen. Herr Kollege Schiller, Sie haben so nett an Brecht angeschlossen. Wir möchten zu Ihren Ausführungen sagen: „Nein, denn gerade sie waren uns zu allgemein"
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Möller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht weil beim Geld die Gemütlichkeit aufhört, haben wir in den Finanzfragen eine sehr interessante Diskussion, sondern weil sich sicher alle hier im Hohen Hause darüber im klaren sind, daß die geordneten Finanzen Voraussetzung für drei wichtige Punkte im politischen Geschehen sind, nämlich erstens für die Stabilität im Innern, zweitens für beispielhaftes Verhalten gegenüber dem Osten und drittens, um einen angemessenen Beitrag innerhalb des westlichen Bündnisses zu leisten, wobei ich nicht nur an die Rüstung denke. Aber bei dem, was hier von seiten der Regierung, von seiten der Sprecher der Koalition oder der Sprecher der Regierung — das ist dasselbe — vorgetragen worden ist, hat man den Eindruck, als wenn alles in bester Ordnung wäre. Die Regierung hat sich „tadellos" verhalten, die Regierung hat die notwendige „Ehrlichkeit" auch im Wahlkampf dokumentiert,
und nun soll die Opposition aufgefordert sein, ein Programm zu entwickeln, ein Programm insbesondere auch für die finanzielle Situation, für die nun einmal die von Ihnen gewählte Bundesregierung zuständig ist.
An diesen Zuständigkeiten, meine Damen und Herren, können wir nichts ändern. Wenn sich im Laufe der kommenden Monate etwas von dem ändern würde, was wir in den vergangenen Jahren sehr beklagt haben, so würde ich das begrüßen: ich meine eine Änderung des Verhältnisses des gesamten Parlaments zu dieser Regierung. Wenn sich das gesamte Parlament der Kontrollfunktion gegenüber dieser Regierung bewußt wäre, dann, glaube ich, würden wir in den vor uns liegenden vier Jahren bessere Resultate aufweisen können, als es durch das Verhalten der Mehrheit in der 4. Legislaturperiode möglich war.
Am 26. Februar 1965 habe ich als Sprecher der sosialdemokratischen Bundestagsfraktion in .der Haushaltsdebatte den Haushalt 1965 als unsolide bezeichnet. Die Regierungsparteien durften diese Tatsache nicht zugeben. Nun sieht sich der Herr Bundeskanzler endlich gezwungen, seine Sorge um das Problem des Bundeshaushalts 1966 zum Ausdruck zu bringen und die Maßnahmen darzulegen, mit denen ein Haushaltsausgleich wenigstens auf dem Papier konstruiert werden soll. Die Haushaltslage 1966 sieht noch trostloser aus als die des Jahres
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Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller1965, was ja nun auch nicht mehr geleugnet werden kann. Während nämlich der Haushalt 1965 nach der Darstellung der Opposition am 26. Februar 1965 ein Gesamtausgabevolumen von in Wirklichkeit 67 Milliarden DM hatte, .so daß bei der von Regierung und Koalition damals behaupteten rein optischen Abgrenzung von 63,9 Milliarden DM eine Differenz in Höhe von 3,1 Milliarden DM verblieb, und während das Institut „Finanzen und Steuern" in Bonn in seinem „Grünen Brief" vom Januar 1965 die gefährliche Lage des Bundeshaushalts 1965 kennzeichnete, so daß der Herr Bundesfinanzminister Dr. Dahlgrün am 30. April 1965 zugestehen mußte, daß der Haushalt 1966 durch die im Bundeshaushaltsplan 1965 zusätzlich berücksichtigten Ausgaben von 2,5 Milliarden DM über die bereits bestehenden Dauerverpflichtungen hinaus erheblich vorbelastet worden sei, enthält die neueste Regierungserklärung das Eingeständnis, daß im Haushalt 1966 eine Deckungslücke in Höhe von 7,2 Milliarden DM besteht. Allerdings wurde wohlweislich vermieden, diesen Betrag in einer Summe anzugeben.Meine Damen und Herren, Sie dürfen nicht vergessen, daß Sie damals erklärt haben, daß die Zahlungsbilanz der Bundesrepublik Ende 1964 in etwa ausgeglichen sei und daß nach der Schätzung der Deutschen Bundesbank die Zahlungsbilanz der Bundesrepublik in diesem Jahr voraussichtlich mit einem Defizit von 7 Milliarden DM abschließt. Sie haben im Februar 1965 hervorgehoben, daß die Steigerungsrate der Lebenshaltungskosten gegenüber dem Vorjahr von 3 vom Hundert auf 2,3 vom Hundert zurückgegangen sei. In diesem Jahr dürfte der Lebenshaltungsindex etwa um 3,5 vom Hundert steigen. Ich muß hinzufügen, daß der Herr Bundeskanzler für sich in Anspruch nehmen kann, daß es seiner ersten Amtszeit beschieden war, mit Preissteigerungsraten von rund 12 vom Hundert während der vierten Legislaturperiode den höchsten Preisanstieg der Nachkriegszeit mitverschuldet zu haben.
Meine Damen und Herren, daran ändern auch die Ausführungen des Herrn Kollegen Burgbacher überhaupt nichts. Ihm ist noch das Versehen unterlaufen, daß er nicht daran gedacht hat, daß für den Lebenshaltungsindex nicht mehr das Basisjahr 1958 in Frage kommt, sondern durch die Umbasierung das Jahr 1962, so daß die von ihm damit verbundenen Unterstellungen entfallen.Nun hat der Bundeskanzler sein Lippenbekenntnis zur Preisstabilität wiederholt. Herr Kollege Starke, Sie übersehen ganz, daß der Herr Bundeskanzler Vorschläge, wie er die Preisstabilität wiederherstellen will, diesem Hohen Hause nicht unterbreitet hat. Es ist einfach nicht möglich, lediglich zu erklären, daß es neben dem Staat vor allem Arbeitgeber und Gewerkschaften — ich zitiere — „in der Hand hätten, die stabile freiheitliche Wirtschaftsordnung zu erhalten". Die Fachpresse hat dem Bundeskanzler in der vergangenen Zeit wegen seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik bekanntlich ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt. Das Jahr 1965 wird im Zeichen der ersten und zweiten Regierung Erhard als ein Rekordjahr der Preissteigerungen in unsere Geschichte eingehen. Auch die Behauptung des Herrn Kollegen Barzel — ich zitiere wörtlich —: „Unser gutes deutsches Geld muß bleiben, was es ist: eine der stabilsten Währungen der Welt" kann doch die Unterlassungssünden dieser Bundesregierung nicht mehr verdecken.
Es ist unbestritten, meine Damen und Herren, daß die Preiserhöhungen in diesem Jahre in der Bundesrepublik weitaus größer sind als in den anderen EWG-Staaten. Der Bundeshaushalt dieser Koalition hat hierbei gründlich mitgeholfen. Er kann ganz sicher nicht als Anwendung der vom Bundeskanzler so oft zitierten antizyklischen Finanzpolitik betrachtet werden; denn die Bundesregierung hat sich mit ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik so verhalten, als gälte es, die Wirtschaft aus einer Depression durch starke Nachfragespritzen herauszuführen.Lassen Sie mich im Hinblick auf das Wortspiel „Inflation" oder „Preisentwicklung und Preissteigerung" doch einmal festhalten, daß nach der bekannten amerikanischen Statistik im Zeitabschnitt von 1958 bis 1963 von 42 Ländern 17 Länder geringere Preissteigerungen als die Bundesrepublik Deutschland aufzuweisen hatten und daß die Bundesrepublik sich mit England den 18. Platz teilte. Das war fünf Jahre vorher, also in dem Abschnitt von 1953 bis 1958, noch anders; da hatten nur acht Länder eine geringere Entwertung als wir bei der D-Mark. Das muß man auch festhalten. Dabei können Sie nicht übersehen, daß für eine solche Entwicklung die Bundesregierung und die Mehrheit in diesem Hohen Hause verantwortlich bleiben; die Mehrheit hat die Arbeit und das Verhalten der Bundesregierung mit zu verantworten.Dabei ist dann weiter festzuhalten, daß die Bundesregierung die von ihr für den Haushaltsplan 1965 verkündeten eisernen Grundsätze mißachtet hat. Im ersten Halbjahr 1965 leistete sich der Bund eine Ausgabensteigerung von 12 v. H.; für das Gesamtjahr 1965 wird nicht viel weniger herauskommen. Glücklicherweise sind wir bei der Kontrolle der gesamten Ausgabenentwicklung nicht nur auf die Informationen des Herrn Bundesfinanzministers angewiesen. Nach den Angaben der Deutschen Bundesbank liegen bereits die monatlichen Zahlen über die Entwicklung des Bundeshaushalts bis zum Oktober 1965 vor. Danach sind die Zuwachsraten der Kassenausgänge für den gesamten Zeitraum Januar bis Oktober 1965 um 11,5 v. H. höher als 1964.Was hat die Bundesregierung gegen die Tatsache ins Feld zu führen, daß der Bundeshaushalt zum stärksten Inflationsherd des Jahres 1965 geworden ist? Die Maßhalte-Bundesregierung hat eine prozyklische Finanzpolitik betrieben, und zwar ohne jede Rücksicht auf die Konjunkturlage und die Beschleunigung in der Steigerung der Inflationsraten. Das Haushaltssoll hat sich für 1965 zu einer imaginären Größe verflüchtigt. Wer ist noch naiv genug, für 1965 mit einem Ausgabenvolumen von 63,9 Milliarden DM zu rechnen? Nach der Zuwachsrate der tatsächlichen Kassenausgänge für die ersten zehn Monate von 11,5 v. H. würden die Gesamtausgaben
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Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerfür das laufende Haushaltsjahr 67 Milliarden DM betragen. Selbst wenn man für die beiden letzten Monate mit einem scharfen Einbruch in der Ausgabenentwicklung rechnet, wird das Haushaltsvolumen etwa um 66,5 Milliarden DM liegen. Diese Überschreitung, deren Entwicklung die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bereits in der Haushaltsdebatte am 26. Februar 1965 vorausgesagt hat, ist noch nicht einmal in einem Nachtragshaushalt sanktioniert.
Die Bundesregierung kommt jetzt nach den Wahlen mit einem Stabilisierungsprogramm. Sie will jetzt nach den Wahlen sparen; immerhin eine späte Erkenntnis. Doch kann sie von dem bereits Geschehenen ganz sicher eines nicht mehr rückgängig machen: die Ausgabenentwicklung der ersten zehn Monate des Jahres 1965 ist schon Geschichte; diese Ausgabenentwicklung ist nicht mehr zu beeinflussen. Ursprünglich sollten die Mehrausgaben für 1966 12,7 Milliarden DM betragen; ihnen werden rund 5,5 Milliarden DM Mehreinnahmen gegenüberstehen. Die drohende Deckungslücke von 7,2 Milliarden DM soll nun größtenteils wieder mit Hilfe fragwürdiger Finanzierungsmanipulationen geschlossen werden.Entgegen jeder wirtschaftspolitischen Vernunft, gegen den dringenden Rat der EWG-Kommission, gegen die kritischen Bemerkungen der Bundesnotenbank, gegen die ausdrückliche Empfehlung des von der Bundesregierung eingesetzten Sachverständigenrates und gegen die pausenlosen Angriffe der gesamten Fachpresse treibt diese Bundesregierung eine Finanzpolitik, die sich über alle volkswirtschaftlichen und währungspolitischen Argumente hinwegsetzt. Unzweifelhaft hat diese Politik durch die Ausgabenflut den Preisauftrieb verstärkt. Das war aber genau das Gegenteil von dem, was bei der bisherigen Konjunkturlage angebracht gewesen wäre. Die Bundesregierung scheint vergessen zu haben, daß sie selber bei der EWG-Kommission in Brüssel zu den eifrigsten Befürwortern einer Haushaltspolitik gehört hat, die sich bei ihren Ausgaben im Rahmen des realen Zuwachses des Bruttosozialproduktes bewegen soll. Ich darf in diesem Zusammenhang auf den dritten Quartalsbericht der Kommission der EWG verweisen, der bezüglich der Bundesrepublik Deutschland sagt:Die öffentliche Haushaltpolitik wurde 1965 keineswegs entsprechend der Ratsempfehlung vom 8. April 1965 geführt. Die Steigerung der öffentlichen Ausgaben sollte 1966 5 % nicht überschreiten.So weit der Bericht der Kommission der EWG.In Wirklichkeit aber wird der Bundeshaushalt um 8,6 v. H. wachsen. Das ist sogar mehr, als der nominelle Zuwachs des Sozialprodukts für 1966 betragen dürfte. Das reale Sozialprodukt übersteigt dieser vorgesehene Bundeshaushalt in der Zuwachsrate damit um 3 bis 4 v. H. Alle sogenannten Kürzungen helfen nicht darüber hinweg, daß der Bundeshaushalt selbst mit Finanzierungstricks auf einen Rekordstand von nahezu 70 Milliarden DM anwachsen wird und daß er, wie eine große Zeitung am 6. November dieses Jahres schreibt, zum großen Teil nur durch Stundung, Pump und Verschuldung ausgeglichen wird.
Um das Armutszeugnis des Bundeskanzlers komplett zu machen, möchte ich auf eine Rede verweisen, die er auf dem Wirtschaftstag der CDU/ CSU am 9. Juli 1965 in Düsseldorf gehalten hat. Damals führte der Herr Bundeskanzler folgendes aus:Wir haben zwar nicht offiziell langfristige Haushaltsvoranschläge vorgelegt, aber ich weiß ziemlich gut, wie es um den Haushalt 1966 und 1967 bestellt ist, wie es heute schon bestellt ist. Dabei rechne ich noch gar nicht mit alledem, was möglicherweise im Jahre 1966 und 1967 noch aufgetürmt werden soll, und das gibt wirklich ein Bild, das uns unmittelbar eine Verantwortung aufzwingt.Nun kommt ein Satz, den ich Sie nie zu vergessen bitte:Die Verantwortung trägt für diese Bundesregierung an vorderster Stelle die CDU/CSU.
Der Herr Bundeskanzler hat gestern in seinen Ausführungen darauf hingewiesen, daß er im Bundestag schon immer auf die prekäre Haushaltssituation aufmerksam gemacht habe, und er hat hinzugefügt: „Wann ich im Kabinett oder in meiner Fraktion meine Stimme erhoben habe, das geht Sie nichts an."Ich persönlich teile den Standpunkt des Herrn Bundeskanzlers nicht; denn das, was sich im Kabinett, was sich im Schoße der Bundesregierung abspielt, ist für das Parlament von entscheidendem Interesse. Im übrigen habe ich neben seinen beiden Regierungserklärungen an Hand der Protokolle einmal nachgeprüft, wann denn nun eigentlich der Bundeskanzler Gelegenheit genommen hat, hier im Parlament auf die prekäre Finanzsituation hinzuweisen.
Ich habe nur im Rahmen der Postdebatte einmal einen schüchternen Versuch feststellen können. Im übrigen hat sich aber der Herr Bundeskanzler mit solchen Hinweisen und Darstellungen gegenüber dem Parlament ganz besonders zurückgehalten — ein Maßhalten, das ich aus der Verantwortung heraus nicht zu billigen vermag.
Wir haben am 5. Juli unser Finanzprogramm veröffentlicht. Wir haben bei diesem Finanzprogramm eine sorgfältige Darstellung der Einnahmenseite vorgenommen, und wir haben deswegen bis zum 5. Juli mit der Veröffentlichung warten müssen, weil wir natürlich auszugehen hatten von dem Status, den uns dieser Bundestag mit seiner Mehrheit, den uns dieser Bundestag mit der damaligen Bundesregierung hinterlassen hat. Wir haben auf den Ernst der Lage aufmerksam gemacht. Herr Kollege Starke, Sie
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Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerverkennen die Situation völlig, wenn Sie meinen, daß wir in dieser Zeit nicht genügend auf die weitere finanzielle Entwicklung und ihre Gefahren aufmerksam gemacht hätten. Ich darf sagen, gerade weil wir das getan haben, sind wir in einer etwas schwierigen Situation gewesen; denn die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien haben ja diese SOS-Signale nicht aufgenommen, sondern der Herr Bundeskanzler hat nicht etwa am 6. Juli — einem Tag, an dem wir eine Bundestagssitzung hatten — Gelegenheit genommen, in einer Regierungserklärung festzustellen: Das, was die Opposition da veröffentlicht hat, entspricht nicht den Tatsachen. Er hat vielmehr erst einige Tage später, am 9. Juli, auf dem Wirtschaftstag der CDU/CSU die Ausführungen gemacht, die ich soeben zitiert habe und die beweisen, daß der Herr Bundeskanzler und die übrigen Mitglieder der Regierung den Ernst der finanziellen Lage damals entweder nicht erkannt oder aus wohlüberlegten Gründen davon abgesehen haben, die Gesamtbevölkerung mit dem Ernst der finanziellen Situation so vertraut zu machen, wie es die Lage erforderte.
Der Bundeskanzler hat — Herr Kollege Erler hat es schon gestern zitiert; aber ich will es in diesem Zusammenhang doch noch einmal sagen — am 13. August, einige Tage, nachdem wir nun auch über die Ausgabenseite eines sozialdemokratischen Regierungsprogramms Ausführungen vorgelegt haben, nach einer Meldung von dpa erklärt: „Wenn die SPD von einer Finanzkatastrophe spricht, so nehmen Sie es nicht ernst; nehmen Sie es heiter!" Meine Damen und Herren, ist das nun angesichts der Situation der richtige Stil?Wenn Sie den Wirtschaftstag der CDU weiter verfolgen, müssen Sie an Hand des Protokolls der Rede des Herrn Bundeskanzlers feststellen, daß er damals gesagt hat, er habe dem Herrn Bundesfinanzminister nunmehr den Auftrag gegeben, die finanzielle Belastung, die durch die im Jahre 1965 vom Bundestag verabschiedeten Gesetze entständen, genau festzustellen; wenn diese Feststellungen vorlägen, würden sie sehr interessant sein. Dabei hat er gemeint, er könne diese Feststellungen zu einem Generalangriff gegen die Opposition ausnutzen. Er hat gemeint, er könne dabei der Opposition unterstellen, daß sie nicht mit der notwendigen finanzpolitischen Verantwortung tätig gewesen sei. Das ist wie ein Kartenhaus, meine Damen und Herren, zusammengebrochen.
Sie haben feststellen müssen, meine Damen und Herren, daß die Verantwortung für die verabschiedeten Gesetze ausschließlich bei der Bundesregierung und bei Ihnen gelegen hat.
— Reden Sie doch nicht so viel über eine Änderungdes Art. 113 und andere Maßnahmen! Man wäremit dem Art. 113 durchaus in der Lage gewesen,
die Verantwortung des Parlaments hier klarzustellen.
— Verzeihen Sie, ich habe gestern nicht geschwänzt, sondern hatte eine dringende dienstliche Verpflichtung, die ich Sie ebenso zu respektieren bitte, wie auch ich die jetztige dienstliche Verpflichtung des Herrn Bundeskanzlers selbstverständlich respektiere.
Ich weiß ganz genau, was der Herr Bundeskanzler zu diesem Thema ausgeführt hat. Ich habe, Herr Kollege Starke, nicht die Protokolle der Konjunkturdebatte aus dem Jahre 1964, sondern selbstverständdie Unterlagen und die Reden, die hier gestern zu dieser Frage im Bundestag gehalten worden sind, in dieser Nacht studiert.Ich muß also schon sagen, daß mich diese Erklärung im Zusammenhang mit dem Art. 113 schon deswegen nicht überzeugt, weil ich der Meinung bin, daß man dieser Regierung einen Art. 113 geben kann, wie man will, sie wird nie so stark sein, für die notwendige Klarheit in den Finanzen, für eine Finanz ordnung einzutreten, wie es allgemein gewünscht wird.
Das, was sich in den vergangenen Monaten abgespielt hat, ist doch eine Tragödie gewesen.
Die Bevölkerung kann ja nicht hinter die Kulissen schauen. Oder will beispielsweise der Herr Vorsitzende des Finanzausschusses in Abrede stellen, daß es immer wieder die Kollegen der SPD-Fraktion im Finanzausschuß gewesen sind, die sich mit einigen wenigen vernünftigen Kollegen der CDU/CSU-Fraktion
bemüht haben, Beschlüsse zu verhindern,
die weder mit der finanziellen Veranwortung noch mit anderen Gesichtspunkten, beispielsweise mit rechtlichen Auffassungen,
hätten in Einklang gebracht werden können? Das gilt beispielsweise für die Frage der Überstundenregelung. Herr Kollege Schmidt, können Sie das in Abrede stellen? Es handelt sich immerhin um ein Objekt von mehr als 400 Millionen DM Steuerausfall. Oder denken Sie an die Erörterung über die Beamtenpensionen. Da ist der Herr Bundesfinanzminister im Finanzausschuß erschienen und hat eindringlich gemahnt, solche Beschlüsse nicht zu fassen, und hat sogar einen Ausweg aus der Sackgasse gezeigt. Die Tür war noch nicht ganz zu, da hat sich die Koalition unter Führung der FDP weiterhin um eine Regelung in der Frage der Beamtenpensionen be-
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Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllermüht, die man nur in einem erträglichen Rahmen halten konnte, weil die sozialdemokratische Opposition von dem notwendigen Verantwortungsgefühl getragen war.
— Das sind Tatsachen, daran kommen Sie nicht vorbei. Das sind Tatsachen, die hier festzuhalten für mich einfach eine Notwendigkeit ist.Nehmen Sie beispielsweise auch die Beantwortung der schriftlichen Anfragen des früheren Kollegen Dr. Kohut vom 22. Juli. Ich darf hier einiges daraus zitieren:Treffen die Pressemeldungen zu, daß im Bundesfinanzministerium Erhöhungen der Einkommen-,Tabak- und Branntweinsteuer erwogen werden?Schriftliche Antwort des Bundesfinanzministers: Nein, diese Pressemeldungen treffen nicht zu.
Herr Kollege Dr. Kohut hat weiter gefragt:Glaubt die Bundesregierung, die von den Bundestagsabgeordneten bewilligten Ausgabenohne Steuererhöhungen auffangen zu können?Antwort des Bundesfinanzministers:Nach gutem demokratischem Stil hat die aus einer Neuwahl hervorgehende Bundesregierung allein das Recht, den von ihr durchzuführenden Haushalt des nächsten Jahres 1966 zu gestalten. Die gegenwärtige Bundesregierung ist der Auffassung, daß es bei rigoroser Ausschöpfung aller Spar- und Kürzungsmöglichkeiten selbst bei gesetzlich festgelegten Ausgaben gelingen muß, den Haushalt des Jahres 1966 auch ohne Steuererhöhungen zum Ausgleich zu bringen.
Wir brauchen uns jetzt nur das Haushaltssicherungsgesetz anzusehen, um festzustellen, was von alledem übrigbleibt. Es wäre richtiger und vernünftiger gewesen, sich den schon am 26. Februar bei der damaligen Haushaltsdebatte erhobenen finanzpolitischen Warnungen der SPD anzuschließen.
Gestern hat Herr Kollege Althammer die Öffentlichkeit und das Parlament mit einer Liste überrascht. Gestern war der 29. November. Am 26. Februar habe ich im Auftrage der sozialdemokratischen Fraktion Gesetzentwürfe zurückgezogen oder für erledigt erklären lassen. Nach neun Monaten meldet sich nun die Koalition durch Herrn Althammer. Nach neun Monaten ist sie also in der Lage, zu dieser unserer damals vorgelegten Liste Stellung zu nehmen.
— Meine Damen und Herren, das kann doch wohlkeinem Zweifel unterliegen. Legen Sie mir ein Bundestagsprotokoll aus der 4. Legislaturperiode vor,das die Liste enthält, die gestern hier vom Kollegen Althammer vorgetragen worden ist, oder legen Sie mir aus dem Bundestagswahlkampf eine ähnliche Liste vor!
— Es ist doch Tatsache — sträuben Sie sich doch nicht gegen diese Feststellung —, daß Sie neun Monate gebraucht haben, um diese „Geburt" fertigzubekommen.Nun, was ist zu dieser Liste zu sagen?Erstens. Die SPD hat während der Etatdebatte --
Herr Abgeordneter Möller, Herr Kollege Müller möchte eine Frage an Sie stellen.
Herr Kollege Dr. Möller, ist Ihnen vielleicht entgangen, daß wir z. B. am Anfang des Jahres bei der Beratung des Kindergeldgesetzes einen Antrag der SPD, die Einkommensgrenze beim zweiten Kind gänzlich fallenzulassen, deshalb ablehnen mußten, weil er auch noch etwa eine halbe Milliarde DM gekostet hätte?
Meine Damen und Herren, es gibt eine ganze Anzahl Gesetzentwürfe für beide Seiten des Hauses, von denen man solches oder ähnliches sagen kann. Ich habe mir immer vorgestellt, daß jede Fraktion bei der Beratung eines Gesetzentwurfs versucht, das nach ihren Vorstellungen Beste aus dem von der Regierung vorgelegten Entwurf zu machen. Das ist, meine ich, unsere Pflicht.
— Nicht: koste es, was es wolle; dann muß eben die Bundesregierung in einem gegebenen Zeitpunkt den Mut haben zu erklären: Was die Opposition will oder was unsere eigenen Fraktionen wollen, das ist mit den Grundsätzen der finanzpolitischen Verantwortung nicht mehr zu vereinbaren, und deswegen muß das abgelehnt werden.
Das ist aber in den Schlußmonaten der vierten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages nicht geschehen.
Nun möchte ich zu der hier bekanntgegebenen Liste folgendes feststellen.Erstens. Die SPD hat während der Etatdebatte 1965 nur die Kosten aus Gesetzentwürfen berechnet, und zwar sowohl aus denen der SPD selbst als auch aus denen der Koalitionsfraktionen. Danach ergaben sich nach den Unterlagen des Bundesfinanzministe-
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Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerriums — was Sie, meine Damen und Herren, übersehen haben — aus Koalitionsgesetzentwürfen Kosten in Höhe von 6,5 Milliarden DM, aus SPD-Gesetzentwürfen per saldo Kosten in Höhe von 2,7 Milliarden DM. Herr Althammer hat eine Liste nur für SPD-Vorlagen aufgestellt. Die Koalitionsvorlagen hat er dabei unberücksichtigt gelassen.
Abgesehen davon, daß er neben den Gesetzentwürfen auch einige Anträge einbezieht, addiert er zur SPD-Liste vom 26. Februar 1965 einen SPD-Gesetzentwurf vom 18. Juni 1965. Daß wir das am 26. Februar noch nicht machen konnten, dafür werden Sie hoffentlich Verständnis haben. Schon deswegen sind diese beiden Rechnungen einfach nicht miteinander zu vergleichen.
Zweitens. Herr Althammer beziffert zudem die Kosten einiger SPD-Gesetzentwürfe höher, und zwar errechnet er 1,5 Milliarden DM zusätzlich, weil er andere Zeiteinheiten zugrunde legt — z. B. das Jahr 1966 statt des Jahres 1965 oder umgekehrt —, als es die SPD bei der Berechnung ihrer Entwürfe und der Koalitionsentwürfe getan hat.Drittens geht Herr Althammer bei seiner Aufstellung von falschen Voraussetzungen aus. Er setzt weder die von der SPD am 26. Februar 1965 zurückgezogenen bzw. für erledigt erklärten Anträge ab noch die in der gleichen Sache vorliegenden Gesetzentwürfe der Koalitionsparteien. Herr Althammer beziffert die Kosten der SPD-Entwürfe auf 8,9 Milliarden DM.
Er übertrumpft damit um 4 Milliarden DM eine interne Aufstellung des Bundesfinanzministeriums vom 12. Februar 1965 über unsere Gesetzentwürfe und Anträge, welche die durch die SPD-Entwürfe verursachten Belastungen mit 4,9 Milliarden DM berechnet.Viertens. Herrn Althammers Berichtigungsliste ist also unvollständig,
zeitlich nicht vergleichbar, zum Teil sachlich falsch und damit insgesamt irreführend.
Diese Klarstellung habe ich für erforderlich gehalten.Nun, meine Damen und Herren, noch eine andere Klarstellung. Es ist gestern auch auf eine Äußerung des Finanzministers von Niedersachsen, Herrn Kubel, Bezug genommen worden. Es wurde erklärt, Herr Finanzminister Kubel habe vor den Wahlen ausgeführt, er denke gar nicht daran, sich in der Etatpolitik an die Zuwachsrate des Sozialprodukts zu halten; wo denn geschrieben sei, daß ein öffentlicher Haushalt nur im Rahmen des Zuwachses des Sozialprodukts ausgedehnt werden dürfe. DieseWiedergabe trifft nicht den Sinn der Ausführungen des Ministers Kubel. Minister Kubel hat vielmehr erklärt, es könne hinsichtlich der Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte auszuweiten, regional erhebliche Unterschiede geben; so könne es z. B. in Anbetracht der umfangreichen Sonderbelastungen des Landes Niedersachsen nötig sein, den niedersächsischen Landeshaushalt über die Zuwachsrate des Sozialprodukts hinaus auszuweiten. Finanzminister Kubel hat sich also lediglich gegen die pauschale Ausweitung der öffentlichen Haushalte im Rahmen der Zuwachsrate des Sozialprodukts gewandt. Tatsächlich — das wissen ja die Herren von der CDU auch — wird der Haushalt 1966 des Landes Niedersachsen nur in einem sehr bescheidenen, die Zuwachsrate des Sozialprodukts bei weitem nicht erreichenden Maß ausgeweitet werden können. Dabei werden Sie mir wahrscheinlich auch zugeben müssen, daß man die einzelnen Länderhaushalte nicht einfach in den Zahlen und in der Zuwachsrate miteinander vergleichen kann, sondern daß es entscheidend auch darauf ankommt, welche allgemeinpolitischen Aufgaben die Länder im Interesse der Bundesrepublik zu erfüllen haben. Das gilt ganz besonders in Niedersachsen für die Zonenrandgebiete.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier noch eine weitere Bemerkung hinzufügen. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat Herrn Kollegen Schiller mit dem Satz angesprochen: „Ihre erfolgreiche Tätigkeit in Berlin ist doch nicht zuletzt auf die Bundeshilfe zurückzuführen, die der Bund auf Grund der guten wirtschaftlichen Lage zur Verfügung stellen konnte."
Ich muß sagen, meine Damen und Herren, ich halte diese Bemerkung nicht für besonders geschmackvoll.
Ich möchte sagen, daß das, was wir, wir alle, für Berlin tun, einfach die Erfüllung einer nationalen Aufgabe und einer nationalen Pflicht ist.
Die Berlin-Hilfe kann man nicht in einem Atemzug nennen etwa mit Subventionen.
Ich persönlich kann nur sagen, daß wir, die wir nicht in Berlin wohnen, doch eigentlich recht beschämt sein müssen über das bißchen, was wir an finanzieller Hilfe verfügbar machen können,
im Hinblick auf die Tatsache, daß die BedeutungBerlins in allererster Linie und ausschlaggebend be-
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 173
Dr. h. c. Dr.-Ing. B. h. Möllereinflußt wird durch das Verhalten der Berliner selbst.
Das Verhalten der Berliner selbst gibt uns erst die Möglichkeit, politisch und wirtschaftlich das zu tun, was nur ein Geringes unserer wirklichen Verpflichtung darstellt.Ich möchte hinsichtlich des Kollegen Schiller noch hinzufügen, daß der damalige Senat, und hier ganz besonders der Senator für wirtschaftliche Fragen, in einer neuen kritischen Situation ein dynamisches Konzept entwickelt hat
in Berlin, wo sonst! —, ein wirklich dynamisches Konzept, und daß es den gemeinsamen Anstrengungen — —
Ich darf doch bitten, die Härte Ihrer Ausdrücke zu mäßigen.
Meine Damen und Herren, es ist mit diesem dynamischen Konzept gelungen, den wirtschaftlichen Anschluß von Berlin an die anderen Länder und Stadtstaaten der Bundesrepublik Deutschland herbeizuführen.
Allen, die beispielsweise im Finanzausschuß des Bundestages tätig gewesen sind, ist bekannt, daß die Frage der Präferenzen und andere Berlin angehende Dinge durchaus nicht unbestritten gewesen sind
und daß es immer den gemeinsamen Bemühungen zuzuschreiben war, daß es dann im Finanzausschuß und später im Plenum zu positiven, den Interessen Berlins und der Bundesrepublik Deutschland dienenden, vertretbaren Lösungen kam.
Am Schluß möchte ich noch eine Bemerkung machen. Es wird ja noch heute nachmittag, heute abend und morgen diskutiert. Ich werde mich dann noch einmal melden, weil ich jetzt die Zeit einhalten möchte. Ich will aus den Ausführungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers nur noch einen Satz herausgreifen. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat
erklärt: Neben dem Haushalt 1966 geht es auch schon um 1967, um die Vorbelastungen für die weitere Zukunft; eine mittelfristige Vorausschau auf die Haushaltsentwicklung der nächsten vier bis fünf Jahre ist deswegen unumgänglich notwendig. Der Finanzminister wird sie vorlegen. Wir begrüßen diese Erklärung, weil sie endlich unserem Wunsche Rechnung trägt, mittelfristig insbesondere in der Finanzplanung vorzugehen.
Wenn Sie unsere Haltung zu dem Haushaltssicherungsgesetz, über das ja noch besonders zu sprechen sein wird, erfahren wollen, dann kann ich Ihnen vorweg schon zwei Dinge mitteilen: Erstens. Wenn man ein Haushaltssicherungsgesetz beschließen will und wenn Sie den Wunsch haben, daß sich die Opposition positiv damit beschäftigt, dann muß man zunächst wissen, wie der Haushalt aussehen soll, den man durch das Haushaltssicherungsgesetz sichern will.
Zweitens werden Sie mir zugeben müssen, daß es sich bei diesem Haushaltssicherungsgesetz ganz sicher nicht um den Anfang einer vernünftigen, realistischen Finanzplanung handelt, sondern Sie müssen mir zugeben, daß Sie einen großen Teil der Dinge, die Sie im Haushaltssicherungsgesetz glauben regeln zu können, nur vorläufig regeln und die Entscheidungen aus den Jahren 1965 und 1966 auf die späteren Jahre verlagern. Das ist kein guter Anfang, und wir werden uns auch diesen Anfängen gegenüber zurückhaltend verhalten. Denn Sie, meine Damen und Herren, müssen nun einmal ausbügeln und in Ordnung bringen, was Sie, die Mehrheit des Bundestapes der vorigen Legislaturperiode, als Erbe hinterlassen haben.
Daran kommen wir nun einmal nicht vorbei.
Es ist unmöglich, daß Sie für sich in Anspruch nehmen wollen, auf Grund einer Mehrheit die Regierung zu stellen, es aber ablehnen, daß diese selbe Mehrheit auch die Verantwortung für alle Gesetze trägt, die hier beschlossen werden oder die hier nicht verabschiedet worden sind.
— Diese Verantwortung haben Sie und nicht wir!
Der Herr Abgeordnete Wehner hat die CDU/CSU-Fraktion als „nihilistischen Pöbelhaufen" bezeichnet.
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174 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Vizepräsident Dr. Dehler— Auch diese Art der Auseinandersetzung überschreitet das zulässige Maß. Herr Abgeordneter Wehner, ich rufe Sie zur Ordnung.
Das Wort hat der Herr Bundeswirtschaftsminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Bemerkung des Kollegen Möller veranlaßt mich, eine kurze Erwiderung zu geben. Herr Kollege Möller, Sie haben es für richtig gehalten, das, was ich zu Berlin gesagt habe, als geschmacklos zu bezeichnen.
— Sie haben gesagt, Sie bezeichneten es als geschmacklos — —
— Also ich korrigiere mich: Er hält eis nicht für besonders geschmackvoll. Aber er hat den Eindruck erwecken wollen, als sei es politisch nicht erlaubt, diesen Hinweis zu geben. Herr Kollege Möller, ich habe darauf hingewiesen: Eine gesunde Wirtschaft ist die beste Grundlage für unsere gesamte Innen-und Außenpolitik, und dazu gehört Berlin. Wir sind stolz darauf, daß wir diesewirtschaftliche Grundlage haben, um Berlin helfen zu können. Erwecken Sie bitte nicht den Eindruck, als wollten wir ein parteipolitisches Geschäft damit machen.
Wir sind stolz auf diese Hilfe, und wir werden sie weiter leisten mit unserer Mehrheit, die Sie so häufig angesprochen haben.
Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe auf zur Fragestunde. Ehe ich die einzelnen Fragen aufrufe, möchte ich das Haus und die Regierungsbank ermahnen; die Regierungsbank, kurze Antworten zu geben, und das Haus, die Zusatzfragen auf das sachliche unbedingt Notwendige zu beschränken. Denn wir haben auf dieser Liste noch 65 Fragen, die wir heute und morgen bewältigen sollen. Wir können sie nicht auf den schriftlichen Antwortweg verweisen, denn der Ältestenrat hat sich dahin verständigt, daß alle diese Fragen mündlich beantwortet werden sollen. Überdies werden mit Sicherheit bis Donnerstag noch weitere Fragen eingehen.
Wir sind bei den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Ministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, und zwar bei Frage VIII/25 — des Abgeordneten Logemann —:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die ab 1. Oktober 1965 wirksam gewordene Ablehnung einer Bezuschussung für durch Erhitzung längere Zeit haltbar gemachte Milch eine Benachteiligung für Schulkinder, besonders von Landschulen, darstellt, die nicht im Versorgungsbereich einer Molkerei mit Trinkmilchlieferung liegen?
Bei der Schulmilchspeisung handelt es sich um eine Aktion, die von den Ländern bzw. von den Gemeinden getragen wird. Seit dem Jahre 1956 beteiligt sich der Bund mit einem Drittel an dieser Aktion. Sterilmilch wurde auf ärztlichen und jugendpsychologischen Rat hin niemals einbezogen, und zwar deswegen, weil die Erhitzung auf 120 Grad, die ja einige Minuten dauern muß, um die Milch steril zu machen, wesentliche Geschmacksmomente wegfallen läßt, und neben den gesundheitlichen Gründen sollten auch geschmackliche Gründe einen Anreiz für Milchverbrauch bieten.
Frage VIII/26 — des Abgeordneten Logemann —:
Wie will die Bundesregierung sicherstellen, daß trotz der in Frage VIII/25 genannten Entscheidung des Bundesernährungsministeriums auch Schulkinder auf dem Lande die für Schulen verbilligte Trinkmilch erhalten?
Was die zweite Frage betrifft, die mit der ersten zusammenhängt, darf ich sagen, daß ich eine Umfrage veranstalten werde, um der Frage gerecht zu werden. Ich darf Ihnen das Ergebnis sodann mitteilen.
Frage VIII/27 — des Abgeordneten Prochazka —:
Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung zu ergreifen, um der beängstigenden Entwicklung der Preise bei verschiedenen Grundnahrungsmitteln, die weite Bevölkerungsschichten beunruhigt, Einhalt zu gebieten?
Durch schlechte Witterungsverhältnisse und eine zu geringe Produktion auf der einen Seite sowie durch eine gesteigerte Nachfrage, besonders bei Schweinefleisch und Eiern, auf der anderen Seite sind die Preise für diese Produkte überdurchschnittlich gestiegen. Die Bundesregierung hat folgendes veranlaßt:Sie hat 60 000 t Butter um 80 bzw. 70 Pfennig pro Kilogramm verbilligt abgeben lassen, um einen haushaltsmäßigen Ausgleich für den einzelnen Haushalt zu erzielen.Sie hat die Zölle für Schlachtkühe aus Drittländern um 10 % gesenkt und die Einfuhr aus Mitgliedstaaten zollfrei zugelassen.Sie hat in der Zeit von August bis November dieses Jahres 25 Millionen Dosen Rindfleischkonserven und 12 Millionen Dosen Schmalzfleischkonserven aus Beständen der Einfuhr- und Vorratsstellen zu billigen Preisen ausgelagert.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 175
Bundesminister HöcherlAuf ihre Initiative wird der Ministerrat im schriftlichen Verfahren die Abschöpfung bei der Einfuhr von Eiern senken, und zwar sowohl für Drittlandseinfuhren als auch für Einfuhren aus allen Ländern der Gemeinschaft.Die Bundesregierung hat bei der Kommission um die Ermächtigung nachgesucht, die Abschöpfung bei der Einfuhr von Schweinen und Schweinefleisch um das nach den EWG-Bestimmungen höchstzulässige Maß von 30 Pfennig pro Kilogramm zu senken. In dieser Woche dürfte eine Entscheidung aus Brüssel zu erwarten sein.Die Einfuhren bei Rindern und Schweinen haben in den vergangenen Monaten ein Ausmaß erreicht, das zum Teil das Drei- und Vierfache der üblichen Einfuhren in dieser Zeit überstiegen hat. Allein in der letzten Woche sind 42 000 Schweine importiert worden. Die Preise bei Schweinen sind ebenso wie bei Rindern, dank diesen verschiedenen Maßnahmen, rückläufig. Gerade heute sind auf den Märkten in Süd- und Westdeutschland wesentlich höhere Auftriebe zu verzeichnen, und die Preise sind um 15 und 20 DM je 100 kg Lebendgewicht gesunken.Das sind die bisherigen Maßnahmen, die uns zur Verfügung standen.Ich darf noch feststellen: auch die heutigen Notierungen zeigen wieder, daß die Maßnahmen nicht ohne Wirkung geblieben sind.
Keine Zusatzfragen? — Die Fragen sind damit beantwortet.
Wir kommen zu IX, Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ich rufe auf die Frage IX/1 — des Abgeordneten Schmidt —:
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, das 1966 drohende und auch in Kreisen der Bundesregierung bereits angekündigte Defizit in der Arbeiterrentenversicherung ohne Beitragserhöhungen bzw. ohne Verstärkung der Mittel aus dein Bundeshaushalt zu vermeiden?
Herr Kollege, im Jahre 1966 wird es nach den in meinem Haus angestellten Vorausschätzungen kein Defizit in der Rentenversicherung der Arbeiter geben; vielmehr werden die Einnahmen die Ausgaben um rund 600 Millionen bis 700 Millionen DM übersteigen.
Zusatzfrage.
Herr Minister, sind die positiven Zahlen nicht darauf zurückzuführen, daß der Einfluß auf dem Gastarbeitersektor wesentlich höher ist als der Ausfluß von Auslandsrenten?
Nein, darauf ist es nicht zurückzuführen, sondern die Differenz ist darauf zurückzuführen, daß von anderer Seite vorher zusätzlich mit einer Milliarde aus der Wanderungsversicherung gerechnet worden ist. Diese Milliarde haben wir im Vermögensbestand und nicht bei den laufenden Rentenzahlungen angesetzt.
Darf ich das so verstehen, Herr Minister, daß Sie bei Ihren Berechnungen die etwas schwierige Situation, die durch das entsteht, was ich in meiner ersten Zusatzfrage gefragt habe, gleichzeitig mit berücksichtigen?
Jawohl.
Frage IX/2 — des Abgeordneten Schmidt —:
Wie erklärt die Bundesregierung den Widerspruch zwischen der von ihr im Mai 1965 geäußerten Meinung, daß eine Senkung des Beitragssatzes in der Arbeiterrentenversicherung auf Grund der hohen Rücklagen und der geringen Ausgaben der Bundesanstalt möglich sei, und dem Beschluß der Bundesregierung, den Beitragssatz von 1,3 % nun doch beizubehalten, obwohl in der Finanzlage der Bundesanstalt seit Mai 1965 keine Verschlechterung eingetreten ist?
In der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage, Herr Abgeordneter Schmidt, im Mai 1965 und dem Beschluß der Bundesregierung, den Beitragssatz von 1,3 v. H. auch über 1965 hinaus beizubehalten, vermag ich keinen Widerspruch zu erkennen. Die Bundesregierung hat sich im Mai 1965 nicht, wie Sie offenbar annehmen, dahin geäußert, daß eine weitere Senkung des Beitragssatzes möglich sei. Sie hat, wie das Protokoll der Bundestagssitzung vom 12. Mai 1965 ausweist, lediglich angekündigt, sie würde alle Faktoren, die für die Beitragsfestsetzung maßgebend sind, prüfen.
Zusatzfrage.
Herr Minister, wollen Sie damit sagen, daß sich seitdem negative Faktoren gezeigt haben, die die Herabsetzung eben nicht ermöglichen?
Nein, es haben sich keine negativen Faktoren gezeigt, die eine solche Prüfung unmöglich machen. Wir haben nicht von der Herabsetzung gesprochen, sondern von der Möglichkeit der Prüfung, und dabei möchte ich es auch bewenden lassen.
Letzte Zusatzfrage.
Herr Minister, besteht die Möglichkeit, daß man bei späteren Überprüfungen entweder — bei weiterer positiver Entwicklung — eine Beitragssenkung ins Auge faßt oder vielleicht die vorhandenen Rücklagenmittel irgendwelchen anderen Aufgaben zuführt, um hier keine unnötigen Aufblähungen zu erreichen?
Ich glaube, Herr Kollege, daß auch der letzte von Ihnen genannte Weg in absehbarer Zeit einmal erörtert werden sollte.
Frage IX/3 — des Abgeordneten Fritsch —:Ist dafür Sorge getragen, daß Beziehern von Ausgleichs- und Elternrenten nach dem Bundesversorgungsgesetz keine Nachteile
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176 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Vizepräsident Dr. Schmiddadurch entstehen, daß in Anwendung der § 9 Abs. 2 und § 28Abs. 1 des Gesetzes über die Altershilfe für Landwirte Antragauf Befreiung von des Beitragspflicht gestellt wurde bzw. wird?
Die Befreiung eines landwirtschaftlichen Unternehmers von der Beitragspflicht nach § 14 Abs. 2 und § 37 Abs. 1 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte ist unter anderem davon abhängig, daß die Vorgänger im Unternehmen auf Altersgeldansprüche verzichten. Gewiß steht es jedem Staatsbürger frei, über Vermögen und Einkünfte zu verfügen und selbstverständlich auch auf Ansprüche zu verzichten. Aber wie jeder Verzicht auf Rechtsansprüche ist auch der Verzicht auf Altersgeld problematisch, dies ganz besonders dann, wenn der Berechtigte glaubt, den Verzicht durch höhere Leistungen der öffentlichen Hand ausgleichen zu können. Nach § 1 Abs. 2 der Verordnung zur Durchführung des § 33 des Bundesversorgungsgesetzes sind jedoch die Ausgleichs- und Elternrenten so festzusetzen, als sei nicht auf Altersgeld verzichtet worden. Um ungerechtfertigte Härten zu vermeiden, wurden jedoch durch mein Ministerium die für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Verwaltungsbehörden der Länder mit Rundschreiben vom 2. September 1965 gebeten, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob der Verzichtende in Unkenntnis der Rechtslage gehandelt oder ob ein für den Verzicht Verständiger, das heißt ein schwerwiegender sachlicher Grund vorgelegen hat. In diesen Fällen soll von der tatsächlichen Einkommenslage ausgegangen werden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, halten Sie es für vom Grunde her gerechtfertigt, daß ein legaler und gesetzlich vorgesehener Verzicht auf eine Leistung Benachteiligungen durch ein anderes Bundesgesetz auslöst, insbesondere dann, wenn davon vornehmlich ältere Menschen betroffen werden, die sicherlich nicht über die notwendige Kenntnis der Gesetze verfügen, um das beurteilen zu können?
Herr Kollege, die Ausgleichs- und Elternrenten sind ihrer Bedeutung nach Leistungen, die nur dan gewährt werden, wenn die Versorgungsberechtigten selbst nicht imstande sind, durch eigene Einkünfte ihren Lebensunterhalt zu sichern. Im Sinne einer gleichmäßigen Behandlung aller Versorgungsberechtigten muß Vorsorge getroffen werden, daß jeder, der einen Anspruch auf Ausgleichs- oder Elternrente erhält, zuvor alle Möglichkeiten erschöpft, eigene Mittel für den Unterhalt einzusetzen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Minister, wären Sie, nachdem diese Anrechnung viel Unruhe, insbesondere, wie ich sagte, bei den Kriegereltern ausgelöst hat, nicht wenigstens für die Vergangenheit bereit, in den Fällen einer Unkenntnis des Gesetzes oder auch, der Absicht, dadurch zu höheren Leistungen in der Elternversorgung zu kommen, auf eine Anrechnung zu verzichten und von einer zukünftigen Anrechnung so lange abzusehen, als nicht Gewähr dafür geboten ist — Sie haben ja einige Verbände aufgeführt —, daß die Aufklärung die notwendige Sachkenntnis bei den Antragstellern schafft?
Herr Kollege, ich halte eine generelle Lösung nicht für möglich. Aber in meiner Antwort auf die erste Frage habe ich schon ausgeführt, daß wir im Einzelfall jeweils sehr sorgfältig prüfen und nach einem sehr entgegenkommenden Verfahren praktisch handeln.
Ich rufe auf die Frage IX/4 — des Herrn Abgeordneten Genscher —:
Ist die Bundesregierung bereit, angesichts der Beschäftigungslage in der Bundesrepublik und angesichts der Vermögenslage der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung den Beitragssatz für die Arbeitslosenversicherung zu senken?
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.
Ich rufe auf die Frage IX/5 — des Herrn Abgeordneten Prochazka —:
Wie hoch belaufen sich die derzeitigen versicherungsrechtlichen Ansprüche der Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland aus der Angestellten-, Invaliden-, Knappschafts- und Unfallrentenversicherung?
Nach neuesten Unterlagen werden in den genannten Versicherungen an ausländische Arbeitnehmer jährlich folgende Rentenbeträge gezahlt: in der Rentenversicherung der Arbeiter 50,6 Millionen DM, in der Rentenversicherung der Angestellten 32,4 Millionen DM und in der knappschaftlichen Rentenversicherung 12,2 Millionen DM. Das macht für die Rentenversicherungen insgesamt 95,2 Millionen DM.
Ich rufe auf die die Frage IX/6 — des Herrn Abgeordneten Prochazka —:
Kann gemäß dem am 12. Mai 1965 gefaßten Beschluß der Bundesregierung im Laufe des nächsten Jahres mit der fristgerechten Vorlage eines dritten Änderungsgesetzes zur Kriegsopferversorgung, das eine jeweilige zweijährige Anpassung der Rentenleistungen zum Gegenstand hat, gerechnet werden?
Die Bundesregierung ist bestrebt, im Jahre 1966 ein Drittes Neuordnungsgesetz vorzulegen. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesregierung zu ihrer früheren Zusage stehe, die Kriegsopferrenten unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und des realen Wachstums der Volkswirtschaft periodisch zu überprüfen. Selbstverständlich bedarf ein Drittes Neuordnungsgesetz einer sehr sorgfältigen Vorbereitung. Auf Grund der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers und der Aussprache habe ich in meinem Hause bereits Anweisung gegeben, entsprechende Vorarbeiten für ein Drittes Neuordnungsgesetz zu treffen,
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 177
Die Fragen sind beantwortet.
Ich rufe auf aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung die Fragen X/1, X/2 und X/3 — des Herrn Abgeordneten Geiger —:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß der Oberbürgermeister der Stadt Leonberg der Wehrbereichsverwaltung V wegen der getroffenen Maßnahmen auf dem ehemaligen Flugplatzgelände Malmsheim vorgeworfen hat, „außerhalb der Legalität" gehandelt zu haben, weil die Verwaltung die im Bundesbaugesetz und in der Landesbauordnung verankerte Planungshoheit der Gemeinden „einfach ignorierte"?
Trifft es zu, daß die auf dem ehemaligen Flugplatzgelände Malmsheim erstellten Bauten von den Gemeinden, vom Landratsamt und vom Regierungspräsidium nicht genehmigt worden sind?
Steht die Bundesregierung auch heute noch zu der mir vom Bundesverteidigungsminister in der 105. Sitzung des 4. Bundestages gegebenen Erklärung, „daß mit der jetzt geplanten militärischen Nutzung keinerlei Aufbauten oder sonstige wesentliche Veränderungen des Grund und Bodens verbunden sind, so daß eine anderweitige militärische oder auch zivile Verwendung des Geländes durchaus möglich bleibt"?
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort des Bundesministers von Hassel vom 3. November 1965 lautet:
Zu Frage X/1 :
Die Vorwürfe des Oberbürgermeisters der Stadt Leonberg gegen die Wehrbereichsverwaltung V wegen der getroffenen Baumaßnahmen auf dem ehemaligen Flugplatzgelände Malmsheim sind mir erst durch die Presse bekannt geworden. Sie sind unbegründet.
Die Wehrbereichsverwaltung V hat bereits im Sommer 1964 bei der Landesregierung Baden-Würtemberg ein Raumordnungsverfahren nach § 1 Abs. 2 Landbeschaffungsgesetz beantragt, obwohl es sich lediglich um die Randbebauung bundeseigenen Geländes handelte. Im Rahmen dieses Verfahrens wurden auch die betroffenen Gemeinden zu der Absicht der Bundeswehr gehört, für die Unterbringung von Geräteeinheiten Bauten auf der Randparzelle des Flugplatzes zu errichten. Nach Abschluß des Verfahrens ist der Wehrbereichsverwaltung am 13. Oktober 1964 mitgeteilt worden, daß der Ministerrat des Landes Baden-Württemberg keine Einwendungen gegen das Bauvorhaben erhebe. Weder im Rahmen dieses Verfahrens noch sonst hat die Bundeswehrverwaltung oder die für die Ausführung der Bauten zuständige Landesbauverwaltung Hinweise darauf erhalten, daß dem Vorhaben planerische Absichten der Gemeinden Malmsheim und Renningen, die insoweit allein in Betracht kommen, entgegegenstünden. Erst am 9. September 1965 haben die beiden genannten Gemeinden unter Außerachtlassung ihrer Verpflichtung, den Eigentümer zu hören, einen Flächennutzungsplan für das bundeseigene Gelände aufgestellt. Diesem Vorhaben werde ich allerdings sowohl aus formellen als auch aus sachlichen Gründen widersprechen.
Zu Frage X/2:
Die für die Bauplanung und Bauausführung zuständige Landesbauverwaltung hat am 11. Februar 1965 mit Dringlichkeitshinweis die Zustimmung des Regierungspräsidiums Nordwürttemberg als der oberen Bauaufsihtsbehörde erbeten. Dabei konnte sie davon ausgehen, daß der formellen Zustimmung, die gemäß § 37 Abs. 2 Bundesbaugesetz und § 107 Landesbauordnung für Baden-Württemberg nur aus baufachlichen oder baupolizeilichen Gründen versagt werden kann, kein Hindernis entgegensteht. Sie hat daher im Juni 1965 mit dem Bau beginnen lassen. Einer Genehmigung durch die Gemeinde oder des Landratsamtes bedurfte es nicht.
Erst durch das Schreiben des Regierungspräsidenten Nordwürttemberg vom 5. Oktober 1965 — also 8 Monate nach Antragstellung — ist die Landesbauverwaltung davon unterrichtet worden, daß die Angelegenheit wegen eines „Einspruchs" der Gemeinden dem Innenministerium vorgelegt würde. Sie hat daher die Bauarbeiten einstellen lassen.
Zu Frage X/3:
Meine Ausführungen in der 105. Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. Januar 1965 betrafen, wie aus dem Protokoll ersichtlich, die Fragen einer militärischen Wiederverwendung des eigentlichen Flugplatzgeländes Malmsheim . Ich stehe auch weiterhin zu meiner Erklärung, daß mit der Nutzung als Sprungübungsplatz für Fallschirmeinheiten „keinerlei Aufbauten oder sonstige wesentliche Veränderungen des Grund und Bodens verbunden sind, so daß eine anderweitige militärische oder auch zivile Verwendung des Geländes möglich bleibt",
Die Nutzung der ca. 4 ha großen Randfläche , der die Landesregierung bereits im Oktober 1964 zugestimmt hatte, stand und steht mit den am 7. Januar 1965 im Bundestag erörterten Fragen meines Erachtens nicht in Zusammenhang.
Ich rufe die Frage X/4 — des Herrn Abgeordneten Felder — auf:
Hat das Bundesverteidigungsministerium nach dem Vorgang in der Münchener Theatinerkirche eine Ergänzung der Standort-Dienstvorschriften der Bundeswehr dahin gehend veranlaßt, daß bei Gottesdiensten innerhalb des kirchlichen Raumes Soldaten nicht mehr bewaffnet auftreten dürfen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Ergänzung der Dienstvorschriften der Bundeswehr ist nicht notwendig. Denn die Anzugsordnung schreibt für die Teilnahme an Gottesdiensten den Ausgehanzug vor. Zum Ausgehanzug gehören nicht Waffen. Die Aufstellung des Ehrenzugs mit Waffen in der Münchner Theatinerkirche anläßlich des Stiftungsfestes des bayerischen Max-Josef-Ritterordens verstieß somit gegen die Anzugsordnung. Es handelt sich um einen Einzellfall.
Ich rufe die Frage X/5 — des Herrn Abgeordneten Fritsch — auf:
Wie vielen Städten und Gemeinden wurden Anträge auf Gewährung von Finanzierungshilfen zum Bau von Hallenbädern in Anwendung des Erlasses des Bundesverteidigungsministeriums vom 17. August 1965 über den sofortigen Wegfall derartiger Finanzierungshilfen unbewilligt zurückgegeben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
In Anwendung des Erlasses vom 17. August 1965 sind bis jetzt 22 Anträge auf Bewilligung einer Finanzhilfe für Hallenbäder abgelehnt worden. 11 weitere Anträge werden wohl ebenfalls abgelehnt werden müssen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, könnten Sie sagen, wieviel bayerische Städte und Gemeinden von dieser Ablehnung ihrer Anträge betroffen worden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann Ihnen diese Auskunft schriftlich geben, wenn Sie einverstanden sind, Herr Abgeordneter.
Noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihrem Hause bekannt, daß dadurch für die Antragsteller erhebliche Härten aufgetreten sind, um so mehr, als ja diese Antragsteller mit einiger Sicherheit damit gerechnet haben, daß die beantragten Darlehen und Zuschüsse Bestandteil ihrer Finanzierung sein würden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verhandlungen über alle diese Anträge haben bisher noch nicht stattgefunden,
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178 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Staatssekretär GumbelInfolgedessen können die Antragsteller wohl kaum mit einer Finanzhilfe in einer bestimmten Höhe gerechnet haben.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schäfer.
Herr Staatssekretär, handelt es sich um Ablehnungen oder um Zurückstellungen der Anträge?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es handelt sich um Ablehnungen, und zwar aus dem Grunde, weil die Bundeswehr zu der Auffassung gelangt ist, daß es besser ist, eigene Hallenschwimmbäder für die Truppe zu bauen.
Weitere Zusatzfrage.
Damit komme ich zu meiner zweiten Frage, die ich Ihnen ohnehin stellen wollte. Ist das sparsam, wenn vom Bund mehr Geld aufgewendet wird für den Bau von Hallenbädern nur für Angehörige der Bundeswehr statt — wie es sinnvoll wäre — für die ganze Bevölkerung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Hallenschwimmbäder, die die Bundeswehr mitfinanziert hat, haben ja in der
Hauptsache der Bevölkerung zur Verfügung gestanden. Sie haben aber nach den Erfahrungen der Truppe nicht ausgereicht, die Schwimmausbildung der Truppe zu betreiben. Aus diesem Grunde ist man dazu übergegangn, in verstärktem Umfang
eigene Hallenbäder für die Truppe zu bauen. Die Mehrkosten sind nicht sehr erheblich; denn die Kosten, die für den Bau eines Hallenschwimmbads der Truppe aufgewendet werden, liegen erheblich unter den Kosten für den Bau von Hallenschwimmbädern für die Allgemeinheit.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dröscher.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung oder das Bundesverteidigungsministerium bereit, die von der Bundeswehr errichteten Hallenschwimmbäder in der Zeit, in der die Bundeswehr die Bäder nicht braucht, also z. B. in den Abendstunden, wo dies für Berufstätige in Frage kommen könnte, für die Bevölkerung freizugeben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Hallenschwimmbäder der Bundeswehr sind nicht dafür eingerichtet, sie zur allgemeinen Benutzung freizugeben.
Das ist ja mit ein Grund dafür, daß die Kosten für
den Bau der Hallenschwimmbäder der Bundeswehr
verhältnismäßig gering sind; denn Umkleidekabinen
und sonstige Einrichtungen können zum großen Teil eingespart werden.
Würde man nicht einer Verschwendung öffentlicher Gelder entgegenwirken, wenn durch den sicher nicht allzu teuren Einbau dieser Zusatzeinrichtungen in den Mittelstädten, die meistens als Garnisonstädte in Frage kommen, erreicht würde, daß diese doppelte und damit ökonomisch sinnvolle Benutzung ermöglicht würde?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich will die Frage gern noch einmal prüfen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller.
Herr Staatssekretär, ist das Bundesverteidigungsministerium bereit, die Frage zu prüfen, ob wenigstens den Sportvereinen solche Schwimmanlagen für ihren Trainingsbetrieb zur Verfügung gestellt werden können?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich werde auch diese Frage gern prüfen lassen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmidt .
Herr Staatssekretär, sind Sie in der Lage, anzugeben, in welchem Maße die rein militärischen Badeanlagen benutzt werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die militärischen Hallenschwimmbäder werden errichtet, wenn etwa 4000 Soldaten am Standort sind. Sind sie nicht am Standort vorhanden, dann werden verschiedene Standorte, die nicht allzu weit auseinanderliegen, zusammengefaßt, so daß also ein Hallenschwimmbad für die gemeinsamen Standorte errichtet wird. Die Meßzahl ist jedenfalls 4000 Soldaten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Welche Gewähr besteht denn dafür, daß diese 4000 Soldaten für ein Hallenschwimmbad diese Anlage wirklich von morgens bis abend ausnutzen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Gewähr liegt in der Verpflichtung der Kommandeure, für die Schwimmausbildung ihrer Soldaten zu sorgen. Die Schwimmausbildung ist ja Dienst und wird in den Dienstplan aufgenommen.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 179
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Rinderspacher.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie — nachdem Sie die Prüfung dieser Frage zugesagt haben — fragen: Bis wann, glauben Sie, wird diese Prüfung abgeschlossen sein, und in welcher Form gedenken Sie die Ergebnisse dieser Prüfung dem Hohen Hause zugänglich zu machen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Prüfung werde ich sofort in die Wege leiten und werde den Herren Abgeordneten, die die Fragen gestellt haben, das Ergebnis zuleiten.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß darüber hinaus die gesamte Bevölkerung ein Interesse an der Beantwortung dieser Frage hat, und würden Sie nicht erwägen, ob es eine andere Möglichkeit gibt, die Antwort auf diese Frage der großen Öffentlichkeit zugänglich zu machen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe keine Bedenken, das zu tun.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Klepsch.
Herr Staatssekretär, gibt es nicht Schwimmbäder, die bundeswehreigen sind und dessenungeachtet der Bevölkerung zur Mitbenutzung zur Verfügung gestellt werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann die Frage nicht mit Ja oder Nein beantworten. Ich weiß es im Moment nicht.
Eine Zusatzfrage.
Wenn es so wäre, Herr Staatssekretär, wäre dann nicht zu erwägen, diesen Brauch auf möglichst viele bundeswehreigene Schwimmbäder auszudehnen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe das schon mit der Bereitschaft, diese Frage zu prüfen, zum Ausdruck gebracht.
Eine weitere Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, vorhin haben Sie gesagt, daß ein militäreigenes Hallenbad für ca. 4000 Soldaten gebaut werden sollte. In lüneburg sind mehr als 4000 Soldaten. Haben die Soldaten unserer Garnison zuwenig Schwimmunterricht, da dieses Hallenschwimmbad sowohl von der Garnision als auch von der Bevölkerung benutzt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann nur generell dazu antworten, Herr Abgeordneter. Im allgemeinen werden der Bundeswehr in diesen Bädern 12 bis 14 Wochenstunden zur Verfügung gestellt. Diese Zahl von Wochenstunden reicht nicht aus, einen ordnungsgemäßen Schwimmunterricht durchzuführen. Es kommt die Schwierigkeit hinzu, diese von den Kommunalbehörden zur Verfügung gestellten Stunden mit dem allgemeinen Dienstplan der Truppe in Einklang zu bringen. Die Truppe kann diese Stunden zum Teil wegen ihres anderweitigen Dienstes nicht ausnutzen.
Eine Zusatzfrage, des Abgeordneten Moersch.
Sind diese 4000 Soldaten nur Bundeswehrangehörige, oder sind in dieser Zahl auch andere NATO-Einheiten einbezogen, die gemeinsam mit der Bundeswehr in einer Stadt Dienst tun, und wird dann noch ein extra NATO-Schwimmbad gebaut werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube nicht.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schulze-Vorberg.
Herr Staatssekretär, würden Sie aus diesen Fragen aus allen Fraktionen entnehmen wollen, daß ein Interesse daran besteht, solche Einrichtungen der Zivilbevölkerung zugänglich zu machen, und würden Sie sagen, daß diese Hallenbäder Einrichtungen sind, durch die man die Verbindung zwischen der Bundeswehr und der übrigen Bevölkerung besonders pflegen sollte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte das grundsätzlich sagen, aber, Herr Abgeordneter, ich kann jetzt nicht konkret angeben, wie man eine solche Regelung treffen kann. Ich muß darauf hinweisen, daß natürlich die Belange des Dienstes — das ist wohl verständlich — hier den Vorrang haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Hamm.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung — und würden Sie das bei Ihrer Überprüfung berücksichtigen —, daß, wenn diese Hallenbäder der Bundeswehr in großem Stil von der Bevölkerung mitbenutzt werden können, sich der Schwimmunterricht in der Bundeswehr in vielen Fällen erübrigt, weil die Bevölkerung vorher schon schwimmen gelernt hat?
Metadaten/Kopzeile:
180 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das kann man nur unter Einschränkungen mit Ja beantworten.
Weitere Zusatzfragen scheinen nicht gewünscht zu werden.
Dann rufe ich die Frage X/6 — des Abgeordneten Ollesch — auf:
Ist die Bundesregierung bereit, alle Flüge mit Maschinen vom Typ „Starfighter" einzustellen, bis eine abschließende und befriedigende technische Untersuchung dieser Maschinen vorliegt und der Verteidigungsausschuß über das vollständige Ergebnis dieser und alter zuvor durchgeführten Untersuchungen informiert ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Starfighter werden laufend technisch gewartet. Wird dabei ein technischer Mangel festgestellt, der die Flugsicherheit auch nur geringfügig beeinträchtigt, erfolgt eine generelle Sperrung für den Flugbetrieb, bis alle Flugzeuge der gleichen Bauserie untersucht sind. Flugzeuge, bei denen der Fehler nicht vorliegt, nehmen den Flugbetrieb nach der Überprüfung wieder auf. Die übrigen bleiben am Boden, bis der Mangel behoben ist. Dieses Verfahren mußte durch die Luftwaffe in diesem Jahr mehrfach angewendet werden. Oft sind es nur wenige Flugzeuge, die betroffen sind. Bei der letzten Überprüfung war es jedoch eine größere Zahl. Es besteht kein Anlaß, dieses Verfahren zu ändern. Technische Mängel treten auch noch bei Flugzeugen auf, die zehn Jahre und länger im Dienst stehen. Sie beschränken sich keineswegs auf den Starfighter.
In den letzten Wochen ist die Öffentlichkeit durch alarmierende Nachrichten über Unfälle des Starfighter beunruhigt worden. Eine gewisse Häufung von Unfällen ergibt sich im Sommer jedes Jahres, bedingt durch den erhöhten Flugbetrieb in der für das Fliegen günstigsten Jahreszeit. Die Unfallsituation bei der Luftwaffe und deren Ursachen werden dem Verteidigungsausschuß ausführlich vorgetragen werden. Dabei wird sich zeigen, daß das Ansteigen der Unfallquote nicht durch den einen oder anderen ganz bestimmten Hauptfehler, sondern vielfach durch das Zusammenwirken von Mängeln, Fehlern und Unzulänglichkeiten sowohl im technischen als auch im menschlichen Bereich verursacht wird.
Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer Antwort entnehmen, daß Sie der Auffassung sind, trotz anderslautender Meldungen in der Öffentlichkeit seien die Schwierigkeiten mit dem Starfighter nicht so groß, daß ein befristeter Startverzicht bis zur Diskussion im Verteidigungsausschuß zu rechtfertigen wäre?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin nicht der Meinung, daß das notwendig ist, Herr Abgeordneter.
Eine letzte Zusatzfrage,
Herr Staatssekretär, sind Sie über die Ausführungen orientiert, die der belgische Verteidigungsminister nach Pressemeldungen von gestern und heute in Verfolg einer Anfrage im belgischen Parlament über den Starfighter und die Ursachen der Abstürze gemacht hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin über die Ausführungen des belgischen Verteidigungsministers durch eine Pressemitteilung orientiert. Es handelt sich um einen ganz bestimmten Fehler, der an einigen Maschinen aufgetreten ist.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Cramer.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, was wir gelegentlich bei Truppenbesuchen hören, daß auf den einzelnen Flugplätzen nicht die notwendige Anzahl Personal für Prüf- und Wartungszwecke vorhanden ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, Sie als Mitglied des Verteidigungsausschusses wissen, daß die Personalsituation bei der Bundeswehr allgemein und im besonderen auch im technischen Dienst sehr angespannt ist. Damit haben die hier aufgetretenen Unfälle aber nur sehr bedingt etwas zu tun.
Herr Staatssekretär, heißt das, daß die Prüf- und Wartungsarbeiten richtig, zeitgemäß und ordentlich durchgeführt werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jawohl.
Eine Zusatzfrage, Herr Müller.
Herr Staatssekretär, trifft die Meldung zu, daß der belgische Verteidigungsminister dem belgischen Parlament mitgeteilt habe, in Belgien seien deswegen weniger Unfälle als in anderen NATO-Ländern aufgetreten, weil man dort rechtzeitig einen Schaden behoben habe, der z. B. bei den Flugzeugen der Bundesrepublik nicht 'behoben worden sei?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es handelt sich nicht um einen Schaden, sondern um einen gewissen schwachen Teil innerhalb des gesamten Apparates. In den Fällen, in denen in Deutschland Unfälle aufgetreten sind, geht es darum, daß aus einer ganz bestimmten Fertigung fehlerhafte Teile geliefert worden sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Hätten diese — wie Sie sagten — schwachen Teile nicht früher beseitigt werden können, wenn in anderen Ländern bekannt war, daß es schwache Teile gegeben hat?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 181
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es handelt sich nicht um ein Teil, das die Flugsicherheit als solche in Frage gestellt hat. Die Angelegenheit ist vor Jahren besprochen worden. Belgien hat sich zu einer Änderung entschlossen, die USA, Italien, Holland und Deutschland haben das nicht getan. Daß nun genau dieses Teil später auch fehlerhaft gefertigt worden ist, hat an sich mit dem Konstruktiven nichts zu tun.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Moersch.
Herr Staatssekretär, treffen Meldungen zu, die im „Stern" erschienen sind, daß beim Starfighter ein Konstruktionsfehler bei der Sicherung des Kabinendaches vorgelegen habe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist mir nicht bekannt.
Bei der Verankerung des Kabinendachs, das weggeflogen sei.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es sind doch nicht alle Kabinendächerweggeflogen.
Das habe ich auch nicht behauptet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann diese Frage nicht mit Sicherheit beantworten. Deswegen bitte ich einverstanden zu sein, daß ich sie Ihnen schriftlich beantworte, soweit das nicht ohnehin im Verteidigungsausschuß vorgetragen wird.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Moersch.
Herr Staatssekretär, was hat das Verteidigungsministerium bisher unternommen, um diesen Bericht zu erläutern, der bereits vor zehn Tagen in der Presse erschienen ist und der doch sehr aufsehenerregend gewesen ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die technische Überwachung der Maschinen findet, wie ich schon sagte, laufend statt. Wenn sich Mängel herausstellen — das habe ich eingangs ausgeführt —, werden die Maschinen gesperrt, d. h. es wird Startverbot erteilt, bis nachgeprüft ist, worin der Mangel besteht und wie ihm abgeholfen werden kann. Erst dann wird wieder eine Freigabe zum Start erteilt, wenn der Mangel behoben ist. So ist auch hier in diesen Fällen verfahren worden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsekretär, können Sie die Zahl der Abstürze von Starfighter-Maschinen mit tödlichem Ausgang angeben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich bin nicht in der Lage, hierüber in der Öffentlichkeit Auskunft zu geben.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe auf die Frage X/7 — des Herrn Abgeordneten Schultz —:
Beabsichtigt das Bundesverteidigungsministerium, von der Bewirtschaftung von Kantinen in der bisherigen Form abzugehen und statt dessen eine zentrale Kantinenorganisation zu errichten?
Die Frage wird von Herrn Abgeordneten Schmidt übernommen. — Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die zweckmäßigste Form der Kantinenbewirtschaftung wird gegenwärtig noch geprüft. Insbesondere werden folgende Verbesserungen angestrebt: eine Marketenderwarenbevorratung für die Truppe, die Versorgung von kleinen Einheiten mit Kantinenwaren, die Versorgung der Truppe auf Manövern und Übungen mit Kantinenwaren und schließlich sozialgerechtere Preise in den Truppenkantinen, besonders im Vergleich zu Betriebskantinen.
Gegenstand der Untersuchung war auch ein Vergleich mit den Kantinenorganisationen unserer NATO-Partner, die durchweg zentrale Betreuungssysteme eingeführt haben. Hierzu werden, und zwar in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesminister für Wirtschaft, alternativ noch andere Möglichkeiten untersucht, die die Erfüllung der obengenannten Forderungen gewährleisten sollen.
Die Berufsorganisation der Kantinenpächter ist in dieser Angelegenheit mit dem Bundesverteidigungsministerium in einem ständigen Gespräch.
Erst nach Abschluß aller Untersuchungen werde ich in der Lage sein, zu prüfen, ob eine neue Organisationsform für das Kantinenwesen erforderlich ist oder ob das gegenwärtige System lediglich modifiziert werden muß.
Eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, nach Abschluß Ihrer Untersuchungen dem Verteidigungsausschuß und ebenfalls dem Wirschaftsausschuß — da in diesem Fall auch die Wirtschaft tangiert ist — zu berichten, bevor endgültige Beschlüsse bei Ihnen gefaßt werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das wird ganz sicher dem Verteidigungsausschuß vorgetragen werden, und ich werde dann auch dafür sorgen, daß der Wirtschaftsausschuß informiert wird,
Metadaten/Kopzeile:
182 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Eine weitere Zusatzfrage!
Nur eine harmlose Frage. Ich möchte nur ungefähr wissen: Wann glauben Sie mit Ihrer Untersuchung zum Abschluß zu kommen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich selbst habe vor meinem Urlaub noch eine Besprechung mit dem Vorstand des Kantinenpächterverbandes geführt. In der Zwischenzeit hat sich auch noch einmal der Bundeswirtschaftsminister mit meinem Hause in Verbindung gesetzt. Ich bitte zu entschuldigen, wenn ich über den allerneuesten Stand nicht informiert bin, weil ich erst vor zwei Tagen aus dem Urlaub zurückgekehrt bin.
Eine weitere Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, ist daran gedacht, die Kantinenpächter ins Angestelltenverhältnis zu übernehmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn man die Kantinenbewirtschaftung in eigener Regie oder in einer zentralen Regie übernähme, würde den Pächtern die Leitung von Filialen angeboten werden. Darüber sind bereits Untersuchungen angestellt worden, und mir ist von dem Vorstand des Kantinenpächterverbandes mitgeteilt worden, daß etwa 85 % der Kantinenpächter bereit wären, dann die Leitung einer solchen Filiale zu übernehmen.
-Eine weitere Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, wenn an eine zentrale Versorgung der Kantinen gedacht ist: Kann sichergestellt werden, daß die Betriebe, die im Zonenrandgebiet liegen, auch die Garnisonen im Zonenrandgebiet beliefern?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist nicht daran gedacht, alle Kantinenwaren zentral zu beschaffen, sondern es wird dann ein Mischsystem eingeführt werden, das in einer zentralen und in einer regionalen Beschaffung besteht. In dem Zusammenhang würden dann auch die Zonenrandgebiete, in denen sich ja eine Reihe von Garnisonen befinden, berücksichtigt werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Opitz!
Herr Staatssekretär, würde nicht, wenn man die Pächter ins Angestelltenverhältnis übernähme und auf der anderen Seite die Pacht der Kantinenpächter ausfiele, dadurch eine enorme Verteuerung des Kantinenwesens eintreten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich nannte schon Ziele, die mit einer Neuordnung des Kantinenwesens verbunden werden und verknüpft sind. Jedenfalls haben sich sehr viele Soldaten unzufrieden und überrascht gezeigt über die Preise der Kantinenwaren, die hin und wieder — in sehr vielen Fällen, möchte ich sogar sagen — über denen der Betriebskantinen liegen.
Noch eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, liegen die Preise eventuell nicht deswegen über den anderen Kantinenpreisen, weil eben die Pächter die Gehälter selbst tragen müssen und zusätzlich noch eine Pacht aufzubringen haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Alle diese Fragen befinden sich, wie ich schon sagte, in einer Untersuchung, die noch nicht abgeschlossen ist. Ich möchte den Untersuchungen hier nicht vorgreifen.
Keine Zusatzfrage mehr. Dann sind die Fragen unter X beantwortet.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Ich rufe auf die Frage XI/1 — des Abgeordneten Felder —:
Ist der Bundesverkehrsminister bereit, mit der deutschen Automobilindustrie in Verhandlungen einzutreten, die den obligatorischen Einbau von Abgasfiltern in Personen- und Lastkraftwagen zum Ziele haben?
Zur Durchführung der Forderung des § 47 Straßenverkehrszulassungsordnung, der bekanntlich bestimmt, daß die Verunreinigung der Luft das nach dem Stand der Technik unvermeidbare Maß nicht übersteigen darf, werden in nächster Zeit zunächst drei amtliche Richtlinien, und zwar über die Rauchbegrenzung der Dieselmotoren, über die Begrenzung der CO-Bestandteile der Otto-Motoren und über die Wirksamkeit der Kurbelgehäusezwangsentlüftung erlassen. Ihre Inkraftsetzung ist im Laufe des nächsten Jahres zu erwarten, wenn die Entwicklung der erforderlichen Prüfgeräte und der noch festzulegenden Maßverfahren abgeschlossen ist.Es ist die Aufgabe der einschlägigen Industrie — mit der deutschen Automobilindustrie und ihrem Verband stehen wir auch in diesen Fragen in ständiger Verbindung —, durch entsprechende konstruktive Maßnahmen die Forderungen des Gesetzgebers bei den von ihr hergestellten Fahrzeugen zu erfüllen. Der Einbau sogenannter Abgasfilter ist nur eines der heute im Gespräch befindlichen Mittel für eine Verbesserung der Abgaszusammensetzung. Jedoch scheint die Filterung der Abgase von Kraftfahrzeugmotoren nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse gegenüber der direkten oder katalytischen Nachverbrennung und gegenüber der besonderen konstruktiven Gestaltung des Motors zur Verhinderung schädlicher Abgasbestandteile keine Aussicht auf Erfolg zu haben. Im übrigen darf ich
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 183
Bundesminister Dr.-Ing. Seebohmmitteilen, daß eine besondere Prüfstelle für die Abgase von Kraftfahrzeugen beim Technischen Überwachungs-Verein in Essen eingerichtet und seit 1. September 1965 in vollem Umfang tätig ist.
Zusatzfrage!
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß in den Vereinigten Staaten gesetzliche Maßnahmen in dieser Beziehung getroffen wurden, und würden Sie die eventuell daraus resultierenden Erfahrungen zur Grundlage Ihrer weiteren Bemühungen machen?
Wir verfolgen die Entwicklung in den Vereinigten Staaten sehr genau. Was in Kalifornien, besonders in Los Angeles, geschehen ist, ist ein spezieller Fall, der auf die gesamtamerikanische Gesetzgebung nicht übergegangen ist. Man verfolgt in Amerika nicht die Filtermethode, vielmehr bisher zugelassene Verfahren zur Abgasbekämpfung mittels Nachverbrennung, Vergasereinstellung und direkter Verbrennung. Dem amerikanischen Repräsentantenhaus liegt ein Gesetz vor. Es ist vom Senat verabschiedet, aber im Kongreß noch nicht verabschiedet. Es dürfte voraussichtlich auch noch erhebliche Schwierigkeiten bei der Verabschiedung haben, weil neuere Untersuchungen hier wieder zu erheblichen neuen Gedankengängen und Überlegungen geführt haben.
Entsprechende Vorträge sind bei uns mit einer Darstellung der Gesamtmaterie bei der letzten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Mineralölforschung in Hannover gehalten worden. Ich darf Sie, Herr Kollege, auf einen Zeitungsartikel verweisen, der kürzlich im „Hamburger Abendblatt" erschienen ist, und zwar am 21. November, mit der Überschrift „Abgaswunder gibt es nicht". Was hier dargestellt ist, entspricht praktisch auch genau unseren Erfahrungen. Wir halten über diese Fragen natürlich nicht nur mit Amerika, sondern auch mit den anderen automobilbauenden Nationen enge Fühlung.
Zweite Zusatzfrage!
Herr Minister, ist Ihnen auch bekannt, daß Ihr Kollege in Nordrhein-Westfalen, Herr Grundmann, auf die Dringlichkeit dieses Problems hingewiesen hat?
Ja, sicher! Ich pflege im allgemeinen die Zeitungen zu lesen, und so etwas fällt mir natürlich besonders auf. Der Herr Kollege Grundmann hat nur erklärt, es müsse ein Gesetz geschaffen werden. Diese gesetzliche Bestimmung besteht in § 47 der Straßenverkehrszulassungsordnung. Sie braucht also nicht geschaffen zu werden. Die Frage ist vielmehr, wie man diese gesetzlichen Bestimmungen ausführen kann. Das kann man natürlich nur, wenn entsprechende, bewährte technische Einrichtungen vorhanden sind, die man dann auch zwangsweise vorschreiben kann.
Bitte, Herr Dr. Hamm.
Herr Minister, teilen Sie meine Auffassung, daß es mit Rücksich auf den Gesundheitsschutz der Verkehrsteilnehmer und des Publikums sinnvoll ist, durch gesetzliche Maßnahmen — in diesem Falle durch Richtlinien zu § 47 Straßenverkehrszulassungsordnung — der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung nachzuhelfen, anstatt mit den Richtlinien so lange zu warten, bis angeblich solche wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse erzielt sind?
Verehrter Herr Kollege, ich wiederhole die Überschrift des Artikels: Abgaswunder gibt es nicht. Sie können natürlich eine solche allgemeine Vorschrift erlassen, wie wir sie schon vor Jahren im § 47 erlassen haben, und Sie können weiterhin — und das tun wir seit Jahren bei den einschlägigen Instituten — entsprechende Untersuchungen laufen lassen. Es wird Ihnen vielleicht auch nicht entgangen sein, daß zur Zeit ein Versuch mit mehreren verschiedenartigen Autos in Hannover durchgeführt wird, wobei im ständigen Rundverkehr, mit Meßeinrichtungen versehen, diese verschiedenen Untersuchungen weitergeführt werden. Bei technischen Einrichtungen ist es aber nun einmal so, daß man zwar den Wunsch haben kann, eine technische Einrichtung zu haben, daß man deren Einbau aber erst vorschreiben kann, wenn man auch weiß, wie sie aussieht.
Noch eine Zusatzfrage!
Herr Minister, darf ich das so verstehen, daß Sie mit mir der Auffassung sind, daß die Richtlinien stufenweise verschärft werden sollten — zunächst geringere Anforderungen, dann nach Ablauf einer gewissen Zeit, stärkere Anforderungen —, und daß dieser Weg der richtige ist?
Das ist seit Jahren unser Prinzip, an dem wir festhalten, Herr Kollege. Denn wir können solche Maßnahmen nicht schlagartig für alle zugelassenen Autos einführen.
Ich rufe auf die Frage XI/2 — des Abgeordneten Lemper —:
Wann ist endgültig mit dem Ausbau des Reststückes B 55, Ortsdurchfahrt Bergheim , zu rechnen?
Die restliche Teilstrecke, Herr Kollege, der Ortsdurchfahrt Bergheim wird 1966 ausgebaut werden.
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184 Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Die Frage ist beantwortet.
Ich rufe auf die Frage XI/3 — des Abgeordneten Lemper —:
Wann wird die Haltestelle, die für das Frühjahr 1966 vorgesehen ist, in Kaster eingerichtet?
Herr Kollege Lemper, wie ich Ihnen auf Ihre Frage im März 1965 schriftlich darlegen durfte, ist die Voraussetzung für die Einrichtung eines Haltepunktes in Kaster im Frühjahr 1966 die rechtzeitige Sicherstellung der Finanzierung. Denn die Deutsche Bundesbahn vertritt nach wie vor die Auffassung, daß zur Zeit ein ausreichendes öffentliches Verkehrsbedürfnis nicht in dem Umfange bestehe, daß die erheblichen Betriebskosten eines Haltepunktes gerechtfertigt seien. Bedauerlicherweise brachten die seit längerer Zeit laufenden Verhandlungen mit der Veranlasserin, der Rheinischen-BraunkohlenWerke AG, bislang kein positives Ergebnis, so daß im Augenblick der genaue Zeitpunkt der Einrichtung des Haltepunktes Kaster leider noch weiterhin ungewiß ist. Wie ich damals schon ausführte, fällt die Angelegenheit in den alleinigen Zuständigkeitsbereich der Deutschen Bundesbahn, so daß ich leider nach dem Bundesbahngesetz in dieser Sache keine eigene Initiative zu entfalten vermag.
Die Frage ist beantwortet.
Ich rufe auf die Frage XI/4 — des Abgeordneten Dr. Kempfler —:
Hat das Bundesverkehrsministerium bei seinen Planungen, insbesondere im Rahmen des dritten Vierjahresplans, die Tatsache berücksichtigt, daß in der Nähe von Burghausen die Großraffinerie „Marathon" im Bau ist, die ähnlich wie die Ingolstädter Raffinerien eine bedeutende Belastung des Straßenverkehrs, insbesondere der B 12 und der B 20 bringen wird?
Ich beantworte die Frage mit ja; allerdings wird die im Bau befindliche Raffinerie „Marathon" — verglichen mit gleichartigen Anlagen im Raum Ingolstadt eine relativ kleine Raffinerie — in d er Nähe von Burghausen den Hauptteil ihrer Erzeugnisse, nämlich etwa 70 %, mittels Pipeline den unmittelbar in der Nähe gelegenen großen Chemiewerken zur Weiterverarbeitung zuleiten. Für sonstige Produkte, die weiter entfernt liegenden Verbrauchern zugehen sollen, stehen drei verschiedene Beförderungsmöglichkeiten noch zur Wahl: Schiene, Pipeline und Straße. Zwischen der Bundesbahn und der Raffinerie laufen erfolgversprechende Verhandlungen über die Beförderungsmöglichkeiten per Bahn entsprechend den Ergebnissen, die auch in Ingolstadt erzielt wurden. Erst wenn diese Verhandlungen abgeschlossen sind, kann festgelegt werden, wie hoch der Anteil jener erzeugten Produkte sein wird, die auf der Straße abtransportiert werden müssen. Rückschlüsse über die zusätzliche Belastung der Bundesstraßen durch die Raffinerie im Raum Burghausen und darüber hinaus können daher noch nicht abschließend gezogen werden. Aber unabhängig von der etwaigen zusätzlichen Verkehrsbelastung der Bundesstraßen durch die Produkte der
Raffinerie sind im 3. Vierjahresplan eine Reihe größerer Baumaßnahmen an der Bundesstraße 12 zwischen Passau und München und der Bundesstraße 20 vorgesehen. Diese Maßnahmen lassen sich jederzeit verstärken oder beschleunigen, wie dies auch im 2. Vierjahresplan im Raume Ingolstadt erfolgt ist, natürlich im Rahmen des Mittelausgleichs des Bundes für den Freistaat Bayern.
Zusatzfrage.
Werden Sie, Herr Minister, bei Ihren künftigen Planungen auch berücksichtigen, daß die „Marathon"-Raffinerie ungefähr das Doppelte des Umfangs erreichen wird, der ursprünglich geplant war, und daß sich eine reichhaltige Folgeindustrie gerade an den beiden von mir in der Frage genannten Straßen ansiedeln wird?
Es wäre sehr schön, wenn sich das so entwickelte. Zur Zeit aber haben mir diejenigen, die die „Marathon"-Raffinerie bauen, darüber leider noch keine abschließende Mitteilung gemacht. Die Mitteilung, die ich habe, ist, daß 70% der Produktion- in der Nähe verarbeitet und über Pipeline transportiert werden. Was dann übrigbleibt, ist natürlich nicht so sehr viel.
Frage XI/5 — des Herr Abgeordneten Wiefel —:
Ist der Bundesregierung bekannt, ob der Vorstand der Deutschen Bundesbahn beabsichtigt, Anträge auf Erhöhung von Verkehrstarifen im Güter- und Personenverkehr zu stellen?
Herr Kollege, der Bundesregierung ist bekannt, daß der Vorstand der Deutschen Bundesbahn die Frage prüft, wie die Tarife im Güter- und Personenverkehr den Selbstkosten angepaßt werden können. Seit den letzten Tarifanhebungen vor einigen Jahren sind, wie Sie wissen, die Selbstkosten erheblich gestiegen, so daß eine Anpassung der Tarife nach der Vorschrift des § 28 des Bundesbahngesetzes nicht weiter hinausgeschoben werden kann, zumal sich für 1966 eine weitere Steigerung der Selbstkosten auf dem Gebiet der Personalkosten abzeichnet. Selbstverständlich sind den Anhebungen aus marktwirtschaftlichen Gegebenheiten Grenzen gesetzt, die bei dem Ausmaß der Anpassungen zu beachten sein werden.
Frage XI/6 — des Abgeordneten Wiefel —:
Ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß Tariferhöhungen im Güterverkehr der Bundesbahn zwar kurzfristig die Einnahmen verbessern, auf die Dauer gesehen aber sehr wohl zu Verkehrsverlagerungen auf den Straßenverkehr führen können?
Herr Kollege, der Marktlage nicht angepaßte Tariferhöhungen eines Verkehrsträgers führen sehr leicht zu Verkehrsverlagerungen. Die Initiative für
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Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 185
Bundesminister Dr.-Ing. SeebohmTarifanpassungen liegt daher nach den geltenden gesetzlichen Vorschriften von 1961 ausschließlich bei den Verkehrsträgern selbst. Die Deutsche Bundesbahn wird also von sich aus die notwendigen Überlegungen anzustellen haben, um bei ihren Anpassungen der Tarife Verkehrsverlagerungen auf die Straße oder auf die Wasserstraße zu vermeiden. Ich bin überzeugt, daß sie dies bei ihren Anträgen berücksichtigen wird.
Zusatzfrage.
Herr Minister, will die Bundesregierung auch angesichts der bedenklichen Situation im Verkehr und ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Nachteile den 1961 eingeschlagenen verkehrspolitischen Kurs fortsetzen?
Die Bundesregierung hat weder zur Zeit noch früher erwogen, die Gesetze von 1961 zu ändern oder zurückzudrehen, Herr Kollege. Die Situation ist ja so, daß die Tarifgrundlagen schon jetzt keine Angelegenheit der Bundesregierung mehr sind, sondern Sache der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Auf Grund der Beschlüsse des Ministerrats vom 22. Juni 1965 hat die Kommission bereits sehr eingehende Unterlagen über die zukünftige Tarifgestaltung, die in Stufen vor sich gehen soll, vorgelegt. Sobald der Ministerrat wieder in voller Besetzung zusammentreten kann, dürfte diese Verordnung, die ja auf einem einstimmigen Ministerratsbeschluß vom Juni 1965 beruht, sehr rasch angenommen und veröffentlicht werden können. Dann liegen die Voraussetzungen für künftige Tarifanhebungen und -gestaltungen auf europäischer Ebene vor.
Frage XI/7 — des Herrn Abgeordneten Wiefel —:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß zur sinnvollen Abwicklung des Berufsverkehrs Maßnahmen der Bundesregierung dem Ziel dienen müssen, die öffentlichen Massenverkehrsmittel attraktiver zu machen, und nicht umgekehrt durch Fahrpreiserhöhungen der Drang zum Individualverkehr noch mehr verstärkt werden darf?
Herr Kollege, die Bundesregierung teilt grundsätzlich diese Auffassung. Sie hatdeshalb schon bisher bei den von der Bundesbahn durchgeführten Erhöhungen der Berufsverkehrstarife jeweils auf, eine angemessene Begrenzung hingewirkt. Sie wissen, daß wir seit Mai 1960 schon Ausgleichszahlungen geleistet haben und daß also auch in Zukunft zum Ausgleich für die auf diese Weise verursachten Mindereinnahmen der Bundesbahn in Gestalt der sogenannten Anpassungshilfe laufend Entschädigungen gewährt werden und gewährt werden sollen. Allerdings sind, wie sich gezeigt hat, niedrige Fahrpreise kein unfehlbares Mittel, um den Berufsverkehr auf die Schiene oder auf den Omnibusverkehr zu lenken, wie dies aus vielen Gründen erwünscht erscheint. Wegen seiner oft tatsächlich vorhandenen und seiner vermeintlichen Vorzüge wird der private Personenkraftwagen
häufig auch in solchen Fällen benutzt, in denen wesentlich höhere Mittel aufzuwenden sind als bei Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrseinrichtungen. Ihre Benutzung dient dem Verkehr zwischen Wohnung und Arbeitsplatz; der private Personenkraftwagen dagegen kann darüber hinaus noch zahlreiche andere Bedürfnisse befriedigen. Außerdem müssen ja auch die öffentlichen Massenverkehrsmittel eigenwirtschaftlich betrieben werden, oder sie müssen einen verbrieften Anspruch .auf Ausgleichszahlungen an die öffentlichen Hände haben.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, steht bereits fest, wo das zukünftige Schwergewicht von Tariferhöhungen im Personenverkehr der Bundesbahn liegen soll?
Ich habe zwar die Unterlagen der Bundesbahn noch nicht zur Hand und kann infolgedessen nichts Abschließendes darüber sagen, weil diese Unterlagen erst dem Verwaltungsrat vorgelegt werden müssen, der sich in seiner Sitzung am Freitag damit zu beschäftigen haben wird. Soweit mir aber bekannt ist, wird es so sein, daß von den Anpassungen im wesentlichen der Personennahverkehr in seinen verschiedenen Sparten, da er ja auch am stärksten defizitär ist, betroffen wird.
Eine Zusatzfrage Herr Abgeordneter Seibert.
Herr Minister, hat das Bundesverkehrsministerium bereits die Frage geprüft, ob durch eine Änderung der Vorfahrtsregelung in den Großstädten der Betrieb der Massenverkehrsmittel — etwa in der jetzt vom Verband öffentlicher Verkehrsbetriebe vorgeschlagenen Weise — beschleunigt und damit verbessert werden kann?
Herr Kollege Seibert, die Vorfahrtsregelung, die jetzt besteht, begünstigt ja immer noch die öffentlichen Verkehrsmittel. Bei der Eisenbahn ist diese Vorfahrtsregelung ganz selbstverständlich; das zeigen das Niederlassen von Schranken und die Tatsache, daß der übrige Verkehr auf die durchfahrenden Züge warten muß. Auch die Straßenbahnen haben vielfach Vorfahrt. Dagegen ist für Omnibusse eine besondere Vorfahrtsregelung nicht gegeben, weil diese sich als Gummifahrzeuge dem übrigen Verkehr normal einpassen können.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Minister, werden Sie den Vorschlag des Verbandes öffentlicher Verkehrsbetriebe genauestens überprüfen lassen, um daraus die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen?
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186 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Selbstverständlich werden wir diesen Vorschlag nochmals prüfen und dabei feststellen, wo die Herren Wünsche haben, die erfüllbar sind, ohne daß dadurch eine unangemessene Stauung anderer Verkehrsströme erfolgt; denn diese Stauungen sind natürlich auch sehr hinderlich für den Ablauf des Gesamtverkehrs, vor allem in den Flutstunden des Verkehrs, und treffen dann ganz besonders unsere arbeitende Bevölkerung, die zur Arbeit geht oder von der Arbeit schnell nach Hause kommen möchte.
Ich rufe auf die Frage XI/8 — des Abgeordneten Schonhofen —:
In welchem Umfange wäre die Deutsche Bundesbahn in ihrer Jahresrechnung entlastet worden, wenn sie in den letzten 10 Jahren 50 v. H. ihrer Fahrwegaufwendungen nicht selbst hätte tragen müssen?
Der Jahresaufwand der Deutschen Bundesbahn für ihren Fahrweg, Herr Abgeordneter, betrug in den letzten zehn Jahren im Durchschnitt jährlich rund 975 Millionen DM. Darin sind enthalten die Sachausgaben, die Löhne bahneigener Kräfte für die Unterhaltung, die erforderlichen Abschreibungen und die anteiligen Zinsen für das Fremdkapital. 50 % davon sind 487,5 Millionen jährlich.
Solange jedoch nicht eindeutig feststeht, ob und in welchem Umfang wettbewerbliche Ungleichheiten bei den binnenländischen Verkehrsträgern infolge der ihnen anzulastenden Wegekosten bestehen, erscheint es nicht gerechtfertigt, auf diesem Gebiet vorab einseitige Maßnahmen zu treffen.
Die Bundesregierung sieht die Lösung der Wegekostenfrage nach wie vor als besonders dringlich an. Die Untersuchung dieses Problems wird auf Grund einer Entscheidung des Ministerrats der EWG in Brüssel in den Mitgliedstaaten gemeinschaftlich durchgeführt. Die Untersuchungen dazu laufen 1966 an. Die Ergebnisse werden für 1968 erwartet. Die Bundesregierung ist weiterhin bemüht, diesen besonders schwierigen Fragenkomplex im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft so bald wie möglich abschließend zu klären, weil damit die Grundlage für die Harmonisierung der Wettbewerbsvoraussetzungen im Verkehr auf europäischer Ebene gefunden werden wird. Nationale Regelungen, die unter diesen Umständen und auf diesem Spezialgebiet jetzt getroffen würden, würden eine spätere gemeinsame europäische Regelung sehr erschweren. Da noch weitere Probleme der Normalisierung der Konten für die Eisenbahnen zu lösen sind, die nicht unter derartigen Vorbelastungen stehen, halte ich es für zweckmäßiger — gerade im Interesse der Deutschen Bundesbahn —, das wir uns zunächst diesen Problemen zuwenden und für eine dauerhafte Lösung sorgen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, teilen Sie die Auffassung des Pressechefs des Bundesfinanzministeriums, wonach der Straßenverkehr seit der Währungsreform mit mehr als 16 Milliarden DM subventioniert worden ist?
Ich würde das nicht „subventionieren" nennen; denn der Ausbau unseres Straßennetzes ist ja keine Subvention, er erfolgt ja nicht nur wegen des Verkehrs, sondern auch, um eine Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Man darf das also nicht so einseitig sehen. Der Verkehr ist immer die Grundlage für eine solche Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftsentfaltung.
Herr Abgeordneter Müller-Hermann zu einer Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, ist Ihnen die Stellungnahme des sozialdemokratischen Sprechers zu Verkehrsfragen, Herrn Bleiß, bekannt — ich erbitte keine Wertung, sondern frage nur, ob sie Ihnen bekannt ist —, in der es heißt: „Eines steht fest: daß der Kraftverkehr, solange er der derzeitigen erheblichen steuerlichen Belastung ausgesetzt ist, seine Wegekosten nicht nur bezahlt, sondern überbezahlt hat."
Mir ist die zitierte Stellungnahme bekannt. Zu der Sache selbst werde ich vielleicht im Verlaufe einer anderen Frage noch Stellung nehmen.
Ich rufe die von dem Abgeordneten Schonhofen gestellte Frage XI/9 auf:
Wie hoch ist zur Zeit der Betrag, den die französischen Staatsbahnen jährlich von der Regierung als Zuschuß zu ihren Wegekosten erhalten?
Die SNCF, die französische Eisenbahngesellschaft, hat im Jahre 1964 vom Staat einen Beitrag zu ihren Ausgaben für den Schienenweg in Höhe von 828 Millionen Neuen Franken erhalten. Dieser Beitrag entspricht etwa 60 % des Durchschnitts der Ausgaben der SNCF für die Unterhaltung und Erneuerung des Oberbaues und für die Unterhaltung der Kunstbauten und der Sicherungsanlagen. Es ist dabei darauf hinzuweisen, daß dieser Staatsbeitrag an die französische Eisenbahngesellschaft nicht als Ausgleich für bestehende Wettbewerbsverzerrungen gegenüber anderen Verkehrsträgern gezahlt wird. Es handelt sich hier also um eine echte Subvention, die in dieser Art und Höhe nicht als eine Kontennormalisierung angesprochen werden kann.
Wir kommen zu der ebenfalls von dem Abgeordneten Schonhofen gestellten Frage XI/10:Welche Beträge hat die Deutsche Bundesbahn im Rahmen ihrer Forderungen nach „Normalisierung der Konten", die sich dem Vernehmen nach auf insgesamt 3 Milliarden DM belaufen soll, im einzelnen vom Bund verlangt?
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 187
Die Deutsche Bundesbahn hat im einzelnen folgende Beträge zur Kontennormalisierung angefordert: Als Ersatz für das Kindergeld, soweit es nach dem Bundeskindergeldgesetz vom Bund gewährt wird, 68 Millionen DM; für überhöhte Versorgungslasten im Rahmen der sogenannten 30 %-Lösung 526 Millionen DM; als hälftige Teilung der Kosten für den Betrieb und die Erhaltung höhengleicher Kreuzungen mit Straßen 157 Millionen DM; als Zinsendienst für das in den Fahrweg der Deutschen Bundesbahn investierte Fremdkapital 230 Millionen DM; als Ausgleich für die Kosten der zivilen Verteidigung 7 Millionen DM; als Ausgleich für Kosten der Steuerharmonisierung 64 Millionen DM; als Wegekostenbeitrag 760 Millionen DM; als Ausgleich für die Kostenunterdeckung des Personennahverkehrs 1081 Millionen DM; als Ausgleich für die Kosten des Rentnerverkehrs mit Mitteldeutschland 58 Millionen DM; zusammen 2951 Millionen DM.
Nicht berücksichtigt sind dabei seitens der Deutschen Bundesbahn zwei echte, vom Bund bereits seit 1957 durchgeführte Normalisierungsvorgänge, nämlich die Abnahme betriebsfremder Versorgungslasten nach dem Kabinettsbeschluß vom 30. Januar 1957 mit 340 Millionen DM und die Übernahme der Verzinsung der Ausgleichsforderung der Deutschen Bundesbahn mit 33 Millionen DM, also über 370 Millionen DM jährlich.
Von diesem Gesamtbetrag hat die Deutsche Bundesbahn selbst die bereits aus dem Bundeshaushalt 1965 gewährten erfolgswirksamen Leistungen in Höhe von 765 Millionen DM abgesetzt, so daß auf das Jahr 1965 bezogen die Deutsche Bundesbahn eine Normalisierungsforderung von insgesamt 2159 Millionen DM errechnet hat. Die Absetzungen setzten sich zusammen aus der 30 %-Lösung mit 526 Millionen DM, dem Betrag für höhengleiche Kreuzungen mit Bundesstraßen in Höhe von 13 Millionen DM, dem Betrag für den Zinsendienst für Bundesbahnanleihen mit 106 Millionen DM und dem Beitrag zum Personennahverkehr in Höhe von 120 Millionen DM.
Die äußerst komplexe Materie der Normalisierung der Eisenbahnkonten läßt es nicht zu, in einer Fragebeantwortung im einzelnen zu jedem der vielfältig umstrittenen Tatbestände Stellung zu nehmen. Nur die beiden Hauptpunkte des Normalisierungskatalogs der Deutschen Bundesbahn kann ich kurz streifen.
1. Die Bundesregierung hat in ihrem Beschluß vom 5. Mai 1965 über Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Deutschen Bundesbahn in Aussicht genommen, fest bezifferte Zuschüsse zur Aufrechterhaltung des defizitären Personennahverkehrs zu leisten. Sie wird hierbei die Ergebnisse des Gutachtens der Deutschen Revisions- und Treuhand AG für die Kostenrechnung der Deutschen Bundesbahn berücksichtigen, das Anfang 1966 vorliegen wird. Dann wird über diesen Normalisierungstatbestand von besonderer finanzieller Bedeutung zu entscheiden sein.
2. Wegen des Wegekostenbeitrages darf ich auf meine Ausführungen zu Ihrer Frage über die Entlastung der Deutschen Bundesbahn von ihren Fahrwegaufwendungen verweisen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, darf ich Sie unter Berücksichtigung Ihrer Antwort auf meine Zusatzfrage zu Frage 8, in der ich nach den Subventionen für den Straßenverkehr fragte, nunmehr fragen, ob Sie mit mir der Meinung sind, daß die im Rahmen der Normalisierung der Konten an die Deutsche Bundesbahn bereits gezahlten oder zukünftig noch zu zahlenden Bundesmittel ebenfalls nichts mit einer Subventionierung der Deutschen Bundesbahn zu tun haben?
Alles, was im Rahmen der Normalisierung der Konten geschieht — Sie wissen, Herr Kollege, daß über diese Frage nicht überall völlig Einigkeit besteht —, erachte ich selbstverständlich niemals als eine Subvention, sondern als einen Ausgleichsbetrag, der eben, wie bei den anderen Eisenbahngesellschaften, auch der Bundesbahn gegeben werden muß, damit man endlich einmal zu einer klaren Rechnung kommt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Seibert.
Herr Minister, ist die Bundesregierung bereit, durch exakte Deklarierung im Bundeshaushalt zu erklären, daß finanzielle Zuwendungen des Bundes zum Ausgleich derartiger Belastungen keine Subventionen für das Unternehmen Deutsche Bundesbahn darstellen?
Das ist mein Bestreben, Herr Kollege.
Frage XI/11 — des Abgeordneten Tönjes —:
Sind der Bundesregierung Schätzungen aus neuerer Zeit über die Höhe der jährlichen Kosten bekannt, die durch Straßenverkehrsunfälle entstehen?
Amtliches Zahlenmaterial, Herr Kollege, über diesen Fragenkomplex liegt nicht vor. Für 1955 liegen Schätzungen mit 1,8 Milliarden DM vor.Nach Untersuchungen von Professor Dr. Ernist Willeke, dem Direktor des Instituts für Verkehrswissenschaft an der Universität Köln, sind die Unfallfolgekosten des Straßenverkehrs für das Jahr 1962 mit 5,5 Milliarden DM geschätzt. Für das Jahr 1964 schätzt Professor Willeke einen um 14 % höheren Betrag, d. h. also etwa 6,2 Milliarden DM. Dieses Jahr 1965 zeigt bekanntlich einen Abfall gegenüber der bisherigen Unfallspitze des Jahres 1964. 1965 werden erfreulicherweise trotz weiteren Zuganges an Kraftfahrzeugen die Zahlen der Toten und der Verletzten niedriger liegen.
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Bundesminister Dr.-Ing. SeebohmDie Schätzungen von Herrn Professor Dr. Willeke werden von anderen Experten als zu hoch angesehen. Seine Zahlen dürften daher als Obergrenze zur Grundlage weiterer Überlegungen gemacht werden können.
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit ist die Fragestunde beendet.
Wir fahren fort in der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung und in der ersten Beratung des Haushaltssicherungsgesetzes.
Was Wort hat der Herr Bundesfinanzminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich die seit gestern laufende Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung überdenke, dann habe ich leider den Eindruck, daß es wenig Sinn hat, den Versuch zu unternehmen, zu überzeugen. Wir haben insbesondere gestern vorbereitete Reden gehört, mit wohlpräparierten Gags an bestimmten Stellen. Diese Reden waren vorher über die Agenturen gelaufen, so daß die Fraktion der Opposition genau wußte, an welcher Stelle gelacht oder Beifall gegeben werden mußte.
Ich habe den Eindruck, daß hier im Hause einer dem andern Verschulden vorwirft. Die Opposition lastet der Regierungskoalition und hauptsächlich der Bundesregierung Verschulden an und macht den Versuch, sich selbst reinzuwaschen. Ich will nicht auf die billigen Argumente einiger Herren der Opposition eingehen und mit dem franzötsischen Sprichwort „qui s'excuse s'accuse" antworten.
Dabei darf ich an dieser Stelle einen Gesichtspunkt in die Diskussion bringen, der bisher bei der Beurteilung der Lage noch keine Rolle gespielt hat, wie ich mich richtig zu erinnern glaube. Dais ist die Frage des Zeitpunkts der Einbringung dieser Gesetze. Ich meine damit, daß die Bundesregierung nach sorgfältiger Vorbereitung, Prüfung und Überlegung 1962, 1963 und 1964 Gesetze eingebracht, daß die sorgfältige Bearbeitung dieser Gesetze in den Ausschüssen des Hohen Hauses ihre Zeit gekostet hat und daß in der Zwischenzeit von allen möglichen Seiten neue, andere Entwürfe eingebracht wurden, die nun allerdings kumuliert die Grenze des Tragbaren überschritten haben.
Man muß also, wenn man jemandem einen Vorwurf macht, auch einmal prüfen, wann der Betreffende, der sich eine Vorstellung gemacht, der eine Anregung gegeben und einen Entwurf eingebracht hat, bei der Errechnung der Belastungen angesetzt hat.
Die Koalition bemängelt fehlende Ersatzvorschläge der Opposition. Die Opposition denkt nach den Worten von Herrn Kollegen Dr. Möller überhaupt nicht daran, Ersatzvorschläge zu bringen, weil sie glaubt, daß es überflüssig sei, der Regierungskoalition oder der Bundesregierung mit Vorschlägen zur Hand zu gehen.
Diese gegenseitigen Vorwürfe zu prüfen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, halte ich für ein ziemlich überflüssiges Beginnen. Der Bundesminister der Finanzen muß an heute und an die Zukunft denken. Trotzdem kann ich es nicht unterlassen, doch ein ganz klein wenig nachzukarten.
Ich habe vor dem Plenum und in dien Ausschüssen, was Kollege Dr. Möller erfreulicherweise hier ausdrücklich erwähnt hat, immer wieder meine warnende Stimme erhoben. Ich habe darüber hinaus den Fraktionen, nicht zuletzt auch Herrn Dr. Möller, schriftlich die Belastungen vor Augen geführt — in den Vorlagen, die ich Ihnen zugestellt habe —, die angesichts des Pensums, das sich der Bundestag vorgenommen hatte, auf uns zukommen würden.
Herr Dr. Möller, darf ich Sie in einem berichtigen. Sie haben gesagt, wenn ich die Tür im Ausschuß hinter mir zugemacht hätte, habe die Regierungskoalition gegen mich beschlossen. Herr Dr. Möller, das habe ich mir sehr genau angesehen. Das hat nicht die Regierungskoalition allein so gemacht, sondern auch die SPD hat sehr fleißig bei verschiedenen Gelegenheiten mit wechselnden Mehrheiten die einzelnen Abstimmungen durchgeführt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Minister?
Bitte schön!
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß ich mich ausdrücklich auf Ihr Erscheinen im Finanzausschuß bei Erörterung der Frage der steuerlichen Behandlung der Beamtenpensionen bezogen habe und daß sich nach Ihrem Weggang genau das abgespielt hat, was ich heute vormittag behauptet habe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist in diesem speziellen Fall, Herr Kollege Dr. Möller, durchaus richtig. Aber ich habe ja gesagt, daß es fauch viele andere Fälle gegeben hat, bei denen sich die sozialdemokratische Opposition genauso verhalten hat wie alle anderen. Ich möchte auch hier noch einmal feststellen: Die SPD hat allen Gesetzen zugestimmt mit einer Ausnahme, dem Wohnungsbauänderungsgesetz. Und warum hat sie da nicht zugestimmt? Weil ihre finanziellen Vorstellungen noch weit über das hinausgegangen sind, was im Ausschuß zur Debatte stand.
Meine Damen und Herren, ich könnte auch darauf verweisen, daß nicht allein der Bundesfinanzminister gewarnt hat. Er hat sich in sehr guter Gesellschaft befunden. Insbesondere denke ich dankbar an die warnenden Worte und Bemühungen meiner Kollegen in der Finanzministerkonferenz der Länder, nicht zuletzt an die Bemühungen des damaligen Finanzsenators von Hamburg, des jetzigen Bürgermeisters Dr. Weichmann, der mit fast den gleichen Worten wie ich selber gewarnt hat.
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Bundesminister Dr. DahlgrünDann war die letzte Sitzung des 4. Deutschen Bundestages vorbei, und der Wahlkampf begann. Trotz aller Behauptungen über das Verhalten der Opposition, die nicht zuletzt Herr Kollege Dr. Möller aufgestellt hat, hat die SPD, obwohl sie doch nach ihrer eigenen Behauptung alles gewußt hat und über alles im Bilde war, sehr fleißig im Wahlkampf Belastungen verlangt, 11 Milliarden DM allein im Sozialsektor; Sie kennen die Veröffentlichungen, die darüber .gekommen sind. Davon wäre der Bund mit 9 Milliarden DM belastet worden und die Wirtschtft zusätzlich mit 18 Milliarden DM. Es kommt auf eine Milliarde DM gar nicht an. Die SPD hat jedenfalls in der Wahlauseinandersetzung eine außerordentlich hohe Belastung gefordert, genau dasselbe, meine Damen und Herren, was sie der Regierungskoalition vorwirft.Nun könnten Sie mir sagen: Wahlkampf ist Wahlkampf. Das will ich gelten lassen. Aber wenn ich mir die Rede von Herrn Kollegen Erler ansehe, die er gestern hier gehalten hat, dann muß ich sagen: Diese Rede war haargenau die konsequente Fortsetzung dieser widersprüchlichen Politik.
Auf der einen Seite hat Herr Erler von einem Finanzchaos gesprochen — davon kann überhaupt keine Rede sein — und auf der anderen Seite hat er in seiner Rede — das muß ich einmal sagen; das ist nun keine Retourkutsche gegen die „unsolide Finanzpolitik", von der Herr Kollege Dr. Möller immer spricht — mit innerer Unwahrhaftigkeit —um den Ausdruck „Pharisäer" -zu vermeiden —Forderungen aufgestellt, wie es die SPD auch vorher getan hat:
bei der Forschung, beim Städtebau, bei der Raumordnung, in der Strukturpolitik, in der Gesundheitsvorsorge, nicht zuletzt bei der Arbeitsmedizin, Bildung und Ausbildung, moderne Jugendpolitik, Zonenrand, Verkehr, soziale Sicherheit, Lastenausgleich, Zonenflüchtlinge, Vertriebene, Kriegsopfer. Meine Damen und Herren, es ist nichts ausgelassen!
Herr Erler fordert überall eine Verstärkung derAnstrengungen, und auf der anderen Seite weigertsich die SPD, zu sagen, wie sie das bezahlen möchte.
Wenn ich mich schon auf Kritik beschränke,. wie es die SPD zu tun beabsichtigt, dann darf sie nicht solche Forderungen aufstellen, ohne zu sagen, wie das bezahlt werden soll.Darf ich nun, bevor ich in der allgemeinen Erörterung fortschreite, zur Aufklärung des Sachverhalts speziell auf einige Behauptungen von Herrn Kollegen Dr. Möller zu sprechen kommen. Herr Dr. Möller hat behauptet, daß in den ersten 10 Monaten des Jahres 1965 eine Ausgabenentwicklung eingetreten sei, aus der sich die entsprechende Ausgabensteigerung für das Gesamtjahr 1965 errechnen lasse. Dadurch erweise es sich, daß der Bundeshaushalt der stärkste Inflationsherd gewesen sei.Meine Damen und Herren, die Steigerung der IstAusgaben im ersten Halbjahr 1965 gegenüber dem Vorjahreszeitraum hat 12,6 % betragen, die Steigerung für die Zeit bis Ende Oktober — nach Angaben der Bundesbank — 11,4 %.Man muß, wenn man einen solchen Zahlenvergleich anstellt, aber sehen, daß diese Zahlen keinen Schluß auf das Jahresergebnis 1965 zulassen, weil im ersten Halbjahr 1965 eine Sonderentwicklung eingetreten ist, die ich in zwei Punkten kennzeichnen möchte. Der eine Punkt ist die frühzeitige Verabschiedung des Haushalts 1965; daher erfolgte ein viel früherer Abfluß der Mittel als in früheren Jahren. Dazu kommen dann die vorzeitigen Zahlungen an die Deutsche Bundesbahn, die vornehmlich deshalb notwendig geworden sind, weil die eingeplanten Kapitalmarktmittel nicht zu beschaffen waren. Diesen Sonderverhältnissen im Jahre 1965 stand 1964 eine umgekehrte Ausgabenentwicklung gegenüber, nämlich ein verstärkter Abfluß der Mittel — insbesondere im letzten Vierteljahr — durch die Erhöhung des Kindergeldes, durch die Besoldungserhöhung usw.Die gesamten IstAusgaben, Herr Dr. Möller, steigen im Jahre 1965 gegenüber dem Vorjahr voraussichtlich um etwas mehr als 7 %; keinesfalls, glaube ich heute, wird die 66-Milliarden-Grenze überschritten. Die Steigerung hält sich also noch unterhalb der nominellen Zuwachsrate des Bruttosozialprodukt, die mit 8,6 % angegeben wird. Wenn Sie die Zahlen der Ist-Ausgaben, die noch nicht feststehen, weil das Jahr noch nicht zu Ende ist, nehmen, dann ergibt sich eine Zuwachsrate im Bundeshaushalt, die immer noch erheblich geringer ist als die Zuwachsrate bei den Ländern und Gemeinden. Bei den Ländern und Gemeinden muß man, glaube ich, im laufenden Jahr mit einer Zuwachsrate von mindestens 9 % rechnen.Nun können Sie mich fragen, wo die Ursachen liegen. Die Hauptursache liegt bei der Bundesbahn. Zusätzliche Leistungen mußten über die ausgewiesenen Ansätze hinaus mit fast 1,5 Milliarden DM erbracht werden. Dazu traten noch Mehrausgaben bei der Entwicklungshilfe. Ich will das hier nicht vertiefen, weil das eine reine Haushaltsfrage ist, über die wir uns sowieso noch werden unterhalten müssen. Das hängt mit der Kürzung der Ansätze zusammen, die bei der Verabschiedung des Haushalts durchgeführt wurde. Auch die Sparprämien und die Wohnungsbauprämien haben ebenso wie die Rückerstattung mehr erfordert. Das gilt übrigens auch, Herr Dr. Möller, für die Zuwendungen an das Land Berlin. Ich bin deshalb der Meinung, daß der Vorwurf, der Bund habe der besonderen Situation Berlins nicht ausreichend Rechnung getragen, völlig ungerechtfertigt ist. Er wird übrigens, Herr Dr. Möller, auch in Berlin von Ihren eigenen Freunden in keiner Weise geteilt.
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Bundesminister Dr. DahlgrünHerr Dr. Möller, ich habe gerade mit dem Berliner Finanzsenator sehr enge Fühlung. Ich habe die Hoffnung, daß ich auch für das Jahr 1966 mit ihm zu einer Übereinkunft komme.Die Bundesregierung hat — um nun auf das Ganze zurückzukommen — schon in den Kabinettsbeschlüssen vom 14. Juli und 12. August 1965 die Lage, die kam, vorausgesehen und hat wesentliche Teile der Mehrausgaben durch Einsparungen an anderer Stelle decken können. Ursache für die Entwicklung des Bundeshaushalts ist dann im wesentlichen die auch von Ihnen, Herr Dr. Möller, und von der SPD nicht vorgesehene schlechte Entwicklung des Kapitalmarktes gewesen, die es nicht zuläßt, etwa 600 Millionen DM an Kreditmitteln, die im Bundeshaushalt vorgesehen sind, unterzubringen.Eine ähnliche Situation wie beim Bund ist auch bei der Deutschen Bundesbahn eingetreten. Dort konnten Anleihen in Höhe von 565 Millionen und weitere Kredite in Höhe von rund 150 Millionen nicht untergebracht werden. Auch das ist eine Ursache für die schlechte Entwicklung der Bundesbahnfinanzen.Ein zweiter Vorwurf, den Sie meiner Überzeugung nach auch ungerechtfertigterweise erhoben haben, ist der, daß trotz Abweichung vom Plan im Jahre 1965 kein Nachtragshaushalt vorgelegt worden ist.
Herr Dr. Möller, diesen Vorwurf kann ich für 1965 nicht als gerechtfertigt anerkennen. Sie wissen: 1965 war das Wahljahr. Das Parlament war monatelang durch Ferien und Wahlkampfzeit aktionsunfähig. Es war also nicht möglich, einen solchen Nachtragshaushalt einzubringen. Daß das kein böser Wille war, Herr Dr. Möller, bitte ich aus der Tatsache abzulesen, daß gerade in der letzten Legislaturperiode mehr Nachtragshaushalte als jemals in einer anderen Legislaturperiode eingebracht und verabschiedet worden sind. Ich bin ein Freund des Nachtragshaushalts, um dem Parlament Gelegenheit zu geben, während der laufenden Entwicklung des Jahres Stellung zu nehmen. Ich habe 1962, 1963 und 1964 Nachtragshaushalte eingebracht, nur das Wahljahr 1965 macht in dieser Beziehung eine Ausnahme. Meine Damen und Herren, aus dem Vorwurf ersehe ich, wie sehr sich die Opposition bemühen muß, überhaupt Angriffspunkte für eine Debatte zu finden.Nun hat Herr Dr. Möller am Schluß seiner Ausführungen erklärt, daß seine Parteifreunde zu dem Haushaltssicherungsgesetz erst Stellung nehmen könnten, wenn der Entwurf des Haushalts 1966 vorliege. Das veranlaßt mich zu folgender Richtigstellung. Das Gesetzgebungsverfahren zur Festsetzung eines Bundeshaushalts ist ungewöhnlich umständlich und zeitraubend. Deshalb ist es selbst bei Einhaltung des Termins für die Einbringung im Bundesrat zum 1. Juli des Rechnungsjahres bisher nicht möglich gewesen einen Haushalt rechtzeitig zu verabschieden. In einem Wahljahr kann die Verabschiedung des Regierungsentwurfs erst erfolgen,nachdem sich die neu gebildete Regierung über die Grundsätze ihrer Haushaltspolitik klargeworden ist. Der früheste Termin der Zustellung nach einer Wahl ist also jeweils der Dezember des Wahljahres oder der Januar des darauf folgenden Jahres. So liegen die Dinge auch im laufenden Rechnungsjahr 1965.Nun bitte ich Sie zu überlegen: Da eine Reihe von Ausgaben verursachenden Gesetzen am 1. Januar 1966 in Kraft tritt, blieb nichts anderes übrig, als hier einzugreifen. Die durch diese Gesetze verursachten Ausgaben würden bereits zu laufen beginnen, während der Haushalt erst im Frühjahr 1966 verabschiedet werden kann.Auf Grund dieser Zwangslage ist es notwendig, dem Hohen Hause den Entwurf eines Haushaltssicherungsgesetzes vorzulegen und diesen Entwurf noch in diesem Jahr zu verabschieden, um den nach Art. 110 des Grundgesetzes erforderlichen Haushaltsausgleich ohne Gefährdung der finanzwirtschaftlichen Ordnung sicherzustellen. Ich bitte Sie um Verständnis für folgende einfache Überlegung: Das Haushaltssicherungsgesetz ist die Voraussetzung für die Aufstellung des Bundeshaushalts 1966. Das ist eine logische Folge, der sich niemand entziehen kann.Es zeigt sich, daß in der ganzen Diskussion eine gewisse Verwirrung herrscht, der auch Herr Kollege Dr. Möller unterlegen ist, wenn er von einer Deckungslücke im Haushalt des Jahres 1966 spricht.
Eine solche Deckungslücke kann nicht vorhanden sein, weil es einen Haushalt 1966, der eine Deckungslücke haben könnte, überhaupt noch nicht gibt.
Ich will das Nachkarten, wie ich sagte, nicht weiter betreiben. Ich könnte sehr viel zu der Kritik sagen, die Herr Kollege Dr. Möller wegen der Nichtanwendung des Art. 113 im August dieses Jahres angebracht hat. Vielleicht liegt es daran, daß Herr Dr. Möller für die Wahlzeit schon ein paar Reden vorbereitet hatte, die dann Makulatur geworden sind,
als wir nicht auf diesen Weg gegangen sind, weil schwerwiegende finanzpolitische und staatsrechtliche Bedenken dagegen zu erheben waren.Lassen Sie mich an dieser Stelle folgendes sagen: In aller Welt — auch hier im Hause — wird vom Sparprogramm gesprochen. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich ein so unmoderner Mensch, daß ich das nicht ganz begreife. Unter Sparen stelle ich mir nämlich etwas anderes vor. Sparen ist meiner Überzeugung nach der Verzicht auf Ausgaben, auf Konsum und die Zurücklegung des betreffendes Geldes.
Ich würde also das, was beim Haushaltssicherungsgesetz in Rede steht, nicht als Sparprogramm bezeichnen; es ist ein Einschränkungsprogramm, kein Sparprogramm.Es interessiert Sie vielleicht, etwas über das Volumen dieses Einschränkungsprogramms nach dem Haushaltssicherungsgesetz zu hören. Ich habe mir
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Bundesminister Dr. Dahlgründas zusammenstellen lassen. Dabei unterscheide ich zwischen echten Kürzungen, das heißt endgültigen Streichungen, und Verschiebungen in spätere Haushaltsjahre; ferner unterscheide ich zwischen alten und neuen Maßnahmen. Dabei nehme ich als Stichtag für die neuen Maßnahmen den 1. Januar 1965. Dann ergeben sich durch das Haushaltssicherungsgesetz einschließlich des Kabinettsbeschlusses, der eine weitere Einsparung gebracht hat, echte Kürzungen in Höhe von 2,3 Milliarden DM und Verschiebungen in Höhe von 2,2 Milliarden DM; davon entfallen auf alte Maßnahmen 3,3 Milliarden DM und auf neue Maßnahmen ab 1. Januar 1965 1,7 Milliarden DM. Ich glaubte, daß Ihnen diese Zahlen möglicherweise interessant sein könnten.Herr Kollege Erler hat in seiner Rede ausgeführt, daß dieses Einschränkungsprogramm keine solide Grundlage für die Zukunft sei. Herr Kollege Möller hat den Vorwurf erhoben, daß man mit Globalzahlen arbeite und Einzelzahlen nicht nennen wolle. Nun, Herr Dr. Möller hat sich selbst widersprochen, indem er
hinterher in seinen Ausführungen doch Einzelzahlen gebracht hat. Er ist von den Mehranforderungen der Ressorts — richtig nach Abzug von 5,5 Milliarden DM Mehreinnahmen — in Höhe von über 12 Milliarden DM ausgegangen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle einmal sagen: Alle Welt klagt lauthals über Kürzungen und Streichungen, vergißt dabei aber einfach, daß die Ausgaben um 5,5 Milliarden erhöht werden sollen, auch nach meiner Überzeugung, Herr Dr. Möller, nach den Einnahmen des Staates im Jahre 1966 in viel zu großer Höhe.
Wenn Sie das einmal gegen die Klagen über Streichungen und Kürzungen halten, so sieht das Bild, wie ich glaube, etwas anders aus.Nun, ich stimme Herrn Kollegen Erler zu: Das Haushaltssicherungsgesetz, das wir eingebracht haben, ist keine solide Grundlage, und zwar dann keine solide Grundlage, wenn man das tut, was die sozialdemokratische Opposition, nicht zuletzt in der Rede von Herrn Erler, laufend tut, nämlich immer neue Versprechungen abgibt.
Ich halte es für eine Ausflucht, wenn Herr Kollege Dr. Möller erklärt: Zum Haushaltssicherungsgesetz kann ich keine Stellung nehmen, ehe ich nicht den Etat des Jahres 1966 auf dem Tisch habe. Das ist eine Ausflucht vor der Entscheidung.
Die Bundesregierung hat sich mit dem Haushaltssicherungsgesetz entschieden. Bitte, die sozialdemokratische Opposition soll von dieser Stelle aus erklären, ob sie für oder gegen das Haushaltssicherungsgesetz ist.
Nun, Herr Kollege Schiller, komme ich noch einmal zu Ihnen, mit besonderer Freude und besonderem Vergnügen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, befürchten Sie, daß die Maßnahmen dieses Haushaltssicherungsgesetzes zu spät kommen und womöglich sogar einen deflationistischen Effekt haben könnten. Herr Kollege Schiller, wir haben uns ja vor weit mehr als 10 Jahren auch über solche Dinge in einem anderen Parlament unterhalten und die Klingen gekreuzt. Ich glaube, daß Sie die Lage nicht richtig beurteilen, daß Sie insbesondere das Gesamtbild der Wirtschaft verkennen. Ich bin mit Ihnen einig, Herr Kollege Schiller, in der Beurteilung unserer gegenwärtigen konjunkturellen Situation: Der Scheitelpunkt der Hochkonjunktur scheint überschritten zu sein, und es scheinen Kräfte zu wirken, die tendenziell zu einer Verringerung der übersteigerten Nachfrage führen können. Aber wir dürfen nicht übersehen, daß immer noch ein erheblicher Nachfragedruck besteht. Insbesondere ist der Arbeitsmarkt nach wie vor überfordert. Ich weise in diesem Zusammenhang auch auf .die Entwicklung unserer Zahlungsbilanz hin. Sie selber haben das ebenfalls getan. Solange noch kein befriedigendes Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage erreicht ist, sollten nicht nur die restriktiven Maßnahmen der Bundesbank weiter aufrechterhalten werden, sondern .die öffentlichen Haushalte dürfen auch 1966 möglichst wenig expansiv sein. Es ist also gerade der richtige Zeitpunkt, alles zu vermeiden, was geeignet sein könnte, neue, zu starke Impulse zu geben. Wenn es gelingt, den Bundeshaushalt auf 69,4 Milliarden DM zu begrenzen, dann ist das eine Zuwachsrate — wenn ich einmal das Ist des Jahres 1965 gegenüberstelle —, die vielleicht noch einigermaßen vertreten werden kann.Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie mir helfen können, weitere Einschränkungen vorzuschlagen, dann bin ich Ihnen außerordentlich dankbar. Ich würde sehr gern hören, welche Vorstellungen Sie haben, um das Volumen von 69,4 Milliarden DM noch weiter herunterzudrücken.
Lassen Sie mich nun ein paar Worte zu dem Vorwurf von Herrn Erler sagen, der ebenso wie Herr Kollege Dr. Schiller das Haushaltssicherungsgesetz und die getroffenen Einschränkungsmaßnahmen angegriffen hat. Ich habe bereits dargestellt, welches Zusammentreffen verschiedener Umstände die Haushaltswirtschaft des Bundes in Bedrängnis gebracht hat. Die umfangreiche Sozialgesetzgebung, die Schwäche des Kapitalmarktes, die Schwierigkeiten bei der Deutschen Bundesbahn, die es — bei der Wettbewerbslage — der Bundesbahn seit Jahren nicht mehr gestattet haben, die Tarife den steigenden Kosten anzupassen, alle diese Dinge mußten notwendigerweise ein stark wachsendes Defizit ergeben, das im Bundeshaushalt aufzufangen war.Aber, meine Damen und Herren, das Zusammentreffen aller dieser Umstände allein würde noch nicht zu finanziellen Schwierigkeiten, geschweige denn zu einem Finanzchaos, wie Herr Erler meinte, geführt haben, wenn die Bundesregierung bereit gewesen wäre, ihre Schwerpunkte zu opfern, um das
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Bundesminister Dr. Dahlgrünverlorene oder in Gefahr geratene Gleichgewicht in Ordnung zu bringen. Diese Prioritäten und diese Schwerpunkte — das ist ja gerade das, was von der Opposition der Regierung zum Vorwurf gemacht wird: sie habe kein Ziel und keinen Plan —, die wir uns vorgenommen hatten, sollten, ja, mußten erhalten bleiben. Ich nenne als Beispiele Landwirtschaft, Straßenbau, Wissenschaft.Beim Straßenbau ist der erste Vierjahresplan von 1959 bis 1962 mit 8,5 Milliarden DM im zweiten Vierjahresplan von 1963 bis 1966 auf 13 Milliarden DM gesteigert worden. Das ist ein Steigerungssatz von 60 % in vier Jahren, durchschnittlich also 15 % jährlich mehr.Bei der Wissenschaft ist der Betrag von 871 Millionen DM im Jahre 1964 — in diesem Etat wohlverstanden! — auf 998 Millionen DM im Jahre 1965 gestiegen. Das ist eine Steigerung von 14,5 % in einem Jahr bei einem Gesamtzuwachs von nur 6%. Ich glaube, daß es wichtig ist, auch das bei dieser Gelegenheit zu sagen.Auch bei diesen Schwerpunktprogrammen geht die von Herrn Kollegen Dr. Schiller geforderte Sicherung des Geldwertes vor dem Interesse einzelner Gruppen. Ich glaube, daß das wirklich keine deflationäre Finanzpolitik ist. Hier liegt vielleicht bei Ihnen, Herr Kollege Dr. Schiller, eine Verwechslung mit der Schwäche des Kapitalmarktes vor.Dabei möchte ich nicht versäumen, zu sagen, daß mir diese Schwäche des Kapitalmarktes Anlaß zu ernster Sorge ist. Ich kann mich wirklich nur dem Appell der Regierungserklärung anschließen, daß die öffentlichen Investitionen mit allem Nachdruck den Finanzierungsmöglichkeiten angepaßt werden müssen. Bund, Länder und Gemeinden müssen ihre Investitionen den Finanzierungsmöglichkeiten aus öffentlichen Einnahmen und langfristigen Krediten wirklich anpassen. Die langfristigen Kredite müssen jedenfalls vorübergehend so gekürzt werden, daß sie ohne Druck auf die Zinsen am Kapitalmarkt untergebracht werden können.Bei Aufstellung des Bundeshaushalts 1966 werde ich mich jedenfalls bemühen, für den Bund diesen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Ich weiß, daß meine Kollegen in den Ländern, die es schwerer haben, weil es bei ihnen um die auf die Gemeinden abgeleiteten Kosten für Krankenhäuser, Schulen, Nahverkehrswege usw. geht, diese Problematik voll erkannt haben und bereit sind, soweit das in ihren Kräften steht, sich auch Beschränkungen aufzuerlegen. Ich kann nur hoffen, daß uns auch die Gemeinden, auf die 50 % der öffentlichen Investitionen entfallen, auf diesem Wege folgen werden. Da die Sparrate erfreulicherweise unverändert hoch ist, bin ich überzeugt, daß mit den gemeinsamen Anstrengungen eine Stabilisierung des Kapitalmarktes erreicht werden kann.Nun, meine Damen und Herren, komme ich zur Finanzreform. In bezug auf die Finanzreform hat die Opposition der Bundesregierung Versagen und Untätigkeit vorgeworfen. Meine Damen und Herren, ich bin von dem Vorwurf wirklich sehr betroffen. Denn unter Bundeskanzler Erhard sind meine Bemühungen, diese Finanzreform in Gang zu setzen, von Erfolg begleitet gewesen. Ich habe alle Fraktionen des Deutschen Bundestages, auch die Opposition, laufend über den Fortgang der Arbeiten unterrichtet. Ich wüßte wirklich nicht, was hier versäumt worden wäre. Denn, meine Damen und Herren, in etwas weniger als zwei Jahren hat diese Fünf-Männer-Kommission das Gutachten zur Finanzreform fertiggestellt. Wenn wir einmal ganz ehrlich sind, haben viele von uns — ich schließe mich selber nicht ganz aus — einigen Zweifel gehabt, ob das in einer solch kurzen Zeit möglich gemacht werden könnte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Minister, können Sie mir dann vielleicht erklären, warum die Regierungskoalition es für notwendig hielt, den sozialdemokratischen Antrag auf Einberufung dieser Sachverständigenkommission zunächst einmal abzulehnen, um dann nach einem Zeitverlust von einem Jahr darauf zurückzukommen?
Ich glaube, Herr Kollege Erler, Sie verwechseln die von mir erwähnte Finanzreform-Kommission mit dem Sachverständigenrat für die Wirtschaft.
— Tröger-Komitee — die Herren lehnen es ab, nach dem Namen eines Mannes benannt zu werden. Darüber ist mir nichts bekannt, Herr Erler.
— Nach einem Jahr?
— Ich glaube, Herr Erler, daß wir über die Zusammensetzung oder über die Kommission nicht einig sind. Ich glaube, Sie meinen etwas anderes als ich.
— Herr Erler, muten Sie mir doch nicht zu, noch mehr Akten zu lesen, als ich sowieso schon lesen muß!
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 193
Bundesminister Dr. Dahlgrün— Also, Herr Erler, die Sache ist doch so, daß gegen Ende des Jahres 1963 der Bundeskanzler und die 11 Ministerpräsidenten/Bürgermeister der deutschen Länder diese Kommission eingesetzt haben mit dem ausdrücklichen Auftrag, in der Stille, ohne Öffentlichkeit, ganz für sich die Finanzreform und ihre Gedanken dazu vorzubereiten und in einem Gutachten zusammenzufassen. Wenn dann ein Antrag von Ihnen abgelehnt worden ist,
— Vorher? Das ist ja wieder etwas anderes.
Eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt.
Herr Bundesfinanzminister, erinnern Sie sich, daß vor Ihrer Amtszeit, zu Beginn der Legislaturperiode, unter Herrn Bundesfinanzminister Starke allerdings ein Antrag der SPD, der eine sehr umfassende Kommission mit ca. 30 Personen vorsah, in der insbesondere die kommunalen Spitzenverbände vertreten sein sollten, mit einem umfangreichen Programm und in einer ganz bestimmten Richtung gesteuert, abgelehnt worden ist, nachdem diese kleine Kommission, von der man annehmen konnte, daß sie fruchtbar arbeiten würde, eingesetzt worden ist?
Ja, das ist so richtig.
Aber, Herr Erler, ich verstehe immer noch nicht, warum Sie ausgerechnet diese 30-Männer-Kommission haben wollten.
Herr Finanzminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Eppler?
Bitte schön!
Herr Minister, würden Sie, nachdem Sie soeben sagen, daß ein Antrag auf Einsetzung einer 30-Männer-Kommission hier gestellt wurde, nun auch zusätzlich zugeben, daß das ein Antrag auf Einsetzung einer 10-Männer-Kommission war, drei von den Gemeinden, drei von den Ländern, drei vom Bund und der Leiter des Statistischen Bundesamts? Was stimmt nun eigentlich?
Herr Kollege Eppler, erstens habe ich Ihnen gegenüber überhaupt nichts zuzugeben, und zweitens kann ich hier in aller Deutlichkeit versichern, daß mir von einer 10-Männer-Kommission überhaupt nichts bekannt ist. Die hat es auch nie gegeben. Die Kommission sollte aus 21 Herren bestehen. Ichwürde Ihnen doch raten, vielleicht einmal die Akten zu lesen.
Jedenfalls steht eines fest — und deshalb versuchen Sie vielleicht, die Kommissionen, die es einmal gegeben hat, und die, die nicht zum Zuge gekommen sind, durcheinanderzuwürfeln —: daß die Kommission, die am Rande des Jahres 1963 in einer Stärke von fünf Herren berufen worden ist, vor dem Abschluß ihrer Arbeiten steht und daß die Opposition darüber in vollem Umfang unterrichtet ist, nicht zuletzt Herr Dr. Möller. Ich habe es deshalb als etwas verletzend — ich will mich einmal sehr vorsichtig ausdrücken — empfunden, daß uns der Vorwurf gemacht worden ist, wir seien in der Frage der Finanzreform untätig gewesen. Das habe ich als verletzend empfunden. Vielleicht irre ich mich, und Sie haben es nicht so gemeint; denn, meine Damen und Herren, ich bin durchaus bereit, die Leistungen der Opposition in diesem Sektor voll anzuerkennen.Ich habe in der vorigen Legislaturperiode immer wieder zum Ausdruck gebracht, daß eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg der Finanzreform ein neues Bewertungsgesetz ist. Der vierte Deutsche Bundestag hat diesem Begehren entsprochen, nicht zuletzt deshalb, weil sich auch die sozialdemokratische Opposition in vorzüglicher Weise in der Richtung einer solchen Entscheidung eingesetzt hat, und ich hoffe, Herr Dr. Möller, daß Sie, wenn die Ergebnisse der Finanzreform-Kommission diskutiert werden und es zu Entscheidungen auch in diesem Saale kommen wird, dann in der gleichen positiven Weise mitarbeiten werden, um das zu Ende zu bringen, was begonnen worden ist.Herr Kollege Professor Schiller hat in seinen Ausführungen eine längerfristige Haushaltsbetrachtung vermißt. Lassen Sie mich auch dazu ein paar Worte sagen. Ich bin mit Herrn Kollegen Dr. Schiller absolut einig darin, daß die jährliche Haushaltsbetrachtung, wie sie die Grundlage der antiquierten, unmodernen Reichshaushaltsordnung ist, wie sie auch in das Grundgesetz übernommen worden ist, den Bedürfnissen eines modernen Industriestaates nicht gerecht wird. Alle großen Programme bedürfen einer längeren Planungszeit; das ist doch eine Binsenweisheit. Sie laufen über viele Jahre. Die Bundesregierung ist aus diesem Grund ungeachtet der Jährlichkeit des Haushalts bereits im Rechnungsjahr 1959 beim Straßenbau 2. B. zu einer vierjährigen Planaufstellung gekommen. Entsprechendes gilt für die Wasserbauvorhaben. Auch die großen Beschaffungsprogramme der Bundeswehr laufen über viele Jahre. Aber auch hier fehlt es an der Zusammenfassung des Haushalts..Um diesen zweifellos bestehenden Mangel abzubauen, hat der Bundesfinanzminister bereits vor mehreren Jahren die Novellierung der Reichshaushaltsordnung in Angriff genommen. Dabei handelt es sich um eine sehr schwere Aufgabe, die sorgfältiger Vorbereitung und außerdem einer laufenden Abstimmung mit den Ländern bedarf. Große Teile der Bundesausgaben werden ja durch die Länder bewerkstelligt, laufen also durch die Länder-
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Bundesminister Dr. Dahlgrünkassen. Daher muß das neue Haushaltsrecht unabdingbar auch den Bedürfnissen der Länderverwaltungen angepaßt sein. Das Ideal wäre naturgemäß eine einheitliche Haushaltsordnung für Bund und Länder, was allerdings wegen der Unterschiedlichkeit der Gesetzgebungs- und Verwaltungsstruktur nur sehr schwer erreichbar sein wird. Die Haushaltsabwicklung in einem Stadtstaat wie Bremen oder Hamburg einerseits und in einem Flächenstaat wie Bayern oder Nordrhein-Westfalen andererseits ist aus der Natur der Sache heraus höchst unterschiedlich. Die Verhandlungen darüber mit den Ländern laufen ununterbrochen, sind aber noch nicht abgeschlossen.Unabhängig davon, Herr Kollege Dr. Schiller, habe ich in Übereinstimmung mit den Forderungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die hierfür einen besonderen Ausschuß für Haushaltspolitik eingesetzt hatte, eine fünfjährige Haushaltsvorausschau für die Rechnungsjahre 1966 bis 1970 vorbereitet, die erstmalig einen Einblick in die finanzielle Bewegungsfreiheit in den nächsten Jahren bringen soll. Ich beabsichtige, diese Vorausschau dem Hohen Hause zusammen mit dem Entwurf des Haushaltsgesetzes 1966 vorzulegen.Um aber, Herr Kollege Dr. Schiller, von vornherein übertriebene Erwartungen, die sich an eine solche Vorausschau knüpfen und die Sie möglicherweise hegen könnten, zu dämpfen, muß ich betonen, daß jede Vorausschau selbstverständlich nur die Umstände berücksichtigen kann, die zur Zeit ihrer Aufstellung sichtbar sind. Die Zeit steht aber nicht) still, sie schreitet fort, und die Bedingungen der Umwelt und die Bedürfnisse unseres Staatswesens sind einem ständigen Wechsel unterlegen. So unterliegt die Vorausschau einem ständigen Wechsel, wie eben auch die Lebensbedingungen einem Wechsel unterliegen. Die Vorausschau ist also letzten Endes nichts weiter als eine Momentaufnahme im Augenblick der Aufstellung, die den ständig veränderten Verhältnissen angepaßt werden muß, Ihr Wert liegt — Herr Kollege Dr. Schiller, da bin ich mit Ihnen völlig einig — darin, daß sie ein wertvolles Orientierungsmittel für die finanziellen Dispositionsmöglichkeiten des Bundes sein könnte.Die erste dreijährige Übersicht habe ich, Herr Dr. Schiller, bereits im Finanzbericht 1965 gegeben. Ich habe dazu von dieser Stelle aus die Erklärung abgegeben, daß diese Vorausschau im Finanzbericht 1965 der Versuch war, den ersten Anfang in Richtung auf eine langfristige Haushaltsvorausschau zu machen. Herr Kollege Dr. Möller hat mir damals noch die besondere Anerkennung dafür ausgesprochen, daß dieser Versuch in Gang gesetzt worden ist. Ich muß allerdings sagen, daß der erste Versuch einer Vorausschau im Finanzbericht 1965 nicht die wünschenswerte motivierende Kraft ausgestrahlt hat. Das soll jedoch kein Grund zur Resignation sein. Jede neue Methode braucht Zeit, um sich im allgemeinen Bewußtsein durchzusetzen, und das gilt sicherlich auch in dieser Richtung.Ich muß nun noch einmal auf einige Ihre Ausführungen, Herr Kollege Erler, zurückkommen. Sie haben das Mißverhältnis zwischen der Verteilungdes Steueraufkommens Bund—Länder—Gemeinden einerseits und der Verschuldung auf diesen drei Ebenen andererseits kritisiert. Ich glaube, daß so ohne weiteres das Teilungsverhältnis von Verschuldung und Steuern nicht aussagefähig ist. In diesem Zusammenhang spielen nicht nur Steuern eine Rolle, sondern auch die Zuweisungen. Diese Zuweisungen haben netto zugenommen 1962 um 42,9 %, 1963 um 16,6 % und 1964 um 13,8 %. Die Zuweisungen haben also weit stärker zugenommen als die eigenen Steuereinnahmen.Im übrigen ist bei der Verschuldung zu berücksichtigen, Herr Kollege Erler, daß das Schwergewicht der Investitionen der öffentlichen Hand bei den Gemeinden liegt und daß die gemeindlichen Investitionen zur Hälfte rentierlich sind, rentierlich in dem Sinne, daß Zinsen und Amortisation der Anleihen aus den Geschäftsergebnissen der öffentlichen Betriebe gezahlt werden.Man darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, Herr Kollege Erler, daß gerade die finanzstärksten Gemeinden oft auch am stärksten verschuldet sind. Man ist eben in manchen Gemeinden in der Investitionspolitik über das Ziel hinausgeschossen und hat damit letzten Endes auch zu der erheblichen Erhöhung der Baukosten beigetragen, die wir alle beklagen. Man hat etwas getan, was wir uns abgewöhnen sollten: man hat alles auf einmal haben wollen, und dann selbstverständlich noch zu verbilligten Sätzen, verbilligt mit Steuergeldern in den Haushalten. Das geht nicht.Parlament und Regierung befinden sich in der Situation eines Hausvaters, der eine Reihe von Kindern hat, die ihm alle gleich lieb und gleich wert sind. Diese Kinder reichen jetzt zur Weihnachtszeit ihre Wunschzettel ein. Diese Wunschzettel, kumuliert, übersteigen das, was der Vater ihnen zum Weihnachtsfest bieten kann. Da bleibt dem Hausvater nichts anderes übrig, als das zu tun, was der Bundesfinanzminister auch tun muß: er muß strekken und kürzen. Und dann gibt es schlecht erzogene und eigensinnige Kinder, die unzufrieden werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jacobi?
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, zuzugeben, daß man bei den Investitionen, vor allen Dingen auch bei solchen der Gemeinden, sehr wohl daran denken muß, daß es zwingende, dringende Investitionen gibt, die der allgemeinen Volkswirtschaft dienen — ich erwähne nur die Energie- und Wasserversorgung —, daß man sich infolgedessen einer globalen Beurteilung dieser Situation enthalten muß?
Sehr verehrter Herr Kollege Jacobi, Sie sagen immer, ich müßte etwas zugeben. Ich denke gar nicht daran!
Ich darf Sie aber daran erinnern, daß ich selber, alsich über die Situation der Finanzminister in den
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Bundesminister Dr. DahlgrünLändern gesprochen habe, gleich für die Gemeinden mit erklärt habe, sie hätten es sehr schwer, weil es bei ihnen um Schulen, Krankenhäuser, Nahverkehrswege, also um unmittelbar die Bevölkerung betreffende wichtige Investitionen gehe. Das hatte ich also bereits gesagt.Darf ich nun auf die Kinder zurückkommen, die eigensinnig und schlecht erzogen möglicherweise wegen der Kürzung ihrer Wunschzettel unzufrieden und unglücklich sind. Meine Damen und Herren, wir sind uns doch wohl alle darüber einig, daß diese Kinder sich damit selber die Freude verderben. Ich meine, auch wir sind auf dem besten Wege, uns Freude und Stolz auf das von uns Erreichte, auf unsere Leistungen zu verderben. Wenn ich höre, wie heutige Erfolge und Zuwachsraten kritisiert werden — „katastrophal", „vollkommen unzureichend" —, dann muß ich immer an die Zeiten denken, wo nicht Millionen Mitbürger über die Grenzen in Urlaub fahren konnten, sondern Millionen Arbeitslose mühsam von der Arbeitslosenunterstützung sich durchhungern mußten. Wir wären in den dunklen Jahren von Herzen dankbar gewesen, wenn wir auch nur einen Bruchteil der heutigen Zuwachs-und Erfolgsdaten hätten aufweisen können. Ich meine, wir sollten uns die Freude und den Stolz über das, was geleistet worden ist, nicht durch Katastrophenwarnungen und abwertende abfällige Kritik verderben lassen. Die Lage ist nicht ohne Schatten, ohne Wolken, wir müssen sehr aufpassen; aber ich glaube, wir müssen hauptsächlich auf uns selber aufpassen.Meine Damen und Herren, ich habe die Leistung der Opposition gewertet, indem ich ihre Anteilnahme am Bewertungsgesetz, hier zufällig in der Diskussion durch die Zwischenrufe verursacht, herausgestellt habe. Ich will mich enthalten, noch etwas zur Opposition zu sagen. Ich werde ihre Leistungen — die man von ihr als Opposition mit Fug verlangen kann — daran messen, wie sie sich bei den wichtigen Aufgaben, mit denen ich ihr kommen werde, bei der Finanzreform und bei der Reform des Haushaltsrechts, einstellen wird. Ich hoffe, daß sie ihre tätige Mitwirkung an diesen wirklich entscheidenden Aufgaben für die Zukunft nicht versagen wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Strauß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Aussprache über eine Regierungserklärung geht es einmal darum, sich mit dem Inhalt der Regierungserklärung auseinanderzusetzen; es geht aber auch darum, den gesamten Rahmen, in dem sich unsere Politik bewegt, die wesentlichen Probleme, Faktoren, Kräfte und Veränderungstendenzen aufzuzeigen.
Das Schlußkapitel der Regierungserklärung trägt die Überschrift: „Die Nachkriegszeit ist zu Ende". Sicherlich ist unser Land, der freie Teil Deutschlands, wiederaufgebaut. Die Bundesrepublik Deutschland von heute hat ein größeres Sozialprodukt als das Deutsche Reich vor dem zweiten Weltkrieg. Sie hat eine stärkere Industriekapazität, als Deutschland zu irgendeiner Zeit aufweisen konnte. In dieser Bundesrepublik Deutschland gibt es heute je 1000 Einwohner mehr Wohnungen als jemals zuvor. Die Bundesrepublik Deutschland hat auf wirtschaftlichem Gebiet alle europäischen Staaten überflügelt. Sie steht heute mit ihrer Wirtschaftskraft in der freien Welt an zweiter Stelle. Sie ist im Volumen ihres Außenhandels an der zweiten Stelle in der gesamten Welt. Masseneinkommen und Lebensverhältnisse sind besser, als sie jemals gewesen sind. Die sozialen Leistungen übertreffen in ihrem Gesamtumfange alles, was bisher in einem deutschen Staate jemals unter dieser Bezeichnung aufgewendet wurde. Sie stehen je Kopf der Bevölkerung heute an der Spitze aller Industriestaaten der Welt. Der materielle Wiederaufbau ist vollzogen, und zwar nicht nur für die einheimische Bevölkerung, sondern auch für die über 10 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge. Sie haben nicht nur eine neue Notheimat gefunden; sie sind in die Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft eingegliedert worden; sie haben mit ihrer geistigen und körperlichen Leistung wesentlich zu dem Gesamtergebnis beigetragen. Deshalb verdienen sie es auch nicht, dauernd als gefährliche Elemente, als Störenfriede, als Revanchisten und Revisionisten in der Weltöffentlichkeit diffamiert zu werden.
Ohne ihr Opfer und ohne ihre Leistung wäre unsere politisch-soziale Struktur für den Kommunismus in den schwierigen Jahren des Aufbaus anfälliger gewesen.Ich stimme dem Herrn Bundeskanzler zu, wenn er sagt, daß die Politik eines großen Landes nicht ohne politisches Selbstbewußtsein gestaltet werden kann. Keinem Volk auf dieser Welt wird es aus Gründen innerhalb und außerhalb unseres Landes so schwer gemacht, dieses Selbstbewußtsein aufzubringen, wie gerade dem deutschen Volk.
Das deutsche Volk ist zur Zeit auf dem Wege — es kann gar nicht anders —, sich dieses politische Selbstbewußtsein wieder zu erwerben. Aber — wenn ich über das Materielle und Soziale hinaus denke — die Frage ist: ist die Nachkriegszeit wirklich zu Ende?Die Opfer, die politische Verfolgung, Krieg und Nachkriegsschäden gefordert haben, werden wohl erst in der nächsten Generation, die aktiv und passiv an diesen Ereignissen nicht mehr unmittelbar beteiligt war, vergessen werden. Für uns ist, im großen politischen Rahmen gesehen, die Nachkriegszeit erst dann zu Ende, wenn wir wieder ein gerechtes Urteil der Welt über das deutsche Volk erlangt haben,
wenn die Wiederherstellung der deutschen Einheit erfolgt ist und wenn dieses Deutschland im Rahmen einer europäischen Staatengemeinschaft seinen Platz bekomomenn hat, also aus dem labilen Gleichgewichtszustand, in dem es sich ohne europäische Einigung
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Straußzwangsläufig befinden muß, -zu einem stabilen Gleichgewichtszustand gelangt ist. Die Bildung eines politischen Selbstbewußtseins ist nicht ausschließlich oder vornehmlich Aufgabe der Bundesregierung. Sie obliegt allen Kräften unserer pluralistischen Staats-und Gesellschaftsordnung. Trotzdem darf ich die Bundesregierung auffordern, alle ihr zu Gebote stehenden Mittel und Möglichkeiten zu verstärken, aufeinander abzustimmen und auf diesen einen Schwerpunkt auszurichten, daß die gewohnheitsmäßigen, fahrlässigen, absichtlichen und manchmal bewußt in den Dienst der Auflösung der westlichen Gemeinschaft gestellten Verzerrungen der deutschen Geschichte und des Deutschlandbildes von heute bekämpft und beseitigt werden. Es handelt sich hierbei nicht nur um kommunistische Propaganda. Es handelt sich auch um die Tatsache, im besonderen, daß die moralische Alleinschuld der deutschen Politik, über die es keine Diskussion gibt, unter der Diktatur Hitlers für den zweiten Weltkrieg nachträglich, rückwirkend abermals auf den ersten Weltkrieg und auf frühere Ereignisse zurückprojiziert wird, damit vor der ganzen Welt das Bild eines militaristischen, aggressiven, kriegslüsternen und revanchesüchtigen Deutschlands von heute glaubhaft gemacht wird.Der letzte Deutsche Bundestag hat mit großer Mehrheit eine Entscheidung getroffen, die ein furchtbares Problem lösen sollte, nämlich Verfolgung und Bestrafung der Nazi-Verbrechen. Er hat eine Lösung gefunden, die von dem Bemühen bestimmt war, den Erfordernissen eines Rechtsstaates wie dem außenpolitischen Ansehen der Bundesrepublik Deutschland als der Vertreterin der deutschen Nation Rechnung zu tragen. Diese Lösung darf aber nicht dazu führen, daß im Weltbewußtsein sich der Eindruck festigt, daß allein von den Deutschen und ihren Verbündeten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden seien. Es würde der objektiven Wahrheit und der Gerechtigkeit dienen, vor aller Welt klarzumachen, daß während des Krieges und nach dem Kriege auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Deutschen und ihren damaligen Verbündeten in großer Zahl begangen worden sind.
Kein vernünftiger und anständiger Mensch kann sich weigern, die Scheußlichkeiten, die bei diesen Prozessen enthüllt werden, anders als mit Scham, Abscheu und Empörung zur Kenntnis zu nehmen. Aber es gilt, die ganze Wahrheit zu erfassen und auch das einzubeziehen, was in der Praxis des Kommunismus seit dem Jahre 1917 sich ereignet hat. Es ist deshalb auch eine heikle Aufgabe der deutschen Politik, ohne Selbstentschuldigung und ohne Versuche, die eigene Schuld zu verwischen, die Welt über die Wahrheit und nichts als die geschichtliche Wahrheit aufzuklären. Die Bundesregierung sollte sich dieser Aufgabe unterziehen. Sie sollte aber hier auch von ihren Verbündeten unterstützt werden. Das deutsche Volk darf nicht als Objekt einer Geschichtsklitterung und einseitigen Bewertung zu einer Nation mit kriminellen Instinkten degradiert und als potentiell gefährlich für seine Nachbarn undfür den Frieden der Welt auf die Dauer diffamiert werden.
Ich bin fest überzeugt: Wenn die Bundesrepublik Deutschland, wenn wir uns zu einem anderen politischen Kurs entschlossen hätten, wenn wir den Anschluß an das östliche Macht- und Gesellschaftssystem gesucht hätten, würden die Moskauer Propaganda, die unterstellten Propagandaorgane der anderen kommunistisch beherrschten Länder und ihre bewußten und unbewußten Helfershelfer in der nicht-kommunistischen Welt nicht mit dieser Lautstärke gegen Deutschland, gegen uns, gegen den freien Teil unserer Nation zu Felde ziehen. Der amerikanische Botschafter McGhee hat vor kurzem in einer bemerkenswerten Rede die Welt aufgefordert, nach den 20 Jahren, die seit dem Ende der Hitlerherrschaft vergangen sind, ihr Urteil über Deutschland zu überprüfen und dem deutschen Volke Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es ist kein Zufall, daß das Auschwitz-Stück von Peter Weiss „Die Ermittlung" von der Zone anläßlich seiner gleichzeitigen Aufführung auf west- und ostdeutschen Bühnen zu einer wüsten Hetze gegen die Bundesrepublik Deutschland benützt wird.
Alle Elemente dieser Propaganda, daß nämlich die Wurzeln für den Faschismus und letzten Endes für Auschwitz in der Bundesrepublik noch nicht ausgerottet seien, daß der „wahre Humanismus" in der sowjetischen Besatzungszone zu Hause sei, daß die Gefahr der Wiederholung jener Verbrechen bestehe, wobei deutlich immer auf die Bonner Politik abgezielt wird, daß die Bundesrepublik bezichtigt wird, noch „viel schlimmere" Verbrechen zu planen, daß die Mächtigen von ehedem noch heute im westdeutschen Staat an wichtigen und entscheidenden Positionen säßen, alle diese Behauptungen haben nur einen Zweck, der großen sowjetischen Strategie zu dienen, die nach wie vor darauf hinausläuft, die Bundesrepublik zu isolieren und zu neutralisieren.In diesem Zusammenhang darf ich auch die Bundesregierung bitten, die Angriffe, die von der sowjetrussischen Zeitung „Prawda" gegen den Bundespräsidenten unseres Staates erhoben worden sind, mit aller Entschiedenheit zurückzuweisen
und sich dieses Doppelspiel der diplomatischen Höflichkeit einerseits und der groben — ich darf sagen: infamen — Diffamierung andererseits nicht bieten zu lassen.
Die wahrlich nicht deutschnationaler Tendenzen verdächtigen „Salzburger Nachrichten" haben in einem Leitartikel vom 12. Oktober 1965 geschrieben — ich zitiere wörtlich —:Auf internationaler oder auf nationaler Bühne außerhalb der Bundesrepublik Deutschland gibt es kaum eine Veranstaltung, eine Tagung, eine Konferenz usw., auf der man nicht auf diesen freien demokratischen westdeutschen Staat mit
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StraußKnüppeln losgehen oder wenigstens einige giftige Pfeile hinterrücks auf ihn abschießen würde. Geschieht dies— so heißt es weiter —in einem kommunistischen Staat vor einer rein kommunistischen Zuhörerschaft oder vor einem internationalen Forum von kommunistischen Rednern, so ist dies noch einigermaßen verständlich, dies deshalb, weil die Kommunisten Osteuropas heute in ihrem Drang nach Westen die starke Bundesrepublik mit ihren starken Streitkräften als Haupthindernis ansehen, das der Ausbreitung der Fehllehre Lenins entgegensteht. Weniger verständlich ist es— so heißt es dort —,wenn selbst westliche Staaten, die mit der Bundesrepublik verbündet sind, mit den Kommunisten nahezu gemeinsame Sache machen und Anliegen kommunistischer Staaten gegen die Bundesrepublik, die heute einer der wichtigsten Hüter der Freiheit ist, kräftig unterstützen.So weit die „Salzburger Nachrichten". Die Zeitung hat es höflicherweise unterlassen, auf ähnliche Erscheinungen innerhalb der Bundesrepublik hinzuweisen.Wenn Herr Kollege Erler gestern darauf hingewiesen hat, daß der Bundeskanzler das gute Verhältnis, die guten Beziehungen zum Geist und zu den Gewerkschaften gestört, ja zerschlagen habe, dann möchte ich nicht auf diese nach normaler Beurteilung unhaltbare Behauptung, Herr Kollege Erler, im einzelnen etwa eingehen, sondern nur eines sagen. Der Vorsitzende der größten und wichtigsten Gewerkschaft Deutschlands, der IG Metall, Herr Brenner, Ihr Parteifreund, hat bei dem nicht zufällig auf Anfang September gelegten Kongreß der IG Metall zum Beispiel gesagt,
die Kräfte, die in der Bundesrepublik von Abrüstung redeten, meinten vielmehr Aufrüstung. Er meinte damit naturgemäß die Regierungskoalition, die Bundesregierung und die dahinter stehenden Parteien. Das ist ein Beitrag dazu, daß sich im Ausland ein falsches Bild der deutschen Politik bildet.
Wir haben uns viel zu oft über die Problematik der Aufrüstung in unserer Zeit und für unseren Staat unterhalten, als daß wir uns über dieses Thema noch weiter grundsätzlich oder in der Methode unterhalten müßten. Wir sollten uns gegenseitig zubilligen, daß wir alle — ich wiederhole das: wir alle — für eine echte, umfassende, generelle, unter Kontrolle stehende Abrüstung aller Staaten dieser Welt sind, daß wir aber auch den bescheidenen Beitrag, den wir zur gemeinsamen Sicherheit leisten, nicht unter die geheime Überschrift „Wunsch zur Aufrüstung" oder „Wunsch zum militärischen Größenwahn" stellen dürfen, wenn wir nicht unsere eigene Politik aufgeben wollen, zu der sich auch die Opposition nach langem Schweigen, nach langem Nein, Herr Kollege Schiller, aber dann doch mit einem Ja bekannt hat.Wenn es weiterhin heißt, das Verhältnis zum deutschen Geist sei gestört, möchte ich fragen: Wer repräsentiert eigentlich den deutschen Geist?
— Da sich so viele Finger auf mich richten, darf ich eines einmal sagen: Die These „Der Geist steht links" ist nichts anderes als die permanente Wiederholung einer Dummheit.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: der Geist, soweit sich das Wort überhaupt realiter definieren läßt, steht auch links, selbstverständlich. Aber die schlichte Simplifizierung, daß der Geist schlechthin links stehe, daß alles, was links sei — ohnehin eine dubiose Terminologie —, Geist habe
und daß das, was Geist habe, aber nicht links stehe, durch eine Prädikatisierungsstelle dieses Vorzugs entkleidet würde, können wir in der Form nicht mitmachen.
Eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner.
Ich bin weit davon entfernt, Herr Strauß, mit Ihnen jetzt über „links" oder „Geist" streiten zu wollen. Als Sie sagten, es sei die Wiederholung einer Dummheit, meinten Sie nicht vielleicht die Wiederholung eines Irrtums oder einer falschen Vorstellung? Ist das für Sie einfach Dummheit?
Wenn ich mich sublimer ausdrückte — — Ich drücke mich nicht immer sehr sublim aus;
Herr Kollege Wehner, das haben wir zwei gemeinsam.
Ich könnte mich zum Beispiel auch nicht von Ihnen als Mitglied eines „nihilistischen Pöbelhaufens" eingliedern lassen.
— Aber ich bin der letzte, Herr Kollege Wehner, der solche Ausdrucksweise etwa tragisch ernst nimmt. Ich sage nur, wenn ich mich sublimer ausdrücke, das sei eine Simplifizierung, der Geist stehe schlechthin links. Herr Kollege Barzel sagte gestern, der Geist weht, wo er will, wie er will, wohin er will, wann er will usw.
Gut, soll der Geist weiter wehen, links, rechts, woer will, wann er will, wohin er will, von oben nach
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Straußunten, dreidimensional, vierdimensional, ich habe nichts dagegen. „Bloß die schlechthinnige Behauptung, Herr Kollege Erler, daß der Bundeskanzler das Verhältnis zum Geist zerstört habe, ist mir zu simplifiziert, als daß ich sie akzeptieren könnte.
Es gibt beträchtliche — erlauben Sie mir das Wort — Kräfte des Geisteslebens in Deutschland, die mit Recht aus innerer Überzeugung und ungebrochen bis heute — und in der Zukunft — diesen Bundeskanzler, den Nachfolger Konrad Adenauers, als einen ehrlichen Verfechter der großen Anliegen der deutschen Politik und mit Recht als den Initiator, als den Vater der Formel für den deutschen Wiederaufbau anerkennen.
Ich halte nämlich zuviel vom deutschen Geist, Herr Kollege Erler, als daß ich ihn schlechthin unter den Namen Rolf Hochhuth und Günter Grass einreihen lassen würde.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Jederzeit.
Herr Kollege Strauß, darf ich gerade deshalb, weil Sie hier mit Recht Differenzierungen vornehmen, fragen, ob Sie sich das Pauschalurteil des Bundeskanzlers zu eigen machen, der gesagt hat, alles, was sie — nämlich jene Intellektuellen, deren Intellektualismus in Idiotie umschlage — sagen, ist dummes Zeug. Machen Sie sich diese Beurteilung pauschal zu eigen?
Ich danke Ihnen sehr, Kollege Erler, weil mich das an einen Satz erinnert, der nicht in meinem Konzept steht und den ich sagen wollte, aber ohne Ihre Frage vergessen hätte.
Auch diese und gerade diese Vertreter — ich sage das nicht mit einem abwertenden Beigeschmack — haben das Recht, sich als Staatsbürger eine Meinung zu bilden und diese Meinung gemäß der ihnen zukommenden — zum Teil multiplizierten — Bedeutung auszudrücken. Bloß können sie nicht verlangen, daß ihre Meinung auf diesem Gebiet der politischen Sachfragen ernster genommen wird als die Meinung des einfachsten Mannes unseres Volkes auf der Straße.
In der Zeit, Herr Kollege Erler, als wir hier im Bundestag die großen Atomdebatten hatten, hat mich in den Vereinigten Staaten von Amerika Edward Teller, den Sie wahrscheinlich auch persönlich kennen, auf eine bestimmte Frage angesprochen. Ich zitiere diese Anekdote wörtlich. Er hat zu mir gesagt: Wenn ich mit Heisenberg eine Partie Pingpong spiele und ich diese Partie verliere, kann dar-aus nicht geschlossen werden, daß Heisenberg ein besserer Kernphysiker als ich ist.
Ich zitiere nur Edward Teller und glaube, daß dessen wissenschaftlich geistige Bedeutung, gleichgültig, wie man zu seinen politischen Schlußfolgerungen steht, von niemand bestritten werden kann.Ich habe zwei Namen erwähnt, die diese Reaktion des Bundeskanzlers ausgelöst haben, der doch, ich darf sagen, ein so wohlwollender, liberaler,
toleranter
Vertreter seiner Meinung ist.
— Ja eben; genauso.
Wir unterhalten uns immer auf der gleichen Ebene, Herr Kollege Erler.
Er ist eben im gewissen Sinne ein Antipode des Kollegen Schiller. Ein Professor in Nürnberg, ein Professor in Hamburg oder Berlin, das kann nicht gut gehen.
Da gibt es gewisse Spannungsunterschiede, gewisse Unterschiede in der Wellenlänge.Aber wenn dieser Bundeskanzler mal heftig reagiert hat und diese Vertreter des Geisteslebens, wobei er nicht alle meinte, sondern diejenigen, die sich selber zum Inhaber der geheimen Lizenzierungsstelle machen,
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die für sich das Monopol auf Verleihung dieses Prädikats beanspruchen, wenn er die einmal Pinscher genannt hat — Herr Kollege Wehner, wenn Sie in seiner Lage wären, Sie hätten sich ganz anders ausgedrückt.
Aber was hat denn den Zorn des Bundeskanzlers hervorgerufen, und ich wage es, auch bei seiner Persönlichkeit von Zorn zu sprechen?
Ich kenne den Zorn ganz genau.
Was hat denn den Zorn hervorgerufen? Doch die Äußerung von Rolf Hochhuth, daß die Arbeiter in der Bundesrepublik Deutschland vom Ertrag ihrer Arbeit keinen höheren. Anteil hätten als die Pharaonensklaven im alten Ägypten vom Aufbau der Pyramiden.
Das war es doch.
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StraußSie sind doch selber, Herr Kollege Erler, in einer tragikomischen Situation. Wenn Sie nämlich das im Rowohlt-Verlag erschienene Buch — ich habe es mir heute nicht mehr beschaffen können —, in dem die Beiträge von Rolf Hochhuth und Günter Grass erschienen sind, mit dem Titel lesen: „Keine Alternative — Plädoyer für eine neue Regierung" — als wenn die Regierung SPD und Willy Brandt hieße —, dann müssen Sie sich doch selber seit Godesberg auf Grund Ihres New Look von dem Geist dessen distanzieren, was dort als Erwartung einer zukünftigen SPD-Politik geschrieben steht.
Ich bitte trotzdem, Herr Kollege Strauß, um die Beantwortung der Frage, ob Sie pauschal sagen können, daß alles, was dort steht, „dummes Zeug" ist.
Das hat der Bundeskanzler behauptet, und um den Satz geht es, um gar nichts anderes.
Herr Kollege Erler, ich kenne das Zitat wörtlich nicht; trotzdem will ich Ihre Frage beantworten. Ich kenne aber Ludwig Erhard seit dem Jahre 1948, wo er sich für die Verwaltung eines Zwangswirtschaftsministeriums nicht als der beste Kandidat erwiesen hat. Da hätten Sie Bessere dafür gehabt!
Ich kenne ihn also seit 1948, und ich halte es bei seiner liberalen, toleranten Grundhaltung
für schlechthin ausgeschlossen, daß er alles, was vonVertretern des Geisteslebens — im weitesten Sinnedes Wortes — kommt, als „dummes Zeug" betrachtet.
Aber was von Rudolf Hochhuth, dem unglückseligen Autor des Stücks „Der Stellvertreter", geschrieben worden ist, das können ja auch Sie nicht akzeptieren, auch wir nicht, das können wir gemeinsam in diesem Hause nicht annehmen.
Wenn Sie wissen wollen, welches Eigentor hier in dem Plädoyer für eine Regierung Brandt Herr Hochhuth geschossen hat, so darf ich Sie bloß an das Schicksal der hessischen Hütten- und Bergwerks-AG erinnern. In Hessen hat man beschlossen — das war ein gemeinsamer Beschluß von CDU und SPD; ich will es in der richtigen Reihenfolge sagen: SPD und CDU; aber niemand ist in diesem Leben vor Unzulänglichkeiten sicher —,
die Grundstoffindustrie zu sozialisieren. Das ganze Unternehmen hat sich als ein völliger Fehlschlag erwiesen. Das ganze Unternehmen wurde dann rückgängig gemacht. Eines der letzten Unternehmen war diese Hütten- und Bergwerksgesellschaft. Jetzt hat die hessische Regierung unter einer absoluten Mehrheit der CDU — nein, die kommt erst —,
unter einer absoluten Mehrheit der SPD und vertreten durch den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Zinn das damals sozialisierte Unternehmen dem ehemaligen Eigentümer und Unternehmer wieder zum Kauf angeboten, um es vor dem wirtschaftlichen Ruin zu bewahren, und das hat Herr Hochhuth in seinem Plädoyer für eine SPD-Regierung als ein bemerkenswertes Zeichen der verfehlten wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik dargestellt.
Deshalb hat dieser Bundeskanzler soeben das Wort vom „dummen Zeug" — —
— Auch deshalb. Ich werde Ihnen den Gefallen nicht tun, ich werde ihn uns und auch mir nicht tun, mich hier im einzelnen mit Günter Grass auseinanderzusetzen.
Den können Sie für den Wahlkampf 1969 behalten!
Ich habe nur einen Wunsch. Herr Kollege Erler, ich habe sowohl im „Dritten Reich" als auch in der Zeit hernach einiges an politischen und persönlichen Schicksalen miterlebt — das gilt für den Krieg und auch für die Zeit danach — und ich muß sagen: nach den Maßstäben, mit denen Herr Günter Grass sich in der Wahlnacht wegen dieses Unfugs vor seinem Hause als verfolgt bezeichnet hat, müßte ich ungefähr 100 000 Häuser haben, die man anzünden könnte, um der Proportion Rechnung zu tragen, mit der ich in Deutschland, auch von Ihnen und Ihnen nahestehenden Organisationen, diffamiert worden bin.
Und wenn die großen Helden, die Vorkämpfer für die Demokratie wegen eines solchen dummen Faschingsscherzes, für den ihn im übrigen die Schöneberger Polizei hält — —
— Fragen Sie Ihre eigene Polizei in Berlin unter der Verwaltung von Willy Brandt, was sie davon hält! Eines können Sie mir auch glauben. Ich habe als Bub die Weimarer Republik miterlebt, den Untergang der Weimarer Republik und den Übergang zu Hitler. Sie könnten sich wirklich auf mich als Parlamentarier in jeder Funktion verlassen, daß ich, wenn sich Ähnliches wiederholen sollte, dafür wäre, daß alle Machtmittel des Staates eingesetzt werden, um eine Wiederholung der kriminellen Vorgänge von damals zu verhindern.
Wollen wir es nicht so tragisch ausdrücken!
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StraußHerr Kollege Erler, Sie haben ja auch Pech mit dem Geist, nicht nur der Bundeskanzler. Als ich Sie gestern hörte, ist in Flammenschrift, in dem Fall auf der rosaroten Nebelwand für mich die Abkürzung SDS — Sozialistischer Deutscher Studentenbund — erschienen, Ihre Kampforganisation gegen unsere Politik. Mußten Sie sich nicht selbst von dieser Organisation wegen ihrer, wie Sie selber sagten, pro-kommunistischen Tendenzen distanzieren?
— Das haben Sie gemacht, und dann haben Sie den Sozialdemokratischen Hochschulbund gegründet und haben erleben müssen, daß in den Zwiespältigkeiten Ihrer Politik und den Schwierigkeiten Ihrer inneren Meinungsumbildung die Vorsitzenden der gleichen Organisation den SHB verlassen und Sie selber, Ihre Politik wegen faschistoider Züge angeprangert haben. Das ist doch im Sommer dieses Jahres erfolgt. Ich sage das nur — uns passiert nämlich das gleiche, auch Herrn Mende passiert das gleiche mit dem liberalen Studentenbund —, damit hier nicht etwa der Eindruck entsteht: Hier steht eine Opposition, die mit dem selbsternannten Geiste Arm in Arm marschiert, und dort der Bundeskanzler, der diesen Geist zurückgewiesen, beleidigt, zertrampelt und schnöde von sich gewiesen hat.Ich möchte eines sagen: wir sollen uns nicht eine Haltung anmaßen, daß wir etwa den Vertretern des Geisteslebens — mag sich jeder dazu zählen, wer auch immer will — einen Maulkorb anhängen oder I ihnen Vorschriften erteilen. Sie sollen ihre Meinung sagen, was sie denken, was sie meinen, was sie wünschen. Es ist dann an uns, ihre Meinung so wichtig oder so wenig wichtig zu nehmen, wie es ihnen zukommt. Dann haben wir die richtige Mittellinie eingenommen, die ihnen zukommt und die auch uns zukommt.Aber da ich über die kommunistische Propaganda gegen die Bundesrepublik gesprochen habe, auch über gewisse Vorgänge im Inneren unseres Landes, darf ich eine Sache, die ich heute früh in der Zeitung gelesen habe, aufgreifen und sie gleich der Bundesregierung zur wohlwollenden Würdigung überweisen. Wenn es möglich ist, die nächste Sommerolympiade in Deutschland, d. h. in München und in Bayern, abzuhalten, Herr Bundeskanzler, dann bitte, tun Sie alles, dieses Vorhaben zu unterstützen, zu fördern und durchzusetzen.
Wir haben die Wahrheit über die Bundesrepublik nicht zu fürchten. Wir würden uns freuen, wenn das große, weltweite, völkerversöhnende Unternehmen der Olympiade in Deutschland, in dieser Bundesrepublik stattfinden würde, damit Russen und Chinesen und Polen und Tschechen, Amerikaner und Kanadier und Skandinavier und Lateinamerikaner, Afroasiaten und Australier die Wahrheit über Deutschland kennenlernen.
Herr Bundeskanzler — nicht als Wiedergutmachung gegenüber Herrn Erler, aber als allgemeinen Wunsch —, vielleicht könnte man mit dieser Olympiade der sportlichen Rekorde auch einen künstlerischen Wettkampf verbinden, den sich die Bundesrepublik trotz ihrer Haushaltssituation wahrlich leisten kann. Wir haben den innigen Wunsch, daß die Welt das deutsche Volk wirklich kennenlernt und daß es nicht von einer gewissen, zum Teil verzerrten Selbstpräsentation in Rundfunk und Fernsehen abhängt, wie es leider weitgehend geschieht.
Das deutsche Volk will mit seiner Vergangenheit fertig werden. Es muß mit ihr fertig werden, wenn es seine Aufgabe in der neuen Welt erfüllen soll. Aber das deutsche Volk hat nach den letzten 20 Jahren der Arbeit, des Opfers und der in seinem unfreien Teil bestandenen Leiden einen Anspruch darauf, wieder als normale Nation anerkannt zu werden, nicht als Nation, an deren Wesen die Welt genesen kann, aber auch nicht als Nation, die minderwertig oder potentiell gefährlich ist oder gar dauernd als kriminell diskriminiert wird.Die Bundesrepublik Deutschland muß auch auf ihrem Recht bestehen, die einzige Vertretung der gesamten deutschen Nation zu sein, die nach den in der Geschichte der Demokratie üblichen Maßstäben dazu legitimiert ist. Sie kann bestimmt auf eines nicht verzichten und wird nicht darauf verzichten, nämlich, das Recht der Selbstbestimmung für ganz Deutschland in Anspruch zu nehmen
und dieses Recht zur Grundlage ihrer gesamten Politik zu machen. Man kann über alles verhandeln und sich einigen, wie Herr Kollege Barzel, unser Fraktionsvorsitzender, gestern ausgeführt hat: Über die Wiedergutmachung für die von uns angerichteten Schäden, über Sicherheitsgarantien, die auf Gegenseitigkeit beruhen müssen, über die Einordnung des deutschen Staates in eine europäische Gemeinschaft, d. h. in eine europäische Architektur, innerhalb der das Problem eines wiedervereinigten Deutschlands von den Nachbarn leichter bewältigt werden kann als sonst. Wir können uns über die endgültige Regelung der deutschen Ostgrenzen nach Vorliegen der Voraussetzungen unterhalten. Aber das Selbstbestimmungsrecht Deutschlands, ausgedrückt und auszudrücken durch freie Wahlen, kann nicht zum Gegenstand von Verhandlungen oder zum Preis von West-Ost-Einigungen gemacht werden.
Weil Sie gestern, Herr Kollege Erler — ich weiß nicht, worauf Sie Bezug genommen haben, aber Sie haben sich sicherlich dabei einen bestimmten Vorgang vor Augen gehalten —, gesagt haben, daß wir ausländische Staaten schmähten, die vorbildlich seien, — ich nehme an, Sie haben damit skandinavische Staaten gemeinat —,
so möchte ich gerade hier sagen, daß der dänische Außenminister Haekkerup bei seinem Besuch in Polen im Sommer dieses Jahres auf die Frage seiner Gastgeber, seiner einladenden Wirte, wie man die
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Straußdeutsche Frage lösen könne, geantwortet hat: durch freie Wahlen. Das sollte für uns verbindlich sein, und wir sollten dieses Wort mit weniger Scheu aussprechen, als es allmählich Usus geworden ist.
Wenn der Außenminister Dänemarks,
ein sozialdemokratischer Parteigänger — ich finde im Augenblick nicht den passenden Ausdruck —, ein Mitglied der sozialdemokratischen Partei Dänemarks, aus seiner Überzeugung als Vertreter einer Nation, die im letzten Krieg unter uns gelitten hat, die das Jahr 1864 ja wohl allmählich vergessen hat, die aber im letzten Krieg unter uns gelitten hat, sagt: Es gibt nur eine Lösung der deutschen Frage, nämlich freie Wahlen, dann sollte jeder, der aus der Bundesrepublik nach dem Osten reist, sich diese Formel zu eigen machen,
gleichgültig, ob von dieser oder jener Partei, gleichgültig, ob von dieser oder jener Organisation. Es stehen sich — ich weiß es — harte Fronten gegenüber. Harte Fronten werden nicht in Tageskompromissen beseitigt. Hier stehen sich historische Gegensätze, hier stehen sich geschichtliche Zielsetzungen gegenüber. Niemand kann heute billig prophezeien, was herauskommt. Aber eines können wirsagen: das Recht steht auf unserer Seite. Deshalb haben wir die Hoffnung, daß mit geschichtlichen Entwicklungen auch das Recht die Entscheidung zu unseren Gunsten herbeiführen wird.
In dieser Frage sollten wir alle, sollte ganz Deutschland zusammenstehen. Hier darf es keinen Prozeß der Gewöhnung an die faktischen Gegebenheiten, keine dumpfe Hinnahme dieser Gegebenheiten geben, keine allmähliche Änderung der Grundposition, keine Politik des — in Anführungszeichen — Realismus, wie es so häufig heißt. Hier handelt die Bundesregierung aber auch nicht in egoistischer Weise für sich selber, um ein rein nationales Ziel zu vertreten und durchzusetzen, hier handelt die Bundesrepublik auch für ein freies Europa und für den wirklichen Frieden in der Welt.Darum muß es die Aufgabe der deutschen Politik sein und bleiben, 1. die nationale Einheit Deutschlands zu erreichen, 2. Sicherheit und Freiheit der Bundesrepublik zu erhalten, 3. die deutsche Politik zu einem Werkzeug für die Einigung Europas zu machen, 4. das atlantische Bündnis in neuen Formen zu stärken, 5. mit seinen östlichen Nachbarn und der Großmacht Sowjetunion zu einer dauerhaften Regelung der guten Nachbarschaft zu gelangen, 6. für den Frieden der Welt zu arbeiten.Die Leistung unseres Volkes und die Richtigkeit der Politik seiner Führung haben im Laufe der letzten 17 Jahre wirtschaftliche Stärke, persönlichenWohlstand und ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit geschaffen.Herr Kollege Schiller, Sie halben geistern eine mich sehr interessierende Rede gehalten, der man manches entnehmen kann, was einem Manne, der nicht ein so langes akademisches Studium und eine so lange Berufserfahrung auf dem Gebiete der Wirtschaftswissenschaften aufzuweisen hat wie Sie, diskutabel und überlegenswert ist. Ich freue mich, daß Sie sich im Grundsatz und in der Praxis zur Politik der Marktwirtschaft bekannt haben. Ich kenne Ihren Laudator, Herrn Ehrenberg — seinem Buch nach sicherlich ein sympathischer und beschlagener Mann —, der das Buch von der „Erhard-Saga" geschrieben hat. Ich bin auch nicht der Meinung, daß jeder Exportüberschuß ein unmittelbares persönliches Verdienst des Bundeskanzlers ist. Aber ich bin sehr wohl auch der Meinung — weil ich die Tage im Wirtschaftsrat in den Jahren 1948/1949 miterlebt halbe —, daß der Durchbruch zur Marktwirtschaft — und bei allem, was sonst gesagt werden mag, werde ich mich nie scheuen, sondern es als eine Ehrenpflicht betrachten, das zu erklären —, damals auch gegen uns Zweifler, die wir lange geprüft haben, bevor wir ja gesagt haben, unter der Initiative des heutigen Bundeskanzlers .erfolgt ist. Darüber gibt es keinen Zweifel.
Ich spreche heute in diesem Hause wahrlich nicht zum erstenmal, und ich habe auch im Wirtschaftsrat als parlamentarischer Anfänger zu jenen Fragen oft gesprochen. Ich weiß, wie sich damals die Fronten verhärtet hatten, wie schroff sie sich gegenüberstanden. Ich kann aber 'heute die Rede des Kollegen Erler, vor der manche soviel Angst gehabt haben, die aber gar nicht so schlimm war, Herr Kollege Erler,
die ein Beitrag war zur Bewältigung der Gegenwart — der Vergangenheit, aber vor allen Dingen der Gegenwart —, nur als einen Beitrag empfinden im Rahmen einer gemeinsam gewordenen Gesamtkonzeption, zu der Sie sich spät, aber noch rechtzeitig entschlossen haben, als einen Beitrag zu einer Gesamtkonzeption, die überhaupt als die Grundlage für unser staatliches Wirken und für unsere zukünftigen politsichen Zielsetzungen anzusehen ist. Darin, glaube ich, sollten wir übereinstimmen.Natürlich darf diese gemeinsame Leistung nicht zur Selbstzufriedenheit und Maßlosigkeit führen. Wir müssen von der Erkenntnis ausgehen, daß wir erst am Beginn der Ausgestaltung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stehen. Man kann mit Recht sagen, daß die erste große Phase der deutschen Nachkriegspolitik zu Ende ist und daß wir in eine zweite Phase eingetreten sind, die durch besondere Umstände und neue Elemente geprägt ist. Das gilt sowohl für die Vorgänge innerhalb unseres Landes, als auch für die Vorgänge außerhalb unserer Grenzen im fernen und im nahen Bereich. Ich sage: besondere Umstände, neue Vorgänge, denn, Herr Kollege Erler, ich habe eines hier vermißt: daß Sie
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Straußin Ihrer Rede ein schlüssiges Gesamtsystem einer abgewogenen, mit Prioritäten und Schwerpunkten ausgestatteten Politik geboten hätten. Ich weiß, wie schwer das ist. Ich darf 'ehrlich bekennen, ich habe bei der Vorbereitung meiner Rede auch daran gedacht und habe mir gesagt: das muß man der Regierung überlassen. Auch Sie haben es der Regierung überlassen.
— Ich bin hier nicht zur Stilkritik oder zur Schulaufsatzzensur berufen. Aber ich glaube, es war Ihr eigener Eindruck, es war der Eindruck des ganzen Hauses — nicht nur meiner Fraktion —, daß auch Sie nicht in der Lage waren oder — bitte fassen Sie das nicht als persönlichen Angriff auf; ich habe sehr viel Verständnis dafür — auch nicht den Mut aufgebracht haben, wegen der Rücksichten, die Sie zu nehmen haben, für ganz klare, eindeutige Prioritäten und Rangfolgen einzutreten.
Das macht die Diskussion in diesem Hause sehr schwierig. Es macht sie auch sehr schwierig — und das ist kein Angriff gegen einen Mann, dem ich auch hier persönlich Respekt dafür bezeugen möchte, wie er sich im Wahlkampf geschlagen hat —, daß Willy Brandt hier nicht zu fassen ist, daß er hier nun nicht mit der im Wahlkampf angedeuteten Konzeption einer zukünftigen SPD-Regierung als Sprecher der Opposition antritt, damit wir uns mit greifbaren Fronten auseinandersetzen können. Das macht die Dinge bei Ihnen und bei uns so schwierig. Ich weiß, wie groß der Ärger bei Ihnen ist, fast größer als bei uns.
Darum will ich nicht weiter darauf herumreiten.Ich möchte nicht diese Diskussion, die gestern abend von Ihnen ausgelöst und dann von Herrn Althammer fortgesetzt wurde, hier ausdehnen: Wahlgeschenke — Fragezeichen. Wo haben Sie widersprochen? Wo haben Sie Änderungen vorgeschlagen? Wo haben Sie Kürzungen vorgeschlagen? Welche Vorstellungen und Prioritäten haben Sie vertreten? Aber ich glaube, wir müssen uns alle — und der Vorwurf trifft die Bundesregierung und das gesamte Parlament — einmal dazu durchringen, in der Öffentlichkeit zu bekennen, daß wir unserem deutschen Volke nicht alles auf einmal in vollendeter Perfektion bieten oder versprechen können.
Unsere Kraft reicht dafür nicht aus.
Herr Kollege Erler, Sie haben gestern so oft den „Bayern-Kurier" zitiert. Was täten Sie überhaupt ohne ihn und den Grafen Huyn? Ihre Rede wäre um einen ganz wertvollen Teil ärmer gewesen.
Aber wenn ich jetzt einmal frage, wo denn die Schuld liegt, dann kann man nicht sagen: Sie liegt bei der Regierung, sie liegt bei der Koalition. Man kann sicherlich nicht sagen: Sie liegtbei der Opposition — ausschließlich — oder bei den Verbänden, den Gewerkschaften, den Unternehmern usw. Nein, sie liegt in der Gesamtheit des Inhalts und Stils einer Politik, bei der auch Sie durch Ihre Forderungen, durch Ihre Anträge, Ihre Wünsche und Ihre Versprechungen die gutwillige, zum Besten bereite Bundesregierung vor der Öffentlichkeit unter einen gewissen Druck gesetzt haben.
Und damit müssen wir jetzt intra muros et extra muros Schluß machen. Sonst kommt der deutsche Staat in Gefahr.
Das war bestimmt keine Giftspritze, Herr Kollege Wehner, Wie Sie es gestern zu Anfang der Ausführungen des Kollegen Althammer bei der Erwähnung des Namens Brandt gesagt haben. Aber es gilt, Gleichgewicht und Wachstum unserer Gesamtwirtschaft, Stabilität der Währung, Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit unserer produzierenden Wirtschaft zu erhalten, den Export zu steigern, die Grundlagen zu erhalten und auszubauen, auf denen unsere Gesellschaftsordnung, auf denen ihre zukünftigen Ziele, auf denen unsere Gesamtpolitik, nicht zuletzt unsere außenpolitischen Wirkensfähigkeit beruhen.Es besteht auch kein Anlaß — bei aller Begründung der Selbstkritik —, in eine Panikstimmung zu verfallen, die Dinge schwarz in schwarz zu malen. Ich will nicht auf die permanente Wirtschaftskrise im kommunistischen Bereich verweisen. Aber in allen Ländern der westlichen Welt, gerade in den großen Siegerländern, hat es in den letzten Jahren Schwierigkeiten, Störungen und Rückschläge gegeben. Ich brauche hier nur auf die Arbeitsmarktsituation und die Zahlungsbilanz der USA und Großbritanniens hinzuweisen, auf die Verhältnisse in Frankreich und in Italien und — was Sie nicht bestreiten können — auf den größten Verfall der Stabilität der Währung, wie er in den skandinavischen Staaten — unter ganz anderen wirtschaftlichsozialen Verhältnissen, wie ich zugeben muß und gern zugebe — zu verzeichnen ist. Alle diese Länder mußten im Laufe der letzten Jahre mit gewissen Problemen fertigwerden.Wir können immer noch sagen, daß wir uns in einer guten Ausgangslage befinden, wenn wir uns entschließen, die notwendigen Korrekturen vorzunehmen.
Diese Aufgabe trifft nicht nur die Bundesregierung, sie trifft nicht nur die Koalition, sie trifft nicht nur das Parlament; es ist eine echte Gemeinschaftsaufgabe.Hier kommt der Funktion der Opposition eine besondere Bedeutung zu. Wenn sie — nach den Erkenntnissen von heute — statt 54mal ausnahmsweise ja zu sagen, 54mal nein gesagt hätte, hätte sie die Wahlen auch nicht anders verloren, als sie sie verloren hat.
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StraußAber sie hätte heute ein anderes moralisches Recht, hier aufzutreten und der Regierung die Leviten zu lesen.
Dabei habe ich mich gefreut, Herr Kollege Schiller— ich sage bewußt „Herr Kollege" —, daß Sie gestern beim 55. Mal nicht ja, sondern am Ende nein gesagt haben.
— Mit Bert Brecht.
— Das stimmt, Herr Kollege Erler. Aber wenn Sie eine Koalition mit der FDP hätten, ginge es Ihnen bestimmt nicht besser.
Dabei hätten Sie uns eines voraus: daß Sie innerhalb Ihrer Reihen trotz größerer Gegensätze, als sie bei uns bestehen, nach außen hin die Dinge leichter als einheitlich vorstellen können. Das ist Ihr unbestreitbarer Vorzug, weil Sie ein geschultes Funktionärskorps — —
— Wollen Sie das bestreiten?
Ja, ich rechne Herrn Zinn — mit der Hessen-Klage — nicht zu den Funktionären. — Ich fahre fort: weil Sie auf Grund Ihrer ganzen Kampfstellung — ich sage: mit Recht — gegen eine bestimmte nationalistische Politik und gegen eine ganz bestimmte einseitige Gesellschaftsordnung eine ganz andere Wählerstruktur haben, als sie bürgerliche Parteien schlechthin aufzuweisen haben.Aber Sie haben recht, sich über Professor Erhard zu ärgern. Er weicht mit den Erfolgen seiner Politik auch Ihre Struktur auf.
Auf lange Sicht kommen bei Ihnen dieselben Schwierigkeiten wie bei uns.
Diese Aufgabe trifft auch die großen Verbände, diese Aufgabe trifft die meinungsbildenden Organe. Sie trifft kurzum alle Institutionen einer freiheitlichen, demokratischen und — horribile dictu — pluralistischen Gesellschaftsordnung, wobei ich dieses Wort nicht nur in der Annahme ausspreche, daß andere es verstehen, sondern mich ständig bemühe, es selber zu verstehen.
— Ja, es ist schwer, aber ich schaff's allmählich. — Dabei sind Einsicht, Überzeugung, Disziplin notwendige Ergänzungselemente zu den staatlich-politischen Entscheidungen. Diese Entscheidung trifft schließlich jeden einzelnen, der verantwortlich mitdenken und mithandeln muß.Kollege Starke hat ein goldenes Wort gesagt: Zwingen, ohne Zwang auszuüben. Das ist die Situation, in der sich die Bundesregierung mit nicht adäquaten Instrumenten und Mitteln befindet.Es ist müßig zu fragen, ob die Politik oder die Wirtschaft unser Schicksal ist — Rathenau und andere —; beide stehen in engster Wechselwirkung. Ohne wirtschaftliche Stärke gibt es keine politische Kraft, ohne politische Stabilität gibt es keine wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit. Der Bundeskanzler hat mit Recht ausgeführt, daß sich wirtschaftliche Kraft in politische Stärke ummünzt. Ich möchte diese Aussage weder ergänzen noch ihre Richtigkeit bestreiten, aber eines dazu vermerken: Es geht nicht nur um die gegenwärtige wirtschaftliche Stärke, es geht darum, daß die Voraussetzungen für zukünftige wirtschaftliche Stärke geschaffen, gepflegt, erhalten und ausgebaut werden. Das ist das Kapitel Wissenschaft, Forschung, technische Entwicklung.Nehmen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, es mir bitte nicht übel, oder werten Sie es nicht als einen gezielten Angriff gegen den Kollegen Lohmar, wenn ich ihm hier sage, daß seine Ausführungen über die Bedeutung der Weltraumfahrttechnik völlig verfehlt sind. Selbstverständlich sind wir Kleinstaaten, muß man sagen, bei der Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht in der Lage, mit den Giganten USA und Sowjetunion zu wetteifern. Aber wir sollten auch hier nicht mit einer, ich darf sagen, kleinkarierten Einstellung, die auf den Nutzen des nächsten Jahres abstellt, an diese Frage herangehen. Was Wernher von Braun — ich habe es heute einer großen deutschen Tageszeitung entnommen — über die industrielle, wirtschaftliche Bedeutung der Beherrschung der Weltraumfahrttechnik gesagt hat, scheint mir mit meinem laienhaften Verstand in jeder Hinsicht und in vollkommener Weise begründet zu sein.
Wer diese Technik beherrscht — und wir beherrschen sie nur theoretisch in Umrissen —, wird morgen wirtschaftlich konkurrenzfähig oder überlegen sein. Das geht an von der Metallurgie und der Technologie — metallische und nichtmetallische Stoffe, Eisen und Nichteisenmetalle —, das reicht hinein in den Bereich der Kybernetik, der Elektronik, das reicht hinein in Bereiche, die wir, ich muß das zugeben, mit unserer geisteswissenschaftlichen Ausbildung vom humanistischen Gymnasium und Studium der Geschichte und Philologie kaum zu ahnen vermögen.
— Sie ja, Herr Kollege Schmid; aber ich — —
Aber es kommt nicht darauf an, daß wir als Spezialisten auftreten; es kommt darauf an, daß wir dierichtige Nase für notwendige Entwicklungen haben.
Deshalb ist hier eine Priorität bei Wissenschaft, Forschung und technischer Entwicklung, die wir ruhig
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Straußunter den Begriff der Sozialinvestitionen einreihen können,
in Klarheit darüber, daß Leistungen für Sozialinvestitionen und Leistungen für Sozialkonsum der Gegenwart in einem Konkurrenzverhältnis stehen und daß es sehr schwierig ist, vor der Öffentlichkeit Verzichte für die Gegenwart zugunsten dieser Bewältigung der Zukunft glaubhaft, überzeugungsfähig durchzusetzen.
- Man muß es tun; ich gebe Ihnen völlig recht. -Deshalb glaube ich auch, daß es für uns in der Bundesrepublik — das darf ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, und der Bundesregierung sagen — nicht allein damit getan wäre — meine Behauptung enthält keinen Vorwurf —, etwa internationale Programme wie ELDO und ESRO schlechthin nur zu unterstützen. Wir brauchen auch eine nationale Wissenschafts-, Forschungs- und Entwicklungspolitik,
die sich einerseits ihrer Grenzen bewußt ist, die aber andererseits auch wegen des nationalen Standards eine höhere Wirksamkeit im internationalen Bereich entfalten kann.
— „Warum haben wir sie nicht?" Vielleicht hat der Bundeskanzler, vielleicht hat die Bundesregierung sich zuviel auf Herrn Lohmar verlassen.
— Ich meine das nicht wörtlich. — Sie fragen: „Warum haben wir sie nicht?"
— Ja, sicher, Sie haben recht, Kollege Schmid. Ich diskutiere ja hier als Parlamentarier und behaupte nicht, daß alles den obersten Gesetzen der Stilpflege entspricht.
Daß wir sie nicht haben, hängt damit zusammen, daß wir alle in Europa und gerade wir in Deutschland nach dem schrecklichen Mißbrauch der Technik auch für militärische, und zwar für verbrecherische militärische Zwecke irgendwie einen inneren Horror haben, daß wir glauben, uns sei es nicht mehr erlaubt, in diese Bereiche hineinzustoßen. Und davon hängt unser Leben ab, davon hängt unsere Wettbewerbsfähigkeit ab, davon hängt die Steigerung unserer Lebensverhältnisse ab. Davon hängt noch mehr ab : davon hängt unsere internationale Geltung ab. Man kann sehr wohl sagen, daß heute wirtschaftliche Stärke und das Maß der Selbstverteidigungsfähigkeit ein Nenner für internationale Geltung sind. Aber da heute keine Großmacht mehr im Gegensatz zu früher, um politische Ziele zu erreichen, das militärische Mittel wählen wird — darin sind wir uns alle einig: bewußt bestimmt nicht mehr —, kommt heute ein dritter Faktor hinzu. Das ist die Tatsache, daß aus den quantitativen Veränderungen der letzten Jahrzehnte qualitative Mutationen hervorgegangen sind und daß diese qualitativen Mutationen heute ein echtes Merkmal der Weltgeltung einer Nation sind.
Die wirtschaftliche Kraft muß natürlich erhalten und ausgebaut werden. Sie wird aber nur ausgebaut werden, wenn wir auf diesem Gebiet der Zukunft den Vorrang vor dem Konsum der Gegenwart trotz aller Unpopularität zu geben bereit sind.
Wirtschaftliche Kraft münzt sich nur dann in politische Stärke um, wenn eine entschlossene Politik wirtschaftliche Kraft und politische Stärke so kombiniert, daß das eine dem andern entspricht.Ich möchte hier nicht um das Urheberrecht streiten, darum, wer es zuerst gesagt hat. Ich zitiere Willy Brandt und behaupte, ich habe es noch vor ihm gesagt; aber es ist völlig gleichgültig. Man kann sich auf die Dauer nicht als wirtschaftlichen Riesen in Anspruch nehmen und als politischen Zwerg behandeln lassen. Das hängt aber auch mit der internationalen Propaganda über und gegen die Bundesrepublik zusammen.Die wirtschaftliche Lage: Abschwächung der Konjunktur, hohes Zinsniveau, aber trotzdem eine anhaltende Rekordhöhe der Sparleistungen und dabei unzulänglich funktionierender Kapitalmarkt, defizitäre Zahlungsbilanz. Um die jetzt allmählich kühler werdende Temperatur unserer Konjunktur unter Kontrolle zu halten und Preissteigerungen möglichst zu verhindern, hat die Bundesbank im vorigen Jahr eine Reihe restriktiver Maßnahmen eingeleitet und sie in diesem Jahr weiter verschärft.Diese Maßnahmen sind in der Auswirkung dadurch verschärft worden, daß der Wirtschaft und den Banken über die passiv gewordene Zahlungsbilanz in beträchtlichem Umfang weiterhin flüssige Mittel entzogen wurden. Wir hatten im Restriktionsjahr 1960 einen Devisenzufluß von rund 8 Milliarden DM. Die Zahlungsbilanz dieses Jahres wird voraussichtlich mit mindestens 2 Milliarden DM Defizit abschließen. Ich möchte mit dieser Zahl auch den Äußerungen entgegentreten, die an die Grenze der 5, 6 und 7 Milliarden gehen. Denn wir wollen einmal das Jahresergebnis abwarten und uns nicht durch Zwischenergebnisse und Schätzungen in eine Panikstimmung treiben lassen.Ich glaube auch, daß die Bundesbank — ich habe es selbst einmal kritisiert, weil ihre Maßnahmen die private Wirtschaft treffen, aber kaum Auswirkungen auf die öffentliche Hand haben — vorerst bei diesen Restriktionsmaßnahmen bleiben muß. Denn eine Zu-
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Straußrücknahme der Restriktionsmaßnahmen würde den falschen Eindruck hervorrufen, als ob die Dinge wieder stabilisiert, im Gleichgewicht und normal seien. Darum kann man heute bei aller kritischen Würdigung der Maßnahmen der Bundesbank nicht empfehlen, diese Maßnahmen zurückzunehmen, bevor ihre Zurücknahme dem Eindruck und der Tatsache nach berechtigt ist.Ich möchte hier nicht weiter über wirtschaftliche Einzelheiten reden. Aber ich darf vielleicht doch darauf hinweisen, daß man heute allgemein den Fehler begeht, von der deutschen Wirtschaft schlechthin zu reden. Sie haben gestern, Herr Kollege Erler, es mit Recht unternommen, zu sagen: Die Dinge sind branchenmäßig, sektorenmäßig ganz verschieden; man kann die Verhältnisse im Bergbau und in der Stahlindustrie nicht mit den Verhältnissen etwa bei der Großchemie, dem Fahrzeugbau oder der Elektrotechnik vergleichen. Man kann nicht sagen, der deutschen Wirtschaft schlechthin gehe es heute miserabel. Man sollte sich auch hier vor übertreibenden Epitheta ornantia hüten und nicht von Katastrophen reden, von der Wirtschaftskatastrophe, der Zahlungsbilanzkatastrophe, der Bildungskatastrophe usw. Wir, diese Generation, der ich angehöre, der Sie, Herr Kollege Erler, angehören, wir haben in unserem Dasein erlebt, welche Vorgänge den Namen „Katastrophe" in vollem Umfang rechtfertigen.
Wir sollten uns deshalb hüten, durch Anwendung einer falschen Terminologie psychologische Reaktionen hervorrufen, die einfach mit den Tatsachen in Dimension und Proportion nicht übereinstimmen.
Ich möchte beinahe sagen, daß es ein Anzeichen einer Degenerationserscheinung wäre, große geschichtliche Terminologien für kleine Vorgänge anzuwenden. Denn das würde bedeuten, daß wir die Maßstäbe nicht mehr unterscheiden können und daß bei uns der Prozeß der geistigen Provinzialisierung so weit fortgeschritten ist, daß wir für einen Vorgang nicht mehr die richtige Bezeichnung finden können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es hat auch keinen Sinn, zu sagen: die importierte Inflation ist schuld wie früher, oder: die Unternehmen sind schuld, die Gewerkschaften sind schuld, die Verbraucher sind schuld, die Regierung ist schuld, die Opposition ist schuld. Nein, es stehen, wie ich heute schon ausgeführt habe, Inhalt und Stil einer Aufbaupolitik, die aber heute abgeschlossen ist, zur Diskussion. Für die neue Phase den richtigen Inhalt und den richtigen Stil zu finden, ist Aufgabe der Regierung, aber auch Aufgabe der Opposition. Beide müssen zusammenwirken, um den neuen Aufgaben gerecht zu werden.Dazu gehört auch, Herr Kollege Erler, daß Sie, der Kollege Schmidt und andere gestern dem Bundeskanzler usw. Wortbruch vorgeworfen haben; na ja. Dazu gehört auch, daß wir unserer Öffentlichkeit, mag sie sich für die CDU/CSU, für die SPD oder für die FDP entschieden haben, klarmachen, daß jetztdie Zeit des stürmischen Wachstums, die Zeit der großen Sprünge, die Zeit der großen Geschenke, die Zeit der stürmischen Steigerungen unserer Möglichkeiten vorbei sind, daß wir jetzt ein Normalmaß an Dasein erreicht haben — was den Ausgleich von Härten nicht ausschließt —,
als Grundlage dafür, die Existenzfähigkeit, die politische Geltung und die Lebensrechte der zukünftigen Generation im geteilten Deutschland zu sichern.
Ich möchte jetzt nicht über Zuwachsraten der Löhne, Arbeitszeit usw. sprechen. Aber ich möchte hier doch eines zum Ausdruck bringen, gerade weil gestern vom Verhältnis zu den Gewerkschaften die Rede war, Herr Kollege Erler: Es ist nicht zu verantworten, wenn von verantwortlicher Gewerkschaftsseite die Automation als ein Schreckgespenst, als Quelle einer zukünftigen Arbeitslosigkeit an die Wand gemalt wird, wie es von Herrn Brenner geschehen ist.
— Ich habe die Sache gelesen und mußte sie so interpretieren.
— Er ist kein Maschinenstürmer.
— Ich gehe gleich darauf ein.
— Ich bin selbstverständlich immer bereit, mich aufklären zu lassen. Das dient der Behebung des Bildungsnotstands, dem jeder von uns ausgesetzt ist. Aber ich habe mich hier, Herr Kollege, nur auf das bezogen, was ich in der Presse, die Sie sonst auch immer zitieren, über den Kongreß der IG Metall in Bremen gelesen habe.Ich möchte dazu zwei Dinge sagen. Wir sind in der glücklichen Lage, in dem Zustand der Übervollbeschäftigung bei einem Defizit von beinahe 2 Millionen Arbeitskräften den Prozeß der Automation, der sicherlich im Einzelfall Härten schafft, besser durchzustehen als z. B. die Vereinigten Staaten von Amerika, die diesen Prozeß mit einer Dauerarbeitslosigkeit von etwa 4 Millionen Nichtbeschäftigten durchzustehen haben.Ich wage aber noch ein Zweites zu sagen. Ganz gleich, ob man konservativ oder progressiv denkt — darum geht es gar nicht —: uns ist der Zwang zur Automation — im übrigen ein ganz schlechtes
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StraußWort; es ist eine der mißglückten Sprachbildungen, die wir aus dem Bereich der englischen Sprache übernommen haben —
als ein unveränderliches Datum vorgegeben, ob wir das wünschen oder nicht wünschen. Sonst müßten wir Deutschland auf eine Südseeinsel mit primitiven Lebensverhältnissen verlegen. Aber wir in der EWG, im atlantischen Konkurrenzkampf mit den Vereinigten Staaten von Amerika, im wirtschaftlichtechnischen Konkurrenzkampf mit der kommunistischen Welt, wir mit der ständig wachsenden Bevölkerung, auf gleichbleibend kleinem Raum schnell wachsenden Bevölkerung, wir mit unserem Drang, mit unserem — ich darf sagen — berechtigten Standpunkt, uns in dieser internationalen Welt, bei unseren Bündnispartnern gegenüber dem Osten zu behaupten, die Bundesrepublik Deutschland zu einem politischen Gewicht zu machen, wir können gar nicht anders, als den Prozeß der technischen Rationalisierung so schnell wie möglich zu durchlaufen, um jeweils an der Spitze des technischen Fortschritts zu bleiben.
Dazu gehört auch — ich habe es vorhin erwähnt —, daß wir es uns auf die Dauer nicht leisten können, für die Nutzung ausländischer Patente ein Mehrfaches an Lizenzgebühren zu zahlen, als wir für die Nutzung deutscher Patente im Ausland bekommen.
— Genau das; darin sind wir uns völlig einig. Vor dem zweiten Weltkrieg war es umgekehrt. Heute ist es so, wie ich es geschildert habe. Da haben wir gar keine andere Wahl, als unter Verzicht auf bestimmte Gegenwartsforderungen zu diesem zukünftigen Bereich durchzustoßen. Das ist keineswegs ein ehrgeiziger, größenwahnsinniger Anspruch, das ist eine Selbstverständlichkeit für diejenigen, die nur ein paar Jahre überhaupt in die nächste Zukunft hineinplanen müssen.
— Ja, darüber sollten wir reden.
— Darüber sollten wir reden; wir können hier darüber reden.
— Ich will es nicht tun, Herr Kollege Erler, damit ich mir nicht Ichren Vorwurf „Fernsehzeit" gegebenenfalls zu Recht zuziehe. Aber wir sollten und könnten darüber reden. Wir können es anderswohin verlegen. Wir müssen aber bestimmte Wünsche, die von ein und derselben Seite mit der gleichen Nachdrücklichkeit an uns herangetragen werden, strekken, zurückweisen, in der Erfüllung vermindern, weil wir sonst einfach unsere Kräfte überfordern.Solange wir aber ,die gegenwärtige Übervollbeschäftigung haben, können wir uns doch ohne soziale Härten und ohne besondere Inanspruchnahme des Staatshaushalts oder des Sozialhaushalts den Prozeß der Automatisierung unserer Wirtschaft erlauben, und wir sollten davon Gebrauch machen. Ich mache Sie, Herr Kollege Erler oder wer vorhin die Zwischenfrage gestellt hat, wirklich nicht für die Äußerungen bei der IG Metall oder einzelner Redner verantwortlich. Aber glaubt man denn, daß etwa ein Ministerium für Automatisierung, wie es dort gefordert worden ist, ein Ministerium für Automation die Dinge besser lösen kann? Das ist doch ein Rückfall in planwirtschaftliches Denken, daß man eine Behörde braucht, um ein Problem lösen zu können. Das Problem, das gelöst werden soll, nämlich Arbeitslosigkeit im Zuge der Automation zu vermeiden, dieses Problem ist ja gelöst, und zwar durch unsere Wirtschaftspolitik. Deshalb sollten wir die Chance nutzen, auch den Vorteil eines Nachteils in Anspruch zu nehmen.Ich habe über den Arbeitsmarkt eine Bemerkung gemacht. Herr Bundesfinanzminister, ich hoffe, daß zwischen Ihnen und Ihrer Partei Übereinstimmung darüber besteht, daß ,die Frage verfassungsrechtlicher Bedenken im Falle der Begünstigung von Überstunden nicht allzu stark in den Vordergrund gestellt werden soll. Man gerät nämlich häufig in Gefahr, verfassungsrechtliche Bedenken zu erwähnen, wenn man andere Gegengründe hat. Es gab ja früher einmal eine solche Regelung, und wir sollten uns ernsthaft überlegen, ob diese Regelung dem heute ohne Zweifel vorhandenen Mißstand wenigstens in etwa steuern kann.Das Problem des Arbeitsmarktes ist der Schlüssel zu allen anderen Problemen, und es ist müßig, über Lohndruck zu reden. Solange ein solches Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt besteht, wird man weder von staatlicher Seite noch auf seiten der Unternehmer dem Gesetz der Marktwirtschaft nachdrücklich widerstehen können.
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Darüber gibt es keinen Zweifel. Das sind Selbstverständlichkeiten, derentwegen wir uns gegenseitig bestimmt keine Vorwürfe machen. Wir sollten aber den Schwerpunkt des Ausgabenzuwachses, der jetzt nach dem Sparprogramm und, ich denke, noch weiteren Einsparungen, die notwendig sind, als freier Raum übrigbleibt, nicht zur Förderung des Gegenwartskonsums verwenden — so populär und attraktiv und wahlpolitisch das alles wäre —, sondern wir sollten ihn in die Zukunft hinein verlegen.
Ich habe vor kurzem eine Rede von Professor Wiesner, dem Berater von Präsident Kennedy, gelesen, in der er gesagt hat, daß 12,3 Millarden Dollar für das nationale Wissenschafts- und Forschungsprogramm ausgegeben würden. Er sagte weiter, daß das mehr als das sei, was die Vereinigten Staaten seit der Revolution im 18. Jahrhundert bis zum Ende des zweiten Weltkrieges ausgegeben hätten. Das heißt, die Vereinigten Staaten gaben für diesen
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208 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
StraußSchwerpunkt in einem Jahr mehr aus, als sie in 180 Jahren ihrer Geschichte ausgegeben haben. Ich habe mit Neid darin gelesen und mich dabei Ihrer Worte erinnert, Herr Kollege Schoettle, daß die 12,3 Milliarden Dollar ein Drittel des disponiblen Teils des amerikanischen Haushalts darstellen. Der amerikanische Haushalt mag bei 80 Milliarden Dollar liegen. Damit wären 36 Milliarden Dollar disponibel und 44 Milliarden Dollar gebunden. Wenn man die Frage stellt, was bei uns durch Gesetzentwürfe von Regierung, Koalition und Opposition gebunden ist, dann kommen wir in einen Bereich hinein, der etwa —genau kann ich es nicht sagen — bei 90 %, wenn nicht darüber liegt, und damit hört eine gestaltende Politik schlechthin auf.
Damit wird eine Regierung und ihr Kontrollorgan, das Parlament, zu nichts anderem als zu einer Buchhalterexekutivfunktion degradiert,
und dem müssen wir gemeinsam entgegenwirken.Ich habe mich bewußt im größten Teil meiner Ausführungen den innenpolitischen Themen zugewandt, weil sie mit Recht im Vordergrund des Interesses stehen. Vom Kollegen Erler ist gestern eine Reihe durchaus zutreffender Bemerkungen zu bestimmten außenpolitischen Fragen gemacht worden. Zu einigen Bemerkungen von Ihnen, Herr Kollege Erler, möchte ich einige Anmerkungen machen.Sie sagten z. B., in der Frage der Reform der NATO, in der Frage des Einsatzes und der Entscheidungsbefugnis über den Einsatz von Kernwaffen gehe es Ihnen in erster Linie um ein negatives Selbstbestimmungsrecht, um ein Veto für die Waffen, die auf deutschem Boden stehen oder gegen deutschen Boden eingesetzt werden könnten. Ich gebe Ihnen völlig darin recht, Herr Kollege Erler, daß für uns hier die Verantwortung nicht an der Zonen-Demarkationslinie endet, sondern daß für ,uns in unserer militärischen Planung, soweit wir auf die Entschlüsse der Kernwaffenbesitzer Einfluß nehmen können, auch die Frage der Zielwahl jenseits der Zonengrenzen von entscheidender Bedeutung ist. Ich glaube, Sie werden mir nicht widersprechen, wenn ich noch weitergehe und sage, daß wir auch ein gewisses Maß an Mitverantwortung für die Erhaltung der europäischen Substanz haben und daß wir deshalb auch für die Länder wie Polen, Tschechoslowakei, Ungarn usw. — ich rede nicht vom „Ostland" — ein gewisses Maß an Mitverantwortung haben, weil die Frage des Einsatzes von Kernwaffen sehr wohl eine Frage sein kann, die endgültige Entscheidungen vorwegnimmt. Darin sind wir uns einig. Bloß, Herr Kollege Erler: wie glauben Sie, daß man durch Information, Konsultation und Beratung dieses negative Recht, dieses Vetorecht ausüben kann? Wir enden immer wieder an ein und derselben Grenze, nämlich daß derjenige, der über den Einsatz von Kernwaffen kraft eigener Souveränität und kraft eigenen Besitzes verfügen kann, in der Stunde der Not in der Wahl seiner Entscheidung frei ist, Das macht für uns doch dieTragik der Situation aus. Wir wissen, daß wir aus unseren besonderen Gegebenheiten heraus nationale Kernwaffen weder anstreben wollen noch anstreben dürfen.Diese Fragen — MLF, ANF usw. — werden von dem Herrn Bundeskanzler in den USA wahrscheinlich bis zum Überdruß behandelt werden müssen. Ich möchte sagen, daß wir jeder politischen Lösung, die uns ein vermehrtes Maß an Information, ein vermehrtes Maß an Konsultation und ein vermehrtes Maß an Mitberatung gibt, zustimmen sollten. Ich möchte zunächst für meine Person sagen, aber ich glaube, ich kann es auch für manchen anderen sagen: wir sollten bei physischen Lösungen größte Vorsicht walten lassen, und zwar deshalb, weil die Zustimmung zu einer physischen Lösung nicht verbunden sein darf mit der Zustimmung zu einer deutschen Unterschrift unter einen Non-Proliferation-Vertrag. Wir müssen jedes Maß an vermehrtem Einfluß in der Kernwaffenplanung der NATO ausnutzen, als loyale Partner in Anspruch nehmen und loyal mitwirken. Aber wir sollten sehr vorsichtig sein mit der Zustimmung, mit der Inaussichtstellung einer deutschen Unterschrift unter einen sogenannten Atomwaffensperrvertrag, einen NonProliferation-Vertrag. Hier sollten wir sehr, sehr zurückhaltend sein, die Dinge prüfen und uns nicht zu schnell etwa wieder unter Druck setzen lassen.Dabei mache ich auf etwas aufmerksam, was nach meiner Kenntnis der Debatte bis jetzt nicht gesagt worden ist. Jeder solche Vertrag wirft ein Problem auf, das wir kaum bewältigt haben, nämlich das Problem der Unterschrift der Verwaltung der SBZ, d. h. das Problem der Unterschrift der sogenannten DDR. Je mehr internationale Verträge dieser Art, so gut sie gemeint sind, die Unterschrift der Zonenregierung tragen, desto mehr wird der Weg zur praktischen und juristischen Anerkennung der Zweiteilung Deutschlands vorwärtsgegangen.
Das ist die Frage, die wir uns bei aller Zustimmung zu dem humanitären Anliegen, zu dem politischen Anliegen eines Non-Proliferation-Vertrages überlegen sollten.Als Parlamentarier hat man das Recht, frei zu reden, innerhalb gewisser Grenzen natürlich, vielleicht leichter zu reden, als es die unter gewissen Einflüssen und auch unter gewissen Verhaltensregeln stehenden Regierung tun kann. Darum sollten wir hier der Regierung ganz offen sagen: Keine Zustimmung geben, bevor die Dinge bis ins letzte geprüft sind!
Die Regierung sollte die Gewißheit haben, daß sie von diesem Parlament unterstützt und nicht allein gelassen wird. Die Regierung sollte wissen, daß sie nicht unter den Druck der öffentlichen Meinung in Deutschland oder unter den Druck einer leicht herzustellenden Weltmeinung gesetzt werden kann,
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 209
StraußWir können nicht ein Erstgeburtsrecht der deutschen Souveränität verkaufen für ein Linsengericht einer temporären physischen Lösung.
Die Aussage wäre unvollkommen, wenn ich nicht sagte: Wir sind bereit, das Erstgeburtsrecht der deutschen Souveränität jederzeit in eine europäische Gemeinschaft einzubringen und damit unseren Nachbarn im Osten und im Westen, im Norden und im Süden den von der kommunistischen Propaganda gebrauchten und mißbrauchten Alpdruck zu nehmen, daß eine große deutsche Nation mit 80 Millionen Einwohnern, wiedervereinigt, mit großem wirtschaftlichem Potential, eines Tages auch ein gleich starkes militärisches Potential repräsentieren und deshalb zu einer neuen Belastung der europäischen Geschichte führen würde. Das eine hält dem anderen die Waage.Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren — und ich darf das in aller Bescheidenheit, mit aller Zurückhaltung sagen —, wir können uns auch nicht ohne weiteres mit der britischen Haltung einverstanden erklären. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, las man vor den britischen Wahlen, das eine sozialistische Regierung in Großbritannien die britische Abschreckungswaffe abbauen, notfalls sogar ins Meer werfen werde, um einer Proliferation vorzubeugen. Ich glaube kaum, daß mein Gedächtnis mich hier trügt. Nach den Wahlen hört man von Ihrem Gesprächspartner, Herr Erler, einem sehr potenten, fähigen, intelligenten Mann, Herrn Dennis Healy, etwas ganz anderes. Er hat nämlich — wenn ich den „Münchner Merkur" vom letzten Samstag zitiere — den Vorschlag McNamaras, die vier britischen Polaris-U-Boote entweder an die Amerikaner oder an die NATO zu verkaufen, d. h. zu internationalisieren, als den dümmsten Vorschlag bezeichnet, der jemals gemacht werden könnte.Es heißt weiter, daß sicherlich in der NATO das Prinzip der Gleichberechtigung herrsche, daß es aber einen Unterschied gebe infolge der Lage, der Aufgabenstellung usw. und daß deshalb gewisse Bündnispartner gleichberechtigter sein müßten als andere. Hier komme ich mit meinen einfachen Vorstellungen nicht mehr zurecht. Ich glaube, daß wir, die wir alle diesem Problem — sei es so, sei es so — aber mit demselben Respekt gegenüberstehen, uns eines vornehmen sollten: mit den europäischen Bündnispartnern der NATO echte Gleichberechtigung zu erlangen. Die echte Gleichberechtigung kann nicht auf dem Wege über deutsche Kernwaffen erreicht werden, — um von vornherein diese mögliche Unterstellung zu vermeiden. Sie kann nur erreicht werden, wenn wir, das Ziel kennend, den Weg finden, nämlich eine europäische Lösung anstreben, eine europäische Lösung, daß die zweite Großmacht des Westens, wie Herr Kollege Barzel es gestern gesagt hat, nicht die dritte Kraft, die in der Lage ist, eine Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses in der Welt, auch in Europa und gegenüber dem Osten herbeizuführen, das gleiche Maß an Souveränität für sich langfristig beansprucht und eigene Verteidigungsfähigkeit erlangt wie die Vereinigten Staaten von Amerika.Herr Kollege Erler, Sie haben mich gestern angesprochen, mit Recht angesprochen, darf ich sagen, wegen meiner angeblichen Außerung über den Rückzug von 50 % der amerikanischen Truppen. Ich begrüße sogar die Gelegenheit, weil ich sie sonst an den Haaren herbeiziehen müßte. Wenn Sie die amerikanische Ausgabe der „New Vork Times" lesen und sie mit der europäischen Ausgabe vergleichen, dann werden Sie feststellen, daß die amerikanische Ausgabe etwas anderes enthält als die europäische Ausgabe. Wir haben an beide Redaktionen einen Leserbrief geschickt. Die amerikanische Redaktion hat erwidert: Wir haben keinen Grund, den Leserbrief abzudrucken, weil wir es ja richtig gebracht haben. Die europäische Redaktion hat bis zur Stunde keine Antwort gegeben. Deshalb darf ich das mit nur ganz wenigen Sätzen zurechtrücken.Ich bin kein Anhänger der Formel: „Ami go home", Abzug der amerikanischen Truppen. Ich bin aber sehr wohl der Meinung, daß man den Amerikanern auf die Dauer das Monopol der Totalverantwortung für die freie Welt bei mangelhafter Beteiligung der übrigen Partner nicht zumuten kann. Ich bin der Meinung, daß dieses Europa nach dem 2. Weltkrieg, nicht zuletzt dank amerikanischer Hilfe, die Kraft und die Fähigkeit hat, bei entsprechender Ausnutzung seiner Quellen zu einem echten Partner der Amerikaner zu werden und nicht nur Brückenkopf oder Atomprotektorat zu sein. Ich habe unter dieser Voraussetzung, Herr Kollege Erler, gesagt: Wenn ein vereinigtes Europa zustande kommt, wenn dieses Europa seine Streitkräfte integriert und damit seine heutige militärische Fähigkeit potenziert, wenn dieses Europa ein eigenes Kernwaffenpotential hat, dann kann man selbstverständlich daran denken, das gegenwärtige Ausmaß der amerikanischen Streitkräfte in Europa um ein erhebliches Maß bis zu 50 % zu verringern. Das ist auch meine Meinung. Diese Meinung mag falsch sein. Aber ich glaube, daß diese Meinung jedenfalls diskutabel ist, und sie hat nichts zu tun, sie hat auch nicht das leiseste zu tun mit irgendeiner — —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Dr, Mommer?
Herr Kollege Strauß, sind Sie sich bewußt, daß Sie in 10 Minuten zwei Stunden gesprochen haben werden und daß dann doch der Verdacht aufkommt, daß das etwas mit Sendezeiten zu tun haben könnte?
Herr Kollege Mommer, ich sehe das ein. Hätten Sie mir das schon vor einer halben Stunde gesagt! Aber ich glaube, daß die Form, in der ich hier gemeinsame Probleme diskutiere, nicht ein Mißbrauch der Sendezeiten ist, bei der Sie, Herr Kollege Mommer, von der SPD, nicht zuletzt dank der personellen Besetzung der Redaktionen von vornherein einen gewissen Vorteil haben.
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210 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Einen Augenblick, meine Damen und Herren! Der Präsident kann sich nicht von den Vorschriften der Geschäftsordnung freistellen. In § 39 heißt es: Der einzelne Redner soll nicht länger als eine Stunde sprechen.
Nun leidet diese ganze Diskussion seit gestern schon daran, daß zu lange Reden gehalten werden. Auf der anderen Seite, meine Damen und Herren, darf man vom Präsidenten nicht verlangen, daß er einen wichtigen Beitrag zur Sache irgendwie stört, d. h. daß er die Freiheit des Sprechers manipuliert. Das würde ich nicht tun, gleichgültig, ob nun die Fernseher laufen oder nicht. Aber ich muß im Blick auf § 39 jeden Redner bitten — das gilt auch für Sie, Herr Abgeordneter Strauß —, sich mindestens an den Satz zu halten, daß nicht länger als eine Stunde gesprochen wird.
Herr Kollege Mommer, ich war mir dessen nicht bewußt. Ich habe im Eifer der Gedanken und im Zuge der Rede meine Überlegungen dargestellt. Sie sind im allgemeinen, das darf ich sagen, identisch mit den Überlegungen meiner Fraktion. Ich beherzige aber diese Mahnung.
Zum Schluß darf ich nach diesen Ausführungen über unsere Innen- und Außenpolitik eines sagen —das mögen Sie so oder so auslegen —: Wir sollten einsehen — diese Mahnung geht auch an andere Länder, nicht nur an uns selber —, daß wir es uns nicht leisten können, das Gesetz des Quantitativen zugunsten eines qualitativen Anspruchs zu verletzen. Keine europäische Nation ist heute mehr in der Lage, Mittlerrolle zwischen Washington und Moskau, Mittlerrolle zwischen Washington und Peking oder Mittlerrolle zwischen Peking und Moskau zu spielen. Man kann das Gesetz des Quantitativen nicht ignorieren.
Ich empfehle unserer Politik, einmal Voraussetzungen und Schlußfolgerungen eines Buches zu prüfen, das in den letzten Wochen auf dem Markt erschienen ist. Es ist ein Buch, dessen Ansätze sicherlich diskutiert und unter Umständen auch korrigiert werden müssen, aber immerhin ein Buch, in dem ein namhafter deutscher Kernphysiker, Wilhelm Fucks, Aachen, Chef des Instituts für Plasmaphysik in Jülich — einer Schöpfung auch Ihres Kollegen Leo Brandt —, unter anderem die „Formeln zur Macht" entwickelt hat. Er hat als „Formel zur Macht" ein Produkt aus der Kubikwurzel der Bevölkerungszahl und einer Meßziffer für die Produktion von Energie und Stahl dargestellt und ist dabei zu der horrenden Schlußfolgerung gekommen, daß — wenn seine Voraussetzungen stimmen, die nach meiner Auffassung einer Korrektur unterzogen werden müssen, die aber im Grundsatz richtig sind — in 20 Jahren militärische Macht und wirtschaftliche Macht im großen und ganzen gleich sein werden. Er geht von der Voraussetzung aus, daß das Nebeneinander von Nationalstaaten eine Addition von Potentialen, die Integration eine Multiplikation von Potentialen bedeutet, was er eine „Vereinigungsprämie" nennt.
Er hat in diesem Zusammenhang ausgerechnet, daß ein vereinigtes Europa der WEU-Länder, gemessen an der Ziffer Amerikas = 1000, auf 700 kommt, ein vereinigtes Europa der EWG auf etwa 500, daß die WEU-Länder die Ziffer Amerika/Sowjetunion erreichen können, daß aber im Jahre 2040 das Potential Chinas — wenn die Voraussetzungen stimmen — größer sein wird als das Potential der USA, der Sowjetunion und einer integrierten WEU-Gemeinschaft zusammengenommen.
Das sollte uns Anlaß geben, in unserer Politik auch mathematisch-physikalische Berechnungsmethoden einzuführen und zum qualitativen Maßstab der geschichtlichen Betrachtungsweise den quantitativen Maßstab der mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkweise hinzuzufügen. Beides zusammen ergibt den richtigen Weg, und beides zusammen wird uns manche Auseinandersetzungen ersparen, die wir bei unzulänglicher Information in diesem Hause gehabt haben und noch haben würden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einer der früheren bayerischen Kommentare zur Regierungserklärung hat gelautet: Erhards eigene Koalition wird darauf drängen müssen, daß die Regierung mehr Farbe bekennt. Dies ist bisher in der Debatte kaum geschehen. Professor Erhard hat selbst gesprochen, Herr Schmücker hat gesprochen, Herr Dahlgrün hat gesprochen; sie haben nicht mehr Farbe bekannt, sondern sie haben versucht, Kritik abzuwehren, was ihr gutes Recht ist. Sie haben nicht konkretisiert, sondern sie haben noch mehr verallgemeinert, als vorher schon geschehen. Die Farbe ist eigentlich eben erst von Herrn Strauß ins Spiel .gebracht worden. Auch er hat die Regierungserklärung nicht wesentlich interpretiert. Er hat allerdings den, wie ich meine, allseits unbefriedigenden Versuch gemacht, das Verhältnis des Bundeskanzlers zum Geiste zu erläutern.
Aber er hat im Übrigen und im WesentlichenseinerRede mehr an seinem eigenen politischen Profil geschnitzt. Und er hat ,das wohl ganz gut gemacht. Das war eine sehr wirkungsvolle Rede. Kompliment!
— Ich halbe ja einen Auftrag, Herr Majonica, im Gegensatz zu dem Vorredner.
Auf einige der, wie mir scheint, wichtigen Punkte in der Rede von Herrn Strauß möchte ich noch im weiteren Verlauf meiner Bemerkungen zurückkommen dürfen. Nachdem Herr Strauß eben ermahnt worden ist, sich nach der Zeit zu richten, will ich, weil ich mich später nicht denselben Vorwurf aussetzen möchte, einen Teil dessen, was ich ganz
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 211
Schmidt
gerne angeführt hätte, gleich von vornherein beiseite legen.Lassen Sie mich nur ganz allgemein sagen, daß ich nach dem Verlauf ,der Debatte dieser beiden Tage nicht den Eindruck gewonnen habe, daß die Bundesregierung selbst und diejenigen, die hier für sie mit aufgetreten sind und mit gesprochen haben, von einem besonders großen und besonders überzeugenden Selbstvertrauen getragen gewesen sind. Ich habe mich gefragt, woran ,das wohl liegen mag, insbesondere wenn ich an den nervösen Auftritt des Herrn Bundeskanzlers gestern abend um die gleiche Zeit denke.
— Er war doch nervös! Fanden Sie, das war in seiner besten Form?
Ich habe mich gefragt, woran es wohl gelegen haben mag.
- Ich fange doch gerade erst an. Wieso soll ich denn schon verloren haben?
Lassen Sie uns — —
- Ja, ja. Ich muß die Namen der Kollegen erst noch lernen. Aber Ihr Name wird mir im Gedächtnis bleiben, Herr Haase.
Ich habe mich gefragt, meine Damen und Herren, woran es wohl liegen mag, daß manche der Redner so wenig überzeugend wirkten. Ich glaube, es liegt daran, daß die Regierungsmitglieder weitgehend dieselben sind — es ist derselbe Kanzler, es ist derselbe Wirtschaftsminister, es ist derselbe Finanzminister, es ist derselbe Verkehrsminister —, die früher schon da waren, daß sie sich doch wohl dessen bewußt sind, daß eine Reihe derjenigen Ankündigungen, die hier vor zwei Jahren in der ersten Regierungserklärung Erhards gemacht worden waren, eben tatsächlich nicht hat verwirklicht werden können.Auf Grund dieses Bewußtseins — trotz Ihres persönlichen großen Wahlerfolges, Herr Haase —
kann ja jemand, der sich selber prüft und der sich von keiner Euphorie davontragen läßt — das sind ja alles ehrliche und gewissenhafte Männer in dieser Regierung —, nicht daran vorbeisehen, daß vieles von dem, was versprochen wurde, eben nicht gehalten werden konnte.Ich will gar nicht noch einmal auf dieses Verhältnis zum Geist zurückkommen. Aber ich habe hier einen Ausschnitt aus dem Protokoll der erstenRegierungserklärung Erhard. Da hat der Bundeskanzler gesagt:So sollten die Politiker— ich nehme an, er hat sich auch selbst mit einbezogen wissen wollen —auch das Gespräch mit denen suchen, deren Beruf es ist, über die Geschäfte der Menschen nachzudenken. Vielleicht wird dann der Rahmen deutlicher, in dem sich unser Handeln vollzieht, . . . Dieser Dialog scheint mir besser als eine einseitige Polemik gegen die Intellektuellen.Herr Erhard fand Beifall auf allen Seiten des Hauses, mit Recht auch von den Sozialdemokraten. Nur hat leider die Praxis hinterher nicht ganz mit diesem Wort Schritt gehalten.Es gibt mancherlei Beispiele dieser Art. Ich lasse das weg. Ich will nur sagen: Herr Bundeskanzler, wenn man die relativ konkreten Ankündigungen in Ihrer ersten Regierungserklärung — die relativ konkreten Ankündigungen — mit der Erfahrung vergleicht, die man mit ihrer Verwirklichung gemacht hat, so muß man sagen, daß das Echo der öffentlichen Meinung auf Ihre relativ vage zweite Regierungserklärung Sie persönlich nicht besonders überrascht haben kann. Was soll man davon halten, wenn in dieser Regierungserklärung zahlreiche „Reformen" — von Ihnen ausdrücklich so genannt — aufgezählt werden? Herr Kollege Strauß, Sie haben über Epitheta ornantia geredet. Ich erinnere mich, daß Sie gesagt haben: Wenn man von ihnen falschen Gebrauch macht, dann rufen sie psychologische Reaktionen hervor, die den Tatsachen nicht gerecht werden. — Jetzt will ich mal fragen, was Sie eigentlich davon denken würden, wenn man diesen selben Satz auf die Kennzeichnung von Reformen, die Sie ankündigen, Herr Bundeskanzler, anwendete. Sie reden von der Finanzreform, von der Reform des Haushaltsrechts, der Reform der Abgabenordnung, der Reform der Umsatzsteuer — wie lange eigentlich schon, frage ich —, der Reform der Krankenversicherung — wie lange schon? —, der Reform des Strafgesetzbuchs, der Reform des Strafverfahrens — alles Ihr Wortlaut —, der Reform des Strafvollzugs, der Reform der Zivilgerichtsbarkeit. Und dann kommt eine Reihe von Plänen, Plänen für die Bundesbahn, für das Gemeinschaftswerk, für den Subventionsabbau, für eine antizyklische Ausgabenpolitik. All das haben die Fachleute gestern abend und heute morgen schon behandelt. Eine unglaubliche Fülle von Ankündigungen, von Reformen und von Plänen! Ich würde sagen: ein beinahe vollständiges Inventurverzeichnis der seit Jahren ungelösten Sachprobleme; dazu noch ein halbes Dutzend sehr einschneidender, politisch hoch bedeutsamer Grundgesetzänderungen, die hier angekündigt werden.Niemand wird Ihnen vorwerfen, daß Sie nicht wüßten, wo etwas getan werden müßte. Das Enttäuschende ist, daß man kaum zu einem Punkt erfährt, was Sie tun wollen und wann und wie Sie es tun wollen.
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212 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Schmidt
Weder hier unten im Saal noch oben auf der Tribüne wird jemand bereit sein, Ihnen Kredit auf das Inventurverzeichnis zu geben. Für Ihre Regierung kann in Zukunft nicht zählen, was sie ankündigt, sondern nur das, was sie tatsächlich zustande bringt.
Wir haben Sie viel von Sorgen reden hören. Eben hat auch Herr Dahlgrün wieder von Sorgen gesprochen. Ebenso oft hörten wir die Worte „gefährlich", „hartes Muß", „mehr arbeiten", „zurückstecken", „einschneidende Maßnahme". All das habe ich mir während der Debatte mitgeschrieben. Das mag alles nicht falsch sein. Aber wer ist es denn eigentlich gewesen, der z. B. vor Monaten in sechs Anzeigen in allen deutschen Tageszeitungen mit der Autorität der Regierung — und mit dem Geld der Regierung —
den Konsumwohlstand zum politischen Leitmotiv in Deutschland hat machen wollen?!
Wie können denn eigentlich dieselben Männer heute von der — ich zitiere — „Idylle trügerischen Wohlergehens" reden? Das ist Ihr Wortlaut, Herr Bundeskanzler! Vergleichen Sie ihn mal mit dem Wortlaut dessen, was Sie vor einem halben, vor einem Jahr geredet, geschrieben und haben drucken lassen! Haben Sie eigentlich zwei Zungen?Wenn heute der gleiche Kanzler, der gleiche Finanz-, Verkehrs- und Wirtschaftsminister uns den sogenannten Ernst der Lage schildern, — waren sie es denn nicht, unter deren Verantwortung sich diese Lage so entwickelt hat, wie sie sie uns heute schildern?!
Ich frage den Verkehrsminister, Herrn Seebohm, und den Finanzminister, Herrn Dahlgrün: Ist denn nicht das 3 1/2-Milliarden-Defizit der Bundesbahn das Ergebnis Ihrer Verkehrspolitik, oder war es höhere Gewalt, die dazu geführt hat?
War es höhere Gewalt, die in den zwei Jahren Ihrer Regierung den Kapitalzinsfuß von 6 % auf nahezu 8 % hochgetrieben hat, oder ist es Ihre Kapitalmarktpolitik gewesen? Hatten Sie, Herr Bundeskanzler, nicht Anfang Juli vor dem Wirtschaftstag der CDU, vor einem fachlichen Gremium, von einem Auftrag an den Finanzminister geredet, er solle die Summe der Wahlgeschenke ausrechnen? Ist es eigentlich höhere Gewalt gewesen, welche im Finanzministerium in den Monaten Mai und Juni die Addiermaschine stillgelegt hat? Sind nicht immer wieder Sie es gewesen, Herr Bundeskanzler, der zu jeder Gelegenheit — gerade gestern noch, vor 24 Stunden — gesagt hat, der Haushalt des Bundes dürfe nicht stärker wachsen als das Sozialprodukt im ganzen, und sind nicht Sie es, der uns einschließlich Vorschaltgesetz nun einen Haushalt 1966 ankündigt, der ein wesentlich stärkeres, beinahe doppelt so starkes Wachstum wie das Sozialprodukt enthält?
Und warum schweigt eigentlich Ihre Regierungserklärung zu dem Problem des Defizits 1965 — das ist ja auch noch eine Hürde, vor der Sie stehen —, als ob es bloß um 1966 ginge, Herr Dahlgrün.Man kann bei diesen vagen Bemerkungen, die wir gehört haben, in die Haushaltspolitik dieser Regierung kein Vertrauen haben. Und so, wie mangelndes poltisches Vertrauen sich in der Ablehnung des Haushaltsgesetzes niederschlagen muß, sich niederzuschlagen pflegt in jedem Landesparlament und eben auch hier im Bundesparlament, so gilt das gleiche natürlich für das Vorschaltgesetz zum eigentlichen Haushalt. Es steht nirgendwo geschrieben, daß die Opposition dabei helfen soll, eine Regierung aus einer Zwickmühle herauszuholen, in die sie sich selber hineinmanövriert hat.
Herr Dahlgrün, bei der Kritik am Sparprogramm, die Sie vielfältig hören, nicht nur hier im Haus, mögen Sie sich vielleicht, so denke ich, damit trösten, daß anderen Völkern und auch unserem eigenen schon Schlimmeres widerfahren ist. Im 80. Psalm sagt der Psalmist im sechsten Vers: „Du speisest sie mit Tränenbrot und tränkest sie mit einem großen Maß voll Tränen." Es ist nicht das erstemal, daß solches also geschieht.
Tränenreich — und selbst Herr Strauß, der ja sonst hier einen ganz vitalen Eindruck machte, hat sich angeschlossen — waren die Klagen über die Verbände, die ja ständig wiederkehren. Was den Bundeskanzler angeht, so meine ich, daß Ihre Klagen, Herr Bundeskanzler, über die Interessenverbände ein persönliches Trauma enthüllen. Dieses Trauma hat seinen Ursprung in dem Wissen darum, daß Sie selber gegen starke Gruppeninteressen im Laufe dieser ganzen Jahre, wo Sie Wirtschaftsminister und wo Sie Kanzler waren, sich in allzuviel Fällen nicht haben wehren und nicht haben durchsetzen können.
Das lag vielleicht nicht nur an Ihnen, das lag vielleicht an dem damaligen Bundeskanzler. Einer der Köpfe im zweiten Glied der CDU, Rüdiger Altmann, hat geschrieben, Herr Dr. Adenauer habe die Verbände zur Erpressung der Regierung erzogen. Das mag richtig oder falsch sein, ich will das nicht bewerten. Tatsache ist, daß z. B. der Bundesverband der Industrie — von dem muß ja auch einmal die Rede sein, Herr Strauß, Sie haben wiederum nur von einer Gewerkschaft geredet — von sich selbst schriftlich berichtet hat, 85 % seiner Interventionen gingen an die Regierung oder an deren Bürokratie, das Parlament käme nur mit 15 % in Betracht. Parlament und Öffentlichkeit erfahren von den Verhandlungen zwischen Regierungsbürokratie und Verbandsbürokratie ja nur im Ausnahmefall, nämlich dann, wenn die Verbände bei den Ministerien nicht genug erreicht zu haben glauben. Im übrigen
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 213
Schmidt
sichert die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesregierung, Herr Bundeskanzler, den Verbänden, die Sie immer wieder so ermahnen, ein Privileg zu, nämlich das Privileg der Zuziehung bei der Erarbeitung von Regierungsentwürfen, während Parlament und Öffentlichkeit nachdrücklich davon ausgesperrt werden. Kein Abgeordneter kann dem Entwurf der Regierung ansehen, was daran eigentlich ursprüngliche Auffassung der Regierung ist und was Kompromiß mit den Interessenten ist. Keiner kennt die Argumente oder gar die Motive der Interessenten, die dabei eine Rolle gespielt haben. Und wenn Sie, Herr Bundeskanzler, so voller Soupçon auf die Verbände schauen, so sollten Sie sich überlegen, ob Sie nicht vielleicht noch eine dreizehnte oder vierzehnte Reform ankündigen, nämlich eine Reform der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien. Es wäre vielleicht wünschenswert, sich das dort institutionell verankerte Privileg der Interessenverbände sorgfältig anzuschauen.
Der Bundestag selbst, meine Damen und Herren, muß wissen, daß die Schwäche der Position des Bundestages gegenüber den Verbänden wesentlich daher kommt, daß der Bundestag und seine Ausschüsse das Verhandeln mit den Interessengruppen, das Verhandeln mit den Verbänden der Regierung und ihrer Bürokratie überlassen. Der Bundestag kann in dieser Frage seine eigene Position ganz wesentlich stärken, wenn er die Verbände, wenn er die Gruppen ihre Interessen, ihre Motive, ihre Notwendigkeiten in öffentlicher Anhörsitzung in seinen Fachausschüssen vortragen läßt.
Im übrigen will uns scheinen, daß die Klage über die Verbände auch mißverständlich sein kann; sie kann irreführen. Wir jedenfalls bejahen grundsätzlich die Verbände nicht nur in ihrer Existenz, auch in ihrer Aufgabenstellung. Ohne Sie könnte man Interessen und Interessengegensätze, könnte man Probleme und Möglichkeiten der Lösung, könnte man Notwendigkeiten, Entwicklungen in den verschiedenen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft kaum richtig erkennen.Auch Ihr sogenanntes Zauberwort, Herr Bundeskanzler Erhard — Sie selber haben es ja so genannt — kann die Verbände nicht überflüssig machen. Woraus sollte denn sonst „formiert" werden, wenn nicht aus den Gruppen und aus den Verbänden? Die Verbände sind geradezu eine Lebensnotwendigkeit für ihre Mitglieder, die sonst als einzelne allzu leicht unter den Schlitten kommen könnten.
— Wir sind im Winter; deswegen der Schlitten!Ich gebe allerdings Herrn Strauß recht, der soeben gesagt hat — jedenfalls habe ich ihn so verstanden —, daß wegen der Divergenzen der Verbandsinteressen der Bundestag und seine Fraktionen und auch die Bundesregierung die Aufgabe haben, diese Interessen zu integrieren. Zeitlich gesehen steht die Regierung immer an erster Stelle. Sie wird diese Integrationsaufgabe gegenüber den divergierendenInteressen nicht nur durch den Appell an die Einsicht und nicht nur durch psychologische Massage lösen können, sondern dazu gehört eben auch der Wille, durchzusetzen, daß Anreize geschaffen werden, daß auf Interessentenverbände Druck ausgeübt wird und daß notfalls Sanktionen angewandt werden.
— Keine einzige der heute und gestern so viel beklagten Subventionen, Herr Zwischenrufer, hat gegen den Willen dieser Bundesregierung hier Gesetz werden können. Was soll dann anschließend das Lamento dieser Regierung?
Ich kann es allerdings verstehen, daß diese allgemeine Klage über die Subventionen an keiner Stelle substantiiert worden ist. Man hat niemals genannt, welche man wirklich meint.
Dann müßte man sich auch selber mit kritisieren, und solche Konkretisierung zwingt dann eben auch den Bundeskanzler zur Auseinandersetzung, sogar zur Auseinandersetzung mit den Lobbyisten in seiner eigenen Fraktion.
Zu dieser Auseinandersetzung in der eigenen Fraktion scheint es nicht ganz zu langen. Allerdings haben wir gestern abend aus seinem eigenen Munde gehört, daß es uns nichts angehe, was in seiner I Fraktion geschieht. Wir können nur mit Betrübnis anhören, daß uns etwas nichts angeht, was von dem Bundeskanzler selbst als eines der wichtigsten Geschäfte seiner Regierung in den nächsten vier Jahren hier herausgestellt worden ist.
Solange diese Regierung nicht konkretisiert, was sie meint, so lange muß man die Verbände gegen sie in Schutz nehmen und muß insbesondere aufpassen, wenn, wie eben bei Herrn Strauß, ein einzelner Verband herausgesucht wird und gegen diesen besonders geschossen wird. Ich möchte davor warnen, daß die Bundesregierung in unserer Gesellschaft zusätzliche Frontstellungen schafft. Ich glaube, daß wir zusätzliche Vertiefungen unserer gesellschaftlichen, unserer sozialen Frontstellungen nicht gut brauchen können.Ich glaube, daß die neue Patentideologie und auch das Schlagwort, das sie geprägt hat, weder der Regierung noch uns hier im Parlament die Aufgabe dieses Interessenausgleichs abnehmen kann, die Aufgabe der Strukturpolitik, die Aufgabe der Gesellschaftspolitik im ganzen. Hier werden immer wieder politische Entscheidungen notwendig sein, hier im Bundestag, aber auch in den Fraktionen. Auch die Entscheidungen in den Fraktionen werden Kraft kosten und werden Zivilcourage verlangen.Lassen Sie mich bitte ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen hier im Hause sagen, ein Wort, das
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214 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Schmidt
gar nicht an die Regierung gerichtet ist. Wenn man vier Jahre lang einmal eine ganz andere Arbeit gemacht hat und dann in dieses Haus zurückkehrt, dann merkt man mit einiger Überraschung, wie viele freundschaftliche Verhältnisse nach allen Seiten man in diesem Haus damals zurückgelassen hatte; eine beglückende Erfahrung. Auf der anderen Seite gibt einem der räumliche Abstand — und wenn der zeitliche Abstand hinzukommt, noch mehr — manches neu, anders und besser zu erkennen.Was mich persönlich angeht, gehört zu diesen Erkenntnissen aus der Distanz auch die sich aufdrängende Fragestellung, ob denn eigentlich der Bundestag seine Rolle ganz richtig spielt, nicht nur gegenüber den Verbänden, nicht nur gegenüber der Lobby, sondern auch gegenüber den anderen Verfassungsorganen, gegenüber der öffentlichen Meinung und gegenüber dem Volk schlechthin. Ein großer Teil der politischen Diskussion hat sich aus dem Plenum des Bundestages heraus in andere Bereiche verlagert, in die Fraktionen z. B., auch in das Fernsehen — viele von uns debattieren häufiger im Fernsehen als hier in diesem Saal — und in die Illustrierten. Das hat sicherlich seine Ursachen. Meine Frage ist, ob sich diese Entwicklung eigentlich fortsetzen darf.Viele von uns werden vielleicht kürzlich in der „Zeit" einen sehr pessimistischen Aufsatz von Paul Sethe über die Zukunft des parlamentarischen Systems gelesen haben, und vielleicht hat man vorher die Vorschläge gelesen, die ein um eine Generation Jüngerer dort gemacht hatte. Da gibt es wichtige Details zum Thema Parlamentsreform. Ich will sie hier nicht behandeln. Ich muß auch offenlassen, ob z. B. der Bundestag eher ein Arbeitsparlament sein sollte oder ein Redeparlament oder etwas, was in der Mitte zwischen diesen beiden liegt.Ich will nur einen einzigen, wie mir scheint, zentralen Punkt berühren. Ich tue dies, indem ich zunächst Professor Erhards Rede vor dem CDU-Parteitag vom März in Erinnerung bringe. Dort sagte der Bundeskanzler, wir könnten es uns nicht leisten, auf eine Reform der deutschen Demokratie zu verzichten. Unsere politischen Institutionen — das das gelte für Parlament und Regierung, für Bund und Länder — müßten in die Lage versetzt werden, der Dynamik des politischen und öffentlichen Lebens gerecht zu werden. Ich habe aus dem Vortrag damals nicht erkennen können und auch jetzt nicht, wie das eigentlich gemeint war. Die gegenwärtige Regierungserklärung läßt die Richtung dieses Denkens auch nicht deutlich werden. Die Absichten bleiben unklar.Aber eine Regierungserklärung am Anfang einer Regierungsperiode ist doch eine Art Absichtserklärung an die Adresse des Bundestages, und der Bundestag könnte auch eine Art Absichtserklärung an die Adresse der Regierung und an die Öffentlichkeit zugleich richten. Zumindest, meine ich, sollte sich der Bundestag bewußt sein, daß nicht nur sein Ansehen, sondern vor allen Dingen sein Gewicht in der Balance der Kräfte, sein Gewicht in dem System der Machtbalance der grundgesetzlichen, der staatlichen und der gesellschaftlichen Institutionen, seinGewicht in der öffentlichen Meinung in den letzten zwei oder drei Legislaturperioden erheblich abgenommen hat. Die überzeugten Anhänger der parlamentarischen Demokratie kann das nur mit Besorgnis erfüllen, ob hier im Hause oder ob außerhalb des Hauses.Insbesondere in unserem Land kann auf die Dauer Demokratie nur dann existieren, wenn das Parlament sein Gewicht bewahrt, seine Kompetenz, seine Fähigkeit, seine Kapazität, zu ,sachlich richtigen Entscheidungen zu kommen. Ich sehe mit einer gewissen Sorge, wie sich manche mit einem besonderen Fleiß in die perfektionistische Detailarbeit der Ausschüsse vergraben. Ich meine, wir sollten das nicht ausschließlich tun. Ich halte es für nötig, daß die politische und die geistige Auseinandersetzung in Deutschland in stärkerem Maße als in den letzten Jahren wieder hier in das Plenum, in die öffentliche parlamentarische Auseinandersetzung hereingeholt wird.
Ich meine, das ist eine Aufgabe sowohl der Opposition als auch derjenigen, die die Auffassung der Regierung zu vertreten wünschen. Natürlich soll der Bundestag Gesetze machen, gewiß; aber ich kann Ihnen aus der Verwaltungserfahrung heraus versichern: er tut ,das in viel zu großem Umfange. Nach vier Jahren Tätigkeit an der Spitze einer zwanzigtausendköpfigen Verwaltung kann ich Ihnen sagen, daß Komplikation und Perfektion der Gesetze, die hier gemacht werden, die ausführende Verwaltung in den Kommunen — auch in den großen Städten— vor Schwierigkeiten stellen, die sie auf manchen Gebieten personell vollends überfordern. Da gibt es Bürger, die darauf warten, daß ihnen ein Recht zuteil wird, das ihnen das Gesetz verbrieft hat; sie müssen darauf drei, vier, fünf Jahre warten, weil die Verwaltung das nicht mehr schaffen kann. Unsere Gesetze sind zu kompliziert, und wir machen zu viele Gesetze.Zweitens. Der Bundestag soll die Regierung kontrollieren. Er ist dafür nicht viel besser ausgestattet als für das Gesetzemachen. Die technische Apparatur— das merkt man, wenn man wieder hierher-kommt —, die technischen Arbeitsbedingungen für Abgeordnete sind nicht gerade sehr einladend für diese Arbeit; sie erleichtern die Arbeit nicht.
— Ich freue mich. Ich kann nur sagen, daß wir die technischen Arbeitsbedingungen, die ich hier vorgefunden habe, einem jungen Verwaltungsoberinspektor in unserer Vaterstadt nicht zumuten würden.
Der Präsident des Hawses bedankt sich ausnahmsweise. Er nimmt sich die Freiheit, auch für den Beifall von dieser Seite des Hauses zu danken. Ich danke vielmals, meine Herren.
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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965 215
Die entscheidende dritte Aufgabe allerdings — neben dem Gesetzemachen und neben der Kontrolle — hängt in ihrer Bewältigung nicht so sehr von der technischen Apparatur ab, die wir hier haben, sondern sie hängt mehr ab von unserer eigenen Einstellung zur Aufgabe selbst, zu der Aufgabe nämlich, hier den zentralen Ort für die politische Willensbildung in unserem Volk zu bilden. Nur in dem Maße, in dem dies gelingt, werden wir die weitgehende Diffusion des politischen Meinungsbildungsprozesses und das weitgehende politische Disengagement vieler unserer Mitbürger überwinden. Ich wünschte, daß die Plenardiskussionen dieses Hauses den Bürger draußen wieder in steigendem Maße zur eigenen Urteilsbildung provozierten, und die Fernsehübertragung mag dabei ein nützliches Mittel sein. Denn schließlich wird nur das selbst geschöpfte, eigene Urteil von -zig Millionen deutscher Bürger, demokratisch gesonnener Bürger, uns jenes Mindestmaß krisenfester Homogenität der politischen Haltung, jenes Mindestmaß an gemeinsamem demokratischem Staatsbewußtsein geben, dessen wir in schwierigen Zeiten noch bedürfen werden.
Es gibt manche Anzeichen dafür, daß schwierigere Zeiten kommen könnten. Dazu gehört auch die angespannte Lage des Bündnisses, von der eben Herr Strauß am Schluß gesprochen hat.
Es ist sehr schwer, den verschiedenen Äußerungen aus dem Regierungslager zu entnehmen, was die Regierung in diesen Fragen eigentlich will. Hier hat z. B. Felix von Eckardt vor wenigen Tagen einen Aufsatz geschrieben, in dem heißt es:
Wenn es ein gemeinsames atomares Waffensystem zwischen den Vereinigten Staaten, der Bundesrepublik und Großbritannien geben sollte, so würde sich de Gaulle zweifellos mit der Sowjetunion gegen die deutsche Wiedervereinigung verbünden.
Etwas später heißt es: Trotzdem würde Präsident Johnson Ihnen, Herr Bundeskanzler, die MLF anbieten. Dann geht es weiter: Sie sollen dieses Angebot aber nur annehmen, um gegenüber den Russen ein Tauschobjekt für die Wiedervereinigung zu bekommen. Sie sollten sich sehr davor hüten, dieses Angebot zu verwirklichen; denn deutsche Atomwaffen wären für die Sowjets wie auch für die Franzosen Grund genug, die Wiedervereinigung ein für allemal zu verweigern.
Wie sollen diejenigen, die in Washington verhandeln, unsere offiziellen Gründe für die MLF noch vertreten, wenn ein Abgeordneter, der bis vor kurzem Staatssekretär dieser Regierung war, solches schreibt? Wir sollen pro forma annehmen, aber nicht wirklich wollen. Die Russen sollen glauben, es sei ernst, damit sie uns auf dem Verhandlungsweg etwas dafür geben. Die Franzosen sollen wissen, daß es nicht ernst ist, damit sie sich nicht mit den Russen gegen uns verbünden. Aber vielleicht ist Felix von Eckardt nicht der typischste Vertreter. Ich habe noch eine ganze Reihe — —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Strauß?
Bitte sehr!
Nur eine Frage, Herr Kollege Schmidt: Teilen Sie die in der gaullistischen Zeitung „La Nation" gedruckte Äußerung, daß die Deutschen zu wählen haben zwischen der Einheit und der Bombe, und machen Sie sich insoweit zum Träger gaullistischer Auffassungen?
Nein, das würde ich nicht tun, zumal man aus diesem einen Satz nicht erkennen kann, was davor und was dahinter gestanden hat. Aber ich finde auch diesen einen Satz inakzeptabel. Das ist eine unechte Alternative, ganz abgesehen davon, daß, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Sie die Bombe nicht wollen, wohl aber die Einheit, genau wie ich die Bombe nicht will, wohl aber die Einheit. Trotzdem ist die Alternative, die Sie zitiert haben, eine unzulässige Simplifikation.
Eine zweite Zwischenfrage.
Teilen Sie die Auffassung, die ich in meiner Rede im Zusammenhang mit diesem Artikel vortragen wollte, aber nicht mehr vortragen konnte, daß uns der Verzicht auf die Atomwaffe zwar die Lösung westlicher Probleme erleichtert, uns aber — was die Sowjetunion anbetrifft —der Einheit nicht einen Millimeter nähergebracht hat?
Daran mag etwas Richtiges sein, Herr Strauß. Ich möchte darauf nachher zurückkommen; ich weiche der Frage nicht aus.
— Herr Strauß, Sie machen es sich leicht, indem Sie hier französische Quellen anführen und sagen: Was halten Sie davon? Ich muß ja zunächst einmal davon ausgehen: was halte ich von dem, was Sie gesagt haben? Und Sie haben hier etwas anderes gesagt, als vor ein paar Tagen in den Zeitungen zu lesen war. Ich meine jetzt nicht die „New York Times", sondern ich meine hier die deutschen Sonntagszeitungen. Sie sind dort für eine landgebundene sogenannte europäische Nuklearstreitmacht eingetreten, und Sie haben gesagt, die maritime MLF sei tot. Und nachdem Sie gesagt haben, sie sei tot, haben Sie hinzugefügt, der Außenminister sei immer noch dafür.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Schmidt, sind Sie bereit, damit diese Frage zwischen uns geklärt
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216 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Straußist, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich in diesem Gespräch für die Beibehaltung der gegenwärtigen Formel „amerikanische Kontrolle und deutsche Waffenträger mit Ausdehnung des Pershing-Systems" eingetreten bin?
Ich bin bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, Herr Strauß. Ich habe es bisher nicht gewußt. Es wäre aber gut, wenn Sie die Zeitungen berichtigen würden — wenigstens die deutschen —, denn die werden es ja drucken.
Eines allerdings hat mir nicht eingeleuchtet, nämlich daß Sie hier vor einer Stunde für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft mit einem eigenen Atompotential eingetreten sind. Das setzt die politische Union Europas voraus, nehme ich an. Dabei wissen Sie doch, daß es im Augenblick dafür weder in England noch in Frankreich irgendwelche realen Voraussetzungen gibt. Oder wollen Sie hinzufügen, daß das ein weites Zukunftsziel für die 70er oder 80er Jahre war?
Erinnern Sie sich, daß ich von einer kurzfristigen und einer langfristigen Lösung gesprochen habe? Kurzfristig ist die politische NATO-Lösung, langfristig ist die europäische physische Lösung.
Dann verstehe ich Sie jetzt dahin, daß das eine Sache für weitere Entwicklungen ist.Nun zu einem anderen Sprecher, Herrn von Hassel. Er hat am Sonntag in Paris auch dazu geredet. Er hat gesagt, er verlange die „Mitwirkung der nicht nuklear ausgerüsteten Partner am nuklearen Geschehen." Was bedeutet dies nun wieder im Verhältnis zu dem, was Herr Strauß eben gesagt hat? Die Frage ist besonders deswegen notwendig, weil Sie etwas später nicht mehr von „Mitwirkung" reden, sondern von „Mitbestimmung" — das ist ja in Deutschland etwas Verschiedenes.
Und Sie haben dann formuliert: Mitbestimmung bedeutet nicht Mitbesitz, aber Mitbesitz sichert Mitbestimmung. — Das klingt so, als ob für Sie der Mitbesitz der entscheidende Faktor wäre. Herr Strauß freut sich jetzt; da hat er's auch gemerkt!
Wieder anders steht es in der Regierungserklärung. Da hat der Kanzler von der Beteiligung an der nuklearen Verteidigung gesprochen, und später haben Sie, Herr Bundeskanzler, gesagt: Wir denken dabei an Formen einer gemeinsamen nuklearen Organisation und beteiligen uns an den Beratungen darüber. — Ganz vorsichtig, das war nach allen Seiten offen; es war vielleicht gar nicht ungeschickt vor einem Besuch — sicherlich! Aber wieso haben dann Ihre Minister die Aufgabe, das zu konkretisieren und „Mitbesitz" zu sagen? Etwas später hat dann Herr von Hassel noch einen sehr schönen Satz hinzugefügt. Er hat sich auf die Ebene der Gefühlehinaufbegeben und hat wörtlich gesagt, ein Gefühl von Mitwirkung sei noch nicht ausreichend. Mich erinnert diese Formulierung an den Filmtitel „Ein Hauch von Nerz" — „ein Gefühl von Mitwirkung."
Nun ist ein Nerz, Herr von Hassel, ein Symbol der gesellschaftlichen Stellung, die man entweder hat oder haben möchte oder die zu haben man doch wenigstens den Anschein erwecken möchte. So ähnlich kommt mir manches vor, was zur nuklearen Frage in Deutschland aus dem Regierungslager geschrieben und gesagt wird. Manches klingt danach, als ob eben auch auf diesem Felde nach einem Nerz gesucht wird, nach einem Rangabzeichen, einem gesellschaftlichen Emblem, einem Statussymbol, als ob solche Dinge eine Rolle spielten. Auch die Regierungserklärung ist von dieser prestigemotivierten Attitüde nicht ganz frei. Es heißt in der Regierungserklärung, uns Deutsche von jeder nuklearen Beteiligung fernzuhalten, sei ein Unrecht. So haben Sie formuliert: ein Unrecht.Nun meine ich, die Fragen nuklearer Strategie und Organisation sind gar keine Fragen von Recht oder Unrecht und von Prestige oder Minderwertigkeitskomplexen, sondern sie sind allein und ausschließlich Probleme militärischer und, übergeordnet, politischer Zweckmäßigkeit. Das ist nicht eine Rechtsfrage. Wir haben kein Recht auf die Bombe, Herr Bundeskanzler. Da kann das auch kein Unrecht sein. Insbesondere habe ich die Formulierung nicht verstanden, daß die Alliierten uns die Verteidigungsaufgabe dadurch erschwerten, daß sie uns dieses Recht vorenthielten.Herr Barzel hat gestern ein ganz anderes Vokabular ins Spiel gebracht. Er war sehr viel flexibler und sprach von „Teilhaben am nuklearen Entscheidungsprozeß". Ich kann das durchaus unterschreiben. Aber wenn man das alles nebeneinander gelesen, nebeneinander gehört hat, muß doch das Bild insgesamt unklar bleiben. Der Ausdruck „unklar" ist noch sehr freundlich.Man muß sich wirklich Sorgen machen, Herr Bundeskanzler, bezüglich der Gespräche, die Sie demnächst mit Präsident Johnson über diese Frage haben werden. Was eigentlich sind in Ihren Augen die Interessen unseres Landes, die Sie dort vertreten wollen, welches sind die Forderungen, die Sie dort in unserem Interesse stellen wollen, und welche Antwort ist möglich, welche Antwort können Sie erwarten?Ich möchte hier vier Punkte nennen, die der sozialdemokratischen Fraktion zweckmäßig und möglich erscheinen.Erstens: Mitwirkung an der Zielplanung, der strategischen Gesamtplanung, an den spezifischen Plänen für die verschiedenen denkbaren Krisensituationen; die Amerikaner nennen das letztere contingency planning. Wir brauchen diese Mitwirkung aus Gründen unserer Sicherheit. Sie ist zu einem Teil inoffiziell und zum Teil sogar offiziell schon vorhanden; zu einem anderen Teil fehlt sie
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Schmidt
noch. Diese Planungsmitwirkung kann sich nicht nur auf einen Teil derjenigen Waffen beschränken, die zu unserer Verteidigung bestimmt sind.Zweitens: Praktische Vorbereitung, praktische Ermöglichung, daß die Bundesregierung sich dann einschalten kann, wenn in einer aktuellen Krise, die auch Deutschland betrifft, die uns angeht, die Verbündeten, an der Spitze die Amerikaner, sich an die Bewältigung dieser Krise, an das Management dieser Krise, machen. Diese Mitwirkung der Deutschen an einer uns betreffenden Krise setzt voraus, daß man die beteiligten Regierungsapparaturen friedensmäßig aufeinander einstellt; sie setzt entsprechende Telekommunikationsmöglichkeiten voraus. Sie setzt nicht einen Mitbesitz und nicht irgendeinen großen neuen Vertrag oder irgendwelche neue Vertragsklauseln voraus.Drittens. Den folgenden Punkt hat Fritz Erler schon genannt; Herr Strauß hat sich dazu ein bißchen kritisch geäußert. Ich möchte ihn gerade deswegen noch einmal betonen. Wir möchten, daß die Bundesrepublik ein negatives Mitbestimmungsrecht, oder wenn Sie so wollen: ein Vetorecht, bekommt. Dieses Vetorecht sollte für solche Fälle gegeben sein, in denen der amerikanische Einsatzbefehl sich nur auf solche nuklearen Waffen bezieht, die entweder auf deutschem Boden stehen oder die nur auf deutsche Ziele gerichtet sind; dabei denke ich durchaus nicht allein an die Grenzen der Bundesrepublik, — um auf Ihre Bemerkung von vorhin einzugehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage.
Die Frage stelle ich aus meiner Wertschätzung für Sie als eine militärpolitische Autorität: Wie stellen Sie sich im Ernstfall eines möglichen — hoffentlich nie kommenden — Krieges die Wirksamkeit, die Ausübung eines solchen Vetorechtes vor?
Genauso wie die Engländer sie sich vorgestellt haben zu einer Zeit, wo sie mit den Amerikanern entsprechende Absprachen über die Thor-Raketen eingegangen sind, die damals in England stationiert wurden. Inzwischen sind sie abgebaut, weil sie veraltet sind. Genau dasselbe System stelle ich mir vor.
Herr Kollege Schmidt, nehmen Sie es mir übel, wenn ich Sie darauf hinweise, daß dieser Vergleich deshalb ungeeignet ist, weil beim Thor-Raketen-System eine Zwei-SchlüsselMethode war, daß wir aber — ich zitiere jetzt den Kollegen Erler — für Waffen, die nicht auf deutschem Boden stehen, die aber von irgendwo gegen Ziele in Deutschland eingesetzt werden können, keinerlei Zwei-Schlüssel-System haben können. Sonst müßte ein deutscher Kontrolleur in Omaha sitzen.
Drei Antworten. Erste Antwort: Ich nehme es Ihnen nicht übel, Herr Strauß.
Zweiter Punkt: Soweit die Waffen in Deutschland stationiert sind — das ist ja auch ein Teil —, sind wir uns offenbar darin einig, daß es geht.
Dritter Punkt: Ich gebe Ihnen recht: bei denen, die außerhalb Deutschlands stationiert sind, aber nach Deutschland hineinwirken sollen, ist es ein schwieriges Problem, das nicht durch physische Kontrollen gelöst werden kann, das aber deswegen nicht unlösbar bleibt, Herr Strauß, das durch Abreden mit den USA gelöst werden muß. Ich will noch einmal betonen, daß alle Punkte, die ich genannt habe und offensichtlich jetzt in Übereinstimmung mit Ihnen herausgearbeitet habe, keine neuen Verträge erfordern, keine zusätzlichen Vertragsklauseln und auch nicht den Besitz an diesen Waffen erfordern.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr!
Herr Kollege Schmidt, darf ich aus Ihrer Zusammenfassung schließen, daß Sie sich, zwar etwas verspätet, aber im Prinzip doch der Meinung Ihres früheren Kollegen Max Brauer angeschlossen haben, der damals in Karlsruhe auf dem Parteitag sich zum Widerwillen Ihrer Freunde geäußert hat?
Herr Moersch, das ist eine nicht ganz faire Frage. Sie wissen, daß die internationale Diskussion über diese Themata innerhalb der letzten 12 Monate unendlich viele Phasen durchgemacht hat, und zu dem Zeitpunkt, von dem Sie soeben redeten, haben wir alle, die an diesem Gespräch hier in Deutschland beteiligt sind, wie auch diejenigen, die in• Amerika oder sonstwo an dem Gespräch beteiligt sind, das Problem noch ganz anders angesehen. Denken Sie daran, daß damals- die Franzosen durchaus desinteressiert waren,
während sie inzwischen engagiert dagegen sind und sogar Bedingungen stellen, Konsequenzen androhen! Denken Sie daran, daß inzwischen der amerikanische Präsident, der bis dato — der Zeitpunkt, von dem Sie reden — sich hinter dieses Projekt gestellt hatte, und zwar mit allem Nachdruck der amerikanischen Regierung, Ende November vorigen Jahres sich sehr vorsichtig, mindestens doch teilweise von der ganzen Sache distanziert hat. Wir können doch nicht allein entscheiden; Gott sei Dank, würde ich sagen, wenn ich so manche etwas leichtfertige Äußerung dazu lese oder höre.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erler?
Herr Kollege Schmidt, sind Sie vielleicht auch bereit, den Kollegen Moersch dahin zu unterrichten, daß die Beschlüsse des Karlsruher Parteitages der Sozialdemokratischen Partei, gegen die sich unser früherer Kollege Brauer gewehrt hat,
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Erlerkein Wort über die MLF enthalten, sondern lediglich ja sagen zu einer atomaren Gemeinschaftslösung, so daß das, was Sie vorhin hier vorgetragen haben, durchaus dem Inhalt dieser Beschlüsse entsprechen würde?
Sie haben völlig recht, Herr Erler. Ich wäre noch dazu gekommen und hätte
— nicht gerade auf die Frage von Herrn Kollegen Moersch — Überhaupt dargelegt, daß man desto klüger ist, je weniger man sich dabei auf drei Buchstaben festlegt und verbeißt — z. B. war die Sozialdemokratie relativ klug in ihrer Formulierung —, nicht weil man hinterher hereingelegt werden könnte, sondern einfach deshalb, weil es sich hier um eine Materie handelt, in die von vielen Seiten, von Rußland genauso wie von vielen westlichen Seiten, Faktoren und Kräfte hineinwirken und von wo wieder Kräfte ausgehen, ein Spiel mit vielerlei Komponenten, von dem niemand in seinem Kopf allein im voraus sagen kann, wie es ausgeht und wie es am besten gelöst werden kann. Ich würde meinen, die deutsche Bundesregierung wäre klug beraten, wenn wir mit unseren Ansprüchen uns auf solche Punkte konzentrierten, wie ich sie genannt habe, ohne uns in eine ganz bestimmte Lösung zu verbeißen, die noch dazu physische Mitbestimmung einschließt. Wir sollten insbesondere aufpassen, daß wir bei einer solchen Fixierung nicht unversehens zu einem Instrument gemacht werden z. B. franko-amerikanischen Tauziehens oder Fingerhakelns oder Pokerns. Ich glaube, wir alle bedauern
— ich nehme an, daß auch Herr Kollege Strauß und Herr Kollege Guttenberg dazu gezählt werden können — die desintegrierenden Wirkungen, die seit geraumer Zeit von Paris aus in das Bündnis hineinwirken. Wir müssen wahrscheinlich lernen, das in Gelassenheit zu ertragen und zu begreifen, daß wenigstens bei uns hier in Bonn keine Möglichkeit besteht, durch eigene nuklear-organisatorische oder eigene nuklear-strategische Vorschläge sowohl Frankreich zu befriedigen als auch die Vereinigten Staaten von Amerika zu befriedigen als auch drittens unsere eigene Sicherheit zu befriedigen. Das liegt nicht in unserer Möglichkeit. Wir sollten vorsichtig sein, damit wir nicht eines Tages auch unter unseren Freunden völlig isoliert dastehen.
Es ist nicht unsere Sache, direkt oder indirekt Initiativen zur Änderung des Atlantikpaktes zur Erörterung zu stellen oder direkt oder indirekt Initiativen zur Änderung der NATO-Organisation zur Debatte zu stellen oder zu provozieren. Wir Deutschen sind doch bisher gut gefahren mit dem Bündnis, so wie es ist, und mit der Organisation, so wie sie ist. Sollen doch diejenigen, die das Bestehende seit Jahr und Tag dauernd kritisieren, sollen doch die Regierungen, die das tun, zunächst einmal Änderungsvorschläge auf den Tisch legen, ehe wir das tun, ehe wir unsererseits Initiativen zur Änderung herbeiführen. Es hat doch erst Sinn, über Änderungen zu reden, wenn diejenigen, die bisher kritisiert haben, durch ihre eigenen Vorschläge klarmachen, wohin sie eigentlich wollen.
Auf der anderen Seite möchte ich gern ein Wort von Fritz Erler noch einmal unterstreichen, das hier bisher kein Echo gefunden hat, wenn ich richtig aufgepaßt habe, das Wort nämlich, ungeachtet dieser bündnispolitischen Schwierigkeiten mit Frankreich eine möglichst enge zweiseitige Verzahnung mit Frankreich herbeizuführen durch Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Produktion von militärischen Waffensystemen. Dafür braucht man gar keinen Vertrag. Herr Strauß hat vorhin von Kybernetik und Elektronik im weitesten Sinne geredet. Das bietet sich geradezu an für die Verzahnung mit den Franzosen, und zwar nicht durch Staatsvertrag oder völkerrechtliche Geschichten, sondern einfach durch privatwirtschaftliche Verflechtungen und Verbindungen, die die beiden Regierungen fördern sollten.
— Herr Martin, das militärische Geheimnis hat damit gar nichts zu tun. Das sind Dinge des gesunden Menschenverstandes und nicht des militärischen Geheimnisses.
Lassen Sie mich einmal etwas sagen, wenn Sie hier über militärische Geheimnisse reden! Ich finde, es ist eine bedenkliche Sache, die wir alle miteinander prüfen müssen, daß wir weiterhin erlauben, daß so viele schrecklich wichtige Fragen mit einem Geheim-Stempel, der zum Teil voreilig und zum Teil leichtfertig darauf gesetzt wird, aus der öffentlichen Erörterung fortgebracht werden und daß sie ihr nicht gestellt werden.
Ich meine, wenn Herr Strauß — völlig zu Recht
— und wenn ich — wie ich meine, auch zu Recht
— davon sprechen, daß wir teilhaben müssen an diesen modernen kybernetischen Techniken, die da entwickelt werden, und an der Elektronik im weitesten Sinne, dann ist es doch schon ein schlimmes Zeichen für den Prozeß, der hier stattgefunden hat, wenn ein Abgeordneter sagt: Das hier ist ein militärisches Geheimnis.
— Wenn ich Sie mißverstanden habe, machen Sie bitte durch Zwischenruf klar, wie ich Sie verstehen soll. Ich habe Sie nicht mißverstanden, Herr Martin. Ich möchte es wiederholen, wir sollten uns überlegen, ob wir nicht dafür sorgen müssen und ob z. B. eine Regierung, die über vier Jahre eine Schau dessen gibt, was sie tun will, nicht dafür sorgen muß, daß z. B. an unseren Universitäten so wie in England, so wie in Amerika über alle diese Probleme offen geforscht, untersucht und auch gelehrt wird.
Gestatten Sie eine Frage? — Bitte, Herr Abgeordneter Martin!
Ich wollte Ihnen sagen, Herr Schmidt: Ein großer Teil der Forschung liegt unter militärischen Geheimnissen. Das ist eine Tat-
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Dr. Martinsache. Deshalb ist sie Privatverträgen nicht zugänglich. Nur dies wollte ich sagen. Es ist keine Entscheidung von mir, sondern es ist eine Tatsache, mit der wir rechnen müssen.
Wir haben uns sicher mißverstanden; das merke ich jetzt. Aber Sie können durch bloße Privatverträge industrielle und entwicklungsmäßige Zusammenarbeit zustande bringen. Dann müssen Sie sich von den jeweiligen militärischen Dienststellen Ihr o. k. holen. Das ist immer so, innerhalb eines Landes wie über die Grenzen hinweg. Dann begreife ich den Einwand nicht, wenn Sie ihn nachträglich so aufgefaßt haben wollen.Lassen Sie mich einen vierten Punkt zu den vorhin aufgezählten drei Punkten noch hinzufügen oder lassen Sie mich sagen, daß das, wovon ich eben spreche, als vierter Punkt aufgefaßt werden muß. Aus den für die zivile Technik, für die zivile Industrie, für die Volkswirtschaft allgemein höchst bedeutsamen technologischen Fortschritten, aus dieser Entwicklung der modernen, komplexen Waffensysteme ergibt sich, daß die Bundesrepublik daran beteiligt sein muß. Auch das verlangt nicht Mitbesitz, auch das verlangt keine MLF, aber das ist ein Punkt, der organisatorisch wahrscheinlich relativ schwierig — am schwierigsten vielleicht, Herr Martin — zu lösen sein wird.Nun hat Herr Strauß vorhin im Zusammenhang mit einem Zitat aus einer französischen Zeitung —ich glaube „La Nation" — von dem Zusammenhang zwischen der Bombe einerseits oder — sagen wir — dem Nonproliferations-Vertrag, dem Atomwaffensperrvertrag, wie Sie ihn genannt haben, und der deutschen Frage andererseits gesprochen. Sie haben gesagt, Sie wollen die Bombe nicht; wir wollen sie schon lange nicht. Sie wollen die Einheit Deutschlands, wir auch. Trotzdem glaube ich, Herr Strauß, daß wir auch auf diesem Gebiet in die Gefahr der Isolierung geraten können. Wenn wir uns so scharf, wie Sie es hier getan haben — und ähnlich scharf hat der Außenminister im Juli in einem Interview mit englischen Zeitungen getan —, von einem die ganze Welt umfassen sollenden NonproliferationsVertrag distanzieren, dann können wir sehr leicht in eine gefährliche Isolierung geraten. Ich will hier nicht abstreiten, daß Ihr Argument von der Aufwertung der DDR durch Ihre Unterschrift eine gewisse Kraft und ein gewisses Gewicht hat. Das will ich nicht bestreiten. Aber wir können auch sehr gut durch unser Nein zu einem Vertrag, zu dem alle anderen ja sagen, in eine schreckliche Isolierung geraten, nicht nur gegenüber der Sowjetunion,
sondern durchaus auch innerhalb des westlichen Lagers und durchaus auch im Verhältnis zur dritten Welt. Ich würde da sehr vorsichtig sein.Ich finde, daß wir bei all diesen Auseinandersetzungen auch noch eines im Auge behalten sollten. Wir sollten die nukleare Lage im Bündnis nicht dramatisieren. Es war eine Übertreibung, daß in derRegierungserklärung davon gesprochen wurde, hier würde unsere Verteidigung erschwert. Das war eine Übertreibung, die nicht zu rechtfertigen ist. Wir sollten das nicht dramatisieren. Wir sollten, Herr Bundeskanzler, im Auge behalten, daß sowohl im Urteil Washingtons als auch im Urteil Londons als auch im Urteil der Pariser Regierung als auch im Urteil der Moskauer Regierung die gegenwärtige militärische Gesamtlage Europas für weit weniger gefährdet angesehen wird als von manchen aufgeregten Vortragsrednern in der Bundesrepublik.
Das ist auch eine Realität, der man ins Auge sehen muß. Wir dürfen mit der Sorge, die wir berechtigterweise verfolgen müssen, nicht übertreiben. In allen diesen vier Hauptstädten sieht man das nämlich inzwischen anders.Lassen Sie mich noch einen kleinen Schlußsatz anfügen. Herr Barzel, Sie haben am Schluß Ihrer Rede von den religiösen und sittlichen Grundüberzeugungen unseres Volkes gesprochen. Ich möchte dazu drei Gedanken beitragen.Erstens. Wir Deutschen sind ja Christen und Nichtchristen zugleich; wir sind Katholiken und Protestanten und Juden und Freidenker zugleich. Wir haben als Volk und als Staat noch nicht vollends gelernt, diese Tatsache, diese Vielfalt stets im Bewußtsein zu tragen und die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen und die sich aus ihr ergebende Notwendigkeit zur religiösen und zur weltanschaulichen Toleranz in all unserer täglichen Praxis zu befolgen, — wir, die Deutschen insgesamt; so meine ich. Wir Sozialdemokraten meinen dabei gewiß nicht, die Toleranz der Gleichgültigkeit, sondern die Toleranz der Achtung vor der Würde des Nachbarn und des Mitbürgers und seiner Glaubensüberzeugung. Wir haben — ich will das von mir sagen, von meiner Person — mit großer Bewegung miterlebt, wie der verstorbene Papst Johannes XXIII. die sittliche Idee der Toleranz weithin sichtbar für alle Menschen in der Welt wieder erneut aufgepflanzt hat. Ich könnte mir denken, daß er damit auch ein Vorbild für uns Deutsche gesetzt hat, gleich, welcher Konfession, ein Vorbild auch für eine Bundesregierung, die doch einem Volke auch im Geistigen und im Sittlichen, wenn auch nicht Führung, Herr Bundeskanzler, so doch Orientierung anbieten sollte.Nach langer Überlegung möchte ich an dieser Stelle auf eine einzige Kanzleräußerung aus dem Wahlkampf zurückkommen. Wir wissen alle, daß es einigen Leuten auf der Rechten im Wahlkampf bisweilen unterlaufen ist, mit dem aus nazistischer Zeit übriggebliebenen Vorurteil gegen den Emigranten Willy Brandt zu operieren und den Hinweis auf seine norwegische Uniform als Presseattaché dabei ja nicht zu vergessen. Wo dies geschah, war es sicherlich widerlich. Ich glaube, daß die allermeisten Kollegen hier im Saal solche sittlichen Entgleisungen während des Wahlkampfes bedauert haben, wo sie sie beobachteten. Um so mehr, Herr Bundeskanzler, sollten auch Sie bedauern und sich möglicherweise dafür entschuldigen, daß Sie sich am 24. August in Zweibrücken öffentlich zu dem Satz haben hinreißen lassen, Sie hätten schon an der
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Deutschen Mark und an ihrer Stabilität gearbeitet, als der Brandt überhaupt noch nicht wieder deutschen Boden betreten hatte.
Das war eine untergründige und abgründige Sentenz. Sie ist belegt.
— Wenn sie nicht stimmt, um so besser. Dann wird Herr Bundeskanzler Erhard uns erklären, daß man ihn falsch interpretiert hat. Wir werden dafür dankbar sein. Ich will nur sagen: mit solchen abgründigen Sentenzen, Herr Bundeskanzler, können Sie die deutsche Gesellschaft nicht formieren, so dürfen Sie sie auch gar nicht formieren wollen.
Im Grunde liegen Ihnen ja solche Äußerungen auch nicht; das ist im Grunde gegen Ihr Naturell, nehme ich an. Sie sollten es mit Kennedy halten, der in seiner letzten Rede, die er in Dallas nicht mehr hat halten können, die nur schon aufgeschrieben war, gesagt hat oder hat sagen wollen: Unsere Stärke muß immer auf der Rechtschaffenheit unserer Sache beruhen.
Eine zweite Bemerkung zu Herrn Barzel, zu den sittlichen Grundhaltungen, von denen die Rede gewesen ist: Können wir nicht einmal überlegen, ob wir gemeinsam Schluß machen mit dieser allzu billigen und letzlich doch couragelosen Art und Weise, wie in unserem Lande vielfach die Auseindersetzung mit dem Kommunismus geführt wird? Zunächst meine ich, wir sollten sorgfältig unterscheiden zwischen der Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Staat Sowjetunion auf der einen und der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als Ideologie, als internationale politische Bewegung auf der anderen Seite. Das sollten wir sorgfältig unterscheiden. Die Vermanschung beider Dinge kann uns manchen wichtigen Punkt in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion übersehen lassen. Wir sollten das voneinander trennen. Aber wichtiger als dieses Trennen ist mir, davon auszugehen, daß die große, die geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus uns Deutschen ja noch erst bevorsteht. Die kommt erst noch, nämlich dann, wenn wir uns der Wiedervereinigung endlich nähern werden. Dann kommt doch das Problem erst wirklich auf uns zu. Im Augenblick haben wir es ja mit dem Kommunismus hier in unserem Lande kaum zu tun.
— Das sage ich als Innenminister einer Hafenstadt; ich muß es wohl wissen: wir haben es hier mit dem Kommunismus kaum zu tun.
Diese Auseindersetzung, die da noch kommt, muß von der neuen Generation geführt und gewonnenwerden, von denen, die heute noch jung sind. Ich habe ein bißchen Angst, wenn ich sehe, wie wir diese junge Generation häufig durch allzu billige Traktätchen — wir allzumal —
auf diese Auseinandersetzung vorbereiten. Das kann man mit Propaganda doch nicht machen. Wir müssen doch die jungen Leute zu selbstschöpferischem Urteil befähigen. Wir glauben doch letztlich an ihre Kraft, an ihre Unbefangenheit, an die Fähigkeit zur Kritik in diesen jungen Leuten, an die Fähigkeit zum eigenen Denken, und wir dürfen sie auch in dieser Frage gar nicht gängeln, wie wir es bisher so vielfach tun. Vielmehr müssen wir es ihnen ermöglichen, ein gut gegründetes und gut begründetes Selbstvertrauen zu gewinnen. Dazu müssen sie sich mit diesem ganzen Quatsch doch selber befassen können, Sie dürfen den Kommunismus nicht immer nur aus dritter, vierter, fünfter Hand kennenlernen. Wie sollen sie dann später, wenn sie wirklich in die Auseinandersetzung hineingepreßt werden, damit zu Rande kommen? Ich sehe häufig mit Besorgnis, wie junge Leute von drüben und junge Leute von hier zusammenkommen und debattieren und unsere Leute nicht immer am besten dabei abschneiden, weil sie wohl propagandistisch gut vorbereitet sind, nicht aber geistig.
— Alle diese vielen Heftchen, Herr Besold, die an den deutschen Gymnasien, in der Bundeswehr, in den Jugendorganisationen und überall verteilt werden. Ich meine, daß dies ein Punkt ist, wo man versuchen sollte, miteinander ins Gespräch zu kommen: daß wir unsere Jugend gegenüber dem Kommunismus nicht zu gewissen Propagandaschemata hinbringen, sondern zur Zivilcourage und zum eigenen Urteil.Eine letzte Bemerkung zu den sittlichen Grundhaltungen, die Herr Barzel gemeint hat. Der Herr Bundeskanzler hat zu Beginn des Jahres einmal behauptet, das Modell einer Demokratie, das wir Sozialdemokraten anböten, sei nur eine Attrappe. Ich glaube, so leicht kann man es sich und sollte man es sich mit den Grundüberzeugungen anderer nicht machen.Sicherlich, Herr Bundeskanzler, die Geschichte der Sozialdemokratie, auch ihre Gegenwart, umfaßt Irrtümer, umfaßt Fehler, sicherlich auch menschliche Schuld und Schwächen. Aber dies wird man noch sagen dürfen: daß die Geschichte dieser Partei zugleich eine der wenigen großen unzerstörten Kontinuitäten in der Geschichte unseres Volkes ist
durch diese letzten vier Generationen hindurch. Und zugleich eine Kontinuität der Grundideen; der Grundidee der Befreiung der sozial und politisch Unterdrückten; der Grundidee gleicher Chancen für jedermann; der Grundidee der Regierung und der Kontrolle der Regierung auf der Grundlage einer Demokratie; der Grundidee, daß Recht und Frei-
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heit des Menschen nicht durch den Machtanspruch von einzelnen, aber auch nicht von Gruppen begrenzt werden dürfen, sondern daß Recht und Freiheit des einzelnen nur begrenzt werden dürfen durch die Solidarität, die man sich gegenseitig schuldet, und die dadurch gesetzten Grenzen. Von diesen sittlichen Grundideen haben wir Sozialdemokraten vier Generationen lang gelebt, und die werden auch in Zukunft das tragende Fundament unserer Politik sein.Herr Bundeskanzler, wenn ich sage „in Zukunft", — die Zukunft ist ungewiß. Wir leben in der zweiten deutschen Demokratie. Die ist noch nicht ganz endgültig stabilisiert. Wir Deutschen haben uns z. B. noch nicht mit ganz großer Selbstverständlichkeit angewöhnt, nur durch die Macht des Wählers Regierung und Opposition auszuwechseln, hin und her und her und hin. Das ist ja noch nicht passiert. Diese Nagelprobe fehlt ja noch.
Obwohl aber noch manches in vieler Beziehung, in sehr vielen Beziehungen fehlt, trotz des tragischen Unheils der deutschen Teilung, sieht dieser Versuch einer zweiten deutschen Demokratie unendlich viel besser und lebensfähiger aus, als der Versuch der ersten Demokratie jemals ausgesehen hat. Da sind wir uns alle einig. Und vor allem ist diesmal der demokratische Staat nicht im Schutze eines hoheitlich gesonnenen, obrigkeitsstaatlich orientierten Heeres aufgebaut worden. Ein großer Vorteil! Und es gibt nur noch wenig sentimentale Anhänglichkeit an den zugrunde gegangenen Diktaturstaat. Die „Spiegel"-Affäre mit all ihren bedenklichen Erscheinungen hat doch eben auch sehr beglückend erkennen lassen, daß in diesem Volk eine ganz beträchtliche Wachheit dann vorhanden ist, wenn es befürchten muß, daß seine Rechte auf freie Meinungsäußerung angetastet werden. Die Reaktion auf die Affäre war doch alles in allem erfreulich und ermutigend.
Aber auch, wenn wir Zeichen der Ermutigung empfinden dürfen, meine Damen und Herren, glaube ich, daß die Frage der demokratischen Regierung und ihrer demokratischen Kontrolle doch auch in Zukunft die Kardinalfrage der deutschen Geschichte bleiben wird. Ich glaube, daß deutsche Geschichte sich nur in der Demokratie kontinuierlich wird entwickeln können. Und für uns bedeutet Demokratie eben zugleich auch Freiheit und Gerechtigkeit und Offenheit und Solidarität. Der Sieg der Demokratie über die dunklen Mächte in der Seele unseres Volkes, er scheint uns endgültig errungen. Aber in Wahrheit ist er vielleicht niemals endgültig zu erringen. Vielleicht bleibt er in Wahrheit die ständig, die immer wieder gestellte Aufgabe. Wir alle, die CDU/CSU, die Sozialdemokraten und die FDP gleichermaßen, wir alle haben ja hier in diesem Hause das ist doch das Eigentliche, was uns hier zusammenführt — dieser Aufgabe gemeinsam zu dienen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke, daß Sie mich außer der Reihe für wenige Minuten gleich drannehmen. Herr Kollege Schmidt war so liebenswürdig, mich anzusprechen. Ich möchte Ihnen gleich erwidern.Herr Kollege Schmidt, Sie haben mich auf die Schlußphase in meiner Rede angesprochen, die sich auf die religiösen Grundüberzeugungen bezog. Ich finde es gut, daß Sie das getan haben. Ich habe, wie Sie sich erinnern werden, das Grundgesetz zitiert. Vielleicht erinnern Sie sich auch daran, daß ich ganz zu Anfang meiner Rede dem ganzen Hause für die künftige Anbeit den Geist der Toleranz gewünscht habe. Ich glaube also, insoweit brauchen wir ein Monitum nicht einzustecken.
— Gemeint war Zustimmung. Ich bedanke mich.Ich bin aber im wesentlichen hier heraufgekommen, Herr Kollege Schmidt, um Ihre Erinnerung aufzuhellen. Der Bundeskanzler hat den Satz, den Sie kritisiert haben — den Satz, der sich mit dem früheren Kollegen Brandt :beschäftigte —, inzwischen längst in Ordnung gebracht.
Es 'dürfte Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein — zumal wegen Ihrer, wie wir hören, guten Beziehungen zu einem deutschen Nachrichtenmagazin —, daß der Bundeskanzler in diesem Interview vor der Wahl eben diesen Satz in einer, wie ich glaube, sehr honorigen Weise in Ordnung gebracht hat. Herr Kollege Schmidt, es wäre nun eigntich an Ihnen, auch gewisse Äußerungen in Ordnung zu bringen, Äußerungen, die Sie in Ihrer Eröffnungsrede zum Wahlkampf in Dortmund gebraucht haben und an die ich mich noch erinnere, Herr Kollege Schmidt.
Also Toleranz hin und her und Fairneß hin und her!Zweitens hat mich Herr Kollege Schmidt darauf angesprochen — das 'war ein wichtiger Punkt —, daß wir uns eine andere Sprechweise gegenüber dem Kommunismus angewöhnen sollten. Ich sehe, daß auch Herr Kollege Schiller nickt. Es ist also eine Einheit der beiden mit Vorschußlorbeer versehenen Kollegen zu verzeichnen. Wir werden ja noch sehen, wie grün der Lorbeer ist. — Nun, sicherlich ist daran sehr viel richtig. Aber bei aller Trennung von Kommunismus und dem Staat Sowjetunion legen wir Wert darauf, Herr Kollege Schmidt, festzuhalten, was ich gestern in einem Satz hier sagte: Wir haben es leider noch nicht mit Rußland zu tun, sondern mit. der Sowjetunion.
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Und bei aller Differenzierung in Kommunismus dieser und jener
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222 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 30. November 1965
Dr. BarzelErscheinungsart dürfen wir doch nie übersehen, welche Realität unseren Landsleuten in der Zone im Namen dieser Ideologie auch zu dieser Stunde zugemutet wird.
Also halten wir fest: ein Kommunist, der an seine Sache glaubt, ist ein ernst zu nehmender Mensch, — d'accord, völlig einverstanden! Aber vergessen wir bei all dem nie, was eben diese Leute uns antun. Den Kommunist als Realität erkennen und hier differenzieren setzt als erstes voraus, zu sehen, was im Namen dieser Ideologie von Kommunisten uns an Gewalt angetan wird.
Sie werden sich erinnern, daß ich gestern in meinem Beitrag darum bat, die menschlichen Erleichterungen in ganz Deutschland auch dadurch zu ermöglichen, daß man nicht alles an die große Glocke hängt. Wer von Kommunisten etwas erreichen will, muß daran denken, daß auch sie ein Gesicht haben und daß man nicht alles an die Öffentlichkeit zerren kann. — Bitte Herr Kollege Schmidt!
Verehrter Herr Barzel glauben Sie nicht, daß Sie ein bißchen weit gegangen sind in Ihrer Fehlinterpretation? Können Sie sich nicht vorstellen, daß alles das, was Sie eben gesagt haben, meine Billigung findet und dem entspricht, was ich gesagt habe? Glauben Sie wirklich, ich könnte vergessen, was drüben in der Zone passiert? Glauben Sie, Sie müßten mir vorhalten, daß ich in Gefahr sei, das zu vergessen?
Herr Kollege Schmidt, ich habe Ihnen weder etwas unterstellt noch gesagt, daß Sie in einer solchen Gefahr seien.
— Lassen Sie uns das ganz ruhig erörtern; es ist wichtig, daß in dieser ersten parlamentarischen Aussprache dieses Bundestags keine falschen Töne sind oder bleiben. — Ich habe niemandem etwas unterstellt, Herr Kollege Schmidt. Ich bin hier her-aufgegangen, um sofort etwas klarzustellen. Ich danke, daß Sie der Interpretation zustimmen, die ich hier gegeben habe.
Ich habe nicht die Absicht, jetzt schon eine Schlußbemerkung zu dieser Debatte zu machen, aber vielleicht darf ich eine Zwischenbemerkung machen. Wir haben gestern und heute gesehen, daß wir nun wieder eine Opposition haben. Gott sei Dank! Aber, meine Damen und Herren: wir haben zwar eine Opposition, jedoch nach einer Alternative haben wir bisher vergeblich gefragt.
Vielleicht werden wir sie noch hören: Zwischenbilanz also: Opposition ist wieder da — Alternative nicht vorhanden.
Das Wort hat der Abgeordnete Erler.
Herr Präsident! Da soeben hier Zwischenwertungen eingeschoben worden sind, sei es mir selbstverständlich gestattet, auf die Zwischenwertungen des Kollegen Barzel in zwei Punkten einzugehen.
Zunächst einmal glaube ich — und ich entsinne mich an eine ganze Reihe von Debatten in diesem Hause —, daß wir auch früher hier eine Opposition hatten.
— Nein! Ich weiß noch, wie Sie in diesem Hause in diesem Jahr getobt haben, als ich zur Haushaltsdebatte gesprochen hatte, meine Herren.
So einfach wollen wir es uns nicht machen, daß es als „Anschluß an die Regierung" betrachtet wird, wenn die Opposition in bestimmten Fragen aus dem Interesse des ganzen Volkes heraus die Regierung unterstützt dort, wo sie auch nach unserer Meinung recht hat. Dann kann man nicht hingehen und sagen: „Wir haben keine Opposition",
auf der anderen Seite aber sich beklagen und der Opposition moralische Zensuren erteilen — wie es der Bundeskanzler gestern gemacht hat —, wenn sie es wagt, nach dem Programm der Regierung zu fragen, weil nämlich in der Regierungserklärung gar kein Programm drinstand.
Wir haben, das möchte ich als Zwischenbemerkung hier sagen, bisher auf keine einzige unserer Fragen zur Regierungserklärung — und die steht zur Debatte! — eine Antwort bekommen. Wir haben Ihnen eine Fülle von Aufklärung über das politische Konzept der sozialdemokratischen Opposition gegeben.
Worauf wir warten, das ist die Alternative der Regierung.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Pohle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es obliegt mir die Aufgabe, die Aussprache wieder auf den sachlichen Punkt der Finanzhilfe zurückzuführen. Ich möchte aber denn-noch nicht unterlassen, eine Bemerkung zu der Rede meines Freundes Schmidt zu machen. Ich möchte dabei nicht auf das eingehen, lieber Herr Schmidt, was Sie zur Verteidigungsfrage gesagt haben, auch nicht auf jene Stelle, wo Sie in letzter Minute sich geweigert haben, sich zum „gaullistischen Komplizen vön Franz Josef Strauß" machen,
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Dr. Pohlezu lassen. Aber ich möchte, vorausgesetzt, daß es in diesem Hause üblich ist, daß frühere Kollegen hier ebenfalls „Jungfernreden" halten, von der Gepflogenheit nicht abgehen und Ihnen zu dieser Rede ebenfalls meinen Glückwunsch aussprechen.
Ich fand die Rede gut.
Soweit der erste Teil in Frage kommt, lieber Herr Schmidt, halte ich es mit dem Grundsatz: „Das Bessere ist der Feind des Guten", und ich finde, daß dieser Teil gegenüber dem, was Sie hier im Jahre 1953, als wir hier antraten, vor dem Hause gesprochen haben, etwas zurücktrat. Aber wir sind ja beide älter geworden.Nun nur zwei Bemerkungen zu dem ersten Teil der Rede. Die eine ist: Sie haben die Häufung der von der Regierung in den Vordergrund gestellten Reformen bemängelt. Ich finde, es ist immer ein fortschrittlicher Gedanke, wenn man Reformen im Auge hat und keinen Rückschritt.
Ein Moment, Herr Abgeordneter! Meine Damen und Herren, können wir Unterhaltungen nicht außerhalb des Sitzungssaales durchführen? Es ist doch für den Redner eine unerhörte Belastung, wenn überall im Saale gesprochen wird.
Die zweite Bemerkung ist die, wo Sie davon gesprochen haben, daß die Regierung von den häufigen Eingaben des BDI — wenn ich recht verstanden habe — abhängig sei. Nun, ich habe, solange ich draußen war, von dieser „Abhängigkeit" nicht das geringste gespürt. Aber das ist vielleicht der Unterschied, wie man die Dinge von drinnen oder von draußen betrachtet. — Dies zu diesem Thema.Meine Damen und Herren, ich hatte mich zum Wort gemeldet und habe auch die Aufgabe, hier zu Ihnen zur Finanzlage, insbesondere zur Frage des Haushaltsausgleichs, zu sprechen. Aber nach dem Verlauf der heute morgen geführten Debatte kann ich einige Vorbemerkungen dabei nicht unterdrükken; sie gehen insbesondere an Ihre Adresse, lieber Herr Kollege Möller.Niemand konnte zu Beginn des Jahres 1965 voraussagen, wie sich die Finanzlage des Bundes, insbesondere aber der Bundesbahn, exakt entwickeln würde. Auch die Sozialdemokratische Partei hat die jetzige Situation nicht auf Mark und Pfennig, geschweige denn auch nur in annähernden Umrissen vorhergesehen. Die Aufstellung vom 26. Februar 1965, die heute morgen eine Rolle spielte, reicht meines Erachtens nicht aus, der Opposition dieses Alibi zu verschaffen. Wenn die SPD das Ausmaß der defizitären Entwicklung rechtzeitig erkannt hätte, dann hätte sie niemals den in der fraglichen Zeit verabschiedeten Gesetzen zustimmen dürfen. Die SPD hat aber allen großen ausgabewirksamen Gesetzen zugestimmt.In dieser Lage sind nach den Regeln der Logik nur zwei Schlußfolgerungen möglich. Entweder dieZustimmung der SPD bedeutet, daß sie ebenfalls nicht den vollen Umfang der Entwicklung vorhergesehen hat — die Vorwürfe der SPD gegen die Bundesregierung und die Koalition sind dann nicht mehr aufrechtzuerhalten —, oder aber der Vorwurf der SPD stimmt; dann hätte sie sich aber der gleichen Verfehlung schuldig gemacht, die sie uns jetzt vorwirft.Die SPD hat immer wieder, auch im Laufe der letzten Legislaturperiode, die volle parlamentarische Verantwortlichkeit für ihr Handeln für sich in Anspruch genommen: darüber gibt es gar keinen Zweifel. Wenn sie jetzt die Verantwortlichkeit für die ausgabewirksamen Beschlüsse der parlamentarischen Ausschüsse der Regierung und der Regierungskoalition anzulasten sucht, dann widerspricht sie damit ihrer eigenen oft geäußerten Anschauung von eben der parlamentarischen Verantwortlichkeit. Wo beginnt dann die parlamentarische Verantwortlichkeit, wo hört dann die parlamentarische Verantwortlichkeit auf?Auch die Behauptung, die Opposition habe sich aus politischen Gründen nicht gegen die zu Ende der Legislaturperiode verabschiedeten Gesetze stellen können, ist nicht zielführend; denn sie steht im Widerspruch zu der während des ganzen Wahlkampfes behaupteten verantwortungsbewußten Ausgabenpolitik der Opposition. Sie widerspricht der Verlautbarung vom 8. August, wonach Sie, Herr Kollege Möller, ausdrücklich der „Welt" gegenüber erklärt haben, daß die SPD ebenfalls ausgabefreudig sei, und zwar mehr, als Ihnen persönlich gut erscheine.Als Beweis ist heute die Zurückziehung von einigen Anträgen in Höhe von rund 2 Milliarden DM anläßlich der dritten Lesung des Bundeshaushalts am 26. Februar angeboten worden. Aber auch hier lautet die Frage: was ist dann richtig? Offenbar möchte die SPD auch in diesem Punkt die Freuden zweier Bräute von gegensätzlichem Charakter gleichzeitig genießen, nämlich die Vorteile der Sparsamkeit auf der einen Seite und die der Ausgaben-beschlüsse auf der anderen. Solche Freuden sind voller Gefahren, denn Bigamie wird von der herrschenden Rechtsauffassung nicht sanktioniert. Oder liebt die Opposition das gefährliche Leben? So ergibt sich das Bild einer Opposition, die gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen möchte und die Dinge rein taktisch und nicht nach der Gesamtverantwortung betrachtet.Durch den Kollegen Althammer ist heute morgen die Frage des Verhaltens der Opposition aufgegriffen worden. Meine Herren, warum denn? Wir hätten diese Frage nicht aufgegriffen, wenn nicht der Vorsitzende der SPD-Fraktion bei seiner gestrigen Rede diese Frage mit in den Vordergrund gestellt hätte. Dies allein ist der Grund, warum meine Fraktion erst jetzt, dann aber auch mit absoluter Bestimmtheit zu dieser Frage Stellung nimmt, warum die „Lücke", die Herr Kollege Möller bemängelte, seit 9 Monaten besteht und warum wir so lange nichts gesagt haben. Wir hätten diese Frage hier in dieser Breite nicht aufgegriffen, wenn
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Dr. Pohlenicht der Kollege Erler versucht hätte, sie uns anzulasten.Endlich eine weitere Bemerkung zur Klarstellung Die Aufstellung, die Herr Kollege Althammer überreicht hat, basiert auf Zahlen, die das Bundesfinanzministerium erstellt hat. Sie muß also gegenüber den anderen Zahlen, insbesondere den hier vorgelegten, Anspruch auf Vollständigkeit und Richtigkeit erheben. Herr Kollege Althammer hat bereits darauf hingewiesen, warum die Aufstellung des Herrn Kollegen Möller unrichtig ist, z. B. weil sie auf der einen Seite nur Fraktionsanträge berücksichtigt und auf der anderen Seite auch Gruppenanträge. Man kann nicht mit zweierlei Maß messen. Es gibt auch noch mehr Unstimmigkeiten.Soweit hier von dem Art. 113 die Rede gewesen ist, ist bereits wiederholt darauf hingewiesen worden, daß an Hand dieses Art. 113 in der Öffentlichkeit der Fall breit und lang diskutiert worden ist, auch und gerade auf dem Wirtschaftstag der CDU/ CSU Anfang Juli in Düsseldorf. Bereits damals ist von seiten der Regierung auf die Finanzlage mit allem Nachdruck hingewiesen worden. Nun, meine Damen und Herren von der Opposition, es ist natürlich Ihr Recht, hierauf hinzuweisen. Aber unser gutes Recht ist es, die Dinge so schnell wie möglich in Ordnung zu bringen. Denn es handelt 'sich hier schließlich nicht um zwei Parteien, die etwas Verschiedenes wollen. Wir haben nur ein einziges Staatswesen, und dieses eine Staatswesen bedarf unseres sofortigen Eingriffs. Man soll nicht damit kommen, wir hätten den Wähler über diese Dinge im unklaren gelassen. Meine Damen und Herren, ich finde, es bedeutet eine Verkleinerung der Geisteshaltung des deutschen Wählers, wollte man allen Ernstes die Behauptung aufstellen, daß er seine Stimmabgabe hiervon und nicht von ganz anderen Elementen abhängig gemacht habe.
Und außerdem: Wir verlieren das Vertrauen des Wählers nicht, wenn wir so schnell wie möglich dem Ausgleichsprogramm der Regierung einschließlich des Haushaltssicherungsgesetzes zustimmen. Wir würden es verlieren, wenn wir es vor Weihnachten nicht täten.
Aber, meine Damen und Herren, es ist deshalb letzten Endes müßig, hier weiter zu untersuchen — und ähnliche Vorstellungen sind bereits von anderen Rednern erhoben worden —, wen die Schuld an den Mehrausgaben nun trifft. Das deutsche Volk, der deutsche Wähler erwartet jedenfalls von der Bundesregierung und dem Parlament, das von uns allen hier gemeinsam gebildet wird, gleich und gewissermaßen als erste Amtshandlung, den überzogenen Haushalt 1966 auszugleichen und die Anforderungen auf ein vertretbares Maß zurückzuschrauben. Denn mit Recht ist erst kürzlich der öffentliche Haushalt als das Logbuch des Staates bezeichnet worden. Bei der Inflationsempfindlichkeit des deutschen Volkes ist der Bundestag dessen Zustimmung auch bei drastischen Kürzungs- und Verschiebungsmaßnahmen sicherlich gewiß. Die Bundesregierung hat ihre Anträge gestellt, ihre Ansichten entwickelt und das Haushaltssicherungsgesetz eingebracht. Nun ist es an uns, uns dazu so schnell wie möglich zu äußern.Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung zehn Thesen zur wirtschaftlichen Lage aufgestellt und von diesen zehn Thesen allein fünf der Lage des Haushalts und seinem Ausgleich gewidmet. Ich will hier keineswegs mit neuen Zahlen auffahren. Ich will aber darauf hinweisen, daß die Steigerung des Bruttosozialprodukts, von dem hier schon wiederholt die Rede gewesen ist, nicht mit der Steigerung der Masseneinkommen Schritt gehalten hat und die Spartätigkeit trotz beachtenswerter Leistungen, von denen heute morgen unser Freund Burgbacher gesprochen hat, dahinter zurückgeblieben ist. Bleibt die Spartätigkeit aber dahinter zurück, dann erhält die Steigerung der Nachfrage von dieser Seite her Impulse, denen in diesem Falle kaum noch mit einer verschärften Restriktionspolitik begegnet werden könnte. Dazu wäre vielmehr eine Beschleunigung des Wachstums des Sozialprodukts durch Ausweitung des Angebots, nicht nur durch vermehrte Einfuhren, sondern auch durch höhere Investitionen, erforderlich. Sie müßte die Erhöhung der Arbeitsproduktivität zum Ziele haben. Ich brauche auch hier keine Zahlen zu nennen. Das Produktionsergebnis je Beschäftigten ist nicht im gleichen Maße gestiegen wie die Bruttolöhne und Gehälter, und die Lohnkosten je Produktionseinheit sind erheblich in die Höhe gegangen.Eine solche Entwicklung muß sich bei wachsender Nachfrage in steigenden Preisen auswirken, erst recht, wenn sich auch die Kapitalkosten erhöhen. Das sind alles Binsenwahrheiten; das ist eine nüchterne Betrachtung. Es bedarf der gemeinsamen Überlegung — und davon ist heute morgen schon die Rede gewesen —, wie wir diesen Auftrieb in den Griff bekommen können. Auch die reale Wachstumsrate zeigt infolge von Preisveränderungen und überproportionalem Verbrauch sinkende Tendenz. Sie hat sich von 7 % im ersten Halbjahr 1964 auf unter 5 % ermäßigt.Meine Damen und Herren, die Höhe des Sozialprodukts wird in der Hauptsache durch drei Faktoren bestimmt, erstens durch die Arbeitsleistung, zweitens durch die Leistung des eingesetzten Kapitals und drittens durch den Einfluß der Außenhandelsbeziehungen. Was die Arbeitsleistung betrifft, so kann angenommen werden, daß die Zahl der Beschäftigten bis 1970 um etwa 400 000, also um 1,6 % steigt. Ich unterstelle einmal — weder optimistisch noch pessimistisch, wie Sie es wollen — die gleiche Arbeitszeit. Um eine Steigerung des Produktionsvolumens von 22 % zu erreichen, müßte die Produktivität in der deutschen Volkswirtschaft bis 1970 real um rund 20 % gesteigert werden. Es bedarf größter Anstrengungen, meine Damen und Herren — ich glaube, darin sind wir uns alle in diesem Hause einig —, um zum Ausgleich für das nicht zur Verfügung stehende Arbeitskräftepotential die Produktivität so zu steigern, daß ein maßvolles weiteres Wachstum des Bruttosozialprodukts erzielt werden kann, und zwar bei Aufrechterhaltung
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Dr. PohleL) der inneren Stabilität und unter Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung.Um in diesem Rahmen die Produktivität zu steigern, bedarf es — ich wiederhole und präzisiere es — zusätzlicher Investitionen auf jenen Sektoren, die einer solchen Produktivitätssteigerung durch Investitionen ihrem Wesen nach zugänglich sind. Dabei erscheint eine jährliche Zuwachsrate des Investitionsvolumens von etwa 12 bis 14 % erforderlich.
Meine Damen und Herren, warum sage ich das alles: Ich sage das alles deshalb, weil zu einer derartigen Leistung, einer derartigen Produktivitätssteigerung, zu der Kapital benötigt wird — und dieses Kapital brauchen insbesondere die kleinen und mittleren Betriebe, wenn man davon ausgeht, daß die Großen die Durststrecke besser überwinden können —, ein gesunder Kapitalmarkt und gleichzeitig eine stabile Währung gehören. Ich sage das deshalb, weil ich gleich auf den Haushalt als die conditio sine qua non für die Gesundung der Verhältnisse zurückkomme. Davon hängt alles Weitere ab.Sie wissen, daß der Kapitalmarkt — auch diese Frage ist schon erörtert worden — zerrüttet ist. Die Fremdfinanzierung der Unternehmen stieg 1964 auf rund 59 % der Gesamtfinanzierung an, der Anteil der kurzfristigen Kredite von 10,4 auf 16,5 %. Ich zitiere in diesem Zusammenhang nur die Bundesbank, die nach der Untersuchung der ganzen Vorgänge gesagt hat, es zeige sich, daß die Überforderung des Rentenmarktes, von der bekanntlich die Zerrüttung ihren Ausgang genommen habe, in dem Berichtzeitraum so gut wie ausschließlich auf das Konto der öffentlichen Hand gehe.Solange die Haushaltsgebarung der öffentlichen Hand nicht eindeutig stabilisiert wirkt, meine Damen und Herren, ist die Fortsetzung der derzeitigen Bundesbankpolitik kaum zu beanstanden. Wir begrüßen aber die Initiative der Bundesregierung im Hinblick auf den von ihr eingesetzten Kapitalmarktausschuß. Angesichts der derzeitigen Situation sollte sich die öffentliche Hand bei ihren Anforderungen an den Kapitalmarkt verstärkt zurückhalten, um ihn für die private Wirtschaft zu erhalten. Denn unsere Aufgabe ist, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Betriebe zu erhalten, zu steigern und damit auch den Export, der erfreulicherweise noch in der Steigerung begriffen ist, zu halten und gleichzeitig der Übernachfrage im Inland zu begegnen, die im Augenblick gar nicht anders als durch vermehrte Importe gemeistert werden kann. Dieses Problem ist schwierig, aber im Zusammenwirken aller Beteiligten lösbar, und dazu — ceterum censeo — gehört in erster Linie und zuvörderst der Ausgleich des öffentlichen Haushalts.
Nun hat der Kollege Möller bei dem Haushaltssicherungsgesetz zwei Punkte vorweggenommen. Er hat gesagt: Ich kann das Haushaltssicherungsgesetz nicht verabschieden, wenn ich den Haushalt von 1966 nicht kenne. Der Bundesfinanzminister hatheute morgen dazu erklärt — und ich schließe mich ihm in vollem Umfang an —, daß eine Voraussetzung für die Vorlage des Haushaltsplans zunächst einmal die Überlegung ist, wie dieser Haushalt gesichert werden soll. Es ist also umgekehrt: Wir müssen erst das Haushaltssicherungsgesetz verabschieden, damit dem Hohen Hause der Haushalt vorgelegt werden kann.Zum zweiten hat Herr Kollege Möller gesagt, daß wir hoffentlich am Anfang einer realistischen Finanzplanung stehen, aber wir müßten erst einmal sehen, wie das liefe; es sei kein guter Anfang.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage, es ist aber ein Anfang, und der Anfang muß einmal gemacht werden. Wir müssen zu einem Ausgleich des Haushalts kommen und sollten aufhören, uns gegenseitig der Schuld zu bezichtigen.Zu dem Haushaltssicherungsgesetz habe ich nun namens meiner Freunde der Bundesregierung folgendes zu sagen:1. Das von der Bundesregierung vorgeschlagene Haushaltsvolumen für 1966 in Höhe von 69,4 Milliarden DM stellt unserer Auffassung nach die äußerste Grenze dar, an die wir gehen können. Gegenüber 1965 bedeutet dies bekanntlich eine Steigerung von 8 1/2 %. Diese Steigerung wird durch die Entwicklung des Bruttosozialprodukts nicht getragen, weist doch dieses nur ein reales Wachstum von knapp 5 % auf. Wir bitten deshalb die Bundesregierung, gewissenhaft zu prüfen, ob noch weitere Einsparungsmaßnahmen an anderer Stelle möglich erscheinen. Um eine stärkere konjunkturdämpfende Wirkung des Bundeshaushalts zu erreichen, muß diese Frage bei den Haushaltsberatungen 1966 mitgeprüft und erörtert werden.
— Auch das Parlament muß es prüfen. Das Parlament hat die Kontrollfunktion. Aber die Regierung soll zunächst einmal Vorschläge machen, Herr Kollege Hofmann.2. Wir werden das Gesetz im Grundsatz und in toto annehmen. Manches an den Vorschlägen der Bundesregierung mißfällt uns und jedem — namentlich den Betroffenen. Dennoch — so meinen wir — müssen wir die Regierungsvorlage, so wie sie ist, im Grundsatz akzeptieren. Begännen wir uns nämlich auf ein Hin- und Herschaukeln verschiedener Positionen in diesem Ausgleichsprogramm — das Wort Sparprogramm wäre bei einem Etat von 70 Milliarden wohl etwas euphemistisch — einzulassen, so würde das die Wirksamkeit des genannten Programms gefährden, wenn nicht unmöglich machen. Meine Freunde und ich sind deshalb der Ansicht, daß das Regierungsprogramm zum Haushaltsausgleich, so wie es ist, im Grundsatz bejaht werden sollte.3. Gehen wir nicht diesen Weg — auch von drastischen Ausgabesenkungen oder jedenfalls von Verschiebungen auf spätere Etats, darüber muß man sich unterhalten; das war ein guter Anfang, kein schlechter —, bleibt nichts anderes übrig, als die
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Dr. PohleEinnahmen zu erhöhen. Meine Freunde und ich wissen, daß der Satz: die Ausgaben des Staates haben sich nach den Einnahmen zu richten, nur cum grano salis zu verstehen ist. Er gibt in einem geordneten Staatswesen nun einmal Anforderungen, die. um des Staatsbürgers willen unverzichtbar sind. Hierher rechnen die Ausgaben für die nationale Sicherheit, für die Sicherheitsbedürfnisse des Volkes, der Bundeswehr und Verteidigung, für den zivilen Schutz, für Kriegsopferrenten, Dauerlasten, die, wenn sie im erträglichen Rahmen gehalten werden, den Staat keineswegs zu einem Wohlfahrtsstaat machen. Dennoch gibt es Möglichkeiten, um über die Mehrausgaben zu wachen. Beschränken wir diese Ausgaben nicht, bleiben nur Steuererhöhungen auf breiter Front übrig.Ist es zur Zeit sinnvoll, aus Steuererhöhungen oder neuen Steuern früher vielleicht versprochene Forderungen und Förderungen zu erfüllen? Das würde nur eines Kreislauf bedeuten. Dabei bemerke ich, daß in der westlichen Welt unser Land bereits mit der höchsten Steuerbelastung dasteht. Die Unternehmen haben die niedrigsten Eigenkapitalanteile und den höchsten Verschuldungsgrad aufzuweisen. Steuererhöhungen würden also zu einem Kostenauftrieb führen; sie würden einen Druck auf das Preisniveau ausüben. Schon deshalb muß die Parole gelten: Sparen, die Ausgabenseite vornehmen und nicht auf die Einnahmenseite sehen.4. Wir sehen es als notwendig an, daß der Haushaltsausschuß des Hohen Hauses bei ausgabewirksamen Gesetzesanträgen verstärkt eingeschaltet wird. Wir behalten uns deshalb einen Antrag auf Erweiterung des § 96 der Geschäftsordnung vor, der diesen Gesichtspunkten Rechnung trägt. Weitere Überlegungen zur Schaffung schärferer Bremswirkungen bei der Beratung ausgabewirksamer Gesetze in diesem Hause sind im Gange; der Vorsitzende meiner Fraktion hat davon gesprochen.5. Wir sind uns darüber im klaren, daß die freien,d. h. nicht gesetzlich und vertraglich gebundenen Etatpositionen nur einen kleinen Teil des Gesamtbudgets darstellen. Dies kritisch zu untersuchen, wird Aufgabe einer längerfristigen Haushaltspolitik sein. Insofern sind wir gar nicht so weit auseinander. Wir haben mit Befriedigung vernommen, daß die Erwägungen hierüber — zumindest in Richtung auf ein Orientierungsbudget — recht weit gediehen sind. Das ist um so wichtiger, weil viele von den vorgeschlagenen Maßnahmen nur Verschiebungen in die nächsten Haushaltsjahre bedeuten. Dabei werden wir auch die Festlegung von Prioritäten im Auge behalten müssen, weil es ohne diese Festlegung ebensowenig wie ohne eine Durchforstung der Besitzstände von Subventionen geht, die vielleicht heute gar nicht mehr zeitgemäß sind.In der öffentlichen Finanzwirtschaft halten wir bekanntlich immer noch an dem Einjahresprinzip fest. Diese Regelung hatte einmal ihren Sinn. Der Einjahreszeitraum war bewußt festgelegt worden wegen des Zwanges zum Ausgleich des öffentlichen Haushalts. Seine Nachteile sind aber gerade in der letzten Zeit so eklatant geworden, daß wir ernsthaft längerfristige Programmierungen ins Auge fassen müssen. Seit jenen Jahren, in denen das kameralistische Einjahresprinzip in der Haushaltsordnung verankert wurde, bis heute hat sich die Welt in einem von niemand geahnten Umfange geändert, insbesondere wenn man die technischen und elektronischen Möglichkeiten berücksichtigt. Was damals richtig erschien, unterliegt heute ganz anderen Abläufen und Entwicklungen. Neben den Jahreshaushalt muß eine längerfristige Vorausschau treten. Das Problem ist besonders akut und dadurch natürlich auch kompliziert geworden, daß im Vertrag von Rom die Möglichkeit vorgesehen ist, daß Richtlinien und Entscheidungen auch auf dem Gebiet der Finanzpolitik ergehen können.In diesem Zusammenhang ein Hinweis. Im Jahre 1964 entfiel von dem Bruttosozialprodukt von 412 Milliarden DM auf die öffentliche Hand ein Anteil von 140 Milliarden DM. Hieran ist der Bund mit 63 Milliarden DM = 47,5 % beteiligt. Die Länder hatten einen Anteil von 34 Milliarden DM = 26 %. Dazu kommen noch die Gemeinden.Warum sage ich das? Ich sage das, weil es um die Bewegung unvorstellbar großer Finanzmassen ,geht. Deshalb bedarf es auf die Dauer einer gewissen gemeinsamen Finanzerwägung, d. h. ernsthafter Überlegungen dahin, wieweit alle Träger der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik sich miteinander koordinieren. Ich weiß, daß dies nichts Neues ist, aber wir sollten uns wirklich vornehmen, in dieser Legislaturperiode an dieses Problem mit einem gewissen Elan heranzugehen.6. Je besser das Vorbild ist, das der Bund gibt, desto besser wird sich das auf die übrigen Gebietskörperschaften auswirken, um auch sie zu einer konjunkturneutralen und einer antizyklischen Finanzpolitik zu bewegen. Vier Bundesländer haben schon ihre Haushaltsentwürfe vorgelegt. Bei allen Bundesländern, also auch jenen, die von der Opposition geführt werden, liegen die Ansätze für die Haushalte 1966 mehr als 10 % höher als 1965. Damit übertreffen die Ausgaben auch den für 1966 erwarteten gesamten Steuerzuwachs der Länder in Höhe von 9 %. Die Schließung der Deckungslücke wird mit Sicherheit durch eine höhere Verschuldung gesucht werden. Niedersachsen hat sich bereits — wir halben es schon gehört — wegen seiner derzeitigen Haushaltslage gezwungen gesehen, sogar um eine Bundeshilfe nachzusuchen.In den ersten zehn Monaten dieses Jahres haben Bund und Länder 3,5 Milliarden DM mehr ausgegeben, als sie eingenommen haben. Der öffentliche Haushalt hat sich 1965 nicht nur antizyklisch - verhalten, sondern im Gegenteil noch das Seine dazu beigetragen, die bereits vorhandene Übernachfrage zu vergrößern. Deshalb muß 1966 nicht nur das Wachstum der öffentlichen Ausgaben verlangsamt, sondern auch die Verschuldunggedrosselt werden. Auch die Länder und Gemeinden werden sich bemühen müssen, ihren Kapitalbedarf in Übereinstimmung mit der inländischen Kapitalbildunig zu bringen.7. Hierzu gesellt sich ein zweites Problem, das der Koordinierung der Finanzautonomie von 25 000
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Dr. PohleGebietskörperschaften untereinander. Dieses Problem kann durch eine umfassende Finanzreform — wir haben gehört, daß eine Vorlage in Aussicht steht — einer Lösung nähergebracht werden. Aber schon vorher kann einiges dazu getan werden, z. B. die gemeinschaftliche Bildung von Dringlichkeitsskalen für die einzelnen Ausgabekategorien. Ich erwähne in diesem Zusammenhang auch das vom Herrn Bundeskanzler erneut genannte Deutsche Gemeinschaftswerk, einen Gedanken, der schon deshalb ernster Prüfung wert ist, weil es als fiskalpolitisches Instrument in Zeiten konjunkturellen und inflatorischen Überdrucks angewandt werden könnte.8. Zwischen einer Reform der Finanzpolitik zur Verbesserung ihrer konjunkturpolitischen Wirksamkeit und der monetären Politik besteht ein Zusammenhang. Auch wenn wir eine noch so gute konjunkturwirksame Finanzpolitik erreichten, die Bund, Länder und Gemeinden gleichzeitig umfaßte, könnten wir damit noch nicht Störungen der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage mit Erfolg abwehren, die wir vor anterthalb Jahren unter dem Schlagwort „importierte Inflation" hatten, von der Herr Kollege Schiller gesprochen hat. Auch der Kollege Schiller wird anerkennen müssen, daß die „hausgemachte Inflation" in irgendeiner Form einer Lösung zugeführt werden muß. Er hat leider keine Lösungen genannt; ich habe jedenfalls keine gehört. Die Initialzündung für die seit einiger Zeit zum Teil überschäumenden Auftriebskräfte würde gerade das Zusammenwirken zwischen monetärer Politik und Finanzpolitik zu bilden haben. Die veränderte Zahlungsbilanzsituation halbe ich erwähnt. Aber, meine Damen und Herren, sie kann sich auch sehr schnell wieder nach der anderen Seite drehen.9. Auch das Haushaltsjahr 1967 und die nächstfolgenden Jahre sind von den gleichen Gefahren bedroht wie der Haushalt 1966, zumal es sich zum großen Teil bei diesem Ausgleich nur, wie ich sagte, um aufschiebende Sparmaßnahmen handelt und 1967 entscheidende zusätzliche Belastungen aus der Rentenversicherung abzusehen sind. Unter diesem Aspekt gewinnen gerade längerfristige Maßnahmen erhöhte Bedeutung.Meine Damen und Herren, da die Regierungserklärung in den Mittelpunkt ihrer Erwägungen den Ausgleich des Haushalts durch die verschiedenen von dem Herrn Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vorgetragenen Maßnahmen gerückt hat, haben wir bei der Aussprache über diese Regierungserklärung hier zum Ausdruck zu bringen, daß wir uns rückhaltlos hinter diesen Teil des Regierungsprogramms stellen und daß wir das Haushaltssicherungsgesetz, so wie die Regierung es hier eingebracht hat, in toto und im Grundsatz anzunehmen wünschen.. Wir machen die Haushaltspolitik der deutschen Bundesregierung, so wie sie sich jetzt hier abzeichnet, als guten und nicht als schlechten Anfang, Herr Kollege Möller, zu unserer eigenen Sache. Damit dienen wir am besten der Gemeinschaft; denn diese Gemeinschaft, meine Damen und Herren — um ein Wort von Ihnen, Herr Kollege Schiller abzuwandeln, nämlich jenes Wort, in demSie von den unverzichtbaren, Mittlerstellen der Interessenverbände gesprochen haben —, besteht nicht aus der Summe der Interessen, sondern aus der Summe der Wohlmeinenden, die sich den Aufgaben des Staates hier in diesem Hause zur Verfügung stellen.
Als letztem Redner des heutigen Tages erteile ich Herrn Abgeordneten Horten das Wort.
— Wenn die Herren Fraktionsgeschäftsführer sich nicht einigen können und mir hier oben keine Nachricht zukommen lassen, dann verfahre ich nach dem Stand der vorherigen Gespräche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als einer der 141 neuen Abgeordneten, die Sie, Herr Professor Schiller, gestern so freundlich apostrophiert haben, bitte ich Sie, mir eine kurze Bemerkung zu einem wichtigen Punkt der gestrigen Debatte zu gestatten. Daß der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die Ausdehnung der qualifizierten Montan-Mitbestimmung aus grundsätzlichen, rechtlichen und volkswirtschaftlichen Erwägungen ablehnt, hat Herr Erler als eine einseitig gegen die Interessen der Arbeitnehmer gerichtete Haltung charakterisiert. Ich habe Verständnis dafür, daß er aus seiner Tradition heraus versucht ist, gesellschaftspolitische Probleme nur oder wenigstens in erster Linie aus der Vorstellung eines angeblich unauflösbaren Gegensatzes zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern anzusehen.Wir in der Union, einer alle Teile umfassenden Volkspartei haben diesen Standpunkt überwunden und an seine Stelle den großen, in die Zukunft weisenden Gedanken einer echten und ehrlichen Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gesetzt.
— Ja.
Aus diesem großen Gedanken der Partnerschaft ist das Betriebsverfassungsgesetz entstanden, das leider wie viele richtungweisende Sozialgesetze gegen Ihren Widerstand durchgesetzt werden mußte.Dieses Gesetz ist in seinen vollen Möglichkeiten bis heute noch gar nicht ausgeschöpft. Das liegt nicht am Gesetzgeber, sondern einfach daran, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine gewisse Zeit brauchen, um sich an diese Neuregelung ihres gegenseitigen Verhältnisses zu gewöhnen und bis diese moderne Gestaltung in allen Betrieben — denken Sie an die Differenziertheit nach Branchen und Größen — Wirklichkeit geworden ist. Die Feststellung des Bundeskanzlers, daß das Betriebs-
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Hortenverfassungsgesetz eine in der ganzen Welt als vorbildlich anerkannte Regelung der Mitwirkung des Arbeiters am Schicksal des Unternehmens darstellt, müßte und sollte ein Appell sein an alle, die es angeht, nun auch kräftig daran mitzuwirken, daß die großen Chancen dieses neuen Gesetzes voll ausgenutzt werden mit dem Ziel, daß die Arbeitnehmer immer mehr und immer schneller zu voll anerkannten, verantwortlichen Mitarbeitern -werden, also zu ehrlichen Partnern.Daß Herr Erler die Ausdehnung der qualifizierten Montan-Mitbestimmung, die der Bundeskanzler abgelehnt hat, ohne weiteres mit den Interessen der Arbeitnehmer identifiziert, zeigt, daß er die volle Problematik dieser sehr komplexen Frage entweder nicht voll überblickt oder vielleicht davon ablenken will, daß in seinem eigenen Lager die Meinungen darüber sehr geteilt sind.
„Wer den Gewerkschaften die Kontrolle der Wirtschaft geben will, der macht sie zu einem öffentlichen Organ. Das führt zu einem Gewerkschaftsstaat, der mit echter, freier Demokratie, zu der wir uns bekennen, nichts zu tun hat." Das ist keine Formulierung von mir, sondern ein Zitat. Die Sätze kamen aus dem Munde Ihres Parteifreundes, des mir persönlich bekannten und von mir hochgeschätzten, leider viel zu früh verstorbenen Heinrich Deist auf dem Stuttgarter Parteitag. Deist hat also sehr klar erkannt, welch enger Zusammenhang zwischen echter Demokratie und freiheitlicher Wirtschafts- und Unternehmensverfassung besteht. Daraus . geht hervor, daß es sich bei der jetzt in Gang befindlichen Auseinandersetzung darüber, wie die Mitbestimmung in der richtigen Form und im richtigen Ausmaß zweckmäßig durchgeführt wird, nicht um das Verfechten einseitiger Interessen gegen die Arbeitnehmer handelt, sondern um eine Lebensfrage unserer Demokratie.Herr Professor Schiller, ich glaube, Sie stimmen mit mir darin überein, daß es dem von Ihnen geforderten neuen Stil des Parlaments, zu dem Sie gestern aufgefordert haben, entspräche, wenn wir über dieses außerordentlich bedeutungsvolle Problem nicht mit Schlagworten polemisierten, sondern zu einem echten, vorurteilsfreien Dialog kämen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit für heute am Ende. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, 9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.