Gesamtes Protokol
Einen wunderschönen, sonnigen guten Morgen! DieSitzung ist eröffnet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungDeutsche NachhaltigkeitsstrategieNeuauflage 2016Drucksache 18/10910Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss Digitale AgendaWir waren uns nicht ganz sicher, ob die Bundesregie-rung es schaffen würde, in ihrer gesamten Zusammenset-zung rechtzeitig hier vertreten zu sein . Aber wie immerhat sie das rechtzeitig geschafft.Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt ein Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke vor .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Darüber be-steht allgemeines Einverständnis . Dann ist das so be-schlossen .Ich eröffne die Aussprache und erteile zu Beginn dasWort Herrn Bundesminister Peter Altmaier für die Bun-desregierung .
Peter Altmaier, Bundesminister für besondere Auf-gaben:Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es wird oft darüber diskutiert, nicht nur in Deutschland,inwieweit der Umweltschutz, insbesondere der Klima-schutz, und die Wirtschaft im Wettbewerb miteinanderoder im Gegensatz zueinander stehen . Nachhaltigkeit –darüber reden wir heute – ist natürlich weit mehr alsNachhaltigkeit in der Umwelt- und Klimaschutzpolitik .Eines möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen:Wir werden die Wachstums- und Wohlstandspotenzialedieses Planeten nur dann ökologisch verträglich hebenkönnen, wenn es uns gelingt, diesen vermeintlichen Ge-gensatz aufzuheben, wenn es uns gelingt, das Klima sozu schützen und die Ressourcen so effizient zu nutzen,dass Wachstum auch in Zukunft umweltverträglich mög-lich ist .
„Für uns ist die Förderung einer nachhaltigen Ent-wicklung grundlegendes Ziel und Maßstab des Regie-rungshandelns .“ – das steht im Koalitionsvertrag von2013 . Man kann darüber diskutieren, ob es an der einenoder anderen Stelle vielleicht eines deutlicheren Akzen-tes bedurft hätte; aber wir haben die Nachhaltigkeit alsBundesregierung und als Parlament in diesen vier Jah-ren gemeinsam vorangebracht . Deshalb bin ich an die-ser Stelle zunächst einmal dem Parlamentarischen Bei-rat für nachhaltige Entwicklung zu nachhaltigem Dankverpflichtet. Wir haben quer über alle Parteigrenzen hin-weg mit allen Mitgliedern dieses Beirates eine gute undfruchtbare Zusammenarbeit gepflegt. Ich habe mich sehrdafür eingesetzt, gleich zu Beginn dieser Wahlperiodedie Sitzungen des Staatssekretärsausschusses für nach-haltige Entwicklung für die Parlamentarier zu öffnen. Ichkann mich an keinen Punkt erinnern, wo wir uns gegen-seitig behindert oder bekämpft hätten . Das können wiruns auch nicht leisten .Wir haben im Januar in der Bundesregierung eineneue Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen, diewesentlich auf der Agenda 2030 für nachhaltige Ent-wicklung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2015basiert . Das Jahr 2015 war ein gutes Jahr für die Nach-haltigkeit und ein gutes Jahr für den Klimaschutz . Eswaren die Verabschiedung dieser Agenda 2030 und der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723080
(C)
(D)
Erfolg der Pariser Klimakonferenz, die vielen Menschenin Deutschland Hoffnung gegeben haben, dass auch The-men wie Nachhaltigkeit nicht von der politischen Agen-da verschwinden . Im Gegenteil: Die Agenda 2030 warein großer Erfolg, und sie zeigt, dass ein globaler Schul-terschluss bei zentralen Herausforderungen unserer Zeitnach wie vor möglich ist .Die Verankerung des Prinzips der nachhaltigen Ent-wicklung als Leitprinzip in allen Politikbereichen istgerade in weltpolitisch schwierigen Zeiten kein Luxus,sondern pure Notwendigkeit . Wir arbeiten auch im Rah-men der G 20 – dort tragen wir in diesem Jahr eine beson-dere Verantwortung – an engagierten Festlegungen derführenden Industrie- und Schwellenländer für die Um-setzung der Agenda 2030 . Das ist nicht immer einfach;das sieht man daran, wie sich einzelne Akteure aus demBereich der G 20 positionieren und auch auf nationalerEbene um ihren Kurs ringen .Auch die Europäische Union muss mehr tun . DieEuropäische Union hatte sich mit Nachdruck für eineehrgeizige Agenda 2030 eingesetzt . Sie sollte jetzt eineVorreiterrolle bei der internationalen Umsetzung über-nehmen . Wir brauchen eine systematische, glaubwürdigeund ambitionierte Herangehensweise . Ein neuer strategi-scher Rahmen auf EU-Ebene ist erforderlich . In diesemSinne werben wir gegenüber der Europäischen Kommis-sion .Wir erwarten auch, dass sich die Vereinten Nationenstärker an der Erreichung der globalen Nachhaltigkeits-ziele, der sogenannten berühmten SDGs, ausrichten . Esist gut, dass der neue Generalsekretär António Guterresseine Stellvertreterin Amina Mohammed mit der Umset-zung der Agenda 2030 betraut hat . Dies ist ein wichtigespolitisches Signal . Wir erwarten nun mit großem Interes-se die Vorschläge zu mehr Effizienz und Koordination imVN-System und sind bereit, den Generalsekretär tatkräf-tig zu unterstützen .
Die internationale Glaubwürdigkeit macht sich auchdaran fest, wie wir als Vorreiter im Bereich der Nach-haltigkeit bei uns mit den Herausforderungen umgehen .Genau dazu dient die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie .Wir haben sie in einem beispiellosen Dialogprozess mitLändern und Kommunen, mit Partnern aus Wirtschaft,Wissenschaft und Zivilgesellschaft erarbeitet . Ich möch-te allen danken, die hieran engagiert mitgearbeitet haben .Diese Agenda war ein erster wichtiger Schritt zur Umset-zung der Agenda 2030 in, durch und mit Deutschland; siebildet den Rahmen für unsere künftigen Aktivitäten . Des-halb war es notwendig, dass wir die Verbreiterung derStrategie auf die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklungder Vereinten Nationen und der Agenda vorgenommenhaben . Sie bilden die neue Struktur für unser Nachhaltig-keitsmanagement, das künftig 63 Indikatoren umfassenwird . Ich weiß, dass darüber lange diskutiert worden istund die Auswahl der 63 Indikatoren teilweise umstrittenwar . Neu sind zum Beispiel Themen wie Armut und Un-gleichheit, nachhaltiger Konsum und nachhaltige Pro-duktion .Außerdem werden wir die internationale Wirkung un-seres Handelns stärker einbeziehen . Wir hatten uns alserstes Land bereit erklärt, vor dem Hochrangigen Poli-tischen Forum der Vereinten Nationen über den laufen-den Prozess zu berichten . Im Zusammenhang mit demBericht 2016 ist dies geschehen . An den Reaktionen ha-ben wir feststellen können, dass Deutschland eine hoheExpertise und eine hohe Glaubwürdigkeit bei allen Nach-haltigkeitsthemen beigemessen wird . Dies ist eine guteAusgangsbasis, insbesondere im internationalen Ver-gleich . An Deutschland wird sichtbar, dass man eine gutewirtschaftliche Situation, ein hohes Umweltschutzniveauund ein hohes Maß an sozialem Zusammenhalt mit einemklaren Bekenntnis zur Nachhaltigkeit vereinbaren kann .
Ebenfalls ist positiv, dass wir für die Umsetzung derAgenda 2030 an bewährte Strukturen und Strategien an-knüpfen können, die auch in anderen Ländern als Vorbildangesehen werden . Wir sind gerne bereit, denjenigen, diesich dafür interessieren, die Art und Weise, wie wir imBereich der Nachhaltigkeit arbeiten, stärker und besserzu erklären . Ich habe den Staatssekretärsausschuss unddie Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlamentari-schen Beirat für nachhaltige Entwicklung erwähnt . Beider Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Gruppen,wenn sie zum Beispiel Ressortvorschläge prüfen, wennwir mit ihnen darüber diskutieren, haben wir es geschafft,Synergien zu erzeugen und insgesamt besser zu sein, alswir es einzeln jeweils sein können . Es ist wichtig, dasswir in Deutschland auch die Bundesländer und die Kom-munen stärker in diesen Prozess einbeziehen . Inzwischenhaben 13 Bundesländer eigene Nachhaltigkeitsstrategi-en . Wir werben dafür, dass sich in der nächsten Zeit alleBundesländer zur Erarbeitung eigener Nachhaltigkeits-strategien verpflichten.Die neue Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zeigt Er-folge in Politikfeldern wie Bildung, erneuerbare Energi-en oder Staatsverschuldung . Die unabhängige Analysedes Statistischen Bundesamts zeigt hierbei als Symboleine Sonne . Es gibt allerdings noch viele Aufgaben, beidenen auch wir besser werden müssen . Deshalb gibt esauch einige Indikatoren, die auf „Wolke“ oder auf „Ge-witter“ stehen . Darüber wird es eine Debatte geben müs-sen . Die Indikatoren sollen dazu beitragen, diese Debat-ten zu ermöglichen .
– Eisregen gab es am Wahlabend im Saarland für dieeine oder andere Partei, die das nicht erwartet und keinenSchirm dabei hatte .
Aber das hat mit Nachhaltigkeit weniger zu tun .Wir tun gut daran, dass wir auch dort, wo die Indi-katoren eine Wolke oder ein Gewitter zeigen, uns klar-machen, dass wir Nachholbedarf im nationalen Bereichhaben, unabhängig davon, dass wir auch in diesen Be-reichen oftmals viel besser als manche andere sind, mitdenen wir im internationalen Wettbewerb stehen .Bundesminister Peter Altmaier
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23081
(C)
(D)
Wir sollten Zielkonflikte deutlicher benennen und of-fen debattieren . Wenn der Preis mit Blick auf den Kon-sum auch langfristige Umweltentwicklungen und die so-ziale Seite widerspiegelt, ist manches Produkt vielleichtetwas teurer als ein Produkt, bei dem die Umweltkostenexternalisiert werden, die Ressourceneffizienz keine Rol-le spielt . Dennoch gibt es viele Bürgerinnen und Bürger –davon bin ich überzeugt –, die bereit sind, für eine richtigverstandene Nachhaltigkeit an der einen oder anderenStelle einen etwas höheren Preis zu bezahlen . Deshalbmüssen wir Transparenz in dieser Hinsicht herstellen .Die Bundesregierung hat im Rahmen der Vergaberechts-reform die Möglichkeiten verbessert, Nachhaltigkeitsge-sichtspunkte auch bei der öffentlichen Beschaffung stär-ker zu berücksichtigen .
Wir können an dieser Stelle nicht darauf verzichten, die-ses Signal zu senden .Herausforderung für die Strategie der Bundesregie-rung bleiben die Verbesserung der Politikkohärenz unddie stärkere Einbeziehung der gesellschaftlichen Ak-teure . Deshalb haben wir eine Wissenschaftsplattformeingerichtet, die vom BMBF gemeinsam mit dem Bun-desumweltministerium und dem Ministerium für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung betriebenwird . Wir werden künftig jährlich ein Forum zur Nach-haltigkeit organisieren, und in allen Ressorts werdenKoordinatoren für die nachhaltige Entwicklung benannt .Das ist ein Wunsch unter anderem aus dem Parlamentari-schen Beirat, den wir gerne aufgegriffen haben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, nachhalti-ge Politik und Nachhaltigkeitsthemen haben es schwererals andere Umweltthemen, als Klimaschutzthemen oderThemen, die uns auf den Nägeln brennen, weil oftmalsdie Folgen verfehlter Nachhaltigkeit nicht hier und heute,nicht in der nächsten Woche und nicht im nächsten Mo-nat sichtbar werden, sondern in 10, 20 oder 30 Jahren,wenn es für eine Korrektur oder für ein Gegensteuernzu spät ist . Deshalb glaube ich, dass wir eine große Ver-antwortung und ein gemeinsames Interesse daran haben,dass auch in Konkurrenz zu vielen anderen wichtigenThemen das Nachhaltigkeitsthema von Bundestag undBundesregierung immer wieder in angemessener Weisein die politische Debatte eingebracht wird . Wir als Bun-desregierung sind dazu bereit und bieten Ihnen unsereZusammenarbeit an .Vielen Dank .
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Katja Kipping .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächstmöchte ich dem Parlamentarischen Beirat für nachhalti-ge Entwicklung danken, dass er diese Debatte angescho-ben hat .
Angesichts des Klimawandels sowie der Armut weltweitund hierzulande wäre eine wirkliche Nachhaltigkeitsstra-tegie angebracht . Leider wird das, was die schwarz-roteBundesregierung vorgelegt hat, diesem Anspruch nichtgerecht . Das ist blamabel .
Aus Zeitgründen kann ich das nur an zwei Punk-ten verdeutlichen . Nehmen wir den Klimaschutz . DerUN-Klimareport kommt zu dem Ergebnis, dass in Bäldein Afrika bis zu 200 Millionen Menschen von akuter Dür-re und Trinkwassermangel bedroht sind . Der Teilnehmereiner Klimaschutzkonferenz brachte die Situation wiefolgt sehr plastisch auf den Punkt: Wenn meine Heimatein Backofen wird, was glauben Sie, dass ich dann ma-che? Glauben Sie, dass ich hier sitze, bis ich verdurstetbin? Natürlich nicht! – Das heißt also: Der Klimawandelwird zu einem extremen Migrationsdruck führen . Klima-wandel und Umweltzerstörung werden die Fluchtursa-che Nummer eins der Zukunft werden . Deswegen sindKlimagerechtigkeit und Klimaschutz zutiefst Fragen derglobalen Gerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit,die wir mit aller Entschiedenheit angehen müssen .
Der CO2-Ausstoß muss reduziert werden . Dieses Zielerreichen wir aber nicht durch das Bedrucken von ge-duldigem Papier . Dieses Ziel werden wir nur erreichen,wenn wir eine Verkehrswende einleiten . Wir brauchenweniger Verkehr auf der Straße und eine Umverlagerungzu umweltfreundlichen Verkehrsträgern, bis hin dazu,dass wir unnötigen Verkehr vermeiden . Wir müssen auchdie Energiewende in Angriff nehmen. Wir müssen hin zurNutzung erneuerbarer Energien, und wir brauchen dezen-trale Formen der Energieversorgung . Nur wenn uns dasgelingt, werden wir auch den CO2-Ausstoß reduzieren .
Zu einer nachhaltigen Entwicklung gehört auch derentschiedene Kampf gegen Armut . Schauen wir uns ein-mal die Ziele, die sich die schwarz-rote Bundesregierungda vornimmt, an – das habe nicht ich mir ausgedacht,sondern in Ihrer Liste stehen dazu zwei kleine Punk-te –: Im Hinblick auf den Kampf gegen materielle Un-terversorgung sagt die Bundesregierung, ihr Ziel sei, dieentsprechenden Zahlen hierzulande deutlich unter demDurchschnitt der EU 28 zu halten . Im Klartext heißt das:Schwarz-Rot reicht es, wenn es im Durchschnitt der ge-samten EU den anderen schlechter geht .Ja, was soll das denn, bitte schön, den Menschen, diehierzulande von Armut betroffen sind, sagen? Der Rent-nerin, die nach einem langen Arbeitsleben mit 800 Euroim Monat über die Runden kommen muss, sagen SieBundesminister Peter Altmaier
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723082
(C)
(D)
also: „Alles super! Im EU-Durchschnitt geht es anderennoch schlechter!“? Sagen Sie einem Kind, das in einerHartz-IV-Familie lebt, das aus den Turnschuhen heraus-gewachsen ist und dessen Eltern sich die neuen Turn-schuhe vom Munde absparen müssen: „Stell dich nichtso an! Im Durchschnitt der EU 28 sieht es noch schlim-mer aus!“? Was für eine beschämende Kapitulation vorder Armut!
Ich meine, eine Gesellschaft, in der alle vor Armutgeschützt sind, ist möglich . Wir Linke wollen uns nichtdamit abfinden, dass auch nur ein Kind hierzulande inArmut aufwachsen muss . Deswegen kämpfen wir füreine Gesellschaft, in der jedes Kind einen guten Start insLeben hat .
Übrigens: Auch wenn es um den Kampf gegen Un-gleichheit geht, sind Ihre Ziele von beredter Bescheiden-heit . Auch da reicht es Ihnen, wenn es den anderen imDurchschnitt schlechter geht .Ich fasse zusammen: In der vorliegenden Nachhaltig-keitsstrategie der Bundesregierung stehen schöne Sätzeund schöne Metaphern zur Problembeschreibung; daskann man nicht leugnen . Aber wenn es um Lösungengeht, dann werden Sie auffällig kleinlaut. Kurzum: Gehtes um eine Lösung der großen Menschheitsaufgaben –Klimaschutz und Kampf gegen Armut –, wird man vondieser Regierung nichts erwarten können . Ich aber meinebzw . die Linke meint, der Klimaschutz und der Kampfgegen Armut müssen mit aller Entschiedenheit angegan-gen werden . Deswegen streiten wir voller Energie füreine sozialökologische Gerechtigkeitswende .Vielen Dank .
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentari-
sche Staatssekretär Florian Pronold das Wort .
Fl
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-be Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn wir unterstel-len, dass es im Jahr 2050 9 Milliarden Menschen aufder Welt geben wird, und wenn die Entwicklung anhält,dass ein Zuzug in die Städte stattfindet, wie derzeit welt-weit zu beobachten ist, dann wird in Zukunft weltweiteine ganze Menge zusätzlicher Wohnraum gebaut . Wenndie bisherige Entwicklung bis 2050 fortschreitet, sind40 Prozent unseres CO2-Kontos schon allein durch denStädtebau aufgebraucht . Es hat noch keine Kuh ihrenVerdauungsvorgang abgeschlossen, und es ist noch keinAuto gefahren, und schon sind allein durch die Stadt-entwicklung 40 Prozent der CO2-Belastungen bis zumJahr 2050 vorherbestimmt .Vor diesem Hintergrund müssen wir unsere Nachhal-tigkeitsziele auch durch eine andere Art und Weise desBauens verfolgen . Betrachtet man die bestehenden Ziel-konflikte, so zeigt sich, wie wir Nachhaltigkeit definieren.Wir müssen beim Bauen viel mehr als bisher nachwach-sende Rohstoffe verwenden, nicht nur in Deutschland,sondern auch weltweit .
hier ein Fortbildungsseminar?)Für das Umwelt- und Bauministerium bezieht sichNachhaltigkeit aber nicht nur auf Klimaschutz, sondernauch auf Umweltgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit .Frau Kollegin Kipping, es hätte geholfen, die Nachhal-tigkeitsstrategie besser zu lesen, statt nur der eigenenPropaganda zu glauben .
Eines der zentralen Entwicklungsziele, um Armutzu bekämpfen, ist in Ziel 11 der Nachhaltigkeitsstrate-gie festgelegt: eine nachhaltige Stadtentwicklung . Dageht es auch um die Frage von Armutsbekämpfung . DerAnteil der Menschen in Deutschland und weltweit, diemehr als 40 Prozent ihres Einkommens für Wohnen aus-geben müssen, nimmt zu, und zwar dramatisch . DieserEntwicklung muss man entgegenwirken, und das tunwir auch . Wir haben zum Beispiel die Mittel für die so-ziale Wohnraumförderung verdreifacht, wir haben dieMietpreisbremse eingeführt, wir haben die Erhebungder Mak lergebühren geregelt, wir haben die Städtebau-förderung mehr als verdoppelt, um hier ganz aktiv etwaszu tun . Der Kampf gegen Armut und für Nachhaltigkeitwird nur erfolgreich sein, wenn es national wie internati-onal gelingt, den Schutz der planetaren Grenzen als Zielmit der sozialen Gerechtigkeit und der nachhaltigen wirt-schaftlichen Entwicklung zusammenzubringen . Das istdie Grundvoraussetzung für Nachhaltigkeit .
Da gibt es Zielkonflikte; das berücksichtigen wir alltäg-lich in den Debatten, die wir führen, und bei der Neuaus-richtung von Zielen .
– Herr Krischer, Sie rufen immer gerne dazwischen; da-für sind Sie ja bekannt . Das ist aber nicht nachhaltig .
Zwischenrufe sind nicht nachhaltig . Wenn Sie eine Fragehaben, melden Sie sich; ich beantworte sie gerne .Ich glaube, man muss auf die Zielkonflikte aufmerk-sam machen und sie in diesem Hause auch diskutieren .Wenn wir den Klimaschutz im Gebäudebereich voran-bringen wollen, dann muss es uns gleichzeitig gelingen,dass Wohnraum für die Menschen bezahlbar bleibt .
Katja Kipping
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23083
(C)
(D)
Wir dürfen eben nicht zulassen, dass nur diejenigen miteinem großen Geldbeutel in energetisch sanierten Woh-nungen leben können . So werden wir die Klimazielenicht erreichen . Darum ist es so wichtig, darüber nach-zudenken, wie man einen Quartieransatz hinbekommt,also nicht mehr nur das einzelne Gebäude betrachtet,sondern Lösungen für ganze Quartiere findet. Hier mussman neue Wege finden, um CO2-Ziele und die Frage dersozialen Gerechtigkeit zusammenzubringen .Die Nachhaltigkeitsstrategie wird nur Erfolg ha-ben, wenn alle mitmachen, auch die Zivilgesellschaft .Deutschland kann, wie in vielen Fällen, mit gutem Bei-spiel vorangehen; aber es muss deutlich werden, dassNachhaltigkeit für die gesamte Gesellschaft, für unserenPlaneten als Ganzes gelten muss. Der Begriff „Nach-haltigkeit“ wurde in der Forstwirtschaft geprägt; daherkommt dieser Begriff. Heute wissen wir, dass die pla-netaren Grenzen sehr schnell erreicht sind . Wir werdendie planetaren Grenzen gerade in ökologischer Hinsichtnicht schützen können, wenn es uns nicht auch gelingt,Ungerechtigkeit und Armut auf der Welt zu bekämpfen .Das müssen wir zusammenbringen; nur das ist nachhal-tig . Die Bundesregierung hat viele gute Beispiele in die-sem Bereich gebracht und die Zielkonflikte benannt.Ich möchte mich dem Dank an den Nachhaltigkeits-beirat anschließen . Ich glaube, es ist wichtig, dass nichtnur Parlament und Regierung handeln . Letztlich kommtes auf das Handeln der gesamten Gesellschaft an . Nurdann wird es uns gelingen, neben der Nachhaltigkeitsde-batte auch die „Macht-Frage“ zu stellen: Wer macht was,wer setzt was um?
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!In Somalia, im Südsudan, in Nigeria, im Jemen sind20 Millionen Menschen, darunter sehr viele Kinder, voneiner akuten Hungersnot bedroht . Wir nehmen das jedenTag in den Zeitungen, in den Fernsehnachrichten wahr .Die Vereinten Nationen schätzen, dass für die kommen-den sechs Monate 4 Milliarden Euro notwendig sind, umdas schlimmste Leid zu lindern . Aber gerade einmal einZehntel dieser Summe ist zugesagt . Wenn wir heute überNachhaltigkeitsziele reden, müssen wir auch über diese20 Millionen Menschen reden .
Sie stehen symptomatisch für die Frage, ob wir die Pro-bleme an der Wurzel angehen oder ob wir weiter abwar-ten .Der Hunger allein in diesen vier Ländern wurde durchStaatsverfall, durch Krieg, durch Korruption hervorgeru-fen und hat sich – Herr Altmaier hat ganz allgemein da-rauf hingewiesen – durch die Klimakrise verschlimmert .Wir kennen das aus Syrien . Wir wissen: Hungerkrise undKlimakrise sind zwei der größten Herausforderungen,vor denen wir heute stehen, und führen zu immer mehrFluchtbewegungen; Frau Kipping hat das bereits gesagt .Ich frage Sie heute Morgen: Warum ist die Bundesregie-rung nicht bereit, wenigstens jetzt sofort die Zusage zumachen, Mittel in Höhe von 1 Milliarde Euro bereitzu-stellen, um das Schlimmste zu verhindern und die größteNot zu lindern? Das wäre eine Aussage, die wir heuteMorgen hier treffen könnten, meine Damen und Herren.
Das wäre Prävention . Im Übrigen könnten Sie HerrnTrump zugleich zeigen, was Humanität bedeutet .Nachhaltigkeit, was heißt das eigentlich? Ganz ein-fach: Wir verbrauchen nur so viele Ressourcen, wie unsohne Raubbau zur Verfügung gestellt werden . Nachhal-tigkeit heißt, dass unser Wohlstand nicht auf Kosten un-serer Kinder bzw . auf Kosten zukünftiger Generationen,auf Kosten der Natur und der Lebenschancen in anderenTeilen der Welt gehen darf .
Herr Altmaier, Sie haben 2015 gesagt: „Es geht um nichtweniger als alles .“ – Ich stimme Ihnen zu . Ich habe aller-dings nicht den Eindruck, dass dieser Impetus, dass dieseEnergie von der Umsetzung dieser Strategie ausgeht, diediese Bundesregierung verfolgt .
Wir müssen die Luftverschmutzung verringern, wirmüssen dafür sorgen, dass das Essen anständig und ge-sund produziert wird, dass unser Wasser sauber ist, dassNatur und Lebewesen in ihren Arten erhalten bleiben,nicht weil es jemand in der weiten Welt von uns verlan-gen würde, sondern weil wir es uns selber schuldig sindund weil es notwendig ist . Aber was tun Sie? Ich will inder Kürze der Zeit nur zwei Beispiele nennen: den Was-serschutz und die CO2-Emissionen . Aber zuvor: Wennes mit dem Klimaschutz so dringlich ist, wie Sie, HerrAltmaier, eben gesagt haben, dann wundert mich schon,dass genau an dem Tag, an dem Donald Trump die Kli-maschutzpläne vom Tisch gewischt hat, das Thema Kli-maschutz es noch nicht einmal auf die Tagesordnungdes Koalitionsausschusses geschafft hat, wobei ich nichtweiß, wie viele Punkte auf der Agenda stehen, auf diesich der Ausschuss sowieso nicht einigen kann . Dring-lichkeit geht anders, Herr Altmaier!
Lassen Sie mich aber zu den genannten Beispielenkommen, zunächst zum Wasserschutz . Wenn Sie aufder einen Seite sagen, das sei ein zentrales Ziel, dannmüssen Sie doch auf der anderen Seite mit echten Auf-lagen dafür sorgen, dass die Gülle auf unseren Feldernvon Schleswig bis Passau nicht weiterdampfen darf, umdann in unserem Wasser zu landen, im Grundwasser undim Trinkwasser, und die Meere zu verschmutzen . Wenndie Grünen in den Ländern nicht wenigstens etwas getanParl. Staatssekretär Florian Pronold
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723084
(C)
(D)
hätten, wäre in diesem Bereich überhaupt nichts passiert .Sie beteiligen sich daran, die Meere in diesem Land zuMüllkippen zu machen . Das kann man nicht zulassen;das darf man nicht zulassen . Das ist alles andere als nach-haltig, meine Damen und Herren .
Zu Recht wurde auf dem G-7-Gipfel in Elmau darü-ber geredet, dass die CO2-Emissionen sinken müssen .Sie haben gesagt, das brenne Ihnen auf den Nägeln . Ichmerke davon nichts .
In Deutschland steigen die CO2-Emissionen wieder . Washaben Sie dazu gesagt? Sie haben gesagt, man müssejetzt europäisch an die Sache herangehen . – Ja, das mussman; man muss es sogar global angehen . Das heißt abernicht, dass man sich auf nationaler Ebene zurücklehntund gar nichts mehr unternimmt, so wie Sie das geradetun, oder sogar das Gegenteil provoziert .
Es geht um Klimaschutz, aber eben auch um Arbeitsplät-ze . Es geht um 50 000 Arbeitsplätze in der Solarbranche .Es geht um Arbeitsplätze, die Sie aufs Spiel setzen, wennSie nicht dafür sorgen, dass sich die Automobilindustriejetzt verändert und die Elektromobilität zum Standardwird .
Herr Altmaier, ich bin fest davon überzeugt, dass,wenn Sie es nicht schaffen, in der Verkehrspolitik eineWende einzuleiten – die Verweigerung hat einen Namen:Alexander Dobrindt –, Sie die Nachhaltigkeitsziele wei-ter verfehlen werden . Meine Damen und Herren, Sie ha-ben noch sechs Monate Zeit . Sie könnten noch jetzt denHebel umlegen, –
Frau Kollegin, Sie denken an die Redezeit .
– statt Nachhaltigkeitsgesichtspunkte auch bei der
öffentlichen Beschaffung anzukündigen. Wenn Sie das
weiter aussitzen wollen, dann sage ich Ihnen: Lassen Sie
im September lieber andere dran!
Vielen Dank .
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Carsten Träger .
Einen wunderschönen guten Morgen! Sehr geehrterHerr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieWelt hat sich mit 17 Nachhaltigkeitszielen zu einem bes-seren Umweltschutz und zur Bekämpfung von Armutund Ungleichheit verpflichtet. Und Deutschland geht beider Umsetzung – international und gleichzeitig hier beiuns, in unserer Heimat – voran . Wenn die Regierung dasumsetzt, was sie in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrate-gie aufgeschrieben hat, dann, liebe Kolleginnen und Kol-legen, sind wir einen großen Schritt weiter .
Die Bundesregierung – voran das Bundeskanzleramt,das Umweltministerium und das BMZ – hat zusammenmit den Verbänden und dem Statistischen Bundesamtwirklich hervorragende Arbeit geleistet . Deutschlandsetzt sich ambitionierte Ziele, entwickelt Maßnahmenund – ganz wichtig! – misst die Erfolge dieser Maßnah-men . In meiner alten Branche gab es eine Regel: Miss esoder vergiss es . Nur dann, wenn die Einhaltung der Re-geln kontrolliert und die Erfolge gemessen werden, kannam Ende ehrlich bewertet werden, ob das ganze Projektgut war und auch, wo es noch gehakt hat . Deshalb bin ichsehr froh, dass wir ambitionierte Indikatoren haben, mitdenen wir die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie Schrittfür Schritt verbessern können und werden .
Das alles ist Work in Progress; aber wir haben die Mess-latte hochgehängt . Und das ist eine wirklich gute Nach-richt in diesen Zeiten .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Regie-rung auch für die Ernsthaftigkeit dankbar, mit der sie dieglobalen Nachhaltigkeitsziele anpackt . Wir haben hierund im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent-wicklung schon oft debattiert, wie wichtig diese Zielesowohl für die Entwicklung unseres Planeten als auchfür uns hier zu Hause in Deutschland sind . Denn auch,wenn es diesem Land gut geht, so gibt es doch noch vielUngerechtigkeit . Deshalb freue ich mich, dass ich hiervoller Überzeugung sagen kann: Die Deutsche Nachhal-tigkeitsstrategie ist ein progressives Dokument .
Hier steht – als eine vom ganzen Kabinett mitgetra-gene Regierungsstrategie – schwarz auf weiß: Die Bun-desregierung bekennt sich zur Einhaltung der planetarenGrenzen, den Belastungsgrenzen unserer Erde . Darausergibt sich ein Transformationsauftrag und – ich darfwörtlich aus der Nachhaltigkeitsstrategie zitieren –:Es geht darum, umfassende, beschleunigte Verän-derungen in Wirtschaft und Gesellschaft einzuleitenund voranzutreiben: in unserer Art zu leben, zu ar-beiten, zu konsumieren, in Technologien, Institutio-nen und Praktiken .Das, meine Damen und Herren, ist ein klares Bekenntniszu einem sozialen, ökologischen und wirtschaftlich ver-Katrin Göring-Eckardt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23085
(C)
(D)
nünftigen Fortschritt . Ich als Sozialdemokrat freue michüber dieses Bekenntnis .
Und nun, liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Par-lament, sind wir dran . Die Regierung hat ordentlich vor-gelegt . Nun müssen wir nachlegen . Ziele und Indikatorensind das eine; aber die Ziele müssen natürlich mit guterPolitik, mit Leben gefüllt werden . Das ist unser Job . Esbraucht engagierte und progressive Politik, um engagier-te und progressive Ziele zu erreichen .
Hier stehen jetzt alle, die bisher Nachhaltigkeit für sichproklamiert haben, auch in der Verpflichtung. Liebe Kol-leginnen und Kollegen, es ist an uns .Die Vereinten Nationen haben mit den globalen Nach-haltigkeitszielen einen großen, einen historischen Schrittgetan . Die Bundesregierung hat mit ihrer Strategie nach-gezogen . Und jetzt ist es an der Zeit für dieses Parlament,dass auch wir einen großen Schritt wagen . Es ist an derZeit, dass wir Nachhaltigkeit im Grundgesetz verankern .
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-lung und der Rat für Nachhaltige Entwicklung habenhier gemeinsam gute Vorarbeit geleistet . Große Köp-fe wie Klaus Töpfer, Gesine Schwan, Ernst Ulrich vonWeizsäcker sowie Hans-Jürgen Papier sind mit uns derAuffassung: Nachhaltigkeit gehört ins Grundgesetz. Esist an der Zeit . Wer es wirklich ernst meint mit der Be-kämpfung von Armut und Ungleichheit, mit der Bewah-rung der Schöpfung und mit einem wirklich nachhaltigenWachstum, das auch die künftigen Generationen im Blickhat, der sollte vor diesem Schritt nicht zurückschrecken .Ich rufe Ihnen zu, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Union und auch von den Grünen: Geben Sie Ihr Zö-gern auf! Verstecken Sie sich nicht länger hinter verfah-renstaktischen Scheinargumenten! Es geht um Größeres!Wir alle führen in Sonntagsreden das Wort „Nachhal-tigkeit“ im Mund . Nun ist es an der Zeit, zu liefern . Daswäre ein großer Schritt des deutschen Parlaments . Wann,wenn nicht jetzt, meine Damen und Herren?
Als Nächste spricht die Kollegin Birgit Menz für die
Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! LiebeGäste! Katja Kipping hat es schon deutlich gemacht: Wirsehen die Strategie mehr als kritisch, und wir haben allenGrund dazu . Seit sich die Staats- und Regierungschefsbei den Vereinten Nationen mit der Agenda 2030 aufnichts weniger als auf eine Transformation unserer Weltverständigt haben, ist nun über ein Jahr vergangen .Dass die Aushandlung einer Strategie viel Zeit brauchtund dass dabei jeder Kompromisse machen muss, istklar . Aber Sie hatten seit 2015 Zeit, konkrete Politik zumachen, die zumindest erste Schritte in die richtige Rich-tung macht .Aber was haben Sie in dieser Zeit getan? Sie habeneinen Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Men-schenrechte“ verabschiedet, mit dem die Bundesregie-rung weiter auf Freiwilligkeit setzt, statt endlich verbind-liche Regeln für deutsche Unternehmen und Konzerneeinzuführen, die sich an Landraub beteiligen oder durchRaubbau an der Natur die Existenzgrundlage lokaler undregionaler Ökonomien zerstören .
Sie halten weiter an Verhandlungen über neoliberaleKonzernschutzabkommen fest, trotz massiver Protesteder Menschen gegen TTIP und CETA . Diese Aktivitä-ten, die dem Ziel der Agenda 2030 klar entgegenstehen,finden sich nun in der Strategie wieder, mit der Sie dieUmsetzung der SDGs erreichen wollen . Verzeihen Sie,wenn uns da Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Stra-tegie kommen .
Die Bundesregierung schätzt die Herausforderung,vor der wir stehen, durchaus richtig ein . Es geht in derTat darum, umfassende, beschleunigte Veränderungenin Wirtschaft und Gesellschaft einzuleiten und voran-zutreiben . Aber woran es dieser Strategie fehlt, ist einekritische Ursachenanalyse, die die bisherige neoliberalePolitik der Bundesrepublik und der EU als Teil des Pro-blems versteht .Diese Ursachenanalyse nachzuholen, fordert die Lin-ke in ihrem Entschließungsantrag zur Deutschen Nach-haltigkeitsstrategie . Denn nur auf der Grundlage einerehrlichen Ursachenanalyse ist es möglich, sinnvolle Zie-le zu setzen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, umdie Ziele auch wirklich zu erreichen .Die Linke hat sich über den gesamten Post-2015-Pro-zess immer wieder mit Anträgen dafür eingesetzt, dieverfehlte Politik der Industrieländer, auch Deutschlands,in den Bereichen der Agrar-, Wirtschafts- und Handels-politik klar als Ursachen von Hunger, Armut und Un-gleichheit zu benennen . Deutsche Politik muss Verant-wortung dafür übernehmen, welche Auswirkungen unserHandeln für die Chancen auf eine sozial gerechte undökologisch verträgliche Entwicklung weltweit hat .
Die Nachhaltigkeitsstrategie muss diese internationaleVerantwortung als Aufgabe aller Politikbereiche definie-ren . Die Linke hat dazu konkrete Forderungen vorge-legt: Nachhaltigkeitsklauseln statt Liberalisierungsver-pflichtungen in Handelsabkommen, Besteuerung vonSpitzeneinkommen und Vermögen, Aufbau von sozialenSicherungssystemen und Mindestlöhnen, Transaktion-steuern, Verbot von Spekulationen mit Nahrungsmit-teln, eine internationale Bekämpfung von Steuerfluchtund -vermeidung, eine Kartellbehörde zur Entflechtungmarktbeherrschender globaler Unternehmen, Abbau vonCarsten Träger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723086
(C)
(D)
Rüstungsetats und eine Umwidmung der freiwerdendenMittel für die Entwicklungsfinanzierung, um nur ein paarPunkte zu nennen .Sie haben sich entschieden, all diese strukturellen Fra-gen nicht in die Strategie einfließen zu lassen. Stattdes-sen diskutieren Sie, nur ein paar Monate nachdem IhreStrategie zur Umsetzung der SDGs verabschiedet wurde,über eine drastische Erhöhung des Verteidigungshaushal-tes .
Das zeigt: Sie sprechen von Transformation und glo-baler Verantwortung, aber eine entsprechende Politikmachen Sie nicht .
Durch Ihre Politik wird dem Begriff „Transformation“das gleiche Schicksal widerfahren wie dem der „Nach-haltigkeit“, nämlich dass er verbrannt wird, weil sich ihnalle aneignen wollen, ohne damit inhaltliche Konsequen-zen zu verbinden . Aber Nachhaltigkeit verlangt die Sys-temfrage . Transformation anerkennen muss heißen, eineandere, eine sozial ökologische Politik zu machen .Vielen Dank .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege
Dr . Andreas Lenz .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Agen-da 2030 der Vereinten Nationen ist ein wichtiger Schrittauf dem Weg zu einer nachhaltigen, einer nachhaltigerenWelt . Es geht um nicht weniger als das Ziel eines Le-bens in Würde für alle Menschen auf dieser Erde, unddies unter Wahrung der planetaren Grenzen . Deutschlandhat sich unter der Bundesregierung das Ziel gesetzt, eineführende Rolle bei der Transformation der Weltgemein-schaft hin zu mehr Nachhaltigkeit einzunehmen . Ich willbetonen, dass Nachhaltigkeit national mit Bundesminis-ter Peter Altmaier und international mit BundesministerGerd Müller – beide sind anwesend – in Verbindung ge-bracht wird . Dafür herzlichen Dank .
Die Nachhaltigkeitsstrategie stellt eine ehrliche Be-standsaufnahme dar . Wir haben schon die Symbolik vonSonne und Wolken vernommen . Ich denke, dass die Dar-stellung die Beschreibung „heiter bis wolkig“ verdient .Das Erreichte wird berücksichtigt und gewürdigt . Trotz-dem werden ambitionierte Ziele für die Zukunft gesetzt .Unsere Nachhaltigkeitspolitik wird in vielerlei Hinsichtanspruchsvoller, zum einen, weil die Zahl der Nachhal-tigkeitsindikatoren von 38 auf nunmehr 63 steigt, undzum anderen, weil die Nachhaltigkeitsstrategie dyna-misch und zukunftsoffen angelegt ist. Bereits 2018 wer-den die Indikatoren fortgeschrieben .Wenn es um die Beurteilung der Strategie geht, ist mireines in Erinnerung geblieben . Die grüne Obfrau ValerieWilms hat in dieser Woche gesagt, wir seien bei derNachhaltigkeitsstrategie einen wichtigen Schritt voran-gekommen und es sei eine passable Nachhaltigkeitsstra-tegie geworden . Wer Frau Wilms kennt, weiß, dass dasin ihrem Vokabular fast einem Superlativ gleichkommt .An dieser Stelle ganz herzlichen Dank für das Lob derGrünen .
Das zeigt aber auch, dass Nachhaltigkeitspolitik keineErfindung der Grünen ist.Wir als größtes und wirtschaftlich stärkstes Land derEuropäischen Union gehen bei der Nachhaltigkeit voranund werden natürlich weiterhin Vorbild sein . Das zeigtsich bei zahlreichen Einzelbeispielen: bei der Etablie-rung des Textilsiegels und der Fortschreibung des Res-sourceneffizienzprogramms, aber auch bei den Anstren-gungen hinsichtlich einer höheren Transparenz bei deninternationalen Lieferketten . Deutschland betreibt eineNachhaltigkeitspolitik mit globalem Anspruch . Die Weltrückt zusammen . Was in Deutschland geschieht, hat un-mittelbare Auswirkungen auf die Welt, und andersherum .Deshalb ist es richtig, dass die Nachhaltigkeitsstrategieverstärkt eine globale Perspektive einnimmt .Die Nachhaltigkeitsstrategie geht in diesem Kontextin einem Beispiel auf die nationale, die europäische unddie globale Dimension von Flucht ein . Erst wenn wir esschaffen, auch in den Herkunftsländern eine nachhaltigeEntwicklung zu ermöglichen, leisten wir einen effektivenBeitrag zur Bekämpfung der Fluchtursachen . Das zeigt,was es bedeutet, die Agenda in den einzelnen Zielen inDeutschland, mit Deutschland und durch Deutschlandvoranzubringen . Frau Göring-Eckardt, nachhaltige Poli-tik ist mehr als tagespolitischer Aktionismus .
Nachhaltigkeit ist nach wie vor Chefsache im Kanz-leramt . Zukünftig werden in allen Ressorts Stellen fürNachhaltigkeitskoordinatoren eingerichtet . Das ThemaNachhaltigkeit bekommt so auch in den einzelnen Res-sorts ein höheres Gewicht. Dabei werden Zielkonflikteum den Begriff der Nachhaltigkeit bestehen bleiben.Wenn ich mir die Strategie genau anschaue, dann stelleich fest, dass beispielsweise einerseits der Besitz einesFarbfernsehers als Wohlstandsindikator gilt – zu Recht –und dass andererseits die Bekämpfung von Adipositas,von starkem Übergewicht, als Gesundheitsziel aufgeführtwird . Da stellt sich schon die Frage, ob hier nicht gewis-se Kreuzkorrelationen bestehen, die den Zielen vielleichtzuwiderlaufen . Aber das ist nur ein kleines Beispiel da-für, welches Ringen um den Begriff der Nachhaltigkeitzuweilen notwendig ist .Birgit Menz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23087
(C)
(D)
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-lung wird die Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategieintensiv begleiten und bei der Weiterentwicklung mitwir-ken . Wir wollen, dass dieses Thema Ausgangspunkt poli-tischen Handelns wird und nicht Anhang . Mit der neuenNachhaltigkeitsstrategie ist ein Aufschlag gemacht, dieplanetaren Grenzen im politischen Handeln zu berück-sichtigen und damit die Zukunftsfähigkeit unseres Lan-des insgesamt zu stärken . Jetzt gilt es, das Ganze poli-tisch zu unterfüttern .Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Dr . Valerie Wilms von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Gestern haben wir viel See-gang gemacht, heute lassen wir es ein bisschen ruhigerangehen .
Die Nachhaltigkeitsstrategie, Kollege Lenz, ist einerot-grüne Erfindung – immer daran denken! Das war2003/2004 .
Sie ist eines der wenigen Dinge, die unter der jetzigenKoalition tatsächlich besser geworden sind . Auch HerrAltmaier – Sie verstecken sich – und Herr Bauernfeind,der die praktische Arbeit im Hintergrund macht, sindhier . Herzlichen Dank .Sicherlich kann und sollte man weiterhin inhaltlichstreiten . Auch ich bin nicht mit allen Maßnahmen undinhaltlichen Beschreibungen einverstanden . Aber durchdie strukturellen Veränderungen in der Strategie kannman jetzt genau sehen, wo wirkliche Anstrengungen un-ternommen werden und wo eben nicht . Deshalb rate ichden Kolleginnen und Kollegen: Schaut in die Strategie,nutzt sie für eure Arbeit! Dafür ist sie da . Nur so könnenwir gemeinsam ihre Umsetzung vorantreiben .
Kollege Träger, den Streit ums Grundgesetz solltendiejenigen, die in der nächsten Wahlperiode noch dabeisind, weiterführen,
aber darauf kommt es nicht an . Es kommt darauf an, ausdem Ding, wie es jetzt da ist, etwas zu machen . Dafürbrauchen wir keinen Eingriff ins Grundgesetz.
Im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwick-lung begleiten wir die Fortentwicklung der Nachhaltig-keitsstrategie kontinuierlich – Herr Altmaier und auchandere Kollegen haben es angesprochen –, und wir tundies mit einer Herangehensweise, die in unserem HohenHause keineswegs üblich ist . Wir sind kein klassischerAusschuss, und das ist auch gut so . Die Punkte, auf diewir uns einigen, müssen nämlich langfristig Bestandhaben und dürfen nicht alle vier Jahre hier umgeändertwerden .Deshalb treffen wir unsere Entscheidungen möglichstim Konsens . Das ist manchmal mühselig – das gebe ichzu – und führt auch nicht zur Durchsetzung von Maxi-malforderungen . Das ist aber auch nicht das Ziel . Wir su-chen den größten gemeinsamen politischen Nenner, undder ist manchmal kleiner als erhofft, manchmal aber auchgrößer .Im Nachhaltigkeitsbeirat wollen wir Nachhaltigkeitstärken . Deshalb schauen wir nach vorne und vermeidenes, uns in rituellen Koalitions-Oppositions-Hakeleien zuverlieren . Das gelingt manchmal besser und manchmaletwas schlechter .
Diese Woche hatten wir ein etwas schlechteres Beispiel .Liebe Kolleginnen und Kollegen, von unserer Seiteaus hätten wir oft gerne ein Mehr an Nachhaltigkeit . Dassieht man durchaus an unserer grünen inhaltlichen Ar-beit . Auch möchten wir Nachhaltigkeitsaspekte im politi-schen Prozess stärker verankern . Da gibt es nach unsererAnsicht durchaus einige Ansatzpunkte . Diese haben wirin unserem Antrag zur Stärkung von Nachhaltigkeit impolitischen Prozess aufgeschrieben .Erfolgreiche nachhaltige Politik braucht meines Er-achtens zwei Dinge . Wir sprechen auch im Nachhaltig-keitsbeirat zu oft nur mit Gleichgesinnten . In der Echo-kammer der Nachhaltigkeit sind sich dann alle einig . Dasreicht aber nicht . Wir müssen raus aus dieser Echokam-mer .
Dafür ist die heutige Debatte schon mal ein ganz guterAnfang .Wir haben zur Umsetzung nachhaltiger Politik dieNachhaltigkeitsstrategie . Sie ist sogar eine Leitstrategieder Bundesregierung, Herr Altmaier . Nur, was passiert,wenn diese von einzelnen Ressorts nicht umgesetzt wird?Ich habe da schon einmal nachgefragt: Nichts, gar nichts!
So wird das nichts werden, Kollegen . Es muss aucheinmal etwas passieren, wenn nicht nachhaltige Politikgemacht wird . Im Moment ist es doch so: Wir habenverdammt viel Zuckerbrot, aber die Peitsche, die gege-benenfalls aus dem Kanzleramt kommen müsste, suchenwir vergebens .
Nur so könnten wir in Zukunft Wahlkreisbeglückungenzum Beispiel mit unnötigen Ortsumgehungen verhin-Dr. Andreas Lenz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723088
(C)
(D)
dern . Das hat dieses Mal beim Bundesverkehrswegeplanwieder nicht funktioniert .Mein Fazit: Schön und hilfreich, dass es diese Strate-gie gibt . Zum ersten Mal hat die Bundesregierung eineNachhaltigkeitsstrategie vorgelegt, die diesen Namenauch verdient . Noch schöner wäre allerdings, sie würdeauch wirklich umgesetzt . Herr Altmaier, da gehen Siewirklich einmal intensiv heran .
Ziehen Sie einmal die Peitsche .Danke .
Wir alle hier sind für gewaltfreie Politik .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Jeannine Pflugradt
für die SPD .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Werte Gäste! Nach Frau Wilms zu sprechen,ist schwierig . Meine Rede wird bestimmt nicht so stim-mungsvoll, aber vom Inhalt her auch sehr interessant .
In Südamerika gibt es einen See, dessen Namensge-bung auf Vertreter der indianischen Kultur zurückgeht .Sinngemäß übersetzt lautet der Name: Wir fischen aufunserer Seite, ihr fischt auf eurer Seite, und niemandfischt in der Mitte. – Dahinter steckt eine Erkenntnis:Wenn alle auf allen Seiten fischen und versuchen, mög-lichst viel für sich selbst zu sichern, bleibt am Ende fürniemanden etwas . Nachhaltiges Handeln als Fähigkeit,vorauszublicken und vorzusorgen, ist alt . Nachhaltigkeitwar und ist eine Überlebensstrategie, die mittlerweileeine globale Dimension angenommen hat .Die im September 2015 in New York verabschiedeteAgenda 2030 der Vereinten Nationen hat gezeigt, dassdie Erkenntnis der globalen Bedeutung von Nachhaltig-keit bei den Staatenlenkern angekommen ist . Die globa-len Herausforderungen lassen sich nur gemeinsam be-wältigen . Das Leitprinzip der nachhaltigen Entwicklungmuss konsequent und in allen Bereichen und in allenStaaten angewandt werden . Uns allen muss bewusst sein,dass unser Verhalten auf ökonomischer, sozialer sowieökologischer Ebene Auswirkungen auf unsere Kinder,Enkelkinder sowie auf das gesamte Ökosystem unseresPlaneten hat .Als Berichterstatterin meiner Fraktion zum Thema„gesunde Ernährung“ möchte ich einen kurzen Blickauf ebendieses Thema in der Nachhaltigkeitsstrategierichten . Ernährung ist ein Menschenrecht . Deshalb ha-ben nicht nur die Beendigung des weltweiten Hungers,sondern auch die Verringerung der Adipositasquote vonJugendlichen und Erwachsenen als Ziele Einzug in un-sere nationale Nachhaltigkeitsstrategie gefunden . Auchwenn Sie es nicht mehr hören können, liebe Kolleginnenund Kollegen: Lebenswichtig bleibt dieses Thema alle-mal . Es bleibt Thema Nummer eins für Nachhaltigkeit imBereich Gesundheit oder – nennen wir es lieber so – imBereich „länger leben“ .Übergewichtige und fettleibige Jugendliche sind häu-fig mit Ausgrenzung und sozialem Rückzug konfrontiert,Erwachsene sehr oft ebenfalls mit gesundheitlichen Aus-wirkungen, zum Beispiel mit Herz-Kreislauf-Erkrankun-gen, Diabetes oder Gelenkschäden . Hier ist das Ziel derNachhaltigkeitsstrategie klar definiert: Der Anteil der be-troffenen Jugendlichen darf nicht weiter ansteigen, undder Anteil der betroffenen Erwachsenen muss reduziertwerden .Um die Dimension der Problematik einmal zu verdeut-lichen: Circa 10 Prozent der Jugendlichen in Deutschlandwerden als adipös eingestuft – Tendenz steigend . Bei denErwachsenen über 18 Jahren in unserer Bevölkerunggelten fast 35 Prozent als übergewichtig – Tendenz stei-gend . Wen wundert’s?! Der Grund für diesen Befund: dieZunahme von ungesundem Ernährungsverhalten gepaartmit mangelnder Bewegung .Man kann die Menschen nicht zwingen . Das ist rich-tig, und das wollen wir auch nicht als Politik . Deshalbmuss das Ziel auf nationaler Ebene aber sein, das Wis-sen über Ernährung und Ernährungsstile zu verbessernund Verbraucherinnen und Verbrauchern die Wahl einesgesünderen, ausgewogenen Ernährungsverhaltens zu er-leichtern .Um den Menschen einen gesunden Lebensstil näher-zubringen, wurden bereits zahlreiche Maßnahmen um-gesetzt, und viele stehen noch in den Startblöcken . Dasreicht allerdings nicht aus . Meines Erachtens brauchenwir eine bessere Kennzeichnung von Lebensmitteln, diees uns Verbraucherinnen und Verbrauchern auch ohnePharmaziestudium und Lupe ermöglicht, zu erkennen,welche Nährstoffe in einem Produkt enthalten sind, dasunsere Verbraucher und Bürger und wir selber auch kau-fen wollen .
Zum Abschluss noch einen Satz zum Parlamentari-schen Beirat für nachhaltige Entwicklung; einiges istschon gesagt worden . In den vergangenen dreieinhalbJahren hat sich das Prinzip der gemeinsamen Arbeit imBeirat als sehr fruchtbar erwiesen . Wünschenswert fürdie Zukunft wäre es jedoch, wenn der Beirat nicht nurkontrollierende, sondern darüber hinausgehende Kompe-tenzen hätte .
Mit mehr Kompetenzen als bisher würde es künftigvielleicht auch gelingen, gemeinsam erarbeitete und vo-rangetriebene Projekte, zum Beispiel die erwähnte undleider gescheiterte Verankerung der Nachhaltigkeit imGrundgesetz, zu einem Erfolg zu führen . Wenn wir beimDr. Valerie Wilms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23089
(C)
(D)
Grundgesetz sind, nehmen wir die Kinderrechte gleichnoch mit dazu; dann haben wir schon ganz viel erreicht .
Ganz kurz noch Folgendes: Frau Kipping und FrauGöring-Eckardt, so schwarz, wie Sie Deutschland und dieNachhaltigkeitspolitik malen, so schwarz ist Deutschlandin der Nachhaltigkeit nicht . Sie als Opposition müssendas wahrscheinlich sagen; das gehört wahrscheinlich zuIhrer Rolle dazu . Aber man kann auch als Opposition malloben – das fände ich gut – und darf nicht nur meckern .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit . Ein schönesWochenende!
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Matern
von Marschall .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, es ist sehr Wichtiges gesagt worden . Die Arbeitim Parlamentarischen Beirat ist gerade nicht von partei-politischer Polemik geprägt . Diese Polemik ist hier vondenjenigen in die Diskussion gebracht worden, die nichtMitglieder in diesem Beirat sind .
Kollegin Wilms, ich glaube, das, was Sie ausgeführthaben, hat sich auch – so habe ich das jedenfalls inter-pretiert – an die Kollegin Göring-Eckardt gerichtet . Ver-ehrte Kollegin Göring-Eckardt, Ihre Kritik auch an derEntwicklungszusammenarbeit hat mir gezeigt, dass Sieüberhaupt nicht wahrgenommen haben, was sich dort inder letzten Dekade getan hat . Es gab eine Verdopplungdes Etats .
Wir haben – das ist der wesentliche Ansatz, dem die Po-litik im Augenblick folgt – auch die Mittel zur Klima-schutzfinanzierung über das BMZ – mittlerweile 2 Milli-arden Euro – verdoppelt .
– Frau Göring-Eckardt, ich glaube nicht, dass Sie, wennSie diese Dinge bewusst übersehen, Ihrer Fraktion undIhrer Partei einen Gefallen tun . Insofern fände ich esschon ganz hilfreich, Sie würden zumindest die Anstren-gungen zur Kenntnis nehmen, die da unternommen wer-den, insbesondere auch von Bundesminister Müller mitdem, was er – ich bin ganz dankbar, dass der Name solautet – „Marschallplan mit Afrika“ nennt .
Er setzt sehr wichtige Akzente, um bei der Migrationskri-se, in der sich diese Welt befindet, die wesentlichen undrichtigen Schritte zu machen .
– Ich würde mich freuen, Sie würden mir noch einenMoment zuhören . – Ich glaube, dass die Nachhaltigkeits-agenda die parteipolitische Polemik, die Sie hier aufru-fen, überhaupt nicht verdient .
– Es ist bei Ihnen genauso .Wir versuchen, drei Kapitel auszubalancieren: einevernünftige wirtschaftliche Entwicklung, eine angemes-sene gesellschaftliche Entwicklung und eine gute ökolo-gische Entwicklung. Ich finde, jeder von uns – übrigensje nachdem, welche parteipolitische Perspektive undwelchen Schwerpunkt seine Fraktion, seine Partei dies-bezüglich hat – sollte versuchen, die Perspektive geradederjenigen Bereiche in der Ausbalancierung der Nach-haltigkeitsaspekte zu betrachten, die er sich ungern zueigen macht .
Schauen wir nach Afrika . Natürlich ist vor allen Din-gen wichtig, dass die Menschen dort Jobs bekommen .Sie können nämlich überhaupt erst leben, wenn sie Ar-beit haben . Das ist genau das, was wir zum Beispiel mitden Initiativen des BMZ dort voranbringen . Schauenwir nach Nordafrika, schauen wir in den Maghreb . Dortbetreiben wir Klimaschutzfinanzierung. Dort sind dieweltgrößten Photovoltaik- oder, besser gesagt, Thermo-solarkraftwerke installiert worden: mit einer Finanzie-rung durch die KfW . Das sind Investitionen, die nichtnur unserer Wirtschaft, etwa Siemens oder denjenigen,die die Parabolspiegel für die Solaranlagen herstellen,etwas bringen, sondern die auch dort Jobs bringen, dieauch dort eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen unddie dann die Lebensgrundlage der Menschen wirklich gutund langfristig sichern . Die Menschen sind so nicht ge-zwungen, den Weg über das Mittelmeer zu nehmen undGeld in die Geldbeutel der Schlepperbanden zu werfen,um hier eine Zukunft zu suchen, die sie hier gar nichtfinden können.Das ist unser Ansatz . Ich glaube, dieser Ansatz ist ver-antwortlich, er ist umfassend, und er ist vor allen Dingenauch kohärent . Wir schauen uns nämlich jedes Politik-ressort an . Wir schauen uns nicht nur die Ökologie an,sondern wir schauen uns auch die Wirtschaft und dieGesellschaft an . Wir versuchen, über den Tellerrand hi-nauszuschauen, und das ist, glaube ich, ganz wichtig inZeiten, in denen Vereinfachungsthesen in vielen Länderndie Diskussionen bestimmen und es Rückzugsgefechte indie scheinbar heile Welt nationaler Politik gibt . In dieserJeannine Pflugradt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723090
(C)
(D)
Zeit versuchen wir, genau das Gegenteil zu machen . Wirsagen: Wir können nur vorankommen, wenn wir über un-seren Tellerrand hinausschauen, wenn wir nicht nur dienationale, sondern auch die internationale Verantwortungwahrnehmen und wenn wir auf diesem Weg dazu beitra-gen, dass die Globalisierung zukunftsfähig, langfristig,tragfähig und verantwortungsvoll gestaltet wird .Das ist unser Ansatz, und das ist der Ansatz, der ganzdeutlich aus den Prinzipien der neuen nationalen Nach-haltigkeitsstrategie hervorgeht . Deswegen bin ich Ihnen,lieber Herr Altmaier, lieber Herr Bauernfeind und alldenjenigen, die daran in den letzten Monaten viel underfolgreich gearbeitet haben, sehr dankbar .Zum Abschluss . Ich glaube schon, dass der Parlamen-tarische Beirat eine wichtigere und eine hörbarere Rollebekommen muss . Wir sollten darüber nachdenken, wiewir in allen Debatten auch anderer Ausschüsse, in denenNachhaltigkeit eine Rolle spielt, mindestens eine Stim-me aus dem Parlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeithören können, damit dieser umfassende, kohärente undletzten Endes über die Ressortgrenzen hinausgehendeAspekt der Nachhaltigkeit akzentuiert und auch sicht-bar und hörbar wird. Wir sind es auch der Öffentlichkeitschuldig, diese Debatte nach außen zu tragen .
Der Kollege Christoph Strässer spricht als Nächster
für die SPD .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, zumindest eines ist in der Debatte, die wir heuteführen, deutlich geworden: Das, was wir mit der Nach-haltigkeitsstrategie betreiben, ist ein Prozess . Ich habeein Stück weit die Debatten im Rahmen der VereintenNationen zur Verabschiedung der SDGs erlebt . Das warein unglaublich mühsames Verfahren. Ich finde, das, wasdabei herausgekommen ist, war ein Paradigmenwechselin der internationalen Zusammenarbeit . Daran habenviele mitgearbeitet, und niemanden von ihnen sollten wirenttäuschen, aber bei niemandem sollten wir die Erwar-tung wecken, dass all das, was dort niedergeschrieben ist,bis übermorgen verwirklicht ist . Ich glaube, das ist einAnsatz, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen .
Insofern bin ich der Bundesregierung dankbar, dasssie diesen Prozess auf den Weg gebracht hat . Ich möch-te noch etwas zu diesem Prozess sagen . Wir reden jetzthier ganz viel über Regierungshandeln . Wir reden überparlamentarische Beteiligung, und ich sage einmal un-abgesprochen: Ich bin als neues Mitglied im Parlamen-tarischen Beirat der Auffassung, dass dieser Beirat aucheine deutlich hörbarere Stimme im Verfahren gewinnenmuss, wie auch immer das in der nächsten Legislaturpe-riode, vielleicht durch eine Änderung der Geschäftsord-nung, möglich ist . Man sollte jedenfalls dafür werben;denn Nachhaltigkeit ist nichts, was man nur begleitet .Vielmehr müssen diejenigen, die sich generell mit Nach-haltigkeit beschäftigen, auch etwas zu entscheiden undmehr zu sagen haben als bisher, und daran sollte man ge-meinsam arbeiten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist eines nochganz wichtig, und daher finde ich es gut, dass wir diesin diesem Rahmen diskutieren können: Es ist gut, dasssich durch die SDGs auch im Rahmen der Entwicklungs-zusammenarbeit ein Paradigmenwechsel vollzogen hat,nämlich weg davon, dass wir die Geber sind und dass dieStaaten des globalen Südens – der Dritten Welt dürfenwir ja nicht mehr sagen – sozusagen die Bettler sind, de-nen wir etwas gewähren . Dazu würde ich gerne ein paarSätze sagen .Es ist heute schon mehrfach angesprochen worden:Die Menschen, die in diesen Ländern leben, haben sichbei der Geburt nicht ausgesucht, in welchem Land siegeboren werden . Sie haben genauso das Recht, so zu le-ben, dass sie ihre Menschenwürde behalten . Das ist eineErfüllung der Menschenrechtscharta der Vereinten Nati-onen .
Ich glaube, das ist der Kern der Auseinandersetzung,um den wir uns jetzt streiten müssen . In dem Prozess,den wir begonnen haben, steckt eine ganze Menge . Die-ser inklusive Prozess, der unter sehr breiter Beteiligungder Zivilgesellschaft, unter anderem von VENRO undanderen Entwicklungsorganisationen, stattgefunden hat,war beispielhaft . Natürlich – das kann ja gar nicht aus-bleiben, das kenne ich auch aus anderen Diskussionspro-zessen; der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft und Men-schenrechte“ ist schon angesprochen worden – findetsich Zivilgesellschaft nicht eins zu eins in einem Papierder Bundesregierung und auch der Parlamente wieder .Ich glaube aber schon, dass man daraus lernen kann, wieman gesellschaftliche Prozesse organisiert . Man solltediejenigen, die Fachwissen haben, die vor Ort arbeiten,nicht außen vor lassen und sagen: Wir sind hier diejeni-gen, die das machen, und ihr könnt hinterher zustimmenoder nicht . – Ich glaube, dieser Prozess war bemerkens-wert, auch wenn vieles von dem, was die Organisationengefordert haben, jetzt nicht mehr in den Papieren drin-steht .Meine Damen und Herren, ich möchte noch zwei kri-tische Punkte ansprechen . Wenn von einem Prozess dieRede ist, dann heißt das ja auch, dass es weitergeht . Diesekritischen Punkte beziehen sich auf einige der SDGs, diewir hier angesprochen haben . Der erste Punkt ist die Ar-mutsbekämpfung . Ich sehe das nicht so kritisch wie Sievon der Linkspartei . Der Nationale Aktionsplan „Wirt-schaft und Menschenrechte“ bringt massive Fortschrit-te . Er ist nicht das Ende der Fahnenstange . Aber wennwir Armut bekämpfen wollen, dann brauchen wir faire,transparente Handelsbeziehungen, die auch die Men-schen und die Staaten, mit denen wir den Handel treiben,unterstützen und die nicht ausschließlich auf die eigeneMatern von Marschall
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23091
(C)
(D)
ökonomische Situation und auf die Verbesserung unsererStandards ausgerichtet sind . Ich glaube, da muss nachge-bessert werden in diesem Nationalen Aktionsplan „Wirt-schaft und Menschenrechte“ .
Der zweite Punkt, der mir seit ungefähr 40 Jahrenauf der Seele brennt – das muss ich jetzt einmal sagen;da war ich noch Mitglied der FDP –, ist die Erfüllungder sogenannten ODA-Quote . Sie steht ja auch in IhremStrategiepapier . Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor40 Jahren haben wir in Deutschland im Konsens gesagt:Wir brauchen 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts,um unsere Verpflichtung in der internationalen Entwick-lungszusammenarbeit zu erfüllen . – Diese Quote ist jetztetwas angestiegen . Wir wissen aber auch, dass das imnächsten Jahr wieder anders sein wird, weil dann die ein-maligen Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingennicht mehr eingerechnet werden . In dieser Strategie istals Zeitpunkt für die Erreichung dieses Ziels nicht mehrdas Jahr 2020, sondern das Jahr 2030 angegeben . MeineDamen und Herren, das ist eine Bankrotterklärung, wasdie ODA-Quote angeht . Da muss deutlich nachgebessertwerden . Da müssen wir etwas anderes erreichen .Herzlichen Dank .
Zum Abschluss hat in dieser Aussprache für die CDU/
CSU der Kollege Peter Stein das Wort .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit istein wunderbares Gesetz der Schöpfung . Um etwa 1000vor Christus entstand unter König David ein Großstaat .Das Land wurde ausgebaut, Städte wurden befestigt . Be-sonders in der Hauptstadt Jerusalem boomte das Bauen .Dazu brauchte man viel Holz, mehr als das eigene Landliefern konnte. Dieses Holz schafften Phönizier aus demLibanon und aus Persien gegen gute Bezahlung heran .Das Ganze war also ein Jobmotor . In der Glanzzeit Isra-els unter König Salomo erreichte dieser Bauboom seinenHöhepunkt. Das ganze florierende Land brauchte Massenan Holz als Rohstoff. Diese Nutzung dauerte Jahrhunder-te an . Die Bestände der Libanon-Zeder wurden fast biszur Ausrottung geplündert . Nachhaltig war das nicht .Daraus wurde gelernt: Jedes siebte Jahr begingen dieJuden später als sogenanntes Sabbatjahr, in dem nicht ge-sät und geerntet werden durfte . Das galt sowohl für dieFeldfrüchte als auch für die Früchte der Bäume . Damiterhielten die Böden eine Regenerationspause, die einAuslaugen verhinderte, und Bäume konnten nachwach-sen . Der Bibel verdanken wir auch den ersten schriftli-chen Hinweis auf einen zur Aufsicht dieser Handlungs-weise bestellten Förster . In Nehemia, Kapitel 2, Vers 8,ist von Asaf als dem obersten Verwalter über die Wälderdes persischen Königs die Rede . Sicher ist heute überlie-fert, dass der Begriff der Nachhaltigkeit aus dem Forst-wesen stammt . Die Bibel belegt uns an dieser Stelle die-se uralten Wurzeln der Menschheit . Nun sind wir einigeTausend Jahre später nicht viel klüger, obwohl wir mehrwissen und andere Technologien haben . Das sollte unseigentlich helfen, derartige Fehler nicht wieder zu bege-hen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen undHerren, heute reden wir über die Nachhaltigkeitsstrategieder Bundesregierung . Diese baut auf den 17 Nachhaltig-keitszielen, den sogenannten SDGs, auf . Da steckt un-glaublich viel Kraft drin . Ich glaube, es ist an uns, dieseKraft auf die Straße zu bringen . Wir müssen den wissen-schaftlichen Elfenbeinturm verlassen . Wir müssen denMenschen erklären, was wir mit Nachhaltigkeit meinen .Wir müssen sie mitnehmen und sie dafür begeistern, dassdas, was wir uns vorstellen und niedergeschrieben haben,auch funktioniert .
Dafür brauchen wir eine Definition. Wir haben dieDefinition der Brundtland-Kommission. Für mich mussich ehrlich sagen: Ich brauche keine fixe Definition vonNachhaltigkeit . Ich denke, Nachhaltigkeit ist ein Prozess,und die Definition ergibt sich aus dem Handeln. Dazugehört Teilhabe . Dazu gehört Verständnis . Dazu gehört,dass wir diese Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesre-gierung, die ja sagt, dass wir auf dem Weg in eine en-kelgerechte Gesellschaft sind, tatsächlich in die nächsteGeneration einbinden . Denn die kommende Generationmuss mit uns gemeinsam die nächste enkelgerechte Ge-sellschaft entwickeln .Wir geben uns zu Beginn dieser Strategie Manage-mentregeln . In der ersten Regel steht das, was ich geradebeschrieben habe: Jede Generation muss ihre Aufgabenselber erfüllen und selber lösen . In der zweiten Regelheißt es bereits: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit undSchutz der natürlichen Lebensgrundlagen müssen Handin Hand gehen . Weiter heißt es: Wirtschaftliche, politi-sche und gesellschaftliche Kräfte sind zusammenzufüh-ren . Das machen wir auch heute hier in der Debatte, unddies muss als Signal nach draußen gehen: Wir sind dazubereit, nicht nur strategisch, sondern tatsächlich mit un-serem gemeinsamen Handeln in Richtung Nachhaltigkeitzu wirken .
Nachhaltigkeit und Bildung – diese beiden Begriffesind für mich eins . Allein schon im Kern dieser beidenBegriffe steckt, dass es sich um die Aufgaben handelt, diewir in die nächste Generation hineingeben . Dazu gehörtzuallererst, dass wir im Bereich der Bildung den Begriffder Nachhaltigkeit vom Kindergarten über die Schulen,die Hochschulen bis zum lebenslangen Lernen niemalsvergessen .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 17 SDGs –die Nachhaltigkeitsziele sind vereinbart, und zwar vonChristoph Strässer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723092
(C)
(D)
allen Staaten. Anders als offenbar die Führung in denUSA stehen wir zu den Vereinbarungen von New Yorkund Paris .
Wir haben die Klima- und Umweltschutzkanzlerin .Wir stehen an der Seite der freien Welt und nicht an derSeite der Dummheit . Wir wählen die Zukunft, nicht dieIgnoranz . Mister President: Mauern, die zwischen denMenschen und der Erkenntnis stehen, können niemalsschöne Mauern sein . Ich sage: Mister Trump, tear downthis wall of ignorance!Herzlichen Dank .
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10910 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Der Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/11767
soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden . Sind
alle damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann sind
die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Harald Weinberg, Pia Zimmermann, Sabine
Zimmermann , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Solidarische und gerechte Finanzierung von
Gesundheit und Pflege
Drucksache 18/11722
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Sechster Bericht über die Entwicklung der
Pflegeversicherung und den Stand der pfle-
gerischen Versorgung in der Bundesrepublik
Deutschland
Drucksache 18/10707
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Dazu besteht
allgemeines Einverständnis . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile zu Beginn der
Debatte der Kollegin Sabine Zimmermann für die Frakti-
on Die Linke das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gesetz-liche Krankenversicherung arbeitet grundsätzlich nachdem Solidarprinzip . Die große Mehrheit der Menschenin der Bundesrepublik findet das gut; denn nur so kannGerechtigkeit stattfinden. Deshalb unterstützen wir die-ses Prinzip . Wer viel verdient, zahlt mehr ein . Wer wenigverdient, zahlt weniger . So muss es sein, entsprechenddem Geldbeutel,
anders als es jetzt der Fall ist .Im Krankheitsfall müssen alle Bürgerinnen und Bür-ger die ärztliche Behandlung bekommen, die für sie drin-gend notwendig ist .
Dieses Solidarprinzip in der Krankenversicherung stehtheute aber massiv unter Druck . Immer mehr Versicher-te bekommen das auch zu spüren . Krankheit wird mehrund mehr zu einem finanziellen Risiko. Politisch sinddie Weichen im Gesundheits- und Pflegebereich von denletzten Regierungen immer mehr auf Wettbewerb undPrivatisierung gestellt worden: Privatisierung sowohl derGewinne als auch der gesundheitlichen Risiken . Das hatdie Zweiklassenmedizin weiter befördert, und das, mei-ne Damen und Herren, kann so nicht sein . Damit mussSchluss sein .
Ich sage Ihnen auch ganz deutlich: Die Entwicklungder Pflegeversicherung wird immer unsozialer, und dieBundesregierung unternimmt hier nichts .
Seit der Einführung der Pflegeversicherung wurden dieLeistungen nur unzureichend erhöht . Die Kosten steigenvon Jahr zu Jahr, die Leistungen der Pflegeversicherungkaum .
Daran ändern auch Ihre Pflegestärkungsgesetze nichts.Kollegin Rawert, ich muss Ihnen sagen: Die großen The-men sind Sie einfach nicht angegangen:
Den Pflegenotstand und auch die Teilkaskofinanzierungsind Sie nicht angegangen .
Peter Stein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23093
(C)
(D)
Die Leute müssen immer mehr und mehr bezahlen undkönnen sich das einfach nicht mehr leisten .
Die Privatisierung fängt ja beim Nebeneinander vonprivater und gesetzlicher Kranken- und Pflegeversiche-rung an; schon beginnt die Rosinenpickerei . Die hoch-rentablen privaten Versicherer nehmen natürlich die Jun-gen und die Besserverdienenden . Das führt dazu, dasszum Beispiel die Rücklagen in der privaten Pflegever-sicherung rund 30 Jahre reichen und die in der sozialenPflegeversicherung nicht einmal vier Monate. Das, mei-ne Damen und Herren, ist doch nicht gerecht; das könnenSie doch wirklich nicht ernsthaft wollen .
Die Linke schlägt deshalb eine solidarische Gesund-heits- und Pflegeversicherung vor. Was wollen wir?Erstens: deutliche Leistungsverbesserungen bis hinzur Pflegevollversicherung. Das bedeutet, alle im Pflege-fall anfallenden Kosten müssen von der Pflegeversiche-rung übernommen werden .
Zweitens. Die solidarische Pflegeversicherung nachunserem Konzept bezieht alle Einkommen gerecht ein,und dadurch wird auch eine stabile und zukunftsfeste Fi-nanzierungsgrundlage geschaffen. Das wäre wichtig.Drittens . Zahlreiche internationale Studien belegen:Je höher der Anteil von Pflegekräften, desto besser diePflege. Man sieht es am Zustand der Gepflegten: wenigerWundliegen, bessere Ansprechbarkeit, weniger Psycho-pharmaka und andere Medikamente .Viertens . Wir wollen eine gute Ausbildung, eine guteArbeit und eine gute Pflege durch die Pflegekräfte.
Wir wollen gutbezahlte Pflegekräfte, meine Damen undHerren .
Auch die pflegenden Angehörigen müssen entlastet wer-den, und das machen Sie eben nicht . Sie müssen nämlichbis zu 50 Prozent der Kosten selber tragen, und das istvon den Menschen nicht mehr leistbar .
Fünftens wollen wir die unsäglichen Arbeitsbedin-gungen der Pflegekräfte verbessern. Wir fordern eineverbindliche Personalbemessung . Das können Sie nichterst einmal mit einem Gutachten bis zum Jahre 2020 hi-nausschieben . Wir brauchen sie jetzt .
Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Pflege und Ge-sundheit gehören in öffentliche Hand, sie müssen Be-standteil der öffentlichen Daseinsvorsorge sein. Das istunsere Forderung .
Meine Damen und Herren, ich finde es unverantwort-lich, wie Sie hier in der Großen Koalition um die Berufs-ausbildung in der Pflege streiten. Es ist wirklich wahr:Wir brauchen die Reform der Berufsausbildung jetzt .
Das können Sie nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hi-nausschieben . Sie können sich nicht einigen . Wir wollendie integrierte Ausbildung – das ist bekannt, Verdi fordertsie auch –, und damit wollen wir den Erhalt der Berufs-stände . Das muss endlich kommen .Hören Sie endlich auf, zu streiten . Tun Sie was! Unter-stützen Sie deshalb unseren Antrag!
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Erwin Rüddel .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Wir haben jetzt hier gerade eine klassen-kämpferische, ideologisch geprägte Darstellung gehört .
Ich danke der Bundesregierung, dass wir jetzt denSechsten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversi-cherung und den Stand der pflegerischen Versorgung inder Bundesrepublik Deutschland vorliegen haben .
Er zeigt, wie gut die Pflege in Deutschland ist und wiegut die Arbeit ist, die wir in den zurückliegenden dreiein-halb Jahren in dieser Koalition geleistet haben . Da hilftkeine Ideologie . Wir beweisen das in der Praxis .
Der Pflegebericht zeigt unter anderem, dass die Leis-tungen der Pflegeversicherung durch das Pflegestär-Sabine Zimmermann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723094
(C)
(D)
kungsgesetz I deutlich ausgebaut und besser auf die Be-dürfnisse der Betroffenen und Angehörigen ausgerichtetwurden .
Was ganz wichtig ist: Anträge der Versicherten auf Leis-tungen werden von der Pflegekasse schneller bearbeitet.Es ist auch eine spürbare Verbesserung bei der Qualifi-zierung und der Gewinnung von Pflegepersonal zu er-kennen .Die guten Ergebnisse des Pflegeberichts sind erfreu-lich, aber sie überraschen uns nicht; denn diese Koalitionhat zu Beginn der Legislaturperiode versprochen: mehrQualität, mehr Geld, mehr Betreuung und mehr Händefür gute Pflege – und wir haben Wort gehalten.
Wir haben gemeinsam, Frau Rawert, die umfassendsteReform der sozialen Pflegeversicherung seit der Einfüh-rung vor 20 Jahren verwirklicht .
Seit dem 1. Januar 2015 stehen für die Pflegeleistungenzusätzlich 2,4 Milliarden Euro – und ich betone aus-drücklich: pro Jahr – zur Verfügung . Die Mittel kommendort an, wo sie gebraucht werden: bei den Pflegebedürfti-gen, deren Angehörigen und bei den Pflegekräften.Zum weiteren Nutzen des ambulanten Bereiches ha-ben wir beispielsweise nicht nur die Kurzzeit- und Ver-hinderungspflege sowie die Tages- und Nachtpflege aus-gebaut, sondern wir haben auch die Leistungen deutlichflexibler gestaltet. Zudem gibt es höhere Zuschüsse fürdie Verbesserung des Wohnumfeldes .Auf das Erste Pflegestärkungsgesetz folgte mit der fäl-ligen Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs derzweite große Reformschritt . Im Ergebnis sind vor allemMenschen mit demenziellen Erkrankungen in der Pflege-versicherung jetzt deutlich besser gestellt als zuvor: Esgibt passgenaue Einstufungen, die Minutenpflege wurdeabgeschafft,
und für bereits pflegebedürftige Menschen gilt der Be-standsschutz . Mit Blick auf Menschen mit kognitivenund somatischen Einschränkungen haben wir gemeinsameine große Gerechtigkeitslücke geschlossen .
Im Ergebnis mobilisieren wir jährlich – jährlich! – 5 Mil-liarden Euro zusätzlich . Das sind circa 20 Prozent mehrLeistungen, die vor allem der Versorgung von demenz-kranken Menschen zugutekommen .Man kann es nicht oft genug sagen: In der Summe be-deuten die beiden Pflegestärkungsgesetze eine so mas-sive Aufstockung eines sozialen Sicherungssystems, wiees das noch nie in der Geschichte der Sozialversicherungin Deutschland gegeben hat .
Schließlich haben wir mit dem Pflegestärkungsge-setz III den Kommunen zusätzliche Beratungsaufgabenübertragen . Es geht dabei um die bessere Vernetzungörtlicher Angebote und um aufsuchende Beratung fürPflegebedürftige und deren Familien. Möglichst in je-dem einzelnen Fall soll ein individuelles Paket geschnürtwerden, das optimal auf die jeweiligen Bedürfnisse zu-geschnitten ist. Das hilft pflegebedürftigen Menschen, solange wie irgend möglich in ihrer vertrauten Umgebungzu bleiben . Ausdrücklich begrüße ich auch die zusätzli-chen Anreize für niedrigschwellige Betreuungs- und Ent-lastungsleistungen .Meine Damen und Herren, wir haben im PSG III klareWorte zur Frage der Qualitätskontrollen gefunden . Siedürfen nicht zum Schaden der Pflegeversicherung ver-hindert werden. Wer Leistungen aus der sozialen Pflege-versicherung erhält, muss bereit sein, die erbrachten Leis-tungen auf ihre Qualität hin überprüfen zu lassen . Wersolchen Überprüfungen nicht zustimmt, hat sein Rechtverwirkt, Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherungzu erhalten. Wir verschärfen die Kontrollen, damit Pfle-gebedürftige, ihre Familien und die Pflegekräfte besservor betrügerischen Pflegediensten geschützt werden.Außerdem haben wir geregelt, dass in Vergütungsver-handlungen zwischen Pflegekassen und PflegedienstenTariflöhne bei tarifgebundenen Einrichtungen nicht alsunwirtschaftlich abgelehnt werden dürfen . Damit stellenwir sicher, dass Tariferhöhungen wirklich bei den Be-schäftigten ankommen . Mit dem PSG III wird diese Re-gelung auch auf die nichttarifgebundenen Einrichtungenausgedehnt . Damit ist sichergestellt, dass sich der Tarif-lohn kurz- und mittelfristig in der Altenpflege flächende-ckend durchsetzen wird .
Meine Damen und Herren, es gibt in dieser Wahlperi-ode praktisch kein Gesetzesvorhaben im Bereich der Ge-sundheit, das nicht zugleich einen wichtigen Beitrag zurRunderneuerung der Pflege leistet. Der Bürokratieabbau,der neue Pflege-TÜV, mehr Medikamentensicherheit,das Hospiz- und Palliativgesetz, das E-Health-Gesetzmit dem einheitlichen Medikationsplan – das sind allesVersprechen aus dem Koalitionsvertrag, die wir eingelösthaben . Im Zentrum stand immer das Bemühen um mehrQualität in der Pflege. Dies gilt ausdrücklich auch für dasGesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung,mit dem wir nicht nur eine gute Qualität der Produkte,sondern auch eine fachkundige begleitende Beratung undeinen anständigen Service sicherstellen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der nahendenBundestagswahl ist auch das Gespenst der Einheitskassewieder auferstanden .
Erwin Rüddel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23095
(C)
(D)
Eine solche Einheitskasse würde Wirtschaft und Versi-cherte belasten, ohne ein besseres Gesundheitssystem zuschaffen.
Ich bleibe dabei: Eine staatliche Einheitskasse führt di-rekt in die von ihren Vordenkern beklagte Zweiklassen-medizin; denn wer genug Geld hat, wird immer einenArzt finden – für jede Therapie – und eine Zusatzversi-cherung .
Warum sollen wir ohne jede Not hier bei uns solche Ver-hältnisse wie in Großbritannien schaffen?
Und das, obwohl eine Untersuchung erst vor wenigen Ta-gen belegt hat, dass Deutschlands Gesundheitssystem imEU-Vergleich spitze ist:
freie Arztwahl und geringe Wartezeiten, schneller Zu-gang zu Fachärzten und Kliniken sowie zu innovativenMedikamenten, große Wahl- und Therapiefreiheit, gerin-ge oder keine Zuzahlungen .
Zusammengefasst: Die Versorgung hierzulande ist diebeste in Europa, weshalb 80 Prozent der Versicherten inDeutschland mit ihrer medizinischen Versorgung zufrie-den sind, also keine Experimente, wie Konrad Adenaueres schon gesagt hat .Statt unsere Energie auf ein Projekt mit höchst unge-wissem Ausgang zu konzentrieren, sollten wir uns alsGesundheitspolitiker lieber darum kümmern, das beste-hende System weiter zu verbessern, im Sinne von Evolu-tion statt Revolution .Wir haben in der Koalition Wort gehalten und in gro-ßer Geschlossenheit grundlegende Reformen auf denWeg gebracht . Ob man das „Meilenstein“ oder „Quan-tensprung“ nennt – es ist auf jeden Fall ein großer Wurf,der uns gemeinsam gelungen ist . Ich danke allen Kol-leginnen und Kollegen, die daran mitgearbeitet haben .Ein ganz besonderer Dank geht an das Ministerium fürdie gute Zusammenarbeit . Ich glaube, wir gehen im Ge-sundheitssystem, gerade im Bereich Pflege, einer gutenZukunft entgegen .Vielen Dank .
Als Nächste spricht die Kollegin Maria Klein-
Schmeink für Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Rüddel, in den vergangenen neun
Minuten hätten Sie eigentlich über die solidarische und
gerechte Finanzierung von Gesundheit und Pflege reden
sollen .
Ich muss sagen: Sie haben die Zeit vollständig für etwas
vollkommen anderes genutzt, nämlich für eine Marke-
tingveranstaltung . Es ging nur um das, was Sie meinen
für die Pflege getan zu haben. Ich kann nur sagen: Damit
sind Sie zu kurz gesprungen .
Am Ende der Wahlperiode müssen wir ganz eindeutig
sagen: Das Thema „solidarische und gerechte Finanzie-
rung“ gehört auf die Tagesordnung . Denn wir müssen
feststellen: Acht Jahre Große Koalition und vier Jahre
Schwarz-Gelb haben dazu beigetragen, dass wir heute
eben nicht sagen können, dass wir eine stabile Finanzie-
rung in der GKV und in der sozialen Pflegeversicherung
haben .
Vielmehr haben wir das traurige Ergebnis, dass allein die
Versicherten sämtlichen Kostenaufwuchs in der Gesund-
heitsversorgung stemmen müssen . In den Jahren 2015
und 2016 haben die Versicherten der GKV – sie ganz al-
lein – insgesamt 24,1 Milliarden Euro an Zusatzbeiträgen
gezahlt . Das zeigt, wie ungerecht dieses System ist
und dass wir da dringend etwas tun müssen .
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stritzl?
Ja, gerne . Die vier Minuten Redezeit sind sowieso zu
wenig .
Frau Kollegin, erlauben Sie mir folgende Zwischen-frage:Erstens . Bin ich richtig informiert, dass unter rot-grü-ner Regierungsbeteiligung ein Sonderbeitrag für dieGKV zulasten der Arbeitnehmerschaft eingeführt wurde?Wenn ja, in welcher Höhe wurde er eingeführt?Erwin Rüddel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723096
(C)
(D)
Zweitens . Können Sie mir sagen, welchen Wert dieRücklagen in der gesetzlichen Krankenversicherung derBundesrepublik Deutschland zurzeit insgesamt haben?Danke schön .
Danke für die Fragen . – Es ist in der Tat so, dass un-ausgewogene Finanzierungskonzepte für die gesetzlicheKrankenversicherung – nur die Löhne und Gehälter wur-den einseitig belastet – in der damaligen konjunkturellenPhase dazu geführt haben, dass man sich entschiedenhat, einen Sonderbeitrag für die Arbeitnehmer zu schaf-fen . Aber man muss ganz eindeutig sagen: Das war eineinmaliger Schritt, der zu einer einseitigen Belastung derVersicherten geführt hat, sozusagen eine Konjunkturhil-fe durch die Versicherten . Ich muss deutlich feststellen:Heute gibt es keinen Grund, genau diese Sonderbelas-tung nur der Versicherten fortzuführen .
Das ist ein Geschenk für die Arbeitgeber, das sie erstensnicht brauchen und zweitens die gesellschaftliche Soli-darität insgesamt beeinträchtigt . In dem Sinne wird deut-lich: Es muss zu einer Umkehr kommen .
Genau darauf komme ich jetzt im weiteren Fortgang mei-ner Rede zu sprechen . – Danke schön .
– Die Rücklagenhöhe ist so, dass man tatsächlich sa-gen muss: Es ist eine ordentliche Rücklage, insgesamt24 Milliarden Euro in den verschiedenen Töpfen . – Aberwir müssen natürlich gleichzeitig sagen: Diese 24 Milli-arden Euro sind zwischen den Krankenkassen nicht ge-recht verteilt . Es kommt vielmehr zu Verwerfungen, diewir derzeit haben, dass einzelne Kassen den Zusatzbei-trag noch einmal anheben müssen . Genau dazu kam esin dieser Woche bei drei Krankenkassen, die ihre Zusatz-beiträge um 0,3 Prozentpunkte erhöhen mussten . Dieseeinseitige Belastung von Versicherten können wir nichtwollen .
Dies führt auch dazu, dass das gesamte System dergesetzlichen Krankenversicherung in eine Schieflagekommt . Das haben Sie zu verantworten . Das werden wirin den nächsten Monaten und Jahren deutlich zu spü-ren bekommen, wenn es nicht zu einem Politikwechselkommt . Gerade deshalb ist er so wichtig . – Danke schönfür diese Frage .
Insgesamt haben wir eine Situation, in der man sagenmuss: Ja, Sie haben in den letzten vier Jahren deutlicheLeistungsverbesserungen beschlossen; das stimmt .
Einige waren mehr als überfällig und Resultat einer völ-lig verfehlten schwarz-gelben Politik . Aber wir alle ver-missen ein Konzept, wie Sie diese Leistungsverbesserun-gen in der nächsten Wahlperiode finanzieren wollen,
außer dass die Versicherten allein dafür zahlen . Das istdas Konzept, das Sie als Große Koalition vereinbart ha-ben . Das ist zutiefst ungerecht und auf Dauer auch nichttragfähig . Das wissen auch Sie . So darf man die gesell-schaftliche Solidarität nicht strapazieren .
Nun kommen wir zu einer weiteren Baustelle: DasNebeneinander von privater und gesetzlicher Kranken-versicherung produziert viele Verliererinnen und Ver-lierer . Darüber haben wir gestern sehr lange diskutiert .Gerade bei den kleinen Selbstständigen gibt es großeVerwerfungen . Diese gibt es aber auch bei niedrig einge-stuften Beamten mit Familie und bei Rentnern, die zumTeil übermäßig hohe Beiträge in der PKV zahlen müssen,
obwohl sie nur kleine Renten haben . Das ist soziales Dy-namit für die nächste Wahlperiode . Sie haben keinerleiKonzept, wie Sie das Problem angehen wollen .
Deshalb wollen wir mit der Bürgerversicherung ei-nen Schritt gehen, der keine Revolution, sondern nur dieWeiterentwicklung des heutigen gesetzlichen Systemsbedeutet, das sich gut bewährt hat . 90 Prozent der Be-völkerung sind in der gesetzlichen Krankenversicherungversichert .
Die weiteren 10 Prozent wollen wir hereinholen, indemwir den Versicherten ein Angebot machen . Das ist ja sehroft auch die Lösung von sozialen Problemen, die sichdurch dieses Nebeneinander auftun .Ein weiteres Problem . Wir haben eine unterschiedli-che Honorargestaltung bei ärztlichen Leistungen für Pri-vat- und gesetzlich Versicherte. In der Folge finden wirFachärzte nur noch dort, wo viele Privatversicherte sind .
Das kann doch nicht die Lösung dafür sein, wie wir eineeinheitliche und gute Versorgung in allen Landesteilensicherstellen wollen .
Thomas Stritzl
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23097
(C)
(D)
Sie haben wiederum keine Antwort darauf, wie Sie dasangehen wollen . Wir brauchen dringend ein gemeinsa-mes Honorarsystem, das gute Leistungen und mehr Zeitfür das Gespräch mit dem Patienten ermöglicht und nichtdanach bezahlt, ob jemand privat oder gesetzlich versi-chert ist . Das muss doch der Weg sein .Das sind die wesentlichen Kernpunkte der Bürgerver-sicherung: Es geht darum, alle einzubeziehen . Es gehtdarum, alle Einkommensarten einzubeziehen, nieman-dem mehr Risiken aufzubürden, sondern jeden gemäßseiner Leistungsfähigkeit zu veranlagen . Das ist der rich-tige Weg .Ich möchte wissen, was Ihre Antwort für eine stabi-le und gerechte Finanzierung sein wird . Ich habe nochnichts gehört .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild Rawert
für die SPD .
Herr Vizepräsident! Werte Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Zuschauende! Ich freue mich, dass ich dankdes Antrages der Linken und dank des Pflegeberichtesfür den Zeitraum 2011 bis 2015 abermals zum politischhochbrisanten Thema Pflege reden darf.
Der Bericht zeigt: Pflegebedürftige, ihre Angehörigenund auch die Pflegekräfte nehmen die in diesem Zeit-raum gesetzlich auf den Weg gebrachten Verbesserungengut an .
Eine lange Liste ist vorhin schon diskutiert worden .Mir kommt es jetzt darauf an, zu unterstreichen, dassdazu auch die Realisierung des Prinzips „Reha vor Pfle-ge“ zählt . Das wollen wir dezidiert ausbauen .Ich möchte dezidiert die bedarfsgerechtere Unterstüt-zung pflegender Angehöriger durch verbesserte Freistel-lungsregelungen bei der Vereinbarkeit von Beruf undFamilie und Pflege betonen.
Diese Leistungsverbesserungen sind und waren nichtdas Ende der Fahnenstange . Das hat sich allein schondarin gezeigt, dass wir kurz danach die Pflegestärkungs-gesetze II und III verabschiedet haben . Seitdem gilt derneue Pflegebedürftigkeitsbegriff. Mit dem neuen Begut-achtungsverfahren ermöglichen wir den Leistungsemp-fangenden den Zugang zu allen Leistungen, und zwarunabhängig von der Beeinträchtigung – egal ob es sichum eine kognitive, psychische oder körperliche Beein-trächtigung handelt . Das ist ein Riesenschritt in RichtungGerechtigkeit .
Es geht noch weiter: Mit 60 Modellkommunen stellenwir die Pflegeberatung vor Ort auf noch bessere Beine.Mit Personaluntergrenzen stabilisieren wir wichtige Pfle-gebereiche im Krankenhaus .Sie sehen: Der Begriff einer Bewegung in der Com-munity der Pflegefachkräfte, die sich „Pflege in Bewe-gung“ nennt, hat sich auch im Deutschen Bundestag nie-dergeschlagen .
Wir wollen, dass pflegebedürftige Menschen einepassgenaue und individuell angepasste Versorgung be-kommen . Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-kraten ist Pflege eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. DerAuf- und Ausbau einer hochwertigen Pflegeinfrastrukturist eine Herausforderung für unser gesamtes Gemeinwe-sen .
Pflege gehört in die Mitte der Gesellschaft. Ich sage esfrank und frei: Ausführungen über die Organisation einerguten Pflege gehören in jedes Wahlprogramm; denn Pfle-ge ist ein hochpolitisches Thema. Pflege ist und bleibt inBewegung .Eine repräsentative Bevölkerungsbefragung des Zen-trums für Qualität in der Pflege hat gezeigt, dass dieVersorgung älterer hilfebedürftiger Menschen und dasThema „Gute Pflege für alle“ für 43 Prozent der 61,5 Mil-lionen wahlberechtigten Bürger und Bürgerinnen bei derBundestagswahl 2017 sehr wichtig bei ihrer Wahlent-scheidung ist. Insbesondere betrifft dies die maßgeblicheAltersgruppe 50 plus . Hier sind es sogar 53 Prozent, diesagen, dass Pflege – und damit auch Gesundheit – für siezur Daseinsvorsorge gehört. Im Bereich der Pflege be-steht also weiterhin Handlungsbedarf .Was sagt diese repräsentative Befragung noch?71 Prozent der zumeist Älteren halten die Arbeitsbedin-gungen in der Pflege für am dringendsten verbesserungs-bedürftig, und 42 Prozent der Befragten glauben, dasspflegende Angehörige dringend noch besser zu unterstüt-zen sind – alles Aspekte, die wir ständig hervorgehobenhaben . Es freut mich, dass die Älteren intergenerativ, alsoauch an die Lebenssituationen der Jüngeren denken, wasda heißt: Auch die Frauen in diesen Berufen leben nichtvon Luft und Liebe allein, sondern sie brauchen auch einanständiges Einkommen . Wir müssen ebenso gute Ver-einbarkeitsstrukturen schaffen.
Zum Thema Finanzierung . Ja, natürlich müssen wirschauen, wie wir die ganzen Regelungen finanzieren.Von den Verbesserungen für die Pflegefachkräfte bei derTarifierung wurde schon berichtet. Das Traurige ist: Nursehr wenige Pflegeeinrichtungen haben eine Tarifbin-Maria Klein-Schmeink
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723098
(C)
(D)
dung, und sehr wenige Pflegefachkräfte sind in Gewerk-schaften organisiert, und sie fallen deswegen nicht unterdie Tarifverträge . Daher an dieser Stelle mein Appell:Bitte organisieren Sie sich alle, und schließen Sie Tarif-verträge ab!
Wir als SPD werden im Kontext der sozialdemokrati-schen Politik weiterhin nach Lösungen suchen, wenn esum die Personalausstattung, die Transparenz von Quali-tät, die Durchsetzung der Rechte von pflegebedürftigenMenschen und auch – ich bleibe dabei – die Stärkungeiner pflegeberuflichen Bildung geht.
Das ist von großer Bedeutung . Denn mehr Leistungenallein bedeuten nicht, dass eine pflegebedürftige Persontatsächlich schon die nötige Pflege bekommt. Es ist auchqualifiziertes Personal nötig, das die entsprechendenLeistungen kompetent erbringen kann .Das Thema Bürgerversicherung ist im Antrag der Lin-ken – ich sage es einmal nett – ein wenig durcheinanderdargestellt worden;
deswegen gehe ich darauf jetzt gar nicht näher ein .
Jedem, der unser Konzept nachlesen möchte, sage ich:Erste Züge stehen schon seit November letzten Jahres imInternet . Wenn Sie nach „Fortschritt und Gerechtigkeit –Chancen für alle“ suchen, werden Sie unser Konzept fin-den .
Wir sind für jede Ergänzung dankbar .Ich habe eine weitere und abschließende Bitte an die1,2 Millionen beruflich Pflegenden – der Deutsche Pfle-getag hat das gezeigt –: Bündeln Sie Ihre Interessen! Tre-ten Sie ein in eine Gewerkschaft, in einen Berufsverband,in eine Pflegekammer oder auch in eine Partei! Denn esstimmt: Sie haben die Wahl; Sie entscheiden mit . Ma-chen Sie Ihr Kreuz auch unter Berücksichtigung Ihrereigenen Interessen bei denjenigen, die sich für eine gute,generalistische Pflegeausbildung einsetzen.Seien Sie gegrüßt!
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Erich
Irlstorfer .
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Kollegin Rawert schafft es immer wieder, mich beimThema „generalistische Ausbildung“ zu reizen . Gratula-tion!
Ich erwähne das Ganze nur mit wenigen Sätzen – dennheute geht es ja um ein anderes Thema –: Verehrte Kolle-gin, Sie kennen den Kompromissvorschlag .
Ich weiß, dass er Ihnen nicht in Gänze gefällt – uns auchnicht, aber so ist das bei Kompromissen nun einmal .Glauben Sie mir: Ich bin wirklich davon überzeugt, dasses wichtig wäre, Ministerin Schwesig dazu zu bringen,ihre Eitelkeiten zu vergessen
und zuzustimmen; bitte erlauben Sie mir, das zu sagen .
– Das ist eine nette Person . Das habe ich auch nicht an-ders gesagt .Werte Kolleginnen und Kollegen, Frau Zimmermannhat gerade den Antrag der Linken begründet . Darunterwaren ja Äußerungen, die wirklich unterirdisch waren .
Deshalb schenke ich es mir, darauf näher einzugehen .
Ich möchte nur darauf hinweisen: Nach 20 Jahren Be-stehen der gesetzlichen Pflegeversicherung hat die uni-onsgeführte Bundesregierung in der laufenden Legislatureine umfassende Reform der Pflege in Angriff genom-men .
Das ist unbestreitbar . Dabei war uns klar, dass Struk-turverbesserungen zwar wichtig, aber nicht ausreichendsein würden .
Deshalb haben wir deutliche und spürbare Leistungsaus-weitungen beschlossen, die nicht nur die Versorgung vonPflegebedürftigen verbessert, sondern vor allem auch denKreis der Leistungsbezieherinnen und Leistungsbezieherdeutlich vergrößert haben .Mechthild Rawerthttp://www.linksfraktion.de
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23099
(C)
(D)
Die dadurch entstehenden zusätzlichen Kosten –Frau Klein-Schmeink hat darauf hingewiesen – könnenwir nur deshalb rechtfertigen, weil wir für eine stabilewirtschaftliche Lage in Deutschland mit einer Rekord-beschäftigung gesorgt haben, von der nun auch der Sozi-alstaat und die Sozialsysteme profitieren.
– Das ist die Wahrheit. – Die finanziellen Mittel werdenzielgerichtet eingesetzt und kommen bei den Betroffenenan, die Verbesserungen sind für die Menschen erlebbarund werden angenommen .Im Sechsten Bericht der Bundesregierung über dieEntwicklung der Pflegeversicherung werden die Bemü-hungen, Bedürfnisse und Wünsche der Pflegebedürftigenhinsichtlich der Reform der Pflegeversicherung beleuch-tet . Diesen wollen wir gerecht werden . Neben Verbesse-rungen für die Pflegebedürftigen wollten wir gleicherma-ßen aber auch sicherstellen – das ist uns auch gelungen –,dass die Angehörigen, die in Deutschland bei der Pflegenoch immer eine enorme Leistung schultern, entlastetwerden und die Verbesserungen auch spüren . An dieserStelle sei die Möglichkeit der Inanspruchnahme vonLohnersatzleistungen oder der Reduzierung der Arbeits-zeit von bis zu zwei Jahren erwähnt . Dazu kommt, dasswir für die Angehörigen auch den Schutz in der Arbeits-losenversicherung verbessert haben . Das dürfen wir nichtvergessen .
In den letzten beiden Jahren ist der Anteil der durch An-gehörige versorgten Bedürftigen wieder leicht angestie-gen, auf 67 Prozent, beeinflusst durch diese und weitereVerbesserungen in diesem Bereich .Der Dreiklang der Pflege – ich sage es zum wieder-holten Male – bliebe aber aus meiner Perspektive ohneVerbesserungen für die Pflegekräfte unvollständig. Des-halb ist es notwendig, dass wir auch in diesem Bereichden nächsten Reformschritt machen . Uns war wichtig,einer übermäßigen Arbeitsbelastung durch den Einsatzzusätzlicher Kräfte sowie den Abbau von überflüssigerBürokratie entgegenzuwirken . Das sind erste Schritte,die hier gegangen wurden . Gleichermaßen spielt für dieAttraktivität des Berufes natürlich die Vergütung einesehr wichtige Rolle. Die Bezahlung von Tariflöhnen –hier sind wir uns einig – muss eine Selbstverständlich-keit sein . Auch hier sind wir schon Schritte in die richtigeRichtung gegangen .
Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist der Größe derAufgabe geschuldet, dass wir das Pflegereformvorhabenin eine Reihe von einzelnen Gesetzen gepackt haben,in die Pflegestärkungsgesetze I bis III. Die Leistungender Pflegeversicherung und die pflegerische Versorgungkonnten durch das Erste Pflegestärkungsgesetz bereits imersten Jahr seiner Wirksamkeit deutlich ausgebaut wer-den . Es gibt zusätzliche Leistungen für die Betreuung imRahmen der häuslichen Pflege sowie für Rehabilitationund Prävention. Mit dem Pflegestärkungsgesetz I wurdeerstmals die Vergütung sämtlicher Leistungen der Pfle-geversicherung an die Preisentwicklung der vergangenendrei Jahre angepasst und in einem Umfang von 4 Prozentangehoben . Auch das dürfen wir nicht verschweigen .Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskom-petenz haben seit Januar 2015 Zugang zu allen Leistun-gen der häuslichen Pflegeversicherung, einschließlichder Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege.Umgekehrt können auch Pflegebedürftige, die vor-rangig körperlich beeinträchtigt sind, besondere An-gebote der allgemeinen Anleitung und Betreuung, derhauswirtschaftlichen Versorgung oder von den Ländernanerkannte niedrigschwellige Betreuungs- und Entlas-tungsangebote in Höhe von bis zu 208 Euro im Monatvon ihrer Pflegekasse erstattet bekommen. Auch das sindVerbesserungen .Es handelt sich hierbei um nicht gerade wenige Men-schen; wir sprechen für das Jahr 2015 – das sollten wiruns vor Augen halten – von 1,5 Millionen Pflegebedürf-tigen . Dementsprechend haben sich auch die Ausgabenfür zusätzliche ambulante Betreuungsleistungen von437 Millionen Euro im Jahr 2013 auf 684 Millionen Euroim Jahr 2015 erhöht . Bringen Sie die Information überdiese niedrigschwelligen Betreuungsangeboten bitte un-ter die Leute, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, undverunsichern Sie mit solchen Anträgen nicht die Men-schen!
Die mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz eingeführ-ten Leistungsausweitungen im Bereich des Wohnumfel-des kommen bei den Betroffenen an. Die Zahlen sprechenhier eine deutliche Sprache: Gab die Pflegeversicherungim Jahr 2011 rund 103 Millionen Euro dafür aus, stiegdieser Betrag bis 2015 auf knapp 305 Millionen Euro .
Auch das sind Verbesserungen . Das kann man nicht ein-fach unter den Teppich kehren und so tun, als wäre nichtspassiert .
Wenn wir über Solidarität in der Pflege sprechen, ge-hört zur Betrachtung der aktuellen Situation nicht nur derfinanzielle Aspekt, also die finanziellen Mittel, die in diePflege investiert werden, sondern auch die Ausweitungdes Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die wir durch das Pfle-gestärkungsgesetz II ermöglicht haben . Es sind nun nichtmehr nur Menschen mit körperlichen Einschränkungenerfasst, sondern auch geistig und seelisch beeinträchtigteMenschen .Mit dem Pflegestärkungsgesetz III haben wir schließ-lich die kommunale Ebene gestärkt, damit dort eine bes-sere Koordination, Kooperation und Steuerung erfolgenkönnen .
Dadurch, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wireine unabhängige und zentral gesteuerte Beratung er-Erich Irlstorfer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723100
(C)
(D)
möglichen, die den Pflegebedürftigen die bestmöglichenAngebote aus einer Hand offeriert. Dabei soll es zu einerVerzahnung der kommunalen Angebote und der Bera-tungsangebote der Pflegekassen kommen.Am Ende wollen wir es den pflegebedürftigen Men-schen vor allem ermöglichen, so lange wie möglich inihrem gewohnten Umfeld zu bleiben . Ambulant vor stati-onär – das ist der Wunsch der Menschen und somit unserAuftrag .Ein Wort an die Linke . Es gibt Gott sei Dank jüngereKolleginnen und Kollegen – ich habe darüber Gesprä-che gehabt –, die wahrnehmen, dass man hier den erstenrichtigen Schritt getan hat . Aber, liebe Kolleginnen undKollegen der Linken, so, wie wir es gemacht haben, ist esin meinen Augen politische Solidarität . Mit dem, was Siein Ihrem Antrag darstellen, gaukeln Sie den Versichertenein Schlaraffenland vor. Das Ganze soll bei Ihnen auchnoch zum Nulltarif funktionieren . Ich kann nicht nach-vollziehen, wie Sie in Ihrem Antrag bei einem gleichblei-benden Beitragssatz auf Mehreinnahmen in Höhe von12 Milliarden Euro kommen .
Dieser Betrag wird in der Regel als jährliche Verlust-spanne angegeben .Würde es die Privatversicherungen nicht geben, wür-de es sicherlich anders ausschauen . Das ist der Konstruk-tionsfehler Ihres Allheilmittels, der Bürgerversicherung .Wir müssen dieses gute und wirklich einzigartige sowiehervorragend funktionierende System von gesetzlicherund privater Krankenversicherung immer wieder an dieRealität anpassen .
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung . Allein durchPrivatversicherte fließen jedes Jahr fast 29 MilliardenEuro in unser Gesundheitssystem .
Dieses Geld benötigen wir .Mit allem anderen, was zum Thema Bürgerversiche-rung hier gesagt wurde und im Wahlkampf noch an-gesprochen werden wird, werden wir uns sehr kritischauseinandersetzen. Nur die Begrifflichkeit in den Raumzu werfen, ohne Fleisch am Knochen, wird nicht funkti-onieren .Danke schön .
Der Kollege Harald Weinberg spricht als Nächster für
die Fraktion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Herr Irlstorfer,was Ihre Ausführungen zu „Fleisch und Knochen“ an-geht, besteht das Problem darin, dass ich in fünf Minutennur wenig von dem Konzept darlegen kann, das wir fürdie solidarische Gesundheitsversicherung haben . Ich willaber versuchen, es anhand von ein paar Punkten zu ver-deutlichen . Dabei werde ich ein bisschen ausholen undan die vorhergehende Debatte zum Thema Nachhaltig-keit anknüpfen .Es geht hier – das ist sozusagen das Thema – um dieNachhaltigkeit der Finanzierung der Gesundheitsver-sicherung und der Pflege. Wir hatten seinerzeit einmaleinen Nachkriegskonsens . Der bestand darin, dass wirgesagt haben: Wir nehmen bestimmte Bereiche aus derMarktwirtschaft heraus, da lassen wir marktwirtschaftli-ches Geschehen und auch Profitwirtschaft nicht zu. Dasbetraf im Wesentlichen die Altersversorgung, die Ge-sundheit und die Arbeitslosenversicherung .
Allgemein wurde das „Daseinsvorsorge“ genannt .Im Zusammenhang mit der Übermacht der Ideologiedes absoluten Marktes, Herr Rüddel – das ist auch IhreIdeologie, das ist das Problem –,
hat es eine Öffnung dieser Bereiche für die Kapitalver-wertung bzw . für anlagesuchendes Kapital gegeben . Beiden Krankenkassen hat es dazu geführt, dass wir sie in-zwischen de facto als Unternehmen sehen und mit denZusatzbeiträgen in einen ruinösen Wettbewerb getriebenhaben . Das ist die Situation .Ich komme zum Thema Einheitskasse. Ich finde esschon – das muss ich sagen – ein bisschen drollig, unsdie Einheitskasse vorzuwerfen, gleichzeitig aber einenWettbewerb voranzutreiben, der dazu geführt hat, dassinnerhalb der letzten Jahre die Zahl der Kassen von 1 000auf inzwischen 150 gesunken ist . Und diese Entwicklunggeht weiter . Am Ende werden wir also durch den Wett-bewerb, den Sie organisiert haben, eine Einheitskassehaben .
– Doch, das ist die Situation .Ich sage Ihnen noch eines: Der Vergleich mit Groß-britannien stimmt natürlich komplett nicht . Denn das,was wir als solidarische Gesundheitsversicherung vor-schlagen, ist ein beitragsfinanziertes System; es ist keinsteuerfinanziertes System. Es geht nicht über den Finanz-minister . Der entscheidet nicht darüber, welche Geldereingenommen werden . Das ist allerdings in Großbritan-nien der Fall gewesen . Dann war es natürlich so, dassjemand wie Margaret Thatcher den Finanzhahn relativleicht zudrehen konnte . Ja, in der Tat, dann ist der NHS indie Knie gegangen . Es gab lange Wartezeiten und Quali-tätsprobleme . Denn es war eine politische Entscheidung,den Hahn, aus dem die Steuermittel flossen, einfach zu-Erich Irlstorfer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23101
(C)
(D)
zudrehen. Das geht in einem beitragsfinanzierten Systemnicht. Deswegen sind wir auch konsequent für ein bei-tragsfinanziertes System.
Was ist das Wesen der solidarischen Gesundheitsver-sicherung? Das Wesentlichste bei ihr – neben der FragePKV/GKV, auf die ich jetzt nicht eingehen werde – istdie Verbreiterung der Einnahmebasis . Sie kann durch dieVerstärkung bzw . Wiederherstellung des Prinzips der So-lidarität – von dem war bereits eben die Rede – erreichtwerden .Ich will versuchen, Ihnen das an einem Beispiel zuverdeutlichen: Ein Arbeitnehmer verdient mit unselbst-ständiger Arbeit 4 000 Euro monatlich . Die werden kom-plett verbeitragt, ganz normal . Ein anderer Beschäftigterverdient 1 000 Euro monatlich, erhält aber 3 000 EuroZinsgewinne pro Monat – also hohe Zinsgewinne . Derhat dann ebenfalls 4 000 Euro . Der erste Beschäftigtezahlt einen viermal höheren Beitrag als der zweite in dieGesundheitsversicherung ein . Wir sagen: Das passt nichtmehr in diese Zeit, in eine Zeit, in der die Unternehmen-seinkünfte sowie die Einkünfte aus Kapital, Vermietungund Verpachtung immer weiter in die Höhe gehen . Wirmüssen diese Einkünfte in die Verbeitragung bzw . Finan-zierung der Gesundheitsversicherung mit hineinnehmen .
Dann werden wir auch erstens in der Lage sein, die Zu-zahlungen abzuschaffen. Und zweitens – das hat jetztProfessor Rothgang in einer aktuellen Studie ausgerech-net –
wären wir dann in der Lage, den Beitrag auf unter12 Prozent herunterzubringen . Das heißt also, eigentlichmüssten sogar die Arbeitgeber, die Sie ja so gerne vertre-ten, in höchstem Maße für die solidarische Bürgerversi-cherung sein . Denn ihr Anteil würde dann logischerweiseauf unter 6 Prozent sinken . Das Problem dabei ist ganzoffensichtlich: Es gibt gewisse Verbandelungen mit derprivaten Assekuranzwirtschaft . Von daher hat sich das of-fensichtlich noch nicht so weit herumgesprochen, sodassweiterhin gegen eine solidarische Gesundheitsversiche-rung angegangen wird .Als Letztes möchte ich sagen: Wir müssen die Ge-sundheitsversorgung in Deutschland in Zukunft nachhal-tig finanzieren und öffentlich organisieren. Das sind diebeiden wesentlichen Punkte . Und dafür wird die Linkegebraucht .Vielen Dank .
Der Kollege Dr . Edgar Franke spricht jetzt für die
SPD .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Auf eines kann man sich freitagmorgens fast immerverlassen: Wir diskutieren einen Antrag der Linken zurBürgerversicherung .
Viele Argumente kennen wir schon . Aber zunächstist die Frage: Worum geht es beim Thema Gesundheit,und worum geht es beim Thema Pflege wirklich? Es gehtum Perspektiven für eine gute medizinische Versorgung .Es geht um Perspektiven für eine älter werdende Gesell-schaft . Wir müssen uns fragen: Sind wir auf eine älterwerdende Gesellschaft vorbereitet? Wir müssen uns dasinhaltlich fragen .Wir wissen alle, dass die medizinische Versorgung im-mer besser wird, aber Krankheiten wie Demenz stellenuns vor große Herausforderungen . Die Politik muss sichfragen, ob wir diesen demografischen und gesellschaftli-chen Herausforderungen gewachsen sind .Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir damit um-gehen . Für die SPD ist die politisch entscheidende Frage,wie wir die steigenden Kosten einer älter werdenden Ge-sellschaft solidarisch verteilen können . Das ist die Frageder SPD, meine sehr verehrten Damen und Herren .
Das betrifft gerade die Pflege. Wir brauchen eine Pfle-ge, die den demografischen Herausforderungen gerechtwird, eine Pflege, mit der jeder den bestmöglichen Zu-gang zur gesundheitlichen Versorgung bekommt .Sie wissen vielleicht noch, dass wir 1995, vor 22 Jah-ren, die Pflegeversicherung eingeführt haben, die eineBesonderheit aufweist: Die Leistungen der Pflegeversi-cherung, sowohl der privaten als auch der gesetzlichen,sind gleich, aber die Beiträge sind unterschiedlich . Des-halb eignet sich gerade die Pflegeversicherung besser füreine Bürgerversicherung als eine private Versicherung .
Das ist keine sozialistische Einheitsversicherung,Erwin Rüddel . Es gibt nämlich gute Argumente dafür .
Erster Punkt: Mit der Pflegeversicherung verbreiternwir die Einnahmebasis .Zweiter Punkt: Es zählt das individuelle Einkommen .Maßgebend ist also die persönliche Leistungsfähigkeit,und auch die Gutverdienenden und die Gesündesten kön-nen sich der Solidarität nicht entziehen . Auch das ist einwichtiger Punkt .Harald Weinberg
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723102
(C)
(D)
Dritter Punkt: Wie Sie wissen, sind die Arbeitgeber-beiträge bei 7,3 Prozent eingefroren .
Wer finanziert denn den ganzen medizinischen Fort-schritt? Das sind doch die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer . Deswegen muss auch die Versicherung pa-ritätisch finanziert werden, meine sehr verehrten Damenund Herren .
Wir brauchen auch eine einheitliche Honorarordnung .Egal ob jemand privat oder gesetzlich versichert ist: Esgibt keinen Anreiz mehr, Versicherte vorzuziehen . Auchdas ist ein Grund für eine Bürgerversicherung gerade imBereich Pflege.Aber – auch das sage ich ausdrücklich – wir habenin der Pflege gemeinsam viel erreicht. Das haben auchHerr Irlstorfer und Herr Rüddel angesprochen . Vor allenDingen haben wir mit 1,4 Milliarden Euro die häuslichePflege gestärkt. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, dassdie Menschen zu Hause auch dann in ihren eigenen vierWänden alt werden können, wenn sie pflegebedürftigsind; denn Pflegebedürftigkeit darf kein Grund für ei-nen Umzug sein . Ich war lange Bürgermeister, und ichwar Chef einer kommunalen Pflegestation. Ich weiß, wiewichtig es ist, dass man im häuslichen Quartier bleibenkann . Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt, denwir gemeinsam erreicht haben, meine sehr verehrten Da-men und Herren .
Wir geben außerdem ab 2017 5 Milliarden Euro proJahr zusätzlich für die Pflege aus. Das ist ein immenserBetrag für eine Strukturreform hin zu dem erweitertenPflegebedürftigkeitsbegriff mit fünf Pflegegraden, derdazu führen wird, dass Menschen besser gepflegt werdenund auch ganzheitlich betreut werden .
Wir haben eine wirklich außergewöhnliche Strukturre-form hinbekommen, die positiv zu bewerten ist .Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, wie wirmit denjenigen umgehen, die pflegen. Wir brauchen bis2030 200 000 neue Pflegekräfte, und zwar gut ausgebil-dete Pflegekräfte. Deswegen ist die Aufwertung der Pfle-geberufe eine Herzensangelegenheit der SPD . Das habendie Menschen verdient; deshalb ist das eine Herzensan-gelegenheit der SPD .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt ei-nen roten Faden in der Gesundheitspolitik .
Der rote Faden ist eine bestmögliche Versorgung, unab-hängig vom Einkommen, unabhängig vom Alter, unab-hängig vom Wohnort . Es ist sozusagen ein roter Fadender sozialdemokratischen Gesundheitspolitik im doppel-ten Sinn . Herr Stritzl, Gesundheitspolitik muss immeraus Sicht der Patientinnen und Patienten bzw . der Men-schen betrieben werden, die davon betroffen sind.
Wir brauchen Zukunftsentwürfe in der Gesundheits-politik und gerade in der Pflegepolitik. Ein solcher Zu-kunftsentwurf ist eine Bürgerversicherung in der Pflege.Ich sage es noch einmal: Das ist keine sozialistische Ein-heitsversicherung .Ich danke Ihnen .
Als nächste Rednerin hat Elisabeth Scharfenberg vonder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Wir als Grüne teilen nicht alle Forderungen der Linken .Aber wir sind uns darüber einig, dass es in der Kranken-genauso wie in der Pflegeversicherung an Solidarität undGerechtigkeit fehlt . Liebe Kolleginnen und Kollegen vonUnion und SPD, jetzt hören wir einmal auf, uns selbstzu feiern . Sie selbst sehen ja noch viel Handlungsbedarf .Sonst hätten Sie heute nicht die Beratung über den Pfle-gebericht der Bundesregierung mit auf die Tagesordnunggesetzt, einen Pflegebericht – das sehe ich anders alsmein Kollege Herr Rüddel –, der das gesamte Problem-panorama der Pflege beschreibt.Dass es noch viel zu tun gibt, dafür haben Sie selbstin dieser Woche einen ganz traurigen Beweis geliefert .Nach monatelangem Stillstand haben Sie die notwendigeReform der Pflegeausbildung in den Sand gesetzt.
Sie haben da ein beschämendes Polittheater aufgeführt .
Es war eine Schmierenkomödie, bei der sich die Pflege-kräfte in diesem Land – um es freundlich zu formulie-ren – veralbert vorkommen müssen. Sehr geehrte Pflege-kräfte, das haben Sie wirklich nicht verdient!
Dr. Edgar Franke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23103
(C)
(D)
Dieses Ignorieren der Nöte der Pflegekräfte zieht sichdurch. Sie haben den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffeingeführt; das ist gut . Darauf haben wir alle sehr langegewartet . Doch wie soll diese Reform ohne ausreichendPflegekräfte gestemmt werden? 500 000 Menschen wer-den zusätzlich Leistungen aus der Pflegeversicherung be-kommen . Das kann doch überhaupt nicht funktionieren .Es herrscht doch schon jetzt ein dramatischer Personal-mangel in Pflegeeinrichtungen und bei Pflegediensten.Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie den Pflegekräften mitall dem aufbürden? Sie versprechen ein Personalbemes-sungsinstrument . Aber das verschieben Sie weit in dieZukunft . Von einer verbindlichen Einführung sprechenSie erst einmal gar nicht . Ehrlich, das ist zu wenig, ummehr Menschen für die Pflegeberufe zu gewinnen.
Sie machen sich auf dem Rücken der Pflege einen schlan-ken Fuß. Das lassen wir, das lassen auch die Pflegekräfteim Land Ihnen nicht durchgehen .
Zurück zur Finanzierung . Sie feiern sich im aktuellenPflegebericht für einige Maßnahmen, die Sie von 2011bis 2015 ergriffen haben, um die finanzielle Stabilität derPflegeversicherung zu erhalten. Sie nennen die Beitrags-satzerhöhungen, den sogenannten Pflege-Bahr und denPflegevorsorgefonds.
Über den Pflege-Bahr möchte man ja eigentlich gar nichtmehr sprechen, so schlecht konstruiert und überflüssig istdieser Quatsch . Aber es gibt diesen Quatsch immer noch .Liebe SPD, eure Ankündigungen, den Pflege-Bahr wie-der abzuwickeln, habt ihr ganz schön schnell vergessen .
Dann zum Pflegevorsorgefonds. Auch das ist so eineunsägliche und sinnlose Aktion . Er hat mit Nachhaltig-keit überhaupt nichts zu tun . Der Fonds bindet einfachnur sehr viel Geld, Geld, das wir jetzt dringend für diePflegebedürftigen und die Pflegekräfte brauchen.
Die Pflegeversicherung braucht mehr Geld. Deshalb wareine Erhöhung der Beiträge richtig . Aber, verehrte Kolle-ginnen und Kollegen, Sie haben auch hier nicht über denAugenblick hinaus gedacht . Schon in diesem Jahr wirddie Pflegeversicherung deutlich mehr Ausgaben als Ein-nahmen haben . Spätestens 2022 wird der Beitrag wiedersteigen müssen . Sie haben die grundlegenden Finanzie-rungsprobleme nicht gelöst . Mutig und ehrlich sieht ganzanders aus .
Wir stehen in der Pflegeversicherung vor riesigen He-rausforderungen . Dafür brauchen wir eine solide und ge-rechte Finanzierungsbasis . Das funktioniert nur mit einersolidarischen Bürgerversicherung, in der alle Bürgerin-nen und Bürger versichert sind .
Sie haben diese Reform wieder einmal verschoben .Das ist ein hoher Schuldschein, den Sie der nächstenBundesregierung hinterlassen . In allen Umfragen kommtheraus, dass es eine menschenwürdige Pflege ist, was dieMenschen massiv umtreibt . Deswegen sind wir alle auf-gefordert, uns ehrlich um Pflege zu kümmern.
Es liegen weiterhin große Herausforderungen vor uns .Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben jedenfallskeinen Grund, sich auszuruhen . Beenden Sie endlich Ihretaktischen Spielchen zulasten der Pflege!Vielen Dank .
Als nächster Redner spricht Rudolf Henke für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich finde es eine ausgezeichnete Idee, sich um die wirk-lich zentralen Fragen der Zukunft der gesundheitlichenVersorgung und der Pflegeversorgung zu kümmern. Inder Tat ist dies das, woran die Menschen prüfen können,ob es gut wird, ob es besser wird, ob es solidarischerwird, ob es gerechter wird . Ich glaube, diese permanentwiederholte Finanzdebatte hilft Ihnen, die Sie diese füh-ren, mit der jeweils unterschiedlich artistisch präsentier-ten Akrobatik am Hochreck unterschiedlicher Konzeptevon Bürgerversicherung selbst nicht wirklich .
Denn das ist gar nicht die zentrale Frage der zukünf-tigen Pflegeversorgung. Edgar Franke hat mit Recht vonZukunftsentwürfen gesprochen . Welche Zukunftsent-würfe brauchen wir denn? Ich glaube, Zukunftsentwürfebrauchen wir im Bereich von Vernetzung über die Gren-zen der verschiedenen Professionen in der gesundheitli-chen und pflegerischen Versorgung hinweg. Zukunftsent-würfe, das bedeutet, dass wir die neuen elektronischenInstrumente, um diese Vernetzung zu befördern, einset-zen und nutzen .
Deswegen ist beispielsweise das E-Health-Gesetz, daswir gemeinsam verabschiedet haben, ein Stück dieserZukunftssicherung und dieses Zukunftsentwurfs .
Ich glaube, Zukunftsentwurf heißt, dass wir in derFrage der Prävention mehr tun . Ich will das an einemBeispiel zeigen . Die wirtschaftlichen Schäden – ich redejetzt nicht von potenziellem Schadensersatz, ich rede nurElisabeth Scharfenberg
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723104
(C)
(D)
von wirtschaftlichen Schäden – durch den Tabakmiss-brauch belaufen sich auf direkte Kosten in Höhe von25 Milliarden Euro und auf indirekte Kosten in Höhe von50 Milliarden Euro . Wir vergeuden 75 Milliarden Euroan volkswirtschaftlichem Eigentum jedes Jahr dadurch,dass es uns nicht gelingt, den Tabakkonsum auf null zu-rückzudrängen .Ich nenne ein weiteres Beispiel: Reha vor Rente . Wirhaben in dieser Legislaturperiode die Mittel erhöht, diees möglich machen, vor dem Hintergrund der veränder-ten Altersschichtung und der Änderung des Rentenein-trittsalters mehr Rehamittel zur Verfügung zu stellen . Ichsage: Ein Aspekt des Zukunftsentwurfs wird auch sein,ob es uns gelingt, Reha vor Pflege zu praktizieren.
Wenn wir immer und immer wieder die Frage desAufkommens der Finanzierung diskutieren, dann müssenwir an dieser Stelle auch ein bisschen ehrlich sein . Ichfinde es schön, wie man die Lastenverteilung betreibt.Ich weiß auch, dass Lohnfortzahlung in Streiks erkämpftworden ist und Ausdruck einer Tarifvereinbarung zwi-schen Gewerkschaften und Arbeitgebern war . Dennochmuss man natürlich die Belastung, die diese Leistung fürdie Produktivität des einzelnen Arbeitsplatzes darstellt,mit in die Lastenverteilung einkalkulieren . Dann mussman eben auch sagen, dass zu den direkten Kosten fürdie gesundheitliche Versorgung und für die Pflege nocheinmal 40 Milliarden Euro für die Lohnfortzahlung hin-zukommen .
Ich sage nicht, dass das alles ungerecht verteilt ist,aber ich will sagen: Es langweilt mich inzwischen sehr,wie der Ansatz zur Bürgerversicherung immer wiedergewählt wird . In meinen Augen ist das ein Schildbürger-streich .
Deswegen lassen Sie uns lieber bei der Debatte darüberbleiben, was uns in diesem Erfolgsbericht – und ich nen-ne diesen Bericht einen Erfolgsbericht – der Bundesre-gierung vorgetragen wird .Frau Rawert hat ein paar Beispiele daraus genannt: DieLeistungen werden genutzt . Die Zahl der Leistungsemp-fänger der sozialen Pflegekasse ist im Zeitraum von 2011bis 2015 von 2,3 Millionen auf 2,7 Millionen Menschengestiegen; das ist ein Anstieg um 17 Prozent . Die Leis-tungsausgaben haben im gleichen Zeitraum um 27 Pro-zent zugenommen . Das Ende des Berichtszeitraums istauch nicht der Endpunkt unserer Pflegepolitik; vielmehrwerden weitere Maßnahmen ergriffen, deren Auswertungerst in weiteren Berichten erfolgen kann .Die Leistungsausweitungen durch das Erste Pflege-stärkungsgesetz kommen bei den Pflegebedürftigen an.Nehmen wir als Beispiel den Einbau einer altersgerech-ten Dusche in den Wohnraum . Die Leistungsausgabenfür Wohnumfeldverbesserungen im Jahr 2011 betrugen103 Millionen Euro . Im Jahr 2015 waren es 305 Millio-nen Euro . Ist das weniger oder ist das mehr Solidarität?Natürlich ist das mehr Solidarität und nicht weniger .
Auch die zusätzliche Betreuung in der häuslichenPflege kommt bei den Leuten an. Im Bereichszeitraumhaben sich die Ausgaben dafür von 330 Millionen Euroauf rund 680 Millionen Euro pro Jahr mehr als verdop-pelt . Ist das weniger Solidarität, oder ist das mehr Solida-rität? Es ist mehr Solidarität .
Das Thema Demenz bewegt viele Menschen underfüllt sie mit Sorge und mit Angst . Für Menschen mitdemenziellen oder psychischen Erkrankungen und geis-tigen Behinderungen haben wir seit Verabschiedung desPflegestärkungsgesetzes I, seit dem 1. Januar 2015, auchin der sogenannten Pflegestufe 0 Zugang zu allen Leis-tungen der Pflegeversicherung, die die häusliche Pflegestärken, weil sie seitdem Tages- und Nachtpflege, Kurz-zeitpflege, den sogenannten Wohngruppenzuschlag unddie Anschubfinanzierung für Wohngruppen in Anspruchnehmen können .Sogar das eben erwähnte Prinzip „Reha vor Pflege“ist zumindest im Ansatz leicht gestärkt worden, weilwir die Rehaempfehlungsquote von früher 0,6 Prozentüber 1 Prozent auf 2,3 Prozent gesteigert haben, also dieAnzahl der Pflegebegutachtungen, bei denen der MDKauftragsgemäß prüft, ob Rehabilitation ein Potenzial hat,und dann eine Rehaempfehlung ausspricht . Ich behaupteeinmal: Da sind wir noch ein ganzes Stück von dem ent-fernt, was wir an Rehabilitationspotenzial wirklich ha-ben . Dieses Potenzial werden wir – auch das ist eine Auf-gabe für die Zukunft – weiter heben müssen . Ich glaube,dass das die Frage nach Zukunftsentwürfen zutreffendbeantwortet und dass es nicht damit getan ist, hier immerwieder die gleiche Freitagmorgendebatte immer wiederin der gleichen Form zu führen .
Es geht um mehr und bessere Pflegeberatung.Am 1. Januar 2017 ist der neue Pflegebedürftigkeits-begriff in Kraft getretenen. Ich will an Wolfgang Zöllererinnern, an unseren früheren stellvertretenden Frakti-onsvorsitzenden und späteren Patientenbeauftragten derBundesregierung . Er war Vorsitzender des Expertenbei-rats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürf-tigkeitsbegriffs. Es erging uns mit diesem Pflegebedürf-tigkeitsbegriff – da wollen wir ganz ehrlich sein – ganzähnlich, wie es uns mit der Präventionsgesetzgebungergangen ist: viele Anläufe, immer wieder ein neuer Ver-such . Es hat bis in diese Legislatur hinein gedauert, bisder Beschluss endlich gefasst werden konnte. Ich finde,es ist angebracht, Wolfgang Zöller und allen seinen Mit-streitern in diesem Beirat für das zu danken, was sie dortgeleistet haben; denn jetzt wird der neue Pflegebedürftig-keitsbegriff wirksam.
Dies bedeutet: In der Pflegebegutachtung ist jetztendlich Schluss mit der Vorstellung, dass man Pflegebe-dürftigkeit so ermitteln kann: Zähneputzen – 5 MinutenRudolf Henke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23105
(C)
(D)
anerkannt; Waschen des Unterkörpers – 12 bis 15 Minu-ten anerkannt; mundgerechtes Zerkleinern der Nahrung –2 bis 3 Minuten aufgeschrieben . Für das Anreichen vonNahrung pro Hauptmahlzeit – 15 bis 20 Minuten aufge-schrieben usw . usw .
So war das bisher .Jetzt stellt der MDK völlig andere Fragen . Durch die-ses System wird zwar ein individueller Bedarf ermittelt,aber es werden dabei die kognitiven und psychischenEinschränkungen, die Demenzkranke haben und unterdenen sie und ihre Angehörigen leiden, einbezogen . Wel-che Mobilität weist die Person auf?
Welche kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten hatsie? Wie wird die Verhaltensweise eingestuft? Gibt espsychische Probleme? Wie gut kann sich der Betreffendeselbst versorgen? Wie selbstständig kann er mit krank-heits- oder therapiebedingten Belastungen umgehen?Wie gut kann er seinen Alltag gestalten und soziale Kon-takte pflegen? Und: Niemand muss Sorge haben, dass ernach dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff Leistungengekürzt bekommt . Im Regelfall werden die Leistungenhöher sein als vorher .
Es hat gegen die solidarische Finanzierung durch Ar-beitgeber und Arbeitnehmer keinerlei Widerspruch gege-ben, sondern das ist gesellschaftlich akzeptiert worden,weil die Menschen eingesehen haben, dass alle dieseSchritte notwendig sind, wenn man den Herausforderun-gen – demografischer Wandel, Demenz, Dynamisierungvon Leistungen – begegnen will .
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .
Ja, ich komme zum Schluss . – Deswegen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen: Die Bilanz dieser Debatte kann
nicht das Bild sein, wir hätten weniger Solidarität und
weniger Gerechtigkeit . Wir haben mehr davon: mehr So-
lidarität, mehr Gerechtigkeit in der Gesundheitsversor-
gung und in der Pflege. Das ist eine große Leistung dieser
Koalition. Ich finde, das muss auch betont werden; –
Herr Kollege, ich muss Sie jetzt wirklich ermahnen .
– denn wenn wir die Leistungen von Regierungen und
Parlamenten in Demokratien nicht darstellen oder falsch
darstellen, lösen wir damit Parlamentsverachtung und
Politikverdrossenheit aus . Das ist das, was wir am aller-
wenigsten brauchen können .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Sabine Dittmar hat als nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen undKollegen! Zum wiederholten Mal beschäftigen wir unsin dieser Legislatur mit ähnlich lautenden Anträgen derLinken .
Lassen Sie mich deshalb in aller Kürze noch einmalzusammenfassen: Einige Inhalte Ihres Antrags findendurchaus meine Sympathie . Es ist richtig, dass wir unsmit dem Leistungskatalog beschäftigen müssen und unsunter anderem die Belastungen bei der Sehhilfe oderbeim Zahnersatz noch einmal genau ansehen müssen .Die Forderung nach Parität in der Finanzierung der ge-setzlichen Krankenversicherung ist allerdings längst Be-schlusslage der SPD; denn, meine Damen und Herren,es ist zutiefst ungerecht, wenn die Kosten des medizi-nischen Fortschritts allein durch die Zusatzbeiträge vonArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern getragen wer-den . Das ist unsolidarisch .
Deshalb steht für uns fest: Die Rückkehr zur Parität – dieWortwahl ist jetzt ganz bewusst – ist alternativlos .
Vielleicht schaffen es ja Herr Laumann oder der Arbeit-nehmerflügel der Union, bis zur Sommerpause den Restihrer Parteifreunde davon noch zu überzeugen .Aber eines ist für uns Sozialdemokraten klar: Wir sindvertragstreu . Nachdem Ihr Antrag, meine Damen undHerren von den Linken, in vielen Punkten wenig sub-stanziell ist und rechtliche Fragen offenlässt, fällt es unsauch gar nicht so schwer, diesen abzulehnen .
Sehr geehrte Damen und Herren, unsere Debatte be-schäftigt sich auch mit dem sechsten Pflegebericht derBundesregierung . Dieser ist nicht nur lesenswert; er istvor allem sehr bemerkenswert. Wir haben mit den Pfle-gestärkungsgesetzen, aber auch mit dem Hospiz- undPalliativgesetz sowie dem Präventionsgesetz erheblicheLeistungsverbesserungen und -ausweitungen auf denWeg gebracht .
Rudolf Henke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723106
(C)
(D)
Diese dienen nicht nur dazu, die pflegerische Versorgungweiterzuentwickeln, sondern sie unterstützen auch pfle-gende Angehörige und professionelle Pflegekräfte. Las-sen Sie mich auf ein paar wenige Aspekte eingehen, diemir besonders wichtig sind .Auch wenn sich dieser Bericht nicht mit der erfolg-reichen Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbe-griffs beschäftigt, der endlich körperliche, geistige undseelische Beeinträchtigungen gleichrangig behandelt unddamit für über 500 000 Menschen einen zusätzlichenAnspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung be-gründet, zeigt uns dieser Bericht doch, dass die Maßnah-men, die im Vorfeld getroffen worden sind, sehr effizientsind .
Die zusätzlichen Leistungen im Bereich der Tages-und Nachtpflege können den Alltag der pflegenden An-gehörigen ungemein erleichtern: Sie ermöglichen es, ein-mal Zeit zu haben für einen eigenen Termin, ohne unterdem Druck zu stehen, dass zu Hause alles Kopf steht .Wie ich es aus meiner eigenen Praxis weiß, wirbelt oft-mals der gestörte Tag-Nacht-Rhythmus bei demenziellerkrankten Patienten auch den Rhythmus des Pflegendenerheblich durcheinander. Hier den Pflegebedürftigen beiBedarf in professioneller Nachtpflege zu wissen, tut gutund dient auch der eigenen Regeneration .Ich möchte an dieser Stelle ebenfalls auf den fürpflegende Angehörige gesetzlich verankerten Rechtsan-spruch auf Rehabilitationsmaßnahmen hinweisen, derleider noch viel zu wenig in Anspruch genommen wird .Meine Damen und Herren, der Kollege Henke hates schon angesprochen, aber es ist auch mir sehr wich-tig, noch einmal darauf hinzuweisen: Die Quote bei derDurchführung der Rehabilitation bei Pflegebedürftigenist nach wie vor viel zu gering . Wir alle wissen hier, dassRehabilitation Pflege hinauszögert oder eine Verschlech-terung verhindert . Deshalb muss der Grundsatz „Rehavor Pflege“ mit wirklich sehr viel mehr Leben erfülltwerden .
Gesetzgeberisch haben wir in einem der letzten Pfle-gestärkungsgesetze den Begutachtungsstandard nocheinmal optimiert . Es gab auch eine Steigerung der Emp-fehlungsquote, aber, wie gesagt, es ist noch Luft nachoben .Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt eingehen,der mir wichtig ist, weil ich hier während meiner haus-ärztlichen Tätigkeit massive Defizite erlebt habe. Wirhatten eine echte Versorgungslücke bei der sogenanntenÜbergangspflege, also bei kurzfristigem zeitlich begrenz-tem pflegerischem Bedarf, zum Beispiel nach einemKrankenhausaufenthalt oder einer schweren Erkrankungzu Hause. Jetzt sind die erforderliche Grundpflege unddie hauswirtschaftliche Versorgung oder auch notwendi-ge stationäre Kurzzeitpflege sichergestellt.Wichtig ist auch, dass wir den Betreuungsschlüsselin den stationären Einrichtungen deutlich verbessert ha-ben; denn genauso wichtig wie eine gute pflegerischeVersorgung ist die Hinwendung: Zeit zum Vorlesen, zumSpazierengehen, zum Basteln oder auch nur, um einfacham Bett zu sitzen und die Hand zu halten . Wir haben dieAnzahl der Betreuungskräfte verdoppelt .Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ichIhre Aufmerksamkeit noch auf ein weiteres wichtigesThema lenken . Das ist die hausärztliche und fachärztli-che Versorgung in Heimen. Mit der Verpflichtung, Ko-operationsverträge zu vereinbaren, konnte hier in Teileneine wirkliche Verbesserung erreicht werden . Auch fürdie zahnärztliche Versorgung haben wir Regelungen ge-troffen. Doch meine ich, dass die Situation hier insgesamtnoch nicht befriedigend ist . Ich war erst gestern Abendauf einer Veranstaltung, die sich mit der augenärztlichenVersorgung von Heimbewohnern befasste . Kolleginnenund Kollegen, es ist nicht zu akzeptieren, dass jeder fünf-te Heimbewohner unzureichend mit Sehhilfen versorgtist oder akute und chronische Augenerkrankungen nurungenügend einer Therapie zugeführt werden . Ich glau-be, da haben wir noch erheblichen Handlungsbedarf .
Kolleginnen und Kollegen, das Thema Pflege ist einfacettenreiches Querschnittsthema, das mit Blick aufden demografischen Wandel und immer neue Heraus-forderungen kontinuierlich weiterentwickelt und an dieBedürfnisse angepasst werden muss . Wir haben in dieserLegislaturperiode sehr viel auf den Weg gebracht, aberuns geht die Arbeit in der nächsten ganz gewiss nicht aus .Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ichdie Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/11722 und 18/10707 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dannsind die Überweisungen so beschlossen .Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der durch die Europäi-sche Union geführten EU NAVFOR SomaliaOperation Atalanta zur Bekämpfung der Pi-raterie vor der Küste SomaliasDrucksache 18/11621Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GOSabine Dittmar
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23107
(C)
(D)
Für die Aussprache sind nach einer interfraktionel-len Vereinbarung 25 Minuten vorgesehen . Gibt es dazuWiderspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das sobeschlossen .Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat fürdie Bundesregierung der Parlamentarische StaatssekretärDr . Ralf Brauksiepe das Wort .D
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Hohe Haus hat gestern Abend dan-
kenswerterweise die Fortsetzung der Beteiligung der
Bundeswehr an der EU-geführten Ausbildungs- und Be-
ratungsmission EUTM Somalia beschlossen . Im Rahmen
der Beratung dieses Mandats ist hier im Plenum wie auch
bei der Ausschussbefassung ja schon über die nach wie
vor schwierige Situation Somalias und über die Entwick-
lung, die dieses Land in den vergangenen Jahren genom-
men hat, gesprochen worden . Ich erinnere ausdrücklich
an diese Debatte, weil ja mit Recht die Erwartung dieses
Hohen Hauses besteht, dass wir eine nachhaltige, eine
kohärente Strategie in Bezug auf diesen Krisenherd So-
malia verfolgen, eines der ersten Länder, über die im Zu-
sammenhang mit dem Begriff „Failed State“ gesprochen
worden ist .
Insofern ist es wichtig, dass wir uns noch einmal deut-
lich machen: Wir sind bei EUTM Somalia engagiert, es
gibt die Mission EUCAP Somalia, es gibt den Polizeiauf-
bau im Rahmen der VN-Mission UNSOM und die Un-
terstützung der Friedensmission AMISOM . Gemeinsam
mit diesen Operationen trägt die Operation Atalanta zur
Stabilisierung und Befriedung dieser Region bei . Das ist
notwendig, und es ist ein kohärenter Ansatz . Es ist wich-
tig, dass wir den Teil Atalanta in dieses Gesamtkonzept
einbauen . Darum geht es heute in dieser Debatte . Es ist
wichtig, dass wir der Region insgesamt helfen, dass wir
stabilisieren und befrieden . Dazu tragen wir heute bei,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
Das Seegebiet vor dem Horn von Afrika ist ein wich-
tiges Seegebiet, ist eine wichtige Handelsroute auch zwi-
schen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien . Das
zu sagen, bedeutet nicht, irgendetwas einzuräumen . Dass
die Operation Atalanta auch die Wahrung des legitimen
Interesses beinhaltet, dass diese Handelsroute vital bleibt,
ist richtig und gehört auch zu dem, was wir uns vorge-
nommen haben . Denn eine sichere Seeverbindung ist für
den Souveränitätsanspruch Somalias und natürlich auch
für die humanitäre Hilfe des Welternährungsprogrammes
bedeutsam . Auch dem dient es, diese Handelsroute zu er-
halten, zu sichern und zu schützen . Auch darum geht es,
und auch dafür stehen wir ein .
Im Jahr 2011 wurden in den Gewässern vor Somalia
253 Piratenangriffe registriert. Es gab 26 entführte Han-
delsschiffe, 35 entführte Daus, 192 versuchte Entführun-
gen . Dabei reden wir ja nicht nur über einen erheblichen
wirtschaftlichen Schaden, sondern wir reden auch über
sehr großes menschliches Leid, über Angst, über Sorgen
der Menschen . Dieses Leid zu verhindern, ist auch Auf-
gabe dieser Mission, der sie mit Erfolg nachgekommen
ist . Auch die Entführung der „Aris 13“, über die wir erst
vor kurzem gehört haben, ändert an dieser Einschätzung
nichts . Diese Mission zur Bekämpfung der Piraterie ist
erfolgreich . Deswegen ist es wichtig, dass wir diesen er-
folgreichen Weg weitergehen . Denn kriminelle Netzwer-
ke an Land sind weiterhin intakt, und sie sind weiterhin
in der Lage, mindestens punktuell für Bedrohungen der
Schifffahrtswege am Horn von Afrika zu sorgen. In die-
sem Zusammenhang dient das militärische Engagement
im Rahmen der Operation Atalanta als Rückversicherung
zur See für die umfassenden Stabilisierungsbemühungen
der EU an Land und im angrenzenden Küstenmeer .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allein über
6 Millionen Somaliern, die von humanitärer Hilfe abhän-
gig sind, sind Einschränkungen, insbesondere was die
Versorgung mit Gütern des Welternährungsprogrammes
angeht, nicht hinnehmbar . Uns ist sehr bewusst, welche
schwierige und katastrophale wirtschaftliche Lage in der
Region besteht . Von der Hungersnot ist nicht nur Somalia
betroffen. Auch der Südsudan, Jemen und Nigeria sind
bedroht . Es ist wichtig, dass wir diese Routen freihalten,
damit auch die dringend notwendige humanitäre Hilfe
die Menschen in Somalia erreichen kann .
Um das bisher mit der Operation Atalanta Erreichte
nachhaltig zu bewahren und in die Zukunft zu überfüh-
ren, wird die EU bis Ende dieses Jahres eine Transitions-
strategie vorlegen . Mit der unveränderten Fortsetzung
unserer Beteiligung an Atalanta um ein weiteres Jahr er-
gänzen wir einerseits unser vernetztes Engagement am
Horn von Afrika im Rahmen des umfassenden Ansatzes
der EU und begleiten andererseits diese Transition von
Atalanta konstruktiv . Denn Somalia braucht weiterhin in-
ternationale Unterstützung auf dem Weg zu Frieden und
Stabilität .
Man wird und muss weiterhin über vieles sprechen,
was es an Unzulänglichkeiten in Somalia und der an-
grenzenden Region gibt . Ich rate uns noch immer, liebe
Kolleginnen und Kollegen, nicht nur das zu beschreiben,
was nicht funktioniert, sondern sich die Frage zu stellen:
Was wäre in und um Somalia besser, wenn wir nicht dort
wären? Die Antwort ist: Nichts wäre besser . Vieles wäre
noch schlimmer . – Deswegen ist es wichtig, dass wir blei-
ben . Für diese Unterstützung bitte ich um Ihre Stimme .
Danke .
Als nächster Redner spricht Dr . Alexander Neu für dieFraktion Die Linke .
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723108
(C)
(D)
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Gestern wie heute sprechen wir über So-
malia . Gestern ging es um die Verlängerung von EUTM
Somalia, heute reden wir über die Verlängerung von
Atalanta .
Atalanta läuft seit 2008. Wir befinden uns also jetzt
im zehnten Jahr der Mission Atalanta . Ein Ende der Mis-
sion ist nicht abzusehen, es gibt ein paar vage Andeu-
tungen . Das wurde gerade gesagt, aber es sind Zweifel
angebracht .
Für den Mandatszeitraum 2017 bis 2018 wird diese
Mission die Steuerzahler – Sie da oben also –
erneut 63 Millionen Euro kosten . Fragen wir einmal nach
Erfolg oder Misserfolg der Mission Atalanta . Atalanta, so
sagt die Bundesregierung, habe dazu beigetragen, die Pi-
raterie am Horn von Afrika erfolgreich zurückzudrängen .
Die Symptombekämpfung war also erfolgreich . Hier
kann man zustimmen . Demgegenüber ist die Ursachen-
bekämpfung nach wie vor nicht angegangen worden .
Nach wie vor finden illegale Fischereien fremder Flotten
statt, auch im Binnenmeer, auch im Küstenmeer von So-
malia . Das raubt den Fischern die Lebensgrundlage, die
sich dann anderen Erwerbstätigkeiten wie der Piraterie
zuwenden . Diese Duldung unter den Augen von Atalan-
ta, dass dort fremde Flotten illegal fischen, kann ich nicht
nachvollziehen . Das wäre eine Ursachenbekämpfung .
Das heißt, der einzig richtige Weg, den es gibt, das zu
verhindern, wird nicht beschritten . Ich habe bisher noch
keine einzige zufriedenstellende Erklärung gehört, wa-
rum Atalanta hier nichts unternimmt . Man könnte den
Eindruck gewinnen, es geht nicht um die Menschen, es
geht auch nicht um die Stabilität des Landes,
sondern es geht in erster Linie um Interessen – das wurde
gerade auch dargelegt –, es geht um Handelswege .
Die Lebenssituation der Menschen in Somalia ver-
bessert sich derzeit nicht, sondern verschlimmert sich
dramatisch angesichts der anhaltenden Dürre, auch ver-
ursacht durch den Klimawandel, der vor allem von den
Industriestaaten und somit auch von Deutschland mit zu
verantworten ist . Nigeria, Südsudan, Somalia – die Men-
schen dort sind akut vom Hungertod bedroht: Frauen,
Kinder, Männer . Insgesamt leiden rund 20 bis 25 Millio-
nen Menschen an Hunger, sind vom Hungertod bedroht,
rund 6,2 Millionen Menschen allein in Somalia, etwa die
Hälfte der Einwohner Somalias .
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir tragen doch 16,5 Mil-
lionen Euro gegen den Hungertod bei . 16,5 Millionen
Euro bei 6,2 Millionen Menschen, die akut vom Hun-
gertod bedroht sind, das sind umgerechnet 2,60 Euro für
einen einzigen Tag, Herr Roth, nicht täglich 2,60 Euro,
sondern für einen einzigen Tag . Steigt da nicht die Scha-
mesröte in Ihr Gesicht, bei einer solchen Aussage und ei-
ner solch großzügigen Spende? Das ist ein Skandal, sehr
geehrte Damen und Herren .
Allein das geplante Einsatzjahr 2017/2018 von
Atalanta soll 63 Millionen Euro kosten, also das Vier-
fache dessen, was Sie spenden wollen. Ich finde, so ein
Zahlenverhältnis sagt mehr aus als tausend moral- und
wertegeschwängerte Sonntagsreden seitens der Bundes-
regierung .
Wenn es um Militär geht, sprudeln die Steuergelder .
Wenn es um zivile Hilfe geht, weiß man nicht, wo Geld
ist . Künftig sollen bis zu 35 Milliarden Euro zusätzlich
in die Bundeswehr investiert werden, weil US-Präsident
Trump es will, weil sich die Rüstungsindustrie freut, um
das 2-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen . Warum sage
ich das? Das Verhältnis 35 Milliarden Euro zu 16,5 Mil-
lionen Euro, die die Bundesregierung großzügig nach So-
malia spendet, beträgt 2 150 : 1, also nicht 3-mal so viel,
nicht 7-mal so viel, sondern 2 150-mal so viel. Ich finde,
sehr geehrte Damen und Herren, verantwortungsvolle
Außenpolitik sieht anders aus .
Vielen Dank .
Als nächster Redner spricht Dirk Vöpel für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir beraten jetzt zum dritten Mal innerhalb der letzten24 Stunden über die Lage in den Krisenregionen in Ost-afrika und rund um das Horn von Afrika . Vielleicht istdas Zufall, aber der Zeitpunkt für diese Debatten könntekaum aktueller gewählt sein . Denn in Ländern wie So-malia, Nigeria und dem Jemen droht eine Hungerkata-strophe, wie sie die Welt seit vielen Jahren nicht mehr ge-sehen hat . In Teilen des Südsudan, über den wir gesternNachmittag gesprochen haben, musste die Hungersnotbereits offiziell ausgerufen werden. Auch in Äthiopienund Kenia spitzt sich die Situation aufgrund der anhal-tenden Rekorddürre weiter zu .In Somalia, diesem von Bürgerkrieg, Hunger undKrankheit geschundenen Land, hängt das Überleben vonMillionen Menschen davon ab, dass die Schiffe des Welt-ernährungsprogramms mit ihren Lebensmittellieferun-gen die Häfen sicher anlaufen können .
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23109
(C)
(D)
Dazu leistet die europäische Marinemission Atalanta zurBekämpfung der Piraterie entlang der 3 300 Kilometerlangen Küste Somalias einen wesentlichen Beitrag .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch den Golf vonAden und die angrenzenden Seegebiete im IndischenOzean und im Roten Meer verläuft eine Hauptschlag-ader des Welthandels. Mehr als 20 000 Schiffe, die über90 Prozent des Handelsvolumens zwischen Europa, Afri-ka und Asien befördern, passieren diese Gewässer jedesJahr . Dieser Seeweg ist aber auch die humanitäre Na-belschnur, über die der regelmäßige Fluss von Hilfslie-ferungen für die Hungergebiete Ostafrikas sichergestelltwerden kann . Das Letzte, was wir angesichts der ohnehinschon gigantischen Probleme in dieser Region brauchen,ist das Wiederaufflammen des somalischen Piratenunwe-sens .Atalanta ist und bleibt ein europäisches Erfolgspro-jekt . Diese Operation der Gemeinsamen Sicherheits- undVerteidigungspolitik hat seit der ersten Mandatierung imJahr 2008 im Zusammenwirken mit anderen Staaten undprivaten Akteuren ganz unbestreitbar positive Fakten ge-schaffen. Die Piraterie konnte drastisch zurückgedrängtwerden . Seit 2012 ist es den Piraten fast fünf Jahre langnicht ein einziges Mal gelungen, ein Schiff in ihre Ge-walt zu bringen . Auf dem Höhepunkt der Piratenkrise imJanuar 2011 wurden noch über 700 Seeleute auf mehrals 30 Schiffen als Geiseln gehalten. Gegenwärtig sindes keine . Die seegehenden Einheiten von Atalanta habenmehr als 400 Schiffe des Welternährungsprogramms derUNO und weit über 100 Versorgungstransporte für dieAMISOM-Friedenstruppe der Afrikanischen Union si-cher in die somalischen Häfen eskortiert .Vor etwas mehr als zwei Wochen, am 13 . März, ist eseiner Gruppe Somalier erstmals seit einem halben Jahr-zehnt wieder gelungen, ein Schiff zu kapern. Glückli-cherweise konnte diese Entführung nach vier Tagen ohneBlutvergießen und angeblich auch ohne Lösegeldzah-lung beendet werden, übrigens unter maßgeblicher Mit-wirkung von Atalanta-Kräften vor Ort und im operativenHauptquartier in Northwood. Liebe Kolleginnen undKollegen, dieser Vorfall markiert noch keine Trendwen-de, und er ist sicher auch nicht das Fanal zur Rückkehrder Piraterie auf breiter Front . Aber wir sollten diese Ent-führung als Warnschuss verstehen: Die bisher erreichtenErfolge sind nicht in Stein gemeißelt oder unumkehrbar,es kann auch wieder schlimmer werden .Die somalischen Piraten werden derzeit durch dierobuste Marinepräsenz und die erfolgte Aufrüstung derHandelsschifffahrt abgeschreckt. Wir haben die Sympto-me im Griff. Die tieferen Ursachen für die Piraterie lassensich hierdurch aber nicht beseitigen . Für eine nachhalti-ge Sicherung der Seewege kommt es vor allem daraufan, den Fortschritt beim Aufbau staatlicher Strukturen inSomalia, einschließlich des Aufbaus der Fähigkeiten derSicherheitsbehörden an Land und zur See, weiter voran-zutreiben . Ziel bleibt, die somalischen Behörden in dieLage zu versetzen, die Kontrolle über das gesamte Staats-gebiet einschließlich des angrenzenden Küstenmeers au-tonom auszuüben . Die demokratischen Fortschritte beiden Parlamentswahlen und der anschließenden Wahl desneuen somalischen Präsidenten am 8 . Februar 2017 sindermutigende Teilerfolge .Die EU engagiert sich mit ihrem umfassenden Ansatzam Horn von Afrika . Neben substanziellen Finanzbeiträ-gen an die AU-Mission AMISOM ist die EU in erhebli-chem Maße involviert: politisch, entwicklungspolitischund humanitär . Im Rahmen der GSVP ist die Europäi-sche Union neben Atalanta auch mit der zivilen MissionEUCAP Somalia sowie der Ausbildungsmission EUTMSomalia aktiv; wir haben gestern die deutsche Beteili-gung an dieser Mission um ein Jahr verlängert . In diesemZusammenhang dient das militärische Engagement imRahmen der Operation Atalanta als „Rückversicherungzur See“ für den umfassenden Stabilisierungsansatz derEU an Land .Mit Blick auf die weitere Zukunft der Operation unddie im laufenden Jahr 2017 zu erarbeitende Anpassungs-strategie kann das nur heißen: Bloß nichts überstürzen!Bewährte und eingespielte Strukturen lassen sich leiderviel leichter abwickeln als wieder aufbauen . Wir solltendie erreichten Erfolge jedenfalls nicht leichtfertig aufsSpiel setzen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Beitrag derBundeswehr kann sich sehen lassen: Seit der Erstman-datierung vor fast 10 Jahren hat die deutsche Marine re-gelmäßig Fregatten, Korvetten, Einsatzgruppenversorgerund vor allem auch Seefernaufklärer in den Einsatz amHorn von Afrika entsandt . Zurzeit dienen insgesamt über90 Soldatinnen und Soldaten unter dem neuen deutschenKontingentführer, Fregattenkapitän Heiko Millhahn, beiAtalanta . Seien Sie von dieser Stelle herzlich gegrüßt .Mein Dank gilt den mittlerweile mehr als 10 000 An-gehörigen der Bundeswehr, die seit 2008 dazu beigetra-gen haben, die Seewege rund um das Horn von Afrikazu sichern . Sie haben einen hervorragenden Job gemacht .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Jürgen Trittin hat als nächster Redner das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja,Atalanta macht Sinn . Anders als zum Beispiel für denEinsatz von deutschen Tornados über Syrien gibt es hiereine eindeutige völkerrechtliche Grundlage . Atalantaschützt im europäischen Verbund internationale Rechts-güter . Der Zugang zum Beispiel der internationalenHilfsorganisationen nach Somalia und übrigens auch derSchutz der Seewege im Sinne der Seerechtsübereinkünf-Dirk Vöpel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723110
(C)
(D)
te sind internationale Rechtsgüter . Sich daran zu beteili-gen, ist sinnvoll .
Nun muss man eines dazusagen: Die Bundesregierunghat einen Anteil daran, dass der Erfolg der Mission ge-fährdet ist . Herr Vöpel, Sie haben es eben gesagt: Es gabzum ersten Mal seit langem wieder einen Piratenüberfall .Das hat Ursachen, und diese Ursachen können Sie amheutigen Tag festmachen .Heute ist der letzte Tag des Monats März . Bis heutewollten die Vereinten Nationen von ihren Mitgliedstaa-ten 4,4 Milliarden Euro haben, um 20 Millionen Men-schen, die in dem Gürtel von Somalia bis rüber nach Ni-geria leben, vor akutem Verhungern zu bewahren . Und esist eine Schande, eine moralische Schande, dass dies bisheute nicht gelungen ist . Auch Deutschland hat sich nichtentsprechend seinen Beiträgen beteiligt .
Was hat das mit Atalanta zu tun? Sehr viel! Denn dieunzureichende Finanzierung des World Food Programmeführt dazu, dass nicht in großem Stil und mit langfris-tigen Verträgen eingekauft werden kann . Das heißt, siekriegen für das gleiche Geld weniger . „Weniger“ heißt,weniger zu transportieren . Man braucht keine großenSchiffe mehr einzusetzen. Man setzt kleinere Schiffeein. Was heißt das vor Somalia? Kleinere Schiffe werdenschneller Opfer von Piraterie . Das heißt, Ihr Versagen beider humanitären Hilfe gefährdet den Erfolg, weil Pirate-rie begünstigt wird . Deswegen glaube ich, Sie sollten insich gehen und sehr schnell dafür sorgen, dass Deutsch-land wenigstens seinen Teil erfüllt . Sie können sich dochnicht ernsthaft die Logik von Donald Trump zu eigenmachen: Ich gebe mehr fürs Militär aus und nehme dasGeld dafür aus dem Topf für die Entwicklungshilfe . Daswird nicht funktionieren .
Sie haben recht, Herr Neu: Nötig wäre es auch, Maß-nahmen zu ergreifen, damit dort nicht weiter illegal ge-fischt wird und Ähnliches. Aber dadurch, dass Sie dasfeststellen, wird daraus kein Argument gegen Atalanta;denn selbst wenn Sie solche Maßnahmen ergreifen wür-den, müssten Sie kurzfristig dafür sorgen, dass beispiels-weise die Versorgung von AMISOM und des World FoodProgramme durchkommt .Jetzt komme ich zu einem Punkt, der mich immer einbisschen wundert, liebe sozialdemokratischen Freundin-nen und Freunde .
– Nein, es geht gar nicht um Wahlkampf . – Wir warenuns mal einig:
Diese Mission ist in Ordnung; aber man darf diese Mis-sion nicht dadurch belasten, dass man gleichzeitig dasMandat erteilt, in Somalia an Land selber Krieg zu füh-ren . – Jetzt stellen wir fest: Es ist überaus unklar, wielange die Mission noch laufen wird . In den letzten fünfJahren, seit diese Option besteht, ist diese Option eineinziges Mal genutzt worden . Welchen Grund gibt es ei-gentlich, diese Option angesichts einer, zumindest wasdie EU angeht, auslaufenden Mission weiterhin aufrecht-zuerhalten? Wäre es nicht jetzt an der Zeit, zu sagen: Wirkonzentrieren uns auf das, was nötig ist; wir sichern dieVersorgung der Menschen, indem wir genug Geld zurVerfügung stellen; wir sichern die Transporte ab, aberwir hören auf, an Land Krieg zu spielen . Für ein solchesMandat hätten Sie hier eine sehr breite Mehrheit .
Als letzte Rednerin in der Aussprache hat Julia
Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Die Menschen in Somalia stehen vor einer huma-
nitären Katastrophe . 6,2 Millionen Menschen hun-
gern, davon allein 300 000 Kinder . Wenn nicht
schnell Hilfe ankommt, werden Tausende Men-
schen sterben .
Mit diesen Worten hat Ihre Kollegin von der Linken
gestern die Situation in Somalia beschrieben . Ja, die
Menschen am Horn von Afrika leiden, und sie brauchen
unsere Hilfe . Aber damit diese Hilfe ankommen kann,
brauchen wir die Operation Atalanta: um die Schiffe des
Welternährungsprogramms zu schützen .
Mit diesem maritimen Einsatz wurden die Piraten
am Horn von Afrika zurückgedrängt . In der Hochphase,
2011, gab es rund 250 Piratenangriffe. 30 Schiffe und
900 Menschen waren in der Gewalt von Piraten . Die
Schiffe des Welternährungsprogramms wurden zu dieser
Zeit mehrmals wöchentlich angegriffen.
Frau Obermeier, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Neu zu?
Ja, bitte .
Geschätzte Kollegin Obermeier, wir reden gerade wie-der über Symptombekämpfung: World Food Programmeetc . Aber es geht doch darum, dass das Land, dass dieGesellschaft in Somalia zumindest mittel- und langfris-tig wieder auf eigenen Beinen stehen kann . Ich habe esgerade angesprochen – der Kollege Trittin auch –: Wa-rum wird Atalanta nicht in die Lage versetzt, die Raubfi-Jürgen Trittin
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23111
(C)
(D)
scherei im Hoheitsgebiet des somalischen Küstenmeereszu unterbinden? Warum duldet man das? Warum schautman zu? Haben Sie dafür eine Begründung?
Herr Kollege Neu, es geht bei den Problemen in So-
malia nicht allein um die Raubfischerei. Die Ursachen
liegen tiefer . Die Bundesregierung verfolgt einen ver-
netzten Ansatz mit Maßnahmen im Bereich Polizei, mit
Maßnahmen zum Aufbau staatlicher Strukturen und zur
Stärkung der eigenen Sicherheitsstrukturen in Somalia .
Darauf gehe ich später in meiner Rede noch ein .
Seit fast fünf Jahren gab es keine Piratenangriffe
mehr in der Region . Nur so erreichen die Lieferungen
des Welt ernährungsprogramms ihr Ziel, nämlich die not-
leidende Bevölkerung von Somalia . Freie und sichere
Seewege sind wichtig für die humanitäre Hilfe und auch
für den internationalen Handel . Allerdings wurde vor gut
zwei Wochen erstmals wieder ein Schiff von somalischen
Piraten gekapert . Das zeigt: Sobald die internationale
Gemeinschaft hier nachlässt, schlagen die Piraten wieder
zu . Deshalb brauchen wir die Mission auch in Zukunft,
und deshalb braucht es auch weiterhin die Unterstützung
der Bundeswehr .
Seit 2008 beteiligt sich die Bundeswehr mit Schiffen,
Booten und Flugzeugen, aktuell mit einem Seeaufklä-
rungsflugzeug. Ebenso wichtig ist uns aber auch, Herr
Neu, der Aufbau Somalias . Derzeit setzt Deutschland
hierfür in der Entwicklungszusammenarbeit Mittel in
Höhe von über 100 Millionen Euro ein . Deutschland ist
damit der viertgrößte internationale Geldgeber . Diese
Hilfe ist aufgrund der Dürre und der drohenden Hungers-
not dringend notwendig . Denn die Dürre bedroht auch
die möglichen politischen Fortschritte nach der Wahl, die
im Februar stattgefunden hat . Der neue Präsident Far-
majo gilt als relativ unabhängiger Kandidat . Er hat der
Korruption den Kampf angesagt. Das ist ein Hoffnungs-
schimmer . Aber neben der dringend notwendigen Versor-
gung der Bevölkerung liegen weitere Mammutaufgaben
vor ihm, insbesondere beim Aufbau staatlicher Struktu-
ren und starker Sicherheitskräfte .
Auch hier unterstützten die internationale Gemein-
schaft und Deutschland Somalia . Deutschland stellt der-
zeit bis zu fünf Polizisten, darunter den Leiter der Polizei-
komponenten, in der politischen Unterstützungsmission
UNSOM . Auch beteiligen wir uns an EUTM Somalia,
die mehr als eine reine Ausbildungsmission ist . Sie unter-
stützt auch die somalischen Behörden bei der Errichtung
starker staatlicher Strukturen . Im Rahmen von EUCAP
Somalia bilden wir Küstenschutzkräfte für den Aufbau
einer somalischen Küstenwache aus . Das ist natürlich
besonders wichtig, damit die Somalier selbst gegen Pira-
ten und gegen illegale Fischerei in ihren Hoheitsgebieten
vorgehen können . Es ist ein Fortschritt, meine Damen
und Herren, dass die somalische maritime Polizeieinheit
seit kurzem in der Bucht von Mogadischu patrouilliert .
Deutschland verfolgt in Somalia einen umfassenden
Ansatz, der sowohl sicherheitspolitische als auch ent-
wicklungspolitische Instrumente miteinander vernetzt .
Auch wenn auf EU-Ebene eine Strategie erarbeitet wird,
wie die Antipirateriemission eines Tages beendet werden
kann, ist klar, dass wir hier einen langen Atem brauchen
werden, um eines der ärmsten Länder der Welt, Soma-
lia, nachhaltig zu stabilisieren . Deshalb unterstützen wir
diese erfolgreiche maritime Mission Atalanta auch wei-
terhin .
Vielen Dank .
Damit schließe ich die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/11621 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen . – Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisungso beschlossen .Ich komme zum nächsten Tagesordnungspunkt . Ichbitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze zu wech-seln, damit wir in unseren Beratungen zügig fortfahrenkönnen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des E-Government-GesetzesDrucksache 18/11614Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss Digitale Agenda HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazukeinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derParlamentarische Staatssekretär Dr . Ole Schröder für dieBundesregierung das Wort .
Dr. Alexander S. Neu
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723112
(C)
(D)
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In Zeiten der Digitalisierung sind Daten ein im-
mer wichtiger werdender Rohstoff.
Der Staat verfügt über einen enormen Datenschatz, der
für unterschiedliche Geschäftsmodelle genutzt werden
kann .
Open Data, also offene Daten, beschreibt ein Konzept,
bei dem diese Daten für jedermann ohne Zugangsbe-
schränkungen frei verfügbar sind . Dazu müssen sie unbe-
arbeitet und vor allen Dingen maschinenlesbar sein . Die
Daten können dann nachgenutzt und verbreitet werden,
soweit keine Rechte Dritter entgegenstehen . Wir wollen
dem Prinzip der offenen Daten mit diesem Gesetzentwurf
endlich zum Durchbruch verhelfen, meine sehr verehrten
Damen und Herren .
Der gewünschte Grad an Transparenz und Offenheit
erfordert ein Umdenken in der Verwaltung . Der dazu not-
wendige Kulturwandel setzt eine klare Legitimation und
vor allen Dingen Sicherheit für die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den Behörden des Bundes voraus . Will
Deutschland die Vorteile offener Daten in vollem Um-
fang nutzen können, muss dieser Prozess durch gesetz-
liche Regelungen begleitet und vorangetrieben werden .
Bereits im Dezember des vergangenen Jahres hat die
Bundesregierung die Teilnahme Deutschlands an der in-
ternationalen Open Government Partnership erklärt . Wir
haben damit ein klares Signal für offenes und transpa-
rentes Handeln gesetzt . Der vorgelegte Gesetzentwurf ist
ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg, meine sehr
verehrten Damen und Herren .
Der Gesetzentwurf setzt zentrale Kriterien für Open
Data um: die entgeltfreie Bereitstellung und den freien
Zugang zu den Daten sowie die Maschinenlesbarkeit .
Vor allem läuten wir einen Paradigmenwechsel im Um-
gang mit aus Steuergeldern finanzierten Daten ein. Die-
se müssen künftig standardmäßig veröffentlicht werden.
Dieses Prinzip des „Open Data by default“ führt dazu,
dass bei allen Daten zu fragen ist, warum sie nicht ver-
öffentlicht werden können, anstatt zu fragen, warum sie
veröffentlicht werden müssen.
Bei der Erstellung des Gesetzentwurfs mussten auch
die zu erwartenden Aufwände und die rechtlichen Rah-
menbedingungen für die Herausgabe von Daten berück-
sichtigt werden . Der Entwurf beschränkt sich daher auf
sogenannte Rohdaten . Berichte, Stellungnahmen, Be-
wertungen oder gar sensible Daten sind nicht erfasst;
denn deren Bereitstellung ist durch das Informationsfrei-
heitsgesetz geregelt .
Der Gesetzentwurf wahrt die Arbeitsfähigkeit der Ver-
waltung . Gerade im Bereich der Sicherheitsbehörden ist
es natürlich Voraussetzung für erfolgreiche Arbeit, dass
nicht alle Daten und Informationen öffentlich sein kön-
nen . Personenbezogene Daten sind selbstverständlich
zu schützen und nicht zu veröffentlichen. Auch der Zeit-
punkt der Freigabe von sensiblen Informationen kann
relevant sein . Deshalb sind im vorliegenden Gesetzent-
wurf entsprechende Ausnahmen aufgeführt . Ziel bei der
Umsetzung wird sein, möglichst viele Daten zu veröf-
fentlichen und nicht möglichst viele Ausnahmegründe
anzuwenden .
Die Auffindbarkeit wird über die von Bund und Län-
dern gemeinsam betriebene zentrale Open-Data-Platt-
form sichergestellt . Die Konferenz der Ministerpräsi-
dentinnen und Ministerpräsidenten der Länder hat auch
beschlossen, dass die Länder ebenfalls Open-Data-Re-
geln erlassen werden . Sie werden sich dabei an den Re-
gelungen des Bundes orientieren . Deshalb ist es notwen-
dig, dass wir das auf den Weg bringen . Der Bund nimmt
deshalb mit diesem Gesetzentwurf eine Vorreiterrolle
ein, meine Damen und Herren .
Wirklich erfolgreich kann Open Data jedoch nur wer-
den, wenn alle Ebenen wirklich an einem Strang ziehen,
das Thema gemeinsam als Chance begreifen und den
Kulturwandel in den Verwaltungen auf den unterschied-
lichen Ebenen vorantreiben . Die Bundesregierung will
ihren Teil dazu beitragen sowie Open Data fordern und
fördern . Der vorgelegte Gesetzentwurf ist hierfür ein
wichtiger Meilenstein .
Vielen Dank, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren .
Dr . Petra Sitte hat als nächste Rednerin für die Frakti-
on Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Es ziemt dem Untertanen nicht, an die Handlungender Obrigkeit den Maßstab seiner beschränkten Ein-sicht anzulegen . . .So wird der preußische Innenminister von Rochow ausdem Jahr 1838 zitiert . Damit ist auch das Staatsverständ-nis auf den Punkt gebracht, dem wir historisch das Prin-zip des Aktengeheimnisses verdanken . Wenn auch spät,wurde dies in Deutschland 2005 durch das Informations-freiheitsgesetz erstmals aufgebrochen und mit ihm einvoraussetzungsloses Recht auf staatliche Informationengeschaffen. Wenn es aber darum geht, dass die öffentli-che Hand einen Schritt weiter geht und von sich aus In-formationen und Daten zur Verfügung stellt, bleiben wirnoch weit hinter dem Möglichen zurück . Dabei gibt eshier ein enormes Potenzial, was den öffentlichen Nutzenanbetrifft.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23113
(C)
(D)
Nun liegt uns nach Jahren der Ankündigungen derEntwurf eines Open-Data-Gesetzes vor . Besser spät alsnie, könnte man sagen . Aber statt dem Vorbild mehrererBundesländer zu folgen und das Informationsfreiheits-gesetz zu einem echten Transparenzgesetz weiterzuent-wickeln, wie wir, die Linke, es hier zuletzt im Februarvergangenen Jahres beantragt hatten, verbleibt der Vor-schlag in einem sehr kleinen Rahmen;
das hat ja auch der enthusiastische Beitrag von HerrnSchröder gezeigt .
Weder schafft er tatsächlich ein durchsetzbares Rechtauf die Veröffentlichung von Daten, noch erfasst er mehrals einen kleinen Ausschnitt der Bereiche, in denen offe-ne Daten nutzbringend eingesetzt bzw . genutzt werdenkönnten;
denn laut Entwurfstext bestehen viele Einschränkungenund Ausnahmen .Demokratie und Mitbestimmung? Fehlanzeige . So istder Geltungsbereich des Gesetzentwurfs auf die unmit-telbare Bundesverwaltung beschränkt . Das heißt also,zahlreiche Behörden und andere, nachgelagerte Institu-tionen mit durchaus interessanten Datenbeständen wer-den überhaupt nicht erfasst . Er schließt beispielsweiseDaten aus, die für Forschungszwecke erhoben wurden .Er schließt Daten aus, die vor Inkrafttreten des Gesetzeserhoben wurden – selbst wenn sie veröffentlichungsbe-reit vorliegen . Daten sollen auch dann aus dem Anwen-dungsbereich fallen, wenn sie Verhältnisse der Behördeselbst betreffen. Offene Haushaltsdaten oder Informatio-nen zum Aktenbestand wird es dann also auch hier nichtgeben .An dieser Stelle wird ein grundlegendes Problemdeutlich: Dem ganzen Entwurf liegt ein Verständnis vonOpen Data zugrunde, das nur den Aspekt der wirtschaft-lichen Verwertung in den Blick nimmt, nicht aber denmöglichen Gewinn an politischer Transparenz und damiteben auch nicht den demokratischen Gewinn, der damitverbunden sein könnte .
Nur konsequent ist, dass im Vergleich zu früheren Ent-würfen auch alle Bezüge darauf aus der Begründung ent-fernt wurden . Damit bleibt die Bundesregierung hinterdem zurück, was sie selbst in ihrer Digitalen Agenda for-muliert hat .Als wirklicher Schritt nach vorn bleibt hier allein dieEinrichtung einer zentralen Beratungsstelle zu nennen .Gerade dabei ist aber umso unverständlicher, wieso dieBeratungsleistung nur der unmittelbaren Bundesverwal-tung und nicht allen Behörden gleichermaßen zugute-kommen soll .
Ansonsten gilt: Wenn dieser Gesetzestext die Grenzenvon Open Data für die Zukunft abstecken soll, so wird eram Ende mehr Bremse als Motor sein .Danke schön .
Als nächster Redner hat Sebastian Hartmann für die
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Ja, das Open-Data-Gesetz liegt endlich vor, und eskommt im ersten Regierungsentwurf zur Änderung desE-Government-Gesetzes daher; das ist in der Tat richtig .Selbstverständlich ist es so – da werbe ich um das Ver-ständnis aller Kolleginnen und Kollegen hier im HohenHause –: Wir befinden uns in der ersten Lesung, wir re-den über einen Entwurf, und natürlich kann man einenEntwurf noch verbessern . – Das soll aber nicht darüberhinwegtäuschen, dass wir damit auch einer Vereinbarungdes Koalitionsvertrages nachkommen . An dieser Verein-barung im Koalitionsvertrag werden wir Sozialdemokra-tinnen und Sozialdemokraten uns auch messen lassen .Sie lautete:Die Bundesverwaltung muss auf Basis eines Ge-setzes mit allen ihren Behörden Vorreiter für dieBereitstellung offener Daten in einheitlichen ma-schinenlesbaren Formaten und unter freien Lizenz-bedingungen sein .Darauf hatten wir uns damals geeinigt . Wir werden ein-mal schauen, ob wir vielleicht noch weitergehen können,weil wir im jetzt vorliegenden Entwurf nur die unmittel-baren Bundesbehörden aufgeführt haben .In der Tat ist das ein erster Schritt . Aber da wir dienationalen Aktionspläne und entsprechenden Plattfor-men auch im internationalen Vergleich kennen, ist klar,dass die entsprechenden Gesetze – beginnend mit demInformationsfreiheitsgesetz, das wir als rot-grüne Bun-desregierung schon 2005 auf den Weg gebracht haben –perspektivisch zu einem umfassenden Gesamtwerk zu-sammengefasst werden müssen . Da sind wir gar nichtweit auseinander . Das muss das Ziel des Handelns sein,und deswegen nehmen wir diesen Gesetzentwurf derBundesregierung auch als Ansatzpunkt für eine echteparlamentarische Beratung, liebe Kolleginnen und Kol-Dr. Petra Sitte
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723114
(C)
(D)
legen, um das Gute vielleicht doch noch etwas bessermachen zu können .
Die Weiterentwicklung ist notwendig . An dieser Stellefolgen wir immerhin glatte zwölf Jahre später dem ers-ten Ansatz; der Zeitrahmen ist somit nicht wirklich eng .In der Gesetzesbegründung – wir nehmen das Wort derBundesregierung ja wie immer ernst – kann man jedochlesen, dass es in zahlreichen Bundesbehörden noch garkeine Open-Data-Strategie gibt . Das zeigt auf, liebe Kol-leginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, dassgerade wir als Parlament jetzt aufgefordert sind, uns mu-tig aufzumachen und zu sagen: Das ist unsere Idee . Wirwollen hier vorangehen und Deutschland damit eines dermodernsten Open-Data-Gesetze überhaupt geben .
– Das kann als Ansatzpunkt dienen, Herr Kollege vonNotz . Ich werde auch Ihren Worten – Sie folgen mir jain wenigen Minuten nach, können es aber anscheinendkaum erwarten – lauschen . Es geht ja um ein gemein-sames parlamentarisches Handeln . Einige Punkte desGesetzentwurfes sollten wir uns deshalb tatsächlich nocheinmal genauer anschauen .Es ist zum Beispiel denkbar, dass man über einenallgemeinen Rechtsanspruch nachdenkt und zu diesemZweck das Thema einmal nicht aus der Sicht der Be-hörden betrachtet . Ich würde hier als Sozialdemokratnatürlich einen Unterschied zu den Linken machen, diesich einer Aussage des preußischen Innenministers be-dient haben: Das soll nicht unsere Leitlinie sein . Nein,ich glaube, bei einem modernen Verständnis von Staatund Gesellschaft ist der Staat die Gesellschaft, und damitgibt es auch einen entsprechenden Anspruch darauf, aufDaten, die einmal geschaffen und bereitgestellt wurden,auch zugreifen zu können .Das Vorhaben bietet auch eine große Chance, hier et-was für die Digitalisierung zu tun, Deutschland in diesemBereich voranzubringen und zu einem der kreativstenRäume der Welt zu machen . Das bringt auch mit sich,dass wir uns noch einmal anschauen müssen, wie es ei-gentlich mit den Daten aussieht, die wir erhoben haben,bevor das Gesetz in Kraft tritt . Auch hier können wir unsetwas Progressiveres vorstellen und würden auch gerneweitergehen . Bitte nicht missverstehen: Wir wollen kei-nen unnötigen Verwaltungsaufwand betreiben . Es gehtnicht darum, die Bundesbehörden, die effizient arbeiten,noch stärker zu belasten und mit weiteren Aufgaben zuüberfrachten . Aber lassen Sie uns doch die Datenbestän-de anschauen, die wir haben .Das leitet mich zu einem dritten Punkt über: Wirkönnten uns diesem Thema vielleicht auch einmal an-dersherum nähern und sagen: Nein, alle Daten, die wirhaben, sind vom Prinzip her offen, und die Ausnahme istzu begründen . – Es gibt entsprechende Vorschläge für einAmpelverfahren, für genaue Prüfungen und zur Anony-misierung, sodass Dritte mit diesen Daten nicht etwas tunkönnen, was man mit einem Open-Data-Ansatz geradenicht erreichen wollte .Überall da liegen große Chancen, und ich hoffe sehrauf das Beratungsverfahren . Wir sollten uns das in denAusschussberatungen – auch im Dialog mit unserem Ko-alitionspartner – noch einmal genau anschauen und unsüberlegen, was man noch tun könnte .Es geht also um neue Daten, verbunden mit dem An-satz – das könnte man auch als Anspruch formulieren –,dafür zu sorgen, dass diese Daten breit verfügbar sindund das Ganze nicht mit Regeln und Ausnahmen kom-plizierter wird, als es notwendig ist, liebe Kolleginnenund Kollegen .
Wir haben den Koalitionsvertrag zu Anfang erwähnt .Das ist die Maßgabe . Ohne diesen Koalitionsvertrag, denwir gemeinsam beschlossen haben, wäre es sicherlichnicht zu diesem Gesetzentwurf gekommen . Die Regie-rung ist nun den Koalitionsfraktionen zuvorgekommen,die ansonsten sicher einen eigenen Open-Data-Ansatzformuliert hätten .Ich glaube, dass der vorliegende Entwurf zur Ände-rung des E-Government-Gesetzes ein guter Ausgangs-punkt für die Beratungen ist . Er bietet große Chancen .Wir können uns an Nachbarstaaten orientieren, um dasZiel zu erreichen, das auch in der Gesetzesbegründungdargelegt worden ist: Wir wollen den modernsten Ansatzund den modernsten Zugang zu Informationen, wir wol-len den Informationsfreiheitsanspruch weiterentwickelnund den Open-Data-Ansatz umfassend in allen Bundes-behörden – ich betone: in allen Bundesbehörden, nichtnur in den bundesunmittelbaren – implementieren . Esw
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir werden als Bundesebene mit gutem
Beispiel anderen staatlichen Ebenen vorangehen können .
Ich freue mich auf die Beratungen und lade uns herz-
lich dazu ein, das Gute noch besser zu machen . Ansätze
dafür sind ja mehr als zur Genüge vorhanden .
Danke .
Dr . Konstantin von Notz hat als nächster Redner dasWort für die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Offene Da-ten sind heute mehr denn je von einer enormen Bedeu-tung für Teilhabe und Innovationskraft in Gesellschaft,Wissenschaft und Wirtschaft – vom Start-up über For-schungscluster bis zur persönlichen Recherche . Hierinsind wir uns, nach den Redebeiträgen zu urteilen, alleeinig . Insofern ist dies zwar ein viel zu später, aber einSebastian Hartmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23115
(C)
(D)
erster richtiger Schritt, Herr Staatssekretär; kein Meilen-stein, aber immerhin ein Meilensteinchen .
– Ja, fast . Die Betonung liegt auf „fast“ .Bürgernah, transparent und nachvollziehbar agieren-de Behörden sind das beste Mittel gegen staatsfeindlichePopulisten und Verschwörungstheoretiker . Statt sich undihre Datenschätze zu verstecken, kann eine offene undselbstbewusste Staatlichkeit, die zugänglich und nach-vollziehbar ist, nur Vertrauen gewinnen, meine Damenund Herren. Doch Sie haben es offensichtlich in der Res-sortabstimmung noch hinbekommen, jeden Hinweis aufdas – ich zitiere – „Informationsungleichgewicht zwi-schen öffentlicher Verwaltung und Gesellschaft“ zu til-gen .Ja, die Selbstverständlichkeit, dass eine informierteBürgerschaft sich stärker beteiligt und damit zu besseremRegierungshandeln führt, musste aus der Vorlage wiederheraus .
Offensichtlich haben Sie an wirklicher Transparenz undTeilhabe nur wenig Interesse . Warum eigentlich? So gehtes jedenfalls im Jahr 2017 nicht, meine Damen und Her-ren .
Aber diese Haltung erklärt auch, warum Sie nun nur nochdie unmittelbare Bundesverwaltung, nicht aber öffentli-che Stiftungen oder Körperschaften erfassen wollen, ob-wohl dort ganz erhebliche Aufgaben und Umsätze, alsoauch Daten von großem Wert, liegen . Auch eine raschgreifende Regelung für die Forschungsdaten: Fehlanzei-ge! Man wartet lieber jahrelang auf eine EU-Reform .Daten über Behördenvorgänge selbst sollen pauschalgar nicht zugänglich sein . Sicher, es gibt hier legitimeSchutzbelange – keine Frage –, doch oft auch berechtig-ten Informationsbedarf. So viel Differenziertheit war Ih-nen dann doch zu heikel . So kommt man eben zu nichts,weder in der Netzpolitik noch bei Open Data, meine Da-men und Herren .Wenn der Bundeskanzlerin auf dem IT-Gipfel ausge-rechnet nur das Ende der Datensparsamkeit einfällt undder Mautminister der Automobilwirtschaft das Daten-eigentum andient, dann darf man sich nicht wundern,dass Sie hier nach Jahren des Wartens bei diesem brei-ten gesellschaftlichen Thema – die Kollegin Sitte hat esgesagt – einen reinen wirtschafts- und wahlkampfgetrie-benen Kurzsprung hinlegen . Wir brauchen aber endlichein umfassendes Transparenzgesetz, das die wichtigenGrundlagen im IFG zusammen- und fortführt . Hamburgund Nordrhein-Westfalen haben das beispielhaft vorge-macht .
So überfällig und richtig dieses Gesetz nach jahrelan-gem Warten auch ist: Es ist einfach zu wenig Substanzund zu viel Big-Data-Budenzauber . Das gilt gerade fürden neuralgischen Datenschutz . Hier können wir unsnicht allein auf ein elf Jahre altes IFG verlassen . An-gesichts immer größerer Datenberge, die immer besservernetzt und ausgewertet werden, braucht es Schutzstan-dards auf dem neuesten Stand und eine Beratungsstel-le – auch das hat Kollegin Sitte angesprochen –, die ihrenNamen auch verdient, und nicht nur ein paar Planstellen .Die Praxiserfahrung mit dem IFG zeigt: Es kommt aufden Verwaltungsalltag an . Nehmen Sie dafür Geld in dieHand! Volkswirtschaftlich lohnt es sich, aber auch für dieVerwaltung selbst .Ob die unendlich peinliche Geschichte um die Störer-haftung, die zögerliche Ambivalenz bei der IT-Sicherheit,der absolute Stillstand im Urheberrecht oder das Chaosbei Hate Speech: An Ihrer verpfuschten Leistungsbilanzim Bereich des Digitalen ändert das bisschen Open Dataheute leider gar nichts, meine Damen und Herren .Herzlichen Dank .
Als letzter Redner in dieser Aussprache hat Thomas
Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darfeinfach sagen: Ich bin wirklich stolz . Ich bin wirklichstolz darauf, dass wir jetzt hier heute stehen und sagenkönnen, dass wir es hinbekommen haben, in erster Le-sung über das Open-Data-Gesetz zu verhandeln . Das istein großer Erfolg, weil der Weg lang gewesen ist .Lieber Kollege von Notz, trotz der einen oder ande-ren kritischen Einlassung darf ich aber auch Ihnen Dankeschön sagen. In der Enquete-Kommission der letzten Le-gislaturperiode haben Sie die Projektgruppe „Demokratieund Staat“ geleitet . Und Sie haben anhand von zehn Kri-terien zu diesem Thema maßgebliche Vorgaben gemacht,von denen ich glaube, dass wir sie auch alle erfüllen .Zur Frage, ob hier mehr geht, hat der KollegeHartmann schon eine Menge gesagt . Ich kann seinenheutigen Ausführungen – im Gegensatz zu denen vongestern – durchgehend zustimmen . Aus diesem Grundekann ich also nur sagen: Da geht sicherlich noch was imVerfahren .
Dr. Konstantin von Notz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723116
(C)
(D)
Aber worüber reden wir hier heute eigentlich? MeineDamen und Herren, wenn wir in Deutschland über eineInternetinfrastruktur nachdenken, fällt den Deutschen häu-fig erst einmal Hardware ein. In Hardware sind wir einfachgut . Da geht es um Breitbandkabel, Mobilfunksender undSatellitenverbindungen . Den vielleicht wichtigeren Inf-rastrukturrahmen stellen heute aber die Daten dar . OhneDaten funktioniert das Internet nicht . Derjenige, der dieDaten hat und mit ihnen arbeiten kann, ist der Innovati-onsführer . Und dem folgt am Ende alles – bis hin zu denArbeitsplätzen und dem, was mit dranhängt. Deshalb findeich es so wichtig, dass wir hier einen Einstieg finden undsagen: Auch die Daten des Staates sind ein großer Schatz .Sie sind ein Schatz für Innovationen und für die Wirtschaft .
Deshalb ist das Open-Data-Thema auch ein wirtschafts-politisches .Ich habe schon am Mittwoch in unserer Ausschuss-sitzung gesagt – das adressiere ich an die Wirtschaftsmi-nisterin –: Wenn in dem gesamten Weißbuch zu digitalenPlattformen nur ein einziger Satz dem Thema Open Datagewidmet wird, dann wird offensichtlich, dass das The-ma zumindest im Wirtschaftsministerium noch nicht soverstanden worden ist, wie es notwendig wäre . Deshalbhabe ich hier und heute die Bitte – das ist auch eine Auf-forderung –, dass das ein Thema auch des Wirtschaftsmi-nisteriums werden muss . Das ist von ganz entscheiden-der Bedeutung .
Sie finden im Gesetzentwurf die verschiedenstenZahlen in Bezug dazu gesetzt, welchen volkswirtschaft-lichen Nutzen das Ganze erbringt . Nicht zuletzt hat die Konrad-Adenauer-Stiftung – der ich für ihre wertvolleStudie danke, mit der sie auch die wirtschaftlichen Aus-wirkungen untersucht hat – herausgestellt, dass OpenData zu 40 000 neuen Arbeitsplätzen in Deutschland füh-ren kann .Natürlich ist es so: Wenn wir jetzt am Wochenende inunsere Wahlkreise zurückkehren und den Leuten im Bier-zelt erzählen wollen, dass wir jetzt ein Open-Data-Ge-setz beraten, dann werden die Emotionen wahrscheinlichnicht bis unter die Decke hochkochen . Es wird nicht sosein, dass alle „Jawohl, das ist es!“ schreien . Aber, meineDamen und Herren, zehn solcher Gesetze schaffen einehalbe Million Arbeitsplätze . Und die Frage ist, ob wir,wenn wir das nicht wahrnehmen, am Ende nicht die Türfür Populisten aufmachen, die dann irgendwann kommenund sagen könnten: Guckt euch einmal diese wirtschafts-politischen Leistungen an! – Sie werden dann vollkom-men falsche Rezepte propagieren wie Protektionismusund andere Dinge . Deshalb ist das ein so wichtiger Be-standteil und eine so wichtige Initiative für Innovations-fähigkeit und für den Arbeitsmarkt in Deutschland .
Es ist, glaube ich, gut, an dieser Stelle einmal dieje-nigen zu loben, die hier schon, bevor wir dieses Gesetzin Angriff genommen haben, einiges hinbekommen ha-ben . Dabei geht es vor allem auch um den Bundesver-kehrsminister, der mit seiner mCloud schon eine sehrumfangreiche Open-Data-Initiative gestartet hat . Er hatdamit eine gute Plattform bereitgestellt . Er hat auch dieDeutsche Bahn angetrieben, die hier mit Hackathons undeiner eigenen Open-Data-Plattform vorbildlich agiert .Die Nahverkehrsunternehmen liegen hier aber – darüberhaben wir gestern schon gesprochen – massiv zurück .Sie sollten ebenfalls Open-Data-Plattformen einführen .Das wird auch ein Thema sein, das wir in der nächstenLegislaturperiode weiter behandeln müssen . Dabei gehtes nicht nur um die Frage, ob die unmittelbaren Bundes-behörden daran beteiligt werden sollen, sondern insbe-sondere darum, was eigentlich mit den Ländern und denKommunen sowie den Nahverkehrsbetrieben ist und allden anderen, bei denen solche Datenschätze liegen . Diemüssen geöffnet werden.Nicht zuletzt ist das auch ein Bereich, mit dem wireine Menge Geld sparen können . Bei Open Data istGroßbritannien Vorreiter in der EU – zumindest solangenoch, wie es Mitglied der Europäischen Union ist . Leuteaus der britischen Regierung, die wir eingeladen haben,haben uns erklärt, dass in Großbritannien der wichtigsteTreiber für Open Data inzwischen der Finanzminister ist .Durch Open Data erzielt er nämlich Milliardeneinspa-rungen. Das Kuriose in der öffentlichen Verwaltung istja, dass die eine Behörde gar nicht weiß, was die anderealles an Daten hat . Durch die Open-Data-Initiative siehtder eine auf einmal jedoch, was der andere an Daten hatund muss sie dann nicht mehr neu erstellen .Ich weiß, dass Jens Spahn ein großer Fürsprecher die-ser Themen ist . Deshalb freue ich mich darauf, diesesThema weiter zu bearbeiten . Ich freue mich auch sehr,dass wir heute an diesem Punkt sind, und freue mich aufdie weitere Beratung .Ich danke Ihnen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ichdie Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/11614 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall . Dannist die Überweisung so beschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasGastel, Stephan Kühn , Markus Tressel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENRadverkehr konsequent fördernDrucksache 18/11729Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheitThomas Jarzombek
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23117
(C)
(D)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazuWiderspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das auchso beschlossen .Wir beginnen mit der Aussprache, sobald die Kolle-ginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben .Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hatMatthias Gastel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünendas Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Es ist das erste Mal in dieser Legislatur-periode, dass im Deutschen Bundestag über das ThemaRadverkehr diskutiert wird .
Anlass ist der Antrag der grünen Bundestagsfraktion„Radverkehr konsequent fördern“.
Ermutigt dazu, diesen Antrag zu stellen, wurden wir da-durch, dass auch in Deutschland immer mehr Menschenmit dem Fahrrad unterwegs sind . Alleine in Berlin hatsich der Radverkehrsanteil seit dem Jahr 2005 verdop-pelt .Die Botschaft, die von dieser Debatte ausgehen soll,ist, dass der Bund die Radverkehrsförderung nicht alleinden Ländern und Kommunen überlassen kann .
Denn der Bund steht in der Mitverantwortung für denKlimaschutz, für die Verkehrssicherheit, für die Ressour-ceneffizienz, für den Schutz der Menschen vor zu vielLärm und Abgasen . Damit steht der Bund auch in derMitverantwortung für die Lebensqualität der Menschen.Vor all diesen Verantwortlichkeiten duckt sich abereiner weg, und das ist unser Bundesverkehrsminis-ter Dobrindt . Von 13 Milliarden Euro, die vom Bundpro Jahr in die Verkehrsinfrastruktur investiert werden,geht noch nicht einmal 1 Prozent in die Radverkehrsin-frastruktur . Im Bundesverkehrswegeplan spielt der Rad-verkehr überhaupt keine Rolle . Das Desinteresse vonDobrindt ist nicht zu übersehen . Beispielsweise wird ernächsten Montag bei seiner eigenen Veranstaltung, demNationalen Radverkehrskongress in Mannheim, fehlen,genauso wie er auch heute auf der Regierungsbank fehltund damit sein Desinteresse an diesem Thema ausdrückt .
Die Bilanz der Großen Koalition in Sachen Radver-kehr ist aber insgesamt vernichtend
– insgesamt vernichtend –; denn für Radwege entlangvon Bundesfernstraßen wird mit 98 Millionen Euro proJahr weniger ausgegeben als in früheren Jahren . Der Zu-stand der Radwege entlang von Bundesfernstraßen ist derBundesregierung noch nicht einmal bekannt, und die An-zahl der Diensträder in Bundesbehörden ist seit Antrittder Großen Koalition, seit dem Jahr 2013, um sage undschreibe 85 Prozent zurückgegangen .
Die Große Koalition verkennt die Chancen, die das Fahr-rad bietet: Chancen für die Verminderung von Stau undAbgasen, Chancen für die Gesundheit derer, die mit demFahrrad unterwegs sind, und Chancen für lebenswerteStädte .
Der Großteil der Gesellschaft ist da viel weiter als Sievon der Großen Koalition .
82 Prozent der Menschen in Deutschland wünschen sichin den Städten weniger Auto- und mehr Radverkehr . Ge-nau da setzt unser Antrag an, der sowohl die Städte alsauch die ländlichen Räume im Blick hat .Wir wollen sichere und attraktive Infrastruktur für denRadverkehr durch verbindliche Qualitätsstandards .Wir wollen die Mittel für Radwege entlang von Bun-desfernstraßen auf 200 Millionen Euro pro Jahr verdop-peln .Wir wollen des Weiteren die Mittel für den Bau vonRadschnellwegen – immerhin gibt es sie in diesem Jahrzum ersten Mal überhaupt – auf 100 Millionen Euro ver-vierfachen .Wir wollen aber auch ein modernes Straßenverkehrs-recht schaffen, mit dem beispielsweise den Kommunenermöglicht wird, innerorts alleine über die Ausweisungvon Tempo-30-Zonen zu entscheiden . Wer weiß besser,was angemessen ist, als die Kommunen? Außerdem wol-len wir, dass endlich verpflichtend Abbiegeassistentenfür Lkws eingeführt werden . Rechtsabbiegeunfälle sindmit die häufigsten und vor allem die schwerwiegendstenUnfälle . Da müssen wir unbedingt rangehen .
Außerdem beantragen wir ein Förderprogramm fürden Aufbau von Verleihstationen für Lastenräder . Wirwollen 2 000 Lastenradverleihstationen in Deutschlandaufbauen . Wir erwarten von der Bundesregierung, dasssie endlich Einfluss auf die Deutsche Bahn nimmt, damitin jedem Zug Fahrräder mitgenommen werden können .
Dann können wir endlich auch im Nationalen Radver-kehrsplan ambitionierte, aber realistische Ziele aufneh-men, insbesondere das Ziel, den Anteil des Radverkehrsbis zum Jahr 2030 auf 25 Prozent zu erhöhen .Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723118
(C)
(D)
Spätestens mit dem Dieselskandal und den anstehen-den Fahrverboten in Städten aus Gesundheitsgründen istklar: Wir brauchen eine andere Verkehrspolitik . GroßeTeile der Bevölkerung sind bereit dazu . In jedem drittenGroßstadthaushalt gibt es überhaupt kein Auto mehr . Ge-rade bei Jüngeren wird das mehr und mehr zur Norma-lität . In Deutschland werden inzwischen mehr Fahrräderals Autos verkauft . Wir Grüne wollen den Radverkehrfördern . Wir wollen ihm mehr Platz im Verkehrsraum zu-billigen. Wir wollen Konflikte des Radverkehrs mit demFußverkehr und dem Kfz-Verkehr vermeiden . Wir wol-len die Sicherheit erhöhen . Radfahren darf keine Aben-teuerlust erfordern .
Uns gefällt ganz gut die Philosophie aus den Nie-derlanden . In den Niederlanden heißt es: Wie gut oderschlecht eine Radverkehrsinfrastruktur ist, zeigt sich da-ran, ob sich Kinder und Ältere trauen, mit dem Fahrradunterwegs zu sein . Dahin sollten wir auch in Deutschlandkommen .
Die Länder und die Kommunen müssen dafür vieltun . Sie brauchen dafür aber die aktive Unterstützung desBundes . Deswegen lautet unser Appell an die Große Ko-alition und den Deutschen Bundestag: Gehen Sie runtervon der Bremse! Treten Sie in die Pedale! Schalten Siehoch!
Als nächster Redner hat Gero Storjohann für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Kollege Gastel, da haben Sie sich aber Mühegegeben, hier ein schlechtes Bild von der Radinfrastruk-tur und der Radpolitik in Deutschland zu zeichnen .
Insgesamt stelle ich fest: Der Radverkehr boomt .
Immer mehr Fahrräder werden verkauft .
Es wird immer mehr Fahrrad gefahren . So schlecht kannes bisher in Deutschland also nicht gemacht worden sein .
Viele Punkte, die Sie angesprochen haben, sind rich-tig . Aber sie sind inzwischen auch Allgemeingut . Sie ha-ben sich viel Mühe gegeben, einzelne Dinge aufzuschrei-ben, obwohl diese schon erfüllt sind .
Kommen wir generell zur Zukunft . Wir werden mehrVerkehr in den Städten bekommen . Die entscheidendeFrage lautet, wie wir diesen Verkehr kompensieren, obes uns gelingt, Verkehrskonzepte zu entwickeln, die denBürgern gefallen . Wenn es uns gelingt, den zusätzlichenVerkehr in den Städten aufs Fahrrad zu bringen, dann istuns schon viel gelungen . Dafür brauchen wir eine ent-sprechende Infrastruktur. Diese müssen wir neu schaffen.Ich schaue mir genau an, wie es in Hamburg läuft,wo Rot-Grün versucht, eine Infrastruktur für Fahrräderaufzubauen . Dabei muss sich Rot-Grün entscheiden, obParkplätze entwidmet und Bäume gefällt werden sollen,um letzten Endes vernünftige Fahrradwege durch dieStadt zu den Arbeitsplätzen zu führen . Das ist nicht aufdie Schnelle gemacht . Wir alle sind dabei und wollen dasumsetzen .
Zurzeit werden durchschnittlich 10 Prozent aller Wegein Deutschland mit dem Fahrrad zurückgelegt . In einigenRegionen liegt der Anteil bei 30 Prozent, in anderen bei15 Prozent; nicht überall ist der Wert gleich hoch . AuchKopenhagen hat es nicht in fünf Jahren geschafft, Fahr-radstadt zu werden .
Seit wir, die Mitglieder des Verkehrsausschusses, Ko-penhagen besucht haben, wissen wir, dass dafür 40 Jahrenotwendig waren . Es sind jetzt andere Zeiten . Wir versu-chen, das zu beschleunigen .Wir haben hier einen Nationalen Radverkehrs-plan 2020 verabschiedet, und der wird von der Bundes-regierung umgesetzt .
– Er wird wirklich umgesetzt .
Ich möchte Ihnen einmal aufzeigen, welche Mittel wirzurzeit zur Verfügung stellen . Sie haben in Ihren Antragganz locker hineingeschrieben, das müsse mehr werden .
Matthias Gastel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23119
(C)
(D)
Allein was Mittel für Fahrradwege an Bundesstraßenbetrifft, haben wir 98 Millionen Euro zur Verfügung ge-stellt .
– Früher waren es 100 Millionen Euro . Dann kam dieFinanzkrise, und die Mittel sind auf 60 Millionen Eurozurückgeführt worden . Dann ist der Betrag sukzessivewieder auf 98 Millionen Euro hochgeführt worden . Ichhabe mich sehr stark dafür eingesetzt, dass die Mittelwieder erhöht werden .
Ich habe bei mir in Schleswig-Holstein nachgefragt,was das Land mit dem zusätzlichen Geld gemacht hat .2012 hatten wir den Regierungswechsel in Schles-wig-Holstein . Damals wurden die Mittel noch mehr alszufriedenstellend ausgeschöpft, nämlich zu über 166 Pro-zent . Dann kamen die Jahre, in denen Ihre Kollegen vonden Grünen Mitverantwortung trugen, Herr Gastel: 2013wurden 20 Prozent der Mittel zurückgegeben, 2014 wa-ren es 25 Prozent, und 2015 wurden 15 Prozent zurück-gegeben .
Ich frage jetzt immer beim Verkehrsminister nach:Warum macht ihr das? Dann kommt leider die Antwort:Weil es sinnvoller ist, Straßen zu bauen als Fahrradwe-ge . Wir können dann mit der gleichen Ingenieurleistungmehr Mittel abgreifen . – Fangen Sie erst einmal da an,wo Sie Verantwortung haben, das umzusetzen, was Siehier immer fordern!
Die Zustandserfassung der Fahrradwege ist einewunderbare Aufgabe, die in den Ländern gemacht wer-den muss . Die Länder wissen auch, wie der Zustandder Fahrradwege ist . Das wird alles schon gemacht . Siespringen praktisch auf den Zug auf . Wir wollen natür-lich auch sehr genau wissen, wo noch Lücken sind . DieBundesregierung legt zurzeit ein Programm auf, mit demdie Lücken offensiv angegangen werden sollen. Aber ge-schlossen werden müssen sie von den Ländern . Nicht derBund macht die Planung, nicht der Bund kann dem Landvorschreiben, irgendwo einen Fahrradweg zu bauen, son-dern es sind die Länder, die entscheiden . Da werden wiransetzen müssen . Da können Sie gerne mitmachen; dennauch Sie sind in gewisser Weise in Verantwortung .
Die Radschnellwege sind in diesem Haushalt zum ers-ten Mal aufgenommen worden . Wir hatten dazu eine An-hörung . Sie wissen auch, dass wir vielleicht zur Jahres-mitte zum ersten Mal Mittel vergeben können . Deswegenist der Ansatz von 25 Millionen Euro erst einmal richtig .Dieser Ansatz wird höher werden, es werden mehr Mitteleingestellt werden müssen . Das wollen wir auch . AberMittel müssen auch abgerufen werden können .Dazu gibt es ein paar Projekte . Erst einmal kommt diePotenzialanalyse, dann kommt die Planung . Wenn wir indrei oder vier Jahren zum ersten Mal für neu geplanteRadschnellwege – alleine in der Metropolregion Ham-burg sind wir dabei, vier oder fünf Radschnellwege zuerbauen – richtig viel Geld ausgeben können, dann ma-chen wir das auch . Insofern sind wir da auf einem sehrguten Weg .
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Gastel zu?
Ich habe Zeit, ja .
Frau Präsidentin! Lieber Herr Kollege, vielen Dank
für die Zwischenfrage . – Sie haben die Problematik des
Mittelabrufs durch die Länder angesprochen, einmal,
was die Radwege entlang von Bundesfernstraßen angeht,
und jetzt auch, was die Radschnellwege angeht . Ein Pro-
blem ist, dass bisher die Rechtsauffassung die gewesen
ist, dass Radwege entlang von Bundesfernstraßen unmit-
telbar entlang der Straße geführt werden müssen . Das ist
aber vielerorts nicht möglich, weil die Topografie das
nicht zulässt, zum Beispiel aufgrund der Platzverhältnis-
se, oder weil es nicht besonders attraktiv ist, einen Rad-
weg entlang einer Bundesstraße mit 30 000, 40 000 oder
50 000 Fahrzeugen am Tag zu bauen .
Es gibt eine Rechtsauffassung, die aus unserem
Rechtsgutachten stammt, die besagt, dass die Radwege
auch anders geführt werden können . Das heißt, es muss
nur die Richtung gleich sein, aber der Radweg muss nicht
direkt entlang der Straße geführt werden . Wenn das auch
die Rechtsauffassung des Bundes wäre, entstünden ganz
neue Möglichkeiten, Radwege entlang von Bundesfern-
straßen zu bauen und tatsächlich die Mittel abzurufen . Ist
es auch Ihre Auffassung, dass das möglich ist?
Herr Kollege, ich bin kein Jurist . Der Punkt, der dazum Tragen kommt, ist, dass es letzten Endes um dieVerkehrssicherheit geht . Das heißt, der Fahrradfahrer sollbei großer Differenzgeschwindigkeit nicht auf der Bun-desstraße fahren . Wenn man einen neuen Fahrradweg1 Kilometer neben einer Bundesstraße anlegt, dann istnicht mehr eindeutig, ob dieser Fahrradweg im Zusam-menhang mit der Bundesstraße steht oder ob er eher tou-ristischen Zwecken dient . Deswegen verfolgen wir beiRadschnellwegen eine andere Konzeption . In erster Liniesprechen wir über Bundesradschnellwege . Insofern seheich den Konflikt nicht, den Sie da aufzeigen.Es ist wünschenswert, eine eigene Radinfrastruktur zuhaben . Wir kommen inzwischen von dem FahrradstreifenGero Storjohann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723120
(C)
(D)
auf Straßen weg; denn der ist nicht für alle Generationensicher. Die Rechtsauffassung, die Sie eben vorgetragenhaben, teile ich nicht . Aber ich sehe das Problem, das wirmit den Radschnellwegen lösen werden .
Die Länder haben eine hohe Verantwortung . Den Län-dern werden jetzt sehr kontinuierlich bis 2030 Regiona-lisierungsmittel zur Verfügung gestellt . Der ÖPNV wirdsehr stark ausgestattet . Das heißt, der Bund gibt den Län-dern eine verlässliche Finanzierungsgrundlage und somitauch Planungssicherheit .Das, was Sie, Herr Gastel, ansprechen – die Bevor-rechtigung von Fußgängerverkehr –, ist nach der StVOnicht zulässig . Ich halte das auch nicht für sinnvoll; dennjeder Teilnehmer – sei es ein Autofahrer, ein Fahrradfah-rer oder ein Fußgänger – hat sich nach § 1 der StVO so zuverhalten, dass er niemanden gefährdet, und dabei solltees auch bleiben .
Die von Ihnen angesprochenen Abbiegeassistenzsys-teme oder Kameramonitorsysteme in Lkw finden Unter-stützung im aktuellen Förderprogramm „De-minimis“;das gibt es also schon .Radfahrende Kinder unter zehn Jahren haben Sie nochangesprochen . Eltern dürfen jetzt ihre Kinder beim Rad-fahren auf dem Gehweg begleiten . Das haben wir imDezember letzten Jahres beschlossen . Zu diesem Themasteht auch etwas in Ihrem Antrag .
Der Einsatz eines grünen Pfeils in Lichtzeichenanla-gen ist möglich . Dafür müssen die Kommunen sorgen .Die Anbringung eines Blechschildes „grüner Pfeil“ istmöglich .
Auch die Beantwortung der Frage, ob generell dieMöglichkeit besteht, von Fahrradweg zu Fahrradwegrechts abzubiegen, ist in der Bearbeitung . Ich bin da-für, dass wir diese Möglichkeit schaffen. Die generelleAbbiegemöglichkeit ohne Fahrradweg ist rechtlich pro-blematisch, sodass wir sie wahrscheinlich nicht werdenschaffen können. Aber darin, dass der Verkehrsfluss fürFahrradfahrer erhöht werden muss, sind wir uns wirklicheinig .Meine Damen und Herren, –
Herr Kollege, das war ein guter Schlusssatz .
– ich habe das gehört, Frau Präsidentin; ein Punkt
noch –, Stichwort „Fahrradmitnahme bei ICEs“ . Die
Fahrradmitnahme ist möglich bei Regionalexpresszügen,
also im Nahverkehr sehr wohl . Dort ist sie hoch aner-
kannt . Der ICE 4 wird ab 2017 Fahrradmitnahme mög-
lich machen .
Wir im Parlament haben zehn Jahre dafür gekämpft, dass
die Bahn Fahrradmitnahme bei ICEs möglich macht . Sie
hat es jetzt versprochen . Insofern ist in Deutschland ein
Klimawandel für den Fahrradverkehr eingeleitet wor-
den – nicht mit Ihrem Antrag, aber mit unserer guten
Politik .
Vielen Dank, Herr Kollege . – Als Nächste hat das
Wort Sabine Leidig von der Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf den Tribünen! Ja, Fahrradfahren wirdimmer beliebter – aus guten Gründen: Man ist nicht nurflexibel unterwegs, sondern auf kurzen Strecken meis-tens auch schneller . Radfahren ist nicht nur gesund, son-dern auch kostengünstig . Fahrradfahren produziert wederLärm noch Abgase . Das schont die Umwelt und machtdas Leben angenehmer . Viele von Ihnen radeln bestimmtmit Freude im Urlaub, als Sport und zur Erholung, und invielen Regionen geht das inzwischen auch ziemlich gut .Aber das reicht nicht . Es geht darum, dass der Alltagauf den Straßen insgesamt viel fahrradfreundlicher wer-den muss . Die Berliner Zeitung zeigte gestern auf ihrerTitelseite weiße Gedenkfahrräder, die an die wachsendeZahl von Fahrradunfallopfern erinnern: 17 Getötete, 12davon von Lkw überrollt oder von Pkw gerammt; dazu583 Schwerverletzte im Jahr 2016 allein in der Stadt Ber-lin .Wir alle wissen, dass das wichtigste Mittel gegen sol-che Unfälle sichere Radwege sind .
Das ist die zentrale Herausforderung, die überall gemeis-tert werden muss . Es ist klar, dass vieles davon in denStädten passieren muss und auch schon getan wird – esgibt viele gute Beispiele –; aber im Großen und Ganzengeschieht viel zu wenig, und es geht viel zu langsam . Dasliegt auch an diesem Bundestag und an der Bundesregie-rung . Sie ruhen sich darauf aus, dass es einen NationalenRadverkehrsplan gibt – ausgestattet mit 100 MillionenEuro pro Jahr . Das ist nicht einmal 1 Prozent von den In-vestitionsmitteln im Verkehrsetat . Aber der Fahrradver-Gero Storjohann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23121
(C)
(D)
kehr hat heute schon einen Anteil von 10 Prozent . Hiermuss dringend umverteilt werden .
Wir Linke fordern, dass uns die unsinnigsten Ausbau-projekte für Autobahnen aus dem Bundesverkehrswege-plan erspart bleiben . 10 Milliarden Euro könnte man soverfügbar machen und damit stattdessen einen Verkehrs-wendefonds füllen – das schlagen wir vor –, einen Fonds,aus dem die Kommunen zweckgebunden Geld für denUmbau ihrer Verkehrsinfrastruktur bekommen: 1 Milli-arde Euro pro Jahr, und das zehn Jahre lang .
Damit könnte wirklich viel für bessere Fahrradver-kehrsverhältnisse getan werden, und zwar rasch .Wir schlagen auch vor, dass Bürgerinitiativen undVerbände die Möglichkeit erhalten, Projektmittel aus die-sem Fonds zu beantragen, weil man nicht darauf wartenkann, dass auch in der letzten Gemeinde die Verwaltungaufwacht .
Außerdem kann der Bund die Straßenverkehrs-Ord-nung reformieren . Dort sind die Belange des Fahrrad-verkehrs viel zu wenig berücksichtigt, und das muss sichändern .
Kollege Storjohann, Sie haben neulich auf einem Po-dium gesagt: Wenn ich in meiner Fraktion vom Fahrradrede, dann schauen mich alle an wie ein Auto .
Genau das ist das Problem . Liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Regierungskoalition – es sind leider sehrwenige da –,
benutzen Sie eine Woche lang einfach mal das Fahrradund nicht den Fahrdienst!
Wenn Sie das getan haben, wissen Sie genau, wo esbrennt und was geändert werden muss .
Ich nenne nur ein paar Beispiele: Da ist ein schmalerRadweg auf dem Gehweg, auf dem Baumwurzeln Siedurchschütteln . An der Bushaltestelle ist Chaos, weil dieLeute ein- und aussteigen; wenn Sie ausweichen, bestehtKollisionsgefahr mit fotografierenden Touristen; dannlieber auf der Straße radeln .
– Da wird einiges passieren . Sie haben den Koalitions-vertrag vielleicht gelesen .
Das Fahrradvolksbegehren wird dort umgesetzt . Die rot-rot-grüne Koalition ist erst einige Monate im Amt . Zau-bern können auch wir nicht .
– Die Verantwortlichen für den Fahrradverkehr saßen dieletzten was weiß ich wie viele Jahre in der Großen Koa-lition in Berlin .
Sie hätten da schon etwas machen können .
Weitere Beispiele: Wenn Sie auf der Straße radeln,dann haben Sie wirklich Pech, wenn – das kommt oftvor – vor Ihnen eilig parkende Personen die Autotüraufreißen, ohne zu gucken, sodass Sie straucheln undim schlimmsten Fall stürzen . Sie werden spüren, wie esist, wenn ungeduldige Autofahrer laut Gas geben, mit50 Zentimeter Abstand an Ihnen vorbeiziehen und vorder nächsten roten Ampel auf die Fahrradspur einbiegen .Sie erleben den Ärger, wenn auf dem erfreulichen StückFahrradstreifen wieder einmal ein Lieferwagen steht,sodass Sie in den Autoverkehr ausweichen müssen . Siesind genervt, weil Sie immer wieder vor einer roten Am-pel warten, obwohl das Rechtsabbiegen gefahrlos undohne Störung anderer möglich wäre .Das alles kann und muss besser werden . Wir brauchengute Standards für eigene Fahrradstreifen auf der Straße .Wir brauchen Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in denStädten und Gemeinden, damit es für alle entspannterwird. Die Haltepflicht vor roten Ampeln soll für Fahr-radfahrer und Fußgänger gelockert werden . Die Strafenfür Verkehrsteilnehmer, die andere gefährden und behin-dern, müssen deutlich höher sein und abschrecken . Soist es übrigens in unseren europäischen Nachbarländernüblich . Nur im sogenannten Autofahrerland Deutschlandgeht das nicht .
Kommen Sie bitte zum Schluss .Sabine Leidig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723122
(C)
(D)
Wir wollen, dass das Fahrrad zum Massentransport-
mittel Nummer eins werden kann: sozial, ökologisch,
kostengünstig, gesund und attraktiv .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Frau Kollegin . – Als Nächster spricht
der Kollege Stefan Zierke von der SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Gastel,ich habe schon von diesem Pult aus über Radverkehr ge-sprochen . Auch Sie haben von diesem Pult aus im Deut-schen Bundestag über Radverkehr gesprochen .
Das heißt also, der erste Satz Ihrer Rede – sinngemäß: imDeutschen Bundestag wurde das Thema Rad noch nichtbehandelt – ist schon einmal nicht wahr . Aber das ist nureine sachliche Darstellung . Damit müssen in dem Fall jaSie leben und nicht wir .
Ich denke, Schleswig-Holstein
macht eine gute Radpolitik; Herr Albig macht das sehrgut . Von daher sollte das vielleicht die letzte Wahlkampf-kampagne sein, die man im Deutschen Bundestag vondiesem Pult aus führt . Wir wollen uns doch auf das The-ma Radverkehr konzentrieren .In Teilen ist das wirklich ein guter Antrag; das mussman sagen .
– Da kann man auch klatschen . – Die vielen Seiten desVorspanns bestätigen das, was wirklich in Deutschlandpassiert: Wir haben einen großen Radverkehrszuwachs .Der Fachhandel profitiert, der Tourismus profitiert, dieFahrradindustrie profitiert. Wir haben in dieser Brancheviele neue Mitarbeiter, und davon sollen natürlich auchalle profitieren. Das ist so.
Frau Leidig, es ist aber auch so, dass die Kommunenund Landkreise viel Energie investieren, um Radwege zubauen .
Gerade im ländlichen Raum ist es für die Kommunensehr schwer, die Wege auf den vielen Kilometern ent-sprechend auszubauen .
Daher freuen wir uns, dass wir auch europäische Mittelzur Verfügung haben, um in den Radverkehr zu inves-tieren, und das wird auch gemacht . Aus diesem Grundwächst der Radverkehr übrigens, weil es eine große An-strengung der Länder, Kommunen, Landkreise und Tou-rismusverbände gibt, den Radverkehr zu stärken .
Der Bund ist nun einmal nicht zuständig .Ja, Radverkehr ist emissionsfrei, leise, gesund undsoll natürlich in Zukunft auch die Verkehrsprobleme derurbanen Region lösen, wobei ich bei dem Wort „urban“bin . Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Ihr Antragist ein Großstadtantrag . Herr Gastel hat gesagt, dass diesauch den ländlichen Raum betreffe. Das sehe ich nicht.Aber eine Großstadtpartei macht eben auch nur Groß-stadtanträge . Das ist so .
– Gerne . – Aber man sollte sich über den ländlichenRaum nicht nur verbal äußern, sondern man sollte hierauch konkret werden . Wer 25 Prozent Radverkehr bis2030 auf allen Wegen haben will, den frage ich: Wie wol-len Sie das im ländlichen Raum schaffen?
Wenn Lastenräder – wahrscheinlich von einer Kleinstadtzur nächsten und von einer Kommune zur nächsten – ge-fördert werden sollen, dann ist das ein klares Förderpro-gramm für Städte, nicht für den ländlichen Raum . Dassind zwei Beispiele dafür .
Was hat die Koalition nun erreicht? Dass wir die Mit-tel für Radwege von 60 Millionen auf 100 MillionenEuro erhöht haben, haben Sie ja festgestellt. Ich finde,das ist enorm viel Geld, was wir dort investieren .
Ich sage Ihnen aber, wo das wirkliche Problem liegt .Nehmen wir die Bundesstraßen begleitende Wege . Siehaben gesagt, dass es manchmal abenteuerlich sei mitdem Radverkehr . Das kann ich Ihnen aus dem ländlichen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23123
(C)
(D)
Raum bestätigen . Wir wollten entlang einer Bundesstra-ße einen Radweg bauen lassen, um an dieser Straße ge-fährliche Situationen für Radfahrer zu entschärfen . Aberwer hat diesen Radwegebau verhindert? Es waren dieNaturschützer, die verhindert haben, dass dieser Rad-weg gebaut wird . Das heißt, das Geld war da, alles warda; nur die Naturschützer haben gesagt: Wir wollen dasnicht . – Naturschutz vor Menschenschutz, das war dortdie Prämisse . Den Radweg gibt es nach wie vor nicht .Die Stelle ist nach wie vor gefährlich . Von daher kannes nicht am Geld liegen . Es liegt vielleicht manchmal ander Ideologie .
– Sie können dazwischenrufen, wie Sie wollen, aber dasist nachvollziehbar . Das kann man vor Ort sehen .
Ich nenne ein zweites Beispiel zu abenteuerlichenFahrten: Im ländlichen Radwegebau wollten wir einenRadweg bauen, der durch ein Naturschutzgebiet führt .Da ist aber eine Tierart, die geschützt werden muss . In ei-ner Entfernung von 1 Kilometer verläuft eine Autobahn .Weil aber diese Tierart dort geschützt werden muss,haben wir den Radweg über Jahre nicht gebaut bekom-men – und Sie glauben nicht, woran das gelegen hat: Eshat an Naturschützern gelegen, dass dieser Radwegebauverhindert wurde .
Das Geld war da, die Motivation war da, aber leider nichtder Wille .
Gerade die Fraktion der Grünen hat keinen Willen ge-zeigt, dieses Geld zu verbauen .
– Ich verstehe die Zwischenrufe nicht . Wenn nur einerredet, dann kann man es vielleicht verstehen . Wenn allegleichzeitig sprechen, ist das ungünstig .Was belastet aber die Kommunen besonders beimRadwegebau? Das sind die zum Teil naturbelassenenRadwege, die wir bauen müssen, die die Kommunenbauen müssen und für deren Pflege den Kommunen danndas Geld im Budget fehlt . Das ist doch die Realität . Vondaher freue ich mich auf die Ausschussdiskussion unddie Frage, wie wir damit umgehen .Was hat die Bundesregierung im Übrigen noch ge-macht? Was hat das Parlament gemacht? Was haben wirzusammen gemacht? Wir haben zum ersten Mal Rad-schnellwege auf den Weg gebracht – wir wollen dafürnoch Gesetze ändern bzw . haben sie geändert – und dafür25 Millionen Euro im Haushalt bereitgestellt . Danke hiernoch einmal an Umweltministerin Barbara Hendricks,dass sie sich dafür eingesetzt hat . Man sieht also: Es gehtsogar ministeriumsübergreifend, was Sie ja sonst nieglauben .
Stichwort „Elektromobilität“ . Wir haben hier den Baudes Radwegs Deutsche Einheit beschlossen, in den vielGeld hineinfließt.
Von Bonn bis Berlin bauen wir moderne Radstätten, andenen man sein Fahrrad aufladen kann. Das wissen Siedoch . Da kann man doch nicht sagen, dass da nichts pas-siert . Das ist auch nicht richtig .Mein letzter Punkt, den ich noch anbringen möchte,ist die gegenseitige Rücksichtnahme im Straßenverkehr .Wir reden ja hier viel von Berlin . Ich muss sagen: Wennalle Verkehrsteilnehmer sich an Regeln halten,
sich gegenseitig akzeptieren und auch einmal den an-deren vorlassen würden, auch wenn er einmal nicht dasunbedingte Recht auf seiner Seite hat, dann wäre, glaubeich, schon viel erreicht .
Darüber sollten wir auch einmal reden: wie sich einzel-ne Verkehrsteilnehmergruppen – da schließe ich alle mitein – im Straßenverkehr unterhalten . Es ist manchmalwirklich abenteuerlich; da gebe ich Ihnen recht . Aberauch da sollten wir vielleicht mehr an die Vernunft appel-lieren . Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss .Dann schauen wir, wie Ihr Antrag weiter behandelt wird .Vielen Dank .
Vielen Dank, Herr Kollege Zierke . – Als Nächster
spricht Patrick Schnieder von der CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Die Bedeutung des Radverkehrs hat in der Tat inden letzten Jahren zugenommen . Das Fahrrad ist einzunehmend beliebtes und ökologisches Verkehrsmittel . E-Bikes boomen . Es ist auch ein gesundes Verkehrsmit-tel, und es wird sehr stark touristisch genutzt . Ich sageStefan Zierke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723124
(C)
(D)
das ganz bewusst, weil ich aus einer Destination kom-me, wo gerade Radwege, die jüngst dort angelegt wordensind, dem Tourismus einen neuen Schub verliehen haben .
Weil der Radverkehr an Bedeutung zugelegt hat, hatauch die Koalition entsprechend gehandelt . Wir habennicht nur Anträge geschrieben und darüber gesprochen,sondern wir haben auch etwas auf den Weg gebracht .
Die Bilanz kann sich sehen lassen: Im rechtlichen Be-reich haben wir die Straßenverkehrs-Ordnung sorgfältigund vorsichtig novelliert . Wir haben viel Geld für denRadverkehr zur Verfügung gestellt . Die Zahlen sindgenannt worden: Etwa 100 Millionen Euro wurden fürRadwege an Bundesstraßen, aber auch für Radwege anBundeswasserstraßen zur Verfügung gestellt . Wir habenden Radweg Deutsche Einheit auf den Weg gebracht .
Man darf nicht vernachlässigen, wie viel Geld in denBereich Verkehrssicherheit und in Verkehrserziehungs-kampagnen fließt. Auch das kommt der Sicherheit desRadverkehrs zugute . Ich erinnere an die Förderprojekteim Rahmen des Nationalen Radverkehrsplans in einemUmfang von über 3 Millionen Euro pro Jahr, an die For-schungsprojekte im Bereich E-Bike und E-Lastenräder,die zwischen 2011 und 2016 mit über 7 Millionen Eurogefördert wurden, und nicht zuletzt an die 25 MillionenEuro für Radschnellwege in fremder Baulast, die wirjetzt noch auf den Weg bringen . Wenn ich das einmal zu-sammenrechne, dann kann ich nur zu dem Schluss kom-men, dass diese Bundesregierung, diese Große Koalitioneine ambitionierte Radverkehrspolitik betreibt; das mussman einmal festhalten .
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja, wenn das beiIhnen ambitioniert ist!)Für manche – Herr Gastel, da haben sie recht – ist siezu ambitioniert . Das zeigen die Zahlen, wenn wir unsandere zum Radwegebau Verpflichtete einmal näher an-schauen . Es ist ja nicht allein der Bund, der dafür zustän-dig ist .
Er unterstützt den Radwegebau . Aber in erster Linie sindja die Kommunen und die Länder gefordert .Die Einschätzung „zu ambitioniert“ trifft auch zu,wenn ich mir manches Bundesland anschaue, das ja dafürverantwortlich ist, dass geplant und letztendlich gebautwird . 2014 sind 11 Millionen Euro von den Ländern nichtabgerufen worden, 2015 9 Millionen Euro . Warum? Weildie Länder die Gelder nicht verbauen konnten . Das istübrigens kein Problem des Radwegebaus allein, das istauch ein Problem beim Straßenbau . Auch dort sind 2016Gelder in Millionenhöhe zurückgeflossen.
– Das ist Ihre Radwegepolitik . – Es ist einfach, nach derVerantwortlichkeit und dem Geld des Bundes zu rufen .Allerdings ist man auf Länderebene nicht in der Lage,das zur Verfügung gestellte Geld anständig zu verbauen .
Ich möchte noch einige weitere Bemerkungen ma-chen . Sie werfen uns hier vor, es stünden keine Radwegeim Bundesverkehrswegeplan .
Da stehen sie natürlich nicht drin . Wer ein bisschenAhnung von Verkehrspolitik hat, weiß, dass es dort umgroßräumig wirksame Investitionen in Bundesverkehrs-wege geht .
Aber wenn keine Fernverkehrsbedeutung vorliegt, dannkann ich auch keine Radwege dort einstellen .
Wir unterstützen demnächst den Bau von Radschnellwe-gen mit 25 Millionen Euro . Aber Sie müssen die Sys-tematik der Straßenverkehrspolitik in Deutschland mitBlick auf das, was Sie hier vorschlagen, schon ein biss-chen beachten .Ihr Antrag enthält noch andere interessante Passagen,zum Beispiel die Kaufprämie für E-Bikes .
Wann ist es überhaupt gerechtfertigt, dass man Kauf-prämien für Fahrzeuge, für andere Wirtschaftsgüter vor-sieht? Das ist doch nur dann der Fall, wenn ein Markt-versagen vorliegt . Ich kann nur feststellen: Der Markt fürElektrofahrräder funktioniert hervorragend .
Wir können in den letzten Jahren ein stetiges Wachstumin diesem Bereich verzeichnen, auch wenn sie teurer sindals gewöhnliche Fahrräder . Sie werden immer beliebter,sie werden gekauft .
Deshalb braucht man auch für die Lastenräder keineKaufprämie. Das ist eher ein Ausweis einer verquerenWirtschaftsauffassung, einer vollkommen falschen ord-Patrick Schnieder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23125
(C)
(D)
nungspolitischen Vorstellung, wie man Förderung auchim Bereich Radverkehr zu stricken hat .Unter dem Strich: Der Radverkehr ist unter Verkehrs-ministern der Union fester Bestandteil des Mobilitätsmi-xes geworden .
Wir sehen das Potenzial . Wir handeln, wir haben die Mit-tel erhöht, wir haben das Recht weiterentwickelt . Es istalso eine mehr als erfolgreiche Radverkehrspolitik, diediese Koalition betreibt .
Vielen Dank, Herr Kollege Schnieder . – Als Nächste
spricht Kirsten Lühmann von der SPD-Fraktion .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! LiebeKolleginnen! Sehr verehrte Anwesende! Ich freue mich,dass wir auch dieses Jahr in diesem Haus eine Debatte zudem wichtigen Thema Radverkehr führen . Wir sind unsalle einig: Im Radverkehr steckt ein hohes ökologischesPotenzial . Allerdings ist der Radverkehr auch der, wie wires nennen, schwächere Teil in unserem Verkehrssystem .Darum gibt es, von der Bundesregierung mitinitiiert, seit2011 die Kampagne „Ich trag’ Helm“ . Eines ist uns allenklar: Der Fahrradhelm rettet Leben, liebe Kollegen undKolleginnen .
Diese Kampagne hat auch Erfolg . Seitdem ist dieHelmtragequote in Deutschland von 11 Prozent auf17 Prozent gestiegen . Aber wir wissen: Immer noch gibtes sehr viele, die Ressentiments gegen den Helm haben .Es gibt aber Alternativen . Auch ich bin in Berlin regel-mäßig Fahrradfahrerin . Ich trage diesen Airbag, der imFalle eines Unfalles aufgeht und dann auch meinen Kopfschützt . Ich sage einmal: Es gibt auch Möglichkeiten fürHelmmuffel, dem Sicherheitsaspekt Rechnung zu tragen.
Warum rede ich hier über Sicherheitstechnik und -aus-stattung beim Fahrrad? Es ist ein so einfacher wie trauri-ger Fakt: Jeden Tag stirbt auf unseren Straßen ein Fahr-radfahrender . Liebe Kolleginnen und Kollegen, dagegenmüssen wir etwas tun .
Diese Bundesregierung hat viel erreicht . Das wurdeschon gesagt . Unter anderem haben wir in diesem Jahrden Etat für die Verkehrssicherheitsarbeit auf 14 Millio-nen Euro erhöht . Ich nutze diese Gelegenheit, ein herz-liches Dankeschön zu sagen an alle Ehrenamtlichen undHauptamtlichen, die in den Jugendverkehrsschulen, beider Deutschen Verkehrswacht und beim Deutschen Ver-kehrssicherheitsrat dafür sorgen, dass unsere Straßen si-cherer werden . Herzlichen Dank .
Wir haben hier erst die Einbringung des Antrags, dasheißt, wir werden uns mit den einzelnen Punkten des An-trages noch vertieft auseinandersetzen . Lassen Sie michnur zwei anführen, um Ihnen deutlich zu machen, dasswir dieses Thema schon angegangen sind, insofern esdiesen Antrag nicht gebraucht hätte .Das eine Thema wurde schon erwähnt: Kinder biszum Alter von acht Jahren können den Gehweg mit Be-gleitpersonen benutzen . Das ist eine Neuerung, die vomVerkehrsministerium eingeführt wurde und die wir fürwichtig und richtig halten .
Das zweite Thema ist mir auch sehr wichtig: Schutz-streifen auf Straßen außerorts . Wir warten alle auf dieFreigabe des Berichtes der Bundesanstalt für Straßenwe-sen durch Minister Dobrindt über einen Feldversuch zudiesem Thema .
Wir sind uns alle einig: Natürlich ist außerorts der Fahr-radweg die sicherste Möglichkeit . Aber wenn es ihn nichtgibt – oder wenn es ihn noch nicht gibt –, müssen wiretwas tun, um das Radfahren außerorts sicherer zu ma-chen. Ich erhoffe mir von diesem Bericht Handlungsan-weisungen für unsere Straßenbaubehörden, um, wenn essinnvoll ist, einen Schutzstreifen auch außerorts aufzu-bringen .
Aber uns beschäftigt auch beim Radverkehr innerortseine Thematik: Es gibt Untersuchungen, die besagen,dass der Fahrradfahrende innerorts besser auf der Straßeals auf dem Gehweg aufgehoben ist – es passieren we-niger Unfälle, insbesondere beim Abbiegen . Ich kenneaber viele Fahrradfahrende, die sich innerorts auf derFahrbahn unsicher fühlen, und ich kann sie verstehen,liebe Kolleginnen und Kollegen . Wir müssen, wenn wirinnerorts die Fahrräder auf die Fahrbahn bringen, auchdafür sorgen, dass sich die Fahrradfahrenden dort sicherfühlen . Das heißt – es wurde schon gesagt –, wir müssendaran arbeiten, dass die motorisierten Verkehrsteilneh-menden nicht dicht an den Radfahrenden vorbeifahren .Wie können wir das erreichen? Indem wir auch innerortseinen Fahrradschutzstreifen aufbringen . Dann könnenwir die Fahrräder auf die Fahrbahn bringen, und dann istes sicher .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich aufdie Debatte im Ausschuss . Es gibt Themen, die ich dortgerne ansprechen würde, zum Beispiel das Thema Fahr-rad und Alkohol . Das steht nicht in dem Antrag, aber esPatrick Schnieder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723126
(C)
(D)
ist mir ein Herzensanliegen . Vielleicht können wir auchdarüber reden .Jetzt wünsche ich uns erst einmal eine sichere Heim-fahrt – sei es auf dem Fahrrad, im Auto, mit dem Zug –und ein schönes Wochenende .Danke sehr .
Liebe Frau Lühmann, aber wir haben noch eine De-
batte . Also noch nicht alle in die Osterpause schicken! –
Als letzte Rednerin in dieser Aussprache spricht Daniela
Ludwig von der CDU/CSU-Fraktion .
Verehrte, liebe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Genau 200 Jahre ist es her, dass Karl Drais zum erstenMal mit seiner Draisine durch Mannheim fuhr .
Damit war sozusagen der absolute Trend für das Fahr-rad gesetzt . Ich glaube, er hätte sich damals tatsächlichnicht vorstellen können, welche Bedeutung dieser fahr-bare Untersatz tatsächlich einmal gewinnen könnte unddass er es sozusagen zu einer Bundestagsdebatte bringenwürde . Insofern ist es sehr wichtig, dass wir uns heutemit dem auseinandersetzen, was mit dem Radverkehr zutun hat .Es ist viel dazu gesagt worden, wie viel Geld der Bundinvestiert . Es ist viel dazu gesagt worden, wie wichtighier die enge Verzahnung von Bund, Ländern und Kom-munen ist . Wichtig ist auch das, was vor Ort passiert .Lieber Herr Zierke, Sie haben mir da aus der Seele ge-sprochen: Das Bekenntnis zum Radverkehr darf nichtnur hier und in Sonntagsreden abgelegt werden, sondernman muss sich der Verantwortung stellen und sich zudem Flächenverbrauch bekennen, der mit dem Ausbauder Radwege verbunden ist . Er führt aber zu einem Si-cherheitsgewinn für die Verkehrsteilnehmerinnen undVerkehrsteilnehmer, die sich für das Fahrrad interessie-ren und es benutzen wollen .Dass das Thema Radverkehr ein Wirtschaftsfaktorist, haben wir heute auch schon gehört . Zum mittlerwei-le siebten Mal findet die VELOBerlin hier in der Messestatt . Daran sieht man: Es tut sich etwas in diesem Be-reich . Das Fahrrad ist nicht mehr nur Fortbewegungsmit-tel, sondern durchaus auch in – es ist ein Trend .Lassen Sie mich, weil sonst schon alles beleuchtetworden ist, als Tourismuspolitikerin sagen: Das ThemaFahrradtourismus gewinnt in Deutschland zunehmendan Bedeutung . Das liegt natürlich auch an unseren bisherschon sehr guten Radwegen . Schauen wir uns gemein-sam die Zahlen an: 5,2 Millionen Bundesbürger haben imletzten Jahr einen reinen Fahrradurlaub unternommen,und zwar hier bei uns im Land . Das ist ein Zuwachs vonüber 16 Prozent . Kaum ein Bereich verzeichnet einenso großen Zuwachs . So schlecht kann es also um unsereRadwege in der Tat nicht bestellt sein .Der Radweg Deutsche Einheit – es ist gesagt worden –ist nicht mehr nur ein Radweg; es ist ein totaler Erleb-nispfad . Man kann sich überall mit Touchpads über dieHistorie informieren . Es gibt freies WLAN für die, die daradeln . Das heißt, wir gehen hier schon einen Schritt indie richtige Richtung . Und jawohl: Wir als Bund beken-nen uns zu unserer Verantwortung .Ein Fahrradweg gehört mittlerweile wie selbstver-ständlich zu einer Bundesstraße . Ich bin ja bei Ihnen: Dasist ausbaufähig, und wir müssen noch mehr investieren,aber dann bitte auch in Kooperation mit den Verantwort-lichen vor Ort . Es kann nicht sein, dass immer nur dieAntwort kommt: Das wollen wir hier jetzt nicht, weilvielleicht ein Molch über die Straße laufen könnte . – Sofunktioniert das nicht .
Wir stellen 130 Millionen Euro nur für den Ausbau derRadinfrastruktur zur Verfügung . Der Ausbau von Radwe-gen an Bundesstraßen ist schon angesprochen worden .Auch die Ertüchtigung von Betriebswegen an Bundes-wasserstraßen für Zwecke des Radverkehrs ist ein ganzwichtiger Punkt, nicht nur touristisch . Außerdem sind25 Millionen Euro für den Ausbau der Radschnellwegevorgesehen, und damit sind wir Vorreiter in Europa; dasmuss man in aller Deutlichkeit sagen .Der Radverkehr gewinnt im Allgemeinen an Bedeu-tung: für Pendler, aber auch für diejenigen, die unserLand touristisch erkunden wollen .Liebe Frau Lühmann, wir wollen, dass die Menschensicher unterwegs sind, und zwar von Anfang an . Ich alsMutter von zwei radelnden Fünfjährigen kann nur sagen:Ich bin heilfroh, dass sie ein bisschen länger auf demGehweg fahren dürfen; denn trotz Fahrradhelm ist einemnicht immer wohl dabei, wenn die Kinder mit dem Fahr-rad unterwegs sind .
Aber ich denke, es gehört bei uns dazu, dass die Kinderfrühzeitig sicher radeln lernen . Wir müssen ihnen denWeg in den Verkehr ebnen .Der Bund übernimmt Verantwortung . Aber auch alleanderen Akteure sind in der Pflicht, sowohl an der Finan-zierung als auch an der Planung mitzuwirken; denn sonstbekommen wir es bundesweit nicht hin . Bekennen Siesich zur Ihrer Verantwortung! Dann sind wir auf einemsehr guten Weg .Vielen herzlichen Dank .
Kirsten Lühmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23127
(C)
(D)
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Ludwig . – Ich schlie-
ße damit die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/11729 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a und 39 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Für gute Bildung in Europa – Erfolgreiches
Programm Erasmus+ weiterentwickeln
Drucksache 18/11726
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, Özcan
Mutlu, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit Erasmus+ europäische Gemeinschaft er-
leben
Drucksache 18/11737
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das
Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas
Rachel für die Bundesregierung .
T
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Am Sonntag wurde der Unterzeichnung der Rö-mischen Verträge vor 60 Jahren gedacht . Diesen Mitt-woch hat Großbritannien den Austritt aus der Europäi-schen Union beantragt; ein bitterer Tag für uns, für dieBriten und auch für die Europäische Union insgesamt .Vor 70 Jahren war es übrigens ein Brite, nämlichWinston Churchill, der in seiner Rede an der Universi-tät Zürich die „Neuschöpfung der europäischen Völker-familie“ gefordert hat, und das nach zwei verheerendenWeltkriegen . Das war wahrlich visionär . Seine Vision istWirklichkeit geworden: ein gemeinsames Europa, dieEuropäische Union . Aber: Sie ist nicht mehr unbestritten .Der Brexit ist ein tiefgreifender Einschnitt im Prozessder europäischen Einigung . Er ist für uns alle ein Weck-ruf . Seine genauen Auswirkungen kennen wir noch nicht .Nicht nur bei uns, auch in anderen europäischen Länderngibt es nationalistische und populistische Anfeindungen,die uns herausfordern .Natürlich ist die Europäische Union nicht perfekt .Oft wirkt sie im Stillen . Sie hat uns viele Freiheitenund Vorteile gebracht, die wir leider im täglichen Lebenmanchmal nicht mehr wahrnehmen . Sie werden uns erstdann wieder richtig bewusst, wenn sie plötzlich infragegestellt werden, wie gerade in Großbritannien das Auf-enthaltsrecht für EU-Ausländer .Wie erleben heutzutage eigentlich junge MenschenEuropa? Ich denke, zunächst durch das freie Reisen,durch Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer, durch die Ausbildung und das Studium im be-nachbarten Ausland . All das war vor 60 Jahren undenk-bar .Kein Programm macht Europa für die junge Generati-on so erlebbar wie Erasmus+ .
Vor 30 Jahren war es meist nur wenigen vorbehalten, imAusland zu studieren . Das Erasmus-Programm hat diesgrundlegend geändert . Breite Schichten in allen Mit-gliedstaaten haben mittlerweile diese Möglichkeit . Fast10 Millionen junge Menschen haben in dieser Zeit dankErasmus im europäischen Ausland studiert, Praktikagemacht oder gelehrt, darunter fast 1,3 Millionen Men-schen aus Deutschland . Diese Generation Erasmus lerntandere Kulturen, Arbeitsweisen und Lebensgewohnhei-ten kennen – in der beruflichen Bildung, im Studium, inanderen europäischen Schulen, aber auch in der Erwach-senenbildung und in der europäischen Jugendarbeit . Fürdie Generation Erasmus ist ein Europa mit nationalenGrenzen unvorstellbar . Sie verstehen und fühlen sich alseuropäische Bürger, und das ist auch gut so .
Das aktuelle, um 40 Prozent ausgebaute, mit 17,4 Mil-liarden Euro finanzierte Programm Erasmus+ läuft bis2020 . Wo besteht Reformbedarf für die Zukunft?Erstens . Das gemeinsame europäische Dach Erasmus+hat große Vorteile, weil es sichtbar ist; aber für jedeneinzelnen Bildungsbereich muss künftig eine zielgrup-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723128
(C)
(D)
penspezifische Ansprache gelingen. Die einzelnen Pro-grammbereiche sollen größere Sichtbarkeit erhalten,
die ihrem jeweiligen Stellenwert entspricht .Zweitens . Der Zugang zum Programm muss verein-facht werden . Antrags-, Berichts- und Abrechnungsver-fahren müssen in einem vernünftigen Verhältnis zu derzur Verfügung gestellten Fördersumme stehen .Schließlich drittens . Dieses große europäische Mobili-tätsprogramm verdient eine nachhaltige finanzielle Auf-stockung durch die Europäische Union .
Gerade den Auszubildenden wollen wir mehr Mobili-tät und Erfahrungen in anderen europäischen Betriebenermöglichen, damit sie ihre kulturelle Einbettung ken-nenlernen können . Angesichts von Nationalismus undAbschottung setzen wir hier – ich denke, gemeinsam –auf mehr Mobilität von Jugendlichen, von Auszubilden-den und Studenten in Europa; denn nichts prägt die euro-päische Identität und die Identifikation mit Europa mehrals persönliche Begegnungen sowie erlebtes und gelebtesMiteinander über Ländergrenzen hinweg .
Erasmus und Erasmus+ sind eine Erfolgsgeschichte .Wir wollen dieses Programm gemeinsam mit dem Parla-ment für die Zukunft ausbauen .Herzlichen Dank .
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär Rachel . – Als
Nächste spricht Frau Dr . Rosemarie Hein von der Frak-
tion Die Linke .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher aufden Tribünen! Wenn einer eine Reise tut, dann kann eroder auch sie etwas erzählen, heißt es . Die Welt anschau-en, andere Erfahrungen und Lebensweisen kennenlernen,lohnt sich aber auch, um die Welt um uns besser verste-hen zu lernen . Es ist eine Möglichkeit, dem wachsendenNationalismus Einhalt zu gebieten, Toleranz und Weltof-fenheit nicht nur zu postulieren, sondern auch zu leben .
Das Programm Erasmus+ ist eines der erfolgreichstenProgramme der Europäischen Union und sehr geeignet,genau diese Ziele zu stärken . Erasmus+ umfasst auch diefrüher selbstständigen Programme für den Austausch imSchulbereich, in der Berufsbildung, in der Erwachsenen-bildung, im Sport und für den Jugendaustausch . Es läuftzunächst bis 2020 .Noch in diesem Jahr soll ein Zwischenbericht vorge-legt werden . Doch es häufen sich schon jetzt die Hinwei-se, dass nachgebessert werden muss . Es scheint kurios:Der Erfolg des Programmes ist gleichzeitig sein Problem .Die Zahl der Förderanträge ist teilweise extrem angestie-gen, was ja für das Programm spricht . So wurden 2011allein aus Deutschland knapp 34 000 Teilnehmerinnenund Teilnehmer aus dem Bereich Hochschule gefördert .2015 waren es schon 42 000 Personen .Der Hochschulbereich ist gleichzeitig der mit Abstandstärkste Förderbereich; nur halb so groß ist der der be-ruflichen Bildung. Zwar wird dort eine höhere Förder-quote erreicht, aber die Zahl der Antragstellungen istwesentlich geringer . Professor Esser, der Präsident desBundesinstitutes für Berufsbildung, nannte in dieser Wo-che in der Anhörung zur Internationalisierungsstrategieder Bundesregierung im Ausschuss auch den Grund: DerBürokratieaufwand bei der Antragstellung sei für vieleBetriebe zu hoch . Ähnliches beklagt auch die Arbeitsge-meinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland .300 Seiten Programmleitfaden seien nicht nutzerfreund-lich, finden sie. Wir finden das auch.
Darum sind es vielleicht – wie in meinem Bundesland –vor allem die größeren und erfahreneren Träger, die wie-derholt auf erfolgreiche Antragsstellungen verweisenkönnen .Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundes-tages hat schon vor einem Jahr darauf hingewiesen, dassin den meisten Förderbereichen des Programmes die För-derquoten oder die Förderbeträge sinken. Auch das ist einAusdruck des Programmerfolges . Darum bedarf es drin-gend einer Aufstockung und einer Entbürokratisierung,damit mehr Menschen von diesem Austausch profitierenkönnen . Das hat vorhin auch der Staatssekretär gesagt .
Das gilt insbesondere auch für den Schulbereich .Auch hier ist der Etat gewachsen, aber hauptsächlich fürden Austausch von Lehrkräften . Doch in meinem Bun-desland – sicherlich nicht nur dort – ist das Interesse derSchulen
– so ist es –, allen voran der über 20 Europaschulen, un-gebrochen . Aber Reisen muss man sich auch leisten kön-nen . Dieses Austauschprogramm ist für Bildung, Weltof-fenheit und Toleranz unersetzbar . Darum muss der EtatParl. Staatssekretär Thomas Rachel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23129
(C)
(D)
dringend weiter aufgestockt werden, damit niemand ausfinanziellen Gründen darauf verzichten muss.
Mehreren Berichten entnehmen wir, dass die Sicht-barkeit der ehemals selbstständigen Programme „Co-menius“ für die Schulen, „Jugend in Aktion“ für denJugendaustausch, „Leonardo da Vinci“ für die beruflicheBildung und „Grundtvig“ für die Erwachsenenbildunghinter dem dominierenden Programm Erasmus zurück-steht . Allerdings hatten wir das schon 2012 befürchtet .Die Bundesregierung hat das damals eigentlich auch sogesehen, wie man ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrageunserer Fraktion aus dem Jahre 2012 entnehmen kann .Ich glaube, wir müssen hier jetzt in der Tat reagieren .Wir haben in der kommenden Sitzungswoche im Aus-schuss ein Fachgespräch zu diesem Thema. Ich hoffe,dass wir aus diesem Fachgespräch etwas schlauer he-rausgehen, dass wir also nicht nur die Probleme kennen,sondern vielleicht auch für Lösungsstrategien sorgenkönnen .Vielen Dank .
Vielen Dank, Frau Dr . Hein . – Als Nächster spricht
Martin Rabanus von der SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Lie-be Zuschauer! Ich weiß zwar noch nicht genau, was dieGrünen gleich vortragen werden,
aber es ist schon erkennbar, dass der letzte Tagesord-nungspunkt dieser Sitzungswoche kurz vor Ostern offen-sichtlich einer ist, bei dem hier im Hause viel Konsensherrscht. Das finde ich ganz schön.
Ich glaube, dass sich Kai Gehring für die Grünen nachherauch sehr konstruktiv an der Debatte beteiligen wird .
Ich glaube, wir alle sind uns diesbezüglich wirklicheinig . Wir haben in den letzten Monaten immer wiederDiskussionen über Europa geführt, über die Probleme anden Rändern Europas, zum Beispiel gestern in der ver-einbarten Debatte zum Brexit, der ja inzwischen zumSynonym für all das, was in Europa nicht so gut läuft,geworden ist . Wenn wir nun heute über das Bildungspro-gramm Erasmus+ sprechen, sprechen wir über die Hoff-nung und über die Zukunft für Europa .
Seit 2014 steht Erasmus+ für das Gemeinsame, dasGrenzen Überschreitende, das Lernen, den Austauschmiteinander . Durch diesen Austausch wächst Europaweiter zusammen . Erasmus+ ist ein hervorragendes In-strument, um den Zusammenhalt zwischen den NationenEuropas zu stärken. Die internationale Erfahrung eröffnetden jungen Menschen persönliche, aber auch beruflichePerspektiven sowie Qualifikationen. Das ist auch für deneuropäischen Arbeitsmarkt gut. Ich finde, auch das darfman nicht vergessen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir feiern30 Jahre Erasmus in diesem Jahr . Die europäischen Staa-ten haben sich nach zwei Weltkriegen zu einer Gemein-schaft entwickelt, die durch Kultur, Bildung, persönli-ches Erleben und Freundschaften entstanden ist . Erasmusund die anderen Bildungsprogramme haben sich im Lau-fe der Zeit immer weiterentwickelt und großen Anklanggefunden .Damit fördern die europäischen Bildungsprogrammeseit 30 Jahren Lehren und Lernen, interkulturelle Begeg-nungen und die Zusammenarbeit in Europa . 1987 habennach der Gründung des Erasmus-Programms geradeeinmal 657 deutsche Studierende an diesem Programmteilgenommen . Frau Hein hat die Zahl genannt: Heutesind es 42 000 . Das zeigt, welch eine Akzeptanz diesesProgramm hat .Seit 2014 heißt dieses Programm Erasmus+ . Weil dieeinzelnen Marken leider ein bisschen hinter den über-mächtigen Teil Erasmus zurücktreten – ich sehe dasgenauso wie Frau Kollegin Hein –, will ich diese be-nennen . Da ist „Comenius“ für die Schulbildung . Da ist„Jugend in Aktion“ für die außerschulische Bildung und„ Leonardo da Vinci“ für die berufliche Bildung. Ich darfan dieser Stelle dazu sagen, dass es ein besonderes Inte-resse meiner Fraktion darstellt, auch die Mobilität bei derberuflichen Bildung in Zukunft weiter zu stärken.
– Das ist ein besonderes Anliegen der Koalition und desgesamten Hauses, wie ich merke .Da ist „Grundtvig“ für die Erwachsenenbildung . Dasind Jean-Monnet-Aktivitäten für Forschung und Lehre .All das ist jetzt unter Erasmus+ zusammengefasst .Wir müssen bei der Evaluierung und der Weiterent-wicklung darauf Wert legen, dass diese einzelnen Mar-ken wieder sichtbarer werden . Denn auch dadurch kön-nen wir die Mobilität aus meiner Sicht erhöhen .Andere Stichworte wurden genannt . Die Ziele für die-ses Zusammenführen der Programme waren natürlichEffizienzsteigerungen und schlankere Strukturen. DasDr. Rosemarie Hein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723130
(C)
(D)
Antragsverfahren und das Management sollten einfacherwerden . Auch das ist gesagt worden . Da ist noch Luftnach oben; ich formuliere das sehr vorsichtig .Die Antragsverfahren sind nach wie vor sperrig . Siesind nicht in allen Teilen so konzentriert, wie es mög-lich und vielleicht auch nötig wäre . Vor allen Dingen –auch das ist schon erwähnt worden – sind die kleinerenProgrammpartner – viele kommen aus dem Bereich desEhrenamts – natürlich mit so mächtigen Antrags- undAbrechnungsverfahren am Ende des Tages überfordert .Daran müssen wir verstärkt weiterarbeiten .
Die transeuropäische Mobilität steigt für alle Berei-che . Der Erfolg des Programms ist zugleich sein Fluch .So ist es vorhin gesagt worden, und so ist es tatsächlichauch . Auch wenn wir im Moment über ein Gesamtbudgetin Höhe von 14,7 Milliarden Euro verfügen, haben wirnatürlich an allen Ecken und Enden eine Decke, die zukurz ist .Damit wir das nicht vergessen, will ich Folgendes sa-gen: In der aktuell laufenden Programmphase werden wir4 Millionen Menschen am Ende des Tages die Möglich-keit gegeben haben, durch dieses Programm Europa undandere europäische Länder kennenzulernen . 125 000 In-stitutionen, 2 Millionen Studierende, 650 000 Schülerund Auszubildende, 500 000 junge Menschen aus Frei-willigendiensten und 25 000 strategische Partnerschaftenwerden mit diesem Budget finanziert werden können.Das ist ein hervorragender und ein großer Schritt, denwir nicht kleiner machen dürfen, als er tatsächlich ist .
Dennoch werden wir – das sicherlich in großem Ein-vernehmen – dafür streiten, zusätzliche Mittel für dasProgramm zu bekommen . Auch müssen wir noch einmalein bisschen genauer schauen, ob die Justierung der ein-zelnen Programmbereiche und die Budgetverteilungenzwischen den Programmbereichen so richtig sind .Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrubemachen; den Bereich der beruflichen Bildung habe icheben genannt . Ich glaube, ihn müssen wir stärken . Auchdie vermeintlich kleineren Programmbereiche wie „Ju-gend in Aktion“, die Erwachsenenbildung oder auch dieSchulbildung sollten im besonderen Fokus unserer Auf-merksamkeit stehen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen einstarkes Erasmus+ . Wir brauchen ein starkes Bildungs-und Mobilitätsprogramm . Denn wir wollen den Feindender Freiheit in Europa Freundschaft und Verständigungzwischen den europäischen Nationen entgegenstellen .Dafür brauchen wir ein starkes Erasmus+ . UmbertoEco hat einmal gesagt: Erasmus hat die erste Genera-tion Europäer hervorgebracht . – Ich wünsche mir, dassviele weitere Generationen überzeugter Europäer durch Erasmus+ unseren Kontinent zusammenhalten: für Frie-den, für Freiheit, für uns alle .Herzlichen Dank .
Herzlichen Dank, Herr Kollege . – Als Nächster spricht
Kai Gehring von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die gefähr-lichste Weltanschauung ist die derer, die die Welt nieangeschaut haben .“ Das wusste schon Alexander vonHumboldt . Europa ist ein Stabilitätsanker in einer Weltmit Krisen und Konflikten, ein Kontinent der Demokratieund Rechtsstaatlichkeit, mit garantierten Menschen- undFreiheitsrechten .Das Einigungswerk steht unter Druck . Europafeindli-che und nationalistische Strömungen stellen europäischeWerte und die Union infrage .
Ich sage für uns sehr klar: Ausgrenzung, Abschottung undRenationalisierung führen in die Sackgasse, und sie sindunvereinbar mit unserer europäischen Gemeinschaft .
Auch wenn die Brexit-Verhandlungen in den nächstenJahren viel Kraft binden werden, sollten wir nicht auf-hören, die europäische Integration voranzutreiben undunsere universellen Gemeinschaftsrechte zu verteidigen;denn Europa muss sozialer, ökologischer, demokrati-scher und sicherer werden .
Bei so manchem Schatten gibt es aber auch viel Licht .Für viele ist Europa eben doch selbstverständlicher All-tag, insbesondere in den Grenzregionen . Ich will mir jetzteinen Seitenhieb auf die Maut ersparen, um die Einigkeithier nicht zu stören .
Aber wissen Sie: Gerade die Jugend – und damit die Zu-kunft – Europas lebt und schätzt Europa mit seiner Viel-falt, den Freiräumen und den Chancen . Im Rahmen dereuropäischen Bildungsprogramme sind in der Vergan-genheit über 7 Millionen Menschen zum Leben und Ler-nen in ein anderes EU-Land gegangen – eine echte Er-folgsstory . Daher auch von uns herzlichen GlückwunschMartin Rabanus
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 2017 23131
(C)
(D)
zum 30 . Geburtstag! Wir meinen, wer Europa auf dieseWeise erfährt, kennt seinen Wert .
Wir Grünen im Bundestag und die Koalitionsfrakti-onen legen heute Anträge vor, mit denen wir dafür sor-gen wollen, dass Bildung stärker zur europäischen Eini-gung beiträgt . Ich sehe auch in dieser Debatte sehr vielEinigkeit . Eine fraktionsübergreifende Initiative wäreein großartiges Zeichen ins Land und auch in RichtungBrüssel gewesen . Deshalb: Schade, dass das nicht mög-lich war . Ich sage sehr klar: Wir Grüne stehen weiter füreinen einvernehmlichen Antrag des gesamten HohenHauses bereit;
denn wir alle wollen einen Chancenkontinent .
Wir wollen, dass Erasmus+ noch besser läuft . Es wirdnoch viel zu sehr als Programm für Studierende wahr-genommen . Es ist wichtig, seine Anwendungsmöglich-keiten in allen Bildungsbereichen sichtbarer zu machenund bei Azubis, Schülerinnen und Schülern sowie Lehr-kräften viel aktiver für die Teilnahme an Erasmus+ zuwerben . Gerade junge Auszubildende gehen noch vielzu selten ins Ausland . Sowohl in den Berufsschulen alsauch bei den Arbeitgebern ist noch Überzeugungsarbeitzu leisten, dass es auch für den Betrieb von Vorteil ist,wenn Azubis und auch die Beschäftigten eine Zeit langins Ausland gehen . Wir fordern deshalb die Wirtschafts-verbände auf, gerade kleine und mittlere Unternehmenfür Erasmus+ zu gewinnen . An die Bundesregierung ge-richtet sage ich: Vereinfachen Sie endlich die Anträge!
Jugendliche aus finanzschwächeren Elternhäusernsind leider noch unterrepräsentiert . Ein besseres BAföGund mehr Stipendien würden wirken . Auch da kann derBund nachlegen; auch dazu kann man sich verabreden .Wer ins Ausland geht, soll sich sicher sein können, dassseine anderswo erbrachten Leistungen und Abschlüssehierzulande auch anerkannt werden . Mobilität darf nichtvon der Herkunft und nicht vom Konto abhängen .
Unterrepräsentiert sind auch Jugendliche aus man-chen EU-Ländern und -Regionen . Die Teilnahmestaatensollten darum endlich Ideen entwickeln, wie die Men-schen in allen europäischen Regionen von Erasmus+besser profitieren können. Statt eingefahrener Ströme nurin eine Richtung oder nur zwischen bestimmten Staatenwollen wir vielfältige Mobilität; denn genau das machtEuropa aus . Mobilität ist für alle da . Nur das ist gerecht .
Mehr europäischer Austausch ist ein Baustein für einzusammenwachsendes Europa . Erasmus+ überzeugt dieMenschen von den Vorzügen der europäischen Eini-gung und ist damit eine ganz konkrete Antwort auf dieSchwarzmaler und die nationalen Egoisten . Bildungschafft Identität, auch europäische Identität, und öffneteuropaweit Türen, Köpfe und Herzen, ob hierzulande, inFrankreich, in süd- oder osteuropäischen Ländern . Wirtun, glaube ich, gut daran, die Begeisterung der Gene-ration Erasmus für Europa gemeinsam zu stärken undweiterzuverbreiten .Vielen Dank .
Herzlichen Dank, Herr Kollege Kai Gehring . –
Als Nächstes spricht Katrin Albsteiger von der CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Vieles kann die Parlaments-arbeit manchmal mühsam machen . So schön es ist, wennman sich hier in Plenardebatten richtig aneinander reibenund wirklich auch sehr unterschiedliche Auffassungenzu dem einen oder anderen Thema vertreten kann – auchgestern hatten wir so eine Debatte hier im Plenum; wahr-scheinlich waren es mehrere dieser Art –, so schön ist esdoch auch – gerade zum Ende dieser Sitzungswoche –,über ein Thema zu diskutieren, bei dem große Einigkeitin diesem Parlament herrscht .
Für den vorliegenden Antrag – ich möchte gar nichtsagen, dass er nach langwierigen Verhandlungen entstan-den ist – haben wir uns durchaus viel Zeit genommen .Dafür möchte ich mich auch herzlich bei meinem Kol-legen Martin Rabanus bedanken . Das war eine sehr guteZusammenarbeit . Gerne wieder!
– Herzlichen Dank .
Es ist schon gesagt worden: Derzeit befindet sich dasProgramm Erasmus+ in der Zwischenevaluation . Wirerwarten bis Ende des Jahres die Veröffentlichung desErgebnisses . Deswegen und schon allein deshalb, weilschließlich auch die europäische Ebene erfahren muss,wie wir über dieses Programm denken, ist gerade jetztein sehr guter Zeitpunkt, um uns hier im Parlament auchnoch einmal mit diesem Thema zu beschäftigen .Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antragauf, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dassKai Gehring
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 229 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 31 . März 201723132
(C)
(D)
die Gelder, die erheblich aufgestockt wurden, bis zumEnde der Programmperiode, 2020, tatsächlich auch fürdas Programm verwendet werden können und dass die-ses wichtige und richtige Programm auch danach, nach2020, fortgesetzt wird .
Wie es in dieser Debatte schon mehrfach angespro-chen worden ist, war es uns ebenfalls ein Anliegen – Siefinden das im Antrag –, dass wir alle Einzelprogrammehier auch gesondert benennen, weil jedes Einzelpro-gramm ein spezifisches Programm mit einer ganz be-stimmten Zielgruppe ist .
Die kleineren Programmbereiche müssen, wenn sie nochnicht so bekannt sind, noch ein bisschen bekannter undsichtbarer gemacht werden . Das können wir auch heutehier bei dieser Debatte leisten .
Um einen Programmbereich noch einmal herauszu-streichen – mein Kollege hat das auch bereits getan –:Wichtig für uns ist die berufliche Bildung. Diesen Punkthalte ich tatsächlich für sehr wichtig .Auch in der letzten Legislaturperiode haben wir unsdazu schon ein Ziel gesetzt, nämlich, 10 Prozent allerAuszubildenden eine Auslandserfahrung zu ermögli-chen . Das ist ein sehr schönes Ziel . Wenn man sich aberanschaut, wo wir gerade sind, dann sieht man, dass wirbei circa 4 Prozent liegen . Hier ist noch massiv Luft nachoben und muss noch einiges passieren .Im europäischen Vergleich sind wir hier im Übrigengar nicht so schlecht, aber das hat natürlich auch seinenGrund. Warum? Die duale berufliche Bildung hat bei unsin Deutschland eine lange Tradition und ist unheimlicherfolgreich .
Gerade deshalb ist es sehr wichtig, dass unsere Auszubil-denden auch als Botschafter in andere Länder gehen undzeigen, wie großartig das duale System ist, welche Chan-cen und welche Nähe zum Arbeitsmarkt es bietet undwas für ein tolles Instrument es ist – auch, um Jugend-arbeitslosigkeit zu verhindern . Genau deswegen wollenwir darauf auch weiterhin unseren Schwerpunkt setzen .
Über die Bedeutung von Erasmus+ in Europa ist hierschon viel gesprochen worden . Es ist tatsächlich auch einGegengift für Populismus und Euroskepsis . Auf die Fei-erlichkeiten zum 60 . Jahrestag der Römischen Verträgeund auf das 30-jährige Jubiläum des Programms Erasmusist hingewiesen worden . Das sind tolle Sachen .Darüber hinaus gibt es aber auch andere, neue Ideen,die dazu beitragen, dass Europa gerade für junge Men-schen erlebbarer gemacht und denjenigen entgegenge-wirkt wird, die immer nur Phrasen dreschen und sagen:„Europa und die Werte sind wichtig“, während sie ei-gentlich gar nicht wissen, was genau dahintersteckt .Genau deswegen finde ich es zum Beispiel auch toll,dass es Initiativen wie die gibt, allen, die 18 werden, einInterrailticket zur Verfügung zu stellen – das ist tatsäch-lich großartig –, damit die Mobilität der jungen Men-schen erhöht wird und sie Erfahrungen sammeln können .
Aber auch das Europäische Solidaritätskorps, um dashier einmal anzusprechen, ist eine tolle Initiative, die wirunterstützen sollten .
Deswegen möchte ich mich zum Schluss dieser De-batte herzlich bedanken und alle einladen, diese Visionvon Erasmus weiterzutragen und unseren Antrag zu un-terstützen; denn wir haben mit der heutigen Debatte dieGelegenheit, eine ein Stück weit Wirklichkeit gewordeneVision weiterzutragen und auszubauen .Was ist der millionenfache Austausch von jungenMenschen, von Jugendlichen in Europa anderes als dastatsächliche Zusammenwachsen Europas,
in dem Grenzen sowie sprachliche und kulturelle Unter-schiede überwunden werden und in dem Nachbarn vonFremden tatsächlich zu Freunden werden?
Lassen Sie uns daran gemeinsam weiterarbeiten . – Jetztwünsche ich Ihnen allen ein schönes Wochenende .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Frau Albsteiger . – Ich schließe die Aus-
sprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/11726 und 18/11737 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall .
Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 26 . April 2017, 13 Uhr, ein .
Bis dahin wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise, viel
Zeit für sich, für die Familie, für die schönen Dinge des
Lebens . Bis bald und schöne Osterzeit . In diesem Sinne:
Die Sitzung ist geschlossen .