Protokoll:
18064

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 64

  • date_rangeDatum: 7. November 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 16:03 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/64 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 64. Sitzung Berlin, Freitag, den 7. November 2014 I n h a l t : Präsident Dr. Norbert Lammert . . . . . . . . . . . 5995 A Liedvortrag Wolf Biermann . . . . . . . . . . . . . . 5997 C Filmeinspielungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5998 D Tagesordnungspunkt 29: Vereinbarte Debatte: Friedliche Revolution – 25 Jahre nach dem Mauerfall . . . . . . . . . . . 5998 D Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5999 A Iris Gleicke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5999 D Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6001 A Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6002 B Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6003 D Nachträgliche Ausschussüberweisung (Druck- sache 18/2586, 55. Sitzung) . . . . . . . . . . . . . . 6005 A Tagesordnungspunkt 30: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partner- schaftsbonus und einer flexibleren Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz Drucksachen 18/2583, 18/2625, 18/3086 6005 A – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3087. . . . . . . . . . . . . . . 6005 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Echte Wahlfreiheit schaffen – Elterngeld flexibler gestalten Drucksachen 18/2749, 18/3086 . . . . . . . . 6005 B Manuela Schwesig, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6005 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6007 C Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 6009 B Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6011 B Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6012 A Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6013 C Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6014 C Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . 6015 C Bettina Hornhues (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6016 D Tagesordnungspunkt 31: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Transpa- renz und zum Diskriminierungsschutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisge- bern (Whistleblower-Schutzgesetz) Drucksache 18/3039 . . . . . . . . . . . . . . . . . 6018 D b) Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Andrej Hunko, Caren Lay, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 Gesellschaftliche Bedeutung von Whist- leblowing anerkennen – Hinweisgebe- rinnen und Hinweisgeber schützen Drucksache 18/3043 . . . . . . . . . . . . . . . . . 6019 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6019 B Wilfried Oellers (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6020 C Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6021 D Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6023 A Markus Paschke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6024 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6025 C Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 6026 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6027 A Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6027 D Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6028 C Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . 6029 C Uwe Lagosky (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6031 A Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 6032 C Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil (Peine), Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Strategische Ziele für die Raumfahrt in dieser Legislaturperiode absichern Drucksache 18/3040 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6034 A Brigitte Zypries, Parl. Staatssekretärin BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6034 B Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6035 C Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . . . 6036 C Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6038 A Wolfgang Tiefensee (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 6039 A Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6040 A Tagesordnungspunkt 33: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Achter Familienbericht: Zeit für Familie – Familienzeitpolitik als Chance einer nach- haltigen Familienpolitik: und Stellung- nahme der Bundesregierung Drucksache 17/9000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6041 B Caren Marks, Parl. Staatssekretärin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6041 C Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . . 6042 B Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6043 B Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6044 C Gülistan Yüksel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6045 D Markus Koob (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6046 D Gudrun Zollner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6047 D Tagesordnungspunkt 34: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm, Caren Lay, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Liegenschaftsveräußerungen (Liegen- schaftsveräußerungsreformgesetz) Drucksache 18/2882 . . . . . . . . . . . . . . . . . 6049 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sofortiges Moratorium für die Woh- nungs- und Grundstücksverkäufe durch die Bundesanstalt für Immo- bilienaufgaben – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner, Christian Kühn (Tübingen), Lisa Paus, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Moratorium beim Verkauf von Wohnimmobilien in Städten mit angespanntem Woh- nungsmarkt durch die Bundes- anstalt für Immobilienaufgaben Drucksachen 18/1952, 18/1965, 18/2908 . 6049 A c) Antrag der Abgeordneten Christian Kühn (Tübingen), Dr. Tobias Lindner, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Für eine nachhaltige und zu- kunftsweisende Liegenschaftspolitik des Bundes Drucksache 18/3044 . . . . . . . . . . . . . . . . . 6049 B Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6049 B Norbert Brackmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6050 C Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . 6051 A, 6052 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 III Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6054 A Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) . . . . . . . . . . . . 6055 B Klaus Mindrup (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6056 C Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . 6057 A Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6057 D Tagesordnungspunkt 35: Antrag der Abgeordneten Hans-Werner Kammer, Arnold Vaatz, Ulrich Lange, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Gustav Herzog, Sören Bartol, Kirsten Lühmann, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: Was- serstraßen- und Schifffahrtsverwaltung zu- kunftsfest gestalten Drucksache 18/3041 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6058 D Alexander Dobrindt, Bundesminister BMVI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6059 A Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6060 C Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6061 C Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6062 C Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6063 C Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . 6064 D Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6066 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . . 6067 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6067 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 5995 (A) (C) (D)(B) 64. Sitzung Berlin, Freitag, den 7. November 2014 Beginn: 9.00 Uhr
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    (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6067 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 7.11.2014 Dr. Bartke, Matthias SPD 7.11.2014 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 7.11.2014 Brugger, Agnieszka BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 7.11.2014 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 7.11.2014 Dörflinger, Thomas CDU/CSU 7.11.2014 Gohlke, Nicole DIE LINKE 7.11.2014 Hartmann (Wackernheim), Michael SPD 7.11.2014 Helfrich, Mark CDU/CSU 7.11.2014 Hellmuth, Jörg CDU/CSU 7.11.2014 Henn, Heidtrud SPD 7.11.2014 Irlstorfer, Erich CDU/CSU 7.11.2014 Krellmann, Jutta DIE LINKE 7.11.2014 Kühn-Mengel, Helga SPD 7.11.2014 Kunert, Katrin DIE LINKE 7.11.2014 Dr. Launert, Silke CDU/CSU 7.11.2014 von der Marwitz, Hans- Georg CDU/CSU 7.11.2014 Movassat, Niema DIE LINKE 7.11.2014 Dr. Neu, Alexander S. DIE LINKE 7.11.2014 Özdemir, Cem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 7.11.2014 Pflugradt, Jeannine SPD 7.11.2014 Pilger, Detlev SPD 7.11.2014 Poschmann, Sabine SPD 7.11.2014 Poß, Joachim SPD 7.11.2014 Reiche (Potsdam), Katherina CDU/CSU 7.11.2014 Rief, Josef CDU/CSU 7.11.2014 Schäfer (Bochum), Axel SPD 7.11.2014 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 7.11.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 7.11.2014 Schön (St. Wendel), Nadine CDU/CSU 7.11.2014 Strobl (Heilbronn), Thomas CDU/CSU 7.11.2014 Tack, Kerstin SPD 7.11.2014 Dr. Tackmann, Kirsten DIE LINKE 7.11.2014 Thönnes, Franz SPD 7.11.2014 Veit, Rüdiger SPD 7.11.2014 Vogler, Kathrin DIE LINKE 7.11.2014 Dr. Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 7.11.2014 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 7.11.2014 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 7.11.2014 Weinberg, Harald DIE LINKE 7.11.2014 Werner, Katrin DIE LINKE 7.11.2014 Wöllert, Birgit DIE LINKE 7.11.2014 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit- geteilt, dass sie die folgenden Anträge zurückzieht: – Oppositionsrechte im Bundestag wahren auf Drucksache 18/4 – Maßgabebeschluss des Bundesrates zur Spielver- ordnung umgehend in Kraft setzen auf Drucksache 18/1875 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 6068 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 (A) (C) (D)(B) Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Finanzausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zur Steuerbegünstigung für Biokraftstoffe 2013 Drucksachen 18/2437, 18/2530 Nr. 12 Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Delegation des Deutschen Bundes- tages in der Konferenz gemäß Artikel 13 des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalvertrag) Tagung der Interparlamentarischen Konferenz für die wirtschaftspolitische Steuerung der Europäischen Union vom 20. bis 22. Januar 2014 in Brüssel, Belgien Drucksachen 18/2120, 18/2530 Nr. 5 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Drucksache 18/419 Nr. A.46 Ratsdokument 12974/13 Drucksache 18/419 Nr. C.2 Ratsdokument 6152/13 Drucksache 18/419 Nr. C.5 Ratsdokument 7641/12 Drucksache 18/419 Nr. C.19 Ratsdokument 13260/11 Drucksache 18/419 Nr. C.22 Ratsdokument 16000/11 Drucksache 18/419 Nr. C.25 Ratsdokument 16971/11 Drucksache 18/419 Nr. C.26 Ratsdokument 16972/11 Drucksache 18/544 Nr. A.23 Ratsdokument 5076/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.24 Ratsdokument 11533/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.25 Ratsdokument 11607/14 Finanzausschuss Drucksache 18/2677 Nr. A.4 Ratsdokument 12644/14 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/2845 Nr. A.3 Ratsdokument 12854/14 Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 18/2533 Nr. A.47 Ratsdokument 10949/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.48 Ratsdokument 11572/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.49 Ratsdokument 11688/14 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Drucksache 18/419 Nr. A.154 EP P7_TA-PROV(2013)0422 Drucksache 18/1707 Nr. A.4 EP P7_TA-PROV(2014)0460 Drucksache 18/1707 Nr. A.5 EP P7_TA-PROV(2014)0461 Drucksache 18/2533 Nr. A.59 EP P8_TA-PROV(2014)0011 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 18/2845 Nr. A.13 Ratsdokument 13217/14 Drucksache 18/2845 Nr. A.14 Ratsdokument 13263/14 64. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 29 Vereinbarte Debatte Friedliche Revolution – 25 Jahre nach Mauerfall TOP 30 Elterngeld Plus und flexiblere Elternzeit TOP 31 Schutz von Hinweisgebern TOP 32 Strategische Ziele für die Raumfahrt TOP 33 Achter Familienbericht – Zeit für Familie TOP 34 Liegenschaftspolitik TOP 35 Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806400000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf
der Besuchertribüne und an den Bildschirmen! Meine
Damen und Herren Botschafter! Ich begrüße Sie alle
herzlich zu dieser Plenarsitzung des Deutschen Bundes-
tags, in der wir uns heute Morgen vor Eintritt in unsere
übliche Tagesordnung mit der friedlichen Revolution in
der damaligen DDR und dem Fall der Berliner Mauer
vor 25 Jahren am 9. November 1989 befassen.

„Die Mauer ist weg!“ Ein einfacher Satz. Zu einfach.
Damals unfassbar, vor 25 Jahren, als ein beiläufig vorge-
lesener Zettel auf einer inzwischen legendären Presse-
konferenz in Ostberlin eine Lawine ins Rollen brachte,
die sich dann nicht mehr stoppen ließ, eine Lawine, die
sich freilich seit langem aufgestaut hatte. Die Unfassbar-
keit dieses Satzes spiegelt sich in den Gesichtern der
Menschen, die tatsächlich „unverzüglich“ der Ankündi-
gung des neuen Parteisekretärs für Informationswesen
folgten und die Grenzübergänge in Berlin buchstäblich
stürmten.

Die Bilder gingen um die Welt, und sie gingen unter
die Haut: konsternierte Grenzer, tränenüberströmte Ge-
sichter der Menschen, die das Glück dieser Stunden
nicht fassen konnten, Trabi-Kolonnen, elektrisierte Re-
porter und Jubel, Jubel, Jubel. „Wahnsinn“.

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 ist wahr
geworden, was in der inoffiziellen Hymne der Solidar-
nosc in Polen der 80er-Jahre besungen und beschworen
wurde:

Ziehe den Mauern die Zähne der Gitter aus! Sprenge
die Fesseln, zerbreche die Knute! Und die Mauern
stürzen ein und begraben die alte Welt!

Meine Damen und Herren, in der Tat: Der Mauerfall
beschleunigte durch die Symbolkraft der Bilder wie des
Ortes den Zerfall der alten Welt des Kalten Krieges und
des Ost-West-Konfliktes und führte binnen knapp eines
Jahres zur deutschen Einheit.

Berlin war der Ausgangspunkt dieses Prozesses, aber
nicht 1989, sondern im Juni 1953, als ein Volksaufstand
blutig niedergeschlagen wurde. Die glückliche Verbin-
dung von Freiheit und Einheit hat also eine lange Vorge-
schichte. Der Mauerfall war der Siedepunkt des Schick-
salsjahres 1989 und ein Ereignis, das vielen, die damals
dabei waren, und manchen bis heute wie ein Wunder er-
scheint.

Ein Wunder war es aber nicht, ebenso wenig wie ein
Naturereignis, sondern die Folge einer nicht nur in der
deutschen Geschichte beispiellosen friedlichen Revolu-
tion, die seit Monaten in einem atemberaubenden Tempo
von einem Höhepunkt zum anderen eilte. Sicher ist:
Ohne die zahlreichen Bürgerrechtsbewegungen, die sich
im Spätsommer 1989 zu Volksbewegungen entwickelten
und ihren Veränderungswillen in friedlichen Massende-
monstrationen ausdrückten, hätte es diesen 9. November
in Berlin nicht gegeben.

„Wir bleiben hier“ war eine der trotzigen Schlagzei-
len der mutigen Bürger, die erkannt hatten, dass sie das
Volk sind. „Wir wollen raus“ war das Pendant der Des-
illusionierten in der DDR. „Ich möchte am liebsten weg
sein und bleibe am liebsten hier“ hat Wolf Biermann
diese gespaltene Gefühlslage damals besungen. Ich freue
mich, dass Wolf Biermann meine Einladung angenom-
men hat und der friedlichen Revolution auch heute seine
unverwechselbare Stimme gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Fernsehbilder der DDR-Flüchtlinge, die in Buda-
pest, Prag und Warschau die Zäune der bundesdeutschen
Botschaften überkletterten und schließlich in Sonderzü-
gen nach Westdeutschland reisten, diese Bilder bislang
unvorstellbarer Ereignisse entfalteten große Wirkung
und destabilisierten das System: 1989 wurden allein bis
zum 8. Oktober 53 576 gelungene Fluchtversuche regis-
triert.

Häufig wird vergessen, dass auch der Entschluss
Abertausender DDR-Bürger, ihr Land zu verlassen, sich
auf eine Fluchtreise über Ungarn, Polen oder die Tsche-
choslowakei zu begeben, Mut verlangte. Ein glücklicher
Ausgang dieses Unternehmens war keineswegs sicher.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Sicher für die „Republikflüchtigen“ war nur, dass sie ihr
Zuhause, ihr Hab und Gut aufgeben und Familienange-
hörige, Freunde, Bekannte und Nachbarn zurücklassen
mussten. Das Wiedersehen, wann und ob überhaupt, war
dabei ungewiss, schon gar in den Jahren vor 1989. Zu
rechnen war allerdings mit Schikanen des Staatsappara-
tes gegenüber den Verbliebenen.

Diese Abstimmung des Volkes mit den Füßen war
1989 kein neues Phänomen für die DDR. Bereits bis
zum Mauerbau 1961 hatten etwa 3,5 Millionen Men-
schen die DDR verlassen. Die Berliner Mauer und der
beinahe hermetisch abgeriegelte Grenzstreifen des „Ar-
beiter- und Bauernstaates“ sollten die „Republikflucht“
verhindern, die ein Straftatbestand dieser Republik war,
die zwar deutsch, sicher aber nicht demokratisch gewe-
sen ist.

Allein in Berlin sind bei Fluchtversuchen mindestens
136 Menschen umgekommen, drei noch im Jahr 1989.
Auch an die Mauertoten und an die Schicksale ihrer Fa-
milien denken wir heute, wenn wir an die glücklichen
Stunden und Tage des Mauerfalls vor 25 Jahren erinnern.
Die weißen Kreuze, die nur wenige Meter vom Reichs-
tagsgebäude an der Spree angebracht waren, sollen an
sie erinnern. Sie sind vor einigen Tagen gestohlen wor-
den – mit einer „heldenhaften“ Attitüde und einer pseu-
dohumanitären Begründung, die man für blanken Zynis-
mus halten muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden selbstverständlich diese Kreuze ersetzen,
und sie werden dort bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, mit einem Mahnmal an die Mauertoten und all
die anderen Opfer der SED-Diktatur zu erinnern, ist der
Deutsche Bundestag in diesen Tagen in einem von zahl-
reichen Bürgerrechtlern, Historikern, ehemaligen Abge-
ordneten und Künstlern unterzeichneten Aufruf aufge-
fordert worden, zur – ich zitiere – „Würdigung der
Hoffnungen und Anstrengungen all jener, die dem Kom-
munismus widerstanden haben und ihren Glauben an
eine demokratische Zukunft und ein Leben in Freiheit
nicht preisgaben“, aber auch – ich zitiere weiter – „zur
Ermunterung zum Widerstand gegen Diktatur und die
Verletzung von Menschenrechten.“

Meine Damen und Herren, der Mauerfall hat sich in
das kollektive Bewusstsein der Deutschen eingeprägt. Er
ist weltweit zum Symbol der Überwindung autoritärer
Systeme in Mittel- und Osteuropa geworden. Jeder, der
dieses Ereignis miterlebt hat, weiß genau, wo er war, als
es stattgefunden hat. Uns scheint es daher oft, als hätte
Deutschland damals die Welt verändert. 1989 gab es
aber vielerorts gigantische Umbrüche mit einer erstaun-
lichen Parallelität der Ereignisse, die einander bedingten,
beförderten oder beeinflussten und erst durch ihr Zusam-
menwirken die Welt tatsächlich verändert haben. Dreh-
und Angelpunkt war dabei die Perestroika-Politik des
damaligen Staats- und Parteichefs der Sowjetunion,
Michail Gorbatschow.

Ihre Folgen entfalteten im Laufe des Jahres in allen
Staaten des Ostblocks eine bemerkenswert ähnliche Wir-
kung: Bereits im Januar 1989 gab es große Demonstra-
tionen tschechischer Bürgerrechtler auf dem Prager
Wenzelsplatz. Anfang Februar 1989 begannen in War-
schau die Gespräche am ersten Runden Tisch im damali-
gen Ostblock, die zu den ersten halbwegs freien Parla-
mentswahlen in Polen am 4. Juni 1989 führten. Das
„Bürgerkomitee“ als politische Plattform der wieder zu-
gelassenen Solidarnosc errang einen überwältigenden
Sieg. Am gleichen Tag, dem 4. Juni 1989, schlug das
kommunistische Regime in China die studentische De-
mokratiebewegung mit Panzergewalt auf dem Tianan-
men-Platz nieder. Die Volkskammer der DDR verkün-
dete vier Tage später in einer öffentlichen Erklärung in
alter Manier ihre Verbundenheit mit der chinesischen
Staatsführung, die – Zitat – „infolge der gewaltsamen,
blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Ele-
mente“ für Sicherheit und Ordnung habe sorgen müssen.
Soweit dies als Einschüchterung oder Drohung in Rich-
tung der Bürgerbewegung in der DDR gemeint war und
verstanden wurde, hatte es offensichtlich die gegentei-
lige Wirkung.

Ungarn machte schon Anfang Mai 1989 den Eisernen
Vorhang an seinen Westgrenzen durchlässig und begann
mit dem Abbau seiner elektronischen Sicherungsanla-
gen. Am 10. September folgte die Öffnung der ungari-
schen Grenzen für die flüchtigen Bürger der DDR: „Un-
garn hat den ersten Stein aus der Berliner Mauer
geschlagen“ – so Bundeskanzler Helmut Kohl, der dann
just in den Stunden des Mauerfalls seinen offiziellen Be-
such in Polen abstattete, und diese gerade zitierte Be-
merkung bei einer Tischrede beim Abendessen auf Ein-
ladung von Tadeusz Mazowiecki machte, des im August
gewählten ersten nichtkommunistischen Ministerpräsi-
denten Polens nach dem Zweiten Weltkrieg.

Auch die baltischen Staaten sind Austragungsorte die-
ses grandiosen Transformationsprozesses gewesen: Am
23. August, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes,
bildeten rund 1 Million Menschen eine mehr als 600 Ki-
lometer lange Menschenkette – von Vilnius in Litauen
über Riga in Lettland bis Tallinn in Estland. Sie demon-
strierten für nationale Selbstbestimmung und Unabhän-
gigkeit der baltischen Staaten von der Sowjetunion. Es
war der Höhepunkt der bei uns kaum wahrgenommenen
„singenden Revolution“. Ihr Markenzeichen waren ver-
botene Volkslieder. Gegen sie konnte man mit Panzern
nicht vorgehen. Gegen Kerzen auch nicht.

In der Tschechoslowakei spitzte sich die Lage im No-
vember zu. Am 29. Dezember, zum Abschluss der „sam-
tenen Revolution“, wurde Václav Havel, der zu Beginn
des Jahres noch wegen „Rowdytums“ zu einer Gefäng-
nisstrafe verurteilt worden war, zum Staatspräsidenten
gewählt. In Bulgarien und Rumänien beseitigten Palast-
revolutionen die Regime. Der Drang nach Freiheit und
Demokratie war Ende des Jahres so stark, dass keine der
kommunistischen Regierungen im damaligen Ostblock
mehr fest im Sattel saß oder überhaupt noch im Amte
war.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es tut
uns gut gerade an dem Wochenende, an dem wir einen
unstreitigen Höhepunkt der deutschen Geschichte in be-
sonderer Weise würdigen, uns ins Bewusstsein zu heben,
dass nicht nur in Deutschland Anstrengungen unternom-
men und mit bemerkenswertem Mut bemerkenswerte
Veränderungen herbeigeführt worden sind. Manches
spricht für die Vermutung: Wenn die damalige Entwick-
lung nur in Deutschland stattgefunden hätte, hätte sie
vermutlich auch in Deutschland so nicht stattgefunden.


(Beifall im ganzen Hause)


In der DDR vollzog sich eine durchaus andere, aber
im Kontext dieser Entwicklung folgerichtige Verände-
rung, die – was einem auch mit dem zeitlichen Abstand
von 25 Jahren immer noch beinahe wie ein Wunder vor-
kommen muss – unblutig, ohne Gewaltanwendung und
trotzdem oder vielleicht gerade deshalb unwiderstehlich
war. Dieses Jahr 1989 hat nicht nur die DDR verändert
und schließlich abgeschafft. Es hat Europa in einer
Weise verändert, wie es selten in einem einzelnen Jahr in
der Geschichte durchgreifende und nachhaltige Verände-
rungen auf unserem Kontinent gegeben hat. Innerhalb
weniger Monate hat sich die politische Landschaft Euro-
pas grundlegend neu gestaltet.

Die Ereignisse von 1989 gleichen jeweils für sich be-
trachtet einem Mosaik. Jedes einzelne Element für sich
genommen ist wie eine Kerze, die zwar Licht gibt in der
Finsternis, diese aber alleine ganz sicher nicht bezwin-
gen kann. Erst ein Kerzenmeer – so wie in Leipzig – ver-
mag es. Heute sind wir für jedes dieser Lichter und jedes
der einzelnen Ereignisse auf den politischen Bühnen wie
auf den Straßen Europas dankbar. Sie alle zusammen ha-
ben das „legendäre Revolutionsjahr 1989“ bewirkt und
dazu beigetragen, das Ende der Teilung Deutschlands
und Europas einzuleiten.

Meine Damen und Herren, Eric Hobsbawm, der
große britische Historiker, hat das 20. Jahrhundert als
„Zeitalter der Extreme“ beschrieben – was es ganz of-
fensichtlich war – und zugleich als das kurze Jahrhun-
dert, das 1914 begonnen habe und 1989 zu Ende gewe-
sen sei. Das ist jedenfalls eine interessante und, wie ich
finde, kluge Interpretation. Tatsächlich ist das 19. Jahr-
hundert, das Zeitalter der rivalisierenden Nationalstaa-
ten, im Ersten Weltkrieg kollabiert. Mit der Überwin-
dung des Eisernen Vorhangs sowie der Etablierung
demokratischer, frei gewählter Parlamente und Regie-
rungen überall in Europa hat das 21. Jahrhundert begon-
nen.

Die friedlichen Revolutionen vor 25 Jahren waren ein
Glücksfall der Geschichte. Die Beispiele der allerjüngs-
ten Demokratisierungsbewegungen – auch direkt vor un-
serer Haustür – zeigen allerdings, dass der glückliche
Ausgang einer Freiheitsbewegung keiner Regel folgt,
schon gar keinem Terminkalender und der Erfolg nicht
sicher ist. Auch der Glaube, dass individuelle Freiheit,
nationale Selbstbestimmung und territoriale Integrität je-
denfalls in Europa nun unangefochten seien, erweist sich
als gut gemeinte Illusion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, vom südafrikanischen Friedensnobelpreisträger
Desmond Tutu stammt ein Satz, der nicht nur die Ereig-
nisse des Jahres 1989, wie ich finde, zusammenfasst,
sondern auch für ähnliche Entwicklungen in anderen
Ländern seine Gültigkeit behält. Desmond Tutu schreibt:

Nichts, nicht einmal die modernste Waffe, nicht
einmal die auf brutalste Weise schlagkräftige Poli-
zei, nein, überhaupt gar nichts wird die Menschen
aufhalten können, wenn sie erst einmal entschlos-
sen sind, ihre Freiheit und ihr Menschenrecht zu er-
ringen.


(Beifall im ganzen Hause)


Diese Einsicht, meine Damen und Herren, ist eine Er-
mutigung und eine Verpflichtung zugleich. Beides wol-
len wir heute bekräftigen.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



(Gitarrenvorspiel Wolf Biermann)


Wolf Biermann:
Herr Lammert, ich freue mich, dass Sie mich hierher-

gelockt haben. Ich ahne schon, weil ich Sie ja als Ironi-
ker kenne, dass Sie hoffen, dass ich den Linken ein paar
Ohrfeigen verpasse.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein!)


Aber das kann ich nicht liefern. Mein Beruf war doch
Drachentöter.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806400100

Ich kann Ihnen, Herr Biermann, mit einem Hinweis

auf unsere Geschäftsordnung helfen:


(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)


Sobald Sie für den Deutschen Bundestag kandidieren
und gewählt werden, dürfen Sie hier auch reden.


(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)


Heute sind Sie zum Singen eingeladen.

Wolf Biermann:
Ja. Aber natürlich habe ich mir in der DDR das Reden

nicht abgewöhnt, und das werde ich hier schon gar nicht
tun.


(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)


Ein Drachentöter kann nicht mit großer Gebärde die
Reste der Drachenbrut tapfer niederschlagen. Die sind
geschlagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist für mich Strafe genug, dass sie hier sitzen müs-
sen, dass sie das anhören müssen.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Wir wollen!)






Wolf Biermann


(A)



(D)(B)

– „Wollen“. Ihr wollt immer; das weiß ich ja. Aber ihr
könnt nicht.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber so neu bin ich nicht in der Welt. Einige Gesich-
ter kenne ich ja. Jeder Einzelne ist ein Roman. Das muss
mir keiner breitärschig erklären.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Aber selber!)


Sehr kompliziert. Aber als Gruppe, die ihr ja auch seid,
seid ihr eben aus meiner Sicht keine Linken.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Gewählt!)


– „Gewählt“. Im Deutschen Bundestag kann man doch
nicht erzählen, dass eine Wahl ein Gottesurteil ist, wenn
man die deutsche Geschichte kennt. Sei nicht zu cle-
ver! – Gefährlich!


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Wenn man mit dem Zeigefinger auf jemanden zeigt, zeigen drei auf einen zurück!)


– Weiß ich doch. Eure Sprüche, die habt ihr drauf; ich
weiß. Ich habe meine auch drauf. Wir müssen uns gar
nichts erzählen. Also, ihr seid dazu verurteilt, das hier zu
ertragen.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Genau!)


Ich gönne es euch. Ich weiß ja, dass die, die sich Linke
nennen, nicht links sind, auch nicht rechts, sondern re-
aktionär, dass diejenigen, die hier sitzen, der elende Rest
dessen sind, was zum Glück überwunden ist.

Ich freue mich, dass ich hier ein Lied singen kann, die
Ermutigung.


(Zuruf von der LINKEN: Ein Lied!)


– Natürlich, ihr wollt lieber zersungen werden. Ich habe
euch zersungen mit den Liedern, als ihr noch an der
Macht wart.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Lied, das Herr Lammert gerne hören möchte
und das ich auch gerne singe, Ermutigung – das sei bei
dieser Gelegenheit angemerkt –, war bei denen, die Wi-
derspruch anmeldeten, in verschiedenem Grade – man-
che sehr feige, manche sehr mutig, manche zu mutig –,
wie ein Stück Seelenbrot, das sie gegessen haben. Ich
weiß, dass manche, die im Gefängnis saßen, wie mein
Freund Pastor Matthias Storck und seine Frau Tine, mit
diesem Lied in der Zelle überlebt haben. Ich finde es
wunderbar, dass dieses Lied aus den Gefängnissen der
DDR heute im Parlament der deutschen Demokratie ge-
sungen werden kann. Ist das nicht toll?


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



(Liedvortrag Wolf Biermann: Ermutigung)


(Anhaltender Beifall im ganzen Hause – Bundesminister Sigmar Gabriel und Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel begeben sich zu Wolf Biermann und beglückwünschen ihn – Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806400200

Das war jetzt nicht Kanzlerwahl mit den üblichen

Gratulationscouren am Präsidentenpult.

Lieber Herr Biermann, ich möchte den Dank für diese
Ermutigung aus gegebenem Anlass mit einer Gratulation
verbinden. Sie feiern heute mit Ihrer Frau Pamela Ihre
Silberhochzeit.


(Beifall – Wolf Biermann: Ich feiere heute auch den Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution! – Heiterkeit bei der CDU/ CSU)


– Na ja, gut, und es wird gewiss kein Zufall sein, dass
beides auf dasselbe Datum fällt.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Jedenfalls ist auch dies ein stolzes 25-jähriges Jubiläum.
Ich vermute stark, dass Sie beide heute vor 25 Jahren,
am 7. November 1989, nicht vermutet hätten, dass zu
diesem Anlass ein frei gewähltes deutsches Parlament
im Reichstagsgebäude zusammentreten würde. Im Na-
men des ganzen Hauses herzliche Gratulation und alle
guten Wünsche für viele glückliche gemeinsame Jahre!


(Beifall)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir die ver-
einbarte Debatte zur Würdigung dieser damaligen Ereig-
nisse beginnen, wollen wir einige der damals beteiligten
Bürgerrechtler in kurzen Filmsequenzen zu Wort kom-
men lassen. Anschließend sehen wir einen kurzen Zu-
sammenschnitt der denkwürdigen Sitzung des Deut-
schen Bundestages am 9. November 1989 im Bonner
Wasserwerk.


(Filmeinspielungen – Beifall im ganzen Hause)


Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Denen, die damals dabei waren, wie denen,
die damals nicht dabei sein konnten, wird das in ähnli-
cher Weise nahegehen.

Unter den Mitgliedern des 18. Deutschen Bundesta-
ges gibt es noch ganze elf Abgeordnete, die auch damals
dem Deutschen Bundestag angehörten. Ich finde es
schön, dass die nun folgende vereinbarte Debatte, die
sich mit diesem Ereignis auseinandersetzen soll, mit ei-
ner dieser elf Abgeordneten beginnt.

Vereinbarte Debatte

Friedliche Revolution – 25 Jahre nach dem
Mauerfall

Ich erteile der Kollegin Gerda Hasselfeldt das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


(C)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1806400300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 9. November
1989 war ein vergleichsweise gewöhnlicher Donnerstag
in einer Sitzungswoche. Und doch sollte dieser Plenartag
überraschend mit dem Singen unserer Nationalhymne
enden, wie wir es gerade gesehen haben. Aus einem ge-
wöhnlichen Tag, aber in durchaus bewegten Zeiten,
wurde ein historischer Tag, der Tag, an dem die Mauer
fiel. Es wurde der Schicksalstag der Deutschen. Auf das
Ende der Plenarsitzung folgte dann auch eine außerge-
wöhnliche Nacht, eine Nacht, die die Welt veränderte.

Die damalige Situation im Plenarsaal, die Bilder, die
in jenen Stunden um die Welt gingen, werde ich nie ver-
gessen: Menschen aus Ost und West, die sich bislang
nicht kannten, laufen aufeinander zu, fallen sich in die
Arme, tanzen auf der Mauer vor dem Brandenburger
Tor, und ihre Gesichtszüge sind von großer Freude und
ebenso großer Ungläubigkeit geprägt. Scheinwerfer, die
lange dazu dienten, Flüchtlinge aufzuspüren, beleuchten
nun den Taumel des Glücks, das Ende von Diktatur und
Spaltung. Von diesen Bildern ging meines Erachtens
auch eine große Symbolkraft aus. Es war, als würde man
in jedem Gesicht die Freiheit sehen. Es waren die Men-
schen in der ehemaligen DDR, die mit ihrem Engage-
ment das Licht der Freiheit entzündet haben. Sie waren
nicht alleine, sondern, wie der Herr Bundestagspräsident
in seiner Rede zum Ausdruck gebracht hat, begleitet von
vielen Menschen in vielen anderen europäischen Län-
dern, die auch in ihrer Heimat für Freiheit, Demokratie
und Menschenrechte mutig gekämpft haben.

Das alles geschah ohne Blutvergießen, ohne einen
einzigen Schuss. Hierfür, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, empfinde ich noch heute große Dankbarkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vielleicht haben wir im Westen erst in diesen Stunden
so richtig begriffen, welche Kraft die Sehnsucht vieler
Menschen nach Freiheit entfalten kann, dass sie Furcht
und Angst überwindet und einen Staat, der den Men-
schen die Freiheit vorenthält, auch in die Knie zwingen
kann. Was es aber heißt, durch eine Mauer der eigenen
Freiheit beraubt zu sein, was es heißt, von einem Un-
rechtsregime bespitzelt und gegängelt zu werden, das
haben die vielen politischen Gefangenen, das haben die
Flüchtlinge und Ausreisewilligen und vor allem die
Mauertoten aufs Bitterste gelehrt. Ihnen allen wollen wir
auch heute gedenken.

Der Fall der Mauer, meine Damen und Herren, war
der erste Schritt in Richtung Freiheit. Ihm sollte dann der
zweite in Richtung Einheit folgen. Fasziniert haben wir
miterlebt, wie bei den Montagsdemonstrationen aus dem
Ruf „Wir sind das Volk“ dann „Wir sind ein Volk“ wurde
und damit plötzlich die Frage der deutschen Einheit auf
der weltpolitischen Agenda stand.

Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit war für
uns in der Union nie ein Lippenbekenntnis, sondern im-
mer eine Herzensangelegenheit.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben in all den Jahrzehnten der Teilung am Gedan-
ken der deutschen Einheit festgehalten, auch und gerade
als dies im Westen Deutschlands zunehmend unpopulä-
rer wurde und die politische Bereitschaft wuchs, sich mit
einer Zweistaatlichkeit zu arrangieren. Ich darf ganz per-
sönlich sagen: Auf diesen klaren Kurs der Union bin ich
auch heute und gerade heute besonders stolz.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bayern hat durch seine Klage gegen den Grundlagen-
vertrag vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahre
1973 erreicht, dass das im Grundgesetz verankerte Wie-
dervereinigungsgebot für alle Verfassungsorgane unver-
ändert bindend blieb. Tatsächlich ist am 3. Oktober 1990
die staatliche Einheit Deutschlands in freier Selbstbe-
stimmung in Erfüllung gegangen. Unvergessen ist dabei
die historische Leistung von Bundeskanzler Helmut
Kohl. Er hat die einmalige Chance mit Mut und Über-
zeugungskraft ergriffen, als sich mit dem Mauerfall das
Tor zur Einheit unseres Vaterlandes öffnete.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])


Es ist heute aber ebenso wichtig, die großartige Auf-
bauleistung der Bevölkerung und der Politiker in den
östlichen Bundesländern zu würdigen. Auf das, was dort
in den vergangenen 25 Jahren gemeinsam erreicht
wurde, können alle stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach dem
Mauerfall gehören in Deutschland staatliche Unterdrü-
ckung und Willfährigkeit der Vergangenheit an. Doch
Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind uns nicht
einfach so gegeben. Das lehrt uns unsere Geschichte,
und das lehren uns auch die Krisenherde dieser Welt. So
darf der 9. November 1989 für uns nicht nur ein Tag der
Freude und der Dankbarkeit sein, sondern soll uns
gleichsam Verpflichtung und Auftrag sein, immer und
überall für die Werte einzutreten, für die ein ganzes Volk
im Herbst 1989 mutig gekämpft hat.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806400400

Das Wort erhält nun die Kollegin Iris Gleicke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1806400500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Antwort auf die Frage, warum es die Mauer gegeben hat,
ist ganz einfach und unglaublich schwer. Man muss die
Antwort darauf aus meiner Sicht immer damit beginnen,
dass die Mauer ein Monstrum gewesen ist, ein monströ-
ses Bauwerk und eine furchtbare Grenze. An dieser





Iris Gleicke


(A) (C)



(D)(B)

Grenze sind Deutsche von Deutschen ums Leben ge-
bracht worden, weil sie ein anderes und besseres, weil
sie ein freies Leben wollten. Wer das Leben in der Dikta-
tur nicht mehr ertrug und versuchte, die Mauer zu über-
winden, der riskierte sein Leben oder zumindest schwere
und schwerste Verletzungen und Jahre im Knast. Wir ge-
denken der Toten; wir gedenken der Opfer, und wir füh-
len mit ihren Angehörigen.

An dieser Mauer sind Menschen gestorben, und an
dieser Mauer sind unzählige Träume zerschellt. Wie
auch immer diejenigen ihr Tun zu rechtfertigen versuch-
ten, die die Mauer errichten ließen – was blieb, war ein
Albtraum für ein ganzes Volk. Man kann die Mauer in
ihren historischen Kontext einordnen; aber man kann sie
nicht rechtfertigen. Das ist das, worauf es ankommt.


(Beifall im ganzen Hause)


Es gab und es gibt keine Rechtfertigung für den
Schießbefehl und für den Versuch, die eigene Bevölke-
rung zur Geisel zu nehmen. Die Mauer war weitaus
mehr als der bloße Ausdruck von Willkür einer politi-
schen Clique, die rücksichtslos ihr Herrschaftsgebiet si-
chern wollte und bereit war, dafür über Leichen zu ge-
hen. Sie war das zu Stein gewordene Symbol der Teilung
Deutschlands, Europas und der Welt. Sie war der weithin
sichtbare Ausdruck des Kalten Krieges. Die Mauer – wir
dürfen das niemals vergessen – war ebenso wie die
DDR-Diktatur in letzter Konsequenz eine Folge des ver-
brecherischen Zweiten Weltkriegs, den Deutschland an-
gezettelt hatte und der in der ebenso verdienten wie tota-
len Niederlage endete. Nie wieder Faschismus, nie
wieder Krieg. Dieser Konsens muss fortbestehen. Von
deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!


(Beifall im ganzen Hause)


Meine Damen und Herren, vergessen wir bitte auch
nicht, dass die Deutschen in Ost und West in sehr unter-
schiedlicher Weise für den Zweiten Weltkrieg bezahlt
haben: Für die Westdeutschen gab es die repräsentative
Demokratie, den Marshallplan und die soziale Markt-
wirtschaft. Für die Ostdeutschen gab es die Diktatur, den
Abbau ganzer Industrieanlagen und eine zum Scheitern
verurteilte Planwirtschaft. Und es gab eine fast unüber-
windliche Grenze.

Die Teilung unseres Landes hat über 40 Jahre lang ge-
dauert. Es erstaunt mich immer wieder, dass es heute
Leute gibt, die offenbar ernsthaft glauben, dass sich
diese Teilung mit all ihren Folgen innerhalb von nur
25 Jahren vollständig überwinden ließe. Das ist, mit Ver-
laub, eine lächerliche Vorstellung. Wir haben unglaub-
lich viel erreicht in den letzten 25 Jahren, um die Folgen
der Teilung zu beseitigen, und den Rest schaffen wir
auch noch.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber es ist noch ein ganzes Stück Weg zu gehen. Ich
wünsche mir so sehr, dass wir diesen Weg gemeinsam
gehen, im Miteinander und ohne die groteske Erbsen-
zählerei, mit der manche die Kosten der Einheit bis hin-
ters Komma berechnen wollen.

Manchmal sehne ich mich zurück nach dieser Zeit im
November des Jahres 1989, als die Deutschen sich in
den Armen gelegen haben. Ich erinnere mich – –


(Die Rednerin hält inne – Beifall im ganzen Hause)


Ich erinnere mich an die Tränen in den Augen und an
diese unbändige Freude und Erleichterung. Und dann
frage ich mich: Was ist uns heute eigentlich davon ge-
blieben? – Vielleicht geben uns die kommenden Tage et-
was von diesem Gefühl zurück. Ich würde es uns allen
wünschen.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich wünsche uns schöne und fröhliche Feiern. Ich wün-
sche uns, dass das Gedenken nicht irgendwann zum Ri-
tual erstarrt und dass der Ausdruck von innerer Betrof-
fenheit nicht irgendwann zur Maske wird.

Meine Damen und Herren, es gibt in der Geschichte
keine Zwangsläufigkeit und keine Gewissheit; aber es
gibt immer die Hoffnung auf die Vernunft und darauf,
dass sie sich durchsetzt. Man kann das nicht besser sa-
gen als mit den Worten Willy Brandts, der 1964 hier in
Berlin erklärte, die Mauer stehe gegen den Strom der
Geschichte und gegen das Gebot der Menschlichkeit.


(Beifall im ganzen Hause)


Willy Brandt hat seinen Teil dazu beigetragen, dass sich
die Vernunft durchsetzen konnte und dass sich seine
Hoffnungen erfüllten. Wir Sozialdemokratinnen und So-
zialdemokraten sind stolz darauf.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Mauer wurde fortgespült vom Strom der Ge-
schichte. Sie hatte keinen Bestand. Sie wurde niederge-
rissen von den Ostdeutschen, die sich ihre Freiheit selbst
erkämpft haben mit einer Revolution, bei der kein einzi-
ger Schuss gefallen ist und die wir deshalb voller Stolz
als „unsere friedliche Revolution“ bezeichnen dürfen.

Die Mauer ist gefallen; dieser Traum ist wahr gewor-
den. Andere Träume, die wir damals in diesen Tagen der
Hoffnung hatten, haben sich bislang noch nicht erfüllt.
Was ist eigentlich aus der Sehnsucht danach geworden,
dass aus den Schwertern Pflugscharen werden? Und was
ist eigentlich aus Michail Gorbatschows Vision vom ge-
meinsamen Haus Europa geworden?


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sind ein Volk. Es ist an uns, all unseren Nachbarn
zu beweisen, dass wir diese Träume nicht aufgegeben
haben, niemals aufgeben werden und dass wir unver-
drossen auf die Kraft der Vernunft sowie auf eine bessere
Zukunft vertrauen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall im ganzen Hause)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806400600

Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806400700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor dem

Fall der Mauer fand die legendäre Kundgebung am
4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz
statt. Diese Kundgebung war selbstbestimmt, souverän,
kulturvoll und hatte viel Humor. Damals ging es um eine
grundlegende Reform der DDR; die Hauptlosung aber
lautete: keine Gewalt. Das galt auch später bei der
Maueröffnung und für die gesamte friedliche Revolu-
tion. Es ist eine historische Leistung aller Beteiligten in
der DDR, dass es damals zu keinem Zeitpunkt Gewalt
gab.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die DDR war eine Diktatur, sie war kein Rechtsstaat.
In ihr gab es staatlich angeordnetes, auch grobes Un-
recht. Der wachsende Mut der Bürgerinnen und Bürger
der DDR resultierte auch daraus, dass man die Sowjet-
union nicht mehr gegen sich, sondern hinter sich wusste,
und glaubte, es allein mit der SED-Führung aufnehmen
zu können – zu Recht. Nach dem Fall der Mauer ging es
dann um die Überwindung der Spaltung Deutschlands
und Europas.

Der Fall der Mauer war für die Bürgerinnen und Bür-
ger der DDR ein ungeheurer Befreiungsakt. Niemals
vorher und nachher habe ich so überglückliche Gesichter
im Fernsehen gesehen wie in dieser Nacht. Es ist nicht
hinnehmbar, wenn einer Bevölkerung gesagt wird, dass,
abgesehen von bestimmten erlaubten Dienstreisen oder
von einigen dringenden Familienangelegenheiten, nur
Invalide sowie Altersrentnerinnen und Altersrentner den
Westteil der Stadt Berlin, Hamburg, München, Stuttgart,
Paris oder London sehen dürfen. In der Regel bedeutete
das für Frauen, dass sie 60 Jahre, und für Männer, dass
sie 65 Jahre alt werden mussten, bis sie sich den größe-
ren Teil der Erde anschauen durften. Für sie war der
Westen fast so weit weg wie der Mond.

Der Fall der Mauer veränderte aber auch das Leben
der Westdeutschen, der Europäerinnen und Europäer und
führte weltweit zu neuen Strukturen. Beim Fall der
Mauer gab es nämlich genau so glückliche Gesichter im
Westteil der Stadt Berlin wie in der alten Bundesrepu-
blik.

Das Problem ist – das will ich hier offen sagen –, dass
wir statt der Vereinigung einen Beitritt hatten. Die Bun-
desregierung konnte nicht aufhören, zu siegen, und hat
sich deshalb im Osten nichts angesehen. Wenn man
Dinge wie das Kindertagesstättennetz, die Polikliniken,
jetzt Ärztehäuser, oder die Berufsausbildung mit Abitur
oder einige andere Punkte übernommen hätte – vieles
musste verschwinden –, dann hätte das das Selbstbe-
wusstsein der Ostdeutschen gestärkt und hätte vor allem
dazu geführt, dass die Westdeutschen mit der Vereini-
gung eine Qualitätssteigerung erlebt hätten, was ihnen
nicht gegönnt wurde.


(Beifall bei der LINKEN)


Dadurch entstand bei den Westdeutschen die Illusion, für
sie bleibe alles, wie es war. Aber nicht nur die DDR ist
verschwunden, sondern auch die alte Bundesrepublik.
Damit hängen auch einige Enttäuschungen zusammen.
Die alte Bundesrepublik war sozialer als die vereinte.
Die alte Bundesrepublik hätte, im Unterschied zur ver-
einten, niemals Krieg geführt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Zurück zu Ostdeutschland. In der Super Illu vom
9. Oktober 2014 ist eine interessante Umfrage veröffent-
licht. Danach schätzt eine Mehrheit der Ostdeutschen
ein, dass es ihr in zehn Punkten deutlich besser geht als
in der DDR, in zehn Punkten wird das Gegenteil behaup-
tet.

Die zehn Punkte, in denen es ihnen nach eigener Ein-
schätzung besser geht, beziehen sich in der Reihenfolge
nach den Mehrheiten auf das Warenangebot, den Urlaub,
die Weltoffenheit, die Meinungsfreiheit, die Entschei-
dungsfreiheit der Einzelnen und des Einzelnen, die
Wohnverhältnisse, den Umweltschutz, die Selbstver-
wirklichung und die Verwirklichung der Menschen-
rechte.

Wir müssen allerdings auch zur Kenntnis nehmen, in
welchen zehn Punkten die Mehrheit der Ostdeutschen
meint, dass es ihr diesbezüglich in der DDR besser ge-
gangen sei. Wiederum in der Reihenfolge nach den
Mehrheiten bezieht sich das auf sichere Arbeitsplätze,
die sicheren, niedrigen Mieten, die Kinderbetreuung,
den Gemeinschaftssinn


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– ich sage ja nur, was die Ostdeutschen denken; ich sage
gar nicht, dass ich es teile –, die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie, die Sportförderung,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Dopingförderung!)


den Zusammenhalt der Familien, die soziale Gerechtig-
keit und die Gleichberechtigung von Frauen und Män-
nern.

Abgesehen von interessanten kulturellen Momenten
bringt das im Kern doch eines zum Ausdruck. Die Ost-
deutschen wollen beides: die Freiheit der Bundesrepu-
blik und höhere soziale Sicherheit und Gerechtigkeit,
wie sie sie von früher kannten. Es gilt aber für alle Men-
schen in Deutschland folgender Zusammenhang: Soziale
Sicherheit und Gerechtigkeit ohne Freiheit taugen ziem-
lich wenig.


(Beifall bei der LINKEN)


Freiheit ohne soziale Sicherheit und soziale Gerechtig-
keit verliert an Bedeutung, sie ist zum Teil nicht nutzbar.

Wir alle hier im Saal sind privilegiert. Unsere Mei-
nung können wir ziemlich öffentlich verkünden, die
meisten Menschen nur untereinander. Wir können es uns
leisten, nach London, New York oder Paris zu reisen; für





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

viele ist dies nicht bezahlbar. Deshalb ist es so wichtig,
die Einheit von Freiheit, Demokratie, sozialer Sicherheit
und sozialer Gerechtigkeit herzustellen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen endlich gleiche Lebensqualität in Ost
und West. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass glei-
cher Lohn für gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit in
Ost und West bezahlt wird. Es ist doch nicht zu viel ver-
langt, dass endlich die gleiche Rente für die gleiche Le-
bensleistung in Ost und West bezahlt wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist auch nicht zu viel verlangt, dass man bei der Müt-
terrente für ein Ostkind nicht weniger bekommt als für
ein Westkind.


(Beifall bei der LINKEN – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Jetzt reicht es! Echt!)


Ich möchte den Respekt für die Lebensleistungen in den
Biografien, und zwar in Ost und West gleichermaßen.

Die Mauer ist gefallen. Sie muss, soweit noch vorhan-
den, endlich auch in den Köpfen überwunden werden.
Meiner Generation ist das zum Teil schwergefallen, in
der Generation meiner 18-jährigen Tochter ist das über-
haupt kein Problem mehr.

Ich meine, die Mauern müssen generell fallen, und
wir dürfen keine neuen errichten. Damit meine ich die
Mauer zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen weltweit
und in unserer Gesellschaft, die Mauer zwischen Armen
und unvorstellbar Reichen weltweit und in unserer Ge-
sellschaft und auch die Mauer an den Außengrenzen der
Europäischen Union.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir dürfen nicht die Flüchtlinge bekämpfen, sondern wir
müssen die Fluchtursachen bekämpfen. Außerdem hat
man Flüchtlinge einfach anständig zu behandeln.


(Beifall bei der LINKEN)


Lassen Sie mich zum Schluss einen Wunsch äußern:
Die große Feier zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit
im nächsten Jahr sollte außerhalb der Regel in Leipzig
begangen werden. Leipzig hat sich das verdient.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806400800

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Göring-

Eckardt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
25 Jahre, das ist mehr als ein Jubiläum. Das ist eine Ge-
neration. 20 Millionen Deutsche wurden nach 1989 ge-
boren, 22 Millionen Menschen sind neu zu uns gekom-
men und 17 Millionen Menschen haben unser Land
verlassen. Deutschland ist heute ein anderes Land; aber
das Vergangene ist nicht vorbei. Die gespannte Atmo-
sphäre der Friedensgebete, der Geschmack der ersten er-
kämpften Freiheit auf den Straßen von Plauen, Dresden,
Leipzig, Arnstadt, auf dem Alexanderplatz, die Freude
am Mitgestalten an den Runden Tischen im ganzen
Land, die Selbstemanzipation eines Volkes – das beglei-
tet uns bis heute.

Wo bist du gewesen, damals, am 9. November? Auch
diese Frage begleitet uns. Ich saß am Fernseher. Mein äl-
tester Sohn ist nur ein paar Wochen älter als der Einsturz
der Mauer. Dass er heute einer Tageszeitung sagen kann,
dass bei uns am Küchentisch immer über Politik gespro-
chen wurde, das ist großartig. „Meine Kinder“, sagt er
– inzwischen hat er drei –, „sollen einmal politische
Menschen werden.“ Das Mitgestalten und die Selbst-
emanzipation tragen sich fort.

Mauerstücke aus dem Eisernen Vorhang wurden im-
mer wieder herausgebrochen, nicht nur 1953, 1956,
1968, 1980. 1956 standen neben den Ungarn auch Stu-
dierende in Rumänien auf. 1962 wurden 24 protestie-
rende Arbeiter in der Sowjetunion massakriert. Diese
Revolution trägt die Namen von Vaclav Havel, von
Andrej Sacharow und Jelena Bonner, von Herta Müller
und Lech Walesa, von Marianne Birthler und Bärbel
Bohley, und – als evangelische Christin sage ich das –
sie trägt auch den Namen von Johannes Paul II. Diese
Revolution war nicht schwarz-rot-gold; sie war der Be-
ginn eines gemeinsamen, eines wahren, eines wirklichen
Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Die Revolution war nicht zuerst erfolgreich wegen
der Diplomaten und Staatschefs, sondern weil die DDR-
Diktatur mit allem gerechnet hat, nur nicht mit Kerzen.
Die DDR war auch nicht nur wirtschaftlich pleite, sie
war politisch, moralisch und ökologisch bankrott,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


und natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat. Alle, die
versuchen, darum herumzulavieren, müssen sich an-
schauen, was war: Ein Staat ohne demokratische Selbst-
bestimmung, ohne Transparenz der öffentlichen Mei-
nung, ohne unabhängige Justiz ist erst einmal, ganz
banal, eine Diktatur, kein zweiter Nationalsozialismus,
auch kein Stalinismus wie in der Sowjetunion der Gu-
lags. Aber nur, weil die DDR versucht hat, sich den
Mantel der Rechtsförmigkeit umzulegen, wird sie eben
nicht zum Rechtsstaat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wer einen Ausreiseantrag gestellt hatte, verlor seinen
Arbeitsplatz trotz Arbeitsgesetzbuch, und wem eine
feindlich-negative Grundhaltung unterstellt wurde, wur-
den möglicherweise seine Kinder weggenommen, trotz
Familiengesetzbuch. Der Zorn der SED traf nicht nur die
Oppositionellen; er traf deren Töchter, Söhne oder gar
Freunde.





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

In der DDR verliefen Alltag und Willkür parallel; da
kann man sich noch so sehr winden. Deshalb muss heute
klipp und klar gesagt werden: Es geht nicht darum, Bio-
grafien von früher zu be- oder entwerten. Ulrike Poppe
hat zu Recht gesagt: Die DDR, das waren wir alle. Es
war richtiges Leben im falschen, aber daneben war es
eben auch das Grundfalsche.

Ich habe meinen Vater – er war Tanzlehrer, einer der
wenigen selbstständigen Berufe in der DDR – mehrfach
zum Vortanzen in einen Jugendwerkhof begleitet. Da sa-
ßen Jugendliche im Knast, bis aufs Gröbste ihrer Würde
beraubt, manchmal für Diebstahl, aber oft genug einfach
nur für ein falsches Wort. Ich kann die zittrigen Hände
des 16-Jährigen nicht vergessen, der mir seinen Namen
nicht sagen durfte, der nur sagen konnte: Ich hab doch
nichts gemacht, nur einen Witz, einen Witz über die
Mauer. Um dessen Biografie geht es, mindestens ebenso
wie um die Biografie des Zerspaners, den sie in West-
deutschland Dreher nennen, der plötzlich irgendwie zum
Staatsfeind wurde, ohne genau zu wissen, warum. Es
geht auch um die Biografie der Chemikerin, die im Wis-
senschaftsbetrieb war und einfach versucht hat, nicht an-
zuecken.

Biografien haben wir alle; aber unsere besondere
Aufmerksamkeit und die Aufarbeitung dessen, was war,
müssen zu allererst denen gelten, die gelitten haben und
manchmal bis heute unter dem leiden, was ihnen angetan
worden ist, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will dies in alle Richtungen sagen, weil ich fest
davon überzeugt bin, dass Aufarbeitung der Geschichte
nur dann geht, wenn man sich das je Eigene anschaut.
Das gilt für Sie von der Union ganz genauso mit den
Blockparteien der DDR wie für die Linke. Einen Unter-
schied gibt es allerdings, nämlich den, dass in der Union
heute niemand bestreiten würde, dass die DDR ein Un-
rechtsstaat war.

Aber wenn wir Schuldeingeständnis und Versöhnung
wollen, dann müssen wir heute auch den Jungen sagen
können: Haben wir tatsächlich angeschaut, was gewesen
ist, sind wir damit tatsächlich umgegangen, oder haben
wir geschwiegen oder es ignoriert? 25 Jahre danach ist
es Zeit, auch das Schweigen über die eigene Geschichte
und den eigenen Umgang mit ihr zu brechen.

Meine Damen und Herren, heißt eigentlich von Ossis
lernen Siegen lernen? 2015 werden mit dem Bundesprä-
sidenten, dem Präsidenten des Bundesrates und der Bun-
deskanzlerin vermutlich drei der fünf höchsten Staats-
ämter des Landes von Menschen besetzt sein, die ihre
Biografie in der DDR begonnen haben. 25 Jahre haben
viele Biografien, aber auch das Land und die Landschaf-
ten verändert.

1986, nach dem Super-GAU in Tschernobyl, begann
es mit den Umweltbibliotheken, 1989 stand das Land
vor dem ökologischen Zusammenbruch. Nein, das, was
wir heute erleben, das sind nicht die verspätet blühenden
Landschaften. Aber dass Ostdeutschland heute eine Vor-
reiterrolle bei den erneuerbaren Energien einnimmt, das
ist nach Braunkohlegestank und vergifteten Flüssen
schon erstaunlich.

Nach 1989 gab es aber auch Verwerfungen. Es gab
Menetekel wie Lichtenhagen oder Hoyerswerda, es wur-
den Fehler gemacht. Es gab viele und vielleicht für man-
che zu viele Versprechungen, die nicht einlösbar waren;
auch wurden Menschen allein gelassen. Dennoch hat
sich das zentrale Versprechen der friedlichen Revolution
erfüllt, nämlich die Freiheit, die keine hohle Phrase ist.
Es kann schon sein, dass jemand doof findet, was das
Staatsoberhaupt sagt. Aber hier kommt man dafür nicht
in den Knast, sondern man kriegt seine Zeit in der Tages-
schau.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Freiheit, das ist das großartigste und wunderbarste
Geschenk, das wir bekommen haben. Es ist doch nicht
erstaunlich, dass Leute aus Krieg, Verfolgung, Unfrei-
heit und Vertreibung hierherkommen und diese Freiheit
mit uns teilen wollen. Freiheit gehört zu den Dingen, die
größer und mehr werden, wenn man sie teilt. 25 Jahre
danach können wir sie jeden Tag erleben, und vor 25
Jahren hätte ich jede Wette gemacht, dass ich niemals
hier stehen würde.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806400900

Der letzte Redner in dieser vereinbarten Debatte ist

der Kollege Arnold Vaatz.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1806401000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Gestatten Sie mir, mit einem Zitat zu beginnen:
Wir haben hier warme und sichere Unterkunft für jeden,
wir haben hier medizinische Betreuung, jeder wird satt,
und es gibt Arbeit für alle. – Das sagte der Strafvollzugs-
beamte, der uns am 23. Dezember 1982 in der Strafvoll-
zugseinrichtung Unterwellenborn begrüßte, zu uns. Das
heißt, es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die wichtig
sind für Menschen, die man aber in jedem Gefängnis be-
reitstellen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Marieluise Beck [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, das hat Herr Gysi richtig ge-
sagt: Ohne Freiheit sind alle diese Dinge nicht viel. Ich
füge dem hinzu: Sie sind nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Mauerfall, über den wir heute sprechen, ist ganz
wesentlich von jenen bewirkt worden, die im Sommer
1989 in Scharen die DDR verlassen haben, alles hinter





Arnold Vaatz


(A) (C)



(D)(B)

sich gelassen haben, überhaupt nicht an alle diese
Dinge gedacht haben, die heute den größten Teil unse-
rer politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepu-
blik Deutschland ausmachen, die nur eines wollten:
wenn nötig, mit dem nackten Leben den Zustand hinter
sich lassen, der sie einengt, der sie ihrer Selbstbestim-
mung und ihrer Würde beraubt. Das war das Ziel; das
haben sie erreicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das war der entscheidende Anstoß dafür, dass diese
Mauer fiel.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber auch
sagen: Der Mauerfall als solcher mag mit seinen Bildern
die ganze Welt fasziniert und in seinen Bann gezogen
haben; aber es war noch nicht der Durchbruch. Nach
dem Mauerfall erwartete uns alle in Ostdeutschland noch
härteste Arbeit, um tatsächlich der Demokratie zum
Durchbruch zu verhelfen; denn wie Sie vielleicht wis-
sen, hatten die Grenzbeamten damals Anweisung, einen
sogenannten Querulantenstempel in die Ausweise zu set-
zen. Was bedeutete das? Etliche bekamen die Stempel
aufs Passbild, mit der Absicht, sie nicht wieder rüberzu-
lassen, wenn sie wieder rüberkommen wollen. Das ist
verbürgt.

Das heißt, die Möglichkeit, die Mauer wieder zu
schließen, die Möglichkeit, 300 000 Menschen wegzu-
lassen und dann zu sagen, jetzt machen wir wieder zu,
und mit dem Rest werden wir leicht fertig, hat nach dem
Mauerfall theoretisch noch bestanden.

Aber, meine Damen und Herren, wir sind eben weiter
gegangen und haben dann versucht, die Strukturen zu
zerstören, die wesentlich waren, um genau den Zustand
DDR so lange Jahre aufrechtzuerhalten. Das Besondere
ist die Besetzung der Staatssicherheit, und das Beson-
dere ist, dass wir es dann geschafft haben, wirklich freie
Wahlen abzuhalten.

Meine Damen und Herren, was wir damals erlebt ha-
ben, sollte uns heute eine Mahnung sein, dafür zu sor-
gen, dass auch alle diejenigen sich unserer Solidarität si-
cher sein können, die aus einer ähnlichen Situation
herauswollen, aus der wir damals mit Erfolg herausge-
kommen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir waren in Ostdeutschland nicht in erster Linie die
Untertanen der SED. Wir waren über 40 Jahre lang die
Untertanen der Sowjetunion. Die SED hätte nicht bei
uns regieren können, wenn nicht ständig 500 000 russi-
sche Soldaten in den Kasernen als Besatzungsmacht an-
wesend gewesen wären.

Meine Damen und Herren, deshalb macht es mich be-
sonders nachdenklich, wenn ich einerseits vom Herrn
Bundestagspräsidenten höre, dass der sanftmütige und
freundliche Vaclav Havel unmittelbar vor den Ereignis-
sen in den Tschechoslowakei im Sommer 1989 wegen
Rowdytums eingesperrt war. Andererseits höre ich, wie
eine ganze Regierung, nämlich die in Kiew, pauschal als
faschistisch verunglimpft wird. Das ist dieselbe Ton-
lage, meine Damen und Herren, und diese Tonlage
möchte ich heute im wiedervereinigten Deutschland in
diesem Hause nicht mehr hören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir am Ende
mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, noch einen Vers
zu zitieren von unserem Freund Wolf Biermann, der uns
heute hier ein Lied gesungen hat. Er hat noch mehr ge-
dichtet, zum Beispiel die „Ballade vom gut Kirschen-
essen“. Da trifft er im Traum Robert Havemann und
schreibt dann:

Ich sang ihm die schönsten Lieder
Da wurde der Himmel plötzlich schwarz
Von tausendfachem Gefieder
Ein Schwarm flog in die kalte Nacht

(Vornweg das ganze Politbüro)

„Dem Abendrot, dem Abendrot, dem Abendrot ent-
gegen“
Gen Osten gegen den Wind anschrien
Im Flug die verzauberten Raben

Und jetzt kommt der entscheidende Satz.

Jetzt weiß ich: Sie haben uns alles verziehen
Was sie uns angetan haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie Abgeordnete des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN erheben sich)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806401100

Ich schließe diese denkwürdige Debatte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 9. November
1989 haben sich die Abgeordneten im Bonner Wasser-
werk spontan von ihren Plätzen erhoben und die Na-
tionalhymne angestimmt. Heute beenden wir unsere
Aussprache zu diesen historischen Ereignissen vereinba-
rungsgemäß mit dem Lied der Deutschen: Einigkeit und
Recht und Freiheit.


(Nationalhymne)


Vielen Dank. Ich unterbreche die Sitzung für drei Mi-
nuten, damit wir einen geordneten Schichtwechsel orga-
nisieren können. Wir setzen dann die Tagesordnung fort.


(Unterbrechung von 10.24 bis 10.28 Uhr)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806401200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene

Sitzung ist wieder eröffnet.

Ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen, damit wir
die Sitzung fortsetzen können. – Die, die noch dringend





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Unterhaltungen führen müssen, bitte ich, dies außerhalb
des Saales zu tun. – Vielen Dank.

Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
kommen wir noch zu einer nachträglichen Ausschuss-
überweisung. Interfraktionell ist vereinbart, den Ent-
wurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur weiteren
Entlastung von Ländern und Kommunen ab 2015 und
zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinderta-
gesbetreuung auf Drucksache 18/2586 nachträglich auch
an den Ausschuss für Arbeit und Soziales zu überwei-
sen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Einführung des Elterngeld
Plus mit Partnerschaftsbonus und einer
flexibleren Elternzeit im Bundeseltern-
geld- und Elternzeitgesetz

Drucksachen 18/2583, 18/2625

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend (13. Ausschuss)


Drucksache 18/3086


(8. Ausschuss)


Drucksache 18/3087

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner,
Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Echte Wahlfreiheit schaffen – Elterngeld fle-
xibler gestalten

Drucksachen 18/2749, 18/3086

Zu dem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich erteile jetzt der Bundesministerin Manuela
Schwesig das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Ich bin dem Deutschen
Bundestag sehr dankbar für die Feststunde heute zum
25. Jahrestag des Mauerfalls. Frau Katrin Göring-Eckardt
hat es bereits gesagt: Gerade wir, die in Ostdeutschland
groß geworden sind, fragen uns gelegentlich, was wäre,
wenn die Mauer nicht eingerissen worden wäre. – Ich
kann für mich sagen: Ich würde heute mit Sicherheit
nicht als Bundesfamilienministerin hier stehen können,
was ich sehr bedauern würde. Ich hoffe, einige von Ih-
nen auch.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich freue mich sehr, dass ich an diesem Tag die Gele-
genheit habe, das wichtige familienpolitische Projekt El-
terngeld Plus als ersten Schritt zur Familienarbeitszeit
mit Ihnen abschließend zu beraten. Ich möchte mich
ganz herzlich bedanken, weil ich schon in den parlamen-
tarischen Beratungen im Ausschuss gespürt habe, dass
es über Fraktionsgrenzen hinweg viel Unterstützung
gibt. Das ist ein gutes Signal.

Das ist auch ein gutes Signal für die Familien in
Deutschland. Im Januar hat mir eine Frau aus Leipzig
geschrieben:

Ich würde mich freuen, wenn das Elterngeld Plus
für mich greifen würde, weil das ein großer Anreiz
wäre, auch in Elternzeit meinen Teilzeitarbeitsplatz
zu behalten und nicht ganz auszusteigen.

Im Juli haben bei einer Allensbach-Befragung 67 Pro-
zent der Eltern mit Kindern unter drei Jahren gesagt:
„Das ElterngeldPlus ist eine gute Regelung.“ Heute ist
es so weit: Der Bundestag wird das Elterngeld Plus be-
schließen. Wir schlagen mit dem Elterngeld Plus ein
neues Kapitel in der Familienpolitik auf. Wir gehen ei-
nen Schritt in Richtung einer modernen Familienpolitik,
die berücksichtigt, dass Mütter und Väter Zeit für die Fa-
milie, aber auch gleichzeitig Zeit für den Job haben wol-
len.

Wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
stärken. Wir stärken damit allen jungen Eltern den Rü-
cken, die gemeinsam für ihre Kinder da sein und ihre be-
rufliche Entwicklung dafür nicht aufgeben wollen. Wir
bestärken Mütter und Väter darin, mit dem Elterngeld
Plus im Rücken früher in den Job zurückzukehren. Wir
stärken Mütter und Väter, die Familie und Beruf partner-
schaftlich vereinbaren wollen.

Die Frau, die mir im Januar geschrieben hat, ist Ma-
nagerin für Künstler, ihr Mann Kirchenmusiker. Sie
würde gern schon recht früh nach der Geburt ihres Kin-
des wieder in den Beruf einsteigen, aber in Teilzeit –
nicht zuletzt, weil sie ihre Arbeit auch gut von zu Hause
aus machen kann. Mit dem Elterngeld Plus kann sie das
tun und trotzdem ihren Elterngeldanspruch ausschöpfen.
Denn wer während des Elterngeldbezugs wieder ein-
steigt und Teilzeit arbeitet, bekommt doppelt so lange
Elterngeld Plus. Das ist der erste Vorteil des neuen Ge-
setzes.

Das Elterngeld Plus kommt den Bedürfnissen von El-
tern entgegen, die nach der Geburt ihres Kindes wieder
in den Job einsteigen wollen, aber eben in Teilzeit, um
auch Zeit für die Familie zu haben. Wenn auch der Mann
wieder in Teilzeit einsteigt oder seine Arbeitszeit redu-





Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)

ziert – je nachdem, in welcher Situation er ist –, wenn
sich also beide Zeit für das Kind nehmen, aber auch Zeit
in den Job investieren, dann gibt es Partnerschaftsboni.
Es gibt vier zusätzliche Elterngeld-Plus-Monate, wenn
beide während des Elterngeldbezugs Teilzeit arbeiten,
und zwar vier für den einen Partner und vier für den an-
deren Partner.

Der Partnerschaftsbonus ist der zweite Vorteil des El-
terngeld Plus. Partnerschaftlichkeit wird belohnt. Mehr
Partnerschaftlichkeit – damit ist das Elterngeld Plus ein
Schritt hin zu einer Familienarbeitszeit, eine Arbeitszeit
für Familien in Deutschland, die beides ermöglicht: Zeit
in den Job zu investieren, aber eben auch Zeit für Kinder
zu haben. Das wünschen sich Paare. 60 Prozent der
Paare mit Kindern unter drei Jahren wünschen sich, dass
beide Zeit für die Familie haben und eben auch Zeit für
die Kinder. Aber nur 14 Prozent der Paare schaffen es.

In Deutschland haben wir die Situation, dass fast alle
Männer Vollzeit arbeiten, aber als Väter die Arbeitszeit
gerne ein wenig reduzieren wollen. Und wir haben die
Situation, dass die meisten Mütter zwar im Job sind,
aber oft nur 19 Stunden arbeiten und gerne mehr arbeiten
möchten. Sie wünschen sich ein Modell, in dem sich die
Arbeitszeiten angleichen, partnerschaftlich auf Augen-
höhe und nicht starr vorgeschrieben in Form einer 30-,
32- oder 35-Stunden-Woche, sondern gemeinsam ausge-
handelt. So würde sich die Lücke allmählich schließen.
Das wünschen sich die Paare. Das wäre für die Paare
und ihr Familieneinkommen gut, aber auch für die Wirt-
schaft gut; denn bekanntlich ist zweimal 32 mehr als
einmal 40. Das haben Fachleute wie der DIHK-Chef
Schweitzer erkannt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein weiterer Schritt hin zur Familienarbeitszeit ist das
Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege
und Beruf, über das wir in einer Woche hier im Bundes-
tag beraten. Zur partnerschaftlichen Vereinbarkeit von
Beruf und Familie gehört natürlich auch eine gute, aus-
reichende und bedarfsgerechte Kinderbetreuung. Mit
dem neuen Kitagesetz beteiligt sich der Bund noch mehr
am Kitaausbau. Die Kommunen haben gestern bei der
Bund-Länder-Konferenz zum Thema frühkindliche Bil-
dung bestätigt, dass die Entwicklung schnell voran-
schreitet und wir weitere Kitaplätze in Deutschland
brauchen, insbesondere Ganztagsplätze. Ich freue mich
sehr, dass wir gestern mit den Ländern erstmalig in ei-
nem Kommuniqué schriftlich festgehalten haben, dass
wir uns auf den Weg machen wollen, gemeinsame Quali-
tätsstandards für die Kindertagesbetreuung zu entwi-
ckeln. Denn wir brauchen nicht nur eine ausreichende
Zahl an Plätzen, sondern auch gute Plätze.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Alleinerziehende profitieren genauso wie Elternpaare.
Das ist mir ganz wichtig; denn die Familienformen in
Deutschland sind bunt. Wir haben viele Alleinerzie-
hende, die tagtäglich einen harten Job in der Familie ma-
chen und gleichzeitig berufstätig sind. Das sind zu
90 Prozent Frauen. Aber auch die 10 Prozent alleinerzie-
hende Männer müssen beachtet werden. Es gibt ver-
schiedene Paarformen, ob nun Ehepaare, Paare ohne
Trauschein oder gleichgeschlechtliche Paare. Für alle
muss die Familienpolitik da sein. Das kommt im neuen
Elterngeld Plus zum Ausdruck. Alleinerziehende profi-
tieren vom neuen Elterngeld Plus genauso wie Familien,
egal ob sie gut, durchschnittlich oder wenig verdienen.
Alleinerziehende können ebenfalls den Partnerschafts-
bonus in Anspruch nehmen. Vier zusätzliche Elterngeld-
Plus-Monate – das gilt auch für Alleinerziehende. Ich
bin den Koalitionsfraktionen dankbar, dass sie auf meine
Bitte hin die Empfehlung der Länder aufgenommen ha-
ben, eine Verbesserung für die Alleinerziehenden im
parlamentarischen Verfahren zu erreichen. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt und ein Signal an die Alleinerzie-
henden in unserem Land. Wir stärken ihnen den Rücken
und wollen, dass sie genauso gut von der neuen Fami-
lienpolitik profitieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bin auch für eine wichtige Ergänzung aus dem
parlamentarischen Verfahren dankbar, nämlich für die
sogenannte Zustimmungsfiktion. Wenn der Arbeitgeber
auf einen Teilzeitantrag in der Elternzeit nicht innerhalb
einer bestimmten Frist reagiert, gilt die Zustimmung als
erteilt. Das ist gut. Damit haben die Eltern Planungssi-
cherheit. Herzlichen Dank dafür!


(Beifall bei der SPD)


Eine weitere Verbesserung, die wir heute schaffen, ist
die Flexibilisierung der Elternzeit. Es gibt auch später im
Leben eines Kindes, also nach dem dritten Lebensjahr,
Phasen, in der die Eltern eine Auszeit brauchen. Das
kann zum Beispiel die Zeit der Einschulung sein. Es ist
wichtig, dass sich die Eltern auch dann Zeit nehmen
können. Deshalb wird es künftig möglich sein, bis zu
24 Monate einer Elternzeit bis zum 8. Lebensjahr des
Kindes zu nehmen. Eltern erhalten damit mehr Zeit und
mehr Flexibilität bei der Betreuung und der Unterstüt-
zung ihrer Kinder, eben dann, wenn es die Familie
braucht.

Zum Ausgleich wird den Unternehmen die Möglich-
keit eingeräumt, bei der Anmeldung des dritten Eltern-
zeitabschnitts dringende betriebliche Gründe ins Feld zu
führen. Das zeigt, dass wir versuchen, die Balance zwi-
schen den Notwendigkeiten aufseiten der Arbeitgeber
und den Wünschen der Familien zu halten. So lautet
mein Wunsch und Appell an alle Arbeitgeber, nicht nur
der Wirtschaft, sondern auch der Wissenschaft und des
öffentlichen Bereichs: Wir als Politiker können zwar
gute Gesetze machen, wir können auch die Familien fi-
nanziell gut unterstützen, aber wir brauchen die Bereit-
schaft der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, auch auf
die Situation der Familien Rücksicht zu nehmen! Die
Familien in unserem Deutschland haben eine arbeits-
freundliche Arbeitswelt verdient. Sie brauchen diese ar-
beitsfreundliche Welt. Das Gute daran ist: Beide profitie-
ren, die Familien und die Arbeitgeber.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)






Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, der
Wandel der Bedürfnisse junger Eltern, der Wunsch nach
mehr Partnerschaftlichkeit ist eine Entwicklung, die das
Elterngeld mit in Gang gesetzt hat. Die Familienpolitik
hält mit dieser Entwicklung Schritt. Mit dem Elterngeld
Plus machen wir das Elterngeld moderner, schlagen wir
ein neues Kapitel auf. Die neuen Regelungen zum El-
terngeld Plus und zu der Elternzeit gelten für alle Eltern,
deren Kinder ab dem 1. Juli 2015 geboren werden. Inso-
fern hoffe ich, dass jetzt einige Paare in Deutschland zu-
hören und es sich vielleicht überlegen. Es ist jetzt die
richtige Zeit.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich brauche das nicht zu konkretisieren. Ich glaube, alle
wissen, was gemeint ist. Wenn Sie, Herr Weinberg, noch
Nachhilfe brauchen, dann rufen Sie das noch einmal in
den parlamentarischen Ausschussberatungen auf.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, ich
möchte mich ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit
im parlamentarischen Verfahren bedanken. Das sage ich
an die Adresse der Koalitionsfraktionen, das sage ich
aber auch ausdrücklich zu den Oppositionsfraktionen.
Ich freue mich auch sehr, dass die Fraktion der Grünen
im Ausschuss ebenfalls dafür gestimmt hat. Das ist ein
Zeichen dafür, dass man auch über Fraktionsgrenzen
hinweg zusammen gute Dinge machen kann, und das ist
das, was die Familien in Deutschland brauchen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806401300

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der

Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806401400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Frau Ministerin, in der Tat, auch ich hätte es be-
dauert, wenn Sie als Familienministerin nicht hier wä-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD)


Das darf man ruhig einmal sagen.

Aber der Rest ist dann nicht mehr so schön; denn zwi-
schen der ersten Lesung und heute haben sich die Hoff-
nungen meiner Fraktion, was die Ausschussberatungen
angeht, doch nur partiell erfüllt. Ich kann auf das Gesetz
in Gänze jetzt nicht eingehen; dazu fehlt mir die Zeit. Ich
will einige Knackpunkte nennen.

Kommen wir zum Positiven. Damit bin ich schnell
fertig.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Na, na!)

Die Flexibilisierung der Elternzeit ist an sich eine
schöne Sache. Auch wir haben sie schon immer gefor-
dert, aber nicht nur die Flexibilisierung der Elternzeit,
sondern auch des Elterngeldes. Das ist hier leider unter-
blieben. Es ist versäumt worden, beim Elterngeld den
Geldanspruch zu flexibilisieren. Allein die Elternzeit
auszuweiten, reicht eben gerade nicht; denn so können
sich das nur Eltern mit einem sehr guten Einkommen
leisten.

Auch zu den Alleinerziehenden haben Sie, Frau
Schwesig, schon etwas gesagt. Es ist schön – das findet
auch meine Fraktion –, dass die Anspruchsvoraussetzun-
gen für die Alleinerziehenden in Bezug auf die Partner-
monate geändert wurden. Anfangs war das an das allei-
nige Sorgerecht geknüpft. Das ist von allen kritisiert
worden. Den Anspruch nunmehr an die Bedingung des
Vorliegens der Voraussetzungen der Steuerklasse II zu
knüpfen, ist in Ordnung. Das wurde auch im Rahmen der
Anhörung von den Sachverständigen empfohlen und von
der Regierung übernommen.

Allerdings wurden andere Empfehlungen aus der
Sachverständigenanhörung eben nicht aufgegriffen, so
zum Beispiel die Anrechnung beim Arbeitslosengeld-II-
Bezug. Die Bundesregierung lässt hier erneut eine Mög-
lichkeit verstreichen, die Anrechnung von Elterngeld auf
Transferleistungen zurückzunehmen. Die Anrechnung
führt vielfach dazu, dass insbesondere Alleinerziehende
und ihr Kind im ersten Jahr nach der Geburt in Armut le-
ben. Auch Familien mit geringem Einkommen wäre eine
entsprechende Änderung entgegengekommen


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und hätte somit den vielfach zitierten Schonraum für Fa-
milien allen Eltern ermöglicht. Aber das konnte leider in
den Beratungen nicht erreicht werden, obwohl sich der
Verband alleinerziehender Mütter und Väter und auch
der Familienbund der Katholiken für eine Anrechnungs-
freiheit ausgesprochen haben. Auch die evangelische ar-
beitsgemeinschaft familie kritisiert die fehlende sozial
gerechte Wirkung des Elterngeldes. Alle Rufer in der
Wüste.

Es stimmt eben nicht, wie von der CDU/CSU in der
ersten Lesung behauptet, dass das Elterngeld Schonraum
schaffe. Schonraum für bestimmte Familien – ja. Aber
gerade die Familien, die es am dringendsten brauchten,
bleiben wieder außen vor. Dabei war es – daran möchte
ich einmal erinnern – eines der Wahlversprechen der
SPD, den Sockelbetrag des Elterngeldes wieder anrech-
nungsfrei zu stellen. Versprochen – gebrochen. Das vor-
liegende Gesetz jedenfalls bietet diesbezüglich keine
Grundlage, um die Kinderarmut, Elternarmut und Fami-
lienarmut im Lande wirksam zu bekämpfen.

Zu den Mehrlingsgeburten. Mit der, wie es heißt, ge-
setzlichen Präzisierung soll dem Urteil des Bundesso-
zialgerichts nachgekommen werden, indem festgelegt
wird, dass bei Mehrlingsgeburten nur ein Elterngeldan-
spruch entsteht. Somit entsteht künftig ein Elterngeldan-
spruch pro Geburt und nicht pro Kind. Das Urteil des
Bundessozialgerichts hat aber eindeutig und mit allen ju-





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)

ristischen Auslegungsmethoden festgestellt, dass bei
Mehrlingsgeburten pro Kind ein Elterngeldanspruch ent-
steht. Insbesondere aus der Historie dieses Gesetzes lässt
sich das eindeutig ableiten. Ich habe das Urteil des Bun-
dessozialgerichts hier vorliegen, und ich möchte einmal
aus den Entscheidungsgründen zitieren:

Ab dem 1.1.2007 ist das Bundeselterngeld an die
Stelle des Bundeserziehungsgeldes getreten …

In diesem war geregelt,

dass für jedes … Kind Erziehungsgeld gewährt
werde, falls in einem Haushalt mehrere Kinder be-
treut und erzogen würden … Zu dieser Vorschrift
hat das BSG

– und zwar schon 2006 –

entschieden, dass es sich beim Erziehungsgeld für
Zwillingskinder nicht um einen einheitlichen, son-
dern um zwei getrennte Ansprüche handelt …

Den Gesetzgebungsmaterialien zum BEEG

– also zum Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz –

lässt sich entnehmen, dass jeder Elternteil einen El-
terngeldanspruch für ein Kind erhalten sollte …
Die Absicht einer Anspruchsbegrenzung bei Mehr-
lingen ist nicht erkennbar.

Erst mit einer nicht näheren Bemerkung in der Be-
gründung zur Einführung dieses Gesetzes wird davon
ausgegangen, dass keine mehrfache Leistungsgewäh-
rung vorgesehen ist. Begründet wird das nicht. Wie da
jetzt von einer entsprechenden Intention des Gesetzes
geredet werden kann, erschließt sich mir nicht. Denn
auch bei der Aufnahme eines Kindes in den Haushalt mit
dem Ziel der Annahme dieses Kindes während laufen-
den Elterngeldbezugs entsteht ein neuer Elterngeldan-
spruch. Also Elterngeld nur bei Annahme eines Kindes,
aber nicht bei den eigenen leiblichen Kindern? Das er-
klären Sie einmal den Eltern von Zwillingen. Dem Sinn
und Zweck dieses Gesetzes entspricht es jedenfalls nicht;
das stellt ja auch das Bundessozialgericht so fest.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Erhöhungsbetrag, der notwendig ist, ist zwar sehr
schön, aber der Mehrlingsanspruch ersetzt nicht das El-
terngeld als solches.

Warum wird das so geregelt? Ich habe es schon in der
ersten Lesung so gesagt und ich möchte es hier noch ein-
mal tun: Es sind reine Kostengründe, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Aus einem Antwortschreiben des Famili-
enministeriums vom 6. August 2014 ergibt sich das ganz
klar. Da heißt es nämlich: Die Einsparungen bei den
Mehrlingsgeburten sollen dazu dienen, den Partner-
schaftsbonus zu finanzieren. – Den einen wird also et-
was weggenommen, um es den anderen zu geben. So ist
es tatsächlich: Mehrausgaben in Höhe von 75 Millionen
Euro bei den Partnermonaten stehen Einsparungen in
Höhe von 100 Millionen Euro bei den Eltern von Mehr-
lingen entgegen.

Zur Teilzeit. Eltern müssen ihren Anspruch auf Teil-
zeit – richtiger wäre es eigentlich, von Wunsch nach
Teilzeit zu reden – dem Arbeitgeber 13 Wochen vor Teil-
zeitbeginn mitteilen. Sie haben schon von der Fiktions-
frist gesprochen, Frau Schwesig. Sie haben allerdings
nicht den Zeitraum benannt. Denn der Arbeitgeber hat
dann wohlweislich acht Wochen Zeit, darauf zu reagie-
ren; das ist diese Fiktionsfrist. Das heißt, die Eltern müs-
sen ihren Anspruch anmelden, und dann können sie bis
zu acht Wochen warten, ob der Arbeitgeber sich rührt.
Erst dann, wenn er innerhalb dieser acht Wochen nicht
widersprochen hat, gilt es als genehmigt. Wenn der Ar-
beitgeber widerspricht, können die Eltern notfalls noch
klagen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Vier Wochen!)


– Acht Wochen sind es, lieber Paul. Bei Kindern, die äl-
ter als drei Jahre sind, sind es acht Wochen. Ja, ich kenne
sogar die Gesetze, über die wir hier reden.


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Sollten Sie auch! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ach, Sie sind das!)


Für die Eltern ist es aufgrund der Länge dieser Frist
ganz schwierig, Planungssicherheit zu erlangen. Aber
warum das so ist, wurde im Ausschuss durch die SPD ja
schon ausgeführt. Da hieß es nämlich – ich zitiere –, es
handele sich um ein wirtschaftsfreundliches Gesetz. –
Eigentlich sollte es doch eher familienfreundlich sein.


(Beifall bei der LINKEN – Sönke Rix [SPD]: Es kann auch beides sein! Das muss kein Gegensatz sein!)


Hier hätte die Regierung gestalten können. Die gestalte-
rische Wirkung von Gesetzen, so schreibt Professor Wil-
lutzki, ist nicht in Abrede zu stellen.

Der Korridor für Alleinerziehende ist nach wie vor zu
eng, als dass diese vermehrt in den Genuss von Bonus-
monaten kommen. Auch das wurde in der Anhörung sei-
tens der Sachverständigen bemängelt.

Und wo der große Unterschied zwischen „zwischen
15 und 30 Wochenstunden“ und „nicht weniger als 15
und nicht mehr als 30 Wochenstunden“ liegt, das muss
mir mal einer erklären. Zwischen Elternzeitstunden oder
Arbeitsstunden von verheirateten oder zusammenleben-
den Eltern auf der einen Seite und von Alleinerziehen-
den auf der anderen Seite ist kein Vergleich zu ziehen.

Wo ist denn jetzt der große Wurf, der das „Plus“ in
diesem Gesetz verdient? Es gibt einige Verbesserungen,
die wenige Familien treffen, aber kaum Verbesserung
der Situation Alleinerziehender, keine Verbesserung für
Familien im ALG-II-Bezug, Schlechterstellung von
Mehrlingseltern, fehlende Planungssicherheit. Bei allem
Respekt, liebe Kollegen: Allein wegen der Flexibilisie-
rung kann meine Fraktion diesem Gesetz nicht zustim-
men.

Aber keine Sorge, jeder kriegt seine zweite Chance:
Sie können alle die Versäumnisse beheben, indem Sie
einfach unserem Entschließungsantrag zustimmen, der
all das korrigiert. Und die Welt ist wieder in Ordnung.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806401500

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Marcus Weinberg,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1806401600

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Ich will gern das Historische aufgreifen. Auch wenn die
Reichweite der Debatte, die wir vorhin geführt haben,
mit der Reichweite der Debatte, die wir jetzt führen,
nicht ganz übereinstimmt, wäre es doch interessant, sich
als Historiker einmal zu überlegen: Wie haben sich in
den letzten fünf oder sechs Jahrzehnten eigentlich die
Wünsche der Familien verändert? Übrigens glaube ich,
dass es da zwischen Leipzig, Berlin, Stendal, Hamburg
und München keinen Unterschied gibt.

Während in den 50er- und 60er-Jahren zunächst ein-
mal der Wunsch nach einer Wohnung kam, dann der
Wunsch nach einer größeren Wohnung, nach einem
Auto, nach einem Urlaub in Italien, im Laufe der Jahr-
zehnte auch der Wunsch nach einem zweiten Auto, einer
zweiten Waschmaschine, möglicherweise einem Com-
puter, ist die Situation heute eine andere. Wer heute
junge Familien fragt: „Was ist Ihnen eigentlich wichtig?
Was ist Ihr größter Schatz, Ihre Ressource?“, der hört
immer häufiger: Zeit. – Zeit wird in Zukunft eine bedeu-
tende Rolle für Familien spielen, weil sich viele junge
Mütter und Väter sagen: Die Stunde, die ich heute nicht
arbeite, kann ich eines Tages nachholen; aber die Mi-
nute, die ich jetzt nicht mit meinem Kind verbringe, ist
verloren.


(Zustimmung der Abg. Susann Rüthrich [SPD])


Deswegen gibt es diesen Wechsel bei den Paradigmen.
Eltern sagen heute: Ich würde auf vieles verzichten,
wenn ich mehr Zeit gemeinsam mit meiner Familie ver-
bringen könnte.

Ein Gedankengang bei der Entwicklung des Eltern-
geldes war, dieser Veränderung Rechnung zu tragen. Das
Elterngeld als Vorläufer der heute zu diskutierenden
Weiterentwicklung war ein Maßstab und, so glaube ich,
auch ein Leuchtturm im Bereich der Familienpolitik.
Wir haben in der damaligen Großen Koalition gesagt: Es
wird wichtig sein, die erste Phase nach der Geburt eines
Kindes so zu gestalten, dass Familien Sicherheit haben,
finanzielle Sicherheit haben, damit sie die Erwerbstätig-
keit auf der einen Seite und die Zeit für die Familie auf
der anderen Seite besser miteinander kombinieren kön-
nen; es geht also um die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf.

Dass dieses Elterngeld ein Erfolgsmodell war, sieht
man an den Zahlen und daran, dass wir mittlerweile
deutlich über 5 Milliarden Euro jährlich für das Eltern-
geld ausgeben. Dass mittlerweile auch mehr Väter die
Monate für den Partnerschaftsbonus in Anspruch neh-
men, ist ebenfalls ein Indiz für den Erfolg. Im Übrigen
wissen wir als Familienpolitiker, dass das Geld, das wir
ausgeben – demnächst möglicherweise bis zu 6 Milliar-
den Euro –, andere erwirtschaften müssen. Daher besteht
für uns die Verantwortung, mit den Geldern sachgerecht
umzugehen, um den größtmöglichen Mehrwert und da-
mit auch den größten gesellschaftlichen Nutzen zu erzie-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bereits angesprochen wurde, dass sich die Lebensbe-
dingungen immer weiterentwickeln. Gerade in den letz-
ten Jahren beobachten wir zwei wesentliche Entwicklun-
gen. Familienleitbilder, sowohl die gelebten als auch die
Bewertungen dazu, haben sich verändert. Es gibt – das
kann man monieren oder auch nicht, aber es ist Realität
in der Gesellschaft – Ehepaare mit Kindern, Alleinerzie-
hende mit Kindern, nicht miteinander verheiratete Paare
mit Kindern. Es besteht also eine größere Vielfalt. Das
ist die eine große Veränderung, auf die wir reagieren
müssen, auch mit den Angeboten.

Die zweite Entwicklung ergibt sich bei der Definition
der Rollenbilder oder Rollenkonstellationen im Rahmen
der Familienleitbilder. Es ist tatsächlich so, dass sich 60
Prozent der Eltern wünschen, partnerschaftlich, gemein-
sam mehr Zeit mit der Familie und für die Familie zu
verbringen. Es ist so, dass 81 Prozent der jungen Men-
schen mittlerweile der Ansicht sind, dass beide Eltern-
teile gleichermaßen für das Familieneinkommen verant-
wortlich sind. Es ist so, dass mehr junge Väter ihre
Arbeitszeit gern reduzieren wollen und mehr junge Müt-
ter gern etwas mehr arbeiten wollen als derzeit. Die
Menschen wollen also die Rollenbilder ändern, hin zu
mehr Partnerschaftlichkeit. Ich glaube, dass das Eltern-
geld Plus jetzt genau die richtige Antwort auf diese Ent-
wicklung ist.

Wir als Union hielten es immer für richtig und haben
es auch immer gesagt, dass wir die Familien in verschie-
denen Lebensphasen und verschiedenen Lebenssituatio-
nen mitnehmen und verlässliche Rahmenbedingungen
schaffen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dabei gelten für uns zwei Grundsätze:

Erstens geht es uns darum, die Eigenverantwortung
und die Selbstbestimmtheit der Familien zu achten und
zu stärken. Bei jeder Diskussion heißt es ja: Sie haben
das doch gelesen, beim Betreuungsgeld und bei den Ki-
taplätzen wollen die Eltern gerne das und das. – Das zu
bewerten steht uns nicht zu. Wir müssen Familien stär-
ken. Und das heißt, zuerst kommen die Eltern und die
Familie, und dann kann man überlegen, an welcher
Stelle der Staat möglicherweise eingreifen kann. Aber
im engeren Sinne gilt: Unser Blick richtet sich auf die
Familien.

Das heißt zweitens für uns auch, dass wir Vertrauen
haben müssen, dass Familien richtige Entscheidungen
treffen. In den Fällen, in denen das nicht der Fall ist,
wird der Staat auch eingreifen. Aber zunächst einmal
sollten wir positiv auf Familien zugehen und ihnen Ver-
trauen entgegenbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

In dem Elterngeld Plus sind vier Komponenten als
zentrale Punkte zur Weiterentwicklung aufgenommen.

Die erste ist die Flexibilisierung bei der Zeit, damit
man zum Beispiel selbstbestimmt sagen kann: In meiner
jetzigen besonderen Familiensituation kombiniere ich
das Basiselterngeld mit dem Elterngeld Plus. – Ich
möchte früher wieder in den Beruf zurückkehren. – Ich
möchte länger Teilzeit arbeiten. – Ich möchte mein Kind
länger betreuen. – Das ist also in einem engeren Sinne
eine Flexibilisierung der Möglichkeiten.

Zweitens – das wurde angesprochen –: Wenn Partner-
schaftlichkeit gewünscht wird, dann muss man sie auch
fördern. Das geschieht mit dieser Regelung, nach der El-
tern pro Woche 25 bis 30 Stunden parallel arbeiten kön-
nen. Das muss man natürlich nicht in Anspruch nehmen,
aber wenn die Eltern es wollen, dann ist das auch eine
Chance für – weitestgehend – junge Männer, tatsächlich
mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Das ist,
glaube ich, eine gute Gelegenheit, um das traditionelle
Bild der Familien wiederherzuleiten. Kollege Wunderlich,
das muss in diesem Rahmen passieren. Denn aktuell ar-
beiten Mütter im Durchschnitt 16 Stunden pro Woche,
Väter knapp über 40 Stunden. Wenn man, wie Sie es
vorgeschlagen haben, diesen Rahmen wieder erweitert,
dann bleibt es doch bei der alten Struktur: Die Mütter ar-
beiten ein bisschen; die Väter arbeiten ganztags. Deswe-
gen haben wir uns klugerweise auf diese 25 bis 30 Stun-
den geeinigt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Um Alleinerziehende ging es mir!)


Die Flexibilisierung der Elternzeit – das ist die dritte
Komponente – wurde schon angesprochen. Das muss
man in der Konsequenz auch anbieten. In welcher Form
das in besonderen Situationen in Anspruch genommen
wird, bleibt sicherlich offen. Ich will nur an die Situation
der Trennung der Eltern erinnern. In diesem Fall ist es
möglicherweise gut, wenn die Möglichkeit besteht, dass
ein Elternteil noch Elternzeit nehmen kann, damit einer
besonderen Situation mit besonderen Auswirkungen für
das Kind begegnet werden kann.

Die Regelung zu den Mehrlingsgeburten – das ist die
vierte Komponente – haben wir häufig diskutiert, Kol-
lege Wunderlich. Dazu sage ich noch einmal: Das El-
terngeld ist eine Lohnersatzleistung. Kindergeld bekom-
men die Eltern für jedes Kind. Aber das Elterngeld ist
eine Lohnersatzleistung und kann sich deshalb nicht
nach der Anzahl der Kinder richten. Das wäre nicht nur
systemfremd, das wäre auch unlogisch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Es liegen drei wesentliche Änderungsanträge vor, die
bereits angesprochen worden sind.

Erstens wurde richtigerweise die Feststellung getrof-
fen, dass es natürlich nicht sein kann, dass wir zwischen
Alleinerziehenden mit alleinigem Sorgerecht und Allein-
erziehenden mit gemeinsamem Sorgerecht differenzie-
ren. Deshalb haben wir nach den Diskussionen und
Gesprächen – auch im Nachgang zur Anhörung – ent-
schieden, diese Regelung zu verändern. Das war eine
gute und richtige Entscheidung für den Bereich der Al-
leinerziehenden.

Zweitens. Die Regelung zur Zustimmungsfiktion er-
leichtert – das stellt man auch fest, wenn man die heutige
Struktur einer Struktur mit der Zustimmungsfiktion ge-
genüberstellt – die bürokratischen Abläufe: Wenn in vier
bzw. in acht Wochen niemand widerspricht, gilt das als
genehmigt. Jetzt gibt es ein sehr kompliziertes Verfah-
ren, das teilweise auch ein Problem für die Arbeitgeber
darstellt. Diese Regelung ist, glaube ich, im Sinne einer
Vereinfachung gut und wichtig. Festzuhalten ist auch:
Das bedeutet keine rechtliche Schlechterstellung der Ar-
beitgeber.

Der dritte Punkt betrifft den Bereich der Wirtschaft.
Wenn wir festlegen, dass die Elternzeit in drei Blöcke
eingeteilt werden kann, dann muss auch berücksichtigt
werden, inwieweit das gegenüber dem Arbeitgeber noch
vertretbar ist. Er muss ja auch Planungssicherheit haben.
Er muss ja auch wissen, wie es zukünftig in seinem klei-
nen mittelständischen Betrieb aussieht. Deshalb ist es,
glaube ich, richtig, dass wir die Regelung implementiert
haben, dass der Arbeitgeber das Recht hat, einen dritten
Block der Elternzeit aus betrieblichen Gründen abzuleh-
nen. Damit haben wir sowohl den Wünschen der Arbeit-
geber als auch gesellschaftlichen Veränderungen Rech-
nung getragen. Das war gut und richtig.

Zum Schluss möchte ich noch etwas zur Akzeptanz
von Familienpolitik und auch von Leistungen der Fami-
lienpolitik sagen. Wir sollten immer sehen, dass das, was
wir investieren, was wir für die Familien tun, auch ir-
gendwo herkommen muss. Noch einmal: Es gibt Leucht-
türme in der Familienpolitik der letzten acht, neun Jahre,
die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-
land zuvor nicht gegeben hat. Ich nenne den gesamten
Bereich des Ausbaus der Kindertagesbetreuung – jetzt
mit der neuen Stufe der Qualitätssicherung –, den ge-
samten Bereich der Elternzeit und auch die Frage, wie
flexibel Familienzeiten gestaltet werden können. Das
muss aber auch für die Wirtschaft machbar und mit der
wirtschaftlichen Entwicklung kombinierbar sein. Vor
diesem Hintergrund war es für uns immer wichtig, klar
zu sagen: Wir wollen keine arbeitsgerechte Familien-
welt, sondern eine familiengerechte Arbeitswelt. Aber
das alles muss mit der Wirtschaft abgestimmt werden,
und die Wirtschaft muss auch unterstützt werden.

Es ist gut für die Unternehmen und den Standort,
wenn Teilzeitwünsche stärker berücksichtigt werden;
denn früher sind Frauen und Männer teilweise gar nicht
oder erst nach Jahren in den Beruf zurückgekehrt. Jetzt
können die Unternehmen die Fachkräfte über diese Teil-
zeitregelung behalten. Es ist ja eines der Hauptziele des
Elterngeldes, dass Fachkräfte, die ja benötigt werden,
dem Betrieb erhalten bleiben. Das Gute für diese Fach-
kräfte ist wiederum, dass sie in der Frage der Vereinbar-
keit von Erwerbstätigkeit und Familienzeit eine bessere
Möglichkeit der Einteilung bzw. Flexibilisierung haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Das Ganze ist ein Standortfaktor für Unternehmen und
für Deutschland; denn – so könnte man einfach sagen –
zufriedene Arbeitnehmer sind auch gute Arbeitnehmer.
Es muss gelingen, die Probleme der jungen Familien zu
berücksichtigen.

In der Debatte, die momentan geführt wird, hören Sie
immer wieder die Frage: Wie schaffe ich es, das mitei-
nander zu verbinden? Die Arbeitgeber sollten das durch-
aus positiv sehen und aufgreifen; denn es ist ein Stand-
ortfaktor. Dort, wo Betriebskindergärten existieren, wo
Arbeitgeber sich im Sinne der Familienförderung um
ihre Mitarbeiter bemühen, werden schneller Fachkräfte
gewonnen, als wenn das nicht der Fall ist.

Ich freue mich sehr, dass wir heute das Elterngeld
Plus verabschieden, eine gute und richtige Maßnahme
für die Familien, eine gute und richtige Maßnahme für
uns in Deutschland. Um auf den historischen Kontext zu
kommen: Ich glaube, damit kommen wir den neuen
Wünschen junger Familien nach. Das ist auch unsere
Aufgabe.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806401700

Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-

nen spricht jetzt Dr. Franziska Brantner.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Damen und Herren auf der Tribüne! Ich würde
gerne den Blick – heute Morgen haben wir ihn zurückge-
wandt – nach vorne richten und fragen: Wenn in 25 Jah-
ren hier die dann 25- oder 26-Jährigen sitzen, was wer-
den sie uns sagen? Wie sind sie aufgewachsen? Hatten
ihre Eltern genügend Zeit für sie, oder hatten sie nicht
genügend Zeit für sie? Ich glaube, das ist der historische
Maßstab, nach dem wir uns heute in dieser Debatte zu
richten haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Frau Schwesig, Sie gehen mit Ihrem Gesetz in die
richtige Richtung. Die Schritte sind richtig; aber leider
gehen Sie nur den halben Weg. Sie nehmen auf diesem
Weg keineswegs alle Kinder und ihre Eltern mit. Wer
seine Arbeitszeit nur um wenige Stunden reduziert, wird
benachteiligt. Alleinerziehende werden es schwer haben,
diesen starren Korridor von 25 bis 30 Wochenstunden
einzuhalten. Und das Elterngeld wird weiterhin voll auf
das ALG II angerechnet.

Der vorliegende Gesetzentwurf behebt richtigerweise
einen Webfehler der alten Elterngeldregelung: Wenn El-
tern sich das Elterngeld aufteilen und dabei in Teilzeit
arbeiten, werden sie in Zukunft nicht mehr bestraft. Au-
ßerdem – auch das finde ich wichtig – kann ein größerer
Anteil der Elternzeit in einer späteren Phase genutzt wer-
den, wenn das Kind schon älter ist. Aufgrund dieser Ver-
besserungen, die unserer Meinung nach in die richtige
Richtung gehen, werden wir dem Gesetz zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Aber es ist eine verpasste Chance, wenn wir nur den
halben Weg gehen. In Ihrem Modell, Frau Schwesig,
verstecken sich zwei gegensätzliche Anreize: Der Part-
nerschaftsbonus setzt auf der einen Seite einen Anreiz
für eine große Teilzeit. Er animiert vor allem Frauen
– das haben Sie erwähnt –, mehr zu arbeiten. Auf der an-
deren Seite lohnt sich in Ihrem Modell eine große Teil-
zeit für diese Frauen auf Dauer nicht; denn dadurch kön-
nen Eltern das Elterngeld nicht länger beziehen, auch
wenn sie es tatsächlich weniger ausschöpfen als bei einer
kleinen Teilzeit. Wenn sie Halbzeit arbeiten, bekommen
sie jetzt doppelt so lange Elterngeld, wenn sie ihre Ar-
beitszeit nur um ein Viertel reduzieren, aber auch nur
doppelt so lange. Das ist doch eindeutig ein Anreiz, nur
Halbzeit zu arbeiten und auf eine große Teilzeit zu ver-
zichten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem nehmen Sie nicht alle mit: Für Alleinerzie-
hende mit Kind wird es schwierig sein, den engen Korri-
dor von 25 bis 30 Wochenstunden Arbeitszeit einzuhal-
ten, um zusätzlich vier Monate Elterngeld zu erhalten.
Das haben uns auch alle Sachverständigen in der Anhö-
rung so bestätigt. Es wird schwierig sein, gerade wenn
man mehr als ein Kind hat und alleinerziehend ist, die-
sen Korridor zu schaffen.

Deswegen schlagen wir Grüne ein Modell vor, das El-
tern ermöglicht, den Bezug von Elterngeld wirklich fle-
xibel zu gestalten und über einen längeren Zeitraum zu
strecken; denn wenn eine Mutter oder ein Vater die Ar-
beitszeit nur zu einem Viertel reduziert, sollten sie vier-
mal so lange Elterngeld bekommen und sich damit auch
Zeit für eine spätere Lebensphase des Kindes aufsparen
können.

In unserem grünen Modell muss sich eine alleinerzie-
hende Mutter nicht an einen starren Korridor halten, son-
dern sie kann schrittweise wieder in den Beruf einsteigen
und kann sich dabei noch bis zum 14. Lebensjahr des
Kindes Zeit aufheben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Achte Familienbericht, den wir nachher diskutie-
ren, sagt nämlich eindeutig:

Die zeitliche Begrenzung der Übertragbarkeit der
Elternzeit durch den Zeitpunkt der Vollendung des
achten Lebensjahres ist sachlich unbegründet.

Es gibt dafür keinen Grund, auch nicht zu einem späte-
ren Zeitpunkt. Auch bei einem Wechsel auf eine weiter-
führende Schule besteht Betreuungsaufwand. Außerdem
wäre es eine Chance gewesen, die ALG-II-Empfänger
nicht mehr schlechter zu stellen und die Änderungen, die
unter Ministerin Schröder gemacht wurden, rückgängig
zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörn Wunderlich)






Dr. Franziska Brantner


(A) (C)



(D)(B)

Erlauben Sie mir am Ende einen Kommentar zu dem
Kitagipfel. Sie haben es selber angesprochen. Kitaquali-
tät ist extrem wichtig. Für uns war der Gipfel gestern
enttäuschend. Bei der Kitaqualität kann man eindeutig
sagen: Ohne Moos nix los! Wenn Sie mit leeren Taschen
kommen, dann wird es die Qualität nicht steigern. Ich
appelliere an Sie – gestern sprach Herr Schäuble von
10 Milliarden Euro als Investitionen in die Zukunft –:
Kämpfen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, um mindestens 3 Milliarden Euro für die Kitas!
Gibt es bessere Investitionen in die Zukunft als die in
unsere Kinder?

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806401800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Sönke Rix, SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1806401900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Natürlich, liebe Grüne, mehr geht immer. Das ist gar
keine Frage.


(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Besser geht! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Dann macht es doch!)


Was wir hier mit dem Elterngeld Plus machen, ist ein
weiterer wichtiger, großer und guter Schritt für eine Fa-
milienarbeitszeit.


(Beifall bei der SPD)


Ich finde es gut, dass hier Konsens besteht, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen.

Wenn wir schon dabei sind, darüber zu reden, was
Konsens im Haus ist und wie solche gesellschaftspoliti-
schen und familienpolitischen Debatten normalerweise
hier ablaufen, finde ich es begrüßenswert, dass wir hier
mehr um das Wie als um das Ob diskutieren. Das ist bei
anderen gesellschaftspolitischen und familienpolitischen
Debatten, die wir hier führen – Stichwort: Ehegatten-
splitting, Betreuungsgeld usw. –, nicht immer der Fall.
Deshalb bedanke ich mich, dass dieser Konsens zu den
Instrumenten Elterngeld und Elternzeit schon über Jahre
besteht.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Das Elterngeld ist zuerst eine Idee gewesen von
Renate Schmidt zum Ende der Wahlperiode 2005 und
hat dann seinen Weg in das Wahlprogramm der SPD ge-
funden. Es ist in der Großen Koalition auf Zustimmung
gestoßen. Wir haben gemeinsam beschlossen, das El-
terngeld und die Elternzeit einzuführen. Frau von der
Leyen hat das mit großem Einsatz und großer Begeiste-
rung gemacht, aber nicht ohne ein weiteres Instrument
der Großen Koalition – das war sehr wichtig – auf den
Weg zu bringen, nämlich den Ausbau von Betreuungs-
plätzen. Das gehört nach wie vor zusammen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD)


Ich weise noch einmal darauf hin: Wir können mit
dem Elterngeld und dem Elterngeld Plus nicht alle
Probleme lösen, die Sie, Herr Wunderlich, zu Recht
angesprochen haben: Alleinerziehende, Familienarmut,
Kinderarmut. Das Instrument des Elterngelds ist eine
Lohnersatzleistung. Alle sozialen Defizite, die wir ohne
Zweifel bei Familien haben, müssen wir mit anderen In-
strumenten beheben. Hier haben wir noch viel vor uns,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es ist richtig, dass wir jetzt über ein Thema reden,
was aber gar nicht so neu ist. Ich habe vor längerer Zeit
mit einer Kollegin zusammengesessen, die vor, wie sie
sagte, gefühlten 20 Jahren – ich glaube ihr das nicht, es
waren vielleicht 15 Jahre – ein Netzwerk gegründet hat,
bei dem es um Zeitpolitik ging. Sie hat gesagt: Jetzt,
20 Jahre später, ist es en vogue. Es ist eine große gesell-
schaftliche Debatte. In großen Wochenzeitungen und Ta-
geszeitungen wird darüber diskutiert.

Es ist eine Debatte, die sowohl auf der Arbeitnehmer-
als auch auf der Arbeitgeberseite sehr offen geführt
wird. Dass es eine breite und gute Diskussion zu diesem
Thema gibt, zeigt, wie notwendig es ist, nicht nur einen
sicheren Arbeitsplatz, ausreichend finanzielle Mittel für
die Familie und Betreuungsplätze für die Kinder zu bie-
ten – die Eltern wollen arbeiten und brauchen deshalb
Betreuungsplätze –, sondern auch die Möglichkeit zu er-
öffnen, Zeit für die Familie zu haben. Es hat schon eine
große Dimension, das anzuerkennen.

Meine Worte sind vielleicht auch eine Replik auf das,
was Herr Gysi vorhin so wohlwollend über die DDR ge-
sagt hat: Da waren immer ausreichend Betreuungsplätze
vorhanden. – Aber das war ein anderes System. Es war
ja leider so: Weil gearbeitet werden musste, gab es eben-
diese Plätze. Ich finde den Gedanken wichtig, Zeit mit
der Familie zu verbringen – also nicht einfach nur die
Kinder in der Zeit, in der man dem System zur Verfü-
gung stehen muss, unterzubringen. Ich finde es gut, dass
wir das mit dem Instrument des Elterngelds nach wie vor
ermöglichen, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was wir jetzt machen, ist, dass wir die Partnerschaft-
lichkeit noch einmal erweitern. Denjenigen, die sich zu
mehr Partnerschaftlichkeit bereit erklären, also sich da-
für entscheiden, dass nicht nur ein Elternteil die Betreu-
ung übernimmt – meistens, aber nicht immer ist es die
Mutter –, bieten wir jetzt die Möglichkeit, die Zeit der
Partnerschaftlichkeit und des Bezugs von Elterngeld zu
verlängern.

Das Zweite ist: Wir gestalten es flexibler. Denn es
wird zu Recht angemerkt: Die Zeit mit Kindern umfasst
eben nicht nur die ersten drei Lebensjahre des Kindes
oder die Zeit, in der das Kind in die Kindertagesstätte
geht; es gibt auch die Zeit der Einschulung, die Zeit der





Sönke Rix


(A) (C)



(D)(B)

ersten Jahre in der Grundschule und andere Zeiten, in
denen das Kind vielleicht einer gezielten Betreuung be-
darf und man mehr Zeit mit ihm verbringen möchte.
Deshalb finde ich es gut, dass wir einen Bezug bis zum
achten Lebensjahr ermöglichen und damit sogar weiter
gehen, als es die Linkspartei gefordert hat.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Erstaunlich!)


– Ja, genau: Es ist erstaunlich, dass wir auch mal weiter
gehen als die Linkspartei, Herr Wunderlich.

Ich komme tatsächlich noch einmal zu Ihnen, Herr
Wunderlich, nämlich zu Ihrer Kritik daran, dass der Kol-
lege Felgentreu in der Debatte im Ausschuss gesagt hat,
das sei auch ein Gesetz für die Wirtschaft, also ein wirt-
schaftsfreundliches Gesetz. Ist das denn so schlimm? Ist
es denn wirklich so schlimm, wenn das Gesetz auch für
den Arbeitsmarkt und für die Unternehmen gut ist, weil
ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zufrieden
sind? Ich frage mich, warum ein Gegensatz zu denen
aufgebaut wird, die sagen: Ich brauche gut ausgebildete
Fachkräfte, die zufrieden sind, die nicht immer unter
dem Druck stehen, es irgendwie hinzubekommen, mehr
Zeit für die Familie zu haben. – Herr Wunderlich, ich
finde, wir sollten diesen Gegensatz gar nicht erst auf-
bauen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja, aber nicht zulasten der Betroffenen!)


Mich wundert, dass Herr Pols heute nicht da ist. Be-
stellen Sie ihm schöne Grüße! Er war derjenige, der bei
der Anhörung insbesondere auf die Situation von Klein-
betrieben aufmerksam gemacht hat und die Frage aufge-
bracht hat, was eigentlich ist, wenn es betrieblich absolut
nicht geht. Da haben wir jetzt mit unserem Änderungs-
antrag eine Regelung gefunden. Wir wollen den Arbeit-
gebern aber kein Einspruchs- oder Widerspruchsrecht
geben; wir wissen auch, dass die Hürden hinsichtlich be-
trieblicher Gründe sehr hoch sind. Was wir wollen, ist,
dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber miteinander ins Ge-
spräch kommen, damit es zu einem Konsens kommt. So
stellen wir sicher, dass die Zufriedenheit des Arbeitneh-
mers nicht schwindet, nur weil er Angst hat, er könnte
mit seinem Wunsch nach Elternzeit beim Arbeitgeber
auflaufen. Wir haben mit dieser Regelung unseren Wil-
len zum Konsens ausgedrückt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich bin froh, dass wir hier heute darüber beraten, wel-
che Änderungen wir bei diesem Gesetz noch vornehmen
können, dass wir also nicht über das Ob, sondern über
das Wie diskutieren. Ich bin froh, dass wir das Gesetz
nahezu einstimmig beschließen werden. Denn es ist
wirklich ein gutes Gesetz; es hat eine große Zustimmung
wirklich verdient.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806402000

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Katja Dörner,

Bündnis 90/Die Grünen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806402100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Mit dem Elterngeld Plus wird tatsäch-
lich eine Gerechtigkeitslücke geschlossen – das sehen
wir auch so –, die für eine Gruppe von Eltern relevant
ist, nämlich für diejenigen, die schon relativ kurz nach
der Geburt ihres Kindes wieder Teilzeit arbeiten wollen.
Dieser Webfehler im alten Gesetz, der dazu führte, dass
diese Eltern in der Summe weniger Elterngeld bekamen
als diejenigen, die ihren Alltag anders gestalteten, ist
wirklich überhaupt nicht nachzuvollziehen. Insofern
werden wir zustimmen. Wir selbst haben lange gefor-
dert, dass diese Gerechtigkeitslücke geschlossen wird.
Deshalb ist es selbstverständlich – das ist der Kern die-
ses Gesetzes –, dass wir auch zustimmen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie können sich
vorstellen, dass es jetzt leider mit einem großen Aber
weitergeht.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das haben wir befürchtet!)


Begeistert sind wir von diesem Gesetzentwurf nämlich
mitnichten. An einigen Stellen wurde schon angespro-
chen, dass eine ganz große Gerechtigkeitslücke in die-
sem Gesetzentwurf bleibt, nämlich die Anrechnung des
Elterngeldes im ALG II. Gerade die Eltern, die eine fi-
nanzielle Unterstützung besonders nötig haben, werden
weiterhin vom Elterngeldbezug faktisch ausgeschlossen.
Das ist eine riesige Gerechtigkeitslücke, die weiterhin
unbearbeitet bleibt.

Zu dieser ganz strikten Argumentation, das sei eine
Lohnersatzleistung, muss ich sagen: Das Elterngeld ist
ausdrücklich nicht allein als Lohnersatzleistung einge-
führt worden,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


sondern wir haben immer gesagt, es müsse für alle Fami-
lien, also auch für arme Familien und für Familien im
ALG-II-Bezug, diesen Schonraum von mindestens ei-
nem Jahr geben.

Das Elterngeld hat an das Erziehungsgeld angeschlos-
sen, das eine ganz andere Struktur hat. Ich finde es im-
mer noch gut, dass man das umgestellt hat; das war
zweifelsfrei richtig. Aber dass wir jetzt am Ende der
Strecke da landen, dass die Anrechnung des Elterngeldes
beim ALG II das Einzige ist, was vom damals so groß
angekündigten Sparpaket der schwarz-gelben Regierung
übrig bleibt, ist eine riesige Gerechtigkeitslücke. Ich
hätte mir wirklich gewünscht, dass die Koalition die
Kraft gefunden hätte, das an dieser Stelle zu beheben.
Deshalb bleibt das Gesetz zum Elterngeld weiterhin un-
befriedigend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)






Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein gutes Jahr nach
der Bundestagswahl verstärkt sich der Eindruck, dass die
Familienministerin zwar gute kleine Schritte geht, die
großen Herausforderungen aber geflissentlich ignoriert.

Wir haben unlängst die Ergebnisse der Evaluation der
ehe- und familienbezogenen Leistungen vorgelegt be-
kommen. Wir wissen, dass in der Ehe- und Familien-
förderung Milliarden ausgegeben werden, die zentrale
familienpolitische Zielsetzungen – beispielsweise Ar-
mutsprävention, materielle Stabilität von Familien,
Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie partner-
schaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienar-
beit – gerade nicht fördern, sondern ihnen sogar zuwi-
derlaufen. Das haben wir mittlerweile schwarz auf weiß.
Und was passiert? Wir müssen leider sagen: Es passiert
nichts. Auch das ist aus unserer Sicht ausgesprochen un-
befriedigend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern hat der Ki-
tagipfel stattgefunden; das hat die Ministerin auch ange-
sprochen. Zukünftig soll es einheitliche Qualitätsstan-
dards geben. Das finden wir gut und richtig. Aber die
Familienministerin ist mit leeren Händen zu diesem Gip-
fel gefahren. Ich habe die große Sorge, dass eben die
dringend notwendigen Qualitätsverbesserungen in den
Kitas nicht nur jetzt auf die lange Bank geschoben wer-
den, sondern dass die Finanzierung allein an den Län-
dern und den Kommunen hängen bleibt, weil der Bund
nicht bereit ist, sich stärker zu engagieren. Das, finden
wir, darf auf keinen Fall der Plan für die nächsten Jahre
sein. Der Bund muss deutlich mehr für die Kitas tun und
da mehr investieren. Auch das ist eine zentrale Frage
von besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern war der Ki-
tagipfel, vorgestern konnten wir in der Zeitung lesen,
dass das Betreuungsgeld ein Rohrkrepierer ist,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: 70 Prozent in Bayern, Frau Kollegin!)


der fast im gesamten Bundesgebiet von den Eltern gar
nicht nachgefragt wird. Die Bundesregierung sollte end-
lich ein Einsehen haben. Wir haben in der letzten Legis-
laturperiode lange Diskussionen zum Betreuungsgeld
geführt. Es sprach schon immer alles gegen das Betreu-
ungsgeld. Es wurde wider alle Vernunft eingeführt. Jetzt
zeigt sich überall in der Republik, dass in der Breite die
Eltern diese Leistung gar nicht haben wollen. Deshalb
mein Appell: Halten Sie nicht an diesem unsinnigen Be-
treuungsgeld fest. Die vorgesehene Milliarde wäre in
den Kitas deutlich besser aufgehoben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir hatten eine
Legislaturperiode unter Schwarz-Gelb, in der familien-
politisch so gut wie alles in die falsche Richtung gelau-
fen ist. Wir können uns jetzt keine Legislaturperiode
leisten, in der wir nur in Trippelschritten vorankommen.
Wir stimmen heute einem richtigen Schritt zu. Aber
wenn wir wirklich etwas für die Kinder und Familien in
unserem Land tun wollen, dann muss in den nächsten
Jahren deutlich mehr kommen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806402200

Vielen Dank. – Nächster Redner für die CDU/CSU-

Fraktion ist der Kollege Paul Lehrieder.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1806402300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin

Brantner, Sie haben vorhin Bezug auf die Gedenkstunde
heute Morgen genommen und gefragt, ob wir in 25 Jah-
ren auch eine Gedenkstunde mit Blick auf das Elterngeld
feiern. Ich weiß nicht, ob das Elterngeld Plus in 25 Jah-
ren mit so einem großen Aufwand gefeiert wird wie
heute die deutsche Einheit.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In 25 Jahren wird man aber darauf hinweisen, dass diese
Regierung kraftvoll auf die Veränderungen in der Gesell-
schaft reagiert hat, indem sie unter anderem das Eltern-
geld Plus auf den Weg gebracht hat.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, die Grünen
heute bedingungslos zu loben, Frau Kollegin Dörner,
aber das, was Sie zum Schluss über das Betreuungsgeld
gesagt haben, provoziert eine Richtigstellung.

Es gibt natürlich Länder, in denen durch die Aufklä-
rung der Eltern eine Inanspruchnahmequote von 70 Pro-
zent erreicht werden konnte, zum Beispiel in Bayern. Es
gibt andere Länder – ich glaube, Mecklenburg-Vorpom-
mern, Frau Ministerin –, in denen die Inanspruchnahme-
quote bei etwa 15 Prozent liegt. Ich wünsche mir, dass
die Eltern in Mecklenburg-Vorpommern, die zu Hause
erziehen wollen, noch etwas stärker auf die Möglichkeit
des Betreuungsgeldes hingewiesen werden. Dann wer-
den es auch dort 50, 60 oder 70 Prozent der Eltern in An-
spruch nehmen. Davon bin ich überzeugt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die wollen nicht zwangsbeglückt werden! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Schade, dass Bayern nicht über das Wohngeld aufklärt!)


– Bitte? Stellen Sie eine Zwischenfrage, sonst läuft
meine Zeit weiter, Herr Wunderlich.

Es ist richtig – meine Vorredner haben bereits darauf
hingewiesen –: Umfragen zufolge wünschen sich die
meisten Eltern mehr Zeit für ihren Nachwuchs. Doch lei-
der ist der Vater, der oft erst dann nach Hause kommt,
wenn die Kleinen schon schlafen, in vielen Familien
Realität. Auf der einen Seite möchten die Väter gern
mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen und aktiv an der
Erziehung teilhaben, auf der anderen Seite befürchten
sie jedoch einen Karriereknick und schrecken deshalb
oft vor Teil- und Elternzeit zurück. Sie haben die Sorge,





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

dass eine längere Auszeit oder ein Wechsel in Teilzeit
bei ihrem Chef und im Kollegenkreis nicht gut an-
kommt.

Laut einer repräsentativen forsa-Studie mit dem Titel
„Väter 2014 – zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ be-
fürchten immerhin 41 Prozent der abhängig beschäftig-
ten Väter, dass sich die Elternzeit sehr oder eher negativ
auf ihre Karriere auswirken könnte, und verzichten da-
her auf Familienzeit. Der Verdienstausfall des Haupter-
nährers mag ein weiterer Grund dafür sein, dass sich bis-
lang nur wenige Männer mehr als zwei Partnermonate
der Elternzeit genehmigen.

Liebe Frau Kollegin Dörner, unbeschadet der Inan-
spruchnahmequote beim Betreuungsgeld von 70 Prozent
ist die Inanspruchnahmequote bei den Vätermonaten in
Bayern, gerade in Unterfranken, überdurchschnittlich
hoch. Das heißt also: Wir können auch Familienpolitik.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Unterfranken? Oberfranken? Wo ist es mehr?)


– Bitte?


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Mehr Oberfranken oder mehr Unterfranken?)


– Frau Kollegin, die Oberfranken sind nicht schlecht,
aber an der Spitze dürfte Unterfranken stehen. Wir müss-
ten einen Faktencheck machen; dann kann ich Ihnen das
nächste Woche gerne sagen.

Weil Frauen im Schnitt weniger verdienen als Män-
ner, entfällt der Großteil der bezahlten Elternzeit häufig
auf die Mütter. Diese wiederum würden oftmals gerne
stärker in ihren Job eingebunden sein; auch darauf wurde
von den Vorrednern ausführlich hingewiesen.

Das Elterngeld, das zum 1. Januar 2007 von unserer
damaligen Bundesfamilienministerin Frau Dr. Ursula
von der Leyen eingeführt wurde, war die erste wichtige
Maßnahme, um diese Aufteilung zu ändern. Besonders
für besserverdienende Väter war es bis zum Stichtag
2007 nicht wirklich eine Option, zugunsten des Babys
auf ihr Gehalt zu verzichten. Erst die Zahlung von min-
destens 65 Prozent vom Netto- bzw. seit 2013 vom Brut-
togehalt setzte einen attraktiven Anreiz, sich finanziell
abgesichert um den Nachwuchs zu kümmern.

Beim alten Erziehungsgeld konnte der Elternteil, der
sich vorwiegend um das Kind kümmert, für 24 Monate
300 Euro oder alternativ für zwölf Monate 450 Euro Un-
terstützung beantragen. Voraussetzung war auch damals,
eine Teilzeitarbeit von maximal 30 Stunden pro Woche
und das Einhalten bestimmter Einkommensgrenzen.
Noch einmal, Herr Kollege Wunderlich: Das neue El-
terngeld ist eine Lohnersatzleistung, konzipiert für den
Ausfall des Einkommens. Es geht nicht darum, eine Er-
höhung der Anzahl der Geburten zu erreichen. Das ist
der Unterschied zum vorherigen Erziehungsgeld.

Umfangreiche Evaluierungen haben die positiven
Wirkungen des Elterngeldes bewiesen. Ich weiß, dass
Sie im Herzen liebend gern unserem guten Gesetzent-
wurf zustimmen würden, dass Sie das aber aus dogmati-
schen Gründen leider nicht machen können, Herr Kol-
lege Wunderlich.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist jetzt eine falsche Wahrnehmung!)


– Das habe ich Ihrer Rede zwischen den Zeilen entneh-
men können.

Mit der von den Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern ausdrücklich empfohlenen Weiterentwick-
lung des Elterngeldes haben Eltern künftig noch mehr
Entscheidungsfreiheit bei der Ausgestaltung ihrer Le-
bens- und Berufswünsche.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806402400

Herr Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Wunderlich?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1806402500

Ich bitte darum.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Können Sie noch einmal fragen, wie das in Mittelfranken ausschaut?)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806402600

Bitte schön.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806402700

Es gibt einzelne gute Gründe dafür, dieses Gesetz gut-

zuheißen, es gibt aber auch einzelne gute Gründe, dieses
Gesetz abzulehnen. In der Gesamtschau aber kann man
ihm nicht zustimmen.

Wenn Sie mir jetzt, lieber Kollege Lehrieder, an die-
ser Stelle erklären können, wie eine alleinerziehende
Mutter, die nach Auskunft des Familienministeriums im
Durchschnitt 7 Stunden pro Woche arbeitet, diese Stun-
denzahl auf 15 Stunden reduzieren soll, dann überlege
ich mir, ob ich nicht doch zustimme. Wie reduziert man
7 Stunden auf 15 Stunden?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1806402800

Da ist keine Reduzierung, sondern allenfalls eine

Aufstockung möglich. Das ist mit der Erziehung des
Kindes aber sicherlich nicht kompatibel. Wir werden uns
gerade die Auswirkungen auf Alleinerziehende an-
schauen müssen; das wurde auch in der Anhörung the-
matisiert. Wir müssen schauen, ob und inwieweit es
auch für die alleinerziehende Mutter, die in Teilzeit be-
rufstätig ist, eine Möglichkeit gibt, diese Leistung zu er-
halten, wenn sie ihre Arbeitszeit reduziert. Ich verweise
da auf das Struck’sche Prinzip des Gesetzgebungsver-
fahrens: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es
reingekommen ist. – Wir werden die Auswirkungen die-
ses Gesetzes in den Blick nehmen und schauen, ob für
bestimmte Personengruppen, die möglicherweise noch
nicht ausreichend berücksichtigt wurden, Veränderungen
erforderlich sind.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir haben die Hoffnung bis zur Abstimmung!)






Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

Lieber Kollege Wunderlich, Sie können sehen, dass
wir im Gesetzgebungsverfahren auf Änderungsbedarf
mit Blick auf den sogenannten doppelten Anspruchsver-
brauch reagiert haben.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist gut!)


Nach der bisherigen Regelung war es so, dass die vollen
Elterngeldmonate verbraucht worden sind, selbst wenn
man Teilzeit gearbeitet hat. Wir haben gesagt: Jawohl,
der Zeitraum muss verdoppelt werden, wenn ich Teilzeit
in Anspruch nehme.

Von daher sage ich: Wir haben reagiert. Das ursprüng-
liche Elterngeldgesetz ist mittlerweile acht Jahre alt. Wir
haben gesagt: Jawohl, das Gesetz muss verbessert wer-
den. Ich schließe nicht aus, dass das eine oder andere
noch geschwind nachgebessert werden muss.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Vorredner
haben bereits einige positive Aspekte des Elterngeldes
angeführt. Das geplante Gesetz zur Einführung des El-
terngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexi-
blen Elternzeit, soll, wie bereits ausgeführt, Eltern die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen, und
zwar auf partnerschaftliche Weise. Es sorgt für neue Ge-
staltungsmöglichkeiten und mehr Flexibilität im Alltag;
denn zukünftig sollen Eltern das Elterngeld Plus bei
gleichzeitiger Teilzeitarbeit doppelt so lange nutzen kön-
nen wie nach der bisherigen Regelung.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir darüber
diskutiert haben, ob die dreimalige Inanspruchnahme
von Elternzeit, also die Inanspruchnahme von Elternzeit
zu verschiedenen Zeiten, der Wirtschaft zuzumuten ist,
ob das insbesondere den kleinen und mittelständischen
Unternehmen und Handwerksbetrieben zuzumuten ist.
Ich glaube, hochmotivierte und gute Arbeitskräfte sind
in dieser Zeit, in der wir über Fachkräftemangel reden,
auch für den kleinen Handwerksbetrieb von großem
Wert. Viele dieser kleinen Handwerksbetriebe handeln
übrigens schon jetzt, bevor wir diesen Gesetzentwurf
verabschiedet haben, mit ihren Arbeitnehmern in den
verschiedenen Bereichen entgegenkommende Regelun-
gen aus, um ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Fa-
milie zu ermöglichen. Ein großes Kompliment an den
Handwerksmeister, der seinen Mitarbeitern schon jetzt
Teilzeit anbietet, um die Betreuung von kleinen Kindern
zu ermöglichen.

Wir wollen, dass das bis zum achten Lebensjahr mög-
lich ist. Der Kollege Weinberg hat darauf hingewiesen,
dass es Situationen gibt, die man nicht planen kann. Man
weiß, dass das Kind mit sechs Jahren in die Schule
kommt. Mit Blick darauf kann man eine Reduzierung
der Arbeitszeit planen. Bei einem Schicksalsschlag oder
einer Trennung der Eltern sieht das anders aus. Es kann
sein, dass man in solchen Zeiten etwas weniger arbeiten
möchte, um sich gezielt um die Erziehung der Kinder
kümmern zu können. Ich glaube, dass wir mit der Rege-
lung bis zum 8. Lebensjahr des Kindes einen guten
Kompromiss gefunden haben. Eine Regelung bis zum
14. Lebensjahr des Kindes wäre meiner Ansicht nach et-
was arg weitgehend.
Ich habe mir erlaubt, einmal die Tarifverträge der ver-
schiedenen Branchen durchzusehen. Sie enthalten schon
jetzt familienfreundliche Regelungen: Angefangen bei
der Metallindustrie über den Einzelhandel und den
Großhandel bis zu den sozialen Einrichtungen gibt es
schon sehr viele familienfreundliche Regelungen. Eine
große Klinik kümmert sich sogar um den Kinderkrippen-
platz, um Betreuungsplätze und zahlt den Elternanteil an
den Betreuungsplätzen. Es gibt also sehr positive Zei-
chen. Wir unterstützen die Unternehmen in diesem Be-
reich; denn wir sagen: Hochmotivierte, gute Mitarbeiter,
die nach der Geburt eines Kindes Teilzeit im Unterneh-
men arbeiten können und wollen, sind für das Unterneh-
men ein Gewinn. Das ist keine Belastung für das Unter-
nehmen, sondern ein Gewinn.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


So sollten wir das kommunizieren.

Ich will noch eines sagen: Mit der Einführung des El-
terngeldes vor acht Jahren und mit der Schaffung zusätz-
licher Kinderkrippenplätze wurde den Unternehmen die
Möglichkeit gegeben, qualifizierte Mitarbeiter, insbe-
sondere Frauen, nach der Geburt eines Kindes einstellen
zu können, ob in Teilzeit oder Vollzeit. Der Krippenaus-
bau in den letzten acht Jahren war ein Wirtschaftspaket
ohnegleichen.

Am Montagnachmittag werden wir in der Ausschussan-
hörung über den qualitativen Krippenausbau debattieren.
Ich freue mich auf die Fortsetzung der Diskussion.

Ich hoffe, dass Sie heute Abend beizeiten zu Ihren Fa-
milien kommen, trotz der unsicheren Verkehrslage heute
in Deutschland. Ein schönes Wochenende! Ich freue
mich auf ein Wiedersehen am Montag.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806402900

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Bettina

Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Bettina Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1806403000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass
wir heute einen Gesetzentwurf verabschieden, der jun-
gen Eltern nicht nur die Wahlfreiheit und Flexibilität er-
laubt, sondern auch einen großer Schritt hinsichtlich der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt. Denn ge-
rade Flexibilität ist das, was auf der Wunschliste der El-
tern ganz oben steht.

Wir schaffen mit dem Gesetz zur Einführung des
neuen Elterngeld Plus politische Rahmenbedingungen,
mit denen wir ein wichtiges politisches Ziel unseres Ko-
alitionsvertrages umsetzen, nämlich die Stärkung von
Familien. Wir stärken die Familien, indem wir ihnen
nicht nur mehr Zeit miteinander ermöglichen, sondern
auch dafür sorgen, dass Männer und Frauen ihre Aufga-





Bettina Hornhues


(A) (C)



(D)(B)

ben in Familie und Beruf partnerschaftlich wahrnehmen
und aufteilen können. Denn in einer immer schneller
werdenden Welt, in der Zeit im Allgemeinen eine
knappe Ressource ist, plädieren wir für mehr Zeit, die
wir vor allem im Alltag mit unseren Familien verbringen
können. Das Elterngeld Plus eröffnet genau diese
Chance.

Dies ist diejenige Art von Politik, die nah dran ist an
den Wünschen und Bedürfnissen der heutigen Gesell-
schaft im Allgemeinen und an jenen der jungen Eltern
im Besonderen. Ich freue mich daher sehr, dass unsere
Forderung nach einer Weiterentwicklung des Elterngel-
des hin zum Elterngeld Plus nun umgesetzt und das El-
terngeld Plus als eigenständige Gestaltungskomponente
eingeführt wird. Vor allem die Nutzungsmöglichkeit, die
Elternzeit in Verbindung mit dem Elterngeld Plus zu-
künftig zwischen dem dritten und dem vollendeten ach-
ten Lebensjahr flexibel in Anspruch zu nehmen, sehe ich
daher als einen echten Beitrag zur Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf.

Wenn ich von mehr Zeit für Familie spreche, was
meine ich dann eigentlich mit Familienzeitpolitik? Was
versteht man unter diesem neuen Politikfeld? Der
Schlüssel, um familienpolitische Ziele wie die Verein-
barkeit von Familie und Beruf erreichen zu können, liegt
für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einer mo-
dernen Familienzeitpolitik. Familienzeitpolitik ist spä-
testens seit dem Siebten Familienbericht der Bundes-
regierung ein wichtiger Punkt auf der politischen
Agenda. Auch der Achte Familienbericht, über den wir
heute zu späterer Zeit noch debattieren werden, nimmt
sich ganz und gar des Themas der Familienzeitpolitik an.
Dabei werden hauptsächlich drei Kernkomponenten zu-
sammengefasst:

Erstens. Mehr Zeitsouveränität für Familien, das heißt
die selbstbestimmte Einteilung von Zeit als Ressource.

Zweitens. Eine partnerschaftliche und damit gerechte
Verteilung von Zeit bei Frauen und Männern, was auch
zu mehr Chancengleichheit führt.

Drittens. Die Verzahnung mit einer kommunalen Zeit-
politik für Familien, beispielsweise durch die Abstim-
mung von Öffnungszeiten der Behörden, Kitas usw.

Der Forderung nach mehr Zeit für Familie folgt auch
die Flexibilisierung der Elternzeit, welche wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf implementieren wollen.

Nun haben wir bereits während der ersten Gesetzesle-
sung Ende September die vielen positiven Effekte, die
das neue Elterngeld Plus mit sich bringt, hervorgehoben.
Ich möchte nachfolgend aber noch einmal auf die Ziel-
gruppe eingehen, die von dem neuen Elterngeld Plus be-
sonders profitiert, nämlich Erwerbstätige in Teilzeit. Das
Elterngeld Plus haben wir schließlich für diejenigen El-
tern entwickelt, die während des Elterngeldbezugs in
Teilzeit arbeiten wollen.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Eltern, die nach der
Geburt des Kindes in Teilzeit arbeiten gehen, können
doppelt so lange vom Elterngeld profitieren. Der frühe
Wiedereinstieg bringt zudem Vorteile, sowohl für die
Wirtschaft als auch für die Erwerbstätigen. Der Arbeit-
geber kann früher auf den Arbeitnehmer zugreifen und
von seiner Erfahrung im Unternehmen profitieren. Der
Erwerbstätige selbst bleibt auf dem aktuellen Stand bei
den Anforderungen seines Arbeitsplatzes. Das Ausschei-
den aus dem Berufsleben kann verhindert werden. In
diesem Punkt stimmen uns auch die Arbeitgeberver-
bände zu. Auch sie sehen diesen Vorteil in dem vorlie-
genden Gesetzesvorhaben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Natürlich wäre da noch ein ganz wesentlicher Vorteil:
Durch die verringerte Arbeitszeit bleibt mehr Freiraum
für die Familie. Dies ist sowohl für Väter als auch für
Mütter ein wichtiger Aspekt.

Für mich sind die neuen Gestaltungsmöglichkeiten,
die sich durch das Elterngeld Plus ergeben, nicht nur ein
gelungener Beitrag für eine echte Wahlfreiheit, sondern
vor allem eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.

Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch noch
einmal an die Wirtschaft appellieren: Familienfreund-
lichkeit im Unternehmen darf nicht als Umstand gesehen
werden, sondern sollte als echter Wettbewerbsvorteil ge-
nutzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Als Politik können wir noch so viele Maßnahmen und
Rahmenbedingungen schaffen: Dies alles nützt nichts
ohne die Unterstützung der Wirtschaft. Familienpolitik
verstehe ich auch als Wachstumsmotor für unsere Wirt-
schaft.

Ich richte mich hier mit zwei ganz konkreten Ideen an
die Wirtschaft:

Dies sind zum einen die Betriebskindergärten. Viele
Unternehmen gehen hier schon mit positivem Beispiel
voran, dem sich meiner Meinung nach aber noch viele
weitere Betriebe anschließen könnten. Ein Betriebskin-
dergarten kann im Wettbewerb um die besten Fachkräfte
ein großer Pluspunkt sein, sich als Arbeitnehmer für die-
ses Unternehmen zu entscheiden. Betriebskindergärten
ermöglichen Eltern, frühzeitig an ihren Arbeitsplatz zu-
rückzukehren.

Zum anderen denke ich an die jungen Mütter, die zu
Beginn der Familiengründung noch ohne Abschluss da-
stehen. Bei den unter 25-jährigen Müttern sind es im-
merhin über 50 Prozent, die keinen Berufsabschluss ha-
ben. Es wäre daher doch sehr zu begrüßen, noch viele
weitere Unternehmen davon zu überzeugen, dass eine
Ausbildung in Teilzeit angeboten wird. Eine Ausbildung
in Teilzeit absolvieren zu können, bietet jungen Erwach-
senen mit Familienverantwortung eine echte Chance.

Seit 2005 besteht die Option der Teilzeitausbildung;
leider wird diese Möglichkeit aber bisher noch viel zu
wenig genutzt. So wurden im Jahr 2012 nur 0,2 Prozent
der Ausbildungsverträge in Teilzeit abgeschlossen. Da-
bei liegen die Vorteile für die Betriebe doch auch hier
auf der Hand: Die Betriebe erhalten engagierte Fach-
kräfte, die durch ihre Familienverantwortung viel Orga-





Bettina Hornhues


(A) (C)



(D)(B)

nisationsgeschick und Verantwortungsbewusstsein mit-
bringen. Die Teilzeitausbildung lässt sich flexibel in den
Betriebsablauf integrieren und kann vor allem kleinen
Betrieben einen Einstieg in die Fachausbildung bieten,
sollten finanzielle und zeitliche Kompetenzen für eine
Vollausbildung fehlen. Zudem zeichnet Familienfreund-
lichkeit ein Unternehmen als attraktiven Arbeitgeber
aus. Teilzeitausbildung bietet jungen Eltern und Allein-
erziehenden eine wirkliche Chance, Berufsausbildung
und Familie miteinander zu verbinden – ein Mehrwert
nicht nur für die Wirtschaft, sondern für die gesamte Ge-
sellschaft.

Aber kommen wir wieder ganz konkret zurück zum
Elterngeld Plus. Kürzlich wurde ich bei einer Veranstal-
tung darauf angesprochen, ob wir nicht in Bezug auf Fa-
milienleistungen auch etwas für die Selbstständigen ma-
chen könnten. An dieser Stelle möchte ich noch einmal
betonen: Auch Selbstständige können vom Leistungspa-
ket des Elterngeld Plus profitieren; denn die Flexibilität
des Elterngeld Plus bringt gerade für Selbstständige be-
sondere Vorteile. Wenn Selbstständige in geringem Um-
fang erwerbstätig sind oder nachlaufende Einkünfte aus
ihrer Tätigkeit vor der Geburt haben, profitieren sie wie
alle anderen Eltern auch. Das Elterngeld ersetzt nur den
tatsächlich ausfallenden Einkommensanteil. Mit einem
Elterngeld-Plus-Monat wird nur noch ein halber Monats-
anspruch des Elterngeldes verbraucht statt wie bisher ein
ganzer.

Zusammenfassend bietet das Elterngeld Plus Fami-
lien unabhängig davon, ob in selbstständiger oder nicht
selbstständiger Arbeit, mehr Zeit mit der Familie, und
ermöglicht es durch einen frühen Wiedereinstieg in Teil-
zeiterwerbstätigkeit den Eltern, Familie und Beruf unter
einen Hut zu bringen.

Dieses Gesetz zeigt, dass wir nicht nur die Arbeit der
Frauen, sondern auch die Erziehungsleistung der Väter
wertschätzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806403100

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einfüh-
rung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und
einer flexiblen Elternzeit im Bundeselterngeld- und El-
ternzeitgesetz. Der Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3086, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/2583 und 18/2625 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3090 ab. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke abgelehnt.


(Unruhe)


– Ich höre, die Grünen haben sich beim Abstimmen ver-
tan.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nein!)


– Okay. Also, Sie hatten dafür gestimmt.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir haben uns enthalten!)


Wir wiederholen die Abstimmung. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Entschließungsantrag
mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent-
haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.

Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend auf Drucksache 18/3086 fort.

Tagesordnungspunkt 30 b. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/2749 mit dem Titel „Echte Wahl-
freiheit schaffen – Elterngeld flexibler gestalten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU,
der SPD und Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-
Christian Ströbele, Luise Amtsberg, Volker Beck

(Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von
Transparenz und zum Diskriminierungsschutz
von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern

(Whistleblower-Schutzgesetz)

Drucksache 18/3039
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Gesundheit
Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Andrej Hunko, Caren Lay, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Gesellschaftliche Bedeutung von Whistle-
blowing anerkennen – Hinweisgeberinnen und
Hinweisgeber schützen

Drucksache 18/3043
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Zuhörerinnen und
Zuhörer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir legen
heute einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der par-
lamentarischen Gesellschaft in unserem Lande vor. Wir
bringen den Entwurf für ein Whistleblowerschutzgesetz
ein.

„Whistleblower“ ist das englische Wort für Hinweis-
geber. Whistleblower sind Menschen, die aus Behörden
oder Institutionen heraus auf Missstände hinweisen und
dabei selber häufig nicht nur viel Ärger, sondern manch-
mal auch sehr viel Schlimmeres riskieren.

Glücklich das Land, das keine Whistleblower
braucht! Deutschland gehört aber nicht dazu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir haben eine jahrzehntelange Erfahrung mit Whistle-
blowern. Ich kann nur sagen: Ohne den Steuerbeamten
aus Köln, der die illegale Parteienfinanzierung durch die
Staatsbürgerliche Vereinigung seinerzeit angezeigt und
in die Öffentlichkeit gebracht hat, hätten wir vermutlich
noch heute eine solche illegale Parteienfinanzierung –
um einmal beim Bundestag anzufangen.

Ohne die Personen – sie riskieren häufig sehr viel –,
die in den vergangenen Jahren CDs zur Verfügung ge-
stellt haben, die Steuerdaten von Steuerflüchtlingen in
der Schweiz und in Liechtenstein beinhalteten, hätten
wir nicht nur in Bundes- und Länderkassen einige Hun-
dert Millionen Euro weniger, sondern wir hätten auch
keine verbesserte Moral und hätten wahrscheinlich auch
nicht die gestrige Debatte über das neue Gesetz zur Re-
habilitierung von Steuersündern geführt.

Wir leben davon, dass es Menschen gibt, für die deren
persönliche Interessen manchmal nicht so sehr im Vor-
dergrund stehen wie die Hilfe für andere Menschen. Das
ist nicht nur im großen staatlichen Bereich so, sondern
das ist auch bei Unternehmen so.

Ohne den Kraftfahrer, der den Gammelfleischskandal
aufgedeckt hat, indem er die Polizei alarmierte, hätten
wir wahrscheinlich Vergiftungen durch vergammeltes
Fleisch erlitten. Ohne die Altenpflegerin, die die Miss-
stände in einem Pflegeheim in Berlin mit 150 Insassen
öffentlich gemacht hat – hier ging es um einen Mangel
an Pflege und um Gesundheitsschäden, die die Insassen
erlitten haben –, wäre dieser Zustand nicht beendet wor-
den. Diese Whistleblowerin musste bis zum Europäi-
schen Gerichtshof klagen, um ihr Recht zu bekommen,
ihr Recht, so etwas im Interesse der Allgemeinheit und
der einzelnen Menschen öffentlich machen zu können.
Das darf in unserer Gesellschaft nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ohne Edward Snowden wüssten wir heute nicht, dass
wir millionenfach abgeschöpft wurden, und wir wüssten
nicht, was wir brauchen, um uns dagegen zu wehren;
denn nur die Kenntnis darüber versetzt uns Einzelne,
aber auch die Gesellschaft in die Lage, gegen solche
Missstände etwas zu tun.

Vor einigen Wochen hat ein verdienter IT-Experte, der
Mann an der Seite von Edward Snowden, nämlich Jacob
Appelbaum aus den USA, hier am Brandenburger Tor
gesagt, er warte auf einen Whistleblower aus Deutsch-
land, der sei dringend erforderlich. Dieser Forderung
können wir uns nur anschließen. Aber was können wir
einem Whistleblower aus Deutschland an rechtlicher Si-
cherheit bieten? Um ihm etwas bieten zu können, müs-
sen wir ein solches Gesetz diskutieren und dieses Gesetz
auch verabschieden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Volker Ullrich [CDU/ CSU])


Es geht also nicht nur darum, die Gesellschaft zu
schützen, sondern es geht auch darum, Unternehmen und
Behörden zu schützen. Auch diese können langfristig
kein wohlverstandenes Interesse daran haben, dass Miss-
stände, rechtswidrige Zustände oder möglicherweise so-
gar die Begehung strafbarer Handlungen in ihrem Unter-
nehmen oder in ihrer Behörde andauern. Deshalb ist ein
solches Gesetz dringend erforderlich. Es wird etwa von
Amnesty International gefordert. Es wird von der Parla-
mentarischen Versammlung des Europarats und anderen
Institutionen gefordert. Es wird in einer großen Petition
an den Deutschen Bundestag gefordert. Das ist auch eine
dringende Forderung des Europäischen Gerichtshofs,
der das gerade in dem Fall Heinisch immer wieder be-
tont hat. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

Wir könnten in Europa ein vorbildliches Land wer-
den, wenn wir es schafften, ein solches Gesetz zu verab-
schieden. Der Entwurf, den wir vorgelegt haben, beruht
auf drei Säulen. Wir wollen zum einen die Arbeitnehmer
schützen, die an ihrem Arbeitsplatz Missstände entde-
cken. Angenommen, ein Arbeitnehmer meldet Miss-
stände zunächst beim Arbeitgeber oder an einer anderen
Stelle, aber es kommt keine Reaktion. Dann stellt er fest,
dass nicht nur keine Abhilfe geschaffen wird, sondern
dass es auch Gefahren für Leib und Leben, Freiheit,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Job!)


Umwelt, Finanzplatzstabilität und Ähnliches gibt. Dann
kann er sagen: Ich melde das einer Stelle außerhalb mei-
ner Arbeit. Wenn auch das noch nichts nützt und wenn
das öffentliche Interesse an der Veröffentlichung eines
solchen Missstandes überwiegt, dann darf dieser Arbeit-
nehmer auch zur Presse gehen und das öffentlich ma-
chen, damit diese Missstände endlich abgestellt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine solche Regelung wollen wir zum anderen auch
für die Beamten schaffen. Im Beamtengesetz wollen wir
im Rahmen eines neuen § 67 a einen entsprechenden
Passus einfügen. Dabei geht es darum: Wenn in einer
Behörde festgestellt wird – ich habe zwei Fälle ge-
nannt –, dass möglicherweise sogar Straftaten begangen
werden oder Gefahren für Leib, Leben, Gesundheit,
Freiheitsrechte von Menschen, die Umwelt oder für die
Stabilität der Finanzen nicht gesehen oder beachtet bzw.
keine Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, dann
müssen auch die Beamten ihrer Allgemeinwohlver-
pflichtung, die sie nach dem Gesetz ohnehin haben,
nachkommen und so etwas nicht nur beim Vorgesetzten
anzeigen, sondern das auch in Fällen, in denen das öf-
fentliche Interesse überwiegt, in die Medien bringen
können, damit die Öffentlichkeit bzw. der Deutsche
Bundestag Druck ausüben können, dass solche Zustände
beseitigt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein letzter und ganz wichtiger Punkt. Wir machen
keine Lex Edward Snowden. Wir wollen aber ein Gesetz
machen, das auch solchen Whistleblowern hilft. Deshalb
wollen wir auch die Bestimmungen im Strafrecht än-
dern, die beispielsweise Staatsgeheimnisse oder Dienst-
geheimnisse absolut setzen. Wir sagen: Wenn die Gefahr
der Verletzung von Grundrechten, anderer schwerer
Rechtsverletzungen oder der Begehung schwerer Straf-
taten besteht, dann ist es wie beispielsweise in dem Fall
der Massenausspähung – der massenhaften Verletzung
der Grundrechte von Millionen von Bürgern auf der gan-
zen Welt, aber auch in Deutschland – gerechtfertigt, mit
einer solchen Information an die Öffentlichkeit zu gehen
und auch Dokumente vorzulegen, damit man dagegen
angehen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb wollen wir die Bestimmungen über Staatsge-
heimnisse oder Dienstgeheimnisse entsprechend relati-
vieren und regeln, dass Whistleblower in diesen Fällen,
wenn sie das auf der Grundlage von konkreten Anhalts-
punkten annehmen können und das öffentliche Interesse
überwiegt, straffrei gestellt werden. Dann soll die Wei-
tergabe entsprechender Informationen gerechtfertigt
bzw. nicht mehr unbefugt sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese gesetzliche Regelung ist dringend geboten.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Wir wollen mehr
Transparenz und mehr Aufklärung in unserer Gesell-
schaft wagen. Deshalb legen wir diesen Gesetzentwurf
vor und fordern die anderen Fraktionen im Deutschen
Bundestag und die Bundesregierung auf, das zu tun,
wozu die Regierung sich schon vor längerem verpflich-
tet hat, nämlich einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorzulegen. Wir wären auch damit zufrieden, dass sie
einfach unseren Gesetzentwurf übernehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806403200

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Wilfried Oellers,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Wilfried Oellers (CDU):
Rede ID: ID1806403300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Die
Linke und den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grü-
nen zum Schutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisge-
bern. Missstände, illegales Handeln oder Gefahren wer-
den häufig durch Informationen und Hinweise von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgedeckt. Sie sind
es, die skandalöses Verhalten bzw. skandalöse Handlun-
gen nicht schweigend hinnehmen, sondern durch beherz-
tes Tätigwerden aufdecken und eine entsprechende
rechtliche Verfolgung bzw. Ahndung erst ermöglichen.

Diese Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber legen
damit eine Zivilcourage an den Tag, die nicht hoch ge-
nug gelobt und anerkannt werden kann. Sie gehen ein
hohes Risiko ein und setzen für das hohe Gut der Ge-
rechtigkeit gar ihren Ruf und ihre Existenz aufs Spiel.
Ich spreche diesen Menschen daher persönlich, aber
auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion großen Respekt
aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Menschen, die sich so sehr für andere einsetzen, müs-
sen vor den ihnen drohenden Nachteilen geschützt wer-
den.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!)


Dies ist unbestritten, und dies sind wir ihnen auch schul-
dig. Hierzu bringen die Oppositionsparteien nun Vor-
schläge ein, die die Hinweisgeberinnen und Hinweisge-





Wilfried Oellers


(A) (C)



(D)(B)

ber schützen sollen. Dabei gilt es jedoch, zunächst
einmal zu prüfen, ob nicht bereits das geltende Recht die
Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützt.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Eben nicht! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider nicht!)


Auch wenn ein spezielles Schutzgesetz nicht existiert,
so stellen wir bei sorgfältiger Prüfung und genauer Be-
trachtung fest, dass die geltende Rechtslage den Schutz
bereits gewährleistet.

Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Beispiele nen-
nen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Edward Snowden!)


Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist in § 612 a das soge-
nannte generelle Maßregelverbot geregelt. Hiernach ist
es dem Arbeitgeber untersagt, einen Arbeitnehmer im
Rahmen einer Vereinbarung oder einer Maßnahme zu
benachteiligen, weil dieser in zulässiger Weise seine
Rechte geltend macht und ausübt. Darin enthalten ist das
von der Rechtsprechung anerkannte allgemeine Anzei-
gerecht des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitge-
ber. Dieses Anzeigerecht ist von den Arbeitsgerichten
wiederholt bestätigt worden, sodass die Kündigung eines
Arbeitsverhältnisses rechtswidrig ist, wenn sie mit der
Ausübung des Anzeigerechts begründet wird.

Um allerdings die Willkür und den Missbrauch eines
solchen Anzeigerechts durch den Arbeitnehmer zu ver-
hindern, unterliegt das Anzeigerecht zu Recht bestimm-
ten Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um sich
wirksam auf das Anzeigerecht berufen zu können. Zu-
nächst müssen sich die Hinweisgeber vor Erstattung ei-
ner Anzeige ernsthaft um eine innerbetriebliche Klärung
bemüht haben. Eine Ausnahme wird hiervon gemacht,
wenn es sich um Straftaten mit besonders schweren Fol-
gen handelt. Weiterhin darf eine Anzeige nicht leichtfer-
tig von einem Arbeitnehmer erstattet werden. Er hat den
Sachverhalt sorgfältig zu erfassen, sodass er auch nach-
gewiesen werden kann.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806403400

Herr Kollege Oellers, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Ströbele?


Wilfried Oellers (CDU):
Rede ID: ID1806403500

Ich würde zunächst gerne fortfahren. Vielleicht erüb-

rigt sich dann diese Zwischenfrage.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806403600

Okay.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich fürchte nicht!)



Wilfried Oellers (CDU):
Rede ID: ID1806403700

Zudem muss die Anzeige darauf gerichtet sein, dem

Missstand, illegalem Handeln oder Gefahren nachzuge-
hen und sie zu beseitigen. Die Anzeige darf nicht die
Zielrichtung haben, dem Arbeitgeber oder gar Kollegen
lediglich zu schaden. Hierdurch würde der Hinweisgeber
zu Recht seine Schutzwürdigkeit verlieren. Als eine wei-
tere Voraussetzung muss sich der Hinweisgeber an eine
öffentliche Stelle wenden.

Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen – das
halte ich für besonders wichtig –, dass dieser gesetzliche
Schutz des Arbeitnehmers im Bürgerlichen Gesetzbuch
verankert ist. Es handelt sich um ein allgemeines Recht,
das für alle Arbeitsverhältnisse gilt. Allein diese Norm
gewährleistet daher bereits den Schutz von Hinweisge-
bern.

Wie weit das Maßregelverbot entwickelt ist, zeigen
nicht nur die oben genannten Voraussetzungen, sondern
auch die umfangreiche Rechtsprechung und die Kom-
mentierung in der Literatur. Sie bieten einen entspre-
chenden Rechtsschutz. Diese umfangreichen Materialien
zeigen jedoch auch deutlich, dass jeder Fall gesondert zu
betrachten und rechtlich zu bewerten ist.

Wenn Sie nun behaupten, dass durch Ihre Vorschläge
mehr Rechtssicherheit eintreten würde, muss ich Ihnen
an dieser Stelle widersprechen. Sämtliche Vorlagen ent-
halten auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe. Als Beispiel
nenne ich hier „Zumutbarkeit“, „öffentliches Interesse“,
„betriebliches Interesse“, „Angemessenheit“ und „un-
sachgemäß“. Als weiteren Punkt möchte ich erwähnen,
dass Sie eine Abwägung der jeweiligen Interessen for-
dern.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806403800

Herr Kollege, Entschuldigung, aber ich muss Sie

noch einmal unterbrechen. Der Kollege Konstantin von
Notz würde Ihnen jetzt gerne eine Zwischenfrage stel-
len.


Wilfried Oellers (CDU):
Rede ID: ID1806403900

Dann lasse ich sie gerne zu.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1806404000

Bitte schön, Herr Kollege von Notz.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist freundlich, Herr Kollege. Vielen Dank. – Wür-
den Sie mir zustimmen, dass wir, wenn wir so stark auf
die Rechtsprechung bei der Bewertung der angesproche-
nen Problematiken, die wir beide offensichtlich sehen,
abstellen, nicht mehr viele Gesetze machen müssen? An-
ders formuliert: Finden Sie nicht auch, dass es im Hin-
blick auf die Rechtssicherheit, die die betreffenden Men-
schen brauchen, bevor sie sich zu einem solchen Schritt
entscheiden, gut wäre, wenn wir eine klare gesetzliche
Regelung zum Whistleblowerschutz hätten und nicht auf
eine sehr diverse, teilweise widersprüchliche und un-
klare Rechtsprechung verweisen müssten? Aufgabe die-
ses Hauses ist es doch, Gesetze für Bereiche zu machen,
wo dies dringend notwendig ist.






(A) (C)



(D)(B)


Wilfried Oellers (CDU):
Rede ID: ID1806404100

Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie vorgeben, dass die be-

treffenden Personen einen besonderen Schutz genießen
müssen und dieser Schutz rechtssicher sein muss; das ist
überhaupt keine Frage.

Ich habe aber auch ausgeführt, dass man zunächst ein-
mal die geltende Rechtslage prüfen muss, bevor man
neue Gesetze erlässt. Da bin ich noch in meinen Ausfüh-
rungen, und ich komme noch zu weiteren Punkten.
Wenn man das alles vollumfänglich beurteilt, muss man
schon zu dem Ergebnis kommen, dass wir hier in
Deutschland einen entsprechenden rechtssicheren Schutz
haben. Die Besonderheit liegt natürlich darin, dass wir
immer den Einzelfall bewerten müssen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist immer so!)


Etwas anderes enthalten auch Ihre Gesetzesvorschläge
nicht. Von daher beurteilen wir die Situation eigentlich
ähnlich, sodass meiner Meinung nach an dieser Stelle
kein Handlungsbedarf besteht. Das will ich jetzt weiter
ausführen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich schloss seinerseits an der Stelle, dass wir auf die
allgemeinen Begrifflichkeiten und die auslegungsbe-
dürftigen Rechtsbegriffe hingewiesen haben. Wie ich ge-
rade schon erwähnt habe, führen diese allgemeinen und
auslegungsbedürftigen Rechtsbestimmungen dazu, dass
wir immer eine Entscheidung im Einzelfall herbeiführen
müssen. Im Streitfall liegt es dann natürlich bei den Ge-
richten, dies zu entscheiden.

Daher ist festzustellen, dass die hier vorgelegten um-
fangreichen Textvorschläge zum einen bestimmt nicht
zu mehr Rechtssicherheit führen, als heute schon be-
steht, und zum anderen eine Einzelfallentscheidung der
Gerichte auch nicht entbehrlich macht. Gerade diese
Einzelfallentscheidung ist erforderlich, da die Sachver-
halte in aller Regel komplex und äußerst differenziert zu
beurteilen sind. Eine umfangreiche Abwägung aller Inte-
ressen ist somit unumgänglich. Diese ist von den Gerich-
ten vorzunehmen. Das sieht unser Rechtssystem nun ein-
mal so vor.

Dabei ist selbstverständlich nicht zu verhehlen, dass
derartige Verfahren langwierig sind und zuweilen die
Beteiligten sehr belasten. Nur werden Sie diese Verfah-
ren nicht durch neue umfangreiche gesetzliche Regelun-
gen verkürzen können.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Versuchen Sie es doch einmal!)


Um nun dem Eindruck entgegenzutreten, dass es mit
§ 612 a BGB nur eine gesetzliche Regelung zum Schutz
von Hinweisgebern gibt, seien nachfolgend weitere Ge-
setze genannt, die ebenfalls Schutzvorschriften für Hin-
weisgeber enthalten. So dient zum einen natürlich das
Kündigungsschutzgesetz, also ein weiteres allgemeines
Gesetz, dem Schutz von Hinweisgebern. Wir haben aber
auch spezielle Regelungen im Betriebsverfassungsge-
setz, im Arbeitsschutzgesetz, sogar im Bundes-Immis-
sionsschutzgesetz und im BGB. Darüber hinaus darf in
diesem Zusammenhang auch nicht die höchstrichterliche
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, des Bundes-
verfassungsgerichts, aber auch des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte vergessen werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben das aber gefordert!)


Auch für Hinweisgeber, die Verschwiegenheitspflich-
ten unterliegen, gibt es gesetzliche Schutzregelungen. So
ist an dieser Stelle insbesondere auf die Regelungen des
Bundesbeamtengesetzes und des Beamtenstatusgesetzes
hinzuweisen. Zu erwähnen ist ebenfalls, dass viele
Betriebe freiwillig Möglichkeiten zur Meldung von
Missständen eingeführt haben, zum Beispiel durch das
Berufen von Ombudsleuten oder durch Betriebsverein-
barungen zwischen den Sozialpartnern, die auf die je-
weiligen besonderen Betriebssituationen zugeschnitten
sind.

Auch internationale Vereinbarungen begründen, wie
schon erwähnt, in meinen Augen keinen gesetzgeberi-
schen Handlungsbedarf. Sowohl die Beschlüsse der
G-20-Staaten als auch des Europarates beinhalten keine
Pflicht, ein spezielles Gesetz zum Schutz von Hinweis-
gebern zu erlassen. Mit den geschilderten Rechtsvor-
schriften wird die Empfehlung der genannten Gremien
– und eine solche ist es –, den Schutz von Hinweisge-
bern zu gewährleisten, erfüllt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber anderer Meinung!)


Dies wurde auch in der öffentlichen Anhörung zu die-
sem Thema am 5. März 2012 bestätigt. Bereits damals
waren die Vorschläge der Opposition, die den jetzigen
Vorschlägen sehr ähneln, nicht geeignet, den Schutz von
Hinweisgebern in der notwendigen Weise zu verbessern.
Die bisherige Rechtslage gewährleistet den Schutz von
Hinweisgebern, so die einhellige Meinung. An dieser Si-
tuation hat sich bis heute nichts geändert. Handlungsbe-
darf besteht derzeit damit nicht.

Die Schutzwürdigkeit und der Respekt vor den Hin-
weisgebern gebietet es jedoch, die Entwicklung der
Schutzvorschriften durch die Rechtsprechung aufmerk-
sam zu beobachten und gesetzgeberisch dann korrigie-
rend tätig zu werden, sobald Handlungsbedarf angezeigt
ist.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist doch angezeigt!)


Da dies derzeit nicht der Fall ist, werden wir diese Vorla-
gen ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz formalistisch!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806404200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Kolle-

gin hat Karin Binder das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806404300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren auf den Besuchertribünen!
Wer auf Missstände im Betrieb oder in der Behörde hin-
weist, wer Betrug oder gefährliche Zustände aufdeckt,
kann dafür seinen Arbeitsplatz verlieren, wird mögli-
cherweise gemobbt, von Vorgesetzten schikaniert, ver-
leumdet oder muss mit dem Ende seiner beruflichen
Karriere rechnen,


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Biermann wurde ausgebürgert!)


und das trotz der bestehenden Gesetzeslage, Herr Kol-
lege Oellers. Ich hoffe, Sie werden gut zuhören.


(Beifall bei der LINKEN – Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Das tue ich immer! – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Das braucht der Kollege gar nicht! Das weiß der schon!)


Deshalb ist es höchste Zeit, dass wir endlich, in dieser
Legislatur, auch in Deutschland ein Whistleblower-
schutzgesetz auf den Weg bringen. Dass dies dringend
notwendig ist, kann ich Ihnen an drei Fällen aufzeigen:

Erstens. Ein Berliner Krankenwagenfahrer wies auf
unhaltbare Zustände im Krankentransport hin und wurde
entlassen. Zwölf-Stunden-Schichten ohne Pause, feh-
lende Desinfektion nach Transporten von hoch anste-
ckenden Patienten, Fahrzeuge, die nicht mehr verkehrs-
sicher sind – was bedeutet das für die Patientinnen und
Patienten?

Zweitens. Ein selbstständiger Personalberater hatte
die offene Diskriminierung einer Bewerberin durch ein
Unternehmen angeprangert und wird zu einer Schadens-
ersatzzahlung an dieses Unternehmen verurteilt. Was
sind Diskriminierungsschutz und ein Gesetz wie das All-
gemeine Gleichbehandlungsgesetz wert, wenn Men-
schen, die sich danach richten und dafür einsetzen, sol-
che negativen Folgen zu erleiden haben?


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)


Drittens. Elf Altenpflegerinnen im Münsterland wur-
den erst im September fristlos entlassen. Sie hatten die
Leitung des Pflegeheims lange vergeblich auf unhaltbare
Zustände, fehlendes Material und absolute Arbeitsüber-
lastung aufmerksam gemacht und dann die Heimaufsicht
angeschrieben. Mit Unterlassungsklagen schüchterte der
private Betreiber nicht nur die Heimaufsicht ein, sondern
auch das Umfeld dieses Heimes, sodass die Kritik inzwi-
schen verstummte. Die elf Kolleginnen sind jetzt arbeits-
los, und die Patientinnen, die Heimbewohnerinnen, ha-
ben keinen Ansprechpartner mehr. Hier sind auf einen
Schlag elf Fachkräfte aus einem Heim mit 47 Beschäf-
tigten entlassen worden. Ich weiß nicht, ob Sie sich diese
Situation für Ihre Angehörigen in einem ähnlichen Fall
wünschen. Die oft demenzkranken Menschen verlieren
Ansprechpartner, Vertrauenspersonen und Fachkräfte.
Ersetzt werden die ausgeschiedenen Personen durch
400-Euro-Jobber, durch Aushilfen, durch Menschen, bei
denen es im Prinzip erst einmal lange Zeit braucht, um
Vertrauen zu ihnen aufzubauen.

Dass sich diese Altenpflegerinnen im Prinzip im Inte-
resse der Patientinnen, im Interesse der Gesellschaft hier
starkgemacht haben, muss Ihnen doch zeigen, dass in
unserem Rechtssystem Defizite herrschen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Linke sagt: Diese Menschen leisten einen unver-
zichtbaren gesellschaftlichen Beitrag, und dafür verdie-
nen sie unsere Anerkennung und unseren Schutz.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau!)


Deshalb brauchen wir ein umfassendes Whistleblower-
schutzgesetz. Damit beauftragen wir auch Sie als
Regierungskoalition und die Regierung. Denn wir glau-
ben, Nachteile wie der Verlust des Arbeitsplatzes, Mob-
bing, Verleumdung und andere Dinge, etwa materielle
Nachteile, müssen vermieden werden, wenn sich Men-
schen für ihre Mitmenschen oder für die Gesellschaft
einsetzen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In einem solchen Gesetz muss auf jeden Fall der
Schutz für Beschäftigte in der Privatwirtschaft und im
öffentlichen Dienst verankert sein. Dieser Schutz muss
für Beamtinnen und Beamte ebenso wie für Selbststän-
dige, für Leiharbeiterinnen, für Auszubildende, für Eh-
renamtliche, für Militärangehörige oder für Angehörige
von Geheimdiensten gelten.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen außerdem den Schutz für alle, die im
guten Glauben handeln. Die wenigsten Menschen sind
juristisch ausgebildet und können die feinen Differenzie-
rungen vornehmen, die ihnen entweder tatsächlich hel-
fen und sie schützen oder auch nicht. Der gute Glaube
muss zählen, wenn es darum geht, Gefahren für andere
Menschen abzuwenden.

Die Gewährleistung von Anonymität für Whistle-
blower ist eine ganz wichtige Sache; denn sonst verlie-
ren sie ihren Arbeitsplatz. Es muss auch die Möglichkeit
geben, sich an andere Stellen und an die Öffentlichkeit
zu wenden, weil der interne Beschwerdeweg leider in
vielen Fällen nicht erfolgreich ist, sondern sich, im Ge-
genteil, gegen diejenigen wendet, die ihn beschreiten.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806404400

Liebe Kollegin, ich war schon sehr großzügig. Des-

halb müssen Sie jetzt zum Schluss kommen.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806404500

Letzter Satz. – Wir brauchen ganz dringend unabhän-

gige Beratungsstellen und eine unabhängige Ombuds-
stelle, am besten angesiedelt hier bei uns, beim Parla-
ment, beim Bundestag.





Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)

Deshalb kann ich Sie nur bitten: Schauen Sie sich den
Entwurf der Grünen gut an! Wir hätten durchaus noch
Vorschläge zur Ergänzung. Ich würde sagen: Ein umfas-
sendes Whistleblowerschutzgesetz ist wichtig und not-
wendig.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806404600

Als nächster Redner spricht der Kollege Markus

Paschke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Markus Paschke (SPD):
Rede ID: ID1806404700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! So-
genannte Whistleblower bzw. Hinweisgeber oder Auf-
klärer, wie ich sie gern nenne, leisten einen großen
Dienst an unserer Gesellschaft. Es sind in erster Linie
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch Kun-
den, Lieferanten und Geschäftspartner, die auf Unregel-
mäßigkeiten, illegales Verhalten oder sogar Gefahren für
Mensch und Umwelt aufmerksam werden. Ohne deren
Insiderwissen können wir vieles nicht aufdecken und er-
kennen. Alle diese Menschen stehen in einer gewissen
Abhängigkeit zu dem Verursacher. Wir sind in der
Pflicht, den Aufklärern Rechtssicherheit darüber zu ge-
ben, was sie dürfen und was nicht.

Die SPD hat in der letzten Legislaturperiode bereits
einen eigenen Gesetzentwurf zum Thema Hinweisgeber-
schutz eingebracht.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber jetzt regieren Sie ja zum Glück!)


Es ist kein Geheimnis, dass unser jetziger Koalitions-
partner dem nicht folgen konnte. Aber eine neue Legis-
laturperiode, mit zum Teil neuen Abgeordneten, bietet ja
die Möglichkeit, vergebene Chancen nachzuholen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Legislaturperiode meinen Sie? – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Ergebnis: Wir haben uns im Koalitionsvertrag im-
merhin auf einen Prüfauftrag verständigt.


(Lachen des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Toll!)


Für mich ist das ein klarer Auftrag, nicht nur zu prüfen,
sondern die Ergebnisse der Prüfung auch umzusetzen.

Wir alle kennen die Fälle, in denen engagierte und
couragierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Missstände
in ihren Betrieben und Skandale offenlegen oder verhin-
dern: der Lkw-Fahrer, der den Gammelfleischskandal
ins Rollen brachte, die Schlachter, die die unmenschli-
chen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Fleischin-
dustrie in den Fokus der Öffentlichkeit rückten, die Ver-
käuferinnen, die auf die Mitarbeiterbespitzelung bei
einem großen Discounter aufmerksam machten.

Dies sind nur einige Beispiele – wir haben vorhin
schon weitere gehört –, die verdeutlichen, dass es sich
bei den Hinweisgebern nicht um Denunzianten oder Ver-
räter, sondern – ganz im Gegenteil – um wichtige und
notwendige Aufklärer im Dienst der Allgemeinheit han-
delt.


(Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber für sie tun wollen Sie nichts!)


Ohne den Mut dieser Männer und Frauen wäre es nicht
zu notwendigen Veränderungen zum Wohle der Men-
schen in unserem Land gekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Alexander Hoffmann [CDU/CSU])


Deshalb finde ich es umso beschämender, dass gerade
diese Helden – ja, in meinen Augen sind es Helden –


(Lachen des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


im Anschluss an ihr mutiges Handeln häufig mit Repres-
salien zu kämpfen haben.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schützen Sie sie doch!)


Für ihre Zivilcourage werden sie zu Recht ausgezeichnet
und belobigt. Aber die Medaille hat leider auch eine un-
schöne Seite: Mobbing, Strafversetzung oder sogar Ent-
lassung als unmittelbare Reaktion aus dem unmittelba-
ren beruflichen Umfeld der Aufklärer sind leider keine
Seltenheit.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Gegenwärtig gibt es in Deutschland bereits vereinzelt
gesetzliche Regelungen, die Hinweisgeber schützen sol-
len.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unzureichend!)


Aber – das sage ich an dieser Stelle deutlich – sie sind
meines Erachtens nicht ausreichend.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie etwas dagegen!)


Ich freue mich über die Zustimmung; da hätten Sie sich
die Zwischenrufe vorher doch alle sparen können.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber es ist alles so folgenlos, was Sie beschreiben! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Handeln!)


Es ist die Aufgabe der Politik, nicht die Aufgabe der
Gerichte, zu gestalten, meine Damen und Herren.





Markus Paschke


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir brauchen einen effektiven Schutz für die Aufklärer.

Kommen wir nun zu Ihrem Gesetzentwurf, meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Man
könnte sagen: Problem erkannt,


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Aber Gefahr nicht gebannt!)


aber nicht gelöst. Viele Sachen benennen Sie richtig.
Und es gibt, wie bereits in der letzten Legislaturperiode,
auch einige Schnittmengen zwischen Ihrer und unserer
Fraktion. Aber auch in Ihrem Gesetzentwurf gibt es eine
Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe, deren Ausgestal-
tung wieder den Gerichten obliegt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Besser machen! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch einen Änderungsantrag! – HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr empfänglich!)


Ich will einige Beispiele nennen: Sie schlagen vor, ins
BGB einen § 612 b einzufügen, in dessen Absatz 1 von
„konkreten Anhaltspunkten“ die Rede ist. Für einen Ab-
satz 2 schlagen Sie folgende Formulierung vor:

Der Arbeitnehmer hat das Recht, sich an eine zu-
ständige außerbetriebliche Stelle zu wenden, wenn
… der Arbeitgeber dem Verlangen nach Abhilfe
nicht binnen angemessener Frist oder nach Auffas-
sung des Arbeitnehmers aufgrund konkreter An-
haltspunkte

– da sind sie schon wieder –

nicht oder nicht ausreichend nachkommt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So steht das da!)


Ich frage: Was sind denn diese „konkreten Anhalts-
punkte“? Was ist eine „angemessene Frist“? Und was ist
ein ausreichendes oder nicht ausreichendes Abhilfe-
schaffen?


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806404800

Herr Kollege Paschke, lassen Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Ströbele zu?


Markus Paschke (SPD):
Rede ID: ID1806404900

Gleich, ich möchte nur diesen Gedanken noch zu

Ende bringen. – Kein Hinweisgeber kann das rechtssi-
cher auslegen. Da gucken mich doch Jutta, die Verkäufe-
rin, Miroslaw, der Lkw-Fahrer, oder auch Brigitte, die
Altenpflegerin, groß an und wissen immer noch nicht, ob
sie rechtlich auf der sicheren Seite sind.

Jetzt habe ich diesen Gedanken zu Ende gebracht und
würde die Zwischenfrage von Herrn Ströbele gerne zu-
lassen.

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806405000

Herr Ströbele, Sie haben das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Kollege. Ich fasse mich auch ganz kurz.

Wir haben uns natürlich auch lange Gedanken über
diese Formulierungen gemacht. Den Begriff der „kon-
kreten Anhaltspunkte“ haben wir dem geltenden Gesetz
entnommen, nämlich § 17 Absatz 2 des Arbeitsschutz-
gesetzes. Dort steht:

Sind Beschäftigte auf Grund konkreter Anhalts-
punkte

– genau wie hier –

der Auffassung, dass die vom Arbeitgeber getroffe-
nen Maßnahmen und bereitgestellten Mittel nicht
ausreichen, um die Sicherheit und den Gesundheits-
schutz bei der Arbeit zu gewährleisten, … können
sich diese an die zuständige Behörde wenden.

Das ist geltendes Recht – offenbar ausreichend konkret.

Was haben Sie dagegen, wenn wir diese Formulie-
rung in unseren Gesetzentwurf aufnehmen? – Was die
Beschäftigten hiernach nicht können, ist, sich an die Öf-
fentlichkeit zu wenden. Aber das ist ja nur die zweite
Schlussfolgerung, die wir von einer anderen Vorausset-
zung abhängig gemacht haben, nämlich von der Güter-
abwägung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Markus Paschke (SPD):
Rede ID: ID1806405100

Ich bin überzeugt davon, dass gerade jemand, den wir

schützen wollen, in der Lage sein muss, ohne seitenlange
Kommentare oder Urteile


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steht im Gesetz!)


– oder Gesetze – zu lesen, zu verstehen, welche Rechte
und Pflichten er hat, wie er sich wann verhalten muss,
damit er auf der sicheren Seite ist, wenn er uns Informa-
tionen gibt. Ich glaube, es ist wichtig, dass nicht unbe-
stimmte Rechtsbegriffe verwendet werden, die wieder
der Auslegung bedürfen. Im Mittelpunkt muss stehen,
dass möglichst jeder Mensch leicht verstehen kann, wo-
rum es geht und welche Rechte und Pflichten er hat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr Vorschlag ist willkommen!)


Es geht nämlich darum, Missstände aufzudecken –
nicht um mehr und nicht um weniger. Ich bin der Über-
zeugung: Der Schutz der Allgemeinheit muss deutlich
über dem Interesse an der Geheimhaltung einer unredli-
chen Geschäftspraxis stehen. Ich glaube, da sind wir uns
aber auch alle einig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nicht der ehrliche Hinweisgeber soll den Schaden ha-
ben, sondern derjenige, der Glykol in den Wein oder





Markus Paschke


(A) (C)



(D)(B)

Pferdefleisch in die Lasagne panscht. Die müssen zur
Verantwortung gezogen werden. Das ist der Maßstab un-
serer Politik.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Es gibt ja auch schon einige Beispiele, bei denen es
funktioniert. Ich will nur ganz kurz erwähnen: Wir haben
den Wehrbeauftragten, an den sich die Soldaten direkt
wenden können. Die Bürgerinnen und Bürger können
sich direkt an den Petitionsausschuss des Bundestages
und an die Datenschutzbeauftragten wenden. Das alles
sind Beispiele, bei denen es schon funktioniert.

Ich glaube, es ist sinnvoll, dass wir durch ein einfach
und deutlich formuliertes Gesetz diejenigen schützen,
die uns wichtige Hinweise geben können. Ich persönlich
bin überzeugt, dass das auch die Abgeordneten unseres
Koalitionspartners wollen und dass sie ebenfalls das
Wohl der Menschen bzw. der Allgemeinheit im Blick ha-
ben.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!)


Wir werden, so wie wir es vereinbart haben, die gelten-
den Regelungen überprüfen. Ich bin überzeugt, dass wir
dabei zu einer guten gemeinsamen Regelung im Sinne
der Allgemeinheit, im Sinne der Hinweisgeber kommen
werden.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806405200

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Markus Paschke (SPD):
Rede ID: ID1806405300

Wer soll die Frage klären, wenn nicht die Große Ko-

alition?

Danke schön.


(Beifall bei der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Grünen offensichtlich! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne den letzten Satz hätten wir geklatscht!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806405400

Jetzt hat der Kollege Alexander Hoffmann das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806405500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-

nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich, dass wir uns heute die Zeit neh-
men, über ein wichtiges Thema zu diskutieren. Die Fra-
gestellung lautet: Wie schützen wir Hinweisgeber in un-
serer Gesellschaft, in Behörden, in Unternehmen besser?
Gerade wir als Politiker haben den Auftrag, entgegenzu-
wirken. Es darf keinen Automatismus geben nach dem
Motto „Jeder Hinweisgeber ist ein Verräter, ein Denunzi-
ant oder ein Nestbeschmutzer“. Hinweisgeber eröffnen
uns die Chance auf Transparenz, die Chance auf kost-
bare Hinweise. Zahlreiche Fälle sind heute schon ge-
nannt worden. Da gibt es den Lkw-Fahrer, der den Gam-
melfleischskandal aufdeckt, oder die couragierte
Pflegefachkraft, die die Missstände in ihrer Einrichtung
mutig anprangert.

Gerade dieser zweite Fall – auch das haben wir schon
gehört – mündete in eine Entscheidung des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese ist seither
richtungsweisend beim Schutz von Hinweisgebern. Aber
genau dieser Fall führt mich auch zu der Frage: Was
müssen wir noch regeln?


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Ein Gesetz machen!)


Um diese zu beantworten, müssen wir zunächst ein-
mal auf die Historie des Falls schauen. Bemerkenswert
war nämlich, dass in diesem Fall in der ersten Instanz
vom Arbeitsgericht die Kündigung tatsächlich aufgeho-
ben worden ist. Erst in der zweiten Instanz wurde die
Kündigung für rechtmäßig erklärt. Vom Bundesarbeits-
gericht wurde diese Entscheidung bestätigt. Dann lan-
dete der Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte. Dort wurde der Pflegefachkraft eine
Entschädigung in Höhe von 15 000 Euro zugesprochen,
und der Fall wurde an das Landesarbeitsgericht zurück-
verwiesen. Dort kam es zu einem Vergleich. Die Dame
hat dann eine Entschädigung in Höhe von 90 000 Euro
bekommen und im Gegenzug eine ordentliche Kündi-
gung akzeptiert.

Was ist an dieser Entscheidung sonst noch interes-
sant? Die Brüsseler Richter haben bestätigt, dass die
Maßstäbe, die das Arbeitsgericht in erster Instanz, das
Landesarbeitsgericht und dann auch das Bundesarbeits-
gericht in diesem Fall angewandt haben, grundsätzlich
die richtigen gewesen sind. Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte hat nämlich exakt dieselben Maß-
stäbe angewandt. Er hat auf der einen Seite das Grund-
recht der unternehmerischen Freiheit gegen das Interesse
der Öffentlichkeit an dieser überaus wichtigen Informa-
tion und das Grundrecht der Pflegefachkraft auf Mei-
nungsfreiheit auf der anderen Seite abgewogen. Es fand
also eine Abwägung statt. Nur aufgrund einer anderen
Gewichtung kam der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte zu einem anderen Ergebnis. Also folgern
wir daraus doch – Herr von Notz, das ist die konkrete
Antwort auf Ihre Frage –, dass wir in dieser Detailfrage
gerade kein gesetzgeberisches Defizit in Deutschland
haben,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Richter haben das durchaus reingeschrieben!)


weil es sich um eine Abwägungsentscheidung handelt,
wie ich gerade aufgezeigt habe. Abwägungsentscheidun-
gen werden Sie nie durch Gesetze ersetzen können.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Richter sind anderer Meinung!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806405600

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-

legin Keul zu?


Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806405700

Ja, sehr gerne.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806405800

Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann, dass Sie diese

Frage zulassen. – Sie sagen: Abwägungskriterien finden
wir in keinen Gesetzen. – Das wäre mir neu. Es ist si-
cherlich richtig, dass die Richter im Einzelfall immer ab-
wägen müssen. An vielen Stellen ist es jedoch gerade
unsere Aufgabe als Gesetzgeber, die Kriterien und die
Grundlagen in das Gesetz hineinzunehmen, nach denen
die Abwägung stattfinden muss. Selbst die Arbeitsrich-
ter sagen: Wir haben etwas gebaut, wir haben ein Gerüst
geschaffen, mit dem wir bei den Hinweisgebern arbei-
ten, aber, lieber Gesetzgeber, wir brauchen mehr als den
§ 612 a BGB. Das kann nicht alles Richterrecht sein.
Wir erwarten vom Gesetzgeber, dass er uns die Grundla-
gen gibt, nach denen wir unsere Entscheidungen treffen
können und müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806405900

Danke, Frau Kollegin Keul, für die Frage. – Ich habe

nicht gesagt, dass in Gesetzen niemals Abwägungskrite-
rien formuliert werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben wir hier reingeschrieben!)


– Nein, das war nicht meine Aussage.

Das ist genau der Punkt. Die Abwägungskriterien, die
in allen Instanzen angewandt worden sind, waren von
der ersten bis zur letzten Instanz genau dieselben. Das
heißt, wenn Sie heute mit einem Gesetz kommen, in das
Sie die Abwägungskriterien hineinschreiben, ändern Sie
in der Sache für diesen Einzelfall gar nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben dieselben Richter dann ein Gesetz gefordert?)


Deshalb gibt es die Erkenntnis: Nicht überall da, wo
Sie Handlungsbedarf erkennen, besteht er auch tatsäch-
lich. Der Schutz von Grundfreiheiten und der Schutz von
Grundrechten hat Ausstrahlungswirkung in die unter-
schiedlichsten Rechtsgebiete.

Wie endet nun der Fall? Er endet wie oft in Fällen von
rechtswidriger Kündigung: Es gibt eine Abfindung ge-
gen eine Akzeptanz der ordentlichen Kündigung. In vie-
len Fällen kommt es dann noch zu einem wohlwollenden
Arbeitszeugnis. Das kann man natürlich beklagen, meine
Damen, meine Herren, aber hier stellt sich doch die
Frage: Könnten wir das mit einer gesetzlichen Regelung
verhindern?


(Karin Binder [DIE LINKE]: Natürlich!)

Auch da habe ich meine Zweifel, meine Damen, meine
Herren. Es geht hier um die menschliche Seite. Wie geht
es dem Lkw-Fahrer, der in seine Firma zurückkommt?
Vielleicht ist es tatsächlich so, dass die Kolleginnen und
Kollegen, die auch solche Lkw fahren, es vielleicht
nachvollziehen können, dass er das gemacht hat. Aber
sie werden es ihm unter Umständen niemals verzeihen
können, weil ihre Arbeitsplätze daran hängen, weil das
Unternehmen ins Wanken gerät. Diese Fälle haben eine
höchstpersönliche, menschliche Seite, und wir werden
gesundes Betriebsklima niemals gesetzlich verordnen
können.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das Gammelfleisch müssen sie weiter transportieren!)


Was beinhaltet die Entscheidung noch? Zunächst ein-
mal manifestieren die Richter, dass es den Vorrang der
innerbetrieblichen Klärung geben muss. Nur in besonde-
ren Ausnahmefällen kann der Hinweisgeber gleich die
externe Klärung in die Wege leiten. Solche Ausnahme-
fälle sind Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne
oder für die Allgemeinheit.

Mit dem Bekenntnis zur Erforderlichkeit der Abwä-
gung der widerstreitenden Interessen macht das Gericht
zudem ein Weiteres klar: Es darf keinen absoluten
Schutz von Whistleblowing jeglicher Art geben.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806406000

Herr Hoffmann, lassen Sie noch einmal eine Zwi-

schenfrage zu, diesmal von der Kollegin Mihalic?


Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806406100

Aber sehr gerne.


Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806406200

Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann, dass Sie die

Zwischenfrage zulassen. – Sie haben vorhin – das haben
die Vorredner auch getan – ausgeführt, dass die Arbeits-
gerichte einschlägig entschieden haben bzw. die Schutz-
vorschriften, die hier genannt worden sind, die es angeb-
lich geben soll, entsprechend ausgelegt haben. Wie
würden Sie das im Fall von Beamtinnen und Beamten
beurteilen? Hier müssen erstens andere Gerichte urtei-
len, und hier gelten zweitens besondere Pflichten gegen-
über dem Dienstherrn. Wie würden Sie hier Hinweisge-
berinnen und Hinweisgeber auf Basis der bestehenden
Rechtsgrundlagen schützen wollen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806406300

Danke für die Frage. – Ich habe vorhin ausgeführt,

dass es beim Schutz von Hinweisgebern um den Schutz
von Grundrechten geht. Grundrechte und Grundfreihei-
ten sind einfachgesetzlichen Regelungen übergeordnet
und sind auch dem Beamtenrecht übergeordnet. Das hat
mich vorhin zu dem Satz veranlasst, dass Grundrechte
und Grundfreiheiten Ausstrahlungswirkung in die unter-
schiedlichsten Rechtsgebiete haben. Das heißt, sobald
dort ein Grundrecht geschützt wird und auch das Grund-





Alexander Hoffmann


(A) (C)



(D)(B)

recht auf Meinungsfreiheit gegenüber dem Interesse des
Beamtenrechts überwiegt, wird sich der Grundrechts-
schutz durchsetzen. Deswegen hat man an der Stelle das
Problem nicht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn? Die Rechtsprechung ist völlig anders! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Täglich hat man das Problem!)


Wenn man die Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte zugrunde legt, dann muss
man feststellen, dass Ihre Vorlagen an mancher Stelle
Regelungen enthalten, die überflüssig sind. Auch enthal-
ten sie Regelungen, die weit über das hinausgehen, was
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mani-
festiert hat. Sie erliegen dem Versuch, Regelungen zu ei-
nem absoluten Hinweisgeberschutz zu formulieren. Zu-
nächst weichen Sie den Vorrang der internen Klärung
auf. Die in Ihren Vorlagen enthaltene Konstruktion der
Beweislastumkehr geht in beiden Fällen zu weit. Ich will
es Ihnen an zwei Fällen verdeutlichen.

Der erste Fall ist am 5. Februar 2012 vor dem Landes-
arbeitsgericht Köln entschieden worden. Eine Haushäl-
terin war von einem Ehepaar angestellt worden, um die
zwei minderjährigen Kinder zu betreuen. Das Ehepaar
war mit der Leistung nicht zufrieden und hat der Haus-
hälterin in der Probezeit gekündigt. Darüber war die
Haushälterin erbost und hat das Ehepaar beim Jugend-
amt angezeigt: Die Kinder seien verwahrlost. Das Ganze
mündete in einen Gerichtsprozess. Schließlich wurde
von einem Kinderarzt ein Gutachten erstellt, und darin
gab es keinerlei Hinweise auf Verwahrlosung.

Der zweite Fall: Bundesarbeitsgericht vom 3. Juli 2003.
Der Leiter eines Jugendzentrums hatte eine Auseinan-
dersetzung mit einem Sozialpädagogen über eine Über-
stundenabrechnung. Der Sozialpädagoge entschließt sich
angesichts dieser Auseinandersetzung, seine Vorgesetz-
ten aus dem Weg zu räumen, erstattet Anzeige wegen
Untreue bei der Staatsanwaltschaft und verknüpft sie mit
der Behauptung, dass der Leiter der Einrichtung dem
Träger immer wieder fingierte Abrechnungen vorgelegt
hat. Auch dieser Vorwurf kann im Laufe des Verfahrens
nicht bewiesen werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hat er keine konkreten Anhaltspunkte gehabt!)


Meine Damen, meine Herren, auch diese Fälle gibt es.
Wenn man Ihre Vorschläge zur Beweislastumkehr zu-
grunde legen würde, dann müsste das Ehepaar beweisen,
dass die Haushälterin nicht in zulässiger Weise von ihren
Rechten nach § 612 a Absatz 1 BGB Gebrauch gemacht
hat. Das steht so in Ihrem Entwurf. Das Ehepaar muss
also beweisen, dass die Haushälterin die Unwahrheit
sagt und die Kinder nicht verwahrlost sind.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss konkrete Anhaltspunkte haben!)

Im zweiten Fall muss der Leiter der Jugendeinrichtung
beweisen, dass kein Fall der Untreue vorliegt. Da sehen
Sie: Es ist doch nicht so einfach, zu einem ausgewoge-
nen Vorschlag zu kommen und all das zu regeln.

Insofern sage ich: Der Prüfauftrag ist eine hochkom-
plexe Materie, für die wir Zeit brauchen. Diese Anträge
lehnen wir deswegen leider ab.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Obwohl Sie dafür noch Zeit brauchen!)


Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806406400

Als nächster Redner spricht der Kollege Andrej

Hunko.


(Beifall bei der LINKEN)



Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806406500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Hans-Christian Ströbele, Sie haben vorhin gesagt, wir
könnten in Europa ein vorbildliches Land in puncto
Whistleblowerschutz werden. Leider ist die Realität ent-
gegengesetzt. Zu diesem Ergebnis kommen auch ver-
schiedene internationale Studien über die Situation in
Deutschland beim Whistleblowerschutz. Wir sagen ganz
klar: Das muss sich ändern.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sage ich ja auch!)


– Ja. Das war keine Kritik. – Ich verweise etwa auf eine
Studie, in der 14 verschiedene Kriterien für die G-20-
Länder aufgestellt und Punkte vergeben werden. In fast
allen Kategorien schneidet Deutschland sehr schlecht ab.
Die Studie kommt zu dem Schluss:

Germany has no specific legal protections for
whistleblowers

– es gibt kein spezielles Whistleblowerschutzgesetz –

other than a limited provision …

Es gibt also nur sehr begrenzte Regelungen. Das haben
wir vorhin schon gehört.

Weiter heißt es:

Nor is there a dedicated agency at the national level



(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Können Sie das nicht auf Deutsch lesen? – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Sie können es gleich auf Deutsch vorlesen, bitte!)


– Ich übersetze es ja gerade für Sie. – Es gibt also keine
Einrichtung auf nationaler Ebene, an die sich Whistle-
blower wenden können. – Das ist das Zeugnis der inter-
nationalen Organisationen.


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Warum sagen Sie nicht „Hinweisgeberschutzgesetz“?)






Andrej Hunko


(A) (C)



(D)(B)

Eine ähnliche Studie gibt es von der EU-Kommission.
Insgesamt ist Deutschland rückständig, was das angeht,
und das muss sich ganz klar ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Zur Wortwahl: Wir reden über „Whistleblower“. Wir
verwenden einen englischsprachigen Begriff. Wir versu-
chen, ihn mit „Hinweisgeber“ oder „Aufklärer“ zu über-
setzen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Trillerpfeifenbläser!)


Aber dass der spezielle Begriff englischsprachig ist,
zeigt, dass es dort sozusagen eine weiter entwickelte
Diskussion als hier in Deutschland gibt. Leider haben
wir in Deutschland Begriffe wie „Nestbeschmutzer“
oder „Denunziant“, aber keinen historisch gewachsenen
entsprechenden Begriff für Whistleblower.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbst die USA haben ein Gesetz!)


Das zeigt, dass es nicht nur eine gesetzgeberische
Aufgabe ist, vor der wir stehen, sondern auch eine kultu-
relle Aufgabe, dass wir einen Paradigmenwechsel in
Deutschland brauchen, was Whistleblowerschutz an-
geht. Viele Beispiele wurden schon genannt.

Natürlich wären ein entsprechendes Gesetz und ein
spezielles Whistleblowerschutzgesetz ein richtiges Si-
gnal für einen solchen Paradigmenwechsel.


(Beifall bei der LINKEN)

Ich begrüße es sehr, dass die Grünen einen Gesetzent-
wurf vorgelegt haben. Darin stehen sehr viele richtige
Sachen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstverständlich!)


Es gibt ein paar Punkte, über die wir auch reden können.
In bestimmten Punkten geht uns der Entwurf nicht weit
genug. Wir werden darüber in den Ausschüssen diskutie-
ren. Wir sind ja heute erst in der ersten Lesung.

Aber lassen Sie mich, auch mit Blick auf das, was in
den letzten anderthalb Jahren in puncto des berühmtes-
ten Whistleblowers Edward Snowden bekannt geworden
ist, noch einmal betonen: Wir brauchen auch ein Whistle-
blowerschutzgesetz, das Menschen in Geheimdiensten
und im Militär schützt. Elemente dafür sind im Gesetz-
entwurf enthalten. Das ist sehr wichtig.

Es wurde auf die Resolution der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates von 2010 verwiesen, an
der ich ein bisschen mitgearbeitet habe. Es wurde auf die
Konvention verwiesen, die im April dieses Jahres vom
Europarat verabschiedet worden ist. Es gibt gegenwärtig
in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats
eine weitergehende Diskussion, die genau diesen Schutz
von Whistleblowern in militärischen und geheimdienst-
lichen Strukturen ins Auge fasst. Das ist der richtige
Weg.

Ich finde, wir sollten in Deutschland nicht hinterher-
traben, sondern wir sollten hier tatsächlich Vorreiter
werden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806406600

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Waltraud Wolff

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1806406700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren!

„Wir werden im Herbst den Informantenschutz ge-
setzlich verankern.“

So zitierte der Tagesspiegel vom 5. Oktober 2007 den da-
maligen Bundesverbraucherschutzminister Horst Seehofer.
Auch damals waren wir in einer Großen Koalition,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In einem Land vor unserer Zeit!)


und ich war die verbraucher- und agrarpolitische Spre-
cherin zu dieser Zeit. Ich muss heute hier konstatieren:
Wären diese Worte damals Wahrheit geworden, müssten
wir heute darüber nicht debattieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Worum geht es, meine Damen und Herren? Es geht
darum, solche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
schützen, die eklatante Missstände in ihren Unterneh-
men aufdecken, die sehen, wie in ihren Unternehmen ge-
gen Gesetze verstoßen wird. Es geht um Menschen, die
diese Missstände in ihren Unternehmen schon lange an-
geprangert haben und immer wieder gegen die Wand ge-
laufen sind. Diese Leute verdienen Schutz und Respekt.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Respekt hat Miroslaw Ricard Strecker 2007 bekom-
men. Herr Strecker fand den Mut, die Polizei zu infor-
mieren, um zu verhindern, dass 11,5 Tonnen Gammel-
fleisch im Handel landen. Horst Seehofer bescheinigte
ihm damals – so zitiert der Tagesspiegel –, dass er „ein
außergewöhnliches Maß an Gemeinsinn“ an den Tag ge-
legt habe und dass er ein „nachahmenswertes Beispiel“
sei.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat eine Medaille gekriegt!)


Der damalige Bundesminister zeichnete den Lkw-Fahrer
sogar mit der „Goldenen Plakette“ des Verbraucher-
schutzministeriums aus – verdient, wie ich meine.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Horst Seehofer – sehr gut!)






Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)

Miroslaw Ricard Strecker ist ein ganz gutes Beispiel.
Er hat Gemeinsinn und sehr viel Mut bewiesen. Schutz
allerdings, meine Damen und Herren, hat Herr Strecker
nicht bekommen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Plaketten helfen nicht!)


Letztendlich bekam er nicht nur die „Goldene Plakette“,
sondern er bekam gleichzeitig auch seine Entlassungsur-
kunde.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So sieht es aus!)


Das war damals der Tropfen, der das Fass zum Über-
laufen gebracht hat. Wir als Verbraucherschützer wollten
den Informantenschutz endlich gesetzlich verankern.
Trotz der Zusage des damaligen Ministers haben wir das
nicht geschafft. Warum? Leider gab es auch zu der Zeit
bis in die höchsten Kreise viele, die einen solchen Infor-
mantenschutz als Denunziantenschutz verunglimpft ha-
ben.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! In der alten Legislaturperiode!)


Meine Damen und Herren, die Forderung, dass der
Informantenschutz nicht für unberechtigte Hinweise gel-
ten darf – meine Kollegen von der CDU/CSU haben da-
rauf hingewiesen –, ist richtig; keine Frage. Dennoch:
Herr Strecker hat verhindert, dass zum Verzehr ungeeig-
netes Fleisch auf unseren Tellern gelandet ist.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf meinem nicht!)


Er hat auch verhindert, dass Unternehmen durch Betrug
Gewinne erzielen. Ein solches Handeln als Denunzian-
tentum zu bezeichnen, würdigt verantwortungsvolles
Handeln herab. Das geht heute, 2014, gar nicht mehr.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und deswegen stimmt die SPD unserem Gesetzentwurf zu!)


Die Zeit ist seitdem nicht stehen geblieben. Wir haben
im Bundestag immer wieder über den Informantenschutz
debattiert. In der letzten Legislaturperiode haben wir von
der SPD einen Antrag dazu formuliert. Leider waren wir
in der Opposition; darum ist er in der Rundablage gelan-
det. Aber auch das Europäische Parlament hat im letzten
Oktober eine Lanze für den Informantenschutz gebro-
chen. In seiner Entschließung zum organisierten Verbre-
chen, zu Korruption und zu Geldwäsche wurde explizit
ein besserer Informantenschutz gefordert.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Die EU-Mitgliedstaaten sind aufgefordert worden, zu
handeln. Dieser Entschließung haben übrigens – das
möchte ich noch einmal deutlich sagen – 33 Abgeord-
nete von CDU und CSU im Europäischen Parlament zu-
gestimmt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind die 33 heute?)


Was tun wir nun heute hier? Unser Koalitionsvertrag
sieht vor, zu prüfen, ob die internationalen Vorgaben hin-
reichend umgesetzt sind.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Sind sie nicht!)


Ich bin seit 1998 im Deutschen Bundestag, also lange
genug, um zu wissen, dass Prüfaufträge eigentlich Still-
stand bedeuten.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ablage P bedeuten!)


Ich sage hier – ich denke, auch im Namen meiner Frak-
tion – ganz klar und deutlich, dass wir eine gesetzliche
Regelung für notwendig erachten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bravo!)


In den letzten Jahren hat das Bundesarbeitsgericht
Kriterien dafür erarbeitet, wie ein Informant geschützt
werden soll. Aber diese Kriterien sind sehr vage, sie sind
unbestimmt, und die Abwägung im Einzelfall führt ei-
gentlich zu mehr Unsicherheit als zu Sicherheit. Hier
könnten gesetzliche Regelungen wirklich Klarheit schaf-
fen. Wir würden einerseits Informantenschutz aufwerten,
andererseits auch das öffentliche Interesse in der Abwä-
gung stärken und so eine Kultur der Rechtstreue, wie es
das Europäische Parlament bezeichnet hat, verankern.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss nur dem grünen Gesetzentwurf zustimmen!)


Es ist zweifelsfrei wichtig, dem Schutz von Unterneh-
men vor unberechtigten Vorwürfen Rechnung zu tragen.
Es ist aber auch wichtig, die Rechte von Menschen zu
stärken, die eklatante Verstöße aufdecken. Wer sollte in
Zeiten von Abhör-, Lebensmittel- und Betrugsskandalen
Rechtssicherheit für Unternehmen und Informanten
schaffen können, wenn nicht diese Große Koalition?


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Grünen!)


Wir haben in dieser Legislaturperiode die abschlags-
freie Rente mit 63 umgesetzt. Wir haben den Mindest-
lohn eingeführt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der muss auch überprüft werden!)


Ich habe große Hoffnung, dass wir es im Rahmen der
Diskussionen in der nächsten Sitzungswoche schaffen
werden, den Informantenschutz auf rechtlich gute Füße
zu stellen.

Herzlichen Dank.





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Andrej Hunko [DIE LINKE]: Da bin ich aber gespannt! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann mal los!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806406800

Als nächster Redner hat der Kollege Uwe Lagosky

das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da können Sie jetzt gut dran anschließen!)



Uwe Lagosky (CDU):
Rede ID: ID1806406900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Aufgrund nationaler und internationaler Ini-
tiativen wird Whistleblowing, die Hinweisgebung, heut-
zutage als essenzieller Beitrag zu einer guten Unterneh-
mensführung betrachtet. Es ist im Allgemeininteresse,
dass Hinweise gegeben werden, unter anderem, damit
korruptes Verhalten und Straftaten aufgedeckt werden
können.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Wenn Whistleblowing beschrieben wird, wird gern
„moralisches Gewissen“ genannt, ebenso „Zivilcou-
rage“, „Heldentat“ und „Mut“. Im Antrag der Grünen
heißt es, dass Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber ne-
ben Mobbing häufig auch arbeits- und dienstrechtlichen
Konsequenzen ausgesetzt sind. Hierdurch entstehe für
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Gewissenskonflikt:
Es ist zu entscheiden, ob sie über die Missstände spre-
chen oder schweigen.

Die Opposition ist der Meinung, dass es ein neues Ge-
setz geben soll. Von den Grünen und den Linken sind
entsprechende Anträge bzw. Gesetzentwürfe sowohl in
den Jahren 2011 und 2012 als auch jetzt, 2014, einge-
bracht worden.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Sehr gute Anträge!)


Ihr gutes Recht.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!)


CDU/CSU und SPD werden beim Hinweisgeberschutz
prüfen, ob die internationalen Vorgaben hinreichend um-
gesetzt sind. Das haben wir im Koalitionsvertrag mitei-
nander vereinbart. Ich bin der Auffassung, dass Sie und
wir alle Möglichkeiten haben, eine entsprechende Rege-
lung innerhalb der Koalition einzufordern.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ja jetzt eine gute Vorlage!)


Insofern sage ich: Dieser Prüfauftrag wird aus meiner
Sicht sicherlich erfolgen.
Jetzt zum Unternehmenskontext. Keine Frage, ein
Mitarbeiter kann sich nicht einverstanden erklären, wenn
unverantwortliche Risiken für das Gemeinwesen oder
Straftaten bei ihm im Betrieb eingegangen werden. Es
braucht – da sind wir uns einig – mutige Mitarbeiter zur
Aufklärung solcher Fälle. Im Gegenzug muss der Hin-
weisgeber aber auch vor Nachteilen im Betrieb geschützt
werden. Und genau dieser Aspekt wird von der deut-
schen Gesetzgebung aufgegriffen.

Der Arbeitgeber darf einen Arbeitnehmer bei einer
Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benach-
teiligen, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise
seine Rechte ausübt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Rechte hat er ja bisher nicht!)


Der Arbeitnehmer ist durch das eben genannte Maß-
regelungsverbot gemäß § 612 a BGB geschützt; das ist
hier heute schon mehrfach gesagt worden. Arbeitnehmer
in Deutschland dürfen ihren Arbeitgeber anzeigen, wenn
er das Recht bricht. Darüber hinaus existieren bereits
zahlreiche spezialgesetzliche Anzeigerechte für Be-
schäftigte – die Gesetze sind hier ebenfalls schon
genannt worden –, zum Beispiel nach dem Arbeits-
schutzgesetz, dem Bundesdatenschutzgesetz oder dem
Betriebsverfassungsgesetz.

Zur derzeitigen Rechtsprechung ist zu sagen: Bei
Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne oder für die
Allgemeinheit kann auf den ersten wichtigen Gang, den
Versuch einer innerbetrieblichen Klärung, verzichtet
werden. In der Rechtsprechung ist dieses ungeschrie-
bene Anzeigerecht der Arbeitnehmer so anerkannt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ungeschrieben!)


– Ungeschrieben, in der Tat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, leider! Das wollen wir ja reinschreiben!)


Auch wenn es sich nicht um schwere Straftaten han-
delt, darf Hinweisgebern nicht gekündigt werden, wenn
sie im Vorfeld einer Anzeige oder Veröffentlichung ei-
nige Regeln einhalten. So können sich Hinweisgeber an
öffentliche Stellen wenden, wenn sie sich zuvor ernsthaft
um eine innerbetriebliche Klärung bemüht haben. Es soll
sich eben nicht sofort an die Polizei und die Medien ge-
wendet werden. Auch darf eine Anzeige nicht leichtsin-
nig und mit dem Ziel erfolgen, einer Kollegin oder ei-
nem Kollegen erheblichen Schaden zuzufügen. Genau
diese Punkte, die auf die bewährte Rechtsprechung zu-
rückzuführen sind, finde ich ausgesprochen sinnvoll.

In einem Betrieb haben Unternehmensleitung, Füh-
rungskräfte und Betriebsrat eine Verantwortung für die
Beschäftigten. Diese Verantwortung erfordert es, mit
Hinweisen im Betrieb sorgsam umzugehen. Es ist zu-
nächst einmal zu klären, ob sie zutreffen, indem man Ge-
spräche mit dem Hinweisgeber, aber auch mit den von
den Hinweisen betroffenen Kolleginnen und Kollegen
führt,


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Sehr richtig!)






Uwe Lagosky


(A) (C)



(D)(B)

kurzum, indem man eine Beurteilung der Gesamtsitua-
tion vornimmt. Wenn die Gesamtsituation es erfordert,
sind auch arbeits- und strafrechtliche Maßnahmen einzu-
leiten.

Viele Unternehmen in Deutschland haben Ethikricht-
linien und entsprechende Betriebsvereinbarungen mit
ihren Betriebsräten abgeschlossen. Als ehemaliger
Konzernbetriebsratsvorsitzender eines Energieversor-
gungsunternehmens hatte ich einmal die Gelegenheit,
eine derartige Ethikrichtlinie und Betriebsvereinbarung
abzuschließen. Um sie umzusetzen, wird in der Regel
auf eine Anlaufstelle im Betrieb Wert gelegt und diese
installiert. Es findet eine Sensibilisierung, eine Beleh-
rung der Beschäftigten statt, indem man unter anderem
Korruptionssachverhalte deutlich macht. Korruptionsre-
levante Straftaten werden ebenfalls dort benannt, sodass
die Beschäftigten insgesamt auf diese Situation vorberei-
tet sind.

Ethikrichtlinien sollen dabei unterstützen, dass mögli-
che Straftaten oder korruptes Verhalten aufgedeckt wer-
den und dass ein eventueller Rufschaden für den Betrieb
oder für einzelne Mitarbeiter bei nicht korrekten Hinwei-
sen abgewendet werden kann. Sie stellen auch den Hin-
weisgeber unter Schutz. Wenn man nach den betriebli-
che Richtlinien und dem geltenden Recht verfährt, sind
Betrieb und Hinweisgeber in der Regel maximal ge-
schützt.

Die betrieblichen Handlungsmöglichkeiten eröffnen
auf der einen Seite den Rechtsweg, verhindern auf der
anderen Seite aber auch, dass Beschäftigte und Arbeitge-
ber zu Unrecht von Hinweisgebern belastet werden. Un-
ter welchen Rechtfertigungsdruck geraten Betriebe,
wenn keine innerbetriebliche Aufklärung vorgeschaltet
ist? Man muss sich das nur einmal vorstellen: Medien
kommen auf den Vorstand oder Betriebsrat zu, und es
herrscht völlige Unwissenheit bei den Entscheidern.
Keine vorhergehende Information, keine Möglichkeit
zur Umsetzung der innerbetrieblichen Regelungen, die
der Regeltreue dienen, keine Aufklärung des Sachver-
haltes, keine Chance, sich mit Vorwürfen auseinanderzu-
setzen, keine eigene Entscheidung über mögliche Straf-
anzeigen, keine Kommunikationsstrategie, falls falsche
Hinweise an die Öffentlichkeit gelangt sind – kurz ge-
sagt: Chaos.

Unzutreffende Anschuldigungen sind in der Öffent-
lichkeit nur schwer oder gar nicht mehr zu korrigieren.
Ungerechtfertigte Anzeigen können finanzielle und exis-
tenzielle Folgen für den gesamten Betrieb haben und na-
türlich auch für die Arbeitsplätze, die dahinter stehen.
Insofern ist die Darstellung, dass Hinweisgebern neben
Mobbing häufig auch arbeits- und dienstrechtliche Fol-
gen bis hin zur Kündigung sowie strafrechtliche Konse-
quenzen drohen, nur eine Sichtweise der Dinge.

Unternehmen haben mit der Einführung von
Ethikrichtlinien und dazugehörigen Betriebsvereinba-
rungen erheblich zur Korruptionsprävention beigetragen
oder haben noch die Möglichkeit dazu. Durch die Betei-
ligung an der Entwicklung von Ethikrichtlinien in Ver-
bindung mit Betriebsvereinbarungen haben auch die Be-
triebsräte die Möglichkeit, ihren Einfluss in den
Betrieben zu steigern. Es kommt nicht nur auf neue Ge-
setze an, sondern vielmehr auf eine Kultur im Betrieb,
die die Sozialpartner gemeinsam gestalten, eine Kultur,
die es den Beschäftigten von vornherein leicht macht, in-
tern Hinweise zu geben und so ihren Beitrag zu leisten,
grobe Missstände und Gefahren abzustellen.

Meine Meinung ist: Deutschland hat eine Gesetzge-
bung, die den Betrieben sowohl Möglichkeiten zur Auf-
klärung als auch einen ausgewogenen Hinweisgeber-
schutz bietet. Die im Koalitionsvertrag vorgesehene
Prüfung werden wir vornehmen. Ich bin auf die Ergeb-
nisse gespannt. Als Union lehnen wir den Inhalt des An-
trags und des Gesetzentwurfs an dieser Stelle ab.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806407000

Als letzter Redner in der Debatte hat jetzt der Kollege

Gerold Reichenbach das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1806407100

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne
und am Fernseher! Wir reden hier nicht über den Schutz
von Querulanten oder über den Schutz von denjenigen,
die aus persönlichen Motiven heraus ihrem Arbeitgeber
schaden, sondern wir reden über ganz andere Fälle.

Es ist 20 Jahre her. Der eine oder andere wird sich er-
innern an Bilder von zuckenden Kühen aus England und
die Berichte von Menschen, die sich an dieser tödlichen
grausamen Krankheit durch in Umlauf gebrachtes Rind-
fleisch von erkrankten Tieren angesteckt haben. Gleich-
zeitig kam hier in Deutschland von der Fleischindustrie
und auch von vielen offiziellen Stellen die Beteuerung:
Das ist ein englisches Problem. Das gibt es bei uns in
Deutschland nicht.

Im Jahr 1994 schilderte die Hygieneamtstierärztin
Margrit Herbst in einem Interview, das im öffentlich-
rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde, wie sie in ei-
nem Schlachthof bei der Tierbeschau BSE-Anzeichen an
mehreren Tieren festgestellt hat. Diese Tiere wurden
dann allerdings auf Entscheidung höherer Stellen trotz-
dem für die Schlachtung und die Inumlaufbringung frei-
gegeben. Dann erst kam auch in Deutschland der BSE-
Skandal ins Rollen.

Jetzt frage ich Sie: Welchen Schutz hat denn diese
Frau genossen, die verhindert hat, dass auch in Deutsch-
land Produzenten und Fleischbetriebe aus Profitgier wei-
ter Fleisch in den Umlauf bringen, das die Gefahr in sich
birgt, dass auch deutsche Bürger sich in Massen an die-
ser grausamen und tödlich endenden Krankheit infizie-
ren? Sie hatte sich ja zuvor an ihren Vorgesetzten gewen-
det. Das Ergebnis war: Margrit Herbst wurde fristlos
gekündigt.

Der hier schon ein paarmal angesprochene Fall der
Pflegerin in einem Berliner Klinikum, die ihren Rechts-
schutz bis zum EuGH durchklagen musste, macht deut-





Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)

lich: Offensichtlich sind die Schutzvorschriften, die wir
in den unterschiedlichen Gesetzen durchaus haben, nicht
ausreichend, um Beschäftigte, die Mut zeigen, dann
auch zu schützen. Wer hat denn die Unterstützung und
die Kraft, seine Rechte als Arbeitnehmer bis zum EuGH
durchzuklagen?

Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel. In meinem
Wahlkreis – zwei Ortschaften nebendran – wohnt Rudolf
Schmenger. Das ist einer der hessischen Steuerfahnder,
die sich ebenfalls an ihre Vorgesetzten gewendet haben
und die weggemobbt wurden. Erst nachdem sie aus dem
Dienst entfernt worden sind, konnten über Gerichte im
Nachhinein die Unrechtmäßigkeit des Handelns ihrer
Arbeitgeber und ein Schadenersatzanspruch festgestellt
werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sagen, die Rechtslage reicht!)


Jetzt komme ich zu den Grünen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode ge-
nauso wie Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir wer-
den auch weiterhin dafür eintreten, dass wir Mehrheiten
haben.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ihr regiert!)


– Ja, lieber Konstantin von Notz, wir regieren hier ge-
meinsam mit der CDU/CSU. Aber solange Sie sich
– den Fall Schmenger vor Augen – nicht stolz hier hin-
stellen und sagen können, dass Sie gemeinsam mit der
CDU in Hessen im hessischen Beamtengesetz einen
Hinweisgeberschutz geschaffen haben,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abwarten!)


gilt für Sie das Gleiche wie für den Fußballfan auf der
Tribüne, der lautstark etwas fordert, es aber auf dem
Platz selbst nicht hinbekommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Letzter Satz. Wir werden über das Gesetz, übrigens
auch über die Details, diskutieren. Kollege Ströbele, das,
was Sie da so schön zitiert haben, das sind die Formulie-
rungen, die wir gemeinsam in der Opposition


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bisschen anders!)


bei dem zum Glück verfehlten Versuch der schwarz-gel-
ben Koalition im Zusammenhang mit dem Überwa-
chungsskandal bei Bahn und Post und bei anderen für
einen Hinweisgeberschutz im Beschäftigtendatenschutz-
gesetz gefunden haben.

Das sind die gleichen Formulierungen, die wir damals
als völlig unzureichend und nicht bestimmt genug kriti-
siert haben. Jetzt kommen Sie selbst mit diesen Formu-
lierungen. Das heißt, wenn Sie selbst Ihre Aussagen von
damals ernst nehmen würden, dann würden Sie hier zu-
mindest einen gewissen Diskussions- und Regelungsbe-
darf entdecken und sich nicht einfach nur so hinstellen
und sagen: Wir haben den Stein der Weisen, und die an-
deren sind nur nicht in der Lage, das zu erkennen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Wohlfeilste überhaupt!)


Es gibt dazu die Beschlüsse auf europäischer Ebene;
das ist gesagt worden. Auch das Europäische Parlament
hat dazu mehrmals Beschlüsse gefasst. Wir als Sozialde-
mokraten werden sowohl in der Prüfung, die wir in der
Koalition vereinbart haben, als auch darüber hinaus da-
für kämpfen, dass wir hier in diesem Parlament die poli-
tischen Mehrheiten dafür bekommen, Menschen, die so
mutig wie Frau Herbst waren, das Schicksal, anschlie-
ßend arbeitslos auf der Straße zu stehen, in Zukunft zu
ersparen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806407200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwas

Zurückhaltung auch bei Zwischenfragen, weil wir sonst
völlig aus dem Zeitrahmen laufen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber so ein wichtiges Thema, Frau Präsidentin!)


– Ich finde, dass diese Zwischenfragen für eine Debatte
wichtig sind; deswegen habe ich sie auch zugelassen.
Aber ich bitte Sie trotzdem, die Zeit ein bisschen im
Auge zu behalten. Auch die Kolleginnen und Kollegen,
die nach Ihnen zu den anderen Debattenpunkten reden
werden, sollten nicht vor einem leeren Haus sprechen.
Dazu sind die Debatten zu wichtig.

Wir kommen jetzt zu der Überweisung. Interfraktio-
nell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 18/3039 und 18/3043 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federfüh-
rung ist jedoch strittig. Deshalb muss ich darüber ab-
stimmen lassen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD
wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und
Soziales, und die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz.

Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen,
also Federführung beim Ausschuss für Recht und Ver-
braucherschutz, abstimmen. Wer stimmt diesem Über-
weisungsvorschlag zu? – Das sind Bündnis 90/Die Grü-
nen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Das ist die
Koalition. Enthaltungen? – Niemand. Damit ist dieser
Überweisungsvorschlag abgelehnt worden.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Fe-
derführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Die Koali-





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

tion. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen
und Die Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist
der Überweisungsvorschlag angenommen worden: Die
Federführung hat der Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 32 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Joachim Pfeiffer,
Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden), weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee,
Hubertus Heil (Peine), Niels Annen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Strategische Ziele für die Raumfahrt in dieser
Legislaturperiode absichern
Drucksache 18/3040
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Staatssekretärin Brigitte Zypries das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/CSU])


B
Brigitte Zypries (SPD):
Rede ID: ID1806407300


Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich möchte mich bei den Mitglie-
dern des Hohen Hauses dafür bedanken, dass sie es mit
dem Einbringen des Antrags der Koalitionsfraktionen er-
möglicht haben, hier im Bundestag eine Debatte zum
Thema Raumfahrt zu führen. Überall in Deutschland ist
die Raumfahrt in diesen Tagen präsent. Es ist schön, dass
wir das im Bundestag nachvollziehen.

Der Astronaut Alexander Gerst ist der wesentliche
Anlass dafür, dass im Moment so viel über Raumfahrt in
Deutschland geredet wird. Alexander Gerst ist nicht nur
ein vorzüglicher Wissenschaftler, der viele Experimente
in der ISS durchführt, sondern er ist auch ein echter
Sympathieträger für die Luft- und Raumfahrt. Mit seinen
zahlreichen Liveschaltungen, Postings bei Twitter und
Facebook lässt er die Welt an allem teilhaben. Insbeson-
dere viele junge Leute reagieren positiv auf ihn.

Das nächste Highlight steht nächste Woche bevor:
Am 12. November soll der Lander auf einem Kometen
ausgesetzt werden.


(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: TschurjumowGerassimenko!)


– Wunderbar, vielen Dank, Herr Kollege. Ich hätte mich
nicht getraut, diesen Namen auszusprechen. – Er soll
nach zehn Jahren Flug im All dorthin erforschen, aus
welchem Material das frühe Sonnensystem war und wie
der Ursprung der Welt ist, wie das Weltall entstehen
konnte.

Das sind die Themen, die die Öffentlichkeit wahr-
nimmt.

Aber natürlich schreitet auch der Aufbau des Galileo-
Navigationssystems voran. Wir alle nutzen täglich das,
was in Form von Datenmengen und Satellitenverbindun-
gen aus dem Weltall kommt, ohne großartig darüber
nachzudenken. Fakt ist aber: Ohne den Weltraum, ohne
die Satelliten, die wir in den Weltraum transportiert ha-
ben, und ohne die Raketen, die wir dafür brauchen, wäre
das Leben auf der Erde, wie wir es heute kennen, gar
nicht mehr vorstellbar.

Dabei geht es mir jetzt gerade gar nicht um die
Grundlagenforschung, die in diesem Bereich erfolgt ist,
und um die Materialforschung, die wir der Raumfahrt
verdanken. Das kommt alles dazu. Ich meine ganz real
die täglichen Anwendungen, die wir nutzen: Die Satelli-
ten helfen uns bei der Klimaforschung, der Wettervor-
hersage und beim Katastrophenschutz, zum Beispiel
durch die Erstellung aktueller Lagebilder.

Die praktische Bedeutung für unseren Alltag spiegelt
sich auch in den Aufwendungen der Bundesregierung
für die zivile Raumfahrt wider. Diese Aufwendungen
sind in den letzten Jahren stark gestiegen. Wir haben in
diesem Jahr 1,3 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt
eingestellt. Auch dafür vielen Dank an die Abgeordne-
ten, die das ermöglicht haben.

Einen Teil dieser Mittel verwenden wir für unser na-
tionales Programm im Weltraum. Denn dort betreiben
wir mit TerraSAR-X und TanDEM-X eigene Projekte,
bei denen es um die Ermittlung von Höhenmodellen der
Erdoberfläche geht. Wenn das Programm so gelingt, wie
es geplant ist, wird es zu erheblichen neuen Anwendun-
gen in der Navigation und sonstigen Technologien füh-
ren.

Im Bereich der Satellitenkommunikation werden wir
mit der Mission „Heinrich Hertz“, die wir gemeinsam
mit dem Verteidigungsministerium auf den Weg ge-
bracht haben, neue Wege beschreiten.

Die optische Satellitenkommunikation ist ein anderer
Bereich, in dem Deutschland weltweit die Nase vorn hat.
Mit dem Laser Communication Terminal können 20-mal
höhere Datenraten erreicht werden. Da entsteht Spitzen-
technologie „Made in Germany“. Es ist gut und richtig,
dass die ESA und das ESOC in Darmstadt jetzt mit
INNOspace eine neue Initiative gestartet haben und da-
mit die Technologien aus der Raumfahrt mit dem zusam-
menbringen, was wir in anderen Bereichen auf der Erde
machen. Denn wenn wir von Industrie 4.0 und neuen
Technologien reden, dann ist klar, dass damit eine mas-
senhafte Datenverarbeitung verbunden ist. Und wer
kann das besser als die Raumfahrer?

Ehe meine Redezeit aus dem Ruder läuft, möchte ich
noch ein paar Sätze zur ESA-Ministerkonferenz sagen.
Insbesondere die interessierte Wirtschaft kennt zurzeit
kein anderes Thema mehr als das Datum 2. Dezember.





Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries


(A) (C)



(D)(B)

Wir werden dann noch einmal über die institutionelle
Trennung von EU und ESA beraten. Dazu hat die Bun-
desregierung – das habe ich auch dem Antrag entnom-
men – dieselbe Position wie der Bundestag: Wir wollen,
dass die ESA in ihrer Autonomie bestehen bleibt und
dass es nur um die punktuelle Zusammenarbeit mit der
EU geht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es hat auch sehr praktische bzw. finanzielle Gründe,
weshalb wir das wollen. Wir haben mit der ESA eine
wirklich schlagkräftige Organisation, bei der wir gerne
einen Deutschen an der Spitzen sehen würden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das zweite Thema ist die Finanzierung der ISS.
Deutschland steht zu seinen Verpflichtungen. Das ist
völlig klar. Aber ich sage auch ganz klar: Wir möchten,
dass andere ebenfalls dazu stehen und dementsprechend
ihren vereinbarten Anteil übernehmen. Das muss durch-
gesetzt werden.

Die Frage, welche Rakete wir jetzt bauen, bringt mich
zunächst einmal zu der Aussage, dass wir mit der Ariane 5
eine Rakete haben, die ausgesprochen zuverlässig ist.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Wir haben über 50 erfolgreiche Starts in Folge gehabt –
ohne einen einzigen Zwischenfall. Und diese Rakete ist
sehr gut am Markt positioniert. Sie müssen wissen, dass
ungefähr 60 Prozent des Marktes für kommerzielle Sa-
tellitenstarts auf die Ariane 5 entfallen.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Auch das muss man bedenken!)


Die Notwendigkeit, diese Rakete weiterzuentwickeln,
lag also nur darin, dass sie im Start zu teuer ist und dass
man davon ausgeht, dass die Amerikaner mit SpaceX
günstigere Modelle haben. Deswegen wurde vor zwei
Jahren die Entwicklung einer Ariane 5 ME von der
Ministerkonferenz beschlossen und angedacht.

Nun gibt es aber einen neuen Vorschlag einer Ariane
6. Auch wenn jetzt viele zur Eile drängen, kann ich nur
sagen: Man sollte sich das gründlich überlegen. Wir
Deutsche haben mit Großprojekten hinreichend
schlechte Erfahrungen in den letzten Jahren gemacht.
Wenn ich mir die Geschichte der Raketenentwicklung
vor Augen führe, dann stelle ich fest, dass die Entwick-
lung einer jeden Rakete länger gedauert und mehr gekos-
tet hat als ursprünglich veranschlagt. Ich frage mich
– gewissermaßen noch als Neuling nach knapp einem
Jahr in diesem Amt –: Warum bitte soll es eigentlich
diesmal anders sein als sonst? – Deswegen bin ich sehr
zurückhaltend, um es klar zu sagen. Ich hoffe nichtsdes-
totrotz, dass wir gemeinsam insbesondere mit unseren
französischen Kolleginnen und Kollegen da noch einen
Kompromiss finden werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806407400

Als nächster Redner spricht der Kollege Thomas

Lutze.


(Beifall bei der LINKEN)



Thomas Lutze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806407500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Raumfahrt – ohne Zweifel – fasziniert.
Kaum ein anderes Forschungsfeld steht so für Visionen
und Fortschritt wie die Weltraumforschung. Raumfahrt
steht für neue, sagenhafte Erkenntnisse. Raumfahrtfor-
schung steht für ganz neue Perspektiven. Gestatten Sie
mir deshalb, dass ich mich anhand von drei Punkten zu
Ihrem Antrag kritisch äußern muss und ihn kritisch hin-
terfragen möchte.

Erster Punkt. Wissenschaft sollte in der heutigen Zeit
nicht mehr von Staatsangehörigkeit, Patriotismus oder
propagandistischen Interessen beeinflusst sein. Spätes-
tens 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges sollten wir
zumindest dieses Kapitel schließen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die internationale Zusammenarbeit kommt aber im An-
trag der Koalition zu kurz. Ich spreche hier nicht von un-
serer Zusammenarbeit im Rahmen der ESA, sondern
von der Zusammenarbeit mit anderen Weltraumnatio-
nen. Das wären neben Europa zum Beispiel die USA,
Russland, China, mittlerweile auch Indien und andere
Staaten. Im Weltall gibt es keine Grenzen. Ich glaube,
dass es auch in der Weltraumforschung keine Grenzen
geben darf.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Koalition will eine Raumfahrt, die stärker auf
Nutzen, Bedarf, Nachhaltigkeit ausgelegt ist. Verstärken
Sie bitte die internationale Kooperation, wenn Sie ernst-
haft nachhaltig arbeiten wollen!


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zweiter Punkt. Zum fortschrittlichen Umgang mit
Wissenschaft zählt auch, dass moralische Standards
nicht außer Acht gelassen werden. Als Linksfraktion
wollen wir nicht, dass staatliche Gelder dazu aufge-
bracht werden, zum Beispiel Rüstungskonzerne bei der
Entwicklung von Technologien im Raumfahrtbereich zu
unterstützen. Leider ist es so, dass ursprünglich friedli-
che Entwicklungen auch von der Rüstungsbranche ge-
nutzt werden. Aber die staatliche Förderung muss aus-
nahmslos im Interesse des Friedens und zum Wohl der
Menschen erfolgen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dritter Punkt. Ein großes Problem sehe ich bei fol-
genden Äußerungen im Antrag der Großen Koalition
– ich darf zitieren –:

Die hohen Kosten für die Raumfahrt sind nur durch
einen hohen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen





Thomas Lutze


(A) (C)



(D)(B)

oder kommerziellen Nutzen zu rechtfertigen. Das
erfordert

– und jetzt kommt es –

eine klare Ausrichtung der Raumfahrt auf Nutzen
und Bedarf …

Herr Riesenhuber wird nach mir reden und kann das
vielleicht bestätigen: So funktioniert Wissenschaft nicht.
Forschungsprojekte an dem aktuellen, kurzfristigen In-
novationsbedarf auszurichten und noch dazu von den
Kosten abhängig zu machen, führt zu einer Kapitalisie-
rung von Forschung, Wissenschaft und Bildung. Wenn
nur noch Projekte gefördert werden, deren Nutzen von
vornherein abzusehen ist, werden mögliche, eventuell
sogar revolutionäre Entdeckungen unmöglich.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Staat darf Wissenschaft nicht einfach als Mittel
zur Profitmaximierung betrachten. Er muss sie als trei-
bende Kraft des kulturellen Fortschritts verstehen. Wenn
wir uns nicht trauen, Rückschläge in Kauf zu nehmen,
wird auch jeder wissenschaftliche Fortschritt ausbleiben.
Forschergeist braucht Freiheit und keine Grenzen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Revolutionäre Entdeckungen, die die Grundsteine für
nahezu die gesamte heutige Forschung gelegt haben, wä-
ren in der Vergangenheit so nicht gemacht worden. Die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich
nicht von einem Kosten-Nutzen-Verhältnis einengen las-
sen. Ihr Motto war immer, Licht ins Dunkel des Univer-
sums zu bringen.

Selbstverständlich lassen sich in der Realität nicht
alle Träume verwirklichen. Trotzdem: Wir brauchen den
guten alten Entdeckergeist. Den dürfen wir nicht durch
zwanghaften Effizienzeifer kaputtmachen lassen.

Aus meiner Sicht muss die Zukunft der Raumfahrt
und der Weltraumforschung friedlich, international, ko-
operativ und dem menschlichen Fortschritt verpflichtet
sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn die Wirtschaft daraus einen Nutzen ziehen kann,
dann ist das gut so. Das darf aber nicht alleine unser
Handeln bestimmen, so wie es im Antrag der Koalition
zum Ausdruck kommt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806407600

Als nächster Redner hat der Kollege Professor

Dr. Heinz Riesenhuber das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1806407700

Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Lieber Herr

Lutze, es freut mich erstens, dass Sie die Leidenschaft
von Frau Zypries für die Weltraumfahrt teilen. Es freut
mich zweitens Ihre Begeisterung für den Geist der Wis-
senschaft. Das ist, finde ich, eine vorzügliche Einstellung.
Über die Wissenschaft, über das Wissenschaftsprogramm,
über die Technologiestrategien, über die Exploration und
über andere Themen wird die ESA 2016 diskutieren.
Heute haben wir hier drei zentrale technologische und
strategische Themen anzusprechen. Ich freue mich sehr,
Frau Staatssekretärin, über die harmonische Überein-
stimmung der Bundesregierung mit der Koalition in den
grundsätzlichen Zielen und in der Begeisterung für die
Sache.

Wir haben drei gewichtige Themen. Die eine Frage
ist: Wie wird Europa zukünftig den Zugang zum Welt-
raum organisieren? Mit der Ariane 5 haben wir ein ex-
zellentes Gerät. Seit 2003 gab es 62 Starts ohne irgend-
ein Problem. Sie ist verlässlich, sie hat sich über die
Jahre bewährt. Aber jetzt haben wir eine andere Welt
– Frau Zypries weist darauf hin –: Wir haben eine Welt,
in der sich die Konkurrenten neu aufstellen, in der die
Ariane wettbewerbsfähig sein muss. Die Fragen, ob sie
billiger werden kann, wesentlich billiger, ob sie flexibler
werden kann, ob die nächste Ariane Kern einer neuen
Familie von Trägern werden wird, sind interessante Fra-
gen.

Deutschland und Frankreich, die zwei Industrienatio-
nen, die hier im Wesentlichen beteiligt sind, haben in der
Tat ein neues Konzept vorgelegt, das schon seine Faszi-
nation hat. Wir haben bis jetzt eine Weiterentwicklung
zur Ariane 5 ME im Sinn gehabt. Das ist eine kluge und
saubere Strategie. Aber die Frage, ob der Vorschlag für
die nächste Generation Ariane 6 einen Durchbruch in
eine neue Dimension bringen kann, wird interessant
sein. Ich bin nicht sicher, ob das Konzept schon reif ist.
So etwas muss dann auch durchdiskutiert sein. Ich bin
nicht sicher, ob es erreicht werden kann, dass die Indus-
trie die angestrebte höhere Verantwortung tatsächlich
übernimmt. Ich bin nicht sicher, dass wir schon wissen,
ob die Strukturen so sind, dass wir dem privatwirtschaft-
lichen Ansatz in den Vereinigten Staaten widerstehen
können.

Wir haben es beim Airbus erlebt. Vor 30 Jahren war
das ein freundlicher Gedanke der Bundesregierung ge-
wesen – und natürlich von Herrn Strauß. Er wurde
schrittweise entwickelt. Die Industrie hat sich gegen alle
Erwartungen beteiligt, aber den Durchbruch auf den
Weltmärkten erzielte der Airbus in dem Moment, in dem
die Industrie die Verantwortung übernommen hat und in
der Konkurrenz mit Leidenschaft, Augenmaß und dem
Willen zum Überleben für das jeweils beste technische
Konzept gekämpft hat. Solche Strukturen auch bei der
Ariane zu erreichen, wäre eine faszinierende Sache. Das
ist ein langer Prozess.

Unser Antrag, der ein weiser Antrag ist, schreibt der
Bundesregierung nicht vor, wie das gemacht werden
kann. Wir sprechen über strategische Ziele. Wir achten
die Hoheit der Exekutive bei den Verhandlungen. Wir





Dr. Heinz Riesenhuber


(A) (C)



(D)(B)

bewundern die Kompetenz des DLR, wir freuen uns
über das Zusammenspiel der Bundesregierung mit dem
DLR, aber auch mit ihren Partnern in der Welt. Aber die
Ariane wird eines der Themen sein, über die zu entschei-
den ist.

Zweitens – Frau Zypries hat es angedeutet –: Was
passiert mit der Internationalen Raumstation? Das ist
schon eine einzigartige Einrichtung, beruhend auf der
größten technischen Zusammenarbeit, die es in der Welt
überhaupt gibt, einhergehend mit äußerster Komplexität,
mit großer Strahlkraft. Wir haben uns beim Betrieb der
ISS bis 2020 festgelegt. Die Finanzierung muss man
jetzt wieder vernünftig festklopfen. Die alte Kostenver-
teilung muss stehen.

Aber was passiert danach? Ich bin sehr gespannt da-
rauf, welche Vorschläge dazu kommen. Es wird Zeit:
2020 – bis dahin haben wir uns festgelegt – ist nicht
mehr fern. Bis dahin gilt es, herauszufinden, was wir
wollen: Wie können wir die Kompetenz dafür, dass
Menschen im Weltraum arbeiten können, erhalten? Wie
können wir sie weiter sinnvoll nutzen? Wenn wir die ISS
weiter nutzen wollen, machen die Partner dabei mit?
Welches sind die wissenschaftlichen Anschlusspro-
gramme? Darin liegt durchaus, lieber Herr Lutze, Faszi-
nation für das, was in der Wissenschaft, in der Material-
forschung, bei Legierungen, in der Pharmazie, in der
Medizintechnik, an Bord der ISS passiert.

Das ist weitestgehend Grundlagenforschung. Grund-
lagenforschung – jetzt muss ich aufpassen, dass ich
keine Rede über andere Themen halte – ist wirklich auch
dann reizvoll, wenn sich die Industrie vorher überlegt,
was dabei herauskommen kann. Wir wollen jetzt einmal
schauen, dass die Finanzierung der ISS bis 2020 gesi-
chert werden kann und dass es dann verlässlich weiter-
läuft.

Drittens. Die EU hat jetzt den Auftrag, eine europäi-
sche Raumfahrtpolitik zu entwickeln; das ist im 2009 in
Kraft getretenen Vertrag von Lissabon festgelegt. Das ist
eine große Aufgabe. Sie gelingt dann, wenn die EU den
großen strategischen Rahmen für die Raumfahrtpolitik
errichtet und wenn die ESA mit ihrer technischen Kom-
petenz die Geräte zur Umsetzung so entwickelt, dass die
Nationen, die beteiligt sind, jeweils ihre besten Fähigkei-
ten mit einbringen können, und wenn daraus dann eine
gemeinsame Strategie von großer Stärke entsteht.

Dass dies gelingt, ist nicht ganz einfach zu erreichen.
Aber wir haben jetzt, an dieser Stelle, die Chance, die
Weichen so zu stellen, dass die Fähigkeit Europas, Welt-
raumtechnik in die Gesamtstrategie seiner Industrie- und
Wirtschaftspolitik, seiner Klima- und Umweltpolitik ein-
zubeziehen, kombiniert wird mit dem unabhängigen und
bewährten System der ESA und ihrer Partner.

Das sind die drei entscheidenden Punkte. Auch das,
was hier darüber hinaus ansteht, ist von Bedeutung. Wir
haben über die Raumfahrt im Deutschen Bundestag
nicht sehr oft diskutiert; die letzte Weltraumdebatte liegt
ungefähr ein Jahrzehnt zurück; wir denken also durchaus
in chinesischen Zeiträumen. Eine wichtige Frage ist hier
schon mit angemessener Behutsamkeit angesprochen
worden: Wie schön wäre es, wenn wir bald einen deut-
schen ESA-Generaldirektor bekämen? Deutschland hat
sich bereit erklärt, einen vorzüglichen Kandidaten vor-
zuschlagen. 30 Jahre ist es her, dass Reimar Lüst zum
Generaldirektor der ESA gewählt worden ist. Er war ein
prachtvoller Kandidat; er war ein exzellenter Generaldi-
rektor. Das Gleiche traue ich auch Johann-Dietrich Wör-
ner zu.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ministerratskonferenzen haben ihre Tagesordnung.
Sie haben in aller Regel aber auch eine kluge zweite
Agenda; Frau Bulmahn, Sie wissen es aus Ihrer früheren
Regierungszeit. Die konspirativen Netzwerke, durch die
mit unauffälliger, liebevoller Kooperation vorbereitet
wird, was hernach an Entscheidungen bis hin zu den de-
likaten Personalentscheidungen entstehen kann, sind
dort lebendig. Nicht durch die Weisheit der Papiere, son-
dern durch den charmanten und liebenswürdigen Um-
gang mit Andersmeinenden entsteht dann plötzlich der
Durchbruch zur übergeordneten Wahrheit, nämlich zur
Akzeptanz unseres Kandidaten.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schließlich: Zu Recht ist darauf hingewiesen worden,
was für eine wirklich gewinnende und beeindruckende
Arbeit Alexander Gerst im Weltraum geleistet hat. Wir
haben mit unseren Wissenschaftsastronauten immer
Glück gehabt. Ich spreche nicht von Sigmund Jähn. Das
war 1978 in der DDR.


(Zuruf des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ CSU])


– Andreas, du erinnerst dich noch aus deiner frühen Ju-
gendzeit. – Alle deutschen ESA-Wissenschaftsastronau-
ten von Ulf Merbold bis Alexander Gerst – ich zähle sie
gar nicht alle auf – waren ganz verschieden, aber sie wa-
ren prima: kompetent, nervenstark, mit einer erkennbar
strahlenden Freude an Technik. Sie waren begeistert,
ihre Arbeit zu tun. Besonders die Idee, dass wir es kön-
nen, dass Deutschland in Technik glanzvoll ist, dass wir
hier verantwortlich mit der Wirklichkeit und unseren
Möglichkeiten umgehen, das haben sie rübergebracht –
auch über das hinaus, was im Weltraum technisch er-
reicht werden kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist eine bedeutende Sache, immer wieder mit sicht-
baren Beispielen zu zeigen, an welchen Stellen erfolg-
reich und mit Strahlwirkung gearbeitet werden kann, um
so für Technik zu begeistern. Wenn wir Carbon Nanotu-
bes erklären, begeistert das keinen Menschen, auch
wenn der Durchbruch gigantisch ist; ein Mensch aber,
der im Weltraum erfolgreich arbeitet und wohlbehalten
zurückkehrt, das ist eine gute Sache.

Als wir vor vielen Jahren den Space-Shuttle „Enter-
prise“ der NASA aus dem Weltraum nach Köln geholt
haben, sagten die Leute erst: Was soll das? Da kommen
vielleicht 5 000 Menschen. – Es waren dann 300 000,
weil die Begeisterung für einen sichtbaren Erfolg in die





Dr. Heinz Riesenhuber


(A) (C)



(D)(B)

nächste Runde weiterträgt. Es kommt immer darauf an,
dass jeder ein bisschen mehr leistet, als er sich zutraut,
jeder: der Arbeiter in der Fabrik ebenso wie der Astro-
naut im Weltraum.

Aus diesem Geist Deutschlands Zukunft zu bauen,
das ist das Ziel, das wir gemeinsam mit dieser zuver-
sichtlichen und hochkompetenten Regierung haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806407800

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat als nächs-

ter Redner Dieter Janecek das Wort.


Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806407900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Dr. Riesenhuber,

ob wir die übergeordnete Wahrheit oder gar Weisheit in
diesem Antrag heute finden, das werden wir noch disku-
tieren. Ich will aber eines gestehen: Eine gewisse kindli-
che Freude hat mich schon ereilt, als ich erfahren habe,
dass diese Debatte stattfindet. Ich glaube allerdings
nicht, dass wir mit dieser Debatte heute die gesetzlichen
Grundlagen für die Einführung des Warp-Antriebs legen
werden, auch wenn sich manche das erträumen.

Mir fällt dazu eines noch ein: Als im letzten Jahr nach
der Bundestagswahl die Bundesregierung noch nicht ge-
bildet war, hatten wir als Abgeordnete unverhofft ein
bisschen mehr Zeit, und diese Zeit habe ich genutzt, um
mir die 176 Folgen von Star Trek: Deep Space Nine noch
einmal anzuschauen.


(Heiterkeit)


Damit hängt zusammen, dass es bei mir in Sachen Tech-
nikbegeisterung jetzt durchaus einen gewissen Über-
schwang gibt.

Aber kommen wir zum Antrag. In dem Kontext war
für mich ein schönes Erlebnis, dass wir – Dank an Herrn
Willsch und andere – die Möglichkeit hatten, am Diens-
tag in der Parlamentarischen Gesellschaft mit unserem
Astronauten, Herrn Gerst, direkt zu sprechen. Ein paar
Fragen haben wir ihm gestellt. Ich habe ihm auch eine
Frage gestellt. Es hat mich sehr beeindruckt, wie er sie
beantwortet hat. Ich habe ihn gefragt, wie denn sein
Blick auf die Erde jetzt ist, wo er draußen ist und uns
sieht, wo er auf diesen begrenzten kleinen Planeten sieht.
Er hat so geantwortet: Auf der Erde denken wir oft, un-
ser Lebensraum sei fast unbegrenzt; doch dem, der von
weit draußen die Erde betrachtet, wird schnell klar, wie
verletzlich der Blaue Planet ist. – Das ist natürlich für ei-
nen Grünen, aber, ich glaube, auch für Sie alle eine Aus-
sage, die zum Nachdenken anregt und zu der Frage führt,
wofür wir die Raumfahrt eigentlich einsetzen wollen.

Da gibt es natürlich eine ganze Menge von Interessen.
Ein ganz wesentlicher Punkt ist durchaus die Klimafor-
schung, auch die Frage, wie wir geostationär mit satelli-
tengestützten Systemen die Mobilität verbessern kön-
nen. Das ist ein durchaus schwieriges Thema. Denken
Sie an die Fragen des Datenschutzes! Wir haben jetzt die
Diskussion um die Pkw-Maut in Deutschland. Wir wis-
sen – das ist die ökologische Perspektive –, dass wir mit
satellitengestützt erfassten Daten Verkehrsflüsse ganz
anders steuern könnten, als wir das mit dem Pickerl aus
Österreich hinbekommen könnten. Auch diese Diskus-
sion gilt es zu führen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Antrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen
der Koalitionsfraktionen, enthält eine Reihe von Punk-
ten, denen ich zustimmen kann. Sie wollen den konkre-
ten Nutzen für den Menschen in den Mittelpunkt der
deutschen und europäischen Raumfahrtpolitik stellen.
Das ist auch unser Ansatz. Das unterschreibe ich gern.

Sie sagen: Die Raumfahrt spielt bei der Bewältigung
globaler Herausforderungen – wie der Messung und
Analyse klimatischer Prozesse des Planeten – eine wich-
tige, vielleicht in der Zukunft sogar entscheidende Rolle.
Auch dem würde ich zustimmen. Es gibt dafür aus der
Vergangenheit sowie mit Blick in die Zukunft eine ganze
Reihe von Beispielen. Beispielsweise soll der deutsch-
französische Satellit Merlin ab 2017 eine Weltkarte der
Methankonzentration erstellen, damit Methanquellen
und Methansenken – das ist ein zentrales Thema beim
Klimaschutz – identifiziert werden können. Das ist also
eine wichtige Mission, zweifelsohne.

Wir reden auch über die Satellitennavigation – Stich-
wort „SatNav“ –; dieses Thema hatte ich angesprochen.
Hier geht es um die Potenziale von Satelliten für einen
möglichen Wandel im Bereich der Mobilität. Denken Sie
daran, dass wir dann in Zukunft in Ballungsräumen oder
ländlichen Regionen Fahrverhalten durch Geodaten be-
einflussen bzw. steuern könnten – ein schwieriges
Thema, zweifelsohne, aber eines, das mich als jeman-
den, der versucht, ökologische Lösungen zu finden,
durchaus anspricht. Dazu kann die Raumfahrt definitiv
einen Beitrag leisten.

Ein schwieriges Thema ist sicherlich die bemannte
Raumfahrt. Jetzt sind wir alle voller Begeisterung für
Alexander Gerst. Gleichzeitig wissen wir – das beschrei-
ben Sie in Ihrem Antrag durchaus kritisch –, dass die
Frage, ob der Raumfahrt-Robotik die Zukunft gehört
und inwiefern menschlich bemannte Missionen noch
Sinn haben werden, eine zentrale Frage sein wird. Mein
Ansatz wäre, ein Stück weit zu hinterfragen, wofür wir
die bemannte Raumfahrt brauchen. Wenn Sie sagen wür-
den: „Wir brauchen sie, um eine weitere Vision zu ver-
wirklichen, um neue Welten zu entdecken, um die Gren-
zen unseres Planeten zu verlassen“, wenn Sie das also
auf ein anderes Niveau heben würden, dann wäre das ein
anderer Ansatz, als wenn es – das müssen wir bei aller
Freude selbstkritisch sehen – vornehmlich um Marketing
und PR von Raumfahrt geht. – Diesen Spannungsbogen
wollte ich darstellen.

Zum Schluss komme ich noch zu einer kurzen Ein-
schätzung zur ISS. Ich glaube, dass die ISS ein notwen-
diges Projekt war und ist. Dass die Kosten aus dem Ru-
der gelaufen sind, ist nicht schön; da muss man in der
Zukunft besser hinschauen und aufpassen. Dass eine Be-
teiligung Deutschlands bis 2020 notwendig ist – bei Ge-
samtprojektkosten von 100 Milliarden Euro; davon
8 Milliarden Euro durch die ESA bereitgestellt –, sehen
wir auch so. Man muss aber sehr genau fragen, wie wir
unser Geld in der Zukunft sinnvoll investieren können.





Dieter Janecek


(A) (C)



(D)(B)

Auch an der Stelle müssen wir aus Fehlern der Vergan-
genheit lernen.

Insofern danke ich Ihnen für diesen Antrag und hoffe
sehr auf eine gute Wiederkehr von Herrn Gerst am
10. November.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806408000

Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang

Tiefensee das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Wolfgang Tiefensee (SPD):
Rede ID: ID1806408100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Zypries
musste zu einem ganz dringenden Termin; aber ich
möchte ihr trotzdem ganz herzlich für ihr Lob danken. –
Lieber Heinz, die Arbeit, die in diesem Antrag steckt,
hat sich offensichtlich gelohnt. Wir haben deutlich ge-
macht, dass die Legislative die Exekutive in Deutsch-
land und vor allem auch in Europa stärken will.

Ich erkenne bei diesem Thema eigentlich großes Ein-
vernehmen. Herr Lutze, das war ein mühsames Suchen
in dem Antrag, um etwas zu finden, aufgrund dessen Sie
dagegenstimmen könnten. Hier besteht eigentlich großer
Konsens im Haus. Dennoch sehe ich drei große Gefah-
ren bei diesem Thema. Deshalb haben wir diesen Antrag
geschrieben und vorgelegt.

Die erste ist: Trotz aller Euphorie, die besteht, was
Alexander Gerst angeht, was die Raumsonde Rosetta an-
geht, die auf dem Kometen landen wird, wird immer
wieder diskutiert: Brauchen wir die Raumfahrt eigent-
lich? Müssen wir so viel Geld dafür ausgeben? – Wenn
es darum geht, im Haushalt die entsprechenden Mittel
bereitzustellen, ist die Akzeptanz nicht durchweg gege-
ben. Deshalb muss immer wieder darauf hingewiesen
werden, dass Raumfahrt eine Schlüsseltechnologie ist
mit Ausstrahlung auf vielfältige Wissenschaftsbereiche,
auf Wirtschaftsbranchen, auf eine Grundlagenforschung,
die weit über Deutschland und Europa hinaus von Be-
deutung ist. Und wir haben ein strategisches Ziel. Herr
Lutze, Sie haben angemahnt, dass wir die internationale
Zusammenarbeit brauchen. Das ist sicherlich richtig.
Aber wir müssen uns andererseits auch als Europäer
stark aufstellen. Der erste Punkt ist also: Wir müssen
mehr dafür tun, um bei diesem Thema, das eigentlich re-
lativ weit weg ist, obwohl es uns im Alltag betrifft, eine
größere Akzeptanz, eine größere Begeisterung zu erzeu-
gen.

Das Zweite ist: Wir brauchen eine Verstetigung der
Haushaltsmittel. In Deutschland ist uns das gelungen.
Wir sind jetzt, wenn ich mir den Aufwuchs anschaue
– 2005 etwa 900 Millionen Euro –, bei 1,4 Milliarden
Euro. Davon entfallen 634 Millionen Euro auf die ESA
und davon wiederum 115 Millionen Euro auf die Träger-
systeme. Aber es reicht nicht, diese Haushaltsmittel in
Deutschland zu verstetigen, sondern wir brauchen auch
weiterhin die Unterstützung mindestens unserer großen
Partner Frankreich, Italien und Großbritannien. Beden-
ken Sie dabei: Den Wirtschaften dort geht es nicht so gut
wie unserer. Man hört erste Stimmen, dass die Pro-
gramme unter Umständen finanziell gefährdet sind. Wir
brauchen also eine Verstetigung der Haushaltsmittel zur
Umsetzung unserer Raumfahrtstrategie, damit wir all
das, was wir uns vorgenommen haben, auch finanzieren
können.

Das Dritte – das treibt mich noch viel mehr um; es ist
bereits angeklungen – ist die Frage, wie wir in Europa
zusammenarbeiten wollen. Für mich ist ein Programm
wie Galileo nicht nur irgendein Programm zur Satelliten-
navigation, sondern die Blaupause, wie wir in Europa
zukünftig auch auf anderen Feldern zusammenarbeiten
wollen.


(Beifall des Abg. Andreas Rimkus [SPD])


Wir haben nämlich in diesem großen Maßstab bisher nur
Airbus und Galileo. Dabei sind die drei Themen, die
schon angeklungen sind, noch einmal aufzurufen.

Das ist erstens die Frage: Wie wollen wir die ESA in
Zukunft aufstellen? Die Entscheidungen werden jetzt in
der Diskussion fallen, spätestens bis 2020. Wir sprechen
uns dafür aus, dass es auch weiterhin eine eigenständige,
mit vielfältigen Kompetenzen ausgestattete ESA gibt
und keine Verschmelzung, bei der EU und ESA sich ge-
genseitig behindern. Der entscheidende Punkt ist, dass
wir schneller, durchsetzungsstärker und wettbewerbsfä-
higer werden, nicht zuletzt gegenüber unseren Konkur-
renten in den USA, in Russland und in China.

Zweitens werden wir uns bei konkreten Projekten wie
zum Beispiel Ariane – also Ariane 5 ME, Ariane 5 Plus
oder eben Ariane 62/64 – schnell entscheiden müssen –
gründlich prüfen, aber schnell entscheiden müssen –, da-
mit wir den Anschluss nicht verpassen. Wir haben jetzt
die Haushaltsmittel in Höhe von 115 Millionen Euro,
und wir wissen: Falls die Entscheidung zugunsten der
Ariane 6 fällt, werden wir unter Umständen neu nach-
denken müssen. Auch dafür braucht es Akzeptanz auf
europäischer Ebene.

Drittens brauchen wir beim Thema ISS eine intensive
Zusammenarbeit.

Wir müssen also mehr Akzeptanz und Begeisterung
erzeugen. Wir wollen dafür sorgen, dass die Haushalts-
mittel in unserem Haushalt und in dem anderer europäi-
scher Länder verstetigt und aufgestockt werden, wo das
möglich ist, auch in Ländern, wo die wirtschaftliche Si-
tuation schwierig ist. Und wir brauchen eine Zusammen-
arbeit, die uns schlagkräftiger und wettbewerbsfähiger
macht. Dann ist mir um die Vision und um das ganz
Konkrete nicht bange.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806408200

Als nächster Redner hat der Kollege Andreas

Mattfeldt das Wort.


Andreas Mattfeldt (CDU):
Rede ID: ID1806408300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Immer, wenn ich gefragt werde, was
denn das wohl herausragendste Ereignis in meinem Ge-
burtsjahr 1969 war – an die SPD: das war nicht, dass
Willy Brandt Kanzler wurde –, antworte ich: Das bedeu-
tendste Ereignis war die Mondlandung, die den Ameri-
kanern 1969 geglückt war, und der legendäre Satz von
Neil Armstrong beim Betreten des Mondes, als er sagte:
Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein
großer Sprung für die Menschheit. – Ich glaube, dem ist
nichts hinzuzufügen. Dass die Menschheit es geschafft
hat, auf dem Mond zu landen, war eben nicht nur für
Neil Armstrong ein besonderer Moment, das war nicht
nur für die USA ein besonderer Moment, sondern – ich
kenne es aus Erzählungen – das war auch bei uns in
Deutschland ein besonderes Highlight-Ereignis. Auch
der Wirtschaftsminister sagte am Dienstag, dass er sich
gut daran erinnern kann. Ich glaube, das dokumentiert
die Bedeutung noch einmal eindrucksvoll.

Die Raumfahrt hat sich seit 1969 weiterentwickelt.
Sie hat unseren technischen und auch medizinischen
Fortschritt erheblich geprägt. Gerade wenn wir Europäer
im Bereich des technischen Fortschritts weiter vorne mit
dabei sein wollen, ist es zwingend, dass wir uns einen ei-
genständigen Zugang zum All erhalten. Hier dürfen wir
uns eben nicht auf andere Nationen, Herr Lutze, verlas-
sen. Was passiert, wenn wir keine geeignete europäische
Trägerrakete einsetzen können, haben wir erst kürzlich
erleben müssen, als aufgrund eines Konstruktionsfehlers
der Sojus-Trägerrakete ein für das Satellitennavigations-
system Galileo bestimmter Satellit nicht in die richtige
Umlaufbahn befördert werden konnte und daher nicht
mehr nutzbar ist. Deshalb ist für mich klar: Wir dürfen
uns im Bereich von Trägerraketen nicht abhängen lassen
und müssen weiterhin aktiv sein.

Wenn ich an andere Nationen denke, denke ich an Na-
tionen, die zurzeit wirtschaftlich sehr erfolgreich agie-
ren, wie zum Beispiel an China. Sie haben ganz klare
Strategien. Sie setzen auf eigene Entwicklungen, und sie
verlassen sich eben nicht auf andere. Nationen wie
China sehen und nutzen die Chancen, die sich aus neuen
Entwicklungen für sie technologisch, aber im weiteren
Verlauf auch wirtschaftlich ergeben. Gerade im Tele-
kommunikations- oder im Verteidigungsbereich sehe ich
erhebliche Türen, die wir nicht zuschlagen dürfen. Nein,
im Gegenteil, Europa muss unter dem Dach der ESA in
der Raumfahrt weiterhin führend agieren.

Hierzu möchte der vorliegende Antrag der Koali-
tionsfraktionen, über den wir heute debattieren, beitra-
gen. Mit einem klaren Bekenntnis der Mehrheit des
Deutschen Bundestages möchten wir die Verhandlungen
von Frau Staatssekretärin Zypries auf der ESA-Minister-
ratskonferenz stärken und untermauern. Europa soll wis-
sen, dass das deutsche Parlament mit ganz großer Mehr-
heit zur weiteren Entwicklung der ESA-Idee steht,
meine sehr verehrten Damen und Herren.

Viele Menschen in Deutschland – Sie haben es eben
gehört – verfolgen in diesen Tagen die Aktivitäten unse-
res deutschen Astronauten Alexander Gerst, der auf der
ISS seinen Dienst tut und die Menschen in unserem
Land mit seiner Arbeit und vor allem – das darf ich sa-
gen – mit seiner Berichterstattung begeistert. Der Nutzen
der Raumfahrt wird von Herrn Gerst, wie ich meine, sehr
eindrucksvoll dargestellt. Hierzu nutzt Alexander Gerst
alle heute üblichen medialen Kanäle. Erstmals können
wir die Mission eines deutschen Astronauten auch in den
sozialen Netzwerken hautnah und ganz persönlich be-
gleiten. Ich jedenfalls freue mich jeden Morgen sehr auf
das Bild von Alexander Gerst aus der ISS. Die Men-
schen – das sieht man an den Kommentaren sehr ein-
drucksvoll – begleiten Alexander Gerst bei der Mission.
Sie sind, so mag man fast denken, bei der ESA-Mission
live dabei.

Was für mich aber neben aller wissenschaftlichen Ar-
beit von enormer Bedeutung ist, ist, dass Gerst es
schafft, junge Menschen für technische und physikali-
sche Zusammenhänge zu begeistern. Ich gehe sogar
noch einen Schritt weiter: Gerst schafft es, dass viele
junge Menschen intensiv darüber nachdenken, ihre Stu-
diengänge und ihre zukünftigen Berufe auch in techni-
schen Bereichen zu suchen. Meine Damen und Herren,
das wollen wir doch. Wir geben über zahlreiche Haus-
haltstitel viel Geld aus, um für die technischen und wis-
senschaftlichen Berufe, die sogenannten MINT-Berufe,
zu werben – leider, wie ich häufig feststelle, mit verhal-
tenem Erfolg. Deshalb sollten wir darüber nachdenken,
ob es nicht vielleicht sinnvoller und sogar günstiger ist,
erneut eine bemannte Raumfahrtmission auf die ISS in
unsere Planungen aufzunehmen, gerade auch nach dem
großen Erfolg von Alexander Gerst.

Natürlich wissen wir, dass Raumfahrt Geld kostet.
Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir bei aller Eupho-
rie zur Raumfahrt die Wirtschaftlichkeit im Auge behal-
ten. Ich persönlich bleibe dabei – das kommt auch in
dem Antrag zum Tragen –, dass ich die Weiterentwick-
lung der Ariane 5 – dann als ME – befürworte, bevor wir
eine komplett neue Ariane 6 entwickeln. Dies ist nicht
nur aus haushälterischer Sicht – dazu komme ich später
noch –, sondern ganz besonders aus technologischen
Gründen wichtig.

Wir setzen mit der jetzigen Ariane-Generation eine
Technologie ein, die erst seit 2008 in dieser Art fliegt.
Diese an Zuverlässigkeit unschlagbare Trägerrakete jetzt
schon auszutauschen, ist technologischer, vor allem aber
wirtschaftlicher Unsinn. Eine vernünftige Weiterent-
wicklung ist wesentlich sinnvoller als eine komplette
Neuentwicklung. Die derzeitige Weiterentwicklung ist
haushaltstechnisch noch finanzierbar, während eine
komplett neue Ariane-6-Generation uns vor große haus-
haltstechnische Probleme stellen wird, die ich mir als
Haushälter derzeit gar nicht vorstellen kann.

Das gilt übrigens auch für die Haushalte einiger ESA-
Partnerländer, wenn ich mir deren Haushaltslage an-
schaue.





Andreas Mattfeldt


(C)



(D)(B)

Allein die groben Schätzungen gehen von Kosten für
die Ariane-6-Entwicklung in Höhe von 4,31 Milliarden
Euro aus. Erfahrungsgemäß ist bei solchen Schätzungen
mit erheblichen Kostensteigerungen zu rechnen. Die
Restentwicklungskosten mit Abschluss der Weiterent-
wicklung zur Ariane 5 ME betragen hingegen nur
1,2 Milliarden Euro. Der Erstflug ist bereits für 2018 ge-
plant.

Meine Damen und Herren, diese Zahlen untermauern,
dass die Neuentwicklung einer Ariane 6 nicht nur aus
technologischer, sondern gerade auch aus haushaltspoli-
tischer Sicht zum jetzigen Zeitpunkt der völlig falsche
Weg wäre, den sich nicht nur Deutschland nicht leisten
kann. Deshalb mein Appell an Frau Zypries, an die Mi-
nisterratskonferenz: Lassen Sie uns die bewährte Tech-
nologie weiterentwickeln und verlässlich zum Vorteil
von uns Europäern nutzen!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806408400

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich

die Debatte.

Ich glaube, ich kann im Namen des ganzen Hauses sa-
gen, dass wir Alexander Gerst eine gute Rückkehr wün-
schen und der Bundesregierung gute Verhandlungen auf
der Ministerkonferenz. Da geht es wirklich um wichtige
Entscheidungen.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3040 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Achter Familienbericht

Zeit für Familie – Familienzeitpolitik als
Chance einer nachhaltigen Familienpolitik

und Stellungnahme der Bundesregierung

Drucksache 17/9000
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in die-
ser Debatte erhält die Staatssekretärin Caren Marks das
Wort. – Frau Marks, Sie haben das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

C
Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1806408500


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
nunmehr zwei Jahre her, dass die Bundesregierung den
Achten Familienbericht „Zeit für Familie – Familienzeit-
politik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik“
vorgelegt hat. Der Bericht hat jedoch an Aktualität
nichts eingebüßt. Im Gegenteil: Zeit ist für Familien ein
Megathema. Denken wir an das erwerbstätige Paar, das
sich partnerschaftlich um seine Kinder kümmert, an Al-
leinerziehende, die ganz besonders auf einen familien-
freundlichen Arbeitsplatz und zeitlich flexible Betreu-
ungsangebote angewiesen sind. Denken wir auch an die
Familie, in der die Kinder noch in die Kita oder zur
Schule gehen und in der gleichzeitig ein Angehöriger
pflegebedürftig wird.

Für die Bundesregierung steht daher außer Frage, Fa-
milienzeitpolitik zu einem starken Thema zu machen.
Wir greifen deshalb den Achten Familienbericht in die-
ser Legislaturperiode in verschiedener Hinsicht auf – mit
einer modernen und lebenslaufbezogenen Zeitpolitik für
Familien, die die Wünsche der meisten Familien nach
mehr Zeit füreinander ernst nimmt, mit einer Familien-
politik, die gleichzeitig darauf setzt, Müttern und Vätern
beides zu ermöglichen: Zeit für Familie und Zeit für den
Beruf. Das ist der Anspruch, den junge Familien heute
an die Familienpolitik haben; denn die Lebenswirklich-
keit und die Wünsche von Familien haben sich verän-
dert.

Zur Lebensrealität von Familien gehört, dass immer
mehr Mütter berufstätig sind. Es gehört auch dazu, dass
sich Väter zunehmend an der Erziehung und Betreuung
ihrer Kinder beteiligen. Eltern brauchen flexible Lösun-
gen, insbesondere am Arbeitsplatz, aber auch darüber hi-
naus, zum Beispiel beim bürgerschaftlichen Engage-
ment; aber sie wollen, jeder für sich, auch ein festes und
ausreichendes Einkommen, und sie wollen sich beide
aktiv in der Familie einbringen. Es ist sicherlich nicht
immer leicht, alles unter einen Hut zu bekommen. Ein
Schlüssel zum Erfolg ist die Partnerschaftlichkeit.

Die Mehrheit der Familien wünscht sich eine partner-
schaftliche Aufteilung. Die wenigsten aber können
diesen Wunsch bislang realisieren. Zeit ist zu einer
Kategorie der Lebensqualität geworden, insbesondere
von Familien.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, deshalb lohnt sich der Blick in den
Familienbericht. Die Kommission hat wichtige Eck-
punkte für eine Zeitpolitik für Familien entwickelt. Es
gilt, Rahmenbedingungen zu gestalten und Partner-
schaftlichkeit zu stärken.

Wir brauchen eine neue Qualität in der Arbeitsteilung
zwischen Männern und Frauen in Familie und Beruf;
denn sie steht für eine gerechte Balance im Leben beider
Geschlechter und sie trägt den Wünschen vieler Frauen
und Männer Rechnung. Dabei geht es vor allem um
Zeitsouveränität und um Zeitkompetenz. Es geht also
nicht nur um ein reines Mehr an Zeit, sondern auch um
den Umgang mit der Zeit. Es geht um eine lebenslaufbe-

(A)






Parl. Staatssekretärin Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)

zogene Zeitpolitik, die viele gesellschaftliche Bereiche
betrifft: die Arbeitswelt oder den Lebensalltag von Fa-
milien sowie das unmittelbare Umfeld vor Ort.

Stets bedarf es verschiedener Partner, die sich für gute
Rahmenbedingungen für Familien einsetzen. So haben
wir mit unserem Unternehmensprogramm und mit den
670 Lokalen Bündnissen für Familie auch die Wirtschaft
und die Zivilgesellschaft mit an Bord. Der Staat braucht
starke Partner; ohne sie geht es nicht.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, was setzen
wir konkret um, um dem Leitbild der Partnerschaftlich-
keit gerecht zu werden? Nach dem Elterngeld und dem
Rechtsanspruch auf die Betreuung von Kindern ab dem
ersten Lebensjahr kommt jetzt der nächste Schritt in
diese Richtung, das Elterngeld Plus. Heute Vormittag ha-
ben wir diesen Gesetzentwurf verabschiedet. Mit dem
Elterngeld Plus stärken wir sowohl die Zeitsouveränität
von Müttern und Vätern als auch die Partnerschaftlich-
keit. Das neue Elterngeld Plus ist eine Antwort auf die
Frage vieler Familien, wie eine zeitgemäße Familien-
politik aussehen muss.

Bei einer zeitgemäßen Familienpolitik müssen wir
alle Generationen im Blick haben. Wir müssen uns ver-
stärkt der Frage zuwenden, wie wir Menschen bei der
Fürsorge und Pflege älterer und hilfsbedürftiger Fami-
lienmitglieder besser unterstützen können. Wir haben
deshalb einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Ver-
einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf auf den Weg
gebracht, der genau dies zum Ziel hat.

Eine moderne Zeitpolitik entsteht nicht von allein. Sie
ist Aufgabe vieler Akteure. Übrigens profitieren nicht
nur Familien davon, sondern auch die Arbeitgeber. Eine
moderne Familienpolitik ist längst ein harter Standort-
faktor. Wir sind zusammen gefordert, für eine neue und
nachhaltige Arbeits- und Lebensqualität einzutreten. Das
lohnt sich für die Familien, aber auch für die gesamte
Gesellschaft in unserem Land.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806408600

Als nächster Redner in der Debatte spricht Harald

Petzold.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Petzold (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806408700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Wir
diskutieren heute den Achten Familienbericht der Bun-
desregierung. Das ist gut so. Ich will aber vorweg sagen:
Wir diskutieren einen Bericht, der eigentlich schon vor
zweieinhalb Jahren vorgelegt werden sollte. Ich finde es
ein wenig bedauerlich, Frau Staatssekretärin, dass es
nicht wenigstens ein Wort der Erklärung oder Entschul-
digung dafür gibt, dass Sie das Parlament zweieinhalb
Jahre auf diesen Familienbericht haben warten lassen.


(Beifall bei der LINKEN)

Ich finde, dass man durchaus nachfragen muss, auch
wenn es inzwischen einen Regierungswechsel gegeben
hat, wo die Gründe dafür liegen.

Ich möchte drei Punkte nennen, die aus Sicht meiner
Fraktion gut am Familienbericht sind. Zum einen stellen
Sie das Thema „Zeit für Familie“ voran; das ist ein
wichtiges Thema. Ich finde darüber hinaus, dass der ge-
forderte Ausbau der Kinderbetreuung, der im Familien-
bericht thematisiert wird, ein wichtiger Punkt ist, über
den wir diskutieren sollten. Das ist meiner Fraktion ein
wichtiges Anliegen. Ich bin froh, dass es in meiner Hei-
mat Brandenburg in den nächsten Jahren gelingen wird,
den Betreuungsschlüssel im Kitabereich weiter zu ver-
bessern, dass es gelingen wird, die Rahmenbedingungen
für die Arbeit in Kitas und damit auch die Bedingungen
für die Betreuung insgesamt weiter zu verbessern.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Warten wir mal ab!)


Ich finde es auch gut, dass der Achte Familienbericht das
Thema „Flexibilisierung von Elternzeit“ aufgreift.

Es ist aber dramatisch, Frau Staatssekretärin, dass im
Familienbericht kein einziges Wort über die Themen
„Kinderarmut“ und „Armut von Familien“ verloren
wird. Neben dem Thema „Zeit für Familie“ ist es vor al-
len Dingen die Lebenssituation von Familien, die da-
rüber entscheidet, ob Kinder gut aufwachsen und Fami-
lien sich erfolgreich entwickeln können.


(Ingrid Pahlmann [CDU/CSU]: Die haben wir erheblich verbessert!)


Die Koalition kann dazu aber nicht sehr viel sagen; denn
das Thema Kinder- oder Familienarmut kommt im Ko-
alitionsvertrag nicht vor.

Nun ist es ja nicht so, dass im Koalitionsvertrag keine
wichtigen Themen vorkommen würden. Beispielsweise
wird die Frage, ob Kinder beim Fahrradfahren einen
Helm tragen sollen, im Koalitionsvertrag ziemlich aus-
führlich behandelt. Das ist ein wichtiges Thema – das
will ich ausdrücklich sagen –; aber ein ebenso wichtiges
Thema wie Kinderarmut kommt eben nicht vor. Deswe-
gen bin ich sehr froh, dass eine Politikerin wie Diana
Golze, die hier viele Jahre erfolgreich Familienpolitik
betrieben hat, in meiner Heimat Brandenburg jetzt als
Ministerin das Thema „Kinderarmut und Familienar-
mut“ ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt hat und
dass die Koalition in Brandenburg aus Linken und SPD
dieses Thema zu einem zentralen Punkt ihrer Familien-
politik machen wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Familien haben keine Zeit; Sie haben das zu Recht
kritisiert, Frau Staatssekretärin. Die Arbeitswelt, sprich:
die Unternehmen und der öffentliche Dienst, nehmen
wenig bis keine Rücksicht auf Familien. Familien müs-
sen ihre Arbeitszeit besser einteilen können. Aber die
Erfahrung zeigt, dass die freiwilligen Initiativen, wie der
Leitfaden „Erfolgsfaktor Familie“, leider nicht mehr als
heiße Luft sind. Gerade einmal 0,13 Prozent aller Unter-
nehmen beteiligen sich daran. Ich bin froh, dass Sie we-
nigstens die Lokalen Bündnisse für Familie angespro-





Harald Petzold (Havelland)



(A) (C)



(D)(B)

chen haben; denn ich bin der Meinung: Hier wird aktiv
Politik betrieben. Auch hier setzt Brandenburg mit sei-
nen Lokalen Bündnissen für Familie aus meiner Sicht ei-
nen wichtigen Impuls. Es ist ein Vorreiter für Familien-
freundlichkeit in der Arbeitswelt geworden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe mich sehr gefreut – das will ich abschließend
sagen, und ich bitte Sie, Frau Staatssekretärin, das Ihrer
Chefin zu sagen –, dass zumindest in der Schwerpunkt-
planung von Frau Ministerin Schwesig das Thema „les-
bische und schwule Familien“, also sogenannte Regen-
bogenfamilien, einen höheren Stellenwert bekommen
soll. Sie haben im Ausschuss ausgeführt, dass das in der
Vorhabenplanung ganz vorne steht. Ich freue mich, dass
dieses Thema unter Ihrer Führung mehr Aufmerksam-
keit erfährt. Es stimmt mich sehr hoffnungsvoll, dass
dieses Thema inzwischen in allen Fraktionen angekom-
men ist. Es gibt engagierte Abgeordnete, die sich persön-
lich dafür einsetzen. Ich habe deswegen die große Hoff-
nung, dass wir hier im Bundestag einen neuen Umgang
mit den Lebensfragen von Regenbogenfamilien errei-
chen werden. Aufmerksamkeit alleine genügt aber nicht.
Wir müssen auch gleiche Rechte schaffen; das ist eine
wichtige Voraussetzung. In diesem Zusammenhang muss
man sich fragen: Warum wird lesbischen Frauen die
künstliche Befruchtung verwehrt? Warum wird Schwu-
len und Lesben das gemeinsame Adoptionsrecht ver-
wehrt? Warum werden Lesben und Schwule als poten-
zielle Pflegeeltern benachteiligt? Antworten auf diese
Fragen blieben bisher offen.

Familienpolitik ist Teil der gesellschaftlichen Verhält-
nisse. Sie wurde immer wieder verschiedentlich inter-
pretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Da-
für werden wir Linke uns einsetzen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche Ihnen allen ein erholsames Wochenende mit Ihren
Familien.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1806408800

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ingrid

Pahlmann das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ingrid Pahlmann (CDU):
Rede ID: ID1806408900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen!

Es wurde alles rascher, damit mehr Zeit ist.
Es ist immer weniger Zeit.

Diese Erfahrung des Dichters und Chemikers Elias
Canetti dürfte jedem von uns, der mit einem vollgepack-
ten Terminkalender zwischen Berlin und Wahlkreis hin-
und herpendelt, gerade in Zeiten des Bahnstreiks nur
allzu bekannt sein. Diese Erfahrung machen aber auch
Familien in unserem Land.

Selbst wenn der Achte Familienbericht Deutschland
im internationalen Vergleich einen hohen Zeitwohlstand
attestiert, sehen sich Familien zunehmend mit den He-
rausforderungen wachsenden Zeitmangels konfrontiert.
Auch durch die neuen Rollen von Männern und Frauen
wird das Familienleben häufig von Zeitknappheit und
Zeitkonflikten geprägt. Verstehen Sie mich nicht falsch:
Dass junge Eltern heute mehrheitlich eine partnerschaft-
liche Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit
anstreben, ist in meinen Augen eine gute und wirklich
richtige Entscheidung. Es bedeutet aber auch, dass die
Rahmenbedingungen entsprechend angepasst und viele
Lebensbereiche – vom Arbeits- und Erwerbsleben in den
Unternehmen über Infrastruktur und Kinderbetreuung –
flexibler werden müssen; denn Familien brauchen Zeit
für ihr Familienleben.

Eltern brauchen Zeit, um ihre Kinder zu erziehen, und
sie brauchen Zeit, wenn Angehörige Unterstützung be-
nötigen oder pflegebedürftig werden. Dabei geht es nicht
einfach nur um ein Mehr an Zeit allein; Frau Marks wies
bereits darauf hin. Entscheidend ist vielmehr die Stär-
kung der Zeitsouveränität der Familien, eine optimierte
Synchronisation von Zeitstrukturen aller relevanten In-
stitutionen, eine Umverteilung von Zeit im Lebenslauf,
zwischen den Geschlechtern und den Generationen, und
auch eine stärkere Nutzung familienexterner Dienstleis-
tungen.

Bundesregierung und Sachverständige stimmen darin
überein, dass eine moderne Familienpolitik Familien er-
möglichen sollte, über ihren Zeitgebrauch souverän zu
entscheiden. Für uns als Union heißt das, dass jede Fa-
milie selbst entscheiden soll, welches Lebens- und Be-
treuungsmodell für sie das richtige ist. Wir erkennen die
Vielfalt der Familien an und wollen sie darin unterstüt-
zen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Bärbel Bas [SPD])


Mit dem heute Vormittag verabschiedeten Gesetz zum
Elterngeld Plus und zur flexibleren Elternzeit setzen wir
diese Politik um. Ziel ist es, den Eltern mehr Zeit für die
Familie zu geben und neue Gestaltungsmöglichkeiten
sowie mehr Flexibilität im Alltag zu schaffen. Die El-
ternzeit kann nun länger in Anspruch genommen wer-
den. Wenn zum Beispiel in der Phase des Schuleintritts
besonderer Betreuungsbedarf besteht, können sich El-
tern diese Zeit nehmen. Das ist sicher bei der Mehrheit
der Kinder, die heute oft schon frühzeitig Übergangspha-
sen gewohnt sind, zum Beispiel durch die frühkindlichen
Betreuungseinrichtungen, nicht der Fall. In jenen Fami-
lien jedoch, in denen Kinder diesen besonderen Bedarf
haben, müssen sich die arbeitenden Eltern nun nicht
mehr durch Krankschreibung oder ähnliche Schritte die
Zeit für ihre Kinder freischaufeln. Auch für die Arbeit-
geber stellt dies eine bessere und verlässlichere Lösung
dar.

Der demografische Wandel, der zurzeit wie ein
Schreckgespenst durch unser Land geistert, birgt zumin-
dest in diesem Punkt eine Chance. Menschen werden
immer älter und bleiben dabei gesünder. Dieses Poten-
zial müssen wir aktivieren, um sie für die Familienzeit
zu gewinnen. Explizit wird hier der Bundesfreiwilligen-
dienst als geeignetes Instrument zur Förderung des zivil-





Ingrid Pahlmann


(A) (C)



(D)(B)

gesellschaftlichen Engagements älterer Menschen ge-
nannt. Es sollte zu diesem Zweck genutzt werden.
Gerade vor zwei Tagen hatte ich ein Gespräch mit einer
Besuchergruppe Bundesfreiwilligendienstleistender, die
allesamt weit über 27 Jahre alt waren. Diese haben mir
bestätigt, was die Sachverständigen angeregt haben: Der
Bundesfreiwilligendienst ermutigt auch die Älteren, die
frei gewordene Zeit durch freiwilliges Engagement für
die Gesellschaft zu nutzen. Wieder einmal wird deutlich:
Der Bundesfreiwilligendienst ist ein Erfolgsmodell.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Mehrgenerationenhäuser – ein anderes Thema –,
deren Finanzierung wir für nächstes Jahr gesichert ha-
ben, sind geeignete Plattformen für die Förderung und
Koordinierung zivilgesellschaftlichen Engagements in
den Kommunen. Mit den von Ursula von der Leyen ins
Leben gerufenen Häusern haben wir deutschlandweit
eine Infrastruktur geschaffen, die vor Ort einen ganz
wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesell-
schaft leistet, die Möglichkeit zur gesellschaftlichen
Teilhabe für und zwischen allen Altersgruppen eröffnet
und zum freiwilligen Engagement anregt.

Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz haben wir
auch bürgerschaftliches Engagement in der Pflege ge-
stärkt. Die Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger
kostet Familien viel Kraft und Zeit. Mit dem zu erwar-
tenden Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen steigt
nicht nur der Bedarf an ausgebildeten Pflegekräften,
sondern auch der an ehrenamtlich in der Pflege Aktiven.
Sie engagieren sich zum Beispiel in Betreuungsgruppen
oder entlasten Pflegende durch die stundenweise Über-
nahme der Betreuung und Versorgung. Sie unterstützen
auch bei der Beratung von Pflegebedürftigen und ihren
Angehörigen.

Doch die Engagementbereitschaft im Bereich Pflege
wird heute bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Auch
hier setzt das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz an. Men-
schen, die sich in der Pflege engagieren möchten, kön-
nen sich entsprechend schulen und qualifizieren lassen
sowie kostenlos die Pflegekurse der Pflegekassen besu-
chen. Auch der Aus- und Aufbau von Selbsthilfegrup-
pen, Organisationen und Kontaktstellen wird finanziell
stärker gefördert als bisher. All diese Maßnahmen brin-
gen Entlastungen für betreuende Angehörige und schaf-
fen zeitliche Freiräume.

Der Wohlstand einer Gesellschaft ist eben nicht allein
in Zahlen des Bruttoinlandsprodukts zu messen. Zeit-
wohlstand hat sowohl auf die Lebensqualität als auch auf
die Zufriedenheit von Familien einen erheblichen Ein-
fluss und spielt bei der Entscheidung für Kinder eine be-
deutende Rolle.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Wir wollen die gesellschaftlichen Rahmenbedingun-
gen für Familien so gestalten, dass sich junge Menschen
für Kinder entscheiden können, und wir wollen Familien
Handlungsspielräume für eine souveräne Gestaltung ih-
rer Möglichkeiten geben. Wichtige Weichenstellungen
haben wir heute auf den Weg gebracht. Lassen Sie uns
gemeinsam daran arbeiten, Zeitwohlstand und Zeitsou-
veränität für Familien zu mehren.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes Wo-
chenende.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann wünsche ich Ihnen eine gute Heimfahrt!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806409000

Das Wort hat die Kollegin Dr. Franziska Brantner für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke schön. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und liebe Kollegen! Liebe Damen und Herren! Ich habe
keine Zeit. Ich kann jetzt nicht. Ich muss jetzt los. – Das
sind Sätze, die uns allen sehr bekannt sind. Ich habe Zeit. –
Diesen Satz kennt man nicht, da möchte man gleich
nachfragen: Oh Gott, hast du deinen Job verloren? Ist al-
les okay? Bist du krank? Ist es in unserer Gesellschaft ei-
gentlich normaler, zu sagen, dass man keine Zeit hat, als
zu sagen, dass man Zeit hat, Zeit für seine Kinder, für die
Eltern, für die Freunde, für die Gesellschaft oder auch
nur für sich?

Verdichtung der Arbeitszeit, Entgrenzung des Ar-
beitslebens, das betrifft Familien ganz besonders. Denn
sie haben neben dem Beruf noch andere Verpflichtun-
gen. Diese Verpflichtungen rufen zum Beispiel: Mama,
bastelst du mit mir? Oder der Sohnemann ruft: Ich habe
jetzt Hunger.

Keine Zeit zu haben, das gehört mittlerweile für die
meisten Familien zur Realität. Damit verbunden ist das
Gefühl, nicht allen Ansprüchen und auch nicht seinen ei-
genen Wünschen gerecht werden zu können. Eine Studie
der AOK zeigt, dass das Auswirkungen hat, nicht nur auf
die Eltern, sondern eben auch auf die Kinder. Gestresste
Eltern haben häufiger Kinder mit gesundheitlichen Be-
schwerden.

Der Achte Familienbericht, über den wir heute disku-
tieren, gibt einen Strauß an Empfehlungen. Eine davon
möchte ich gerne zitieren. Empfohlen wird „ein bedarfs-
gerechter Ausbau an qualitativ hochwertigen Betreu-
ungsplätzen in Kindertageseinrichtungen und in der Ta-
gespflege, der den Bedürfnissen der Kinder und Eltern
entspricht …“

Weiter heißt es:

Erst wenn für alle Kinder Ganztagsbetreuungs-
plätze in hervorragender Qualität vorhanden sind,
haben Eltern tatsächlich eine Wahlmöglichkeit.

Wir haben es heute Morgen schon andiskutiert. Das Er-
gebnis des Kitagipfels ist vor allen Dingen unter finan-
ziellen Gesichtspunkten bestimmt noch nicht der richtige
und letzte Satz auf dem Weg zu hervorragender Qualität
für alle Plätze.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)






Dr. Franziska Brantner


(A) (C)



(D)(B)

Ich kann wirklich nur an Sie alle appellieren: Nehmen
Sie sich etwas von den 10 Milliarden Euro Zukunftsin-
vestitionen, und nutzen Sie dieses Geld zur Verbesse-
rung der Kitaqualität. Liebe SPD, kämpfen Sie dafür,
dass etwas davon bei den Kindern ankommt. Sie, liebe
CDU/CSU, können Herrn Schäuble sagen, dass das doch
wirklich eine lohnenswerte Investition in Deutschland
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ingrid Pahlmann [CDU/CSU]: Wir investieren doch schon!)


– Aber es reicht nicht.

Gute Familienzeitpolitik verändert die Arbeitswelt.
Erlauben Sie mir, noch einmal zu zitieren. Das ist ein
klassisch wissenschaftlicher Satz. Er lautet:

Kritisch reflektiert werden sollte das Bild des voll
verfügbaren und „sorglosen“ Arbeitnehmers ohne
private Verpflichtungen …

Das heißt übersetzt: Es gibt immer noch das Modell des
Unverheirateten ohne Kinder. Diese Arbeitnehmer sind
sorgenlos und immer verfügbar. Ich glaube, hier müssen
wir ansetzen. Der Arbeitsmarkt muss sich nach den Fa-
milien richten. Es darf nicht sein, dass sich die Familien
nach dem Arbeitsmarkt zu richten haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sönke Rix [SPD])


Frau Schwesig ist jetzt nicht da, daher spreche ich
Sie, Frau Marks, an. Die Idee von Frau Schwesig ist ja
die einer Familienarbeitszeit. Eine solche Familien-
arbeitszeit würden laut DIW nur 1 Prozent der Eltern in
Anspruch nehmen. Das heißt, das hört sich immer schön
an, aber es trifft nur für 1 Prozent der Eltern zu. Ist das
wirklich die Signalwirkung, die wir uns wünschen? Ver-
lieren wir dabei nicht diejenigen aus dem Blick, die un-
ter einer Doppelbelastung aus Zeitdruck und geringem
Einkommen leiden, die sich eine Reduzierung ihrer Ar-
beitszeit allein schon aus finanziellen Gründen nicht
leisten können?

Es braucht eben mehr als die Signalwirkung von gut
verdienenden Doppelverdienerpaaren. Wir brauchen
mehr als dieses 1 Prozent. Wir brauchen gezielte und
auch gesetzliche Reformen, um etwas voranzubringen.

Auch an dieser Stelle möchte ich aus dem Achten Fa-
milienbericht zitieren. Dieser schlägt vor, dass im Teilzeit-
und Befristungsgesetz ein Recht der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer erweitert wird „auf Mitsprache bei
der Lage der Arbeitszeit“. Das halte ich für einen wichti-
gen Punkt. Dabei geht es gar nicht darum, ob man weni-
ger oder mehr arbeitet, sondern darum, wann man an-
fängt und wann man aufhört. Ich glaube, dass das ein
wichtiger und zentraler Punkt ist.

Zudem zeigen Studien, dass Mütter nicht unbedingt
weniger arbeiten wollen, sondern meistens sogar noch
mehr. Hauptsächlich wollen sie aber selbstbestimmt ar-
beiten und bestimmen können, wann sie mit der Arbeit
beginnen und wann sie mit der Arbeit aufhören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielleicht können Sie das mitnehmen. Ich glaube, das
hätte mehr Effekt als die Familienarbeitszeit.

Auch Lebenszeit- und Kontenmodelle sind wichtige
Ansätze, die es zu vertiefen gilt, damit man im Leben
auch einmal aussteigen kann für Kinder, für Pflege, für
eine Weiterbildung oder für ein Ehrenamt, dann aber zu-
rückkommen kann.

Abschließend möchte ich noch einmal aus dem Fami-
lienbericht zitieren:

Gesellschaftliche Erwartungen prägen die Zeitver-
wendung des Einzelnen. Gesellschaftliche Erwar-
tungen orientieren sich an Werten. Der Stellenwert
familiärer Verantwortung muss stärker im gesell-
schaftlichen Wertekanon verankert werden.

Nehmen wir uns die Zeit, dies zu ändern, damit es
wieder normal wird, zu sagen: Ich habe Zeit für dich.

Ich danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806409100

Die Kollegin Yüksel hat nun für die SPD-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gülistan Yüksel (SPD):
Rede ID: ID1806409200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe,
trotz – oder wegen – Bahnstreik sind Sie hiergeblieben.
Das freut mich natürlich; denn das Thema Familienpoli-
tik ist zentral und liegt uns besonders am Herzen. Dafür
möchte ich Ihnen natürlich danken. – Das war jetzt keine
Kritik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]: Dann kann ich ja jetzt gehen!)


Der Familienbericht der Bundesregierung aus dem
Jahr 2012 hat das Thema „Zeit für Familie“ als Schwer-
punkt. Das ist ein sehr wichtiges Thema für einzelne Fa-
milien und auch für unser Land. Wir setzen uns für mehr
Zeitsouveränität ein und greifen die Empfehlungen der
Sachverständigenkommission auf.

Wir wollen es den Familien ermöglich, ihr Leben frei
nach ihren persönlichen Wünschen und individuellen
Zielen zu gestalten. Wenn beide Elternteile einer Er-
werbstätigkeit nachgehen wollen oder müssen, ist es
Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen dafür zu
schaffen.

Familienpolitik bedeutet, Familien im Alltag zu ent-
lasten und ihnen mehr Möglichkeiten für ein gemeinsa-
mes Miteinander und Füreinander zu eröffnen, damit sie
sich frei entfalten und ihre Ziele verfolgen können.

Meine Kinder sind mittlerweile erwachsen und gehen
ihre eigenen Wege. Ich erinnere mich aber noch sehr gut





Gülistan Yüksel


(A) (C)



(D)(B)

an meine eigene Zeit als junge berufstätige Mutter, in der
es nicht so einfach war, Familie und Beruf miteinander
zu vereinbaren. Heute erleichtern die gesellschaftspoliti-
schen Rahmenbedingungen diese Aufgabe. Es besteht
aber nach wie vor Handlungsbedarf.

Der vorliegende Bericht bietet eine gute Grundlage,
an der wir gemeinsam ansetzen sollten. Ein zentraler
Punkt einer modernen Familienzeitpolitik ist die Verein-
barkeit von Familie und Beruf. Denn Familien brauchen
notwendige Auszeiten in unterschiedlichen Lebenspha-
sen. Insbesondere in Zeiten der Familiengründung und
der Pflege von Angehörigen ist es für Familien wichtig,
die Möglichkeit zu haben, ihre Zeit flexibel einzuteilen.

Nach der Einführung des Elterngeldes folgt nun also
die Weiterentwicklung durch das Elterngeld Plus. Da-
rüber freuen wir uns als SPD-Fraktion sehr; denn da-
durch werden im Alltag mehr Flexibilität und Zeiträume
geschaffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Um Eltern dieses zu ermöglichen, ist auch eine be-
darfsgerechte Kinderbetreuung notwendig. Mit der Auf-
stockung des Sondervermögens Kinderbetreuungsausbau
auf 1 Milliarde Euro werden nun zusätzliche Betreu-
ungsplätze geschaffen. Jedoch müssen auch Zeitstruktu-
ren mehr an die Alltagsrealität der Familien angepasst
werden.

In dem Bericht wird eine bessere Abstimmung zwi-
schen Arbeitszeiten und Öffnungszeiten von Kitas,
Schulen, Behörden und Kultureinrichtungen gefordert.
Ebenso wird die Bedeutung von Ganztagsschulen her-
vorgehoben. Ausreichend Plätze gibt es bislang leider
nicht. Hier ist eine Baustelle, an der wir noch zu arbeiten
haben.

Viele Familien fragen sich, wie sie die Kinderbetreu-
ung während der Schulferien organisieren können. Ini-
tiativen vor Ort leisten hier bereits gute Arbeit. Es müs-
sen aber weitere Schritte ergriffen werden, um Familien
zu unterstützen. Flexiblere Arbeitszeitmodelle sollten
daher, langfristig gesehen, unbedingt unterstützt werden.
Für uns Sozialdemokraten bleibt die Familienarbeitszeit
das Ziel; denn sie ist der richtige Weg hin zu einer nach-
haltigen Familienpolitik.


(Beifall bei der SPD)


Sie entspricht den Wünschen vieler Eltern, da sie Müt-
tern und Vätern partnerschaftlich mehr Freiraum erlaubt.

Auch beim Thema Pflege sah die Sachverständigen-
kommission weiteren Handlungsbedarf; denn auch die-
ser Bereich berührt Familien und deren Zeitmanagement
stark. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Ver-
einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf entlasten wir
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich der ver-
antwortungsvollen Aufgabe der Pflege ihrer Angehöri-
gen stellen wollen oder aufgrund ihrer Familiensituation
stellen müssen. Familien können somit souverän über
ihre Zeit entscheiden und mehr füreinander da sein.
Es ist wichtig und richtig, dass sich in dem Bericht
dem Thema Familienzeitpolitik gewidmet wird. Die ge-
sellschafts- und familienpolitischen Rahmenbedingun-
gen an die heutigen Lebensmodelle der Bevölkerung
anzupassen, ist für die Funktionsfähigkeit unserer mo-
dernen Gesellschaft unerlässlich. Erste zentrale Maßnah-
men zur Ermöglichung von mehr Flexibilität im Alltag
und mehr Partnerschaftlichkeit sind bereits auf den Weg
gebracht. Die Ergebnisse des Berichtes zeigen uns aber,
dass es noch weitere wichtige Bereiche in der Familien-
zeitpolitik gibt, an denen wir arbeiten müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familie ist eine
wichtige Säule in unserem Leben. Sie bietet Schutz, Si-
cherheit, Geborgenheit und Liebe. Sie ist das Fundament
einer funktionierenden Gesellschaft. Um diese Säule
auch weiterhin stabil zu halten, müssen wir gemeinsam
„Zeit für Familie“ schaffen. Lassen Sie uns die Ergeb-
nisse des Familienberichtes dazu nutzen, dieses Ziel mit
voller Energie weiter zu verfolgen.

Ich danke Ihnen ganz herzlich und wünsche Ihnen
noch einen schönen Heimweg.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806409300

Das Wort hat der Kollege Markus Koob für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Markus Koob (CDU):
Rede ID: ID1806409400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuschauer! Nie wurde mehr Geld in Familien in-
vestiert als heute. Nie wurden Familien qualitativ besser
gefördert als heute. 200 Milliarden Euro gibt der Staat
Jahr für Jahr für 156 ehe- und familienbezogene Leistun-
gen aus. Das investieren wir, das investiert die Gesell-
schaft gerne; denn Investitionen in die Familie sind nicht
nur Investitionen in die Gesellschaft, sondern auch In-
vestitionen in Zukunft und Nachhaltigkeit.

In dem Achten Familienbericht der Bundesregierung
wird Zeit gefordert: Zeit in den Familien füreinander, um
sich umeinander zu kümmern, Zeit miteinander verbrin-
gen zu können. Das ist gut und richtig so. Gerade in den
letzten Wochen ist diesbezüglich vieles auf den Weg ge-
bracht worden.

Wir haben heute – das ist mehrfach erwähnt worden –
das Elterngeld Plus beschlossen. Das ist ein starkes
Signal zugunsten der partnerschaftlichen Erziehungsver-
antwortung und gewährt den Eltern eine längere gemein-
same Zeit in der Familie. In den nächsten Wochen wer-
den wir zudem über den Entwurf eines Gesetzes zur
besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf zu
beraten haben.

Zukünftig werden die von der Union in der Vergan-
genheit auf den Weg gebrachten Pflegezeit und Fami-
lienpflegezeit ausgebaut werden. Neu ist, dass dann je-
der Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin eine bis zu
zehntägige Arbeitsauszeit nehmen kann, um einen An-
gehörigen zu pflegen. Während dieser zehn Tage besteht





Markus Koob


(A) (C)



(D)(B)

die Möglichkeit, Pflegeunterstützungsgeld durch die
Pflegekasse des Angehörigen zu erhalten.

Zentraler Punkt des Gesetzes ist der zukünftige
Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit. Für einen Be-
schäftigten wird es ab 2016 möglich sein, bis zu 24 Mo-
nate vom Arbeitgeber teilweise freigestellt zu werden,
um einen Angehörigen zu pflegen. Dazu müssen bei
verhältnismäßig geringen Lohneinbußen mindestens
15 Stunden in der Woche parallel weitergearbeitet wer-
den.

Jeder Mensch, der einen Angehörigen pflegt, verdient
unsere Anerkennung und Unterstützung. Mit dem Ge-
setzentwurf zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf erreichen wir beides. Angehörige ha-
ben nun ein Instrument, sich auf die Notsituation der Fa-
milie einzustellen und die letzten Wochen und Monate in
intensiver Familienzeit zu verbringen. Das sind wir den
Familien in Deutschland schuldig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eine fast schon überfällige Anpassung findet zudem
bezüglich der Begrifflichkeit der nahen Angehörigen im
Pflegezeitgesetz statt. Wenn Stiefeltern, Schwägerinnen
und Schwager oder Menschen in lebenspartnerschafts-
ähnlichen Gemeinschaften keinen Rechtsanspruch auf
Pflegebegleitung ihrer Angehörigen haben, dann ist das
aus der Zeit gefallen und gehört geändert. Diese Ände-
rung vollziehen wir mit dem Gesetzentwurf.

Aber nicht nur das Elterngeld Plus und die bessere
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf wird den
Familien mehr Zeit füreinander geben. Zentral für die ef-
fizientere Zeitnutzung in den Familien, wie sie der Achte
Familienbericht fordert, ist der Kitaausbau, den wir be-
reits vor einigen Jahren auf den Weg gebracht haben. Bis
2014 hat der Bund 5,4 Milliarden Euro in den Ausbau
der Kinderbetreuung und die Übernahme der Betriebs-
kosten der Kinderbetreuungseinrichtungen investiert.

Allein in dieser Legislaturperiode unterstützt der
Bund die Kommunen beim Betreuungsausbau mit zu-
sätzlichen 550 Millionen Euro, damit auch in den nächs-
ten Jahren qualitativ hochwertige Kindertagesplätze
geschaffen werden können. Wir möchten eine flächende-
ckende Betreuung für Kinder berufstätiger Eltern. Durch
flexiblere Betreuungszeiten der Kinder soll es den Eltern
ermöglicht werden, Familie und Beruf leichter miteinan-
der zu vereinbaren. Mit einer besseren Zeitsynchronisa-
tion wirken wir direkt positiv auf das Zeitbudget der Fa-
milien ein, indem diese den Tagesablauf nicht nach den
Kitaöffnungszeiten richten müssen, sondern in ihrer Ar-
beitszeit- und damit anschließend auch in ihrer Familien-
zeitgestaltung freier sind.

Der CDU/CSU-Fraktion ist es wichtig, die Verbesse-
rung der Kitas voranzutreiben. Kitas dürfen keine Park-
plätze für Kinder sein; sie müssen vielmehr erste qualita-
tiv hochwertige Bildungseinrichtungen der Gesellschaft
darstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Bereich der Kindertagesbetreuung bewegt sich vie-
les. Wir sind noch nicht am Ziel, aber auf einem guten
Weg dorthin.

Den Ausbau der Kindertagesstätten haben wir mit fi-
nanziellen Entlastungen der Kommunen flankiert. Über-
haupt haben die Kommunen seit Amtsantritt von Angela
Merkel eine erhebliche Entlastung erfahren. Der Schlüs-
sel für mehr Familienzeit, die der Achte Familienbericht
der Bundesregierung einfordert, liegt auch in der besse-
ren finanziellen Ausstattung der Kommunen, damit
diese ihre Aufgaben wie die Kindertagesbetreuung bes-
ser wahrnehmen können. Wir als Union haben nicht nur
dafür gesorgt, dass der Bund die Kosten für die Grund-
sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung über-
nimmt, sondern wir zahlen den Kommunen von 2015 bis
2017 zusätzlich 1 Milliarde Euro pro Jahr.

Ein Meilenstein der Politik der Großen Koalition zur
Entlastung der Kommunen wird zudem das geplante
Bundesteilhabegesetz im nächsten Jahr werden. Dieses
Gesetz wird die Kommunen im Bereich der Eingliede-
rungshilfe für Menschen mit Behinderung aller Voraus-
sicht nach um 5 Milliarden Euro entlasten. Durch die
Entlastung der Kommunen wird Geld für weitere wich-
tige kommunale Aufgaben wie den Kindertagesbetreu-
ungsausbau und den Erhalt von Schwimmbädern, Bib-
liotheken, Theatern und anderen Einrichtungen für
Familien frei.

Seit der Vorstellung des Achten Familienberichts der
Bundesregierung sind zweieinhalb Jahre vergangen, aber
die Zeit wurde von der CDU/CSU-geführten Bundesre-
gierung gut und effizient genutzt. Das Elterngeld wurde
um das Elterngeld Plus ergänzt. Der Kindertagesstätten-
ausbau wurde weiter vorangetrieben. Familiäre Pflege
wird auf neue, stabilere Füße gestellt.

Die beste Familienpolitik ist eben die Politik, die Zeit
für Familien schafft. Damit haben wir in den vergange-
nen Legislaturperioden bereits begonnen, und wir wer-
den es in den kommenden Jahren konsequent fortführen.

Ich freue mich mit Ihnen allen gemeinsam – in die-
sem Thema gibt es nämlich eine breite Übereinstim-
mung –, an diesem wichtigen Thema zu arbeiten und ge-
meinsam etwas für die Familien in unserem Land zu
erreichen. Auch wenn ich ein Vertreter der Gattung „un-
verheiratet und kinderlos“ bin und viel Zeit habe, liegen
mir die Familien nichtsdestotrotz sehr am Herzen.

Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806409500

Das Wort hat die Kollegin Gudrun Zollner, ebenfalls

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gudrun Zollner (CSU):
Rede ID: ID1806409600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Gäste auf den

Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zeitpolitik ist heute als Teil von Gesellschaftspolitik
nicht mehr wegzudenken. Unser Wohlstand bemisst sich
nicht mehr nur am Bruttoinlandsprodukt. Vielmehr wird





Gudrun Zollner


(A) (C)



(D)(B)

der Zugang zur Ressource Zeit ein immer wichtigerer In-
dikator für die Lebensqualität jedes Einzelnen. Jeder
Einzelne von uns empfindet Zeit anders, je nachdem, in
welcher Lebensphase er sich gerade befindet. Ich
möchte mich deshalb bei der ehemaligen Familienminis-
terin Kristina Schröder nicht nur für die Erstellung des
Achten Familienberichts bedanken, sondern auch dafür,
dass sie dieses wichtige Thema Zeit in den Fokus ge-
rückt hat.

Für kinderlose Paare ist der Faktor Zeit ein ganz
wichtiger Aspekt bei der Entscheidung für oder gegen
Nachwuchs geworden. Nach neuesten Studien sehen es
85 Prozent der Menschen in Deutschland als wichtig an,
eigene Kinder zu haben. Wenn allerdings fehlende Zeit
dazu führt, sich gegen Nachwuchs zu entscheiden, wird
mittel- und langfristig unsere gesamte Gesellschaft da-
runter leiden. Gerade im Zusammenspiel von Familie
und Beruf kommt Zeitknappheit eine entscheidende
Rolle zu. Durch die steigende Erwerbstätigkeit von
Frauen und Müttern ist die Bewältigung von Zeitkonflik-
ten zu einer zentralen Herausforderung geworden. Be-
sonders Familien brauchen Zeit, um sich als solche er-
fahren zu können. Zeitkonflikte haben aber nicht nur im
familiären Bereich negative Folgen, sie führen auch zu
erheblichen gesamtpolitischen und gesamtwirtschaftli-
chen Konsequenzen. Deshalb muss es auch der Wirt-
schaft wichtig sein, eine familienfreundliche Unterneh-
menskultur anzubieten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Erwerbsarbeit ist heute der wichtigste externe
Taktgeber für die Zeitgestaltung innerhalb der Familie.
Deshalb ist es für eine nachhaltige Familienpolitik ent-
scheidend, die Arbeitszeit auf der einen Seite und die
Zeit mit der Familie auf der anderen Seite in Einklang zu
bringen. Wir müssen Frauen und Männern, Müttern und
Vätern alternative Karrierepfade anbieten, um auf allen
Hierarchieebenen arbeiten zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Führungsaufgaben und Familienzeit dürfen sich nicht
länger gegenseitig ausgrenzen. Zudem muss Vereinbar-
keit von Familie und Beruf auch beim Übergang der
Kinder in die Schule gewährleistet sein. Kinder hören im
Alter von sechs Jahren nicht auf, Kind zu sein. Beson-
ders für Alleinerziehende ist das ein entscheidender
Punkt. Der Familienbericht verweist zu Recht darauf,
dass vor allem sie unter Zeitdruck und Zeitkonflikten lei-
den. Die 1,6 Millionen Alleinerziehenden mit ihren
2,2 Millionen Kindern sind auch Familie. Sie sind Ein-
Eltern-Familien und bedürfen unserer besonderen Unter-
stützung. Laut den Familienleitbildern sehen übrigens
88 Prozent der deutschen Bevölkerung auch eingetra-
gene Lebenspartnerschaften mit Kindern als Familie.

Ich möchte noch einen Punkt betonen, der mir selber
sehr am Herzen liegt. Zeitpolitik und Zeitsouveränität
müssen auch zum Ziel haben, den Menschen zu ermögli-
chen, ihre Lebensplanung selbstverantwortlich zu gestal-
ten. Dazu gehört auch, die Entscheidung zu akzeptieren,
dass eine Mutter oder ein Vater zu Hause bleibt, um sich
ausschließlich um die Erziehung der Kinder zu küm-
mern. Die vielen jungen Väter, die sich ganz bewusst für
mehr Zeit für ihre Kinder entscheiden, unterstützen wir
durch das heute verabschiedete Elterngeld Plus, mit dem
wir auch den Empfehlungen des Achten Familienbe-
richts Rechnung tragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – es ist unsere ge-
meinsame Aufgabe, Familien zu schützen und zu unter-
stützen, die Rahmenbedingungen für mehr Zeitsouverä-
nität zu schaffen, die in, mit und um Familien erbrachten
Leistungen mehr anzuerkennen. Das müssen unsere pri-
mären Handlungsziele sein.

Es darf nicht so weit kommen wie in den USA, wo
Firmen wie Facebook und Apple die Möglichkeit des
Social Freezing anbieten. Das Einfrieren von Eizellen
löst keinesfalls Probleme bei der Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf oder trägt zur Entzerrung der sogenann-
ten Rushhour des Lebens bei.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nicht die Frauen müssen sich den Firmen anpassen, son-
dern die Firmen – wie beispielsweise Facebook und
Google – den Frauen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Der richtige Ansatz ist vielmehr, eine familienfreund-
liche Arbeitswelt zu schaffen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806409700

Kollegin Zollner, ich störe ungern, aber die Uhr vor

Ihnen zeigt Ihnen unmissverständlich an, wie viel Zeit
Sie schon überschritten haben. Kommen Sie also bitte
zum letzten Satz.


Gudrun Zollner (CSU):
Rede ID: ID1806409800

Aus diesem Grund gehört Familienzeitpolitik als

wichtiges Politikfeld in das Zentrum unserer familien-
politischen und wirtschaftspolitischen Arbeit in dieser
und weiteren Legislaturperioden. Hierfür gibt der Achte
Familienbericht wichtige Impulse.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Vielen herzlichen Dank und allen ein gutes und hof-
fentlich schnelles Nachhausekommen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806409900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9000 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 c auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm, Caren Lay,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform der Liegenschaftsveräußerungen

(Liegenschaftsveräußerungsreformgesetz)


Drucksache 18/2882
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Sofortiges Moratorium für die Wohnungs-
und Grundstücksverkäufe durch die Bun-
desanstalt für Immobilienaufgaben

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Tobias
Lindner, Christian Kühn (Tübingen), Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Moratorium beim Verkauf von Wohnim-
mobilien in Städten mit angespanntem
Wohnungsmarkt durch die Bundesanstalt
für Immobilienaufgaben

Drucksachen 18/1952, 18/1965, 18/2908

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Kühn (Tübingen), Dr. Tobias Lindner,
Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine nachhaltige und zukunftsweisende
Liegenschaftspolitik des Bundes

Drucksache 18/3044
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806410000

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen

der Koalition – ich wende mich jetzt zunächst einmal
insbesondere an Sie –, ich bin sehr gespannt, wie Sie
heute begründen wollen, warum Sie weiter fleißig zum
Höchstgebot Wohnungen durch die Bundesanstalt für
Immobilienaufgaben verkaufen lassen, obwohl Woh-
nungsknappheit und steigende Mieten in vielen deut-
schen Groß- und Hochschulstädten längst zu einer all-
täglichen Realität geworden sind.

Nichtsdestotrotz begrüße ich natürlich auch die Kol-
leginnen und Kollegen von den Grünen.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Guten Tag!)


Die Folgen treffen schon lange nicht mehr nur ein-
kommensschwache Mieterhaushalte, sondern auch viele
von denen, die sich selbst als gutsituiert und gutbürger-
lich bezeichnen würden.

Die Linke hat die kritische Situation und die rasante
Zuspitzung des Angebots und der Nachfrageverhältnisse
auf den Wohnungsmärkten in den zurückliegenden Jah-
ren immer wieder benannt. Wir haben schon vor langer
Zeit begonnen, in Anträgen aufzuzeigen, was zu tun ist,
um das zu ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Antwort der Bundesregierung, egal ob Große Ko-
alition oder die Koalition von CDU/CSU und FDP, war
in leichter Variation immer die gleiche: Die Wohnungs-
versorgung in Deutschland ist gut, und der Markt wird es
schon richten.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Guter Witz!)


Diese jahrelange Ignoranz und geradezu religiöse Markt-
gläubigkeit sind neben dem aktiv praktizierten Privati-
sierungswahn ursächlich für die nicht gelösten Woh-
nungsprobleme und für das Entstehen der jetzt nicht
mehr zu versteckenden Zuspitzung in Großstädten wie
Hamburg und Berlin.

Vor ein paar Tagen haben wir die Bundesregierung
aufgefordert, wirksam gegen Wohnungsnot und Mietwu-
cher in den Studentenstädten vorzugehen. Gerade ges-
tern haben Sie beschlossen, dass in diesen Städten nun
Asylsuchende und Flüchtlinge wegen der Wohnungsnot
wahrscheinlich auch in Gewerbegebieten untergebracht
werden.

Ich stelle fest: Auch diese Bundesregierung will keine
Probleme lösen. Sie will sie bestenfalls verharmlosen
und wegdelegieren.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Dabei könnte der Hendricks’sche wohnungspolitische
Dreiklang aus Wiederbelebung des sozialen, aber toten
Wohnungsbaus, einer Investitionsoffensive und flankie-
renden mietrechtlichen Regelungen eigentlich wirklich
etwas bewegen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)

Aber da klingt nichts. Ich höre keine Sinfonie, und ich
sehe auch keine Bewegung.

Nun haben wir mit unserem Antrag „Sofortiges Mo-
ratorium für die Wohnungs- und Grundstücksverkäufe
durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“ die
Bundesregierung aufgefordert, einfach einmal nichts zu
tun, einfach einmal die Füße stillzuhalten. Wenigstens
das sollte ihr doch gelingen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber nein! Dabei könnte die Bundesregierung an dieser
Stelle sozusagen mit hauseigenen Mitteln ein ganz klein
wenig, sozusagen als wichtiges Signal, zur Entspannung
der Mietensituation in extrem angespannten Wohnungs-
lagen beitragen, damit nicht, wenn die Regierung doch
noch aufwacht – ups! –, plötzlich alles weg ist, was den
Mieterinnen und Mietern in diesem Land, was dem Ge-
meinwohl helfen könnte, statt zu sagen: Da schauen wir
dann, wenn es soweit ist. Ich denke zum Beispiel an die
5 000 eigenen Wohnungen des Bundes hier in Berlin, die
von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben verwal-
tet werden.

Sie selbst müssten nur Ihren Koalitionsvertrag ernst
nehmen und Ihre eigene Bundesanstalt für Immobilien-
aufgaben veranlassen, das zu tun, was im Koalitionsver-
trag steht, nämlich – ich zitiere –: „mit Rücksicht auf die
vielen am Gemeinwohl orientierten Vorhaben der Kom-
munen, wie der Beschaffung von sozialem Wohnraum
und einer lebendigen Stadt, eine verbilligte Abgabe von
Grundstücken“ zu realisieren,


(Beifall bei der LINKEN)


wenn auch nur bis maximal 100 Millionen Euro.

Allein der aktuell laufende Verkauf von 48 Wohnun-
gen in Berlin an der Großgörschenstraße bzw. Katzler-
straße, mit dem die BImA 7,1 Millionen Euro für das
„Schäuble-Denkmal“, die schwarze Null, beisteuern
soll, ist nicht nur ein Skandal, sondern ein weiterer
Treibsatz für die überbordende Spekulation mit Wohn-
raum. 7,1 Millionen Euro für 48 Wohnungen, das ist das
39-Fache der jetzigen Jahresmiete! Kein seriöser Be-
standshalter, der die Wohnungen innerhalb des Mietspie-
gels vermieten will, kann diesen Preis bezahlen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das können nur Finanzspekulanten, die diese Mietwoh-
nungen für Superreiche zu Luxusappartements oder zu
luxuriösen Anlageobjekten machen wollen. Die Bundes-
regierung weiß das; aber leider geht ihr wohl auch das
am Allerwertesten vorbei.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nun hat das Land Berlin der BImA einen Kaufantrag
für deren gesamtes Berliner Portfolio vorgelegt. Bravo!
Wir sind gespannt, wie weit die Kaufpreisvorstellungen
wohl auseinandergehen werden und wie sich beide Gro-
ßen Koalitionen – die eine im Land, die andere im
Bund – da einigen. Ich glaube erst an eine Einigung,
wenn die Tinte auf den Kaufverträgen trocken ist.

(Mechthild Rawert [SPD]: Ist in Ordnung!)


Heute schon wird zu bedenken gegeben, dass einem
nicht marktgerechten Verkauf haushaltsrechtliche Vor-
schriften des Bundes und gar das europäische Beihilfe-
recht entgegenstehen. Na, dann ändern wir das eben.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb bieten wir Ihnen heute mit unserem Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Reform der Liegenschaftsveräußerun-
gen einen Weg an, genau das zu tun.

Die Linke weiß, dass die Bundesregierung viel zu tun
hat. Deswegen haben wir ihr an dieser Stelle schon ein-
mal einen Vorschlag gemacht, der dabei helfen kann, das
umzusetzen, was sie immer behauptet, tun zu wollen. Sie
werden damit Ihrem Koalitionsvertrag gerecht und lie-
fern endlich den Beweis, dass es Ihnen ernst ist mit dem
Bündnis für bezahlbares Wohnen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806410100

Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1806410200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Schon beim Beitrag der Kollegin Bluhm eben
ist ein Stück weit deutlich geworden, worüber wir heute
reden bzw. nicht reden. In der Tagesordnung ist ange-
kündigt: Liegenschaftspolitik. Sie haben hier gesprochen
über Immobilienpolitik


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Das ist Liegenschaftspolitik!)


mit Schwerpunkt hier auf Berlin. Da machen wir schon
sehr feine Unterschiede. Denn wenn wir über Liegen-
schaftspolitik reden, dann reden wir nicht über ein her-
renloses Vermögen, das herumliegt und mit dem wir in
irgendeiner Form spielen können, sondern über ein Ver-
mögen des Bundes; dieses Vermögen des Bundes ist das
Vermögen des Steuerzahlers. Und mit dem Vermögen
des Steuerzahlers haben wir ordentlich umzugehen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist derzeit aber nicht zu erkennen!)


So wie hanseatische Kaufleute damit umgehen würden,
müssen auch wir mit diesem Vermögen umgehen und als
Wahrer dieses Vermögens dafür sorgen, dass es uns er-
halten bleibt. Das ist der erste Punkt.

Der zweite Punkt, auf den ich eingehen möchte, sind
die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die wir selbst als
Gesetzgeber uns gesetzt haben.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806410300

Kollege Brackmann, gestatten Sie eine Frage oder

Bemerkung der Kollegin Paus?






(A) (C)



(D)(B)


Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1806410400

Gerne.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806410500

Kollege Brackmann, Sie sind ja im Haushaltsaus-

schuss, und im Haushaltsausschuss werden die Einzel-
pläne behandelt. Da gibt es auch in einem Einzelplan ei-
nen Titel zur Stadtentwicklung. Da beraten Sie unter
anderem über Städtebauförderungsprogramme. Von da-
her wissen Sie, dass sozialer Wohnungsbau in Deutsch-
land zurzeit zu wenig stattfindet, dass in den Ballungs-
räumen über Jahre zu wenig investiert worden ist. Das
ist also ein Thema, das aktuell auch bei Ihnen diskutiert
wird.

Finden Sie nicht, dass es richtig wäre, wenn sich der
Bund bei der Veräußerung einer Mietimmobilie anders
verhalten würde als die normalen privaten allgemein be-
kannten Spekulanten im Land Berlin?


(Mechthild Rawert [SPD]: Nicht nur Berlin!)


Finden Sie nicht, dass der Bund berücksichtigen sollte,
dass ihm, wenn er auf der einen Seite Einnahmen da-
durch erzielt, dass er sich nicht entsprechend dem ver-
hält, was im Grundgesetz festgeschrieben ist, nämlich
für das Gemeinwohl zu sorgen, auf der anderen Seite zu-
sätzliche Ausgaben entstehen?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1806410600

Ich bin mit Ihnen der Auffassung, dass wir mit der

Wohnungsbauförderung in dem Einzelplan dafür sorgen
müssen, dass bezahlbarer Wohnraum bei uns geschaffen
und erhalten wird.


(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Das ist eine wichtige Aufgabe, die der Bund auch wahr-
nimmt. Allein im Haushalt 2015 werden wir den Län-
dern, den Kommunen 518 Millionen Euro für die Förde-
rung von sozialem Wohnungsbau bereitstellen – und das,
obwohl nach der Zuständigkeitsregelung zwischen
Bund, Ländern und Kommunen, die im Grundgesetz
verankert ist, Wohnraumpolitik Aufgabe der Länder ist.
Die Länder haben Wert darauf gelegt, dass sie das auf
Länderebene, auf kommunaler Ebene machen, und das
ist auch richtig so, weil die Wohnungsbausituation in
Berlin natürlich eine andere ist als in Hintertupfingen.
Aus diesem Grund ist das eine gute, eine kluge Politik,
bei der die Länder und Kommunen vom Bund nachhaltig
unterstützt werden.

Ich fahre in meiner Rede fort. – Liegenschaftspolitik
muss deshalb darauf basieren, Mittel zu organisieren, da-
mit wir zum Beispiel im Rahmen der Städtebauförde-
rung entsprechende Politik gestalten können. Deswegen
kommt es darauf an, dass wir uns hier im Bundestag
über die Aufgabenteilung verständigen. Auf der einen
Seite müssen wir als Haushälter, als Vermögensverwal-
ter dafür sorgen, dass wir Einnahmen haben, damit auf
der anderen Seite die Fachpolitiker Probleme lösen kön-
nen. Das ist auch ein Stück Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit. Deswegen müssen wir bei unserer
Vermögenspolitik genau so vorgehen, wie im Übrigen
auch die Länder vorgehen.

Ich darf mich da noch einmal auf die Linken bezie-
hen. In § 63 Landeshaushaltsordnung Brandenburg ist
dieselbe Regelung enthalten, wie wir sie im Bund haben.
Auch Brandenburg veräußert Liegenschaften vorschrifts-
gemäß zum vollen Wert. Insofern steht die Politik, die
Sie hier vertreten, im Gegensatz zu Ihrem eigenen Han-
deln in Brandenburg.


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Was zu beweisen wäre!)


Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist in sich
widersprüchlich. Da ist es sehr wohlfeil, hier aufzutreten
und zu sagen: Macht auf Bundesebene etwas anderes!

Vor diesem Hintergrund wäre es, wenn wir Vermögen
des Bundes verkaufen, wenn wir Wohnungen verkaufen,
auch wettbewerbsrechtlich, beihilferechtlich ein Pro-
blem bzw. würde uns große Sorgen machen, wenn wir an
dieser Stelle Sonderkonditionen für einzelne Aufgaben
und für einzelne Zwecke anböten.

Sie haben weiterhin behauptet, Frau Kollegin Bluhm,
der Bund hätte das Potenzial, mit den 5 100 Wohnungen
in Berlin die Wohnungspolitik in Berlin aktiv mitzuge-
stalten. Diese 5 100 Wohnungen, die der Bund in Berlin
hält, sind exakt 0,3 Prozent des Wohnungsbestands in
Berlin.


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Aber immerhin!)


Wenn Sie mir sagen wollen, dass damit großartig Woh-
nungspolitik hier in Berlin gemacht werden kann,


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Ein Teil!)


dann geht das am Thema wesentlich vorbei.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das glauben die doch selber nicht!)


Der Wohnungsmarkt hier ist dramatisch größer.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommen Sie mal mit! Wir schauen uns das mal an!)


Dann setzen Sie in Ihrem Gesetzentwurf noch einen
obendrauf, und das entlarvt Sie, glaube ich, vollends. In
Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie regeln, dass Verkäufe
nicht stattfinden dürfen; es sei denn zum Beispiel an be-
sonders geförderte Kommunen oder landeseigene Ge-
sellschaften.


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Die machen sozialen Wohnungsbau!)


– Die machen sozialen Wohnungsbau wie andere auch,
aber dies – so hat es Berlin für sich entschieden – in
Form einer Aktiengesellschaft, also gewinnorientiert.

Und dann wollen Sie sie bezüglich des vom Bund ge-
kauften Wohnraums vom Weiterveräußerungsverbot
ausnehmen. Das heißt, dass die landeseigene Gesell-
schaft mit dem ehemaligen Bundesvermögen Gewinn
machen kann. Und dann schreiben Sie noch – weil Ihnen





Norbert Brackmann


(A) (C)



(D)(B)

selbst das ja bewusst ist –, dass dem Bund ein Vorkaufs-
recht eingeräumt wird, und zwar zu dem Preis, der am
Markt erzielt würde. Sie glauben doch selbst nicht, dass
wir am Anfang vergünstigt Grundstücke an diese Ak-
tiengesellschaft übertragen und hinterher, wenn ein Ge-
winn am Markt erzielt werden kann, ein Vorkaufsrecht
ausüben, über das wir die Gewinnmarge auch noch zah-
len. Da würden wir zu Recht nicht nur vom Bundesrech-
nungshof, sondern wohl zuallererst auch von Ihnen
angegriffen, dass wir das Vermögen des Bundes ver-
schleudert hätten. Das, meine lieben Damen und Herren,
kann doch nicht Ziel der Politik des Bundes sein, die auf
Nachhaltigkeit gerade für die Schichten ausgerichtet ist,
für die Sie vorgeben zu kämpfen, so etwas zu unterstüt-
zen.

Im Übrigen unterstützt der Bund die Kommunen mit
seiner Politik aktiv. Wir haben das Erstzugriffsrecht be-
schlossen, das es den Ländern und Kommunen ermög-
licht, Immobilien gerade nicht zu Konditionen des freien
Marktes zu erwerben, sondern zum Gutachterwert. Sie
selbst haben ja das Beispiel Großgörschenstraße ange-
sprochen. Da hat die landeseigene gewinnorientierte Ge-
sellschaft einen Preis geboten, der deutlich unter dem
Verkehrswert lag. Klar, sie will – das muss sie nach dem
Gesetz ja auch – damit Gewinn machen. Wir haben ge-
sagt: Nein, das geht nicht; wir verlagern diese Aufgabe
nicht. Wir führen stattdessen das Erstzugriffsrecht ein.

Dieses Erstzugriffsrecht erweist sich bundesweit als
hervorragendes Modell – einige Hundert Gemeinden ha-
ben davon schon Gebrauch gemacht –, und auch der de-
signierte Bürgermeister der Stadt Berlin, der Stadtent-
wicklungssenator Müller, hat jetzt einen solchen Antrag
gestellt, weil er erkannt hat, dass es die einzig vernünf-
tige Lösung ist, wenn man vom Preis des freien Marktes
weg will, zum Gutachterwert zu erwerben. Deswegen
hat er dem Bund angeboten, alle infrage kommenden
Berliner Flächen zu erwerben. Diese Wohnungsbaupoli-
tik ist, glaube ich, für die Kommune, für das Land Ber-
lin, genau richtig. Wir als Bund werden dieses Bemühen
unterstützen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806410700

Kollege Brackmann, gestatten Sie eine weitere Be-

merkung oder Zwischenfrage der Kollegin Paus? – Ich
mache aber gleich darauf aufmerksam, dass das die
letzte Zwischenfrage ist, die ich zumindest aus Ihren
Reihen zulassen werde.


Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1806410800

Dann lasse ich sie besonders gerne zu.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus Mindrup [SPD]: Paushälter!)



Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806410900

Herr Brackmann, Sie haben gerade ein bisschen insi-

nuiert, dass die landeseigene Berliner Gesellschaft einen
Preis geboten hätte, über den sie einen hohen Gewinn
und der Bund einen hohen Verlust machen würde. Das
möchte ich richtigstellen: Ich glaube, wir beide wissen,
dass die Gesellschaft einen an den Bestandsmieten und
am Mietpreisspiegel orientierten Preis geboten hat. Es
ging nicht darum, Gewinn zu machen. Das Wertgutach-
ten hatte offenbar eine andere Grundlage.

Sind Sie nicht mit mir zusammen der Meinung, dass
es richtig wäre – gerade auch mit Blick darauf, dass wir
in den nächsten Wochen über das Thema Mietpreis-
bremse und die Frage der Verdrängung und Gentrifizie-
rung usw. diskutieren werden –, wenn auch für den Bund
der Standard gelten würde, ein Objekt dann nicht zu ver-
kaufen, wenn feststeht, dass alle Mieterinnen und Mie-
ter, die sich derzeit in diesem Mietobjekt befinden, das
Objekt nach dem Verkauf definitiv verlassen müssen?

Außerdem würde mich in diesem Zusammenhang
Folgendes interessieren: Ich kenne keinen Experten, der
nachvollziehen kann, wie dieses Wertgutachten auf ei-
nen Wert von 7,1 Millionen Euro für diese Immobilie
gekommen ist. Wir haben mehrfach angefragt, ob wir
dieses Wertgutachten bekommen können. Der zustän-
dige Staatssekretär hat im Bauausschuss ebenfalls ge-
sagt, dass er mehrfach versucht hat, dieses Wertgutach-
ten aus dem zuständigen Ministerium zu erhalten, um
sich ein eigenes Bild darüber machen zu können. Denn
niemand kann verstehen, wie dieses Wertgutachten auf
den Betrag von 7,1 Millionen Euro kommt. Bisher liegt
uns das nicht vor.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ist auch ein laufendes Verfahren! Man kann doch Dinge nicht aus dem laufenden Verfahren herausgeben!)


Wenn Sie jetzt darauf rekurrieren, dass das richtig sei
und dass andere das hätten anerkennen müssen, dann
frage ich Sie: Können Sie mir erklären, wie diese
7,1 Millionen Euro zustande kommen und ob das ein ad-
äquater Preis ist? Wir jedenfalls können das nicht nach-
vollziehen und sagen: Es ist kein adäquater Preis, und es
ist richtig gewesen von der landeseigenen Gesellschaft
– nicht aus Gewinninteresse heraus, sondern im Sinne
und zum Schutz der Mieterinnen und Mieter –, diese
7,1 Millionen Euro nicht zu akzeptieren, sondern einen
angemessenen Kaufpreis zu fordern, der so hoch ist, dass
die Menschen, die jetzt dort wohnen, dort auch tatsäch-
lich wohnen bleiben können.


Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1806411000

Erster Punkt. Zu dem Gutachten selbst kann ich Ihnen

natürlich nichts sagen, weil es ein laufendes Verfahren
ist


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


und ich im Übrigen das Gutachten im Detail auch nicht
kenne. Es wäre auch unredlich, in einem laufenden Ver-
fahren ein solches Gutachten einigermaßen öffentlich
auf den Markt zu geben. Aber ganz falsch, Frau Kolle-
gin, kann das Gutachten nicht sein. Nehmen wir einmal
die anderen öffentlich gewordenen oder zumindest in
unseren Kreisen öffentlich gewordenen Zahlen: Einmal
haben wir diese 7,1 Millionen Euro laut Gutachten; dann
haben wir das millionenbeschwerte, aber geringere An-
gebot – die Zahl nenne ich jetzt einmal nicht –,


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)






Norbert Brackmann


(A) (C)



(D)(B)

das die landeseigene Berliner Gesellschaft abgegeben
hat; und schließlich einen Wert, der auf dem Markt er-
zielt werden könnte –


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damit die Mieter wohnen bleiben können!)


er scheint ja bekannt zu sein; er soll beim 39-Fachen des
Mietwertes liegen –, der also, wenn ich das einmal hoch-
rechne, bei 9 Millionen Euro liegt. Wenn nun der im
Gutachten genannte Wert genau in der Mitte zwischen
Höchstwert und dem niedrigeren Angebot liegt, spricht
das zumindest dafür, dass das Gutachten nicht völlig da-
neben liegt. Deswegen habe ich auch gar keinen Grund,
dieses Gutachten anzuzweifeln.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist sehr sachlich, was Sie vortragen, Herr Kollege! – Bernhard Schulte-Drüggelte [CDU/CSU]: Sehr, sehr sachlich und sehr kompetent! – Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Dann haben Sie keine Ahnung von Wohnimmobilien! Das muss ich Ihnen so klar sagen! – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat er auch nicht! Ist ja Haushälter!)


Damit sind wir beim nächsten Punkt. Wo wird eigent-
lich wie Wohnungsbaupolitik gemacht? Ich hatte bereits
gesagt, dass wir nicht nur Geld zur Verfügung stellen
– ich habe diese 518 Millionen Euro genannt, die wir
2015 überweisen –, sondern trotz der bewussten Ent-
scheidung, eine Aufgabenteilung vorzunehmen und die
Wohnungsbaupolitik in die Zuständigkeit der Länder
und Kommunen zu geben, den Kommunen und Ländern
auch eine ganze Reihe von Handlungsoptionen mit auf
den Weg gegeben. Es gibt Umwandlungsverbote,
Milieuschutzsatzungen und Zweckentfremdungsverbote.
Vor einigen Monaten haben wir hier mit der Mietpreis-
bremse auch noch eine weitere Möglichkeit geschaffen.
Es ist also ein großes Repertoire, das den Kommunen
und Ländern zur Verfügung steht, um in ihrer Zuständig-
keit aktiv Wohnungsbau- und Mietpreispolitik zu betrei-
ben.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das sollte man alles nutzen, bevor man dann hier neue Forderungen stellt!)


Das sollte man als allererstes nutzen, um Einfluss zu
nehmen.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Außerdem sollte man sich darum bemühen, den Bau von
Wohnungen so voranzutreiben, dass er sich lohnt – auch
in großen Städten und nicht nur auf dem flachen Land –,


(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Neubau ist Mieterschutz! Genau!)


und so für den entsprechenden Zuwachs an Wohnungen
sorgen.

Ein weiterer Punkt betrifft uns alle gemeinsam. Hier
geht es um Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wo kämen wir hin – ich könnte damit im Zweifel noch
leben und meine Kolleginnen und Kollegen im Haus-
haltsausschuss auch –, wenn wir im Haushaltsausschuss
das, was Sie für die Wohnungspolitiker fordern – es
wäre ein Leichtes, die Umweltpolitiker zu ermuntern,
uns aufzufordern, dass wir auch noch etwas Umweltpoli-
tisches machen und Ähnliches –, für uns in Anspruch
nehmen würden? Dann würden all diese inhaltlichen
Fragen in den Haushaltsausschuss verlagert und wir
würden entscheiden, wer wo etwas günstiger bekommt.


(Heiterkeit des Abg. Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD] – Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Das ist unsachlich, was Sie da sagen!)


– Der Kollege Dr. Krüger lacht schon. Wir haben da also
ein ähnliches Verständnis. – Wir würden uns also nicht
zwingend dagegen wehren, aber es wäre unkorrekt; denn
es gäbe dann keine Haushaltswahrheit und keine Haus-
haltsklarheit mehr. Aber so wie das Verständnis der Ar-
beit in diesem Parlament ist, auch völlig zu Recht ist, ist
es unsere Aufgabe im Haushaltsausschuss, das Vermö-
gen zu erhalten und zu mehren,


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


damit an anderer Stelle die Fachpolitiker mit den Mit-
teln, die das Parlament ihnen zur Verfügung stellt, in den
einzelnen Bereichen, für die sie da sind, das Optimale
tun können.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum geben Sie dann 100 Millionen Euro für die Konversionsflächen aus? Das ist mir nicht klar!)


– Auch wenn Sie sich nicht zu Wort gemeldet haben:
Die 100 Millionen Euro für die Konversionsflächen ha-
ben einen völlig anderen Hintergrund, nämlich den
Kommunen vor dem Hintergrund der Lasten, die durch
die Konversion entstehen, zu helfen, umzustrukturieren.
Aber das ist keine Politik, die inhaltlich dazu führt, dass
wir Kommunen überfordern, überfrachten oder Ähnli-
ches.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Städtebau ist keine Umstrukturierung, oder was?)


Nach dem Baurecht liegen alle diese Zuständigkeiten
bei den Kommunen. Daran will diese Koalition auch
nichts ändern; denn das ist gut, das ist richtig so, und das
lenkt die Entscheidungskraft dahin, wo von ihr Ge-
brauch gemacht werden muss.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist kommunale Selbstverwaltung!)


Das ist klassische kommunale Selbstverwaltung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD])


Deswegen – damit möchte ich heute schließen – ist es
nicht der richtige Weg, über Verbilligung von Grundstü-
cken, über Verbilligung von Wohnungsverkäufen und





Norbert Brackmann


(A) (C)



(D)(B)

über Subventionierung des Preises den Versuch zu ma-
chen, mittelbar eine Art Mietpreisbremse einzuführen.
Wir sind der Meinung: Wenn man das machen will, dann
muss das so gemacht werden, dass man die vielfältigen
Möglichkeiten der Schaffung neuen Wohnraums wahr-
nimmt. Dabei unterstützt der Bund. Bei der Attraktivi-
tätssteigerung von Wohnraum unterstützt der Bund. Die
Neuschaffung von Wohnungen kann nach Bau- und Pla-
nungsrecht nur von den Gemeinden gemacht werden.
Wenn jeder, der daran beteiligt ist, gemeinsam mit uns
an einem Strick ziehen würde, dann würden wir für die
Mieter in unserem Land viel mehr bewegen als mit sol-
chen Vorlagen, die nichts anderes sind als Schaumschlä-
gerei.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volkmar Klein [CDU/CSU]: Genau!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806411100

Das Wort hat der Kollege Christian Kühn für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-
ehrter Herr Brackmann, erst einmal stelle ich fest, dass
Sie 17 Minuten Zeit hatten, dass Sie eine reine haushal-
terische Rede gehalten haben und heute kein Wohnungs-
politiker und kein Baupolitiker der Union zu einem zen-
tralen Thema der Bau- und Wohnungspolitik spricht.
Das zeigt, welchen Stellenwert Bauen und Wohnen bei
der Union hat, nämlich gar keinen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Es ist ja überhaupt keiner da! – Volkmar Klein [CDU/ CSU]: Was hat Ihnen denn gefehlt? Er hat doch alles gesagt!)


Zweitens stelle ich fest, dass Sie die Verbindung zwi-
schen dem Kaufpreis für den Erwerb von Immobilien
und den Folgen auf den Wohnungsmärkten zumindest
ignorieren. Ich finde, dies ist eine Grundvoraussetzung,
um Wohnungspolitik betrachten zu können. Liegen-
schaftspolitik ist im Kern Wohnungs- und Baupolitik.
Das können Sie auch mit Ihrer 17-minütigen Rede, die
Sie gehalten haben, nicht einfach wegwischen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will Ihnen weiterhin sagen: Wenn Sie als Union
bei der Liegenschaftspolitik in der Form weitermachen
und rein auf die Gewinnmaximierung setzen, werden Sie
in der Wohnungs- und Baupolitik am Ende versagen und
nichts Richtiges hinkriegen.

Ich sage Ihnen außerdem: Bei den Konversionslie-
genschaften machen Sie ja etwas für die Kommunen,
weil Sie die Kommunen da unterstützen wollen. Aber es
gibt auch andere Handlungsfelder bzw. Probleme der
Kommunen, die man dringend angehen muss, beispiels-
weise die angespannten Wohnungsmärkte und die He-
rausforderung, dass Kommunen jetzt viele Flüchtlinge
unterbringen müssen und händeringend nach Flächen su-
chen. Überall dort müssen Sie als Bund das Instrument
Bundesanstalt für Immobilienaufgaben einsetzen. Das
tun Sie nicht. Deswegen versagen Sie bei diesen Aufga-
ben und machen im Kern, so finde ich, eine neoliberale
Liegenschaftspolitik statt eine verantwortliche Bau- und
Wohnungspolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bei der Großgörschenstraße setzen Sie – das sage ich
Ihnen auch – auf den Höchstpreis. Das ist skandalös. Ge-
rade die Großgörschenstraße liegt in einem Wohnungs-
markt, der einer der dynamischsten in ganz Deutschland
ist. Da heizt der Bund nun mit dem Verkauf zum absolu-
ten Höchstpreis die Spirale, die dort entsteht, noch wei-
ter an. Einerseits lassen Sie sich heute als Große Koali-
tion im Bundesrat als Anwälte der kleinen Mieterinnen
und Mieter feiern und sagen: „Wir tun doch etwas da-
für“, andererseits heizen Sie solche Preisspiralen mit Ih-
rer Liegenschaftspolitik an. Das passt nicht zusammen.
So wird die Mietpreisbremse, die sowieso schon durch-
löchert ist, zu einer reinen Alibiveranstaltung. So werden
Ihre Wohnungspolitik und ihre Baupolitik zu einer Alibi-
veranstaltung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Gemach, gemach, gemach!)


Ich fordere Sie deswegen auf: Ändern Sie § 1 BImA-
Gesetz. Nehmen Sie dort städtebauliche Kriterien hinein.
Nehmen Sie wohnungspolitische Ziele hinein, und än-
dern Sie die Haushaltsordnung. Lassen Sie die Liegen-
schaftspolitik nicht zu einem reinen Gnadenakt werden.
Ich habe gehört, es soll ein Spitzengespräch wegen der
Großgörschenstraße geben. Ich finde, Liegenschaftspoli-
tik darf nicht davon abhängen, ob ein Finanzminister den
Daumen nach oben hält oder nach unten senkt. Es muss
vielmehr um strukturelle Fragen, um städtebauliche Fra-
gen und um wohnungsbaupolitische Fragen gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In unserem Antrag fordern wir ein umfassendes Kon-
zept zur Liegenschaftspolitik, das zeigt, wie auf der ei-
nen Seite haushalterische Fragen und auf der anderen
Seite strukturelle wie städtebauliche und wohnungspoli-
tische Fragen berücksichtigt werden können und wie ein
effektiver Mieterschutz gewährleistet werden kann. Da-
ran sollten Sie sich orientieren.

Ihre Rede, Herr Brackmann, hat ganz klar gezeigt,
dass Sie sich in der Großen Koalition überhaupt nicht ei-
nig sind. Sie sind sich auch in der Union nicht einig; das
merke ich, wenn ich mit Ihren Kollegen aus Berlin spre-
che.


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Deswegen kommen die Berliner auch nicht!)


Sie versagen einfach in der Wohnungspolitik und der
Liegenschaftspolitik in Gänze.





Christian Kühn (Tübingen)



(A) (C)



(D)(B)

Wir haben auch ein Verkaufsmoratorium beantragt.
Das wäre das Geringste, das Sie tun könnten, um die
Wohnungsmärkte zu entspannen. Auch das tun Sie nicht.
Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben die
Dinge in ihren Haushaltsordnungen geändert. Dort wer-
den heute auch Konzeptvergaben und die Berücksichti-
gung städtebaulicher Kriterien ermöglicht. Daran sollte
sich der Bund orientieren. In diesen Ländern wird eine
gute Bau- und Wohnungspolitik gemacht – auf Bundes-
ebene leider nicht, weil Sie von der Union es blockieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich höre von Ihnen immer: Die Haushaltsordnung
steht dem Ganzen entgegen. – Haben Sie doch einfach
mal ein bisschen Mut! Wir hier im Parlament können die
Haushaltsordnung ändern. Das Europarecht steht dem
auch nicht entgegen; das hat uns der Wissenschaftliche
Dienst des Bundestages bestätigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen ganz klar: Sie können heute hier in der
Großen Koalition Farbe bekennen und sich entscheiden,
ob Sie eine andere Liegenschaftspolitik machen wollen
oder eben nicht. Ich glaube, Sie werden wieder sagen:
Nein, wir lassen alles so, wie es ist. – Damit versagen
Sie in der Liegenschaftspolitik. Damit lassen Sie die
Mieterinnen und Mieter in Deutschland im Regen ste-
hen. 40 000 Wohnungen gehören dem Bund, gerade in
Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten; das ist
mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Damit kön-
nen Sie den Mieterinnen und Mietern etwas geben und
auch wirklich dafür sorgen, dass sie weiterhin zu bezahl-
baren Preisen vernünftig wohnen können. Das wollen
Sie nicht. Insofern versagen Sie hier.

Sie von der Großen Koalition versagen in der Liegen-
schaftspolitik, und Sie versagen in der Wohnungsbau-
politik leider in Gänze.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806411200

Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD):
Rede ID: ID1806411300

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Für uns Sozialdemokraten ist es gute Tra-
dition, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, auch und
gerade für Menschen, die nicht viel Geld im Portemon-
naie haben. Es ist nicht in Ordnung, wenn viele Men-
schen 50 Prozent und mehr ihres Nettogehaltes für eini-
germaßen vernünftiges Wohnen ausgeben müssen.
Gegen diese Entwicklung haben wir bereits einiges ge-
tan. So haben wir im Kabinett die Mietpreisbremse be-
schlossen; sie wurde eben schon angesprochen. Damit
wird ab 2015 die Miete in angespannten Märkten nur
noch maximal 10 Prozent über der ortsüblichen Ver-
gleichsmiete liegen dürfen.

Im Haushalt 2014 haben wir bereits die Städtebauför-
derungsmittel von 455 auf 700 Millionen Euro erhöht.
Damit kann der Investitionsbedarf bei den vordringli-
chen städtebaulichen Innovationsprojekten in den Kom-
munen abgedeckt werden. Darüber hinaus entwickeln
wir das Programm „Soziale Stadt“ mit 150 Millionen
Euro zum Leitprogramm der sozialen Integration. Damit
unterstützen wir die Stabilisierung und Aufwertung
strukturschwacher Stadt- und Ortsteile.

Nun liegen uns heute hier ein Gesetzentwurf der Lin-
ken und Anträge der Grünen und der Linken vor, bei de-
nen man nach Lektüre den Eindruck gewinnen kann,
dass bezahlbarer Wohnraum deshalb knapp wird, weil
die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ihre gesetzli-
che Pflicht wahrnimmt und nicht mehr benötigte bundes-
eigene Wohnungen zum entsprechenden Marktwert ver-
kauft.

Fakt ist in der Tat, dass die BImA als zuständige Bun-
desbehörde für die Verwertung der vom Bund nicht mehr
benötigten Bundesliegenschaften – zurzeit bundesweit
circa 70 000 Wohnungen – eine besondere Verantwor-
tung für den Immobilien- und den Wohnungsmarkt so-
wie die regionale Entwicklung hat. Dieser Verantwor-
tung kommt sie im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags
nach, sprich: nach dem geltenden Haushaltsrecht veräu-
ßert sie zum vollen Verkehrswert.

Hierbei ist es auch heute schon in der Regel gute Tra-
dition, dass die BImA die zu veräußernden Wohnungen
entsprechend § 194 Baugesetzbuch zuerst den Kommu-
nen und deren Wohnungsbaugesellschaften aufgrund ei-
ner entsprechenden Wertermittlung zum Verkehrswert
anbietet. Hier ein Moratorium zu fordern, also ein Veräu-
ßerungsverbot, wie es die Anträge der Linken und der
Grünen tun, ist meines Erachtens ein falscher Ansatz.

Gerade einmal 0,3 Prozent des gesamten Wohnungs-
bestandes – die Zahl sprach eben schon jemand an – ge-
hören der BImA in Berlin, 99,7 Prozent eben nicht. Aber
wir müssen und sollen an alle betroffenen Mieterinnen
und Mieter denken. Da ist die Fokussierung nur auf ei-
nen kleinen Teil der betroffenen Menschen eben nicht
die Lösung, bei der wir haltmachen dürfen. Will man
nämlich wirklich helfen, müssen die Instrumente, die
Kommunen und Länder haben, auch genutzt werden.
Gegebenenfalls müssen diese Instrumente geschaffen
werden.

Eine Zweckentfremdungsverbotsverordnung, die in
aller Regel die Umwandlung in Ferienwohnungen kon-
trolliert, ist in diesem Zusammenhang sicherlich hilf-
reich. Sie bleibt aber nur Stückwerk, wenn sie nicht von
einer Umwandlungsverordnung flankiert wird, mit der
die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnung vor
allen Dingen in Milieuschutzgebieten genehmigungs-
pflichtig wird.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sprechen Sie ein wahres Wort!)






Dr. Hans-Ulrich Krüger


(A) (C)



(D)(B)

Auch sollte man die Rechte und Möglichkeiten des
Baugesetzbuches nutzen. So schreibt zum Beispiel der
Ihnen sicherlich bekannte § 172 Baugesetzbuch die Er-
haltung baulicher Anlagen und der Eigenart von Gebäu-
den vor. Wörtlich heißt es dort – ich zitiere –:

Die Gemeinde kann in einem Bebauungsplan oder
durch eine sonstige Satzung Gebiete bezeichnen, in
denen

1. zur Erhaltung der städtebaulichen Eigenart …

2. zur Erhaltung der Zusammensetzung der Wohn-
bevölkerung … oder

3. bei städtebaulichen Umstrukturierungen …

der Rückbau, die Änderung oder die Nutzungsän-
derung … der Genehmigung bedürfen.

Sie sehen also: Der Gesetzgeber, liebe Kolleginnen
und Kollegen, hat genügend Instrumente, um den Patien-
ten „mangelnder Wohnraum“ mit bezahlbaren Mieten
entsprechend versorgen zu können.


(Mechthild Rawert [SPD]: Noch mehr!)


Fazit: Auf der einen Seite haben wir die Kommunen
und die Länder, die die bestehenden gesetzlichen Instru-
mente des Baugesetzbuches nutzen bzw. diese per Um-
wandlungsverordnung schaffen müssen. Auf der anderen
Seite haben wir den Bund, der mit Maßnahmen der Städ-
tebauförderung, der Förderung des sozialen Wohnungs-
baus, also mit einer aktiven Wohnungspolitik, diese Auf-
gabe unterstützt.

In diesem Zusammenhang spielt die BImA die ergän-
zende wichtige Rolle, die man diskutieren und gegebe-
nenfalls auch modifizieren darf. Ich verweise hier bereits
auf einen Antrag der SPD aus der letzten Legislaturpe-
riode, und zwar vom 12. Juni 2012, in dem bereits gefor-
dert wurde, die Tätigkeit der BImA stärker als bisher an
strukturpolitischen Zielsetzungen auszurichten.


(Beifall bei der SPD)


Einen ersten Schritt, liebe Kolleginnen und Kollegen,
haben wir mit der Regelung im Koalitionsvertrag getan,
indem wir 100 Millionen Euro bereitgestellt haben, um
eine verbilligte Abgabe von Konversionsflächen an
kommunale Träger zu ermöglichen.

Hier müssen wir weiterarbeiten, und hier müssen wir
Akzente setzen – in dem Bewusstsein, dass wir als Bund
die Aufgabenerfüllung der Länder und Kommunen zwar
unterstützen, aber nicht ersetzen können.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806411400

Der Kollege Klaus Mindrup hat ebenfalls für die

SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Klaus Mindrup (SPD):
Rede ID: ID1806411500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist gut, dass wir heute über Liegenschafts-
politik reden. Als langjähriger Kommunalpolitiker habe
ich mich damit natürlich schon beschäftigt.

Ich bin im Frühjahr nach Schöneberg gefahren, als
mich die betroffenen Mieter dorthin eingeladen hatten,
und habe das Gespräch gesucht. Wenn ich über die Lie-
genschaftspolitik rede, denke ich zuallererst an diese
Menschen. Ich verstehe aber auch, dass wir über Zahlen
reden müssen, wenn wir über Liegenschaftspolitik spre-
chen. Das möchte ich dankend aufgreifen.

Laut der Bilanz der BImA lag der Wert der Grundstü-
cke und der Gebäude, die sie verkaufen will, Ende 2013
bei 2 875 273 105,53 Euro. Das ist der geplante Erlös
dessen, was die BImA laut Bilanz insgesamt über die
Jahre veräußern will. Sie hatte im Jahr 2013 einen Um-
satz von 4,8 Milliarden Euro gemacht. Allerdings stamm-
ten davon 4,2 Milliarden Euro aus Vermietung und Ver-
pachtung und mit 440 Millionen Euro nur 9 Prozent aus
dem Verkauf von Liegenschaften. An den Bundeshaus-
halt wurden 2,8 Milliarden Euro abgeführt. Das ist
sechsmal so viel, wie aus Verkäufen eingenommen
wurde.

Warum nenne ich diese Zahlen hier? Manchmal hat
man in der Diskussion den Eindruck, dass Wohl und
Wehe des Bundeshaushalts an den Verkaufserlösen der
BImA hängt und dass der Bundeshaushalt, wenn wir
nicht zum Höchstpreis veräußern, an dieser Stelle ein
Problem bekommt. Das ist offenbar eine deutliche Über-
treibung.


(Beifall der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Kommen wir nun zurück zu unseren Berliner Nach-
barn, den Mieterinnen und Mietern der Katzlerstraße/
Großgörschenstraße. Sie haben Angst, dass sie aus ihren
Wohnungen verdrängt werden.


(Zuruf von der LINKEN: Zu Recht!)


Diese Sorge ist auch absolut berechtigt; denn in
Deutschland hat sich nicht nur ein grauer Kapitalmarkt,
sondern auch ein grauer Baumarkt entwickelt. Es ist Pra-
xis, dass solche Häuser rücksichtslos und – was mindes-
tens genauso schlimm ist – erfolgreich entmietet werden,
um dann die Wohnungen als Eigentumswohnungen zu
veräußern. Hier ist es Aufgabe der Politik, auf allen Ebe-
nen tätig zu werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle muss ich die CSU loben. Sie hat in
Bayern eine Umwandlungsverordnung beschlossen, so-
dass man nicht mehr einfach ohne Genehmigung Miet-
wohnungen in Eigentumswohnungen umwandeln darf.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der Pressemitteilung der Bayerischen Staatskanzlei
vom 4. Februar 2014 heißt es wörtlich:





Klaus Mindrup


(A) (C)



(D)(B)

Damit setzen wir nunmehr um, was wir vor den
Landtagswahlen angekündigt haben und was im
vergangenen Jahr am Widerstand der FDP geschei-
tert war.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe die FDP
hier im Bund nicht mehr. Ich kann Ihnen aber sagen: Die
SPD steht auf jeden Fall an der Seite derer, die eine so-
ziale und zugleich wertkonservative Politik machen wol-
len.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806411600

Kollege Mindrup, gestatten Sie eine Bemerkung oder

Frage der Kollegin Lötzsch?


Klaus Mindrup (SPD):
Rede ID: ID1806411700

Ja, bitte.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806411800

Herzlichen Dank, Herr Kollege. Ich will eine Zwi-

schenbemerkung machen.

Ich hoffe, dass Sie in der SPD miteinander kommuni-
zieren. Falls Sie nicht miteinander kommunizieren soll-
ten, darf ich Ihnen mitteilen, dass wir im Haushaltsaus-
schuss – Herr Kühn, dort werden viele Fragen beraten,
die uns alle betreffen, und darum können sich Haushälter
auch zu diesen Fragen äußern; das nur als kleine Neben-
bemerkung – über das Moratorium gesprochen haben.
Der Vertreter der SPD, Johannes Kahrs, hat mehrmals
gesagt: Leute, lasst uns diesen Antrag verschieben, wir
kriegen schon eine gute Lösung hin.

Nach zweimaligem Verschieben wurde das Thema
auf die Tagesordnung gesetzt, und wir haben über das
Moratorium abgestimmt. Die Vertreter der Koalition ha-
ben dagegen gestimmt. Die heldenhaften Berliner SPD-
Abgeordneten und die heldenhaften Berliner CDU-Ab-
geordneten, die der Berliner Presse erzählen, dass sie al-
les tun würden, um die Mieterinnen und Mieter zu unter-
stützen, sind einfach gegangen, weil sie sich an der
Abstimmung nicht beteiligen wollten.

Es geht hier um die Frage der politischen Ehrlichkeit.
Sie rennen in Berlin durch die Gegend und erzählen, wie
man den Bund beeinflussen wolle, wie man sich gegen-
über dem Bundesfinanzministerium eingebracht habe.
Das Bundesfinanzministerium hat mir übrigens mitge-
teilt, dass ihm ein Brief der Berliner Abgeordneten nicht
vorliegt.

Seien Sie doch ehrlich! Sagen Sie, Sie können sich
nicht durchsetzen, Sie wollen sich nicht durchsetzen.
Tun Sie hier nicht so, als stünden Sie auf der Seite der
Mieterinnen und Mieter. Oder sagen Sie, Sie wollen eine
entsprechende Regelung endlich umsetzen. Dann sorgen
Sie aber auch dafür, dass Ihre Fraktionskollegen entspre-
chend abstimmen. Ich finde, so geht das nicht. Das ist
unehrlich gegenüber der Öffentlichkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Klaus Mindrup (SPD):
Rede ID: ID1806411900

Werte Kollegin, wir haben in Berlin ein Problem mit

der Glaubwürdigkeit. Diese Glaubwürdigkeit hängt auch
mit der rot-roten Koalition in Berlin zusammen, die
nämlich keine alternative Liegenschaftspolitik hinbe-
kommen hat; die haben wir jetzt erstaunlicherweise mit
den Kollegen von der CDU hinbekommen. Als Sie noch
mit uns regiert haben, hatten wir die Politik des Höchst-
preises. Das habe ich damals kritisiert.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie hieß denn damals der Finanzsenator? Sarrazin!)


– Entschuldigung. Ich bin Berliner SPD-Mitglied und
auch Landesvorstandsmitglied. Mir wurde immer ge-
sagt: Wenn die Linke in Berlin Höchstpreispolitik macht,
dann stehst du ja links von den Linken. Wie soll man so
etwas durchsetzen? Wo stehst du eigentlich?

Es ist doch vernünftige Politik, dass man nicht alles
zum Höchstpreis veräußert. Wir sind an dem Thema
dran, Frau Lötzsch. Die SPD-Fraktion hat am Dienstag
einstimmig den klaren Beschluss gefasst, dass wir eine
andere Liegenschaftspolitik im Bund haben wollen.


(Beifall bei der SPD)


Für uns ist ganz entscheidend, dass wir vorbildlich han-
deln.


(Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also Konflikt in der GroKo!)


Der Bund muss vorbildlich sein.

Wir haben das Bündnis für bezahlbares Bauen und
Wohnen ins Leben gerufen. Wir haben uns mit der
Union auf die Mietpreisbremse verständigt. Die ist aber
noch nicht gesetzlich umgesetzt. Herr Brackmann, ma-
chen wir uns doch nichts vor: Wenn die Mietpreisbremse
Gesetzeskraft hat, reduziert das logischerweise den Er-
tragswert der Immobilien, die in Gebieten mit ange-
spannter Wohnraumlage veräußert werden sollen. In
Berlin wurde dies von den städtischen Wohnungsbauge-
sellschaften mit dem Mietenbündnis bereits vorwegge-
nommen. Das heißt, es kann kein so hoher Preis erzielt
werden. Wenn Ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin
der Umwandlungsverordnung zustimmen würden, dann
würde uns das noch weiterbringen; denn das würde wie-
derum den Wert senken.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806412000

Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung der Kollegin Paus?


Klaus Mindrup (SPD):
Rede ID: ID1806412100

Gerne.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806412200

Da Sie gerade gesagt haben, dass Sie sich in der SPD-

Bundestagsfraktion intensiv mit dem Thema auseinan-
dersetzen, dass das Bieterverfahren zur Großgörschen-
straße abgeschlossen ist und dass damit zu rechnen ist,
dass das diesem Hause in den nächsten Wochen vorliegt,





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)

frage ich: Können Sie uns auch mitteilen, wie die Situa-
tion hinsichtlich der Großgörschenstraße konkret aus-
sieht? Können Sie uns heute hier sagen, dass die Häuser
in der Großgörschenstraße nicht zum Höchstpreis ver-
kauft werden? Wie ist die Beschlusslage der SPD-Frak-
tion in dieser Frage?


Klaus Mindrup (SPD):
Rede ID: ID1806412300

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich muss hier ganz

klar sagen: Wir haben einen Koalitionsvertrag, und im
Augenblick haben wir noch keine geänderte Grundlage.
Darauf komme ich im weiteren Verlauf meiner Rede
aber noch zu sprechen.

Was für mich persönlich wichtig ist – das ist auch
noch einmal ein Appell an die Kolleginnen und Kollegen
aus dem Bundesfinanzministerium –, ist Folgendes: Man
sollte vor der Einführung der Mietpreisbremse keinen
Schlussverkauf von Bundesimmobilien vornehmen. Das
ist ganz wichtig; denn die Spekulationsökonomie ist ein
wenig wie eine griechische Tragödie: Man weiß schon
am Anfang, dass es am Ende schiefgeht.

Wir als SPD wollen eine andere Liegenschaftspolitik.
Wir wollen, dass bei Veräußerungen auch die städte-,
wohnungs- und strukturpolitischen Ziele im Blick behal-
ten werden können. Wir wollen Konzeptverfahren, und
zwar zum Festpreis. In der Mitteilung der EU-Kommis-
sion vom 10. Juli 1997 ist klar festgelegt, dass man das
machen kann, wenn man will. Vor allen Dingen kann
man das machen, wenn man ein klares wohnungspoliti-
sches Ziel, hier: bezahlbare Mieten, hat.

Genauso kann man vorgehen, wenn es um die drin-
gend notwendige Unterbringung von Flüchtlingen geht.
Dann muss man nicht zum Höchstpreis verkaufen. Das
ist auch finanzpolitisch sinnvoll. Es macht doch keinen
Sinn, auf der einen Seite Wohnungen teuer zu veräußern
und auf der anderen Seite einen viel höheren Aufwand
zu betreiben und viel mehr Geld auszugeben, um neuen
Wohnraum zu schaffen und darüber hinaus auch noch
Grundsicherungsleistungen und Wohngeld zu zahlen.
Wenn man das nicht ganzheitlich sieht, hält man sich
eben auch nicht an das Prinzip von Haushaltsklarheit
und Haushaltswahrheit. Diese Art der Kreislaufwirt-
schaft ist wirklich unsinnig: Man kann doch nicht auf der
einen Seite das Geld einnehmen, das man auf der ande-
ren Seite wieder ausgibt.

Wir reden hier immer von der schwarzen Null. Diese
schwarze Null muss nachhaltig sein. Sie darf nicht mit
hohen Folgekosten erkauft werden. Das würde uns näm-
lich teuer zu stehen kommen. Hohe Folgekosten entste-
hen, wenn man nicht investiert oder ohne Augenmaß
Vermögen aus der Hand gibt.

Der Koalitionsvertrag bietet Orientierung. Seine
Überschrift lautet: „Deutschlands Zukunft gestalten.“
Gestalten müssen wir auch in der Bau- und Liegen-
schaftspolitik. Das Streben nach Nachhaltigkeit ist das
richtige Motiv. Wir müssen den Nachhaltigkeitsgedan-
ken dort stärker einbeziehen. Wir müssen ökologisch,
wirtschaftlich und sozial handeln. Dieser Ansatz zieht
sich auch durch den Koalitionsvertrag.
Insofern ist ein Moratorium keine Lösung. Wir müs-
sen schauen – diesbezüglich hoffe ich auf weitere kon-
struktive Gespräche mit der Union, vor allen Dingen mit
den Baupolitikern –, dass wir zu einer Baupolitik kom-
men, die dem Prinzip der Nachhaltigkeit Rechnung trägt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD – Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schöne Rede, aber ich glaube, es wird nichts umgesetzt davon!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806412400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2882 und 18/3044 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksa-
che 18/2908. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1952 mit dem
Titel „Sofortiges Moratorium für die Wohnungs- und
Grundstücksverkäufe durch die Bundesanstalt für Immo-
bilienaufgaben“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/1965 mit dem Titel „Moratorium
beim Verkauf von Wohnimmobilien in Städten mit ange-
spanntem Wohnungsmarkt durch die Bundesanstalt für
Immobilienaufgaben“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Frak-
tion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Werner Kammer, Arnold Vaatz, Ulrich Lange,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gustav
Herzog, Sören Bartol, Kirsten Lühmann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung
zukunftsfest gestalten

Drucksache 18/3041
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen rasch
vorzunehmen, damit ich die Aussprache eröffnen kann.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-
minister für Verkehr und digitale Infrastruktur,
Alexander Dobrindt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Schifffahrt ist in der Tat eine der tragen-
den Säulen der deutschen Volkswirtschaft. Die Grund-
lage dafür, dass wir eine leistungsfähige Schifffahrt und
leistungsstarke Wasserwege gestalten und erhalten, ist
eine starke und effiziente Wasserstraßen- und Schiff-
fahrtsverwaltung.

Wir haben mit unserer Prognose für die Güter-
verkehre in den letzten Monaten sehr deutlich darauf
hingewiesen, dass wir Güterverkehrssteigerungen von
40 Prozent erwarten. Wenn wir diese Güterverkehrsstei-
gerungen, die notwendig sind, um den Wohlstand auch
in Deutschland zu erhalten, auf den Verkehrsträgern ab-
bilden wollen, brauchen wir auch sehr starke und intakte
Wasserstraßen. Die Entlastung von Schiene und Straße
kann nur durch die Kapazitäten der Wasserstraße erfol-
gen. Deswegen haben wir in unseren ganzen Reform-
bemühungen der Wasserstraßen- und Schifffahrtsver-
waltung immer dieses Ziel hochgehalten. Die
Leistungsfähigkeit muss am Schluss gesteigert werden.
Eine Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwal-
tung darf nicht dazu führen, dass wir am Schluss weni-
ger Kapazitäten auf den Wasserstraßen abbilden. Viel-
mehr müssen wir mehr Kapazitäten abbilden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deswegen haben wir von der Koalition gleich zu Be-
ginn Grundsätze formuliert, wie man eine Reform der
Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung beschreiben
kann. Ein Grundsatz war, die Regionalität zu erhalten.
Ein weiterer war, die Kompetenz vor Ort zu stärken. Ein
dritter Grundsatz war, die eigenständige Aufgabenerfül-
lung zu sichern. Diese Grundsätze sind nicht zu jeder
Zeit als oberste Grundsätze einer Reform genannt wor-
den. Lange Zeit hat man auch über andere Möglichkei-
ten nachgedacht.


(Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!)


Wir gehen gemeinsam – das war immer unsere Überzeu-
gung – in die Richtung: Stärkung der lokalen Kräfte bei
der Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwal-
tung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


– Der Beifall zeigt, dass wir uns einig sind und dass die
Reform gelungen ist.

(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hat doch noch gar nicht angefangen!)


Selten ist mir so viel Applaus in diesem Haus entgegen-
geschallt wie jetzt gerade.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das kann so bleiben!)


Das überrascht mich fast.


(Gustav Herzog [SPD]: Nicht nervös werden!)


Wir haben in der Wasserstraßen- und Schifffahrtsver-
waltung 14 000 Mitarbeiter. Sie ist eine der größten Bun-
desbehörden, auf jeden Fall die größte Bundesbehörde
im Bereich der Infrastruktur. Das zeigt auch die Dimen-
sion. Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung mit
ihren Mitarbeitern ist überall vor Ort in Deutschland ver-
treten und organisiert überall vor Ort in Deutschland die
Wirtschaftsverkehre. Das zeigt auch ihre Bedeutung für
das ganze Land. Vielleicht gab es auch deswegen diese
intensive Diskussion. 20 Jahre hat es gedauert, eine Re-
form in ihren wesentlichen Grundzügen zu beschreiben
und jetzt auch umzusetzen. Dass wir dieses Ziel jetzt er-
reicht haben, ist in der Tat ein sehr gutes Ergebnis.

Die Reform schafft Planungssicherheit für die Wirt-
schaft, für die Nutzer der Wasserstraßen und für die Be-
schäftigten der WSV. Die Standorte der bisherigen
39 Wasser- und Schifffahrtsämter bleiben erhalten. Wir
haben Revierverantwortungen gezeichnet. Wir werden
eine stärkere Vernetzung der Standorte innerhalb der Re-
viere umsetzen. Insbesondere durch diese Vernetzung
innerhalb der Revierstruktur werden der regionale
Gedanke der Reform unterstützt und die lokale Verant-
wortung vor Ort gestärkt.

In den nächsten Wochen und Monaten wird den künf-
tigen Wasserstraßen- und Schifffahrtsämtern der Prozess
der Reformumsetzung nahegebracht. Ich will ausdrück-
lich betonen, dass die Konkretisierung der Struktur – an-
gesichts der Breite der WSV dauert eine derartige Um-
setzung eine gewisse Zeit – natürlich bedeutet,
fachlichen und organisatorischen Anregungen gegen-
über weiter offen zu sein. Wir haben diese Struktur ge-
meinsam mit den Kolleginnen und Kollegen, also mit
den Mitarbeitern der WSV, entwickelt. Dies soll auch in
den nächsten Monaten für den Umsetzungsprozess gel-
ten. Die bessere Idee ist immer der Konkurrent zur guten
Idee. Deswegen sind wir an möglichen Weiterentwick-
lungen durchaus interessiert.

Wir haben eine organisatorische Aufgabentrennung
– so war es formuliert – von Verkehr und Infrastruktur
geprüft. Wir kamen eindeutig zu dem Ergebnis, dass eine
solche Aufgabenaufteilung mit einer entsprechenden
Ämterstruktur nicht zweck- und zielführend ist. Vorzu-
ziehen ist eindeutig eine Struktur mit größeren Zustän-
digkeitsbereichen in den einzelnen Revieren. Deswegen
haben wir der Aufgabentrennung von Verkehr und Infra-
struktur eine klare Absage erteilt, meine Damen und
Herren.

Wir wollen die Kompetenzen vor Ort stärken. Deswe-
gen ist, was die zentrale Steuerung betrifft, die Zustän-





Bundesminister Alexander Dobrindt


(A) (C)



(D)(B)

digkeit der im Mai vergangenen Jahres eingerichteten
Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt richtig
gewesen, und sie bleibt richtig. Diese Zuständigkeit en-
det aber dort, wo regionale Belange und Kenntnisse
maßgeblich sind. Ich glaube, auch das ist ein deutliches
Bekenntnis zur Stärkung der Funktionsfähigkeit vor Ort.

Wir richten die WSV intensiv nach den spezifischen
Revieranforderungen aus. Damit sichern und fördern wir
die intensive Kooperation zwischen einzelnen Revier-
verwaltungen und der verladenden sowie der Transport-
wirtschaft. Wir entsprechen damit zugleich den regional
sehr unterschiedlichen Anforderungen. Das gilt insbe-
sondere für die spezifischen Belange der Küste und der
Seeschifffahrt. Die Organisation und Kontrolle der Ver-
kehrssicherung in der Deutschen Bucht bleiben ebenso
eine vorrangige Vor-Ort-Aufgabe wie die Regelung des
Schiffverkehrs von der Nord- und Ostsee in die deut-
schen Seehäfen.

Mit der Reform stärken wir die regionale Kompetenz
und den unmittelbaren Revierbezug und sichern kurze
Abstimmungswege zwischen Wirtschaft und Verwal-
tung.

Meine Damen und Herren, die Verwaltung dient der
Wirtschaft, die Verwaltung dient den Wirtschaftswegen,
und die Verwaltung dient vor allem der Wertschöpfung,
die die Wirtschaft auf diesen Verkehrswegen erbringen
kann. Deswegen kann eine besonders enge Vor-Ort-Ab-
stimmung zwischen Verwaltung und Wirtschaft am bes-
ten mit unserem Reviergedanken erreicht werden.

Schleusen, Wehre, Brücken, Pumpen und all das, was
wir an technischen Bauwerken an den Wasserwegen
kennen, brauchen Planung und Betreuung mit einem
großen ingenieurtechnischen Sachverstand. Manchmal
ist nicht nur ingenieurtechnischer Sachverstand, sondern
auch ein erhebliches Maß an Improvisationstalent erfor-
derlich. Das kann die WSV. Das müssen wir auch für die
Zukunft sichern. Das geht nur mit entsprechenden Fach-
kräften und Planungskapazitäten. Deswegen war es mir
und unserem Haus ein besonders großes Anliegen, im
nächsten Jahr wie auch in diesem Jahr zusätzliche Fach-
kräftestellen zu erwirken, sodass die notwendige Kom-
petenz an Ingenieurleistung und Improvisationstalent
nicht verloren gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir
den Umsetzungs- und Modernisierungsprozess in dieser
sehr konstruktiven Art und Weise gemeinsam mit den
Mitarbeitern und den Interessenvertretungen gestalten
konnten. Das Mitwirkungsverfahren, wie wir es im Ein-
vernehmen mit dem Hauptpersonalrat festgelegt und
schriftlich vereinbart haben, hat dieses harmonische Mit-
einander gesichert. Ich möchte mich beim Hauptperso-
nalrat und bei allen Beschäftigten ausdrücklich für die
konstruktive Zusammenarbeit in den letzten Monaten
bedanken.

Wir modernisieren mit dieser Reform nicht nur eine
der größten Flächenverwaltungen unseres Landes, son-
dern wir stärken damit zugleich die große Bedeutung un-
serer Wasserstraßen im Transport- und Güterverkehr.
Mit den Mitteln aus dem zusätzlichen Investitionspaket
in dreistelliger Millionenhöhe, die wir in die Wasserstra-
ßen und Schifffahrtswege in dieser Wahlperiode inves-
tieren werden, stellen wir klar, dass die Wasserstraßen
beim Investitionshochlauf des Verkehrsministeriums über
alle Transportwege hinweg eine ganz bedeutende Rolle
einnehmen werden.

Gemeinsam schaffen wir es, dass die Wasserstraße für
die Anforderungen der Zukunft fit wird und für den
Transport der Güterverkehre gerüstet ist. Das ist eine
große Reform, nicht nur für die Mitarbeiter, sondern im
Besonderen auch für die deutsche Wirtschaft.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806412500

Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806412600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Dobrindt, wenn Sie das, was Sie vorgelegt haben
und jetzt mit einem Antrag der Koalitionsfraktionen un-
terlegen, als das Ergebnis eines 20-jährigen Prozesses
bezeichnen, dann ist das noch erbärmlicher, als es ohne-
hin ist. Das ist wirklich entlarvend.


(Gustav Herzog [SPD]: Das ist aber sehr krampfhaft gewesen, so zu argumentieren!)


Eine zweite Anmerkung. Die Improvisationsfähigkeit
der Kolleginnen und Kollegen in der WSV, die Sie aus-
drücklich begrüßen, entspringt nicht dem Wunsch, inno-
vativ und improvisierend tätig zu sein, sondern dieses
Improvisieren ist schlicht eine Notwendigkeit, weil teil-
weise das Personal fehlt, weil die Ausstattung fehlt, weil
entsprechende Rahmenbedingungen nicht gegeben sind.
Diese Notwendigkeit, zu improvisieren, möchte ich
gerne durch eine vernünftige WSV-Reform vermeiden.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit dem Auftrag, die WSV umzubauen, ist die An-
drohung verbunden gewesen: Wir machen aus der WSV
als einer Ausführungsverwaltung eine Gewährleistungs-
verwaltung. All das, was an Kompetenzen abzugeben
ist, sollte abgegeben werden. Nur noch geringe Zustän-
digkeiten sollten in den Händen der WSV-Beschäftigten
bleiben.

Sechs Berichte hat es bedurft, um über die Ziele des
WSV-Reformprozesses zu berichten. Wir haben mindes-
tens 20 Debatten hier im Plenum und im Ausschuss dazu
geführt, um uns mit dieser Frage auseinanderzusetzen.
Die Kolleginnen und Kollegen selbst haben sich mit Pro-
testaktionen von Schweinfurt bis nach Wilhelmshaven
eingebracht, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu ma-
chen. Es hat Streiks bedurft, um auf die Frage der Be-
schäftigungssicherung hinzuweisen, ohne dass es letzt-
endlich zu einem Tarifvertrag gekommen wäre, weil sich
das Ministerium geweigert hat.





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)

Das macht den Kolleginnen und Kollegen weiterhin
Sorgen, aber auch – das haben Sie eben gesagt – die
Wirtschaft ist davon betroffen. Die Wirtschaftsverbände
machen sich Sorgen, dass dieser Prozess nicht so voran-
geht, wie er vorangehen müsste.

Nun kommt dieser Antrag dazu. Jetzt wäre die
Chance gewesen – insbesondere durch den Einfluss der
SPD –, endlich einmal Butter bei die Fische zu geben
und zu sagen: Jetzt ist die Möglichkeit da, das falsche
Einstielen der WSV-Reform, damals maßgeblich betrie-
ben von der FDP, zu beenden und die richtige Richtung
einzuschlagen. Aber was lesen wir? Forderungen mit ei-
nem hohen Finanzierungsvorbehalt, sehr vage Ankündi-
gungen und dann auch noch unzutreffende Hinweise auf
die umfängliche Beteiligung der Belegschaft. Wenn man
mit den Kolleginnen und Kollegen spricht, stellt man
fest, dass das so nicht zutrifft.

Die Binnenschifffahrt braucht verlässliche Investitio-
nen. Wenn jetzt schon Forderungen gestellt werden, die
unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen werden
– weil der Finanzminister an der schwarzen Null festhal-
ten will, obwohl die Steuereinnahmen, wie wir gehört
haben, vermutlich sinken werden –, dann kann man sich
von vornherein davon verabschieden, dann sind zwei
von acht Forderungen heute schon erledigt.

Die anderen Ankündigungen betreffen die Generaldi-
rektion Wasserstraßen und Schifffahrt. Eben wurde er-
wähnt, dass eine Generaldirektion aufgebaut wurde. Das
war aber im Mai 2013. Just vor Auslaufen der letzten
Wahlperiode musste schnell noch einmal ordentlich
draufgehauen werden, ohne zu wissen, was danach
kommt. Ein Jahr später wird immer noch daran herum-
gedoktert, die Generaldirektion in Gang zu bringen. Kol-
legen erzählen, dass erst jetzt ein Mietvertrag abge-
schlossen wurde. Erst jetzt beginnt der Umbau, und
wann die Arbeit aufgenommen wird, ist fraglich.

Das ist keine zuverlässige Perspektive für die Be-
schäftigten. Gleichzeitig soll die Zahl der Wasser- und
Schifffahrtsämter von 39 auf 18 verringert werden. Das
bedeutet erst einmal Totalumbau. Keiner weiß genau,
wie dieser aussehen soll, weil es gleichzeitig angeblich
keinen Abbau der Außenstellen geben soll, damit die
operative Arbeit, die geleistet werden muss, weiterhin
möglich ist.

Was die Beteiligung der Beschäftigten angeht, ist na-
türlich der Hauptpersonalrat beteiligt worden. Er muss
auch beteiligt werden. Das gilt auch für andere Personal-
räte. Wir haben schließlich ein Personalvertretungsge-
setz. Danach sind bei Personalumsetzungen immer die
Beschäftigtenvertreter zu beteiligen.

Darüber hinaus werden die Erfahrungen aus früheren
Reformprozessen der WSV überhaupt nicht mit einbezo-
gen. Es hat früher Arbeitsgruppen gegeben, in denen die
Beschäftigten – damals allerdings aus der Not heraus,
mit weniger Geld und Personal auskommen zu müssen –
ihre Arbeit neu organisiert haben. Das war ein hochinno-
vativer Prozess. Das sagen die Kolleginnen und Kolle-
gen heute noch. Das ist aber bei diesem großen Umbau
überhaupt kein Thema.
Insofern sind wichtige Fragen überhaupt nicht geklärt
worden: Wie kriegen wir vernünftige beschäftigungssi-
chernde Maßnahmen hin, die die Arbeit so erhalten, dass
sie weiterhin von der WSV erledigt werden kann? Die
ausgebildeten Fachkräfte werden jetzt nicht mehr ein
Jahr übernommen, sondern zwei Jahre. Das war’s. Das
ist keine Perspektive, weder für die jungen Leute und
erst recht nicht für eine arbeitsfähige WSV.


(Beifall bei der LINKEN)


Über den Antrag müssen wir das Problem noch ein-
mal angehen. Wir wollen eine Perspektive für eine WSV,
die sowohl den Kunden als auch den Beschäftigten zu-
gutekommt und die es ermöglicht, die künftigen Aufga-
ben zu bewältigen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806412700

Die Kollegin Bettina Hagedorn hat für die SPD-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1806412800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Für die SPD-Fraktion will ich an dieser Stelle sa-
gen: Heute führen wir eine erfreuliche Debatte anlässlich
eines richtig guten Anlasses, Herr Minister. Der sechste
WSV-Bericht in Verbindung mit einem gemeinsamen
Antrag der Großen Koalition zu dessen Umsetzung be-
stätigt, dass wir gemeinsam auf einem richtig guten Weg
sind und dass wir ein richtig gutes Signal an die über
12 000 Beschäftigten der WSV senden wollen und sen-
den können.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Moment mal, 12 000? Eben war noch von 14 000 die Rede! Was stimmt denn nun?)


Darüber sind wir gemeinsam sehr froh.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Herr Minister, gerade wir beide – ich bin die Haushäl-
terin für den Verkehrsbereich – haben in der Vergangen-
heit schon manches Mal freundschaftlich die Klingen
gekreuzt. Ich danke Ihnen an dieser Stelle auch ganz per-
sönlich; denn wir hatten es – das ist schon angesprochen
worden – in der letzten Legislaturperiode mit einer Kahl-
schlagpolitik und einem unsäglichen Reformversuch zu
tun, der letzten Endes, wie noch im fünften WSV-Be-
richt dokumentiert ist, einen Personalabbau auf unter
10 000 Mitarbeiter beinhaltet hätte, mit der Zielsetzung
des damaligen Haushaltsausschusses, zu einer reinen
Gewährleistungsverwaltung zu kommen.

Wir haben im Koalitionsvertrag eindeutig vereinbart,
dass wir in diesem Bereich eine Neuorientierung vorneh-
men wollen. Aber ich glaube, dass man es den Mitarbei-
tern nicht verdenken kann, dass viele von ihnen gesagt
haben: Ich will darauf hoffen, allein mir fehlt der
Glaube. – Diese Glaubwürdigkeit hat die Große Koali-





Bettina Hagedorn


(A) (C)



(D)(B)

tion jetzt mit diesem Schritt wiedererlangt; davon bin ich
fest überzeugt.

Ich will Ihnen deshalb persönlich danken, weil ich
weiß, dass es auch ein sehr großes Beharrungsvermögen
gab, die Beschäftigten nicht in der Form mit einzubezie-
hen, wie wir es verabredet und wie wir es uns gemein-
sam gewünscht haben. Sie haben das gemacht. Sie haben
den Hauptpersonalrat nicht nur angehört, sondern seinen
Belangen auch zur Durchsetzung verholfen. Das hat
auch der Personalrat anerkannt. Das ist ein wichtiger
Schritt; denn eine Reform kann nicht auf dem Papier ge-
deihen, sondern nur, wenn alle an einem Strang und in
eine Richtung ziehen. Ich danke Ihnen dafür, dass wir
das gemeinsam hinbekommen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Einige Aufgaben liegen noch vor uns. Aber wir haben
auch noch ein bisschen Zeit. Das Personal spielt eine
wichtige Rolle. Der Haushaltsausschuss in neuer Zusam-
mensetzung hat im Mai dieses Jahres in einem Maßgabe-
beschluss, lieber Eckhardt Rehberg, Ihrem Ministerium
geraten, eine Fachkräfteoffensive – ganz im Gegensatz
zu dem, was in der letzten Legislaturperiode gemacht
wurde – zu starten. Wir haben im Haushalt 2014, der in
der Summe einen Aufwuchs von 35 Stellen vorsieht, den
ersten Schritt gemacht. Wir sehen besonderen Bedarf in
den technischen Berufen, bei den Ingenieuren, aber auch
bei den Technikern und Handwerkern. Nicht nur die von
Ihnen zu Recht erwähnten technisch anspruchsvollen
Bauwerke, sondern auch viele Planungsprozesse erfor-
dern Sachverstand. Dieser ist notwendig, wenn wir Pro-
zesse beschleunigen und Geld in das Wasserstraßennetz
des Bundes rechtssicher investieren wollen. Der Haus-
halt 2015, der schon als Regierungsentwurf vorliegt,
sieht 50 weitere Stellen bei der Wasser- und Schifffahrts-
verwaltung vor. Diese Stellen werden wir auch schaffen.

Wir haben noch manches miteinander vor. Es darf
nicht verschwiegen werden, dass ungefähr 200 Millio-
nen Euro, die eigentlich in Wasserstraßen investiert wer-
den sollen, nicht verausgabt werden können, nicht weil
Sie oder wir die Taschen zugenäht hätten, sondern weil
aktuell nicht ausreichend Personal zur Verfügung steht,
um die Voraussetzungen zu schaffen, das Geld rechtssi-
cher auszugeben.

Der Herr Finanzminister hat gerade eine neue, große
Investitionsoffensive im Umfang von 10 Milliarden
Euro für die nächsten Jahre angekündigt. Die Große Ko-
alition hat sich allerdings noch nicht darauf verständigt,
wofür konkret das Geld ausgegeben werden soll. Wir
sind sicher, dass ein Teil des Geldes für die Infrastruktur,
für die Sie zuständig sind, Herr Minister, bereitgestellt
wird. Ich wünsche mir, dass dann auch mehr in die Was-
serstraßen investiert wird. Aber das bedeutet, dass wir
für das Personal, das für die Wasserstraßen zuständig ist,
viel mehr tun müssen. Ein guter Schritt ist, dass die Aus-
zubildenden jetzt zwei Jahre übernommen werden und
dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung mit über 10
Prozent eine unverändert hohe Ausbildungsquote vorzu-
weisen hat. Das ist aber nur der erste Schritt. Weitere
Schritte müssen folgen. Ich hoffe, dass wir diese Schritte
gemeinsam machen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806412900

Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806413000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste! Lassen Sie uns als Erstes festhalten: Unsere
Beschäftigten in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
leisten hervorragende Arbeit. Das können wir gar nicht
oft genug betonen.


(Beifall im ganzen Hause)


Sie unterhalten die vielen Wasserstraßen und sind dafür
zuständig, dass unzählige Kanäle, Schleusen und Brü-
cken reibungslos funktionieren. Die vielen motivierten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ich auf meinen
Reisen zu den Ämtern der Wasser- und Schifffahrtsver-
waltung persönlich kennengelernt und schätzen gelernt
habe, sind es inzwischen leid, auf die Umsetzung der Re-
form zu warten. Es muss jetzt endlich losgehen. Sonst
glaubt niemand mehr an eine Reform.

Liebe Kolleginnen und Kollegen dieser großen Still-
standskoalition,


(Gustav Herzog [SPD]: Frau Kollegin Wilms! Unserem Tempo können Sie gar nicht folgen!)


Ihr Antrag macht deutlich – genauso wie das, was Frau
Hagedorn eben gesagt hat; da hilft es auch nichts, wenn
Sie, Herr Herzog, hier etwas hineinbölken –, dass Sie
eine Reform überhaupt nicht wollen


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und damit den Stillstand in der Mammutbehörde WSV
in Stein meißeln.

Bereits seit Anfang der 90er-Jahre begleiten wir das
Projekt WSV-Reform im Bundestag. Jetzt hatten Sie
wirklich die einmalige Gelegenheit, mit der begonnenen
Reform, die in der letzten Wahlperiode auf Druck fast al-
ler Fraktionen, außer der SPD und der Linkspartei, ange-
stoßen wurde, ein gutes und sinnvolles Projekt weiterzu-
führen. Stattdessen bleibt die Reform noch nicht einmal
auf halber Strecke stehen. Aufgemachte Baustellen wer-
den gar nicht erst abgeschlossen.

Lassen Sie mich drei Baustellen nennen:

Erstens. Effizienten Verwaltungsstrukturen und mehr
Verantwortung für die Beschäftigten geben Sie eine Ab-
sage. Kosteneinsparungen und wirtschaftliches Handeln
bleiben weiterhin Fremdworte.

Zweitens. Die auf dem Papier neu gegründete
GDWS, Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt,
hat zwar in Bonn mittlerweile irgendwo eine Hütte ge-
funden, aber es findet sich immer noch kein Mitarbeiter
dafür. Niemand möchte dort arbeiten. Daher frage ich





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)

Sie: Bis wann wollen Sie eigentlich die neue Leitungs-
ebene der WSV in Bonn wirklich einrichten? Wann sind
Mitarbeiter der WSV wirklich bereit, dorthin zu gehen?

Drittens. Der neue Zuschnitt der Ämter sollte bis
2020 fertiggestellt sein. Jetzt sieht man das nicht mehr so
eng und peilt 2024 an. Womöglich wird es aber noch
später oder gar nichts. Das zeigt: Sie verschieben jetzt
alles auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Verantwortliches
Handeln, Herr Minister, Herr Staatssekretär, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der so Großen Koalition, sieht an-
ders aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie Sie so etwas richtig machen können, haben wir
Ihnen vor ein paar Wochen hier im Plenarsaal gezeigt,
zwar nicht an einem späten Freitagnachmittag, aber an
einem Donnerstagabend. Wir haben Ihnen gezeigt, wie
eine Reform gelingen kann.

Wir brauchen dringend eine echte Anlagenbuchhal-
tung. Herr Minister, Sie hatten mir gesagt, dass gerade
einmal 10 Prozent aller Wasserstraßen bewertet sind.
Schauerlich! Damit hätte man schon längst weiter sein
können. Wir brauchen dringend ein echtes Controlling.
Ich habe immer noch nicht gesehen, dass hier ein richti-
ges System eingeführt worden ist. Wir brauchen drin-
gend eine echte Kosten- und Leistungsrechnung, die bis
in alle Ebenen geht. Fehlanzeige!

Ohne dass diese Punkte umgesetzt werden, wird es
keine Budgetverantwortung der Mitarbeiter vor Ort ge-
ben können. Apropos Mitarbeiter: Bisher kann uns die
Bundesregierung auf Nachfrage noch nicht einmal klar
beantworten, wie viele Mitarbeiter die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung tatsächlich für die Erledigung
welcher Aufgaben benötigt. Wir haben es eben schon ge-
hört: 12 000 oder 14 000, würfeln wir doch. Trotzdem
werden schon einmal die Behördenreviere neu struktu-
riert oder – sagen wir es besser – an Wahlkreisgrenzen
angepasst. Lieber Herr Minister, das Thema hatten wir
schon gestern bei der Mautdebatte, an der Sie leider
nicht teilnehmen konnten.


(Alexander Dobrindt, Bundesminister: Ja, schade!)


Ich erinnere an die Ortsumgehung in Oberau in Ihrem
Wahlkreis.

Das ist die falsche Reihenfolge. So geht das nicht.
Konsequent und sinnvoll wäre: erst Personalbedarfspla-
nung und dann die Vorlage des Standortkonzepts. Aber
Sie erarbeiten erst ein unausgegorenes Standortkonzept
und schauen dann, wie viele Beschäftigte Sie wo unter-
bekommen. Das kann nicht funktionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem bin ich gespannt, wie Sie mit der von uns
schon lange geforderten Priorisierung der Wasserstraßen
umgehen werden. Hier gibt es Bestrebungen aus be-
stimmten Ecken Ihres Hauses, Herr Minister, bei der
Aufstellung des Bundesverkehrswegeplanes diese gan-
zen Priorisierungen wieder einzusammeln. Wenn Sie das
wirklich vorhaben, können Sie die Arbeit am Bundes-
verkehrswegeplan auch gleich ganz einstellen. Das wäre
nach meiner Auffassung wirklich die beste Lösung; denn
dann verkommt dieser Bundesverkehrswegeplan nicht
wieder zu einer unfinanzierbaren Wunschliste.

Ich fordere Sie daher auf: Halten Sie sich an Ihre Ver-
sprechen beim Bundesverkehrswegeplan! Das werden
wir im nächsten Jahr hoffentlich sehen. Gehen Sie diese
Reform endlich an! Beenden Sie die Zeit der leeren
Sprechblasen! Die Beschäftigten der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung und die Schifffahrt werden es Ihnen
danken.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806413100

Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1806413200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zuletzt hatten wir am 10. Oktober eine Debatte zu einem
der wichtigen Verkehrsträger unseres Landes geführt.
Der Anlass war damals ein älter gewordener Antrag der
Grünen. Ich habe Ihnen versprochen: Wir als Koalition
werden einen besseren Antrag vorlegen. Versprochen
und Wort gehalten! Heute diskutieren wir einen guten
Antrag der Koalitionsfraktionen.

Ich will mit einem herzlichen Wort des Dankes an
meinen Kollegen Hans-Werner Kammer, aber auch an
die zuständigen Haushälter Bettina Hagedorn und
Eckhardt Rehberg beginnen, die immer dafür gesorgt ha-
ben, dass unsere Wünsche zumindest in dem Bereich, in
dem sie es als Haushälter für erfüllbar halten, auch eine
Realisierungschance haben. Ich glaube, es ist gut, wenn
Verkehrspolitiker und Haushälter so eng zusammen-
arbeiten und Ihnen, Herr Minister, sozusagen die Vorlage
liefern, um das alles schön zu realisieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Grundlage für den Antrag der Koalition ist das,
was wir nach intensiven Verhandlungen in den Koali-
tionsvertrag hineingeschrieben haben. Aber die Aus-
gangslage ist eine weniger schöne: Oktober 2010, jener
berühmte Herbst der Entscheidungen, in dem nicht nur
der Unsinn beschlossen worden ist, die Laufzeit der
Atomkraftwerke zu verlängern, sondern in dem von
Schwarz-Gelb im Haushaltsausschuss auch jener be-
rühmt-berüchtigte Beschluss gefasst worden ist – Kol-
lege Behrens, die Linken haben da gepennt und zunächst
zugestimmt –, Personal abzubauen und aus einer funk-
tionierenden Verwaltung einen Apparat zu schaffen, der
nur noch Aufträge vergibt und der der Auftragserfüllung
nur noch hinterherrennt.

Die Berichte 1 bis 5 waren immer von Kritik beglei-
tet, und zwar in der ganzen Breite,


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)






Gustav Herzog


(A) (C)



(D)(B)

von der Wirtschaft, von den Beschäftigten. Auch die
Fachpresse hat sich nie lobend darüber geäußert. Jetzt,
Herr Minister Dobrindt, legen Sie den sechsten Bericht
vor: Lob von allen Seiten. Ich bin schon misstrauisch ge-
fragt worden, warum ich Sie in diesem Zusammenhang
immer wieder lobe. Dieses Lob ist gerechtfertigt. Sie
kennen mich auch als heftigen Kritiker.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So muss das sein!)


Für jene, die dieser Debatte folgen oder die Reden
nachlesen: Liebe Frau Kollegin Wilms, lieber Herr Kol-
lege Behrens, ich weiß, dass Sie hier kritisieren müssen;
aber es hörte sich etwas nach Ritual an. Es schien, dass
Sie sich wirklich bemüht haben, an dem, was wir aus
dem sechsten Bericht machen wollen, immer noch etwas
zu kritisieren. Okay, das nehmen wir zur Kenntnis, und
wir werden das Ganze im Ausschuss noch im Detail dis-
kutieren.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Darüber werden wir noch reden müssen! Ganz genau!)


Frau Kollegin Wilms, die Einführung einer Buchhal-
tung als den entscheidenden Fortschritt einer Reform
hier im Plenum vorzutragen, zeigt doch, wie sehr Sie
sich bemüht haben, irgendwo irgendetwas zu finden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sehr dieser Pro-
zess von den Beschäftigten nicht nur wohlwollend be-
gleitet, sondern auch mitgestaltet worden ist, zeigt auch,
dass Vertrauen da war, den damals zwischenzeitlich aus-
gesetzten Streik völlig zu beenden.

Wenn wir hier von einer Verwaltung bzw. einer Be-
hörde sprechen, ist es für die Menschen, die mit der Mate-
rie nicht so sehr zu tun haben, wichtig, darauf hinzuwei-
sen, dass die meisten der 12 000 bis 14 000 Beschäftigten
mehr im handwerklich-technischen Bereich aktiv sind.
Das sind Leute, die bei jedem Wetter hinausfahren und
dafür sorgen, dass das Schleusentor auf- und zugeht, die
durch Hochwasser entwurzelte Bäume entfernen, um die
Verkehrssicherheit sicherzustellen, die überwiegend im
Schichtbetrieb arbeiten. Das sind keine Schreibtischar-
beiter, sondern Leute, die unter erschwerten Bedingun-
gen arbeiten, und sie haben unseren Respekt und unsere
Anerkennung verdient.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Leute sind ins Zweifeln darüber gekommen, ob
die Politik ihre Arbeit überhaupt noch zu schätzen weiß.
Wir haben deren Vertrauen mit der klaren Aussage wie-
derhergestellt: Die Standorte bleiben erhalten. Es werden
nur sozialverträgliche Umsetzungen vorgenommen. –
Wir müssen uns als Parlament gemeinsam mit dem
Ministerium bemühen, dafür zu sorgen, dass die Wasser-
straßen- und Schifffahrtsverwaltung ein attraktiver Ar-
beitgeber wird.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)

Dieser Arbeitgeber steht in Konkurrenz zu vielen ande-
ren, die gute und besser bezahlte Jobs anbieten. Die
Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung soll gute
Leute haben, die das Geld, das wir zur Verfügung stel-
len, auch ausgeben können.

Ich habe die Pressemitteilung des Kollegen Ulrich
Lange von heute Mittag, 12.13 Uhr, gelesen. Er hat da-
rauf verwiesen, dass ab 2016 zusätzlich 10 Milliarden
Euro für Investitionen in die Infrastruktur zur Verfügung
stehen sollen, und er hat verlangt, dass ein Teil davon in
die Verkehrsinfrastruktur fließt. Ich bin voll dafür. Ich
hätte mir nur gewünscht, dass er neben der Straße, der
Schiene und den Brücken auch die Wasserstraßen er-
wähnt hätte; denn dafür brauchen wir ebenfalls eine
Menge Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Abschließend will ich darauf hinweisen, dass jetzt
auch aus den Ländern große Zustimmung kommt. Ich
schaue einmal in das Land der Binnenschifffahrt, näm-
lich nach Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es einen An-
trag von SPD, CDU, Grünen, FDP – dort ist die FDP
noch im Parlament – und Piraten – ich habe etwas ge-
schmunzelt; selbst die Piraten stehen mit auf dem Antrag –
vom September dieses Jahres zu diesem Thema. Darin
wird ein klares Bekenntnis zu den Bundeswasserstraßen,
zur Binnenschifffahrt abgelegt. Über 50 Prozent des
Umschlags findet in Nordrhein-Westfalen statt. Das fin-
det hier auch seinen Niederschlag.

Auch die Verkehrsministerkonferenz hat klar gesagt,
dass sie dazu steht. Das finde ich gut.

Lassen Sie mich, Kolleginnen und Kollegen, nach all
den etwas ernsten Ausführungen noch etwas Schönes sa-
gen und zeigen, was auf unseren Wasserstraßen alles
möglich ist. Der gute Uli Stahl aus Altrip hat mit einem
umgebauten Angelkahn von Altrip aus – das ist in
Rheinland-Pfalz – eine Tour über Duisburg bis nach
Eberswalde gemacht. Er ist 1 820 Kilometer auf unseren
Bundeswasserstraßen gefahren und hat 685 Brücken und
40 Schleusen bewältigt. Auch so etwas kann man auf un-
seren Wasserstraßen machen, und das ist gut so.

Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806413300

Der Kollege Hans-Werner Kammer hat für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Hans-Werner Kammer (CDU):
Rede ID: ID1806413400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Verehrte Zuhörer! Wir debattieren heute zum wiederhol-
ten Mal die Reform der WSV, diesmal im Zusammenhang
mit unserem sehr guten Antrag „Wasserstraßen- und
Schifffahrtsverwaltung zukunftsfest gestalten“. Ich bin





Hans-Werner Kammer


(A) (C)



(D)(B)

der Überzeugung, dass sich der lange Diskussionspro-
zess gelohnt hat; denn mit dem sechsten Bericht des
Ministeriums ist klar, wohin die Reise geht. Auch der
Kollege Herzog hat diesen Antrag eingangs lobend er-
wähnt. An unserem Antrag hat er intensiv mitgearbeitet.
Das gilt auch für Frau Hagedorn und Eckhardt Rehberg.
Ich glaube, gemeinsam haben wir damit etwas Hervorra-
gendes vorgelegt.

Die Umsetzung wird zwar noch einige Zeit in An-
spruch nehmen, aber ich bin überzeugt, dass mit Bundes-
minister Alexander Dobrindt die Wasserstraßen- und
Schifffahrtsverwaltung für die Zukunft fitgemacht wird.
Er hat heute die Bedeutung dieser Verwaltung für die
Wirtschaft insgesamt noch einmal herausgestellt.

Wir verwirklichen damit ein zentrales Projekt der
Verkehrspolitik der Großen Koalition. Der Koalitions-
vertrag sieht vor, dass bei der WSV-Reform die regiona-
len Kompetenzen gesichert und die Beschäftigten stärker
in den Reformprozess eingebunden werden sollen. Das
ist gelungen.

Kern des Vorhabens ist die neue Aufgabenstruktur der
WSV. Die veraltete Struktur aus Kaisers Zeiten wird ge-
rade generalüberholt. Eine neue Generaldirektion hat be-
reits die Koordination der WSV in ganz Deutschland
übernommen, Frau Wilms. Die Zeit von sieben parallel
arbeitenden Direktionen ist vorbei. Die regionalen Kom-
petenzen sind künftig bei den 18 Wasserstraßen- und
Schifffahrtsämtern, die über mehr Befugnisse verfügen
als ihre Vorgängereinrichtungen. Das war auch unser ge-
meinsames Ziel.

Das operative Geschäft der WSV findet dort statt, wo
es hingehört: auf der Ämterebene. Dieser Punkt war für
den Kollegen Herzog und für mich in der zurückliegen-
den Diskussion um die Reform von ganz entscheidender
Bedeutung.


(Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!)


Darum haben wir immer gerungen; denn die Wasserstra-
ßennutzer und die Wirtschaft brauchen starke Ansprech-
partner vor Ort. Die bekommen sie in der Zukunft. Es ist
ein schlüssiges Konzept, das unser Verkehrsminister mit
dem sechsten Bericht auf den Tisch gelegt hat.

Sichergestellt ist darin auch, dass alle 39 Ämterstand-
orte erhalten werden. Es wird auch keinen Kahlschlag
beim Personal geben. Stattdessen soll der Eigenerledi-
gungsanteil bei der WSV wieder steigen.

Die touristische Nutzung der Wasserstraßen haben
wir dabei ebenfalls im Auge. Das ist auch ein wichtiger
Punkt. Die Sorgen einiger Bundesländer, vor allem der
neuen Bundesländer, sind deshalb unbegründet.

Wir werden die Wasserstraßenverwaltung flächende-
ckend stärken. Keine Region wird abgehängt.

Herr Behrens, Sie haben von einer erbärmlichen Re-
form gesprochen. Ich hätte mich gefreut, wenn die Linke
zukunftsorientiert daran mitgearbeitet und in allen Fällen
– auch Sie in Ihrem Vortrag hier – die Wahrheit gesagt
hätte. In Wilhelmshaven hat zum Beispiel niemand pro-
testiert. Ich habe den Prozess mit den Wilhelmshavenern
vor Ort intensiv begleitet.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Bei der Maritimen Konferenz war ich draußen, Sie waren drinnen! Da wurde demonstriert!)


Frau Wilms, Herr Kollege Herzog hat ja schon darauf
hingewiesen, dass Ihnen gerade noch die Buchhaltung
eingefallen ist. Sie haben aber noch einen tollen Punkt
genannt: Sie haben gesagt, wir müssten uns erst mal mit
dem Personal auseinandersetzen und sehen, ob wir damit
klarkommen, und dann könnten wir über die Standorte
reden. – Aber ohne Standorte brauchen wir kein Perso-
nal. Deshalb ist der vom Ministerium vorgeschlagene
Weg, zuerst die Standorte zu zementieren und dann das
Personal entsprechend einzusetzen, wie es vor Ort benö-
tigt wird, genau richtig.

Mit den acht Kernforderungen unseres Antrages un-
terstützen wir die hervorragende Arbeit des Ministe-
riums und geben gleichzeitig klare Ziele vor. Ich will nur
einige davon erwähnen:

Im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel soll
durch Erhalt und Ausbau der Bundeswasserstraßen die
Erreichbarkeit der deutschen Binnen- und Seehäfen opti-
miert werden. Das fordern wir in unserem Antrag. Dazu
wird uns das Ministerium entsprechende Berichte und
eine Priorisierung der notwendigen Investitions- und Er-
haltungsmaßnahmen vorlegen.

Gleichzeitig soll die Einrichtung der 18 Wasserstraßen-
und Schifffahrtsämter zügig erfolgen. Die Beschäftigten
sollen daran beteiligt werden – das hat der Minister schon
ausgeführt. Ziel ist es, die operativen Verantwortlichkei-
ten und regionalen Entscheidungskompetenzen in den
18 Revieren zu stärken. So wird die WSV zu einem mo-
dernen Dienstleister für die Schifffahrt.

Außerdem soll die Deckung des Fachkräftebedarfs
offensiv angegangen werden. Auch das steht in unserem
Antrag. Dazu müssen die gesetzlichen und tariflichen
Möglichkeiten sowie Aus-, Fort- und Weiterbildungs-
möglichkeiten genutzt werden. Erste Schritte sind dank
der Unterstützung durch die Haushälter der Koalition be-
reits gelungen.

Wichtig ist dabei, dass die Arbeitsfähigkeit der WSV
auch während des Reformprozesses erhalten bleibt; denn
der Verkehr muss weiter fließen. Deshalb sollen die Re-
formbemühungen zunächst die Generaldirektion und die
18 Ämter umfassen. Änderungen in anderen Bereichen,
etwa den Außenbezirken, Bauhöfen oder Revierzentra-
len, sollen auf das Notwendigste beschränkt sein. So ge-
hen wir die Reform Schritt für Schritt an.

Und wir werden letztendlich – das ist für Frau Wilms
wichtig – bis zum Frühjahr 2015 ein Rechtsbereini-
gungsgesetz einbringen.

Sie sehen, wir gehen auf die wesentlichen Punkte des
sechsten Berichts zur Reform der WSV ein und bringen
so die Reform weiter voran. Auch für die Opposition
sollte es jetzt leicht sein, mit an Bord zu kommen und
sich dem guten Antrag der Koalition anzuschließen.





Hans-Werner Kammer


(A) (C)



(B)

Ich wünsche allen ein schönes Wochenende und einen
streikfreien Nachhauseweg.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806413500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3041 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 12. November 2014, 13 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

Ich wünsche Ihnen alles Gute – ob zu Wasser, zur
Schiene, zur Straße oder wie auch immer – für das Wo-
chenende.