Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste aufder Besuchertribüne und an den Bildschirmen! MeineDamen und Herren Botschafter! Ich begrüße Sie alleherzlich zu dieser Plenarsitzung des Deutschen Bundes-tags, in der wir uns heute Morgen vor Eintritt in unsereübliche Tagesordnung mit der friedlichen Revolution inder damaligen DDR und dem Fall der Berliner Mauervor 25 Jahren am 9. November 1989 befassen.„Die Mauer ist weg!“ Ein einfacher Satz. Zu einfach.Damals unfassbar, vor 25 Jahren, als ein beiläufig vorge-lesener Zettel auf einer inzwischen legendären Presse-konferenz in Ostberlin eine Lawine ins Rollen brachte,die sich dann nicht mehr stoppen ließ, eine Lawine, diesich freilich seit langem aufgestaut hatte. Die Unfassbar-keit dieses Satzes spiegelt sich in den Gesichtern derMenschen, die tatsächlich „unverzüglich“ der Ankündi-gung des neuen Parteisekretärs für Informationswesenfolgten und die Grenzübergänge in Berlin buchstäblichstürmten.Die Bilder gingen um die Welt, und sie gingen unterdie Haut: konsternierte Grenzer, tränenüberströmte Ge-sichter der Menschen, die das Glück dieser Stundennicht fassen konnten, Trabi-Kolonnen, elektrisierte Re-porter und Jubel, Jubel, Jubel. „Wahnsinn“.In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 ist wahrgeworden, was in der inoffiziellen Hymne der Solidar-nosc in Polen der 80er-Jahre besungen und beschworenwurde:Ziehe den Mauern die Zähne der Gitter aus! Sprengedie Fesseln, zerbreche die Knute! Und die Mauernstürzen ein und begraben die alte Welt!Meine Damen und Herren, in der Tat: Der Mauerfallbeschleunigte durch die Symbolkraft der Bilder wie desOrtes den Zerfall der alten Welt des Kalten Krieges unddes Ost-West-Konfliktes und führte binnen knapp einesJahres zur deutschen Einheit.Berlin war der Ausgangspunkt dieses Prozesses, abernicht 1989, sondern im Juni 1953, als ein Volksaufstandblutig niedergeschlagen wurde. Die glückliche Verbin-dung von Freiheit und Einheit hat also eine lange Vorge-schichte. Der Mauerfall war der Siedepunkt des Schick-salsjahres 1989 und ein Ereignis, das vielen, die damalsdabei waren, und manchen bis heute wie ein Wunder er-scheint.Ein Wunder war es aber nicht, ebenso wenig wie einNaturereignis, sondern die Folge einer nicht nur in derdeutschen Geschichte beispiellosen friedlichen Revolu-tion, die seit Monaten in einem atemberaubenden Tempovon einem Höhepunkt zum anderen eilte. Sicher ist:Ohne die zahlreichen Bürgerrechtsbewegungen, die sichim Spätsommer 1989 zu Volksbewegungen entwickeltenund ihren Veränderungswillen in friedlichen Massende-monstrationen ausdrückten, hätte es diesen 9. Novemberin Berlin nicht gegeben.„Wir bleiben hier“ war eine der trotzigen Schlagzei-len der mutigen Bürger, die erkannt hatten, dass sie dasVolk sind. „Wir wollen raus“ war das Pendant der Des-illusionierten in der DDR. „Ich möchte am liebsten wegsein und bleibe am liebsten hier“ hat Wolf Biermanndiese gespaltene Gefühlslage damals besungen. Ich freuemich, dass Wolf Biermann meine Einladung angenom-men hat und der friedlichen Revolution auch heute seineunverwechselbare Stimme gibt.
Die Fernsehbilder der DDR-Flüchtlinge, die in Buda-pest, Prag und Warschau die Zäune der bundesdeutschenBotschaften überkletterten und schließlich in Sonderzü-gen nach Westdeutschland reisten, diese Bilder bislangunvorstellbarer Ereignisse entfalteten große Wirkungund destabilisierten das System: 1989 wurden allein biszum 8. Oktober 53 576 gelungene Fluchtversuche regis-triert.Häufig wird vergessen, dass auch der EntschlussAbertausender DDR-Bürger, ihr Land zu verlassen, sichauf eine Fluchtreise über Ungarn, Polen oder die Tsche-choslowakei zu begeben, Mut verlangte. Ein glücklicherAusgang dieses Unternehmens war keineswegs sicher.
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5996 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Sicher für die „Republikflüchtigen“ war nur, dass sie ihrZuhause, ihr Hab und Gut aufgeben und Familienange-hörige, Freunde, Bekannte und Nachbarn zurücklassenmussten. Das Wiedersehen, wann und ob überhaupt, wardabei ungewiss, schon gar in den Jahren vor 1989. Zurechnen war allerdings mit Schikanen des Staatsappara-tes gegenüber den Verbliebenen.Diese Abstimmung des Volkes mit den Füßen war1989 kein neues Phänomen für die DDR. Bereits biszum Mauerbau 1961 hatten etwa 3,5 Millionen Men-schen die DDR verlassen. Die Berliner Mauer und derbeinahe hermetisch abgeriegelte Grenzstreifen des „Ar-beiter- und Bauernstaates“ sollten die „Republikflucht“verhindern, die ein Straftatbestand dieser Republik war,die zwar deutsch, sicher aber nicht demokratisch gewe-sen ist.Allein in Berlin sind bei Fluchtversuchen mindestens136 Menschen umgekommen, drei noch im Jahr 1989.Auch an die Mauertoten und an die Schicksale ihrer Fa-milien denken wir heute, wenn wir an die glücklichenStunden und Tage des Mauerfalls vor 25 Jahren erinnern.Die weißen Kreuze, die nur wenige Meter vom Reichs-tagsgebäude an der Spree angebracht waren, sollen ansie erinnern. Sie sind vor einigen Tagen gestohlen wor-den – mit einer „heldenhaften“ Attitüde und einer pseu-dohumanitären Begründung, die man für blanken Zynis-mus halten muss.
Wir werden selbstverständlich diese Kreuze ersetzen,und sie werden dort bleiben.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, mit einem Mahnmal an die Mauertoten und alldie anderen Opfer der SED-Diktatur zu erinnern, ist derDeutsche Bundestag in diesen Tagen in einem von zahl-reichen Bürgerrechtlern, Historikern, ehemaligen Abge-ordneten und Künstlern unterzeichneten Aufruf aufge-fordert worden, zur – ich zitiere – „Würdigung derHoffnungen und Anstrengungen all jener, die dem Kom-munismus widerstanden haben und ihren Glauben aneine demokratische Zukunft und ein Leben in Freiheitnicht preisgaben“, aber auch – ich zitiere weiter – „zurErmunterung zum Widerstand gegen Diktatur und dieVerletzung von Menschenrechten.“Meine Damen und Herren, der Mauerfall hat sich indas kollektive Bewusstsein der Deutschen eingeprägt. Erist weltweit zum Symbol der Überwindung autoritärerSysteme in Mittel- und Osteuropa geworden. Jeder, derdieses Ereignis miterlebt hat, weiß genau, wo er war, alses stattgefunden hat. Uns scheint es daher oft, als hätteDeutschland damals die Welt verändert. 1989 gab esaber vielerorts gigantische Umbrüche mit einer erstaun-lichen Parallelität der Ereignisse, die einander bedingten,beförderten oder beeinflussten und erst durch ihr Zusam-menwirken die Welt tatsächlich verändert haben. Dreh-und Angelpunkt war dabei die Perestroika-Politik desdamaligen Staats- und Parteichefs der Sowjetunion,Michail Gorbatschow.Ihre Folgen entfalteten im Laufe des Jahres in allenStaaten des Ostblocks eine bemerkenswert ähnliche Wir-kung: Bereits im Januar 1989 gab es große Demonstra-tionen tschechischer Bürgerrechtler auf dem PragerWenzelsplatz. Anfang Februar 1989 begannen in War-schau die Gespräche am ersten Runden Tisch im damali-gen Ostblock, die zu den ersten halbwegs freien Parla-mentswahlen in Polen am 4. Juni 1989 führten. Das„Bürgerkomitee“ als politische Plattform der wieder zu-gelassenen Solidarnosc errang einen überwältigendenSieg. Am gleichen Tag, dem 4. Juni 1989, schlug daskommunistische Regime in China die studentische De-mokratiebewegung mit Panzergewalt auf dem Tianan-men-Platz nieder. Die Volkskammer der DDR verkün-dete vier Tage später in einer öffentlichen Erklärung inalter Manier ihre Verbundenheit mit der chinesischenStaatsführung, die – Zitat – „infolge der gewaltsamen,blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Ele-mente“ für Sicherheit und Ordnung habe sorgen müssen.Soweit dies als Einschüchterung oder Drohung in Rich-tung der Bürgerbewegung in der DDR gemeint war undverstanden wurde, hatte es offensichtlich die gegentei-lige Wirkung.Ungarn machte schon Anfang Mai 1989 den EisernenVorhang an seinen Westgrenzen durchlässig und begannmit dem Abbau seiner elektronischen Sicherungsanla-gen. Am 10. September folgte die Öffnung der ungari-schen Grenzen für die flüchtigen Bürger der DDR: „Un-garn hat den ersten Stein aus der Berliner Mauergeschlagen“ – so Bundeskanzler Helmut Kohl, der dannjust in den Stunden des Mauerfalls seinen offiziellen Be-such in Polen abstattete, und diese gerade zitierte Be-merkung bei einer Tischrede beim Abendessen auf Ein-ladung von Tadeusz Mazowiecki machte, des im Augustgewählten ersten nichtkommunistischen Ministerpräsi-denten Polens nach dem Zweiten Weltkrieg.Auch die baltischen Staaten sind Austragungsorte die-ses grandiosen Transformationsprozesses gewesen: Am23. August, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes,bildeten rund 1 Million Menschen eine mehr als 600 Ki-lometer lange Menschenkette – von Vilnius in Litauenüber Riga in Lettland bis Tallinn in Estland. Sie demon-strierten für nationale Selbstbestimmung und Unabhän-gigkeit der baltischen Staaten von der Sowjetunion. Eswar der Höhepunkt der bei uns kaum wahrgenommenen„singenden Revolution“. Ihr Markenzeichen waren ver-botene Volkslieder. Gegen sie konnte man mit Panzernnicht vorgehen. Gegen Kerzen auch nicht.In der Tschechoslowakei spitzte sich die Lage im No-vember zu. Am 29. Dezember, zum Abschluss der „sam-tenen Revolution“, wurde Václav Havel, der zu Beginndes Jahres noch wegen „Rowdytums“ zu einer Gefäng-nisstrafe verurteilt worden war, zum Staatspräsidentengewählt. In Bulgarien und Rumänien beseitigten Palast-revolutionen die Regime. Der Drang nach Freiheit undDemokratie war Ende des Jahres so stark, dass keine derkommunistischen Regierungen im damaligen Ostblockmehr fest im Sattel saß oder überhaupt noch im Amtewar.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 5997
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es tutuns gut gerade an dem Wochenende, an dem wir einenunstreitigen Höhepunkt der deutschen Geschichte in be-sonderer Weise würdigen, uns ins Bewusstsein zu heben,dass nicht nur in Deutschland Anstrengungen unternom-men und mit bemerkenswertem Mut bemerkenswerteVeränderungen herbeigeführt worden sind. Manchesspricht für die Vermutung: Wenn die damalige Entwick-lung nur in Deutschland stattgefunden hätte, hätte sievermutlich auch in Deutschland so nicht stattgefunden.
In der DDR vollzog sich eine durchaus andere, aberim Kontext dieser Entwicklung folgerichtige Verände-rung, die – was einem auch mit dem zeitlichen Abstandvon 25 Jahren immer noch beinahe wie ein Wunder vor-kommen muss – unblutig, ohne Gewaltanwendung undtrotzdem oder vielleicht gerade deshalb unwiderstehlichwar. Dieses Jahr 1989 hat nicht nur die DDR verändertund schließlich abgeschafft. Es hat Europa in einerWeise verändert, wie es selten in einem einzelnen Jahr inder Geschichte durchgreifende und nachhaltige Verände-rungen auf unserem Kontinent gegeben hat. Innerhalbweniger Monate hat sich die politische Landschaft Euro-pas grundlegend neu gestaltet.Die Ereignisse von 1989 gleichen jeweils für sich be-trachtet einem Mosaik. Jedes einzelne Element für sichgenommen ist wie eine Kerze, die zwar Licht gibt in derFinsternis, diese aber alleine ganz sicher nicht bezwin-gen kann. Erst ein Kerzenmeer – so wie in Leipzig – ver-mag es. Heute sind wir für jedes dieser Lichter und jedesder einzelnen Ereignisse auf den politischen Bühnen wieauf den Straßen Europas dankbar. Sie alle zusammen ha-ben das „legendäre Revolutionsjahr 1989“ bewirkt unddazu beigetragen, das Ende der Teilung Deutschlandsund Europas einzuleiten.Meine Damen und Herren, Eric Hobsbawm, dergroße britische Historiker, hat das 20. Jahrhundert als„Zeitalter der Extreme“ beschrieben – was es ganz of-fensichtlich war – und zugleich als das kurze Jahrhun-dert, das 1914 begonnen habe und 1989 zu Ende gewe-sen sei. Das ist jedenfalls eine interessante und, wie ichfinde, kluge Interpretation. Tatsächlich ist das 19. Jahr-hundert, das Zeitalter der rivalisierenden Nationalstaa-ten, im Ersten Weltkrieg kollabiert. Mit der Überwin-dung des Eisernen Vorhangs sowie der Etablierungdemokratischer, frei gewählter Parlamente und Regie-rungen überall in Europa hat das 21. Jahrhundert begon-nen.Die friedlichen Revolutionen vor 25 Jahren waren einGlücksfall der Geschichte. Die Beispiele der allerjüngs-ten Demokratisierungsbewegungen – auch direkt vor un-serer Haustür – zeigen allerdings, dass der glücklicheAusgang einer Freiheitsbewegung keiner Regel folgt,schon gar keinem Terminkalender und der Erfolg nichtsicher ist. Auch der Glaube, dass individuelle Freiheit,nationale Selbstbestimmung und territoriale Integrität je-denfalls in Europa nun unangefochten seien, erweist sichals gut gemeinte Illusion.Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen undHerren, vom südafrikanischen FriedensnobelpreisträgerDesmond Tutu stammt ein Satz, der nicht nur die Ereig-nisse des Jahres 1989, wie ich finde, zusammenfasst,sondern auch für ähnliche Entwicklungen in anderenLändern seine Gültigkeit behält. Desmond Tutu schreibt:Nichts, nicht einmal die modernste Waffe, nichteinmal die auf brutalste Weise schlagkräftige Poli-zei, nein, überhaupt gar nichts wird die Menschenaufhalten können, wenn sie erst einmal entschlos-sen sind, ihre Freiheit und ihr Menschenrecht zu er-ringen.
Diese Einsicht, meine Damen und Herren, ist eine Er-mutigung und eine Verpflichtung zugleich. Beides wol-len wir heute bekräftigen.Vielen Dank.
Wolf Biermann:Herr Lammert, ich freue mich, dass Sie mich hierher-gelockt haben. Ich ahne schon, weil ich Sie ja als Ironi-ker kenne, dass Sie hoffen, dass ich den Linken ein paarOhrfeigen verpasse.
Aber das kann ich nicht liefern. Mein Beruf war dochDrachentöter.
Ich kann Ihnen, Herr Biermann, mit einem Hinweisauf unsere Geschäftsordnung helfen:
Sobald Sie für den Deutschen Bundestag kandidierenund gewählt werden, dürfen Sie hier auch reden.
Heute sind Sie zum Singen eingeladen.Wolf Biermann:Ja. Aber natürlich habe ich mir in der DDR das Redennicht abgewöhnt, und das werde ich hier schon gar nichttun.
Ein Drachentöter kann nicht mit großer Gebärde dieReste der Drachenbrut tapfer niederschlagen. Die sindgeschlagen.
Es ist für mich Strafe genug, dass sie hier sitzen müs-sen, dass sie das anhören müssen.
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5998 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Wolf Biermann
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– „Wollen“. Ihr wollt immer; das weiß ich ja. Aber ihrkönnt nicht.
Aber so neu bin ich nicht in der Welt. Einige Gesich-ter kenne ich ja. Jeder Einzelne ist ein Roman. Das mussmir keiner breitärschig erklären.
Sehr kompliziert. Aber als Gruppe, die ihr ja auch seid,seid ihr eben aus meiner Sicht keine Linken.
– „Gewählt“. Im Deutschen Bundestag kann man dochnicht erzählen, dass eine Wahl ein Gottesurteil ist, wennman die deutsche Geschichte kennt. Sei nicht zu cle-ver! – Gefährlich!
– Weiß ich doch. Eure Sprüche, die habt ihr drauf; ichweiß. Ich habe meine auch drauf. Wir müssen uns garnichts erzählen. Also, ihr seid dazu verurteilt, das hier zuertragen.
Ich gönne es euch. Ich weiß ja, dass die, die sich Linkenennen, nicht links sind, auch nicht rechts, sondern re-aktionär, dass diejenigen, die hier sitzen, der elende Restdessen sind, was zum Glück überwunden ist.Ich freue mich, dass ich hier ein Lied singen kann, dieErmutigung.
– Natürlich, ihr wollt lieber zersungen werden. Ich habeeuch zersungen mit den Liedern, als ihr noch an derMacht wart.
Dieses Lied, das Herr Lammert gerne hören möchteund das ich auch gerne singe, Ermutigung – das sei beidieser Gelegenheit angemerkt –, war bei denen, die Wi-derspruch anmeldeten, in verschiedenem Grade – man-che sehr feige, manche sehr mutig, manche zu mutig –,wie ein Stück Seelenbrot, das sie gegessen haben. Ichweiß, dass manche, die im Gefängnis saßen, wie meinFreund Pastor Matthias Storck und seine Frau Tine, mitdiesem Lied in der Zelle überlebt haben. Ich finde eswunderbar, dass dieses Lied aus den Gefängnissen derDDR heute im Parlament der deutschen Demokratie ge-sungen werden kann. Ist das nicht toll?
Das war jetzt nicht Kanzlerwahl mit den üblichenGratulationscouren am Präsidentenpult.Lieber Herr Biermann, ich möchte den Dank für dieseErmutigung aus gegebenem Anlass mit einer Gratulationverbinden. Sie feiern heute mit Ihrer Frau Pamela IhreSilberhochzeit.
– Na ja, gut, und es wird gewiss kein Zufall sein, dassbeides auf dasselbe Datum fällt.
Jedenfalls ist auch dies ein stolzes 25-jähriges Jubiläum.Ich vermute stark, dass Sie beide heute vor 25 Jahren,am 7. November 1989, nicht vermutet hätten, dass zudiesem Anlass ein frei gewähltes deutsches Parlamentim Reichstagsgebäude zusammentreten würde. Im Na-men des ganzen Hauses herzliche Gratulation und alleguten Wünsche für viele glückliche gemeinsame Jahre!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir die ver-einbarte Debatte zur Würdigung dieser damaligen Ereig-nisse beginnen, wollen wir einige der damals beteiligtenBürgerrechtler in kurzen Filmsequenzen zu Wort kom-men lassen. Anschließend sehen wir einen kurzen Zu-sammenschnitt der denkwürdigen Sitzung des Deut-schen Bundestages am 9. November 1989 im BonnerWasserwerk.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Denen, die damals dabei waren, wie denen,die damals nicht dabei sein konnten, wird das in ähnli-cher Weise nahegehen.Unter den Mitgliedern des 18. Deutschen Bundesta-ges gibt es noch ganze elf Abgeordnete, die auch damalsdem Deutschen Bundestag angehörten. Ich finde esschön, dass die nun folgende vereinbarte Debatte, diesich mit diesem Ereignis auseinandersetzen soll, mit ei-ner dieser elf Abgeordneten beginnt.Vereinbarte DebatteFriedliche Revolution – 25 Jahre nach demMauerfallIch erteile der Kollegin Gerda Hasselfeldt das Wort.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 5999
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 9. November
1989 war ein vergleichsweise gewöhnlicher Donnerstag
in einer Sitzungswoche. Und doch sollte dieser Plenartag
überraschend mit dem Singen unserer Nationalhymne
enden, wie wir es gerade gesehen haben. Aus einem ge-
wöhnlichen Tag, aber in durchaus bewegten Zeiten,
wurde ein historischer Tag, der Tag, an dem die Mauer
fiel. Es wurde der Schicksalstag der Deutschen. Auf das
Ende der Plenarsitzung folgte dann auch eine außerge-
wöhnliche Nacht, eine Nacht, die die Welt veränderte.
Die damalige Situation im Plenarsaal, die Bilder, die
in jenen Stunden um die Welt gingen, werde ich nie ver-
gessen: Menschen aus Ost und West, die sich bislang
nicht kannten, laufen aufeinander zu, fallen sich in die
Arme, tanzen auf der Mauer vor dem Brandenburger
Tor, und ihre Gesichtszüge sind von großer Freude und
ebenso großer Ungläubigkeit geprägt. Scheinwerfer, die
lange dazu dienten, Flüchtlinge aufzuspüren, beleuchten
nun den Taumel des Glücks, das Ende von Diktatur und
Spaltung. Von diesen Bildern ging meines Erachtens
auch eine große Symbolkraft aus. Es war, als würde man
in jedem Gesicht die Freiheit sehen. Es waren die Men-
schen in der ehemaligen DDR, die mit ihrem Engage-
ment das Licht der Freiheit entzündet haben. Sie waren
nicht alleine, sondern, wie der Herr Bundestagspräsident
in seiner Rede zum Ausdruck gebracht hat, begleitet von
vielen Menschen in vielen anderen europäischen Län-
dern, die auch in ihrer Heimat für Freiheit, Demokratie
und Menschenrechte mutig gekämpft haben.
Das alles geschah ohne Blutvergießen, ohne einen
einzigen Schuss. Hierfür, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, empfinde ich noch heute große Dankbarkeit.
Vielleicht haben wir im Westen erst in diesen Stunden
so richtig begriffen, welche Kraft die Sehnsucht vieler
Menschen nach Freiheit entfalten kann, dass sie Furcht
und Angst überwindet und einen Staat, der den Men-
schen die Freiheit vorenthält, auch in die Knie zwingen
kann. Was es aber heißt, durch eine Mauer der eigenen
Freiheit beraubt zu sein, was es heißt, von einem Un-
rechtsregime bespitzelt und gegängelt zu werden, das
haben die vielen politischen Gefangenen, das haben die
Flüchtlinge und Ausreisewilligen und vor allem die
Mauertoten aufs Bitterste gelehrt. Ihnen allen wollen wir
auch heute gedenken.
Der Fall der Mauer, meine Damen und Herren, war
der erste Schritt in Richtung Freiheit. Ihm sollte dann der
zweite in Richtung Einheit folgen. Fasziniert haben wir
miterlebt, wie bei den Montagsdemonstrationen aus dem
Ruf „Wir sind das Volk“ dann „Wir sind ein Volk“ wurde
und damit plötzlich die Frage der deutschen Einheit auf
der weltpolitischen Agenda stand.
Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit war für
uns in der Union nie ein Lippenbekenntnis, sondern im-
mer eine Herzensangelegenheit.
Wir haben in all den Jahrzehnten der Teilung am Gedan-
ken der deutschen Einheit festgehalten, auch und gerade
als dies im Westen Deutschlands zunehmend unpopulä-
rer wurde und die politische Bereitschaft wuchs, sich mit
einer Zweistaatlichkeit zu arrangieren. Ich darf ganz per-
sönlich sagen: Auf diesen klaren Kurs der Union bin ich
auch heute und gerade heute besonders stolz.
Bayern hat durch seine Klage gegen den Grundlagen-
vertrag vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahre
1973 erreicht, dass das im Grundgesetz verankerte Wie-
dervereinigungsgebot für alle Verfassungsorgane unver-
ändert bindend blieb. Tatsächlich ist am 3. Oktober 1990
die staatliche Einheit Deutschlands in freier Selbstbe-
stimmung in Erfüllung gegangen. Unvergessen ist dabei
die historische Leistung von Bundeskanzler Helmut
Kohl. Er hat die einmalige Chance mit Mut und Über-
zeugungskraft ergriffen, als sich mit dem Mauerfall das
Tor zur Einheit unseres Vaterlandes öffnete.
Es ist heute aber ebenso wichtig, die großartige Auf-
bauleistung der Bevölkerung und der Politiker in den
östlichen Bundesländern zu würdigen. Auf das, was dort
in den vergangenen 25 Jahren gemeinsam erreicht
wurde, können alle stolz sein.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach dem
Mauerfall gehören in Deutschland staatliche Unterdrü-
ckung und Willfährigkeit der Vergangenheit an. Doch
Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind uns nicht
einfach so gegeben. Das lehrt uns unsere Geschichte,
und das lehren uns auch die Krisenherde dieser Welt. So
darf der 9. November 1989 für uns nicht nur ein Tag der
Freude und der Dankbarkeit sein, sondern soll uns
gleichsam Verpflichtung und Auftrag sein, immer und
überall für die Werte einzutreten, für die ein ganzes Volk
im Herbst 1989 mutig gekämpft hat.
Ich danke Ihnen.
Das Wort erhält nun die Kollegin Iris Gleicke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieAntwort auf die Frage, warum es die Mauer gegeben hat,ist ganz einfach und unglaublich schwer. Man muss dieAntwort darauf aus meiner Sicht immer damit beginnen,dass die Mauer ein Monstrum gewesen ist, ein monströ-ses Bauwerk und eine furchtbare Grenze. An dieser
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6000 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Iris Gleicke
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Grenze sind Deutsche von Deutschen ums Leben ge-bracht worden, weil sie ein anderes und besseres, weilsie ein freies Leben wollten. Wer das Leben in der Dikta-tur nicht mehr ertrug und versuchte, die Mauer zu über-winden, der riskierte sein Leben oder zumindest schwereund schwerste Verletzungen und Jahre im Knast. Wir ge-denken der Toten; wir gedenken der Opfer, und wir füh-len mit ihren Angehörigen.An dieser Mauer sind Menschen gestorben, und andieser Mauer sind unzählige Träume zerschellt. Wieauch immer diejenigen ihr Tun zu rechtfertigen versuch-ten, die die Mauer errichten ließen – was blieb, war einAlbtraum für ein ganzes Volk. Man kann die Mauer inihren historischen Kontext einordnen; aber man kann sienicht rechtfertigen. Das ist das, worauf es ankommt.
Es gab und es gibt keine Rechtfertigung für denSchießbefehl und für den Versuch, die eigene Bevölke-rung zur Geisel zu nehmen. Die Mauer war weitausmehr als der bloße Ausdruck von Willkür einer politi-schen Clique, die rücksichtslos ihr Herrschaftsgebiet si-chern wollte und bereit war, dafür über Leichen zu ge-hen. Sie war das zu Stein gewordene Symbol der TeilungDeutschlands, Europas und der Welt. Sie war der weithinsichtbare Ausdruck des Kalten Krieges. Die Mauer – wirdürfen das niemals vergessen – war ebenso wie dieDDR-Diktatur in letzter Konsequenz eine Folge des ver-brecherischen Zweiten Weltkriegs, den Deutschland an-gezettelt hatte und der in der ebenso verdienten wie tota-len Niederlage endete. Nie wieder Faschismus, niewieder Krieg. Dieser Konsens muss fortbestehen. Vondeutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!
Meine Damen und Herren, vergessen wir bitte auchnicht, dass die Deutschen in Ost und West in sehr unter-schiedlicher Weise für den Zweiten Weltkrieg bezahlthaben: Für die Westdeutschen gab es die repräsentativeDemokratie, den Marshallplan und die soziale Markt-wirtschaft. Für die Ostdeutschen gab es die Diktatur, denAbbau ganzer Industrieanlagen und eine zum Scheiternverurteilte Planwirtschaft. Und es gab eine fast unüber-windliche Grenze.Die Teilung unseres Landes hat über 40 Jahre lang ge-dauert. Es erstaunt mich immer wieder, dass es heuteLeute gibt, die offenbar ernsthaft glauben, dass sichdiese Teilung mit all ihren Folgen innerhalb von nur25 Jahren vollständig überwinden ließe. Das ist, mit Ver-laub, eine lächerliche Vorstellung. Wir haben unglaub-lich viel erreicht in den letzten 25 Jahren, um die Folgender Teilung zu beseitigen, und den Rest schaffen wirauch noch.
Aber es ist noch ein ganzes Stück Weg zu gehen. Ichwünsche mir so sehr, dass wir diesen Weg gemeinsamgehen, im Miteinander und ohne die groteske Erbsen-zählerei, mit der manche die Kosten der Einheit bis hin-ters Komma berechnen wollen.Manchmal sehne ich mich zurück nach dieser Zeit imNovember des Jahres 1989, als die Deutschen sich inden Armen gelegen haben. Ich erinnere mich – –
Ich erinnere mich an die Tränen in den Augen und andiese unbändige Freude und Erleichterung. Und dannfrage ich mich: Was ist uns heute eigentlich davon ge-blieben? – Vielleicht geben uns die kommenden Tage et-was von diesem Gefühl zurück. Ich würde es uns allenwünschen.
Ich wünsche uns schöne und fröhliche Feiern. Ich wün-sche uns, dass das Gedenken nicht irgendwann zum Ri-tual erstarrt und dass der Ausdruck von innerer Betrof-fenheit nicht irgendwann zur Maske wird.Meine Damen und Herren, es gibt in der Geschichtekeine Zwangsläufigkeit und keine Gewissheit; aber esgibt immer die Hoffnung auf die Vernunft und darauf,dass sie sich durchsetzt. Man kann das nicht besser sa-gen als mit den Worten Willy Brandts, der 1964 hier inBerlin erklärte, die Mauer stehe gegen den Strom derGeschichte und gegen das Gebot der Menschlichkeit.
Willy Brandt hat seinen Teil dazu beigetragen, dass sichdie Vernunft durchsetzen konnte und dass sich seineHoffnungen erfüllten. Wir Sozialdemokratinnen und So-zialdemokraten sind stolz darauf.
Die Mauer wurde fortgespült vom Strom der Ge-schichte. Sie hatte keinen Bestand. Sie wurde niederge-rissen von den Ostdeutschen, die sich ihre Freiheit selbsterkämpft haben mit einer Revolution, bei der kein einzi-ger Schuss gefallen ist und die wir deshalb voller Stolzals „unsere friedliche Revolution“ bezeichnen dürfen.Die Mauer ist gefallen; dieser Traum ist wahr gewor-den. Andere Träume, die wir damals in diesen Tagen derHoffnung hatten, haben sich bislang noch nicht erfüllt.Was ist eigentlich aus der Sehnsucht danach geworden,dass aus den Schwertern Pflugscharen werden? Und wasist eigentlich aus Michail Gorbatschows Vision vom ge-meinsamen Haus Europa geworden?
Wir sind ein Volk. Es ist an uns, all unseren Nachbarnzu beweisen, dass wir diese Träume nicht aufgegebenhaben, niemals aufgeben werden und dass wir unver-drossen auf die Kraft der Vernunft sowie auf eine bessereZukunft vertrauen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6001
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Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor demFall der Mauer fand die legendäre Kundgebung am4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatzstatt. Diese Kundgebung war selbstbestimmt, souverän,kulturvoll und hatte viel Humor. Damals ging es um einegrundlegende Reform der DDR; die Hauptlosung aberlautete: keine Gewalt. Das galt auch später bei derMaueröffnung und für die gesamte friedliche Revolu-tion. Es ist eine historische Leistung aller Beteiligten inder DDR, dass es damals zu keinem Zeitpunkt Gewaltgab.
Die DDR war eine Diktatur, sie war kein Rechtsstaat.In ihr gab es staatlich angeordnetes, auch grobes Un-recht. Der wachsende Mut der Bürgerinnen und Bürgerder DDR resultierte auch daraus, dass man die Sowjet-union nicht mehr gegen sich, sondern hinter sich wusste,und glaubte, es allein mit der SED-Führung aufnehmenzu können – zu Recht. Nach dem Fall der Mauer ging esdann um die Überwindung der Spaltung Deutschlandsund Europas.Der Fall der Mauer war für die Bürgerinnen und Bür-ger der DDR ein ungeheurer Befreiungsakt. Niemalsvorher und nachher habe ich so überglückliche Gesichterim Fernsehen gesehen wie in dieser Nacht. Es ist nichthinnehmbar, wenn einer Bevölkerung gesagt wird, dass,abgesehen von bestimmten erlaubten Dienstreisen odervon einigen dringenden Familienangelegenheiten, nurInvalide sowie Altersrentnerinnen und Altersrentner denWestteil der Stadt Berlin, Hamburg, München, Stuttgart,Paris oder London sehen dürfen. In der Regel bedeutetedas für Frauen, dass sie 60 Jahre, und für Männer, dasssie 65 Jahre alt werden mussten, bis sie sich den größe-ren Teil der Erde anschauen durften. Für sie war derWesten fast so weit weg wie der Mond.Der Fall der Mauer veränderte aber auch das Lebender Westdeutschen, der Europäerinnen und Europäer undführte weltweit zu neuen Strukturen. Beim Fall derMauer gab es nämlich genau so glückliche Gesichter imWestteil der Stadt Berlin wie in der alten Bundesrepu-blik.Das Problem ist – das will ich hier offen sagen –, dasswir statt der Vereinigung einen Beitritt hatten. Die Bun-desregierung konnte nicht aufhören, zu siegen, und hatsich deshalb im Osten nichts angesehen. Wenn manDinge wie das Kindertagesstättennetz, die Polikliniken,jetzt Ärztehäuser, oder die Berufsausbildung mit Abituroder einige andere Punkte übernommen hätte – vielesmusste verschwinden –, dann hätte das das Selbstbe-wusstsein der Ostdeutschen gestärkt und hätte vor allemdazu geführt, dass die Westdeutschen mit der Vereini-gung eine Qualitätssteigerung erlebt hätten, was ihnennicht gegönnt wurde.
Dadurch entstand bei den Westdeutschen die Illusion, fürsie bleibe alles, wie es war. Aber nicht nur die DDR istverschwunden, sondern auch die alte Bundesrepublik.Damit hängen auch einige Enttäuschungen zusammen.Die alte Bundesrepublik war sozialer als die vereinte.Die alte Bundesrepublik hätte, im Unterschied zur ver-einten, niemals Krieg geführt.
Zurück zu Ostdeutschland. In der Super Illu vom9. Oktober 2014 ist eine interessante Umfrage veröffent-licht. Danach schätzt eine Mehrheit der Ostdeutschenein, dass es ihr in zehn Punkten deutlich besser geht alsin der DDR, in zehn Punkten wird das Gegenteil behaup-tet.Die zehn Punkte, in denen es ihnen nach eigener Ein-schätzung besser geht, beziehen sich in der Reihenfolgenach den Mehrheiten auf das Warenangebot, den Urlaub,die Weltoffenheit, die Meinungsfreiheit, die Entschei-dungsfreiheit der Einzelnen und des Einzelnen, dieWohnverhältnisse, den Umweltschutz, die Selbstver-wirklichung und die Verwirklichung der Menschen-rechte.Wir müssen allerdings auch zur Kenntnis nehmen, inwelchen zehn Punkten die Mehrheit der Ostdeutschenmeint, dass es ihr diesbezüglich in der DDR besser ge-gangen sei. Wiederum in der Reihenfolge nach denMehrheiten bezieht sich das auf sichere Arbeitsplätze,die sicheren, niedrigen Mieten, die Kinderbetreuung,den Gemeinschaftssinn
– ich sage ja nur, was die Ostdeutschen denken; ich sagegar nicht, dass ich es teile –, die Vereinbarkeit von Berufund Familie, die Sportförderung,
den Zusammenhalt der Familien, die soziale Gerechtig-keit und die Gleichberechtigung von Frauen und Män-nern.Abgesehen von interessanten kulturellen Momentenbringt das im Kern doch eines zum Ausdruck. Die Ost-deutschen wollen beides: die Freiheit der Bundesrepu-blik und höhere soziale Sicherheit und Gerechtigkeit,wie sie sie von früher kannten. Es gilt aber für alle Men-schen in Deutschland folgender Zusammenhang: SozialeSicherheit und Gerechtigkeit ohne Freiheit taugen ziem-lich wenig.
Freiheit ohne soziale Sicherheit und soziale Gerechtig-keit verliert an Bedeutung, sie ist zum Teil nicht nutzbar.Wir alle hier im Saal sind privilegiert. Unsere Mei-nung können wir ziemlich öffentlich verkünden, diemeisten Menschen nur untereinander. Wir können es unsleisten, nach London, New York oder Paris zu reisen; für
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6002 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Dr. Gregor Gysi
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viele ist dies nicht bezahlbar. Deshalb ist es so wichtig,die Einheit von Freiheit, Demokratie, sozialer Sicherheitund sozialer Gerechtigkeit herzustellen.
Wir brauchen endlich gleiche Lebensqualität in Ostund West. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass glei-cher Lohn für gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit inOst und West bezahlt wird. Es ist doch nicht zu viel ver-langt, dass endlich die gleiche Rente für die gleiche Le-bensleistung in Ost und West bezahlt wird.
Es ist auch nicht zu viel verlangt, dass man bei der Müt-terrente für ein Ostkind nicht weniger bekommt als fürein Westkind.
Ich möchte den Respekt für die Lebensleistungen in denBiografien, und zwar in Ost und West gleichermaßen.Die Mauer ist gefallen. Sie muss, soweit noch vorhan-den, endlich auch in den Köpfen überwunden werden.Meiner Generation ist das zum Teil schwergefallen, inder Generation meiner 18-jährigen Tochter ist das über-haupt kein Problem mehr.Ich meine, die Mauern müssen generell fallen, undwir dürfen keine neuen errichten. Damit meine ich dieMauer zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen weltweitund in unserer Gesellschaft, die Mauer zwischen Armenund unvorstellbar Reichen weltweit und in unserer Ge-sellschaft und auch die Mauer an den Außengrenzen derEuropäischen Union.
Wir dürfen nicht die Flüchtlinge bekämpfen, sondern wirmüssen die Fluchtursachen bekämpfen. Außerdem hatman Flüchtlinge einfach anständig zu behandeln.
Lassen Sie mich zum Schluss einen Wunsch äußern:Die große Feier zum 25. Jahrestag der deutschen Einheitim nächsten Jahr sollte außerhalb der Regel in Leipzigbegangen werden. Leipzig hat sich das verdient.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!25 Jahre, das ist mehr als ein Jubiläum. Das ist eine Ge-neration. 20 Millionen Deutsche wurden nach 1989 ge-boren, 22 Millionen Menschen sind neu zu uns gekom-men und 17 Millionen Menschen haben unser Landverlassen. Deutschland ist heute ein anderes Land; aberdas Vergangene ist nicht vorbei. Die gespannte Atmo-sphäre der Friedensgebete, der Geschmack der ersten er-kämpften Freiheit auf den Straßen von Plauen, Dresden,Leipzig, Arnstadt, auf dem Alexanderplatz, die Freudeam Mitgestalten an den Runden Tischen im ganzenLand, die Selbstemanzipation eines Volkes – das beglei-tet uns bis heute.Wo bist du gewesen, damals, am 9. November? Auchdiese Frage begleitet uns. Ich saß am Fernseher. Mein äl-tester Sohn ist nur ein paar Wochen älter als der Einsturzder Mauer. Dass er heute einer Tageszeitung sagen kann,dass bei uns am Küchentisch immer über Politik gespro-chen wurde, das ist großartig. „Meine Kinder“, sagt er– inzwischen hat er drei –, „sollen einmal politischeMenschen werden.“ Das Mitgestalten und die Selbst-emanzipation tragen sich fort.Mauerstücke aus dem Eisernen Vorhang wurden im-mer wieder herausgebrochen, nicht nur 1953, 1956,1968, 1980. 1956 standen neben den Ungarn auch Stu-dierende in Rumänien auf. 1962 wurden 24 protestie-rende Arbeiter in der Sowjetunion massakriert. DieseRevolution trägt die Namen von Vaclav Havel, vonAndrej Sacharow und Jelena Bonner, von Herta Müllerund Lech Walesa, von Marianne Birthler und BärbelBohley, und – als evangelische Christin sage ich das –sie trägt auch den Namen von Johannes Paul II. DieseRevolution war nicht schwarz-rot-gold; sie war der Be-ginn eines gemeinsamen, eines wahren, eines wirklichenEuropa.
Die Revolution war nicht zuerst erfolgreich wegender Diplomaten und Staatschefs, sondern weil die DDR-Diktatur mit allem gerechnet hat, nur nicht mit Kerzen.Die DDR war auch nicht nur wirtschaftlich pleite, siewar politisch, moralisch und ökologisch bankrott,
und natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat. Alle, dieversuchen, darum herumzulavieren, müssen sich an-schauen, was war: Ein Staat ohne demokratische Selbst-bestimmung, ohne Transparenz der öffentlichen Mei-nung, ohne unabhängige Justiz ist erst einmal, ganzbanal, eine Diktatur, kein zweiter Nationalsozialismus,auch kein Stalinismus wie in der Sowjetunion der Gu-lags. Aber nur, weil die DDR versucht hat, sich denMantel der Rechtsförmigkeit umzulegen, wird sie ebennicht zum Rechtsstaat.
Wer einen Ausreiseantrag gestellt hatte, verlor seinenArbeitsplatz trotz Arbeitsgesetzbuch, und wem einefeindlich-negative Grundhaltung unterstellt wurde, wur-den möglicherweise seine Kinder weggenommen, trotzFamiliengesetzbuch. Der Zorn der SED traf nicht nur dieOppositionellen; er traf deren Töchter, Söhne oder garFreunde.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6003
Katrin Göring-Eckardt
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In der DDR verliefen Alltag und Willkür parallel; dakann man sich noch so sehr winden. Deshalb muss heuteklipp und klar gesagt werden: Es geht nicht darum, Bio-grafien von früher zu be- oder entwerten. Ulrike Poppehat zu Recht gesagt: Die DDR, das waren wir alle. Eswar richtiges Leben im falschen, aber daneben war eseben auch das Grundfalsche.Ich habe meinen Vater – er war Tanzlehrer, einer derwenigen selbstständigen Berufe in der DDR – mehrfachzum Vortanzen in einen Jugendwerkhof begleitet. Da sa-ßen Jugendliche im Knast, bis aufs Gröbste ihrer Würdeberaubt, manchmal für Diebstahl, aber oft genug einfachnur für ein falsches Wort. Ich kann die zittrigen Händedes 16-Jährigen nicht vergessen, der mir seinen Namennicht sagen durfte, der nur sagen konnte: Ich hab dochnichts gemacht, nur einen Witz, einen Witz über dieMauer. Um dessen Biografie geht es, mindestens ebensowie um die Biografie des Zerspaners, den sie in West-deutschland Dreher nennen, der plötzlich irgendwie zumStaatsfeind wurde, ohne genau zu wissen, warum. Esgeht auch um die Biografie der Chemikerin, die im Wis-senschaftsbetrieb war und einfach versucht hat, nicht an-zuecken.Biografien haben wir alle; aber unsere besondereAufmerksamkeit und die Aufarbeitung dessen, was war,müssen zu allererst denen gelten, die gelitten haben undmanchmal bis heute unter dem leiden, was ihnen angetanworden ist, meine Damen und Herren.
Ich will dies in alle Richtungen sagen, weil ich festdavon überzeugt bin, dass Aufarbeitung der Geschichtenur dann geht, wenn man sich das je Eigene anschaut.Das gilt für Sie von der Union ganz genauso mit denBlockparteien der DDR wie für die Linke. Einen Unter-schied gibt es allerdings, nämlich den, dass in der Unionheute niemand bestreiten würde, dass die DDR ein Un-rechtsstaat war.Aber wenn wir Schuldeingeständnis und Versöhnungwollen, dann müssen wir heute auch den Jungen sagenkönnen: Haben wir tatsächlich angeschaut, was gewesenist, sind wir damit tatsächlich umgegangen, oder habenwir geschwiegen oder es ignoriert? 25 Jahre danach istes Zeit, auch das Schweigen über die eigene Geschichteund den eigenen Umgang mit ihr zu brechen.Meine Damen und Herren, heißt eigentlich von Ossislernen Siegen lernen? 2015 werden mit dem Bundesprä-sidenten, dem Präsidenten des Bundesrates und der Bun-deskanzlerin vermutlich drei der fünf höchsten Staats-ämter des Landes von Menschen besetzt sein, die ihreBiografie in der DDR begonnen haben. 25 Jahre habenviele Biografien, aber auch das Land und die Landschaf-ten verändert.1986, nach dem Super-GAU in Tschernobyl, begannes mit den Umweltbibliotheken, 1989 stand das Landvor dem ökologischen Zusammenbruch. Nein, das, waswir heute erleben, das sind nicht die verspätet blühendenLandschaften. Aber dass Ostdeutschland heute eine Vor-reiterrolle bei den erneuerbaren Energien einnimmt, dasist nach Braunkohlegestank und vergifteten Flüssenschon erstaunlich.Nach 1989 gab es aber auch Verwerfungen. Es gabMenetekel wie Lichtenhagen oder Hoyerswerda, es wur-den Fehler gemacht. Es gab viele und vielleicht für man-che zu viele Versprechungen, die nicht einlösbar waren;auch wurden Menschen allein gelassen. Dennoch hatsich das zentrale Versprechen der friedlichen Revolutionerfüllt, nämlich die Freiheit, die keine hohle Phrase ist.Es kann schon sein, dass jemand doof findet, was dasStaatsoberhaupt sagt. Aber hier kommt man dafür nichtin den Knast, sondern man kriegt seine Zeit in der Tages-schau.
Freiheit, das ist das großartigste und wunderbarsteGeschenk, das wir bekommen haben. Es ist doch nichterstaunlich, dass Leute aus Krieg, Verfolgung, Unfrei-heit und Vertreibung hierherkommen und diese Freiheitmit uns teilen wollen. Freiheit gehört zu den Dingen, diegrößer und mehr werden, wenn man sie teilt. 25 Jahredanach können wir sie jeden Tag erleben, und vor 25Jahren hätte ich jede Wette gemacht, dass ich niemalshier stehen würde.Vielen Dank.
Der letzte Redner in dieser vereinbarten Debatte ist
der Kollege Arnold Vaatz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Gestatten Sie mir, mit einem Zitat zu beginnen:Wir haben hier warme und sichere Unterkunft für jeden,wir haben hier medizinische Betreuung, jeder wird satt,und es gibt Arbeit für alle. – Das sagte der Strafvollzugs-beamte, der uns am 23. Dezember 1982 in der Strafvoll-zugseinrichtung Unterwellenborn begrüßte, zu uns. Dasheißt, es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die wichtigsind für Menschen, die man aber in jedem Gefängnis be-reitstellen kann.
Meine Damen und Herren, das hat Herr Gysi richtig ge-sagt: Ohne Freiheit sind alle diese Dinge nicht viel. Ichfüge dem hinzu: Sie sind nichts.
Der Mauerfall, über den wir heute sprechen, ist ganzwesentlich von jenen bewirkt worden, die im Sommer1989 in Scharen die DDR verlassen haben, alles hinter
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6004 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Arnold Vaatz
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sich gelassen haben, überhaupt nicht an alle dieseDinge gedacht haben, die heute den größten Teil unse-rer politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepu-blik Deutschland ausmachen, die nur eines wollten:wenn nötig, mit dem nackten Leben den Zustand hintersich lassen, der sie einengt, der sie ihrer Selbstbestim-mung und ihrer Würde beraubt. Das war das Ziel; dashaben sie erreicht.
Das war der entscheidende Anstoß dafür, dass dieseMauer fiel.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber auchsagen: Der Mauerfall als solcher mag mit seinen Bilderndie ganze Welt fasziniert und in seinen Bann gezogenhaben; aber es war noch nicht der Durchbruch. Nachdem Mauerfall erwartete uns alle in Ostdeutschland nochhärteste Arbeit, um tatsächlich der Demokratie zumDurchbruch zu verhelfen; denn wie Sie vielleicht wis-sen, hatten die Grenzbeamten damals Anweisung, einensogenannten Querulantenstempel in die Ausweise zu set-zen. Was bedeutete das? Etliche bekamen die Stempelaufs Passbild, mit der Absicht, sie nicht wieder rüberzu-lassen, wenn sie wieder rüberkommen wollen. Das istverbürgt.Das heißt, die Möglichkeit, die Mauer wieder zuschließen, die Möglichkeit, 300 000 Menschen wegzu-lassen und dann zu sagen, jetzt machen wir wieder zu,und mit dem Rest werden wir leicht fertig, hat nach demMauerfall theoretisch noch bestanden.Aber, meine Damen und Herren, wir sind eben weitergegangen und haben dann versucht, die Strukturen zuzerstören, die wesentlich waren, um genau den ZustandDDR so lange Jahre aufrechtzuerhalten. Das Besondereist die Besetzung der Staatssicherheit, und das Beson-dere ist, dass wir es dann geschafft haben, wirklich freieWahlen abzuhalten.Meine Damen und Herren, was wir damals erlebt ha-ben, sollte uns heute eine Mahnung sein, dafür zu sor-gen, dass auch alle diejenigen sich unserer Solidarität si-cher sein können, die aus einer ähnlichen Situationherauswollen, aus der wir damals mit Erfolg herausge-kommen sind.
Wir waren in Ostdeutschland nicht in erster Linie dieUntertanen der SED. Wir waren über 40 Jahre lang dieUntertanen der Sowjetunion. Die SED hätte nicht beiuns regieren können, wenn nicht ständig 500 000 russi-sche Soldaten in den Kasernen als Besatzungsmacht an-wesend gewesen wären.Meine Damen und Herren, deshalb macht es mich be-sonders nachdenklich, wenn ich einerseits vom HerrnBundestagspräsidenten höre, dass der sanftmütige undfreundliche Vaclav Havel unmittelbar vor den Ereignis-sen in den Tschechoslowakei im Sommer 1989 wegenRowdytums eingesperrt war. Andererseits höre ich, wieeine ganze Regierung, nämlich die in Kiew, pauschal alsfaschistisch verunglimpft wird. Das ist dieselbe Ton-lage, meine Damen und Herren, und diese Tonlagemöchte ich heute im wiedervereinigten Deutschland indiesem Hause nicht mehr hören.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir am Endemit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, noch einen Verszu zitieren von unserem Freund Wolf Biermann, der unsheute hier ein Lied gesungen hat. Er hat noch mehr ge-dichtet, zum Beispiel die „Ballade vom gut Kirschen-essen“. Da trifft er im Traum Robert Havemann undschreibt dann:Ich sang ihm die schönsten LiederDa wurde der Himmel plötzlich schwarzVon tausendfachem GefiederEin Schwarm flog in die kalte Nacht
„Dem Abendrot, dem Abendrot, dem Abendrot ent-gegen“Gen Osten gegen den Wind anschrien Im Flug die verzauberten RabenUnd jetzt kommt der entscheidende Satz.Jetzt weiß ich: Sie haben uns alles verziehenWas sie uns angetan haben.Vielen Dank.
Ich schließe diese denkwürdige Debatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 9. November
1989 haben sich die Abgeordneten im Bonner Wasser-
werk spontan von ihren Plätzen erhoben und die Na-
tionalhymne angestimmt. Heute beenden wir unsere
Aussprache zu diesen historischen Ereignissen vereinba-
rungsgemäß mit dem Lied der Deutschen: Einigkeit und
Recht und Freiheit.
Vielen Dank. Ich unterbreche die Sitzung für drei Mi-
nuten, damit wir einen geordneten Schichtwechsel orga-
nisieren können. Wir setzen dann die Tagesordnung fort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrocheneSitzung ist wieder eröffnet.Ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen, damit wirdie Sitzung fortsetzen können. – Die, die noch dringend
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6005
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Unterhaltungen führen müssen, bitte ich, dies außerhalbdes Saales zu tun. – Vielen Dank.Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,kommen wir noch zu einer nachträglichen Ausschuss-überweisung. Interfraktionell ist vereinbart, den Ent-wurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur weiterenEntlastung von Ländern und Kommunen ab 2015 undzum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinderta-gesbetreuung auf Drucksache 18/2586 nachträglich auchan den Ausschuss für Arbeit und Soziales zu überwei-sen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Einführung des ElterngeldPlus mit Partnerschaftsbonus und einerflexibleren Elternzeit im Bundeseltern-geld- und ElternzeitgesetzDrucksachen 18/2583, 18/2625Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen undJugend
Drucksache 18/3086
Drucksache 18/3087b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem An-trag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner,Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENEchte Wahlfreiheit schaffen – Elterngeld fle-xibler gestaltenDrucksachen 18/2749, 18/3086Zu dem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantragder Fraktion Die Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich erteile jetzt der Bundesministerin ManuelaSchwesig das Wort.
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren Abgeordnete! Ich bin dem DeutschenBundestag sehr dankbar für die Feststunde heute zum25. Jahrestag des Mauerfalls. Frau Katrin Göring-Eckardthat es bereits gesagt: Gerade wir, die in Ostdeutschlandgroß geworden sind, fragen uns gelegentlich, was wäre,wenn die Mauer nicht eingerissen worden wäre. – Ichkann für mich sagen: Ich würde heute mit Sicherheitnicht als Bundesfamilienministerin hier stehen können,was ich sehr bedauern würde. Ich hoffe, einige von Ih-nen auch.
Ich freue mich sehr, dass ich an diesem Tag die Gele-genheit habe, das wichtige familienpolitische Projekt El-terngeld Plus als ersten Schritt zur Familienarbeitszeitmit Ihnen abschließend zu beraten. Ich möchte michganz herzlich bedanken, weil ich schon in den parlamen-tarischen Beratungen im Ausschuss gespürt habe, dasses über Fraktionsgrenzen hinweg viel Unterstützunggibt. Das ist ein gutes Signal.Das ist auch ein gutes Signal für die Familien inDeutschland. Im Januar hat mir eine Frau aus Leipziggeschrieben:Ich würde mich freuen, wenn das Elterngeld Plusfür mich greifen würde, weil das ein großer Anreizwäre, auch in Elternzeit meinen Teilzeitarbeitsplatzzu behalten und nicht ganz auszusteigen.Im Juli haben bei einer Allensbach-Befragung 67 Pro-zent der Eltern mit Kindern unter drei Jahren gesagt:„Das ElterngeldPlus ist eine gute Regelung.“ Heute istes so weit: Der Bundestag wird das Elterngeld Plus be-schließen. Wir schlagen mit dem Elterngeld Plus einneues Kapitel in der Familienpolitik auf. Wir gehen ei-nen Schritt in Richtung einer modernen Familienpolitik,die berücksichtigt, dass Mütter und Väter Zeit für die Fa-milie, aber auch gleichzeitig Zeit für den Job haben wol-len.Wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und Berufstärken. Wir stärken damit allen jungen Eltern den Rü-cken, die gemeinsam für ihre Kinder da sein und ihre be-rufliche Entwicklung dafür nicht aufgeben wollen. Wirbestärken Mütter und Väter darin, mit dem ElterngeldPlus im Rücken früher in den Job zurückzukehren. Wirstärken Mütter und Väter, die Familie und Beruf partner-schaftlich vereinbaren wollen.Die Frau, die mir im Januar geschrieben hat, ist Ma-nagerin für Künstler, ihr Mann Kirchenmusiker. Siewürde gern schon recht früh nach der Geburt ihres Kin-des wieder in den Beruf einsteigen, aber in Teilzeit –nicht zuletzt, weil sie ihre Arbeit auch gut von zu Hauseaus machen kann. Mit dem Elterngeld Plus kann sie dastun und trotzdem ihren Elterngeldanspruch ausschöpfen.Denn wer während des Elterngeldbezugs wieder ein-steigt und Teilzeit arbeitet, bekommt doppelt so langeElterngeld Plus. Das ist der erste Vorteil des neuen Ge-setzes.Das Elterngeld Plus kommt den Bedürfnissen von El-tern entgegen, die nach der Geburt ihres Kindes wiederin den Job einsteigen wollen, aber eben in Teilzeit, umauch Zeit für die Familie zu haben. Wenn auch der Mannwieder in Teilzeit einsteigt oder seine Arbeitszeit redu-
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6006 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Bundesministerin Manuela Schwesig
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ziert – je nachdem, in welcher Situation er ist –, wennsich also beide Zeit für das Kind nehmen, aber auch Zeitin den Job investieren, dann gibt es Partnerschaftsboni.Es gibt vier zusätzliche Elterngeld-Plus-Monate, wennbeide während des Elterngeldbezugs Teilzeit arbeiten,und zwar vier für den einen Partner und vier für den an-deren Partner.Der Partnerschaftsbonus ist der zweite Vorteil des El-terngeld Plus. Partnerschaftlichkeit wird belohnt. MehrPartnerschaftlichkeit – damit ist das Elterngeld Plus einSchritt hin zu einer Familienarbeitszeit, eine Arbeitszeitfür Familien in Deutschland, die beides ermöglicht: Zeitin den Job zu investieren, aber eben auch Zeit für Kinderzu haben. Das wünschen sich Paare. 60 Prozent derPaare mit Kindern unter drei Jahren wünschen sich, dassbeide Zeit für die Familie haben und eben auch Zeit fürdie Kinder. Aber nur 14 Prozent der Paare schaffen es.In Deutschland haben wir die Situation, dass fast alleMänner Vollzeit arbeiten, aber als Väter die Arbeitszeitgerne ein wenig reduzieren wollen. Und wir haben dieSituation, dass die meisten Mütter zwar im Job sind,aber oft nur 19 Stunden arbeiten und gerne mehr arbeitenmöchten. Sie wünschen sich ein Modell, in dem sich dieArbeitszeiten angleichen, partnerschaftlich auf Augen-höhe und nicht starr vorgeschrieben in Form einer 30-,32- oder 35-Stunden-Woche, sondern gemeinsam ausge-handelt. So würde sich die Lücke allmählich schließen.Das wünschen sich die Paare. Das wäre für die Paareund ihr Familieneinkommen gut, aber auch für die Wirt-schaft gut; denn bekanntlich ist zweimal 32 mehr alseinmal 40. Das haben Fachleute wie der DIHK-ChefSchweitzer erkannt.
Ein weiterer Schritt hin zur Familienarbeitszeit ist dasGesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflegeund Beruf, über das wir in einer Woche hier im Bundes-tag beraten. Zur partnerschaftlichen Vereinbarkeit vonBeruf und Familie gehört natürlich auch eine gute, aus-reichende und bedarfsgerechte Kinderbetreuung. Mitdem neuen Kitagesetz beteiligt sich der Bund noch mehram Kitaausbau. Die Kommunen haben gestern bei derBund-Länder-Konferenz zum Thema frühkindliche Bil-dung bestätigt, dass die Entwicklung schnell voran-schreitet und wir weitere Kitaplätze in Deutschlandbrauchen, insbesondere Ganztagsplätze. Ich freue michsehr, dass wir gestern mit den Ländern erstmalig in ei-nem Kommuniqué schriftlich festgehalten haben, dasswir uns auf den Weg machen wollen, gemeinsame Quali-tätsstandards für die Kindertagesbetreuung zu entwi-ckeln. Denn wir brauchen nicht nur eine ausreichendeZahl an Plätzen, sondern auch gute Plätze.
Alleinerziehende profitieren genauso wie Elternpaare.Das ist mir ganz wichtig; denn die Familienformen inDeutschland sind bunt. Wir haben viele Alleinerzie-hende, die tagtäglich einen harten Job in der Familie ma-chen und gleichzeitig berufstätig sind. Das sind zu90 Prozent Frauen. Aber auch die 10 Prozent alleinerzie-hende Männer müssen beachtet werden. Es gibt ver-schiedene Paarformen, ob nun Ehepaare, Paare ohneTrauschein oder gleichgeschlechtliche Paare. Für allemuss die Familienpolitik da sein. Das kommt im neuenElterngeld Plus zum Ausdruck. Alleinerziehende profi-tieren vom neuen Elterngeld Plus genauso wie Familien,egal ob sie gut, durchschnittlich oder wenig verdienen.Alleinerziehende können ebenfalls den Partnerschafts-bonus in Anspruch nehmen. Vier zusätzliche Elterngeld-Plus-Monate – das gilt auch für Alleinerziehende. Ichbin den Koalitionsfraktionen dankbar, dass sie auf meineBitte hin die Empfehlung der Länder aufgenommen ha-ben, eine Verbesserung für die Alleinerziehenden imparlamentarischen Verfahren zu erreichen. Das ist einganz wichtiger Punkt und ein Signal an die Alleinerzie-henden in unserem Land. Wir stärken ihnen den Rückenund wollen, dass sie genauso gut von der neuen Fami-lienpolitik profitieren.
Ich bin auch für eine wichtige Ergänzung aus demparlamentarischen Verfahren dankbar, nämlich für diesogenannte Zustimmungsfiktion. Wenn der Arbeitgeberauf einen Teilzeitantrag in der Elternzeit nicht innerhalbeiner bestimmten Frist reagiert, gilt die Zustimmung alserteilt. Das ist gut. Damit haben die Eltern Planungssi-cherheit. Herzlichen Dank dafür!
Eine weitere Verbesserung, die wir heute schaffen, istdie Flexibilisierung der Elternzeit. Es gibt auch später imLeben eines Kindes, also nach dem dritten Lebensjahr,Phasen, in der die Eltern eine Auszeit brauchen. Daskann zum Beispiel die Zeit der Einschulung sein. Es istwichtig, dass sich die Eltern auch dann Zeit nehmenkönnen. Deshalb wird es künftig möglich sein, bis zu24 Monate einer Elternzeit bis zum 8. Lebensjahr desKindes zu nehmen. Eltern erhalten damit mehr Zeit undmehr Flexibilität bei der Betreuung und der Unterstüt-zung ihrer Kinder, eben dann, wenn es die Familiebraucht.Zum Ausgleich wird den Unternehmen die Möglich-keit eingeräumt, bei der Anmeldung des dritten Eltern-zeitabschnitts dringende betriebliche Gründe ins Feld zuführen. Das zeigt, dass wir versuchen, die Balance zwi-schen den Notwendigkeiten aufseiten der Arbeitgeberund den Wünschen der Familien zu halten. So lautetmein Wunsch und Appell an alle Arbeitgeber, nicht nurder Wirtschaft, sondern auch der Wissenschaft und desöffentlichen Bereichs: Wir als Politiker können zwargute Gesetze machen, wir können auch die Familien fi-nanziell gut unterstützen, aber wir brauchen die Bereit-schaft der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, auch aufdie Situation der Familien Rücksicht zu nehmen! DieFamilien in unserem Deutschland haben eine arbeits-freundliche Arbeitswelt verdient. Sie brauchen diese ar-beitsfreundliche Welt. Das Gute daran ist: Beide profitie-ren, die Familien und die Arbeitgeber.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6007
Bundesministerin Manuela Schwesig
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Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, derWandel der Bedürfnisse junger Eltern, der Wunsch nachmehr Partnerschaftlichkeit ist eine Entwicklung, die dasElterngeld mit in Gang gesetzt hat. Die Familienpolitikhält mit dieser Entwicklung Schritt. Mit dem ElterngeldPlus machen wir das Elterngeld moderner, schlagen wirein neues Kapitel auf. Die neuen Regelungen zum El-terngeld Plus und zu der Elternzeit gelten für alle Eltern,deren Kinder ab dem 1. Juli 2015 geboren werden. Inso-fern hoffe ich, dass jetzt einige Paare in Deutschland zu-hören und es sich vielleicht überlegen. Es ist jetzt dierichtige Zeit.
Ich brauche das nicht zu konkretisieren. Ich glaube, allewissen, was gemeint ist. Wenn Sie, Herr Weinberg, nochNachhilfe brauchen, dann rufen Sie das noch einmal inden parlamentarischen Ausschussberatungen auf.
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, ichmöchte mich ganz herzlich für die gute Zusammenarbeitim parlamentarischen Verfahren bedanken. Das sage ichan die Adresse der Koalitionsfraktionen, das sage ichaber auch ausdrücklich zu den Oppositionsfraktionen.Ich freue mich auch sehr, dass die Fraktion der Grünenim Ausschuss ebenfalls dafür gestimmt hat. Das ist einZeichen dafür, dass man auch über Fraktionsgrenzenhinweg zusammen gute Dinge machen kann, und das istdas, was die Familien in Deutschland brauchen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der
Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Ministerin, in der Tat, auch ich hätte es be-dauert, wenn Sie als Familienministerin nicht hier wä-ren.
Das darf man ruhig einmal sagen.Aber der Rest ist dann nicht mehr so schön; denn zwi-schen der ersten Lesung und heute haben sich die Hoff-nungen meiner Fraktion, was die Ausschussberatungenangeht, doch nur partiell erfüllt. Ich kann auf das Gesetzin Gänze jetzt nicht eingehen; dazu fehlt mir die Zeit. Ichwill einige Knackpunkte nennen.Kommen wir zum Positiven. Damit bin ich schnellfertig.
Die Flexibilisierung der Elternzeit ist an sich eineschöne Sache. Auch wir haben sie schon immer gefor-dert, aber nicht nur die Flexibilisierung der Elternzeit,sondern auch des Elterngeldes. Das ist hier leider unter-blieben. Es ist versäumt worden, beim Elterngeld denGeldanspruch zu flexibilisieren. Allein die Elternzeitauszuweiten, reicht eben gerade nicht; denn so könnensich das nur Eltern mit einem sehr guten Einkommenleisten.Auch zu den Alleinerziehenden haben Sie, FrauSchwesig, schon etwas gesagt. Es ist schön – das findetauch meine Fraktion –, dass die Anspruchsvoraussetzun-gen für die Alleinerziehenden in Bezug auf die Partner-monate geändert wurden. Anfangs war das an das allei-nige Sorgerecht geknüpft. Das ist von allen kritisiertworden. Den Anspruch nunmehr an die Bedingung desVorliegens der Voraussetzungen der Steuerklasse II zuknüpfen, ist in Ordnung. Das wurde auch im Rahmen derAnhörung von den Sachverständigen empfohlen und vonder Regierung übernommen.Allerdings wurden andere Empfehlungen aus derSachverständigenanhörung eben nicht aufgegriffen, sozum Beispiel die Anrechnung beim Arbeitslosengeld-II-Bezug. Die Bundesregierung lässt hier erneut eine Mög-lichkeit verstreichen, die Anrechnung von Elterngeld aufTransferleistungen zurückzunehmen. Die Anrechnungführt vielfach dazu, dass insbesondere Alleinerziehendeund ihr Kind im ersten Jahr nach der Geburt in Armut le-ben. Auch Familien mit geringem Einkommen wäre eineentsprechende Änderung entgegengekommen
und hätte somit den vielfach zitierten Schonraum für Fa-milien allen Eltern ermöglicht. Aber das konnte leider inden Beratungen nicht erreicht werden, obwohl sich derVerband alleinerziehender Mütter und Väter und auchder Familienbund der Katholiken für eine Anrechnungs-freiheit ausgesprochen haben. Auch die evangelische ar-beitsgemeinschaft familie kritisiert die fehlende sozialgerechte Wirkung des Elterngeldes. Alle Rufer in derWüste.Es stimmt eben nicht, wie von der CDU/CSU in derersten Lesung behauptet, dass das Elterngeld Schonraumschaffe. Schonraum für bestimmte Familien – ja. Abergerade die Familien, die es am dringendsten brauchten,bleiben wieder außen vor. Dabei war es – daran möchteich einmal erinnern – eines der Wahlversprechen derSPD, den Sockelbetrag des Elterngeldes wieder anrech-nungsfrei zu stellen. Versprochen – gebrochen. Das vor-liegende Gesetz jedenfalls bietet diesbezüglich keineGrundlage, um die Kinderarmut, Elternarmut und Fami-lienarmut im Lande wirksam zu bekämpfen.Zu den Mehrlingsgeburten. Mit der, wie es heißt, ge-setzlichen Präzisierung soll dem Urteil des Bundesso-zialgerichts nachgekommen werden, indem festgelegtwird, dass bei Mehrlingsgeburten nur ein Elterngeldan-spruch entsteht. Somit entsteht künftig ein Elterngeldan-spruch pro Geburt und nicht pro Kind. Das Urteil desBundessozialgerichts hat aber eindeutig und mit allen ju-
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Jörn Wunderlich
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ristischen Auslegungsmethoden festgestellt, dass beiMehrlingsgeburten pro Kind ein Elterngeldanspruch ent-steht. Insbesondere aus der Historie dieses Gesetzes lässtsich das eindeutig ableiten. Ich habe das Urteil des Bun-dessozialgerichts hier vorliegen, und ich möchte einmalaus den Entscheidungsgründen zitieren:Ab dem 1.1.2007 ist das Bundeselterngeld an dieStelle des Bundeserziehungsgeldes getreten …In diesem war geregelt,dass für jedes … Kind Erziehungsgeld gewährtwerde, falls in einem Haushalt mehrere Kinder be-treut und erzogen würden … Zu dieser Vorschrifthat das BSG– und zwar schon 2006 –entschieden, dass es sich beim Erziehungsgeld fürZwillingskinder nicht um einen einheitlichen, son-dern um zwei getrennte Ansprüche handelt …Den Gesetzgebungsmaterialien zum BEEG– also zum Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz –lässt sich entnehmen, dass jeder Elternteil einen El-terngeldanspruch für ein Kind erhalten sollte …Die Absicht einer Anspruchsbegrenzung bei Mehr-lingen ist nicht erkennbar.Erst mit einer nicht näheren Bemerkung in der Be-gründung zur Einführung dieses Gesetzes wird davonausgegangen, dass keine mehrfache Leistungsgewäh-rung vorgesehen ist. Begründet wird das nicht. Wie dajetzt von einer entsprechenden Intention des Gesetzesgeredet werden kann, erschließt sich mir nicht. Dennauch bei der Aufnahme eines Kindes in den Haushalt mitdem Ziel der Annahme dieses Kindes während laufen-den Elterngeldbezugs entsteht ein neuer Elterngeldan-spruch. Also Elterngeld nur bei Annahme eines Kindes,aber nicht bei den eigenen leiblichen Kindern? Das er-klären Sie einmal den Eltern von Zwillingen. Dem Sinnund Zweck dieses Gesetzes entspricht es jedenfalls nicht;das stellt ja auch das Bundessozialgericht so fest.
Der Erhöhungsbetrag, der notwendig ist, ist zwar sehrschön, aber der Mehrlingsanspruch ersetzt nicht das El-terngeld als solches.Warum wird das so geregelt? Ich habe es schon in derersten Lesung so gesagt und ich möchte es hier noch ein-mal tun: Es sind reine Kostengründe, liebe Kolleginnenund Kollegen. Aus einem Antwortschreiben des Famili-enministeriums vom 6. August 2014 ergibt sich das ganzklar. Da heißt es nämlich: Die Einsparungen bei denMehrlingsgeburten sollen dazu dienen, den Partner-schaftsbonus zu finanzieren. – Den einen wird also et-was weggenommen, um es den anderen zu geben. So istes tatsächlich: Mehrausgaben in Höhe von 75 MillionenEuro bei den Partnermonaten stehen Einsparungen inHöhe von 100 Millionen Euro bei den Eltern von Mehr-lingen entgegen.Zur Teilzeit. Eltern müssen ihren Anspruch auf Teil-zeit – richtiger wäre es eigentlich, von Wunsch nachTeilzeit zu reden – dem Arbeitgeber 13 Wochen vor Teil-zeitbeginn mitteilen. Sie haben schon von der Fiktions-frist gesprochen, Frau Schwesig. Sie haben allerdingsnicht den Zeitraum benannt. Denn der Arbeitgeber hatdann wohlweislich acht Wochen Zeit, darauf zu reagie-ren; das ist diese Fiktionsfrist. Das heißt, die Eltern müs-sen ihren Anspruch anmelden, und dann können sie biszu acht Wochen warten, ob der Arbeitgeber sich rührt.Erst dann, wenn er innerhalb dieser acht Wochen nichtwidersprochen hat, gilt es als genehmigt. Wenn der Ar-beitgeber widerspricht, können die Eltern notfalls nochklagen.
– Acht Wochen sind es, lieber Paul. Bei Kindern, die äl-ter als drei Jahre sind, sind es acht Wochen. Ja, ich kennesogar die Gesetze, über die wir hier reden.
Für die Eltern ist es aufgrund der Länge dieser Fristganz schwierig, Planungssicherheit zu erlangen. Aberwarum das so ist, wurde im Ausschuss durch die SPD jaschon ausgeführt. Da hieß es nämlich – ich zitiere –, eshandele sich um ein wirtschaftsfreundliches Gesetz. –Eigentlich sollte es doch eher familienfreundlich sein.
Hier hätte die Regierung gestalten können. Die gestalte-rische Wirkung von Gesetzen, so schreibt Professor Wil-lutzki, ist nicht in Abrede zu stellen.Der Korridor für Alleinerziehende ist nach wie vor zueng, als dass diese vermehrt in den Genuss von Bonus-monaten kommen. Auch das wurde in der Anhörung sei-tens der Sachverständigen bemängelt.Und wo der große Unterschied zwischen „zwischen15 und 30 Wochenstunden“ und „nicht weniger als 15und nicht mehr als 30 Wochenstunden“ liegt, das mussmir mal einer erklären. Zwischen Elternzeitstunden oderArbeitsstunden von verheirateten oder zusammenleben-den Eltern auf der einen Seite und von Alleinerziehen-den auf der anderen Seite ist kein Vergleich zu ziehen.Wo ist denn jetzt der große Wurf, der das „Plus“ indiesem Gesetz verdient? Es gibt einige Verbesserungen,die wenige Familien treffen, aber kaum Verbesserungder Situation Alleinerziehender, keine Verbesserung fürFamilien im ALG-II-Bezug, Schlechterstellung vonMehrlingseltern, fehlende Planungssicherheit. Bei allemRespekt, liebe Kollegen: Allein wegen der Flexibilisie-rung kann meine Fraktion diesem Gesetz nicht zustim-men.Aber keine Sorge, jeder kriegt seine zweite Chance:Sie können alle die Versäumnisse beheben, indem Sieeinfach unserem Entschließungsantrag zustimmen, derall das korrigiert. Und die Welt ist wieder in Ordnung.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6009
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Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Marcus Weinberg,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Ich will gern das Historische aufgreifen. Auch wenn dieReichweite der Debatte, die wir vorhin geführt haben,mit der Reichweite der Debatte, die wir jetzt führen,nicht ganz übereinstimmt, wäre es doch interessant, sichals Historiker einmal zu überlegen: Wie haben sich inden letzten fünf oder sechs Jahrzehnten eigentlich dieWünsche der Familien verändert? Übrigens glaube ich,dass es da zwischen Leipzig, Berlin, Stendal, Hamburgund München keinen Unterschied gibt.Während in den 50er- und 60er-Jahren zunächst ein-mal der Wunsch nach einer Wohnung kam, dann derWunsch nach einer größeren Wohnung, nach einemAuto, nach einem Urlaub in Italien, im Laufe der Jahr-zehnte auch der Wunsch nach einem zweiten Auto, einerzweiten Waschmaschine, möglicherweise einem Com-puter, ist die Situation heute eine andere. Wer heutejunge Familien fragt: „Was ist Ihnen eigentlich wichtig?Was ist Ihr größter Schatz, Ihre Ressource?“, der hörtimmer häufiger: Zeit. – Zeit wird in Zukunft eine bedeu-tende Rolle für Familien spielen, weil sich viele jungeMütter und Väter sagen: Die Stunde, die ich heute nichtarbeite, kann ich eines Tages nachholen; aber die Mi-nute, die ich jetzt nicht mit meinem Kind verbringe, istverloren.
Deswegen gibt es diesen Wechsel bei den Paradigmen.Eltern sagen heute: Ich würde auf vieles verzichten,wenn ich mehr Zeit gemeinsam mit meiner Familie ver-bringen könnte.Ein Gedankengang bei der Entwicklung des Eltern-geldes war, dieser Veränderung Rechnung zu tragen. DasElterngeld als Vorläufer der heute zu diskutierendenWeiterentwicklung war ein Maßstab und, so glaube ich,auch ein Leuchtturm im Bereich der Familienpolitik.Wir haben in der damaligen Großen Koalition gesagt: Eswird wichtig sein, die erste Phase nach der Geburt einesKindes so zu gestalten, dass Familien Sicherheit haben,finanzielle Sicherheit haben, damit sie die Erwerbstätig-keit auf der einen Seite und die Zeit für die Familie aufder anderen Seite besser miteinander kombinieren kön-nen; es geht also um die Vereinbarkeit von Familie undBeruf.Dass dieses Elterngeld ein Erfolgsmodell war, siehtman an den Zahlen und daran, dass wir mittlerweiledeutlich über 5 Milliarden Euro jährlich für das Eltern-geld ausgeben. Dass mittlerweile auch mehr Väter dieMonate für den Partnerschaftsbonus in Anspruch neh-men, ist ebenfalls ein Indiz für den Erfolg. Im Übrigenwissen wir als Familienpolitiker, dass das Geld, das wirausgeben – demnächst möglicherweise bis zu 6 Milliar-den Euro –, andere erwirtschaften müssen. Daher bestehtfür uns die Verantwortung, mit den Geldern sachgerechtumzugehen, um den größtmöglichen Mehrwert und da-mit auch den größten gesellschaftlichen Nutzen zu erzie-len.
Bereits angesprochen wurde, dass sich die Lebensbe-dingungen immer weiterentwickeln. Gerade in den letz-ten Jahren beobachten wir zwei wesentliche Entwicklun-gen. Familienleitbilder, sowohl die gelebten als auch dieBewertungen dazu, haben sich verändert. Es gibt – daskann man monieren oder auch nicht, aber es ist Realitätin der Gesellschaft – Ehepaare mit Kindern, Alleinerzie-hende mit Kindern, nicht miteinander verheiratete Paaremit Kindern. Es besteht also eine größere Vielfalt. Dasist die eine große Veränderung, auf die wir reagierenmüssen, auch mit den Angeboten.Die zweite Entwicklung ergibt sich bei der Definitionder Rollenbilder oder Rollenkonstellationen im Rahmender Familienleitbilder. Es ist tatsächlich so, dass sich 60Prozent der Eltern wünschen, partnerschaftlich, gemein-sam mehr Zeit mit der Familie und für die Familie zuverbringen. Es ist so, dass 81 Prozent der jungen Men-schen mittlerweile der Ansicht sind, dass beide Eltern-teile gleichermaßen für das Familieneinkommen verant-wortlich sind. Es ist so, dass mehr junge Väter ihreArbeitszeit gern reduzieren wollen und mehr junge Müt-ter gern etwas mehr arbeiten wollen als derzeit. DieMenschen wollen also die Rollenbilder ändern, hin zumehr Partnerschaftlichkeit. Ich glaube, dass das Eltern-geld Plus jetzt genau die richtige Antwort auf diese Ent-wicklung ist.Wir als Union hielten es immer für richtig und habenes auch immer gesagt, dass wir die Familien in verschie-denen Lebensphasen und verschiedenen Lebenssituatio-nen mitnehmen und verlässliche Rahmenbedingungenschaffen müssen.
Dabei gelten für uns zwei Grundsätze:Erstens geht es uns darum, die Eigenverantwortungund die Selbstbestimmtheit der Familien zu achten undzu stärken. Bei jeder Diskussion heißt es ja: Sie habendas doch gelesen, beim Betreuungsgeld und bei den Ki-taplätzen wollen die Eltern gerne das und das. – Das zubewerten steht uns nicht zu. Wir müssen Familien stär-ken. Und das heißt, zuerst kommen die Eltern und dieFamilie, und dann kann man überlegen, an welcherStelle der Staat möglicherweise eingreifen kann. Aberim engeren Sinne gilt: Unser Blick richtet sich auf dieFamilien.Das heißt zweitens für uns auch, dass wir Vertrauenhaben müssen, dass Familien richtige Entscheidungentreffen. In den Fällen, in denen das nicht der Fall ist,wird der Staat auch eingreifen. Aber zunächst einmalsollten wir positiv auf Familien zugehen und ihnen Ver-trauen entgegenbringen.
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6010 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Marcus Weinberg
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In dem Elterngeld Plus sind vier Komponenten alszentrale Punkte zur Weiterentwicklung aufgenommen.Die erste ist die Flexibilisierung bei der Zeit, damitman zum Beispiel selbstbestimmt sagen kann: In meinerjetzigen besonderen Familiensituation kombiniere ichdas Basiselterngeld mit dem Elterngeld Plus. – Ichmöchte früher wieder in den Beruf zurückkehren. – Ichmöchte länger Teilzeit arbeiten. – Ich möchte mein Kindlänger betreuen. – Das ist also in einem engeren Sinneeine Flexibilisierung der Möglichkeiten.Zweitens – das wurde angesprochen –: Wenn Partner-schaftlichkeit gewünscht wird, dann muss man sie auchfördern. Das geschieht mit dieser Regelung, nach der El-tern pro Woche 25 bis 30 Stunden parallel arbeiten kön-nen. Das muss man natürlich nicht in Anspruch nehmen,aber wenn die Eltern es wollen, dann ist das auch eineChance für – weitestgehend – junge Männer, tatsächlichmehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Das ist,glaube ich, eine gute Gelegenheit, um das traditionelleBild der Familien wiederherzuleiten. Kollege Wunderlich,das muss in diesem Rahmen passieren. Denn aktuell ar-beiten Mütter im Durchschnitt 16 Stunden pro Woche,Väter knapp über 40 Stunden. Wenn man, wie Sie esvorgeschlagen haben, diesen Rahmen wieder erweitert,dann bleibt es doch bei der alten Struktur: Die Mütter ar-beiten ein bisschen; die Väter arbeiten ganztags. Deswe-gen haben wir uns klugerweise auf diese 25 bis 30 Stun-den geeinigt.
Die Flexibilisierung der Elternzeit – das ist die dritteKomponente – wurde schon angesprochen. Das mussman in der Konsequenz auch anbieten. In welcher Formdas in besonderen Situationen in Anspruch genommenwird, bleibt sicherlich offen. Ich will nur an die Situationder Trennung der Eltern erinnern. In diesem Fall ist esmöglicherweise gut, wenn die Möglichkeit besteht, dassein Elternteil noch Elternzeit nehmen kann, damit einerbesonderen Situation mit besonderen Auswirkungen fürdas Kind begegnet werden kann.Die Regelung zu den Mehrlingsgeburten – das ist dievierte Komponente – haben wir häufig diskutiert, Kol-lege Wunderlich. Dazu sage ich noch einmal: Das El-terngeld ist eine Lohnersatzleistung. Kindergeld bekom-men die Eltern für jedes Kind. Aber das Elterngeld isteine Lohnersatzleistung und kann sich deshalb nichtnach der Anzahl der Kinder richten. Das wäre nicht nursystemfremd, das wäre auch unlogisch.
Es liegen drei wesentliche Änderungsanträge vor, diebereits angesprochen worden sind.Erstens wurde richtigerweise die Feststellung getrof-fen, dass es natürlich nicht sein kann, dass wir zwischenAlleinerziehenden mit alleinigem Sorgerecht und Allein-erziehenden mit gemeinsamem Sorgerecht differenzie-ren. Deshalb haben wir nach den Diskussionen undGesprächen – auch im Nachgang zur Anhörung – ent-schieden, diese Regelung zu verändern. Das war einegute und richtige Entscheidung für den Bereich der Al-leinerziehenden.Zweitens. Die Regelung zur Zustimmungsfiktion er-leichtert – das stellt man auch fest, wenn man die heutigeStruktur einer Struktur mit der Zustimmungsfiktion ge-genüberstellt – die bürokratischen Abläufe: Wenn in vierbzw. in acht Wochen niemand widerspricht, gilt das alsgenehmigt. Jetzt gibt es ein sehr kompliziertes Verfah-ren, das teilweise auch ein Problem für die Arbeitgeberdarstellt. Diese Regelung ist, glaube ich, im Sinne einerVereinfachung gut und wichtig. Festzuhalten ist auch:Das bedeutet keine rechtliche Schlechterstellung der Ar-beitgeber.Der dritte Punkt betrifft den Bereich der Wirtschaft.Wenn wir festlegen, dass die Elternzeit in drei Blöckeeingeteilt werden kann, dann muss auch berücksichtigtwerden, inwieweit das gegenüber dem Arbeitgeber nochvertretbar ist. Er muss ja auch Planungssicherheit haben.Er muss ja auch wissen, wie es zukünftig in seinem klei-nen mittelständischen Betrieb aussieht. Deshalb ist es,glaube ich, richtig, dass wir die Regelung implementierthaben, dass der Arbeitgeber das Recht hat, einen drittenBlock der Elternzeit aus betrieblichen Gründen abzuleh-nen. Damit haben wir sowohl den Wünschen der Arbeit-geber als auch gesellschaftlichen Veränderungen Rech-nung getragen. Das war gut und richtig.Zum Schluss möchte ich noch etwas zur Akzeptanzvon Familienpolitik und auch von Leistungen der Fami-lienpolitik sagen. Wir sollten immer sehen, dass das, waswir investieren, was wir für die Familien tun, auch ir-gendwo herkommen muss. Noch einmal: Es gibt Leucht-türme in der Familienpolitik der letzten acht, neun Jahre,die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-land zuvor nicht gegeben hat. Ich nenne den gesamtenBereich des Ausbaus der Kindertagesbetreuung – jetztmit der neuen Stufe der Qualitätssicherung –, den ge-samten Bereich der Elternzeit und auch die Frage, wieflexibel Familienzeiten gestaltet werden können. Dasmuss aber auch für die Wirtschaft machbar und mit derwirtschaftlichen Entwicklung kombinierbar sein. Vordiesem Hintergrund war es für uns immer wichtig, klarzu sagen: Wir wollen keine arbeitsgerechte Familien-welt, sondern eine familiengerechte Arbeitswelt. Aberdas alles muss mit der Wirtschaft abgestimmt werden,und die Wirtschaft muss auch unterstützt werden.Es ist gut für die Unternehmen und den Standort,wenn Teilzeitwünsche stärker berücksichtigt werden;denn früher sind Frauen und Männer teilweise gar nichtoder erst nach Jahren in den Beruf zurückgekehrt. Jetztkönnen die Unternehmen die Fachkräfte über diese Teil-zeitregelung behalten. Es ist ja eines der Hauptziele desElterngeldes, dass Fachkräfte, die ja benötigt werden,dem Betrieb erhalten bleiben. Das Gute für diese Fach-kräfte ist wiederum, dass sie in der Frage der Vereinbar-keit von Erwerbstätigkeit und Familienzeit eine bessereMöglichkeit der Einteilung bzw. Flexibilisierung haben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6011
Marcus Weinberg
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Das Ganze ist ein Standortfaktor für Unternehmen undfür Deutschland; denn – so könnte man einfach sagen –zufriedene Arbeitnehmer sind auch gute Arbeitnehmer.Es muss gelingen, die Probleme der jungen Familien zuberücksichtigen.In der Debatte, die momentan geführt wird, hören Sieimmer wieder die Frage: Wie schaffe ich es, das mitei-nander zu verbinden? Die Arbeitgeber sollten das durch-aus positiv sehen und aufgreifen; denn es ist ein Stand-ortfaktor. Dort, wo Betriebskindergärten existieren, woArbeitgeber sich im Sinne der Familienförderung umihre Mitarbeiter bemühen, werden schneller Fachkräftegewonnen, als wenn das nicht der Fall ist.Ich freue mich sehr, dass wir heute das ElterngeldPlus verabschieden, eine gute und richtige Maßnahmefür die Familien, eine gute und richtige Maßnahme füruns in Deutschland. Um auf den historischen Kontext zukommen: Ich glaube, damit kommen wir den neuenWünschen junger Familien nach. Das ist auch unsereAufgabe.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen spricht jetzt Dr. Franziska Brantner.
Liebe Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Damen und Herren auf der Tribüne! Ich würdegerne den Blick – heute Morgen haben wir ihn zurückge-wandt – nach vorne richten und fragen: Wenn in 25 Jah-ren hier die dann 25- oder 26-Jährigen sitzen, was wer-den sie uns sagen? Wie sind sie aufgewachsen? Hattenihre Eltern genügend Zeit für sie, oder hatten sie nichtgenügend Zeit für sie? Ich glaube, das ist der historischeMaßstab, nach dem wir uns heute in dieser Debatte zurichten haben.
Frau Schwesig, Sie gehen mit Ihrem Gesetz in dierichtige Richtung. Die Schritte sind richtig; aber leidergehen Sie nur den halben Weg. Sie nehmen auf diesemWeg keineswegs alle Kinder und ihre Eltern mit. Werseine Arbeitszeit nur um wenige Stunden reduziert, wirdbenachteiligt. Alleinerziehende werden es schwer haben,diesen starren Korridor von 25 bis 30 Wochenstundeneinzuhalten. Und das Elterngeld wird weiterhin voll aufdas ALG II angerechnet.Der vorliegende Gesetzentwurf behebt richtigerweiseeinen Webfehler der alten Elterngeldregelung: Wenn El-tern sich das Elterngeld aufteilen und dabei in Teilzeitarbeiten, werden sie in Zukunft nicht mehr bestraft. Au-ßerdem – auch das finde ich wichtig – kann ein größererAnteil der Elternzeit in einer späteren Phase genutzt wer-den, wenn das Kind schon älter ist. Aufgrund dieser Ver-besserungen, die unserer Meinung nach in die richtigeRichtung gehen, werden wir dem Gesetz zustimmen.
Aber es ist eine verpasste Chance, wenn wir nur denhalben Weg gehen. In Ihrem Modell, Frau Schwesig,verstecken sich zwei gegensätzliche Anreize: Der Part-nerschaftsbonus setzt auf der einen Seite einen Anreizfür eine große Teilzeit. Er animiert vor allem Frauen– das haben Sie erwähnt –, mehr zu arbeiten. Auf der an-deren Seite lohnt sich in Ihrem Modell eine große Teil-zeit für diese Frauen auf Dauer nicht; denn dadurch kön-nen Eltern das Elterngeld nicht länger beziehen, auchwenn sie es tatsächlich weniger ausschöpfen als bei einerkleinen Teilzeit. Wenn sie Halbzeit arbeiten, bekommensie jetzt doppelt so lange Elterngeld, wenn sie ihre Ar-beitszeit nur um ein Viertel reduzieren, aber auch nurdoppelt so lange. Das ist doch eindeutig ein Anreiz, nurHalbzeit zu arbeiten und auf eine große Teilzeit zu ver-zichten.
Außerdem nehmen Sie nicht alle mit: Für Alleinerzie-hende mit Kind wird es schwierig sein, den engen Korri-dor von 25 bis 30 Wochenstunden Arbeitszeit einzuhal-ten, um zusätzlich vier Monate Elterngeld zu erhalten.Das haben uns auch alle Sachverständigen in der Anhö-rung so bestätigt. Es wird schwierig sein, gerade wennman mehr als ein Kind hat und alleinerziehend ist, die-sen Korridor zu schaffen.Deswegen schlagen wir Grüne ein Modell vor, das El-tern ermöglicht, den Bezug von Elterngeld wirklich fle-xibel zu gestalten und über einen längeren Zeitraum zustrecken; denn wenn eine Mutter oder ein Vater die Ar-beitszeit nur zu einem Viertel reduziert, sollten sie vier-mal so lange Elterngeld bekommen und sich damit auchZeit für eine spätere Lebensphase des Kindes aufsparenkönnen.In unserem grünen Modell muss sich eine alleinerzie-hende Mutter nicht an einen starren Korridor halten, son-dern sie kann schrittweise wieder in den Beruf einsteigenund kann sich dabei noch bis zum 14. Lebensjahr desKindes Zeit aufheben.
Der Achte Familienbericht, den wir nachher diskutie-ren, sagt nämlich eindeutig:Die zeitliche Begrenzung der Übertragbarkeit derElternzeit durch den Zeitpunkt der Vollendung desachten Lebensjahres ist sachlich unbegründet.Es gibt dafür keinen Grund, auch nicht zu einem späte-ren Zeitpunkt. Auch bei einem Wechsel auf eine weiter-führende Schule besteht Betreuungsaufwand. Außerdemwäre es eine Chance gewesen, die ALG-II-Empfängernicht mehr schlechter zu stellen und die Änderungen, dieunter Ministerin Schröder gemacht wurden, rückgängigzu machen.
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6012 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Dr. Franziska Brantner
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Erlauben Sie mir am Ende einen Kommentar zu demKitagipfel. Sie haben es selber angesprochen. Kitaquali-tät ist extrem wichtig. Für uns war der Gipfel gesternenttäuschend. Bei der Kitaqualität kann man eindeutigsagen: Ohne Moos nix los! Wenn Sie mit leeren Taschenkommen, dann wird es die Qualität nicht steigern. Ichappelliere an Sie – gestern sprach Herr Schäuble von10 Milliarden Euro als Investitionen in die Zukunft –:Kämpfen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, um mindestens 3 Milliarden Euro für die Kitas!Gibt es bessere Investitionen in die Zukunft als die inunsere Kinder?Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Sönke Rix, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Natürlich, liebe Grüne, mehr geht immer. Das ist garkeine Frage.
Was wir hier mit dem Elterngeld Plus machen, ist einweiterer wichtiger, großer und guter Schritt für eine Fa-milienarbeitszeit.
Ich finde es gut, dass hier Konsens besteht, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.Wenn wir schon dabei sind, darüber zu reden, wasKonsens im Haus ist und wie solche gesellschaftspoliti-schen und familienpolitischen Debatten normalerweisehier ablaufen, finde ich es begrüßenswert, dass wir hiermehr um das Wie als um das Ob diskutieren. Das ist beianderen gesellschaftspolitischen und familienpolitischenDebatten, die wir hier führen – Stichwort: Ehegatten-splitting, Betreuungsgeld usw. –, nicht immer der Fall.Deshalb bedanke ich mich, dass dieser Konsens zu denInstrumenten Elterngeld und Elternzeit schon über Jahrebesteht.
Das Elterngeld ist zuerst eine Idee gewesen vonRenate Schmidt zum Ende der Wahlperiode 2005 undhat dann seinen Weg in das Wahlprogramm der SPD ge-funden. Es ist in der Großen Koalition auf Zustimmunggestoßen. Wir haben gemeinsam beschlossen, das El-terngeld und die Elternzeit einzuführen. Frau von derLeyen hat das mit großem Einsatz und großer Begeiste-rung gemacht, aber nicht ohne ein weiteres Instrumentder Großen Koalition – das war sehr wichtig – auf denWeg zu bringen, nämlich den Ausbau von Betreuungs-plätzen. Das gehört nach wie vor zusammen, liebe Kol-leginnen und Kollegen.
Ich weise noch einmal darauf hin: Wir können mitdem Elterngeld und dem Elterngeld Plus nicht alleProbleme lösen, die Sie, Herr Wunderlich, zu Rechtangesprochen haben: Alleinerziehende, Familienarmut,Kinderarmut. Das Instrument des Elterngelds ist eineLohnersatzleistung. Alle sozialen Defizite, die wir ohneZweifel bei Familien haben, müssen wir mit anderen In-strumenten beheben. Hier haben wir noch viel vor uns,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es ist richtig, dass wir jetzt über ein Thema reden,was aber gar nicht so neu ist. Ich habe vor längerer Zeitmit einer Kollegin zusammengesessen, die vor, wie siesagte, gefühlten 20 Jahren – ich glaube ihr das nicht, eswaren vielleicht 15 Jahre – ein Netzwerk gegründet hat,bei dem es um Zeitpolitik ging. Sie hat gesagt: Jetzt,20 Jahre später, ist es en vogue. Es ist eine große gesell-schaftliche Debatte. In großen Wochenzeitungen und Ta-geszeitungen wird darüber diskutiert.Es ist eine Debatte, die sowohl auf der Arbeitnehmer-als auch auf der Arbeitgeberseite sehr offen geführtwird. Dass es eine breite und gute Diskussion zu diesemThema gibt, zeigt, wie notwendig es ist, nicht nur einensicheren Arbeitsplatz, ausreichend finanzielle Mittel fürdie Familie und Betreuungsplätze für die Kinder zu bie-ten – die Eltern wollen arbeiten und brauchen deshalbBetreuungsplätze –, sondern auch die Möglichkeit zu er-öffnen, Zeit für die Familie zu haben. Es hat schon einegroße Dimension, das anzuerkennen.Meine Worte sind vielleicht auch eine Replik auf das,was Herr Gysi vorhin so wohlwollend über die DDR ge-sagt hat: Da waren immer ausreichend Betreuungsplätzevorhanden. – Aber das war ein anderes System. Es warja leider so: Weil gearbeitet werden musste, gab es eben-diese Plätze. Ich finde den Gedanken wichtig, Zeit mitder Familie zu verbringen – also nicht einfach nur dieKinder in der Zeit, in der man dem System zur Verfü-gung stehen muss, unterzubringen. Ich finde es gut, dasswir das mit dem Instrument des Elterngelds nach wie vorermöglichen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Was wir jetzt machen, ist, dass wir die Partnerschaft-lichkeit noch einmal erweitern. Denjenigen, die sich zumehr Partnerschaftlichkeit bereit erklären, also sich da-für entscheiden, dass nicht nur ein Elternteil die Betreu-ung übernimmt – meistens, aber nicht immer ist es dieMutter –, bieten wir jetzt die Möglichkeit, die Zeit derPartnerschaftlichkeit und des Bezugs von Elterngeld zuverlängern.Das Zweite ist: Wir gestalten es flexibler. Denn eswird zu Recht angemerkt: Die Zeit mit Kindern umfassteben nicht nur die ersten drei Lebensjahre des Kindesoder die Zeit, in der das Kind in die Kindertagesstättegeht; es gibt auch die Zeit der Einschulung, die Zeit der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6013
Sönke Rix
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ersten Jahre in der Grundschule und andere Zeiten, indenen das Kind vielleicht einer gezielten Betreuung be-darf und man mehr Zeit mit ihm verbringen möchte.Deshalb finde ich es gut, dass wir einen Bezug bis zumachten Lebensjahr ermöglichen und damit sogar weitergehen, als es die Linkspartei gefordert hat.
– Ja, genau: Es ist erstaunlich, dass wir auch mal weitergehen als die Linkspartei, Herr Wunderlich.Ich komme tatsächlich noch einmal zu Ihnen, HerrWunderlich, nämlich zu Ihrer Kritik daran, dass der Kol-lege Felgentreu in der Debatte im Ausschuss gesagt hat,das sei auch ein Gesetz für die Wirtschaft, also ein wirt-schaftsfreundliches Gesetz. Ist das denn so schlimm? Istes denn wirklich so schlimm, wenn das Gesetz auch fürden Arbeitsmarkt und für die Unternehmen gut ist, weilihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zufriedensind? Ich frage mich, warum ein Gegensatz zu denenaufgebaut wird, die sagen: Ich brauche gut ausgebildeteFachkräfte, die zufrieden sind, die nicht immer unterdem Druck stehen, es irgendwie hinzubekommen, mehrZeit für die Familie zu haben. – Herr Wunderlich, ichfinde, wir sollten diesen Gegensatz gar nicht erst auf-bauen.
Mich wundert, dass Herr Pols heute nicht da ist. Be-stellen Sie ihm schöne Grüße! Er war derjenige, der beider Anhörung insbesondere auf die Situation von Klein-betrieben aufmerksam gemacht hat und die Frage aufge-bracht hat, was eigentlich ist, wenn es betrieblich absolutnicht geht. Da haben wir jetzt mit unserem Änderungs-antrag eine Regelung gefunden. Wir wollen den Arbeit-gebern aber kein Einspruchs- oder Widerspruchsrechtgeben; wir wissen auch, dass die Hürden hinsichtlich be-trieblicher Gründe sehr hoch sind. Was wir wollen, ist,dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber miteinander ins Ge-spräch kommen, damit es zu einem Konsens kommt. Sostellen wir sicher, dass die Zufriedenheit des Arbeitneh-mers nicht schwindet, nur weil er Angst hat, er könntemit seinem Wunsch nach Elternzeit beim Arbeitgeberauflaufen. Wir haben mit dieser Regelung unseren Wil-len zum Konsens ausgedrückt.
Ich bin froh, dass wir hier heute darüber beraten, wel-che Änderungen wir bei diesem Gesetz noch vornehmenkönnen, dass wir also nicht über das Ob, sondern überdas Wie diskutieren. Ich bin froh, dass wir das Gesetznahezu einstimmig beschließen werden. Denn es istwirklich ein gutes Gesetz; es hat eine große Zustimmungwirklich verdient.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Katja Dörner,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Mit dem Elterngeld Plus wird tatsäch-lich eine Gerechtigkeitslücke geschlossen – das sehenwir auch so –, die für eine Gruppe von Eltern relevantist, nämlich für diejenigen, die schon relativ kurz nachder Geburt ihres Kindes wieder Teilzeit arbeiten wollen.Dieser Webfehler im alten Gesetz, der dazu führte, dassdiese Eltern in der Summe weniger Elterngeld bekamenals diejenigen, die ihren Alltag anders gestalteten, istwirklich überhaupt nicht nachzuvollziehen. Insofernwerden wir zustimmen. Wir selbst haben lange gefor-dert, dass diese Gerechtigkeitslücke geschlossen wird.Deshalb ist es selbstverständlich – das ist der Kern die-ses Gesetzes –, dass wir auch zustimmen werden.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie können sichvorstellen, dass es jetzt leider mit einem großen Aberweitergeht.
Begeistert sind wir von diesem Gesetzentwurf nämlichmitnichten. An einigen Stellen wurde schon angespro-chen, dass eine ganz große Gerechtigkeitslücke in die-sem Gesetzentwurf bleibt, nämlich die Anrechnung desElterngeldes im ALG II. Gerade die Eltern, die eine fi-nanzielle Unterstützung besonders nötig haben, werdenweiterhin vom Elterngeldbezug faktisch ausgeschlossen.Das ist eine riesige Gerechtigkeitslücke, die weiterhinunbearbeitet bleibt.Zu dieser ganz strikten Argumentation, das sei eineLohnersatzleistung, muss ich sagen: Das Elterngeld istausdrücklich nicht allein als Lohnersatzleistung einge-führt worden,
sondern wir haben immer gesagt, es müsse für alle Fami-lien, also auch für arme Familien und für Familien imALG-II-Bezug, diesen Schonraum von mindestens ei-nem Jahr geben.Das Elterngeld hat an das Erziehungsgeld angeschlos-sen, das eine ganz andere Struktur hat. Ich finde es im-mer noch gut, dass man das umgestellt hat; das warzweifelsfrei richtig. Aber dass wir jetzt am Ende derStrecke da landen, dass die Anrechnung des Elterngeldesbeim ALG II das Einzige ist, was vom damals so großangekündigten Sparpaket der schwarz-gelben Regierungübrig bleibt, ist eine riesige Gerechtigkeitslücke. Ichhätte mir wirklich gewünscht, dass die Koalition dieKraft gefunden hätte, das an dieser Stelle zu beheben.Deshalb bleibt das Gesetz zum Elterngeld weiterhin un-befriedigend.
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6014 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Katja Dörner
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein gutes Jahr nachder Bundestagswahl verstärkt sich der Eindruck, dass dieFamilienministerin zwar gute kleine Schritte geht, diegroßen Herausforderungen aber geflissentlich ignoriert.Wir haben unlängst die Ergebnisse der Evaluation derehe- und familienbezogenen Leistungen vorgelegt be-kommen. Wir wissen, dass in der Ehe- und Familien-förderung Milliarden ausgegeben werden, die zentralefamilienpolitische Zielsetzungen – beispielsweise Ar-mutsprävention, materielle Stabilität von Familien,Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie partner-schaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienar-beit – gerade nicht fördern, sondern ihnen sogar zuwi-derlaufen. Das haben wir mittlerweile schwarz auf weiß.Und was passiert? Wir müssen leider sagen: Es passiertnichts. Auch das ist aus unserer Sicht ausgesprochen un-befriedigend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern hat der Ki-tagipfel stattgefunden; das hat die Ministerin auch ange-sprochen. Zukünftig soll es einheitliche Qualitätsstan-dards geben. Das finden wir gut und richtig. Aber dieFamilienministerin ist mit leeren Händen zu diesem Gip-fel gefahren. Ich habe die große Sorge, dass eben diedringend notwendigen Qualitätsverbesserungen in denKitas nicht nur jetzt auf die lange Bank geschoben wer-den, sondern dass die Finanzierung allein an den Län-dern und den Kommunen hängen bleibt, weil der Bundnicht bereit ist, sich stärker zu engagieren. Das, findenwir, darf auf keinen Fall der Plan für die nächsten Jahresein. Der Bund muss deutlich mehr für die Kitas tun undda mehr investieren. Auch das ist eine zentrale Fragevon besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern war der Ki-tagipfel, vorgestern konnten wir in der Zeitung lesen,dass das Betreuungsgeld ein Rohrkrepierer ist,
der fast im gesamten Bundesgebiet von den Eltern garnicht nachgefragt wird. Die Bundesregierung sollte end-lich ein Einsehen haben. Wir haben in der letzten Legis-laturperiode lange Diskussionen zum Betreuungsgeldgeführt. Es sprach schon immer alles gegen das Betreu-ungsgeld. Es wurde wider alle Vernunft eingeführt. Jetztzeigt sich überall in der Republik, dass in der Breite dieEltern diese Leistung gar nicht haben wollen. Deshalbmein Appell: Halten Sie nicht an diesem unsinnigen Be-treuungsgeld fest. Die vorgesehene Milliarde wäre inden Kitas deutlich besser aufgehoben.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir hatten eineLegislaturperiode unter Schwarz-Gelb, in der familien-politisch so gut wie alles in die falsche Richtung gelau-fen ist. Wir können uns jetzt keine Legislaturperiodeleisten, in der wir nur in Trippelschritten vorankommen.Wir stimmen heute einem richtigen Schritt zu. Aberwenn wir wirklich etwas für die Kinder und Familien inunserem Land tun wollen, dann muss in den nächstenJahren deutlich mehr kommen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner für die CDU/CSU-
Fraktion ist der Kollege Paul Lehrieder.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe KolleginBrantner, Sie haben vorhin Bezug auf die Gedenkstundeheute Morgen genommen und gefragt, ob wir in 25 Jah-ren auch eine Gedenkstunde mit Blick auf das Elterngeldfeiern. Ich weiß nicht, ob das Elterngeld Plus in 25 Jah-ren mit so einem großen Aufwand gefeiert wird wieheute die deutsche Einheit.
In 25 Jahren wird man aber darauf hinweisen, dass dieseRegierung kraftvoll auf die Veränderungen in der Gesell-schaft reagiert hat, indem sie unter anderem das Eltern-geld Plus auf den Weg gebracht hat.Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, die Grünenheute bedingungslos zu loben, Frau Kollegin Dörner,aber das, was Sie zum Schluss über das Betreuungsgeldgesagt haben, provoziert eine Richtigstellung.Es gibt natürlich Länder, in denen durch die Aufklä-rung der Eltern eine Inanspruchnahmequote von 70 Pro-zent erreicht werden konnte, zum Beispiel in Bayern. Esgibt andere Länder – ich glaube, Mecklenburg-Vorpom-mern, Frau Ministerin –, in denen die Inanspruchnahme-quote bei etwa 15 Prozent liegt. Ich wünsche mir, dassdie Eltern in Mecklenburg-Vorpommern, die zu Hauseerziehen wollen, noch etwas stärker auf die Möglichkeitdes Betreuungsgeldes hingewiesen werden. Dann wer-den es auch dort 50, 60 oder 70 Prozent der Eltern in An-spruch nehmen. Davon bin ich überzeugt.
– Bitte? Stellen Sie eine Zwischenfrage, sonst läuftmeine Zeit weiter, Herr Wunderlich.Es ist richtig – meine Vorredner haben bereits daraufhingewiesen –: Umfragen zufolge wünschen sich diemeisten Eltern mehr Zeit für ihren Nachwuchs. Doch lei-der ist der Vater, der oft erst dann nach Hause kommt,wenn die Kleinen schon schlafen, in vielen FamilienRealität. Auf der einen Seite möchten die Väter gernmehr Zeit mit ihren Kindern verbringen und aktiv an derErziehung teilhaben, auf der anderen Seite befürchtensie jedoch einen Karriereknick und schrecken deshalboft vor Teil- und Elternzeit zurück. Sie haben die Sorge,
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dass eine längere Auszeit oder ein Wechsel in Teilzeitbei ihrem Chef und im Kollegenkreis nicht gut an-kommt.Laut einer repräsentativen forsa-Studie mit dem Titel„Väter 2014 – zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ be-fürchten immerhin 41 Prozent der abhängig beschäftig-ten Väter, dass sich die Elternzeit sehr oder eher negativauf ihre Karriere auswirken könnte, und verzichten da-her auf Familienzeit. Der Verdienstausfall des Haupter-nährers mag ein weiterer Grund dafür sein, dass sich bis-lang nur wenige Männer mehr als zwei Partnermonateder Elternzeit genehmigen.Liebe Frau Kollegin Dörner, unbeschadet der Inan-spruchnahmequote beim Betreuungsgeld von 70 Prozentist die Inanspruchnahmequote bei den Vätermonaten inBayern, gerade in Unterfranken, überdurchschnittlichhoch. Das heißt also: Wir können auch Familienpolitik.
– Bitte?
– Frau Kollegin, die Oberfranken sind nicht schlecht,aber an der Spitze dürfte Unterfranken stehen. Wir müss-ten einen Faktencheck machen; dann kann ich Ihnen dasnächste Woche gerne sagen.Weil Frauen im Schnitt weniger verdienen als Män-ner, entfällt der Großteil der bezahlten Elternzeit häufigauf die Mütter. Diese wiederum würden oftmals gernestärker in ihren Job eingebunden sein; auch darauf wurdevon den Vorrednern ausführlich hingewiesen.Das Elterngeld, das zum 1. Januar 2007 von unsererdamaligen Bundesfamilienministerin Frau Dr. Ursulavon der Leyen eingeführt wurde, war die erste wichtigeMaßnahme, um diese Aufteilung zu ändern. Besondersfür besserverdienende Väter war es bis zum Stichtag2007 nicht wirklich eine Option, zugunsten des Babysauf ihr Gehalt zu verzichten. Erst die Zahlung von min-destens 65 Prozent vom Netto- bzw. seit 2013 vom Brut-togehalt setzte einen attraktiven Anreiz, sich finanziellabgesichert um den Nachwuchs zu kümmern.Beim alten Erziehungsgeld konnte der Elternteil, dersich vorwiegend um das Kind kümmert, für 24 Monate300 Euro oder alternativ für zwölf Monate 450 Euro Un-terstützung beantragen. Voraussetzung war auch damals,eine Teilzeitarbeit von maximal 30 Stunden pro Wocheund das Einhalten bestimmter Einkommensgrenzen.Noch einmal, Herr Kollege Wunderlich: Das neue El-terngeld ist eine Lohnersatzleistung, konzipiert für denAusfall des Einkommens. Es geht nicht darum, eine Er-höhung der Anzahl der Geburten zu erreichen. Das istder Unterschied zum vorherigen Erziehungsgeld.Umfangreiche Evaluierungen haben die positivenWirkungen des Elterngeldes bewiesen. Ich weiß, dassSie im Herzen liebend gern unserem guten Gesetzent-wurf zustimmen würden, dass Sie das aber aus dogmati-schen Gründen leider nicht machen können, Herr Kol-lege Wunderlich.
– Das habe ich Ihrer Rede zwischen den Zeilen entneh-men können.Mit der von den Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftlern ausdrücklich empfohlenen Weiterentwick-lung des Elterngeldes haben Eltern künftig noch mehrEntscheidungsfreiheit bei der Ausgestaltung ihrer Le-bens- und Berufswünsche.
Herr Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Wunderlich?
Ich bitte darum.
Bitte schön.
Es gibt einzelne gute Gründe dafür, dieses Gesetz gut-
zuheißen, es gibt aber auch einzelne gute Gründe, dieses
Gesetz abzulehnen. In der Gesamtschau aber kann man
ihm nicht zustimmen.
Wenn Sie mir jetzt, lieber Kollege Lehrieder, an die-
ser Stelle erklären können, wie eine alleinerziehende
Mutter, die nach Auskunft des Familienministeriums im
Durchschnitt 7 Stunden pro Woche arbeitet, diese Stun-
denzahl auf 15 Stunden reduzieren soll, dann überlege
ich mir, ob ich nicht doch zustimme. Wie reduziert man
7 Stunden auf 15 Stunden?
Da ist keine Reduzierung, sondern allenfalls eineAufstockung möglich. Das ist mit der Erziehung desKindes aber sicherlich nicht kompatibel. Wir werden unsgerade die Auswirkungen auf Alleinerziehende an-schauen müssen; das wurde auch in der Anhörung the-matisiert. Wir müssen schauen, ob und inwieweit esauch für die alleinerziehende Mutter, die in Teilzeit be-rufstätig ist, eine Möglichkeit gibt, diese Leistung zu er-halten, wenn sie ihre Arbeitszeit reduziert. Ich verweiseda auf das Struck’sche Prinzip des Gesetzgebungsver-fahrens: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie esreingekommen ist. – Wir werden die Auswirkungen die-ses Gesetzes in den Blick nehmen und schauen, ob fürbestimmte Personengruppen, die möglicherweise nochnicht ausreichend berücksichtigt wurden, Veränderungenerforderlich sind.
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Paul Lehrieder
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Lieber Kollege Wunderlich, Sie können sehen, dasswir im Gesetzgebungsverfahren auf Änderungsbedarfmit Blick auf den sogenannten doppelten Anspruchsver-brauch reagiert haben.
Nach der bisherigen Regelung war es so, dass die vollenElterngeldmonate verbraucht worden sind, selbst wennman Teilzeit gearbeitet hat. Wir haben gesagt: Jawohl,der Zeitraum muss verdoppelt werden, wenn ich Teilzeitin Anspruch nehme.Von daher sage ich: Wir haben reagiert. Das ursprüng-liche Elterngeldgesetz ist mittlerweile acht Jahre alt. Wirhaben gesagt: Jawohl, das Gesetz muss verbessert wer-den. Ich schließe nicht aus, dass das eine oder anderenoch geschwind nachgebessert werden muss.Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Vorrednerhaben bereits einige positive Aspekte des Elterngeldesangeführt. Das geplante Gesetz zur Einführung des El-terngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexi-blen Elternzeit, soll, wie bereits ausgeführt, Eltern dieVereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen, undzwar auf partnerschaftliche Weise. Es sorgt für neue Ge-staltungsmöglichkeiten und mehr Flexibilität im Alltag;denn zukünftig sollen Eltern das Elterngeld Plus beigleichzeitiger Teilzeitarbeit doppelt so lange nutzen kön-nen wie nach der bisherigen Regelung.Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir darüberdiskutiert haben, ob die dreimalige Inanspruchnahmevon Elternzeit, also die Inanspruchnahme von Elternzeitzu verschiedenen Zeiten, der Wirtschaft zuzumuten ist,ob das insbesondere den kleinen und mittelständischenUnternehmen und Handwerksbetrieben zuzumuten ist.Ich glaube, hochmotivierte und gute Arbeitskräfte sindin dieser Zeit, in der wir über Fachkräftemangel reden,auch für den kleinen Handwerksbetrieb von großemWert. Viele dieser kleinen Handwerksbetriebe handelnübrigens schon jetzt, bevor wir diesen Gesetzentwurfverabschiedet haben, mit ihren Arbeitnehmern in denverschiedenen Bereichen entgegenkommende Regelun-gen aus, um ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Fa-milie zu ermöglichen. Ein großes Kompliment an denHandwerksmeister, der seinen Mitarbeitern schon jetztTeilzeit anbietet, um die Betreuung von kleinen Kindernzu ermöglichen.Wir wollen, dass das bis zum achten Lebensjahr mög-lich ist. Der Kollege Weinberg hat darauf hingewiesen,dass es Situationen gibt, die man nicht planen kann. Manweiß, dass das Kind mit sechs Jahren in die Schulekommt. Mit Blick darauf kann man eine Reduzierungder Arbeitszeit planen. Bei einem Schicksalsschlag odereiner Trennung der Eltern sieht das anders aus. Es kannsein, dass man in solchen Zeiten etwas weniger arbeitenmöchte, um sich gezielt um die Erziehung der Kinderkümmern zu können. Ich glaube, dass wir mit der Rege-lung bis zum 8. Lebensjahr des Kindes einen gutenKompromiss gefunden haben. Eine Regelung bis zum14. Lebensjahr des Kindes wäre meiner Ansicht nach et-was arg weitgehend.Ich habe mir erlaubt, einmal die Tarifverträge der ver-schiedenen Branchen durchzusehen. Sie enthalten schonjetzt familienfreundliche Regelungen: Angefangen beider Metallindustrie über den Einzelhandel und denGroßhandel bis zu den sozialen Einrichtungen gibt esschon sehr viele familienfreundliche Regelungen. Einegroße Klinik kümmert sich sogar um den Kinderkrippen-platz, um Betreuungsplätze und zahlt den Elternanteil anden Betreuungsplätzen. Es gibt also sehr positive Zei-chen. Wir unterstützen die Unternehmen in diesem Be-reich; denn wir sagen: Hochmotivierte, gute Mitarbeiter,die nach der Geburt eines Kindes Teilzeit im Unterneh-men arbeiten können und wollen, sind für das Unterneh-men ein Gewinn. Das ist keine Belastung für das Unter-nehmen, sondern ein Gewinn.
So sollten wir das kommunizieren.Ich will noch eines sagen: Mit der Einführung des El-terngeldes vor acht Jahren und mit der Schaffung zusätz-licher Kinderkrippenplätze wurde den Unternehmen dieMöglichkeit gegeben, qualifizierte Mitarbeiter, insbe-sondere Frauen, nach der Geburt eines Kindes einstellenzu können, ob in Teilzeit oder Vollzeit. Der Krippenaus-bau in den letzten acht Jahren war ein Wirtschaftspaketohnegleichen.Am Montagnachmittag werden wir in der Ausschussan-hörung über den qualitativen Krippenausbau debattieren.Ich freue mich auf die Fortsetzung der Diskussion.Ich hoffe, dass Sie heute Abend beizeiten zu Ihren Fa-milien kommen, trotz der unsicheren Verkehrslage heutein Deutschland. Ein schönes Wochenende! Ich freuemich auf ein Wiedersehen am Montag.Danke.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Bettina
Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dasswir heute einen Gesetzentwurf verabschieden, der jun-gen Eltern nicht nur die Wahlfreiheit und Flexibilität er-laubt, sondern auch einen großer Schritt hinsichtlich derVereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt. Denn ge-rade Flexibilität ist das, was auf der Wunschliste der El-tern ganz oben steht.Wir schaffen mit dem Gesetz zur Einführung desneuen Elterngeld Plus politische Rahmenbedingungen,mit denen wir ein wichtiges politisches Ziel unseres Ko-alitionsvertrages umsetzen, nämlich die Stärkung vonFamilien. Wir stärken die Familien, indem wir ihnennicht nur mehr Zeit miteinander ermöglichen, sondernauch dafür sorgen, dass Männer und Frauen ihre Aufga-
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Bettina Hornhues
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ben in Familie und Beruf partnerschaftlich wahrnehmenund aufteilen können. Denn in einer immer schnellerwerdenden Welt, in der Zeit im Allgemeinen eineknappe Ressource ist, plädieren wir für mehr Zeit, diewir vor allem im Alltag mit unseren Familien verbringenkönnen. Das Elterngeld Plus eröffnet genau dieseChance.Dies ist diejenige Art von Politik, die nah dran ist anden Wünschen und Bedürfnissen der heutigen Gesell-schaft im Allgemeinen und an jenen der jungen Elternim Besonderen. Ich freue mich daher sehr, dass unsereForderung nach einer Weiterentwicklung des Elterngel-des hin zum Elterngeld Plus nun umgesetzt und das El-terngeld Plus als eigenständige Gestaltungskomponenteeingeführt wird. Vor allem die Nutzungsmöglichkeit, dieElternzeit in Verbindung mit dem Elterngeld Plus zu-künftig zwischen dem dritten und dem vollendeten ach-ten Lebensjahr flexibel in Anspruch zu nehmen, sehe ichdaher als einen echten Beitrag zur Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf.Wenn ich von mehr Zeit für Familie spreche, wasmeine ich dann eigentlich mit Familienzeitpolitik? Wasversteht man unter diesem neuen Politikfeld? DerSchlüssel, um familienpolitische Ziele wie die Verein-barkeit von Familie und Beruf erreichen zu können, liegtfür uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einer mo-dernen Familienzeitpolitik. Familienzeitpolitik ist spä-testens seit dem Siebten Familienbericht der Bundes-regierung ein wichtiger Punkt auf der politischenAgenda. Auch der Achte Familienbericht, über den wirheute zu späterer Zeit noch debattieren werden, nimmtsich ganz und gar des Themas der Familienzeitpolitik an.Dabei werden hauptsächlich drei Kernkomponenten zu-sammengefasst:Erstens. Mehr Zeitsouveränität für Familien, das heißtdie selbstbestimmte Einteilung von Zeit als Ressource.Zweitens. Eine partnerschaftliche und damit gerechteVerteilung von Zeit bei Frauen und Männern, was auchzu mehr Chancengleichheit führt.Drittens. Die Verzahnung mit einer kommunalen Zeit-politik für Familien, beispielsweise durch die Abstim-mung von Öffnungszeiten der Behörden, Kitas usw.Der Forderung nach mehr Zeit für Familie folgt auchdie Flexibilisierung der Elternzeit, welche wir mit demvorliegenden Gesetzentwurf implementieren wollen.Nun haben wir bereits während der ersten Gesetzesle-sung Ende September die vielen positiven Effekte, diedas neue Elterngeld Plus mit sich bringt, hervorgehoben.Ich möchte nachfolgend aber noch einmal auf die Ziel-gruppe eingehen, die von dem neuen Elterngeld Plus be-sonders profitiert, nämlich Erwerbstätige in Teilzeit. DasElterngeld Plus haben wir schließlich für diejenigen El-tern entwickelt, die während des Elterngeldbezugs inTeilzeit arbeiten wollen.Die Vorteile liegen auf der Hand: Eltern, die nach derGeburt des Kindes in Teilzeit arbeiten gehen, könnendoppelt so lange vom Elterngeld profitieren. Der früheWiedereinstieg bringt zudem Vorteile, sowohl für dieWirtschaft als auch für die Erwerbstätigen. Der Arbeit-geber kann früher auf den Arbeitnehmer zugreifen undvon seiner Erfahrung im Unternehmen profitieren. DerErwerbstätige selbst bleibt auf dem aktuellen Stand beiden Anforderungen seines Arbeitsplatzes. Das Ausschei-den aus dem Berufsleben kann verhindert werden. Indiesem Punkt stimmen uns auch die Arbeitgeberver-bände zu. Auch sie sehen diesen Vorteil in dem vorlie-genden Gesetzesvorhaben.
Natürlich wäre da noch ein ganz wesentlicher Vorteil:Durch die verringerte Arbeitszeit bleibt mehr Freiraumfür die Familie. Dies ist sowohl für Väter als auch fürMütter ein wichtiger Aspekt.Für mich sind die neuen Gestaltungsmöglichkeiten,die sich durch das Elterngeld Plus ergeben, nicht nur eingelungener Beitrag für eine echte Wahlfreiheit, sondernvor allem eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch nocheinmal an die Wirtschaft appellieren: Familienfreund-lichkeit im Unternehmen darf nicht als Umstand gesehenwerden, sondern sollte als echter Wettbewerbsvorteil ge-nutzt werden.
Als Politik können wir noch so viele Maßnahmen undRahmenbedingungen schaffen: Dies alles nützt nichtsohne die Unterstützung der Wirtschaft. Familienpolitikverstehe ich auch als Wachstumsmotor für unsere Wirt-schaft.Ich richte mich hier mit zwei ganz konkreten Ideen andie Wirtschaft:Dies sind zum einen die Betriebskindergärten. VieleUnternehmen gehen hier schon mit positivem Beispielvoran, dem sich meiner Meinung nach aber noch vieleweitere Betriebe anschließen könnten. Ein Betriebskin-dergarten kann im Wettbewerb um die besten Fachkräfteein großer Pluspunkt sein, sich als Arbeitnehmer für die-ses Unternehmen zu entscheiden. Betriebskindergärtenermöglichen Eltern, frühzeitig an ihren Arbeitsplatz zu-rückzukehren.Zum anderen denke ich an die jungen Mütter, die zuBeginn der Familiengründung noch ohne Abschluss da-stehen. Bei den unter 25-jährigen Müttern sind es im-merhin über 50 Prozent, die keinen Berufsabschluss ha-ben. Es wäre daher doch sehr zu begrüßen, noch vieleweitere Unternehmen davon zu überzeugen, dass eineAusbildung in Teilzeit angeboten wird. Eine Ausbildungin Teilzeit absolvieren zu können, bietet jungen Erwach-senen mit Familienverantwortung eine echte Chance.Seit 2005 besteht die Option der Teilzeitausbildung;leider wird diese Möglichkeit aber bisher noch viel zuwenig genutzt. So wurden im Jahr 2012 nur 0,2 Prozentder Ausbildungsverträge in Teilzeit abgeschlossen. Da-bei liegen die Vorteile für die Betriebe doch auch hierauf der Hand: Die Betriebe erhalten engagierte Fach-kräfte, die durch ihre Familienverantwortung viel Orga-
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nisationsgeschick und Verantwortungsbewusstsein mit-bringen. Die Teilzeitausbildung lässt sich flexibel in denBetriebsablauf integrieren und kann vor allem kleinenBetrieben einen Einstieg in die Fachausbildung bieten,sollten finanzielle und zeitliche Kompetenzen für eineVollausbildung fehlen. Zudem zeichnet Familienfreund-lichkeit ein Unternehmen als attraktiven Arbeitgeberaus. Teilzeitausbildung bietet jungen Eltern und Allein-erziehenden eine wirkliche Chance, Berufsausbildungund Familie miteinander zu verbinden – ein Mehrwertnicht nur für die Wirtschaft, sondern für die gesamte Ge-sellschaft.Aber kommen wir wieder ganz konkret zurück zumElterngeld Plus. Kürzlich wurde ich bei einer Veranstal-tung darauf angesprochen, ob wir nicht in Bezug auf Fa-milienleistungen auch etwas für die Selbstständigen ma-chen könnten. An dieser Stelle möchte ich noch einmalbetonen: Auch Selbstständige können vom Leistungspa-ket des Elterngeld Plus profitieren; denn die Flexibilitätdes Elterngeld Plus bringt gerade für Selbstständige be-sondere Vorteile. Wenn Selbstständige in geringem Um-fang erwerbstätig sind oder nachlaufende Einkünfte ausihrer Tätigkeit vor der Geburt haben, profitieren sie wiealle anderen Eltern auch. Das Elterngeld ersetzt nur dentatsächlich ausfallenden Einkommensanteil. Mit einemElterngeld-Plus-Monat wird nur noch ein halber Monats-anspruch des Elterngeldes verbraucht statt wie bisher einganzer.Zusammenfassend bietet das Elterngeld Plus Fami-lien unabhängig davon, ob in selbstständiger oder nichtselbstständiger Arbeit, mehr Zeit mit der Familie, undermöglicht es durch einen frühen Wiedereinstieg in Teil-zeiterwerbstätigkeit den Eltern, Familie und Beruf untereinen Hut zu bringen.Dieses Gesetz zeigt, dass wir nicht nur die Arbeit derFrauen, sondern auch die Erziehungsleistung der Väterwertschätzen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einfüh-rung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus undeiner flexiblen Elternzeit im Bundeselterngeld- und El-ternzeitgesetz. Der Ausschuss für Familie, Senioren,Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 18/3086, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen18/2583 und 18/2625 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung derFraktion Die Linke angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD undBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 18/3090 ab. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungs-antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD undBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FraktionDie Linke abgelehnt.
– Ich höre, die Grünen haben sich beim Abstimmen ver-tan.
– Okay. Also, Sie hatten dafür gestimmt.
Wir wiederholen die Abstimmung. Wer stimmt fürdiesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist der Entschließungsantragmit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU undSPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent-haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen undJugend auf Drucksache 18/3086 fort.Tagesordnungspunkt 30 b. Der Ausschuss empfiehltunter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 18/2749 mit dem Titel „Echte Wahl-freiheit schaffen – Elterngeld flexibler gestalten“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU,der SPD und Die Linke gegen die Stimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Luise Amtsberg, Volker Beck
, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Förderung vonTransparenz und zum Diskriminierungsschutzvon Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern
Drucksache 18/3039Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussSportausschussFinanzausschuss
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6019
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für GesundheitFederführung strittigb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KarinBinder, Andrej Hunko, Caren Lay, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEGesellschaftliche Bedeutung von Whistle-blowing anerkennen – Hinweisgeberinnen undHinweisgeber schützenDrucksache 18/3043Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionFederführung strittigNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeHans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Zuhörerinnen undZuhörer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir legenheute einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der par-lamentarischen Gesellschaft in unserem Lande vor. Wirbringen den Entwurf für ein Whistleblowerschutzgesetzein.„Whistleblower“ ist das englische Wort für Hinweis-geber. Whistleblower sind Menschen, die aus Behördenoder Institutionen heraus auf Missstände hinweisen unddabei selber häufig nicht nur viel Ärger, sondern manch-mal auch sehr viel Schlimmeres riskieren.Glücklich das Land, das keine Whistleblowerbraucht! Deutschland gehört aber nicht dazu.
Wir haben eine jahrzehntelange Erfahrung mit Whistle-blowern. Ich kann nur sagen: Ohne den Steuerbeamtenaus Köln, der die illegale Parteienfinanzierung durch dieStaatsbürgerliche Vereinigung seinerzeit angezeigt undin die Öffentlichkeit gebracht hat, hätten wir vermutlichnoch heute eine solche illegale Parteienfinanzierung –um einmal beim Bundestag anzufangen.Ohne die Personen – sie riskieren häufig sehr viel –,die in den vergangenen Jahren CDs zur Verfügung ge-stellt haben, die Steuerdaten von Steuerflüchtlingen inder Schweiz und in Liechtenstein beinhalteten, hättenwir nicht nur in Bundes- und Länderkassen einige Hun-dert Millionen Euro weniger, sondern wir hätten auchkeine verbesserte Moral und hätten wahrscheinlich auchnicht die gestrige Debatte über das neue Gesetz zur Re-habilitierung von Steuersündern geführt.Wir leben davon, dass es Menschen gibt, für die derenpersönliche Interessen manchmal nicht so sehr im Vor-dergrund stehen wie die Hilfe für andere Menschen. Dasist nicht nur im großen staatlichen Bereich so, sonderndas ist auch bei Unternehmen so.Ohne den Kraftfahrer, der den Gammelfleischskandalaufgedeckt hat, indem er die Polizei alarmierte, hättenwir wahrscheinlich Vergiftungen durch vergammeltesFleisch erlitten. Ohne die Altenpflegerin, die die Miss-stände in einem Pflegeheim in Berlin mit 150 Insassenöffentlich gemacht hat – hier ging es um einen Mangelan Pflege und um Gesundheitsschäden, die die Insassenerlitten haben –, wäre dieser Zustand nicht beendet wor-den. Diese Whistleblowerin musste bis zum Europäi-schen Gerichtshof klagen, um ihr Recht zu bekommen,ihr Recht, so etwas im Interesse der Allgemeinheit undder einzelnen Menschen öffentlich machen zu können.Das darf in unserer Gesellschaft nicht sein.
Ohne Edward Snowden wüssten wir heute nicht, dasswir millionenfach abgeschöpft wurden, und wir wüsstennicht, was wir brauchen, um uns dagegen zu wehren;denn nur die Kenntnis darüber versetzt uns Einzelne,aber auch die Gesellschaft in die Lage, gegen solcheMissstände etwas zu tun.Vor einigen Wochen hat ein verdienter IT-Experte, derMann an der Seite von Edward Snowden, nämlich JacobAppelbaum aus den USA, hier am Brandenburger Torgesagt, er warte auf einen Whistleblower aus Deutsch-land, der sei dringend erforderlich. Dieser Forderungkönnen wir uns nur anschließen. Aber was können wireinem Whistleblower aus Deutschland an rechtlicher Si-cherheit bieten? Um ihm etwas bieten zu können, müs-sen wir ein solches Gesetz diskutieren und dieses Gesetzauch verabschieden.
Es geht also nicht nur darum, die Gesellschaft zuschützen, sondern es geht auch darum, Unternehmen undBehörden zu schützen. Auch diese können langfristigkein wohlverstandenes Interesse daran haben, dass Miss-stände, rechtswidrige Zustände oder möglicherweise so-gar die Begehung strafbarer Handlungen in ihrem Unter-nehmen oder in ihrer Behörde andauern. Deshalb ist einsolches Gesetz dringend erforderlich. Es wird etwa vonAmnesty International gefordert. Es wird von der Parla-mentarischen Versammlung des Europarats und anderenInstitutionen gefordert. Es wird in einer großen Petitionan den Deutschen Bundestag gefordert. Das ist auch einedringende Forderung des Europäischen Gerichtshofs,der das gerade in dem Fall Heinisch immer wieder be-tont hat. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.
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6020 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Hans-Christian Ströbele
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Wir könnten in Europa ein vorbildliches Land wer-den, wenn wir es schafften, ein solches Gesetz zu verab-schieden. Der Entwurf, den wir vorgelegt haben, beruhtauf drei Säulen. Wir wollen zum einen die Arbeitnehmerschützen, die an ihrem Arbeitsplatz Missstände entde-cken. Angenommen, ein Arbeitnehmer meldet Miss-stände zunächst beim Arbeitgeber oder an einer anderenStelle, aber es kommt keine Reaktion. Dann stellt er fest,dass nicht nur keine Abhilfe geschaffen wird, sonderndass es auch Gefahren für Leib und Leben, Freiheit,
Umwelt, Finanzplatzstabilität und Ähnliches gibt. Dannkann er sagen: Ich melde das einer Stelle außerhalb mei-ner Arbeit. Wenn auch das noch nichts nützt und wenndas öffentliche Interesse an der Veröffentlichung einessolchen Missstandes überwiegt, dann darf dieser Arbeit-nehmer auch zur Presse gehen und das öffentlich ma-chen, damit diese Missstände endlich abgestellt werden.
Eine solche Regelung wollen wir zum anderen auchfür die Beamten schaffen. Im Beamtengesetz wollen wirim Rahmen eines neuen § 67 a einen entsprechendenPassus einfügen. Dabei geht es darum: Wenn in einerBehörde festgestellt wird – ich habe zwei Fälle ge-nannt –, dass möglicherweise sogar Straftaten begangenwerden oder Gefahren für Leib, Leben, Gesundheit,Freiheitsrechte von Menschen, die Umwelt oder für dieStabilität der Finanzen nicht gesehen oder beachtet bzw.keine Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, dannmüssen auch die Beamten ihrer Allgemeinwohlver-pflichtung, die sie nach dem Gesetz ohnehin haben,nachkommen und so etwas nicht nur beim Vorgesetztenanzeigen, sondern das auch in Fällen, in denen das öf-fentliche Interesse überwiegt, in die Medien bringenkönnen, damit die Öffentlichkeit bzw. der DeutscheBundestag Druck ausüben können, dass solche Zuständebeseitigt werden.
Ein letzter und ganz wichtiger Punkt. Wir machenkeine Lex Edward Snowden. Wir wollen aber ein Gesetzmachen, das auch solchen Whistleblowern hilft. Deshalbwollen wir auch die Bestimmungen im Strafrecht än-dern, die beispielsweise Staatsgeheimnisse oder Dienst-geheimnisse absolut setzen. Wir sagen: Wenn die Gefahrder Verletzung von Grundrechten, anderer schwererRechtsverletzungen oder der Begehung schwerer Straf-taten besteht, dann ist es wie beispielsweise in dem Fallder Massenausspähung – der massenhaften Verletzungder Grundrechte von Millionen von Bürgern auf der gan-zen Welt, aber auch in Deutschland – gerechtfertigt, miteiner solchen Information an die Öffentlichkeit zu gehenund auch Dokumente vorzulegen, damit man dagegenangehen kann.
Deshalb wollen wir die Bestimmungen über Staatsge-heimnisse oder Dienstgeheimnisse entsprechend relati-vieren und regeln, dass Whistleblower in diesen Fällen,wenn sie das auf der Grundlage von konkreten Anhalts-punkten annehmen können und das öffentliche Interesseüberwiegt, straffrei gestellt werden. Dann soll die Wei-tergabe entsprechender Informationen gerechtfertigtbzw. nicht mehr unbefugt sein.
Diese gesetzliche Regelung ist dringend geboten.Zusammenfassend ist festzuhalten: Wir wollen mehrTransparenz und mehr Aufklärung in unserer Gesell-schaft wagen. Deshalb legen wir diesen Gesetzentwurfvor und fordern die anderen Fraktionen im DeutschenBundestag und die Bundesregierung auf, das zu tun,wozu die Regierung sich schon vor längerem verpflich-tet hat, nämlich einen entsprechenden Gesetzentwurfvorzulegen. Wir wären auch damit zufrieden, dass sieeinfach unseren Gesetzentwurf übernehmen.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Wilfried Oellers,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir beraten heute den Antrag der Fraktion DieLinke und den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grü-nen zum Schutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisge-bern. Missstände, illegales Handeln oder Gefahren wer-den häufig durch Informationen und Hinweise vonMitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgedeckt. Sie sindes, die skandalöses Verhalten bzw. skandalöse Handlun-gen nicht schweigend hinnehmen, sondern durch beherz-tes Tätigwerden aufdecken und eine entsprechenderechtliche Verfolgung bzw. Ahndung erst ermöglichen.Diese Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber legendamit eine Zivilcourage an den Tag, die nicht hoch ge-nug gelobt und anerkannt werden kann. Sie gehen einhohes Risiko ein und setzen für das hohe Gut der Ge-rechtigkeit gar ihren Ruf und ihre Existenz aufs Spiel.Ich spreche diesen Menschen daher persönlich, aberauch im Namen der CDU/CSU-Fraktion großen Respektaus.
Menschen, die sich so sehr für andere einsetzen, müs-sen vor den ihnen drohenden Nachteilen geschützt wer-den.
Dies ist unbestritten, und dies sind wir ihnen auch schul-dig. Hierzu bringen die Oppositionsparteien nun Vor-schläge ein, die die Hinweisgeberinnen und Hinweisge-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6021
Wilfried Oellers
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ber schützen sollen. Dabei gilt es jedoch, zunächsteinmal zu prüfen, ob nicht bereits das geltende Recht dieHinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützt.
Auch wenn ein spezielles Schutzgesetz nicht existiert,so stellen wir bei sorgfältiger Prüfung und genauer Be-trachtung fest, dass die geltende Rechtslage den Schutzbereits gewährleistet.Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Beispiele nen-nen.
Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist in § 612 a das soge-nannte generelle Maßregelverbot geregelt. Hiernach istes dem Arbeitgeber untersagt, einen Arbeitnehmer imRahmen einer Vereinbarung oder einer Maßnahme zubenachteiligen, weil dieser in zulässiger Weise seineRechte geltend macht und ausübt. Darin enthalten ist dasvon der Rechtsprechung anerkannte allgemeine Anzei-gerecht des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitge-ber. Dieses Anzeigerecht ist von den Arbeitsgerichtenwiederholt bestätigt worden, sodass die Kündigung einesArbeitsverhältnisses rechtswidrig ist, wenn sie mit derAusübung des Anzeigerechts begründet wird.Um allerdings die Willkür und den Missbrauch einessolchen Anzeigerechts durch den Arbeitnehmer zu ver-hindern, unterliegt das Anzeigerecht zu Recht bestimm-ten Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um sichwirksam auf das Anzeigerecht berufen zu können. Zu-nächst müssen sich die Hinweisgeber vor Erstattung ei-ner Anzeige ernsthaft um eine innerbetriebliche Klärungbemüht haben. Eine Ausnahme wird hiervon gemacht,wenn es sich um Straftaten mit besonders schweren Fol-gen handelt. Weiterhin darf eine Anzeige nicht leichtfer-tig von einem Arbeitnehmer erstattet werden. Er hat denSachverhalt sorgfältig zu erfassen, sodass er auch nach-gewiesen werden kann.
Herr Kollege Oellers, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ströbele?
Ich würde zunächst gerne fortfahren. Vielleicht erüb-
rigt sich dann diese Zwischenfrage.
Okay.
Zudem muss die Anzeige darauf gerichtet sein, dem
Missstand, illegalem Handeln oder Gefahren nachzuge-
hen und sie zu beseitigen. Die Anzeige darf nicht die
Zielrichtung haben, dem Arbeitgeber oder gar Kollegen
lediglich zu schaden. Hierdurch würde der Hinweisgeber
zu Recht seine Schutzwürdigkeit verlieren. Als eine wei-
tere Voraussetzung muss sich der Hinweisgeber an eine
öffentliche Stelle wenden.
Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen – das
halte ich für besonders wichtig –, dass dieser gesetzliche
Schutz des Arbeitnehmers im Bürgerlichen Gesetzbuch
verankert ist. Es handelt sich um ein allgemeines Recht,
das für alle Arbeitsverhältnisse gilt. Allein diese Norm
gewährleistet daher bereits den Schutz von Hinweisge-
bern.
Wie weit das Maßregelverbot entwickelt ist, zeigen
nicht nur die oben genannten Voraussetzungen, sondern
auch die umfangreiche Rechtsprechung und die Kom-
mentierung in der Literatur. Sie bieten einen entspre-
chenden Rechtsschutz. Diese umfangreichen Materialien
zeigen jedoch auch deutlich, dass jeder Fall gesondert zu
betrachten und rechtlich zu bewerten ist.
Wenn Sie nun behaupten, dass durch Ihre Vorschläge
mehr Rechtssicherheit eintreten würde, muss ich Ihnen
an dieser Stelle widersprechen. Sämtliche Vorlagen ent-
halten auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe. Als Beispiel
nenne ich hier „Zumutbarkeit“, „öffentliches Interesse“,
„betriebliches Interesse“, „Angemessenheit“ und „un-
sachgemäß“. Als weiteren Punkt möchte ich erwähnen,
dass Sie eine Abwägung der jeweiligen Interessen for-
dern.
Herr Kollege, Entschuldigung, aber ich muss Sie
noch einmal unterbrechen. Der Kollege Konstantin von
Notz würde Ihnen jetzt gerne eine Zwischenfrage stel-
len.
Dann lasse ich sie gerne zu.
Bitte schön, Herr Kollege von Notz.
Das ist freundlich, Herr Kollege. Vielen Dank. – Wür-den Sie mir zustimmen, dass wir, wenn wir so stark aufdie Rechtsprechung bei der Bewertung der angesproche-nen Problematiken, die wir beide offensichtlich sehen,abstellen, nicht mehr viele Gesetze machen müssen? An-ders formuliert: Finden Sie nicht auch, dass es im Hin-blick auf die Rechtssicherheit, die die betreffenden Men-schen brauchen, bevor sie sich zu einem solchen Schrittentscheiden, gut wäre, wenn wir eine klare gesetzlicheRegelung zum Whistleblowerschutz hätten und nicht aufeine sehr diverse, teilweise widersprüchliche und un-klare Rechtsprechung verweisen müssten? Aufgabe die-ses Hauses ist es doch, Gesetze für Bereiche zu machen,wo dies dringend notwendig ist.
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6022 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
(C)
(B)
Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie vorgeben, dass die be-treffenden Personen einen besonderen Schutz genießenmüssen und dieser Schutz rechtssicher sein muss; das istüberhaupt keine Frage.Ich habe aber auch ausgeführt, dass man zunächst ein-mal die geltende Rechtslage prüfen muss, bevor manneue Gesetze erlässt. Da bin ich noch in meinen Ausfüh-rungen, und ich komme noch zu weiteren Punkten.Wenn man das alles vollumfänglich beurteilt, muss manschon zu dem Ergebnis kommen, dass wir hier inDeutschland einen entsprechenden rechtssicheren Schutzhaben. Die Besonderheit liegt natürlich darin, dass wirimmer den Einzelfall bewerten müssen.
Etwas anderes enthalten auch Ihre Gesetzesvorschlägenicht. Von daher beurteilen wir die Situation eigentlichähnlich, sodass meiner Meinung nach an dieser Stellekein Handlungsbedarf besteht. Das will ich jetzt weiterausführen.
Ich schloss seinerseits an der Stelle, dass wir auf dieallgemeinen Begrifflichkeiten und die auslegungsbe-dürftigen Rechtsbegriffe hingewiesen haben. Wie ich ge-rade schon erwähnt habe, führen diese allgemeinen undauslegungsbedürftigen Rechtsbestimmungen dazu, dasswir immer eine Entscheidung im Einzelfall herbeiführenmüssen. Im Streitfall liegt es dann natürlich bei den Ge-richten, dies zu entscheiden.Daher ist festzustellen, dass die hier vorgelegten um-fangreichen Textvorschläge zum einen bestimmt nichtzu mehr Rechtssicherheit führen, als heute schon be-steht, und zum anderen eine Einzelfallentscheidung derGerichte auch nicht entbehrlich macht. Gerade dieseEinzelfallentscheidung ist erforderlich, da die Sachver-halte in aller Regel komplex und äußerst differenziert zubeurteilen sind. Eine umfangreiche Abwägung aller Inte-ressen ist somit unumgänglich. Diese ist von den Gerich-ten vorzunehmen. Das sieht unser Rechtssystem nun ein-mal so vor.Dabei ist selbstverständlich nicht zu verhehlen, dassderartige Verfahren langwierig sind und zuweilen dieBeteiligten sehr belasten. Nur werden Sie diese Verfah-ren nicht durch neue umfangreiche gesetzliche Regelun-gen verkürzen können.
Um nun dem Eindruck entgegenzutreten, dass es mit§ 612 a BGB nur eine gesetzliche Regelung zum Schutzvon Hinweisgebern gibt, seien nachfolgend weitere Ge-setze genannt, die ebenfalls Schutzvorschriften für Hin-weisgeber enthalten. So dient zum einen natürlich dasKündigungsschutzgesetz, also ein weiteres allgemeinesGesetz, dem Schutz von Hinweisgebern. Wir haben aberauch spezielle Regelungen im Betriebsverfassungsge-setz, im Arbeitsschutzgesetz, sogar im Bundes-Immis-sionsschutzgesetz und im BGB. Darüber hinaus darf indiesem Zusammenhang auch nicht die höchstrichterlicheRechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, des Bundes-verfassungsgerichts, aber auch des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte vergessen werden.
Auch für Hinweisgeber, die Verschwiegenheitspflich-ten unterliegen, gibt es gesetzliche Schutzregelungen. Soist an dieser Stelle insbesondere auf die Regelungen desBundesbeamtengesetzes und des Beamtenstatusgesetzeshinzuweisen. Zu erwähnen ist ebenfalls, dass vieleBetriebe freiwillig Möglichkeiten zur Meldung vonMissständen eingeführt haben, zum Beispiel durch dasBerufen von Ombudsleuten oder durch Betriebsverein-barungen zwischen den Sozialpartnern, die auf die je-weiligen besonderen Betriebssituationen zugeschnittensind.Auch internationale Vereinbarungen begründen, wieschon erwähnt, in meinen Augen keinen gesetzgeberi-schen Handlungsbedarf. Sowohl die Beschlüsse derG-20-Staaten als auch des Europarates beinhalten keinePflicht, ein spezielles Gesetz zum Schutz von Hinweis-gebern zu erlassen. Mit den geschilderten Rechtsvor-schriften wird die Empfehlung der genannten Gremien– und eine solche ist es –, den Schutz von Hinweisge-bern zu gewährleisten, erfüllt.
Dies wurde auch in der öffentlichen Anhörung zu die-sem Thema am 5. März 2012 bestätigt. Bereits damalswaren die Vorschläge der Opposition, die den jetzigenVorschlägen sehr ähneln, nicht geeignet, den Schutz vonHinweisgebern in der notwendigen Weise zu verbessern.Die bisherige Rechtslage gewährleistet den Schutz vonHinweisgebern, so die einhellige Meinung. An dieser Si-tuation hat sich bis heute nichts geändert. Handlungsbe-darf besteht derzeit damit nicht.Die Schutzwürdigkeit und der Respekt vor den Hin-weisgebern gebietet es jedoch, die Entwicklung derSchutzvorschriften durch die Rechtsprechung aufmerk-sam zu beobachten und gesetzgeberisch dann korrigie-rend tätig zu werden, sobald Handlungsbedarf angezeigtist.
Da dies derzeit nicht der Fall ist, werden wir diese Vorla-gen ablehnen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6023
(C)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Kolle-
gin hat Karin Binder das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren auf den Besuchertribünen!
Wer auf Missstände im Betrieb oder in der Behörde hin-
weist, wer Betrug oder gefährliche Zustände aufdeckt,
kann dafür seinen Arbeitsplatz verlieren, wird mögli-
cherweise gemobbt, von Vorgesetzten schikaniert, ver-
leumdet oder muss mit dem Ende seiner beruflichen
Karriere rechnen,
und das trotz der bestehenden Gesetzeslage, Herr Kol-
lege Oellers. Ich hoffe, Sie werden gut zuhören.
Deshalb ist es höchste Zeit, dass wir endlich, in dieser
Legislatur, auch in Deutschland ein Whistleblower-
schutzgesetz auf den Weg bringen. Dass dies dringend
notwendig ist, kann ich Ihnen an drei Fällen aufzeigen:
Erstens. Ein Berliner Krankenwagenfahrer wies auf
unhaltbare Zustände im Krankentransport hin und wurde
entlassen. Zwölf-Stunden-Schichten ohne Pause, feh-
lende Desinfektion nach Transporten von hoch anste-
ckenden Patienten, Fahrzeuge, die nicht mehr verkehrs-
sicher sind – was bedeutet das für die Patientinnen und
Patienten?
Zweitens. Ein selbstständiger Personalberater hatte
die offene Diskriminierung einer Bewerberin durch ein
Unternehmen angeprangert und wird zu einer Schadens-
ersatzzahlung an dieses Unternehmen verurteilt. Was
sind Diskriminierungsschutz und ein Gesetz wie das All-
gemeine Gleichbehandlungsgesetz wert, wenn Men-
schen, die sich danach richten und dafür einsetzen, sol-
che negativen Folgen zu erleiden haben?
Drittens. Elf Altenpflegerinnen im Münsterland wur-
den erst im September fristlos entlassen. Sie hatten die
Leitung des Pflegeheims lange vergeblich auf unhaltbare
Zustände, fehlendes Material und absolute Arbeitsüber-
lastung aufmerksam gemacht und dann die Heimaufsicht
angeschrieben. Mit Unterlassungsklagen schüchterte der
private Betreiber nicht nur die Heimaufsicht ein, sondern
auch das Umfeld dieses Heimes, sodass die Kritik inzwi-
schen verstummte. Die elf Kolleginnen sind jetzt arbeits-
los, und die Patientinnen, die Heimbewohnerinnen, ha-
ben keinen Ansprechpartner mehr. Hier sind auf einen
Schlag elf Fachkräfte aus einem Heim mit 47 Beschäf-
tigten entlassen worden. Ich weiß nicht, ob Sie sich diese
Situation für Ihre Angehörigen in einem ähnlichen Fall
wünschen. Die oft demenzkranken Menschen verlieren
Ansprechpartner, Vertrauenspersonen und Fachkräfte.
Ersetzt werden die ausgeschiedenen Personen durch
400-Euro-Jobber, durch Aushilfen, durch Menschen, bei
denen es im Prinzip erst einmal lange Zeit braucht, um
Vertrauen zu ihnen aufzubauen.
Dass sich diese Altenpflegerinnen im Prinzip im Inte-
resse der Patientinnen, im Interesse der Gesellschaft hier
starkgemacht haben, muss Ihnen doch zeigen, dass in
unserem Rechtssystem Defizite herrschen.
Die Linke sagt: Diese Menschen leisten einen unver-
zichtbaren gesellschaftlichen Beitrag, und dafür verdie-
nen sie unsere Anerkennung und unseren Schutz.
Deshalb brauchen wir ein umfassendes Whistleblower-
schutzgesetz. Damit beauftragen wir auch Sie als
Regierungskoalition und die Regierung. Denn wir glau-
ben, Nachteile wie der Verlust des Arbeitsplatzes, Mob-
bing, Verleumdung und andere Dinge, etwa materielle
Nachteile, müssen vermieden werden, wenn sich Men-
schen für ihre Mitmenschen oder für die Gesellschaft
einsetzen.
In einem solchen Gesetz muss auf jeden Fall der
Schutz für Beschäftigte in der Privatwirtschaft und im
öffentlichen Dienst verankert sein. Dieser Schutz muss
für Beamtinnen und Beamte ebenso wie für Selbststän-
dige, für Leiharbeiterinnen, für Auszubildende, für Eh-
renamtliche, für Militärangehörige oder für Angehörige
von Geheimdiensten gelten.
Wir brauchen außerdem den Schutz für alle, die im
guten Glauben handeln. Die wenigsten Menschen sind
juristisch ausgebildet und können die feinen Differenzie-
rungen vornehmen, die ihnen entweder tatsächlich hel-
fen und sie schützen oder auch nicht. Der gute Glaube
muss zählen, wenn es darum geht, Gefahren für andere
Menschen abzuwenden.
Die Gewährleistung von Anonymität für Whistle-
blower ist eine ganz wichtige Sache; denn sonst verlie-
ren sie ihren Arbeitsplatz. Es muss auch die Möglichkeit
geben, sich an andere Stellen und an die Öffentlichkeit
zu wenden, weil der interne Beschwerdeweg leider in
vielen Fällen nicht erfolgreich ist, sondern sich, im Ge-
genteil, gegen diejenigen wendet, die ihn beschreiten.
Liebe Kollegin, ich war schon sehr großzügig. Des-
halb müssen Sie jetzt zum Schluss kommen.
Letzter Satz. – Wir brauchen ganz dringend unabhän-gige Beratungsstellen und eine unabhängige Ombuds-stelle, am besten angesiedelt hier bei uns, beim Parla-ment, beim Bundestag.
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6024 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Karin Binder
(C)
(B)
Deshalb kann ich Sie nur bitten: Schauen Sie sich denEntwurf der Grünen gut an! Wir hätten durchaus nochVorschläge zur Ergänzung. Ich würde sagen: Ein umfas-sendes Whistleblowerschutzgesetz ist wichtig und not-wendig.Danke.
Als nächster Redner spricht der Kollege Markus
Paschke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! So-genannte Whistleblower bzw. Hinweisgeber oder Auf-klärer, wie ich sie gern nenne, leisten einen großenDienst an unserer Gesellschaft. Es sind in erster LinieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch Kun-den, Lieferanten und Geschäftspartner, die auf Unregel-mäßigkeiten, illegales Verhalten oder sogar Gefahren fürMensch und Umwelt aufmerksam werden. Ohne derenInsiderwissen können wir vieles nicht aufdecken und er-kennen. Alle diese Menschen stehen in einer gewissenAbhängigkeit zu dem Verursacher. Wir sind in derPflicht, den Aufklärern Rechtssicherheit darüber zu ge-ben, was sie dürfen und was nicht.Die SPD hat in der letzten Legislaturperiode bereitseinen eigenen Gesetzentwurf zum Thema Hinweisgeber-schutz eingebracht.
Es ist kein Geheimnis, dass unser jetziger Koalitions-partner dem nicht folgen konnte. Aber eine neue Legis-laturperiode, mit zum Teil neuen Abgeordneten, bietet jadie Möglichkeit, vergebene Chancen nachzuholen.
Das Ergebnis: Wir haben uns im Koalitionsvertrag im-merhin auf einen Prüfauftrag verständigt.
Für mich ist das ein klarer Auftrag, nicht nur zu prüfen,sondern die Ergebnisse der Prüfung auch umzusetzen.Wir alle kennen die Fälle, in denen engagierte undcouragierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Missständein ihren Betrieben und Skandale offenlegen oder verhin-dern: der Lkw-Fahrer, der den Gammelfleischskandalins Rollen brachte, die Schlachter, die die unmenschli-chen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Fleischin-dustrie in den Fokus der Öffentlichkeit rückten, die Ver-käuferinnen, die auf die Mitarbeiterbespitzelung beieinem großen Discounter aufmerksam machten.Dies sind nur einige Beispiele – wir haben vorhinschon weitere gehört –, die verdeutlichen, dass es sichbei den Hinweisgebern nicht um Denunzianten oder Ver-räter, sondern – ganz im Gegenteil – um wichtige undnotwendige Aufklärer im Dienst der Allgemeinheit han-delt.
Ohne den Mut dieser Männer und Frauen wäre es nichtzu notwendigen Veränderungen zum Wohle der Men-schen in unserem Land gekommen.
Deshalb finde ich es umso beschämender, dass geradediese Helden – ja, in meinen Augen sind es Helden –
im Anschluss an ihr mutiges Handeln häufig mit Repres-salien zu kämpfen haben.
Für ihre Zivilcourage werden sie zu Recht ausgezeichnetund belobigt. Aber die Medaille hat leider auch eine un-schöne Seite: Mobbing, Strafversetzung oder sogar Ent-lassung als unmittelbare Reaktion aus dem unmittelba-ren beruflichen Umfeld der Aufklärer sind leider keineSeltenheit.
Gegenwärtig gibt es in Deutschland bereits vereinzeltgesetzliche Regelungen, die Hinweisgeber schützen sol-len.
Aber – das sage ich an dieser Stelle deutlich – sie sindmeines Erachtens nicht ausreichend.
Ich freue mich über die Zustimmung; da hätten Sie sichdie Zwischenrufe vorher doch alle sparen können.
Es ist die Aufgabe der Politik, nicht die Aufgabe derGerichte, zu gestalten, meine Damen und Herren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6025
Markus Paschke
(C)
(B)
Wir brauchen einen effektiven Schutz für die Aufklärer.Kommen wir nun zu Ihrem Gesetzentwurf, meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Mankönnte sagen: Problem erkannt,
aber nicht gelöst. Viele Sachen benennen Sie richtig.Und es gibt, wie bereits in der letzten Legislaturperiode,auch einige Schnittmengen zwischen Ihrer und unsererFraktion. Aber auch in Ihrem Gesetzentwurf gibt es eineVielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe, deren Ausgestal-tung wieder den Gerichten obliegt.
Ich will einige Beispiele nennen: Sie schlagen vor, insBGB einen § 612 b einzufügen, in dessen Absatz 1 von„konkreten Anhaltspunkten“ die Rede ist. Für einen Ab-satz 2 schlagen Sie folgende Formulierung vor:Der Arbeitnehmer hat das Recht, sich an eine zu-ständige außerbetriebliche Stelle zu wenden, wenn… der Arbeitgeber dem Verlangen nach Abhilfenicht binnen angemessener Frist oder nach Auffas-sung des Arbeitnehmers aufgrund konkreter An-haltspunkte– da sind sie schon wieder –nicht oder nicht ausreichend nachkommt.
Ich frage: Was sind denn diese „konkreten Anhalts-punkte“? Was ist eine „angemessene Frist“? Und was istein ausreichendes oder nicht ausreichendes Abhilfe-schaffen?
Herr Kollege Paschke, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele zu?
Gleich, ich möchte nur diesen Gedanken noch zu
Ende bringen. – Kein Hinweisgeber kann das rechtssi-
cher auslegen. Da gucken mich doch Jutta, die Verkäufe-
rin, Miroslaw, der Lkw-Fahrer, oder auch Brigitte, die
Altenpflegerin, groß an und wissen immer noch nicht, ob
sie rechtlich auf der sicheren Seite sind.
Jetzt habe ich diesen Gedanken zu Ende gebracht und
würde die Zwischenfrage von Herrn Ströbele gerne zu-
lassen.
Herr Ströbele, Sie haben das Wort.
Danke, Herr Kollege. Ich fasse mich auch ganz kurz.
Wir haben uns natürlich auch lange Gedanken über
diese Formulierungen gemacht. Den Begriff der „kon-
kreten Anhaltspunkte“ haben wir dem geltenden Gesetz
entnommen, nämlich § 17 Absatz 2 des Arbeitsschutz-
gesetzes. Dort steht:
Sind Beschäftigte auf Grund konkreter Anhalts-
punkte
– genau wie hier –
der Auffassung, dass die vom Arbeitgeber getroffe-
nen Maßnahmen und bereitgestellten Mittel nicht
ausreichen, um die Sicherheit und den Gesundheits-
schutz bei der Arbeit zu gewährleisten, … können
sich diese an die zuständige Behörde wenden.
Das ist geltendes Recht – offenbar ausreichend konkret.
Was haben Sie dagegen, wenn wir diese Formulie-
rung in unseren Gesetzentwurf aufnehmen? – Was die
Beschäftigten hiernach nicht können, ist, sich an die Öf-
fentlichkeit zu wenden. Aber das ist ja nur die zweite
Schlussfolgerung, die wir von einer anderen Vorausset-
zung abhängig gemacht haben, nämlich von der Güter-
abwägung.
Ich bin überzeugt davon, dass gerade jemand, den wirschützen wollen, in der Lage sein muss, ohne seitenlangeKommentare oder Urteile
– oder Gesetze – zu lesen, zu verstehen, welche Rechteund Pflichten er hat, wie er sich wann verhalten muss,damit er auf der sicheren Seite ist, wenn er uns Informa-tionen gibt. Ich glaube, es ist wichtig, dass nicht unbe-stimmte Rechtsbegriffe verwendet werden, die wiederder Auslegung bedürfen. Im Mittelpunkt muss stehen,dass möglichst jeder Mensch leicht verstehen kann, wo-rum es geht und welche Rechte und Pflichten er hat.
Es geht nämlich darum, Missstände aufzudecken –nicht um mehr und nicht um weniger. Ich bin der Über-zeugung: Der Schutz der Allgemeinheit muss deutlichüber dem Interesse an der Geheimhaltung einer unredli-chen Geschäftspraxis stehen. Ich glaube, da sind wir unsaber auch alle einig.
Nicht der ehrliche Hinweisgeber soll den Schaden ha-ben, sondern derjenige, der Glykol in den Wein oder
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6026 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Markus Paschke
(C)
(B)
Pferdefleisch in die Lasagne panscht. Die müssen zurVerantwortung gezogen werden. Das ist der Maßstab un-serer Politik.
Es gibt ja auch schon einige Beispiele, bei denen esfunktioniert. Ich will nur ganz kurz erwähnen: Wir habenden Wehrbeauftragten, an den sich die Soldaten direktwenden können. Die Bürgerinnen und Bürger könnensich direkt an den Petitionsausschuss des Bundestagesund an die Datenschutzbeauftragten wenden. Das allessind Beispiele, bei denen es schon funktioniert.Ich glaube, es ist sinnvoll, dass wir durch ein einfachund deutlich formuliertes Gesetz diejenigen schützen,die uns wichtige Hinweise geben können. Ich persönlichbin überzeugt, dass das auch die Abgeordneten unseresKoalitionspartners wollen und dass sie ebenfalls dasWohl der Menschen bzw. der Allgemeinheit im Blick ha-ben.
Wir werden, so wie wir es vereinbart haben, die gelten-den Regelungen überprüfen. Ich bin überzeugt, dass wirdabei zu einer guten gemeinsamen Regelung im Sinneder Allgemeinheit, im Sinne der Hinweisgeber kommenwerden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wer soll die Frage klären, wenn nicht die Große Ko-
alition?
Danke schön.
Jetzt hat der Kollege Alexander Hoffmann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich freue mich, dass wir uns heute die Zeit neh-men, über ein wichtiges Thema zu diskutieren. Die Fra-gestellung lautet: Wie schützen wir Hinweisgeber in un-serer Gesellschaft, in Behörden, in Unternehmen besser?Gerade wir als Politiker haben den Auftrag, entgegenzu-wirken. Es darf keinen Automatismus geben nach demMotto „Jeder Hinweisgeber ist ein Verräter, ein Denunzi-ant oder ein Nestbeschmutzer“. Hinweisgeber eröffnenuns die Chance auf Transparenz, die Chance auf kost-bare Hinweise. Zahlreiche Fälle sind heute schon ge-nannt worden. Da gibt es den Lkw-Fahrer, der den Gam-melfleischskandal aufdeckt, oder die couragiertePflegefachkraft, die die Missstände in ihrer Einrichtungmutig anprangert.Gerade dieser zweite Fall – auch das haben wir schongehört – mündete in eine Entscheidung des Europäi-schen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese ist seitherrichtungsweisend beim Schutz von Hinweisgebern. Abergenau dieser Fall führt mich auch zu der Frage: Wasmüssen wir noch regeln?
Um diese zu beantworten, müssen wir zunächst ein-mal auf die Historie des Falls schauen. Bemerkenswertwar nämlich, dass in diesem Fall in der ersten Instanzvom Arbeitsgericht die Kündigung tatsächlich aufgeho-ben worden ist. Erst in der zweiten Instanz wurde dieKündigung für rechtmäßig erklärt. Vom Bundesarbeits-gericht wurde diese Entscheidung bestätigt. Dann lan-dete der Fall vor dem Europäischen Gerichtshof fürMenschenrechte. Dort wurde der Pflegefachkraft eineEntschädigung in Höhe von 15 000 Euro zugesprochen,und der Fall wurde an das Landesarbeitsgericht zurück-verwiesen. Dort kam es zu einem Vergleich. Die Damehat dann eine Entschädigung in Höhe von 90 000 Eurobekommen und im Gegenzug eine ordentliche Kündi-gung akzeptiert.Was ist an dieser Entscheidung sonst noch interes-sant? Die Brüsseler Richter haben bestätigt, dass dieMaßstäbe, die das Arbeitsgericht in erster Instanz, dasLandesarbeitsgericht und dann auch das Bundesarbeits-gericht in diesem Fall angewandt haben, grundsätzlichdie richtigen gewesen sind. Der Europäische Gerichtshoffür Menschenrechte hat nämlich exakt dieselben Maß-stäbe angewandt. Er hat auf der einen Seite das Grund-recht der unternehmerischen Freiheit gegen das Interesseder Öffentlichkeit an dieser überaus wichtigen Informa-tion und das Grundrecht der Pflegefachkraft auf Mei-nungsfreiheit auf der anderen Seite abgewogen. Es fandalso eine Abwägung statt. Nur aufgrund einer anderenGewichtung kam der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte zu einem anderen Ergebnis. Also folgernwir daraus doch – Herr von Notz, das ist die konkreteAntwort auf Ihre Frage –, dass wir in dieser Detailfragegerade kein gesetzgeberisches Defizit in Deutschlandhaben,
weil es sich um eine Abwägungsentscheidung handelt,wie ich gerade aufgezeigt habe. Abwägungsentscheidun-gen werden Sie nie durch Gesetze ersetzen können.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6027
(C)
(B)
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Keul zu?
Ja, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann, dass Sie diese
Frage zulassen. – Sie sagen: Abwägungskriterien finden
wir in keinen Gesetzen. – Das wäre mir neu. Es ist si-
cherlich richtig, dass die Richter im Einzelfall immer ab-
wägen müssen. An vielen Stellen ist es jedoch gerade
unsere Aufgabe als Gesetzgeber, die Kriterien und die
Grundlagen in das Gesetz hineinzunehmen, nach denen
die Abwägung stattfinden muss. Selbst die Arbeitsrich-
ter sagen: Wir haben etwas gebaut, wir haben ein Gerüst
geschaffen, mit dem wir bei den Hinweisgebern arbei-
ten, aber, lieber Gesetzgeber, wir brauchen mehr als den
§ 612 a BGB. Das kann nicht alles Richterrecht sein.
Wir erwarten vom Gesetzgeber, dass er uns die Grundla-
gen gibt, nach denen wir unsere Entscheidungen treffen
können und müssen.
Danke, Frau Kollegin Keul, für die Frage. – Ich habe
nicht gesagt, dass in Gesetzen niemals Abwägungskrite-
rien formuliert werden.
– Nein, das war nicht meine Aussage.
Das ist genau der Punkt. Die Abwägungskriterien, die
in allen Instanzen angewandt worden sind, waren von
der ersten bis zur letzten Instanz genau dieselben. Das
heißt, wenn Sie heute mit einem Gesetz kommen, in das
Sie die Abwägungskriterien hineinschreiben, ändern Sie
in der Sache für diesen Einzelfall gar nichts.
Deshalb gibt es die Erkenntnis: Nicht überall da, wo
Sie Handlungsbedarf erkennen, besteht er auch tatsäch-
lich. Der Schutz von Grundfreiheiten und der Schutz von
Grundrechten hat Ausstrahlungswirkung in die unter-
schiedlichsten Rechtsgebiete.
Wie endet nun der Fall? Er endet wie oft in Fällen von
rechtswidriger Kündigung: Es gibt eine Abfindung ge-
gen eine Akzeptanz der ordentlichen Kündigung. In vie-
len Fällen kommt es dann noch zu einem wohlwollenden
Arbeitszeugnis. Das kann man natürlich beklagen, meine
Damen, meine Herren, aber hier stellt sich doch die
Frage: Könnten wir das mit einer gesetzlichen Regelung
verhindern?
Auch da habe ich meine Zweifel, meine Damen, meine
Herren. Es geht hier um die menschliche Seite. Wie geht
es dem Lkw-Fahrer, der in seine Firma zurückkommt?
Vielleicht ist es tatsächlich so, dass die Kolleginnen und
Kollegen, die auch solche Lkw fahren, es vielleicht
nachvollziehen können, dass er das gemacht hat. Aber
sie werden es ihm unter Umständen niemals verzeihen
können, weil ihre Arbeitsplätze daran hängen, weil das
Unternehmen ins Wanken gerät. Diese Fälle haben eine
höchstpersönliche, menschliche Seite, und wir werden
gesundes Betriebsklima niemals gesetzlich verordnen
können.
Was beinhaltet die Entscheidung noch? Zunächst ein-
mal manifestieren die Richter, dass es den Vorrang der
innerbetrieblichen Klärung geben muss. Nur in besonde-
ren Ausnahmefällen kann der Hinweisgeber gleich die
externe Klärung in die Wege leiten. Solche Ausnahme-
fälle sind Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne
oder für die Allgemeinheit.
Mit dem Bekenntnis zur Erforderlichkeit der Abwä-
gung der widerstreitenden Interessen macht das Gericht
zudem ein Weiteres klar: Es darf keinen absoluten
Schutz von Whistleblowing jeglicher Art geben.
Herr Hoffmann, lassen Sie noch einmal eine Zwi-
schenfrage zu, diesmal von der Kollegin Mihalic?
Aber sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. – Sie haben vorhin – das haben
die Vorredner auch getan – ausgeführt, dass die Arbeits-
gerichte einschlägig entschieden haben bzw. die Schutz-
vorschriften, die hier genannt worden sind, die es angeb-
lich geben soll, entsprechend ausgelegt haben. Wie
würden Sie das im Fall von Beamtinnen und Beamten
beurteilen? Hier müssen erstens andere Gerichte urtei-
len, und hier gelten zweitens besondere Pflichten gegen-
über dem Dienstherrn. Wie würden Sie hier Hinweisge-
berinnen und Hinweisgeber auf Basis der bestehenden
Rechtsgrundlagen schützen wollen?
Danke für die Frage. – Ich habe vorhin ausgeführt,dass es beim Schutz von Hinweisgebern um den Schutzvon Grundrechten geht. Grundrechte und Grundfreihei-ten sind einfachgesetzlichen Regelungen übergeordnetund sind auch dem Beamtenrecht übergeordnet. Das hatmich vorhin zu dem Satz veranlasst, dass Grundrechteund Grundfreiheiten Ausstrahlungswirkung in die unter-schiedlichsten Rechtsgebiete haben. Das heißt, sobalddort ein Grundrecht geschützt wird und auch das Grund-
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6028 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Alexander Hoffmann
(C)
(B)
recht auf Meinungsfreiheit gegenüber dem Interesse desBeamtenrechts überwiegt, wird sich der Grundrechts-schutz durchsetzen. Deswegen hat man an der Stelle dasProblem nicht.
Wenn man die Rechtsprechung des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte zugrunde legt, dann mussman feststellen, dass Ihre Vorlagen an mancher StelleRegelungen enthalten, die überflüssig sind. Auch enthal-ten sie Regelungen, die weit über das hinausgehen, wasder Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mani-festiert hat. Sie erliegen dem Versuch, Regelungen zu ei-nem absoluten Hinweisgeberschutz zu formulieren. Zu-nächst weichen Sie den Vorrang der internen Klärungauf. Die in Ihren Vorlagen enthaltene Konstruktion derBeweislastumkehr geht in beiden Fällen zu weit. Ich willes Ihnen an zwei Fällen verdeutlichen.Der erste Fall ist am 5. Februar 2012 vor dem Landes-arbeitsgericht Köln entschieden worden. Eine Haushäl-terin war von einem Ehepaar angestellt worden, um diezwei minderjährigen Kinder zu betreuen. Das Ehepaarwar mit der Leistung nicht zufrieden und hat der Haus-hälterin in der Probezeit gekündigt. Darüber war dieHaushälterin erbost und hat das Ehepaar beim Jugend-amt angezeigt: Die Kinder seien verwahrlost. Das Ganzemündete in einen Gerichtsprozess. Schließlich wurdevon einem Kinderarzt ein Gutachten erstellt, und daringab es keinerlei Hinweise auf Verwahrlosung.Der zweite Fall: Bundesarbeitsgericht vom 3. Juli 2003.Der Leiter eines Jugendzentrums hatte eine Auseinan-dersetzung mit einem Sozialpädagogen über eine Über-stundenabrechnung. Der Sozialpädagoge entschließt sichangesichts dieser Auseinandersetzung, seine Vorgesetz-ten aus dem Weg zu räumen, erstattet Anzeige wegenUntreue bei der Staatsanwaltschaft und verknüpft sie mitder Behauptung, dass der Leiter der Einrichtung demTräger immer wieder fingierte Abrechnungen vorgelegthat. Auch dieser Vorwurf kann im Laufe des Verfahrensnicht bewiesen werden.
Meine Damen, meine Herren, auch diese Fälle gibt es.Wenn man Ihre Vorschläge zur Beweislastumkehr zu-grunde legen würde, dann müsste das Ehepaar beweisen,dass die Haushälterin nicht in zulässiger Weise von ihrenRechten nach § 612 a Absatz 1 BGB Gebrauch gemachthat. Das steht so in Ihrem Entwurf. Das Ehepaar mussalso beweisen, dass die Haushälterin die Unwahrheitsagt und die Kinder nicht verwahrlost sind.
Im zweiten Fall muss der Leiter der Jugendeinrichtungbeweisen, dass kein Fall der Untreue vorliegt. Da sehenSie: Es ist doch nicht so einfach, zu einem ausgewoge-nen Vorschlag zu kommen und all das zu regeln.Insofern sage ich: Der Prüfauftrag ist eine hochkom-plexe Materie, für die wir Zeit brauchen. Diese Anträgelehnen wir deswegen leider ab.
Danke.
Als nächster Redner spricht der Kollege Andrej
Hunko.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberHans-Christian Ströbele, Sie haben vorhin gesagt, wirkönnten in Europa ein vorbildliches Land in punctoWhistleblowerschutz werden. Leider ist die Realität ent-gegengesetzt. Zu diesem Ergebnis kommen auch ver-schiedene internationale Studien über die Situation inDeutschland beim Whistleblowerschutz. Wir sagen ganzklar: Das muss sich ändern.
– Ja. Das war keine Kritik. – Ich verweise etwa auf eineStudie, in der 14 verschiedene Kriterien für die G-20-Länder aufgestellt und Punkte vergeben werden. In fastallen Kategorien schneidet Deutschland sehr schlecht ab.Die Studie kommt zu dem Schluss:Germany has no specific legal protections forwhistleblowers– es gibt kein spezielles Whistleblowerschutzgesetz –other than a limited provision …Es gibt also nur sehr begrenzte Regelungen. Das habenwir vorhin schon gehört.Weiter heißt es:Nor is there a dedicated agency at the national level…
– Ich übersetze es ja gerade für Sie. – Es gibt also keineEinrichtung auf nationaler Ebene, an die sich Whistle-blower wenden können. – Das ist das Zeugnis der inter-nationalen Organisationen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6029
Andrej Hunko
(C)
(B)
Eine ähnliche Studie gibt es von der EU-Kommission.Insgesamt ist Deutschland rückständig, was das angeht,und das muss sich ganz klar ändern.
Zur Wortwahl: Wir reden über „Whistleblower“. Wirverwenden einen englischsprachigen Begriff. Wir versu-chen, ihn mit „Hinweisgeber“ oder „Aufklärer“ zu über-setzen.
Aber dass der spezielle Begriff englischsprachig ist,zeigt, dass es dort sozusagen eine weiter entwickelteDiskussion als hier in Deutschland gibt. Leider habenwir in Deutschland Begriffe wie „Nestbeschmutzer“oder „Denunziant“, aber keinen historisch gewachsenenentsprechenden Begriff für Whistleblower.
Das zeigt, dass es nicht nur eine gesetzgeberischeAufgabe ist, vor der wir stehen, sondern auch eine kultu-relle Aufgabe, dass wir einen Paradigmenwechsel inDeutschland brauchen, was Whistleblowerschutz an-geht. Viele Beispiele wurden schon genannt.Natürlich wären ein entsprechendes Gesetz und einspezielles Whistleblowerschutzgesetz ein richtiges Si-gnal für einen solchen Paradigmenwechsel.
Ich begrüße es sehr, dass die Grünen einen Gesetzent-wurf vorgelegt haben. Darin stehen sehr viele richtigeSachen.
Es gibt ein paar Punkte, über die wir auch reden können.In bestimmten Punkten geht uns der Entwurf nicht weitgenug. Wir werden darüber in den Ausschüssen diskutie-ren. Wir sind ja heute erst in der ersten Lesung.Aber lassen Sie mich, auch mit Blick auf das, was inden letzten anderthalb Jahren in puncto des berühmtes-ten Whistleblowers Edward Snowden bekannt gewordenist, noch einmal betonen: Wir brauchen auch ein Whistle-blowerschutzgesetz, das Menschen in Geheimdienstenund im Militär schützt. Elemente dafür sind im Gesetz-entwurf enthalten. Das ist sehr wichtig.Es wurde auf die Resolution der ParlamentarischenVersammlung des Europarates von 2010 verwiesen, ander ich ein bisschen mitgearbeitet habe. Es wurde auf dieKonvention verwiesen, die im April dieses Jahres vomEuroparat verabschiedet worden ist. Es gibt gegenwärtigin der Parlamentarischen Versammlung des Europaratseine weitergehende Diskussion, die genau diesen Schutzvon Whistleblowern in militärischen und geheimdienst-lichen Strukturen ins Auge fasst. Das ist der richtigeWeg.Ich finde, wir sollten in Deutschland nicht hinterher-traben, sondern wir sollten hier tatsächlich Vorreiterwerden.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Waltraud Wolff
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren!„Wir werden im Herbst den Informantenschutz ge-setzlich verankern.“So zitierte der Tagesspiegel vom 5. Oktober 2007 den da-maligen Bundesverbraucherschutzminister Horst Seehofer.Auch damals waren wir in einer Großen Koalition,
und ich war die verbraucher- und agrarpolitische Spre-cherin zu dieser Zeit. Ich muss heute hier konstatieren:Wären diese Worte damals Wahrheit geworden, müsstenwir heute darüber nicht debattieren.
Worum geht es, meine Damen und Herren? Es gehtdarum, solche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zuschützen, die eklatante Missstände in ihren Unterneh-men aufdecken, die sehen, wie in ihren Unternehmen ge-gen Gesetze verstoßen wird. Es geht um Menschen, diediese Missstände in ihren Unternehmen schon lange an-geprangert haben und immer wieder gegen die Wand ge-laufen sind. Diese Leute verdienen Schutz und Respekt.
Respekt hat Miroslaw Ricard Strecker 2007 bekom-men. Herr Strecker fand den Mut, die Polizei zu infor-mieren, um zu verhindern, dass 11,5 Tonnen Gammel-fleisch im Handel landen. Horst Seehofer bescheinigteihm damals – so zitiert der Tagesspiegel –, dass er „einaußergewöhnliches Maß an Gemeinsinn“ an den Tag ge-legt habe und dass er ein „nachahmenswertes Beispiel“sei.
Der damalige Bundesminister zeichnete den Lkw-Fahrersogar mit der „Goldenen Plakette“ des Verbraucher-schutzministeriums aus – verdient, wie ich meine.
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6030 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Waltraud Wolff
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Miroslaw Ricard Strecker ist ein ganz gutes Beispiel.Er hat Gemeinsinn und sehr viel Mut bewiesen. Schutzallerdings, meine Damen und Herren, hat Herr Streckernicht bekommen.
Letztendlich bekam er nicht nur die „Goldene Plakette“,sondern er bekam gleichzeitig auch seine Entlassungsur-kunde.
Das war damals der Tropfen, der das Fass zum Über-laufen gebracht hat. Wir als Verbraucherschützer wolltenden Informantenschutz endlich gesetzlich verankern.Trotz der Zusage des damaligen Ministers haben wir dasnicht geschafft. Warum? Leider gab es auch zu der Zeitbis in die höchsten Kreise viele, die einen solchen Infor-mantenschutz als Denunziantenschutz verunglimpft ha-ben.
Meine Damen und Herren, die Forderung, dass derInformantenschutz nicht für unberechtigte Hinweise gel-ten darf – meine Kollegen von der CDU/CSU haben da-rauf hingewiesen –, ist richtig; keine Frage. Dennoch:Herr Strecker hat verhindert, dass zum Verzehr ungeeig-netes Fleisch auf unseren Tellern gelandet ist.
Er hat auch verhindert, dass Unternehmen durch BetrugGewinne erzielen. Ein solches Handeln als Denunzian-tentum zu bezeichnen, würdigt verantwortungsvollesHandeln herab. Das geht heute, 2014, gar nicht mehr.
Die Zeit ist seitdem nicht stehen geblieben. Wir habenim Bundestag immer wieder über den Informantenschutzdebattiert. In der letzten Legislaturperiode haben wir vonder SPD einen Antrag dazu formuliert. Leider waren wirin der Opposition; darum ist er in der Rundablage gelan-det. Aber auch das Europäische Parlament hat im letztenOktober eine Lanze für den Informantenschutz gebro-chen. In seiner Entschließung zum organisierten Verbre-chen, zu Korruption und zu Geldwäsche wurde explizitein besserer Informantenschutz gefordert.
Die EU-Mitgliedstaaten sind aufgefordert worden, zuhandeln. Dieser Entschließung haben übrigens – dasmöchte ich noch einmal deutlich sagen – 33 Abgeord-nete von CDU und CSU im Europäischen Parlament zu-gestimmt.
Was tun wir nun heute hier? Unser Koalitionsvertragsieht vor, zu prüfen, ob die internationalen Vorgaben hin-reichend umgesetzt sind.
Ich bin seit 1998 im Deutschen Bundestag, also langegenug, um zu wissen, dass Prüfaufträge eigentlich Still-stand bedeuten.
Ich sage hier – ich denke, auch im Namen meiner Frak-tion – ganz klar und deutlich, dass wir eine gesetzlicheRegelung für notwendig erachten.
In den letzten Jahren hat das BundesarbeitsgerichtKriterien dafür erarbeitet, wie ein Informant geschütztwerden soll. Aber diese Kriterien sind sehr vage, sie sindunbestimmt, und die Abwägung im Einzelfall führt ei-gentlich zu mehr Unsicherheit als zu Sicherheit. Hierkönnten gesetzliche Regelungen wirklich Klarheit schaf-fen. Wir würden einerseits Informantenschutz aufwerten,andererseits auch das öffentliche Interesse in der Abwä-gung stärken und so eine Kultur der Rechtstreue, wie esdas Europäische Parlament bezeichnet hat, verankern.
Es ist zweifelsfrei wichtig, dem Schutz von Unterneh-men vor unberechtigten Vorwürfen Rechnung zu tragen.Es ist aber auch wichtig, die Rechte von Menschen zustärken, die eklatante Verstöße aufdecken. Wer sollte inZeiten von Abhör-, Lebensmittel- und BetrugsskandalenRechtssicherheit für Unternehmen und Informantenschaffen können, wenn nicht diese Große Koalition?
Wir haben in dieser Legislaturperiode die abschlags-freie Rente mit 63 umgesetzt. Wir haben den Mindest-lohn eingeführt.
Ich habe große Hoffnung, dass wir es im Rahmen derDiskussionen in der nächsten Sitzungswoche schaffenwerden, den Informantenschutz auf rechtlich gute Füßezu stellen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6031
Waltraud Wolff
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Als nächster Redner hat der Kollege Uwe Lagosky
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Aufgrund nationaler und internationaler Ini-tiativen wird Whistleblowing, die Hinweisgebung, heut-zutage als essenzieller Beitrag zu einer guten Unterneh-mensführung betrachtet. Es ist im Allgemeininteresse,dass Hinweise gegeben werden, unter anderem, damitkorruptes Verhalten und Straftaten aufgedeckt werdenkönnen.
Wenn Whistleblowing beschrieben wird, wird gern„moralisches Gewissen“ genannt, ebenso „Zivilcou-rage“, „Heldentat“ und „Mut“. Im Antrag der Grünenheißt es, dass Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber ne-ben Mobbing häufig auch arbeits- und dienstrechtlichenKonsequenzen ausgesetzt sind. Hierdurch entstehe fürMitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Gewissenskonflikt:Es ist zu entscheiden, ob sie über die Missstände spre-chen oder schweigen.Die Opposition ist der Meinung, dass es ein neues Ge-setz geben soll. Von den Grünen und den Linken sindentsprechende Anträge bzw. Gesetzentwürfe sowohl inden Jahren 2011 und 2012 als auch jetzt, 2014, einge-bracht worden.
Ihr gutes Recht.
CDU/CSU und SPD werden beim Hinweisgeberschutzprüfen, ob die internationalen Vorgaben hinreichend um-gesetzt sind. Das haben wir im Koalitionsvertrag mitei-nander vereinbart. Ich bin der Auffassung, dass Sie undwir alle Möglichkeiten haben, eine entsprechende Rege-lung innerhalb der Koalition einzufordern.
Insofern sage ich: Dieser Prüfauftrag wird aus meinerSicht sicherlich erfolgen.Jetzt zum Unternehmenskontext. Keine Frage, einMitarbeiter kann sich nicht einverstanden erklären, wennunverantwortliche Risiken für das Gemeinwesen oderStraftaten bei ihm im Betrieb eingegangen werden. Esbraucht – da sind wir uns einig – mutige Mitarbeiter zurAufklärung solcher Fälle. Im Gegenzug muss der Hin-weisgeber aber auch vor Nachteilen im Betrieb geschütztwerden. Und genau dieser Aspekt wird von der deut-schen Gesetzgebung aufgegriffen.Der Arbeitgeber darf einen Arbeitnehmer bei einerVereinbarung oder einer Maßnahme nicht benach-teiligen, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weiseseine Rechte ausübt.
Der Arbeitnehmer ist durch das eben genannte Maß-regelungsverbot gemäß § 612 a BGB geschützt; das isthier heute schon mehrfach gesagt worden. Arbeitnehmerin Deutschland dürfen ihren Arbeitgeber anzeigen, wenner das Recht bricht. Darüber hinaus existieren bereitszahlreiche spezialgesetzliche Anzeigerechte für Be-schäftigte – die Gesetze sind hier ebenfalls schongenannt worden –, zum Beispiel nach dem Arbeits-schutzgesetz, dem Bundesdatenschutzgesetz oder demBetriebsverfassungsgesetz.Zur derzeitigen Rechtsprechung ist zu sagen: BeiStraftaten mit schweren Folgen für Einzelne oder für dieAllgemeinheit kann auf den ersten wichtigen Gang, denVersuch einer innerbetrieblichen Klärung, verzichtetwerden. In der Rechtsprechung ist dieses ungeschrie-bene Anzeigerecht der Arbeitnehmer so anerkannt.
– Ungeschrieben, in der Tat.
Auch wenn es sich nicht um schwere Straftaten han-delt, darf Hinweisgebern nicht gekündigt werden, wennsie im Vorfeld einer Anzeige oder Veröffentlichung ei-nige Regeln einhalten. So können sich Hinweisgeber anöffentliche Stellen wenden, wenn sie sich zuvor ernsthaftum eine innerbetriebliche Klärung bemüht haben. Es sollsich eben nicht sofort an die Polizei und die Medien ge-wendet werden. Auch darf eine Anzeige nicht leichtsin-nig und mit dem Ziel erfolgen, einer Kollegin oder ei-nem Kollegen erheblichen Schaden zuzufügen. Genaudiese Punkte, die auf die bewährte Rechtsprechung zu-rückzuführen sind, finde ich ausgesprochen sinnvoll.In einem Betrieb haben Unternehmensleitung, Füh-rungskräfte und Betriebsrat eine Verantwortung für dieBeschäftigten. Diese Verantwortung erfordert es, mitHinweisen im Betrieb sorgsam umzugehen. Es ist zu-nächst einmal zu klären, ob sie zutreffen, indem man Ge-spräche mit dem Hinweisgeber, aber auch mit den vonden Hinweisen betroffenen Kolleginnen und Kollegenführt,
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6032 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Uwe Lagosky
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kurzum, indem man eine Beurteilung der Gesamtsitua-tion vornimmt. Wenn die Gesamtsituation es erfordert,sind auch arbeits- und strafrechtliche Maßnahmen einzu-leiten.Viele Unternehmen in Deutschland haben Ethikricht-linien und entsprechende Betriebsvereinbarungen mitihren Betriebsräten abgeschlossen. Als ehemaligerKonzernbetriebsratsvorsitzender eines Energieversor-gungsunternehmens hatte ich einmal die Gelegenheit,eine derartige Ethikrichtlinie und Betriebsvereinbarungabzuschließen. Um sie umzusetzen, wird in der Regelauf eine Anlaufstelle im Betrieb Wert gelegt und dieseinstalliert. Es findet eine Sensibilisierung, eine Beleh-rung der Beschäftigten statt, indem man unter anderemKorruptionssachverhalte deutlich macht. Korruptionsre-levante Straftaten werden ebenfalls dort benannt, sodassdie Beschäftigten insgesamt auf diese Situation vorberei-tet sind.Ethikrichtlinien sollen dabei unterstützen, dass mögli-che Straftaten oder korruptes Verhalten aufgedeckt wer-den und dass ein eventueller Rufschaden für den Betrieboder für einzelne Mitarbeiter bei nicht korrekten Hinwei-sen abgewendet werden kann. Sie stellen auch den Hin-weisgeber unter Schutz. Wenn man nach den betriebli-che Richtlinien und dem geltenden Recht verfährt, sindBetrieb und Hinweisgeber in der Regel maximal ge-schützt.Die betrieblichen Handlungsmöglichkeiten eröffnenauf der einen Seite den Rechtsweg, verhindern auf deranderen Seite aber auch, dass Beschäftigte und Arbeitge-ber zu Unrecht von Hinweisgebern belastet werden. Un-ter welchen Rechtfertigungsdruck geraten Betriebe,wenn keine innerbetriebliche Aufklärung vorgeschaltetist? Man muss sich das nur einmal vorstellen: Medienkommen auf den Vorstand oder Betriebsrat zu, und esherrscht völlige Unwissenheit bei den Entscheidern.Keine vorhergehende Information, keine Möglichkeitzur Umsetzung der innerbetrieblichen Regelungen, dieder Regeltreue dienen, keine Aufklärung des Sachver-haltes, keine Chance, sich mit Vorwürfen auseinanderzu-setzen, keine eigene Entscheidung über mögliche Straf-anzeigen, keine Kommunikationsstrategie, falls falscheHinweise an die Öffentlichkeit gelangt sind – kurz ge-sagt: Chaos.Unzutreffende Anschuldigungen sind in der Öffent-lichkeit nur schwer oder gar nicht mehr zu korrigieren.Ungerechtfertigte Anzeigen können finanzielle und exis-tenzielle Folgen für den gesamten Betrieb haben und na-türlich auch für die Arbeitsplätze, die dahinter stehen.Insofern ist die Darstellung, dass Hinweisgebern nebenMobbing häufig auch arbeits- und dienstrechtliche Fol-gen bis hin zur Kündigung sowie strafrechtliche Konse-quenzen drohen, nur eine Sichtweise der Dinge.Unternehmen haben mit der Einführung vonEthikrichtlinien und dazugehörigen Betriebsvereinba-rungen erheblich zur Korruptionsprävention beigetragenoder haben noch die Möglichkeit dazu. Durch die Betei-ligung an der Entwicklung von Ethikrichtlinien in Ver-bindung mit Betriebsvereinbarungen haben auch die Be-triebsräte die Möglichkeit, ihren Einfluss in denBetrieben zu steigern. Es kommt nicht nur auf neue Ge-setze an, sondern vielmehr auf eine Kultur im Betrieb,die die Sozialpartner gemeinsam gestalten, eine Kultur,die es den Beschäftigten von vornherein leicht macht, in-tern Hinweise zu geben und so ihren Beitrag zu leisten,grobe Missstände und Gefahren abzustellen.Meine Meinung ist: Deutschland hat eine Gesetzge-bung, die den Betrieben sowohl Möglichkeiten zur Auf-klärung als auch einen ausgewogenen Hinweisgeber-schutz bietet. Die im Koalitionsvertrag vorgesehenePrüfung werden wir vornehmen. Ich bin auf die Ergeb-nisse gespannt. Als Union lehnen wir den Inhalt des An-trags und des Gesetzentwurfs an dieser Stelle ab.Herzlichen Dank.
Als letzter Redner in der Debatte hat jetzt der Kollege
Gerold Reichenbach das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüneund am Fernseher! Wir reden hier nicht über den Schutzvon Querulanten oder über den Schutz von denjenigen,die aus persönlichen Motiven heraus ihrem Arbeitgeberschaden, sondern wir reden über ganz andere Fälle.Es ist 20 Jahre her. Der eine oder andere wird sich er-innern an Bilder von zuckenden Kühen aus England unddie Berichte von Menschen, die sich an dieser tödlichengrausamen Krankheit durch in Umlauf gebrachtes Rind-fleisch von erkrankten Tieren angesteckt haben. Gleich-zeitig kam hier in Deutschland von der Fleischindustrieund auch von vielen offiziellen Stellen die Beteuerung:Das ist ein englisches Problem. Das gibt es bei uns inDeutschland nicht.Im Jahr 1994 schilderte die HygieneamtstierärztinMargrit Herbst in einem Interview, das im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde, wie sie in ei-nem Schlachthof bei der Tierbeschau BSE-Anzeichen anmehreren Tieren festgestellt hat. Diese Tiere wurdendann allerdings auf Entscheidung höherer Stellen trotz-dem für die Schlachtung und die Inumlaufbringung frei-gegeben. Dann erst kam auch in Deutschland der BSE-Skandal ins Rollen.Jetzt frage ich Sie: Welchen Schutz hat denn dieseFrau genossen, die verhindert hat, dass auch in Deutsch-land Produzenten und Fleischbetriebe aus Profitgier wei-ter Fleisch in den Umlauf bringen, das die Gefahr in sichbirgt, dass auch deutsche Bürger sich in Massen an die-ser grausamen und tödlich endenden Krankheit infizie-ren? Sie hatte sich ja zuvor an ihren Vorgesetzten gewen-det. Das Ergebnis war: Margrit Herbst wurde fristlosgekündigt.Der hier schon ein paarmal angesprochene Fall derPflegerin in einem Berliner Klinikum, die ihren Rechts-schutz bis zum EuGH durchklagen musste, macht deut-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6033
Gerold Reichenbach
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lich: Offensichtlich sind die Schutzvorschriften, die wirin den unterschiedlichen Gesetzen durchaus haben, nichtausreichend, um Beschäftigte, die Mut zeigen, dannauch zu schützen. Wer hat denn die Unterstützung unddie Kraft, seine Rechte als Arbeitnehmer bis zum EuGHdurchzuklagen?Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel. In meinemWahlkreis – zwei Ortschaften nebendran – wohnt RudolfSchmenger. Das ist einer der hessischen Steuerfahnder,die sich ebenfalls an ihre Vorgesetzten gewendet habenund die weggemobbt wurden. Erst nachdem sie aus demDienst entfernt worden sind, konnten über Gerichte imNachhinein die Unrechtmäßigkeit des Handelns ihrerArbeitgeber und ein Schadenersatzanspruch festgestelltwerden.
Jetzt komme ich zu den Grünen.
Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode ge-nauso wie Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir wer-den auch weiterhin dafür eintreten, dass wir Mehrheitenhaben.
– Ja, lieber Konstantin von Notz, wir regieren hier ge-meinsam mit der CDU/CSU. Aber solange Sie sich– den Fall Schmenger vor Augen – nicht stolz hier hin-stellen und sagen können, dass Sie gemeinsam mit derCDU in Hessen im hessischen Beamtengesetz einenHinweisgeberschutz geschaffen haben,
gilt für Sie das Gleiche wie für den Fußballfan auf derTribüne, der lautstark etwas fordert, es aber auf demPlatz selbst nicht hinbekommt.
Letzter Satz. Wir werden über das Gesetz, übrigensauch über die Details, diskutieren. Kollege Ströbele, das,was Sie da so schön zitiert haben, das sind die Formulie-rungen, die wir gemeinsam in der Opposition
bei dem zum Glück verfehlten Versuch der schwarz-gel-ben Koalition im Zusammenhang mit dem Überwa-chungsskandal bei Bahn und Post und bei anderen füreinen Hinweisgeberschutz im Beschäftigtendatenschutz-gesetz gefunden haben.Das sind die gleichen Formulierungen, die wir damalsals völlig unzureichend und nicht bestimmt genug kriti-siert haben. Jetzt kommen Sie selbst mit diesen Formu-lierungen. Das heißt, wenn Sie selbst Ihre Aussagen vondamals ernst nehmen würden, dann würden Sie hier zu-mindest einen gewissen Diskussions- und Regelungsbe-darf entdecken und sich nicht einfach nur so hinstellenund sagen: Wir haben den Stein der Weisen, und die an-deren sind nur nicht in der Lage, das zu erkennen.
Es gibt dazu die Beschlüsse auf europäischer Ebene;das ist gesagt worden. Auch das Europäische Parlamenthat dazu mehrmals Beschlüsse gefasst. Wir als Sozialde-mokraten werden sowohl in der Prüfung, die wir in derKoalition vereinbart haben, als auch darüber hinaus da-für kämpfen, dass wir hier in diesem Parlament die poli-tischen Mehrheiten dafür bekommen, Menschen, die somutig wie Frau Herbst waren, das Schicksal, anschlie-ßend arbeitslos auf der Straße zu stehen, in Zukunft zuersparen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwasZurückhaltung auch bei Zwischenfragen, weil wir sonstvöllig aus dem Zeitrahmen laufen.
– Ich finde, dass diese Zwischenfragen für eine Debattewichtig sind; deswegen habe ich sie auch zugelassen.Aber ich bitte Sie trotzdem, die Zeit ein bisschen imAuge zu behalten. Auch die Kolleginnen und Kollegen,die nach Ihnen zu den anderen Debattenpunkten redenwerden, sollten nicht vor einem leeren Haus sprechen.Dazu sind die Debatten zu wichtig.Wir kommen jetzt zu der Überweisung. Interfraktio-nell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Druck-sachen 18/3039 und 18/3043 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federfüh-rung ist jedoch strittig. Deshalb muss ich darüber ab-stimmen lassen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPDwünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit undSoziales, und die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss fürRecht und Verbraucherschutz.Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlagder Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen,also Federführung beim Ausschuss für Recht und Ver-braucherschutz, abstimmen. Wer stimmt diesem Über-weisungsvorschlag zu? – Das sind Bündnis 90/Die Grü-nen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Das ist dieKoalition. Enthaltungen? – Niemand. Damit ist dieserÜberweisungsvorschlag abgelehnt worden.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Fe-derführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Die Koali-
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6034 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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tion. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünenund Die Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damit istder Überweisungsvorschlag angenommen worden: DieFederführung hat der Ausschuss für Arbeit und Soziales.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 32 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Heinz Riesenhuber, Dr. Joachim Pfeiffer,Dr. Kristina Schröder , weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-wie der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee,Hubertus Heil , Niels Annen, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDStrategische Ziele für die Raumfahrt in dieserLegislaturperiode absichernDrucksache 18/3040Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Auswärtiger AusschussAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dieStaatssekretärin Brigitte Zypries das Wort.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich möchte mich bei den Mitglie-dern des Hohen Hauses dafür bedanken, dass sie es mitdem Einbringen des Antrags der Koalitionsfraktionen er-möglicht haben, hier im Bundestag eine Debatte zumThema Raumfahrt zu führen. Überall in Deutschland istdie Raumfahrt in diesen Tagen präsent. Es ist schön, dasswir das im Bundestag nachvollziehen.Der Astronaut Alexander Gerst ist der wesentlicheAnlass dafür, dass im Moment so viel über Raumfahrt inDeutschland geredet wird. Alexander Gerst ist nicht nurein vorzüglicher Wissenschaftler, der viele Experimentein der ISS durchführt, sondern er ist auch ein echterSympathieträger für die Luft- und Raumfahrt. Mit seinenzahlreichen Liveschaltungen, Postings bei Twitter undFacebook lässt er die Welt an allem teilhaben. Insbeson-dere viele junge Leute reagieren positiv auf ihn.Das nächste Highlight steht nächste Woche bevor:Am 12. November soll der Lander auf einem Kometenausgesetzt werden.
– Wunderbar, vielen Dank, Herr Kollege. Ich hätte michnicht getraut, diesen Namen auszusprechen. – Er sollnach zehn Jahren Flug im All dorthin erforschen, auswelchem Material das frühe Sonnensystem war und wieder Ursprung der Welt ist, wie das Weltall entstehenkonnte.Das sind die Themen, die die Öffentlichkeit wahr-nimmt.Aber natürlich schreitet auch der Aufbau des Galileo-Navigationssystems voran. Wir alle nutzen täglich das,was in Form von Datenmengen und Satellitenverbindun-gen aus dem Weltall kommt, ohne großartig darübernachzudenken. Fakt ist aber: Ohne den Weltraum, ohnedie Satelliten, die wir in den Weltraum transportiert ha-ben, und ohne die Raketen, die wir dafür brauchen, wäredas Leben auf der Erde, wie wir es heute kennen, garnicht mehr vorstellbar.Dabei geht es mir jetzt gerade gar nicht um dieGrundlagenforschung, die in diesem Bereich erfolgt ist,und um die Materialforschung, die wir der Raumfahrtverdanken. Das kommt alles dazu. Ich meine ganz realdie täglichen Anwendungen, die wir nutzen: Die Satelli-ten helfen uns bei der Klimaforschung, der Wettervor-hersage und beim Katastrophenschutz, zum Beispieldurch die Erstellung aktueller Lagebilder.Die praktische Bedeutung für unseren Alltag spiegeltsich auch in den Aufwendungen der Bundesregierungfür die zivile Raumfahrt wider. Diese Aufwendungensind in den letzten Jahren stark gestiegen. Wir haben indiesem Jahr 1,3 Milliarden Euro in den Bundeshaushalteingestellt. Auch dafür vielen Dank an die Abgeordne-ten, die das ermöglicht haben.Einen Teil dieser Mittel verwenden wir für unser na-tionales Programm im Weltraum. Denn dort betreibenwir mit TerraSAR-X und TanDEM-X eigene Projekte,bei denen es um die Ermittlung von Höhenmodellen derErdoberfläche geht. Wenn das Programm so gelingt, wiees geplant ist, wird es zu erheblichen neuen Anwendun-gen in der Navigation und sonstigen Technologien füh-ren.Im Bereich der Satellitenkommunikation werden wirmit der Mission „Heinrich Hertz“, die wir gemeinsammit dem Verteidigungsministerium auf den Weg ge-bracht haben, neue Wege beschreiten.Die optische Satellitenkommunikation ist ein andererBereich, in dem Deutschland weltweit die Nase vorn hat.Mit dem Laser Communication Terminal können 20-malhöhere Datenraten erreicht werden. Da entsteht Spitzen-technologie „Made in Germany“. Es ist gut und richtig,dass die ESA und das ESOC in Darmstadt jetzt mitINNOspace eine neue Initiative gestartet haben und da-mit die Technologien aus der Raumfahrt mit dem zusam-menbringen, was wir in anderen Bereichen auf der Erdemachen. Denn wenn wir von Industrie 4.0 und neuenTechnologien reden, dann ist klar, dass damit eine mas-senhafte Datenverarbeitung verbunden ist. Und werkann das besser als die Raumfahrer?Ehe meine Redezeit aus dem Ruder läuft, möchte ichnoch ein paar Sätze zur ESA-Ministerkonferenz sagen.Insbesondere die interessierte Wirtschaft kennt zurzeitkein anderes Thema mehr als das Datum 2. Dezember.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6035
Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries
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Wir werden dann noch einmal über die institutionelleTrennung von EU und ESA beraten. Dazu hat die Bun-desregierung – das habe ich auch dem Antrag entnom-men – dieselbe Position wie der Bundestag: Wir wollen,dass die ESA in ihrer Autonomie bestehen bleibt unddass es nur um die punktuelle Zusammenarbeit mit derEU geht.
Es hat auch sehr praktische bzw. finanzielle Gründe,weshalb wir das wollen. Wir haben mit der ESA einewirklich schlagkräftige Organisation, bei der wir gerneeinen Deutschen an der Spitzen sehen würden.
Das zweite Thema ist die Finanzierung der ISS.Deutschland steht zu seinen Verpflichtungen. Das istvöllig klar. Aber ich sage auch ganz klar: Wir möchten,dass andere ebenfalls dazu stehen und dementsprechendihren vereinbarten Anteil übernehmen. Das muss durch-gesetzt werden.Die Frage, welche Rakete wir jetzt bauen, bringt michzunächst einmal zu der Aussage, dass wir mit der Ariane 5eine Rakete haben, die ausgesprochen zuverlässig ist.
Wir haben über 50 erfolgreiche Starts in Folge gehabt –ohne einen einzigen Zwischenfall. Und diese Rakete istsehr gut am Markt positioniert. Sie müssen wissen, dassungefähr 60 Prozent des Marktes für kommerzielle Sa-tellitenstarts auf die Ariane 5 entfallen.
Die Notwendigkeit, diese Rakete weiterzuentwickeln,lag also nur darin, dass sie im Start zu teuer ist und dassman davon ausgeht, dass die Amerikaner mit SpaceXgünstigere Modelle haben. Deswegen wurde vor zweiJahren die Entwicklung einer Ariane 5 ME von derMinisterkonferenz beschlossen und angedacht.Nun gibt es aber einen neuen Vorschlag einer Ariane6. Auch wenn jetzt viele zur Eile drängen, kann ich nursagen: Man sollte sich das gründlich überlegen. WirDeutsche haben mit Großprojekten hinreichendschlechte Erfahrungen in den letzten Jahren gemacht.Wenn ich mir die Geschichte der Raketenentwicklungvor Augen führe, dann stelle ich fest, dass die Entwick-lung einer jeden Rakete länger gedauert und mehr gekos-tet hat als ursprünglich veranschlagt. Ich frage mich– gewissermaßen noch als Neuling nach knapp einemJahr in diesem Amt –: Warum bitte soll es eigentlichdiesmal anders sein als sonst? – Deswegen bin ich sehrzurückhaltend, um es klar zu sagen. Ich hoffe nichtsdes-totrotz, dass wir gemeinsam insbesondere mit unserenfranzösischen Kolleginnen und Kollegen da noch einenKompromiss finden werden.
Als nächster Redner spricht der Kollege Thomas
Lutze.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Raumfahrt – ohne Zweifel – fasziniert.Kaum ein anderes Forschungsfeld steht so für Visionenund Fortschritt wie die Weltraumforschung. Raumfahrtsteht für neue, sagenhafte Erkenntnisse. Raumfahrtfor-schung steht für ganz neue Perspektiven. Gestatten Siemir deshalb, dass ich mich anhand von drei Punkten zuIhrem Antrag kritisch äußern muss und ihn kritisch hin-terfragen möchte.Erster Punkt. Wissenschaft sollte in der heutigen Zeitnicht mehr von Staatsangehörigkeit, Patriotismus oderpropagandistischen Interessen beeinflusst sein. Spätes-tens 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges sollten wirzumindest dieses Kapitel schließen.
Die internationale Zusammenarbeit kommt aber im An-trag der Koalition zu kurz. Ich spreche hier nicht von un-serer Zusammenarbeit im Rahmen der ESA, sondernvon der Zusammenarbeit mit anderen Weltraumnatio-nen. Das wären neben Europa zum Beispiel die USA,Russland, China, mittlerweile auch Indien und andereStaaten. Im Weltall gibt es keine Grenzen. Ich glaube,dass es auch in der Weltraumforschung keine Grenzengeben darf.
Die Koalition will eine Raumfahrt, die stärker aufNutzen, Bedarf, Nachhaltigkeit ausgelegt ist. VerstärkenSie bitte die internationale Kooperation, wenn Sie ernst-haft nachhaltig arbeiten wollen!
Zweiter Punkt. Zum fortschrittlichen Umgang mitWissenschaft zählt auch, dass moralische Standardsnicht außer Acht gelassen werden. Als Linksfraktionwollen wir nicht, dass staatliche Gelder dazu aufge-bracht werden, zum Beispiel Rüstungskonzerne bei derEntwicklung von Technologien im Raumfahrtbereich zuunterstützen. Leider ist es so, dass ursprünglich friedli-che Entwicklungen auch von der Rüstungsbranche ge-nutzt werden. Aber die staatliche Förderung muss aus-nahmslos im Interesse des Friedens und zum Wohl derMenschen erfolgen.
Dritter Punkt. Ein großes Problem sehe ich bei fol-genden Äußerungen im Antrag der Großen Koalition– ich darf zitieren –:Die hohen Kosten für die Raumfahrt sind nur durcheinen hohen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen
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6036 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Thomas Lutze
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oder kommerziellen Nutzen zu rechtfertigen. Daserfordert– und jetzt kommt es –eine klare Ausrichtung der Raumfahrt auf Nutzenund Bedarf …Herr Riesenhuber wird nach mir reden und kann dasvielleicht bestätigen: So funktioniert Wissenschaft nicht.Forschungsprojekte an dem aktuellen, kurzfristigen In-novationsbedarf auszurichten und noch dazu von denKosten abhängig zu machen, führt zu einer Kapitalisie-rung von Forschung, Wissenschaft und Bildung. Wennnur noch Projekte gefördert werden, deren Nutzen vonvornherein abzusehen ist, werden mögliche, eventuellsogar revolutionäre Entdeckungen unmöglich.
Der Staat darf Wissenschaft nicht einfach als Mittelzur Profitmaximierung betrachten. Er muss sie als trei-bende Kraft des kulturellen Fortschritts verstehen. Wennwir uns nicht trauen, Rückschläge in Kauf zu nehmen,wird auch jeder wissenschaftliche Fortschritt ausbleiben.Forschergeist braucht Freiheit und keine Grenzen.
Revolutionäre Entdeckungen, die die Grundsteine fürnahezu die gesamte heutige Forschung gelegt haben, wä-ren in der Vergangenheit so nicht gemacht worden. DieWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sichnicht von einem Kosten-Nutzen-Verhältnis einengen las-sen. Ihr Motto war immer, Licht ins Dunkel des Univer-sums zu bringen.Selbstverständlich lassen sich in der Realität nichtalle Träume verwirklichen. Trotzdem: Wir brauchen denguten alten Entdeckergeist. Den dürfen wir nicht durchzwanghaften Effizienzeifer kaputtmachen lassen.Aus meiner Sicht muss die Zukunft der Raumfahrtund der Weltraumforschung friedlich, international, ko-operativ und dem menschlichen Fortschritt verpflichtetsein.
Wenn die Wirtschaft daraus einen Nutzen ziehen kann,dann ist das gut so. Das darf aber nicht alleine unserHandeln bestimmen, so wie es im Antrag der Koalitionzum Ausdruck kommt.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Professor
Dr. Heinz Riesenhuber das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Lieber HerrLutze, es freut mich erstens, dass Sie die Leidenschaftvon Frau Zypries für die Weltraumfahrt teilen. Es freutmich zweitens Ihre Begeisterung für den Geist der Wis-senschaft. Das ist, finde ich, eine vorzügliche Einstellung.Über die Wissenschaft, über das Wissenschaftsprogramm,über die Technologiestrategien, über die Exploration undüber andere Themen wird die ESA 2016 diskutieren.Heute haben wir hier drei zentrale technologische undstrategische Themen anzusprechen. Ich freue mich sehr,Frau Staatssekretärin, über die harmonische Überein-stimmung der Bundesregierung mit der Koalition in dengrundsätzlichen Zielen und in der Begeisterung für dieSache.Wir haben drei gewichtige Themen. Die eine Frageist: Wie wird Europa zukünftig den Zugang zum Welt-raum organisieren? Mit der Ariane 5 haben wir ein ex-zellentes Gerät. Seit 2003 gab es 62 Starts ohne irgend-ein Problem. Sie ist verlässlich, sie hat sich über dieJahre bewährt. Aber jetzt haben wir eine andere Welt– Frau Zypries weist darauf hin –: Wir haben eine Welt,in der sich die Konkurrenten neu aufstellen, in der dieAriane wettbewerbsfähig sein muss. Die Fragen, ob siebilliger werden kann, wesentlich billiger, ob sie flexiblerwerden kann, ob die nächste Ariane Kern einer neuenFamilie von Trägern werden wird, sind interessante Fra-gen.Deutschland und Frankreich, die zwei Industrienatio-nen, die hier im Wesentlichen beteiligt sind, haben in derTat ein neues Konzept vorgelegt, das schon seine Faszi-nation hat. Wir haben bis jetzt eine Weiterentwicklungzur Ariane 5 ME im Sinn gehabt. Das ist eine kluge undsaubere Strategie. Aber die Frage, ob der Vorschlag fürdie nächste Generation Ariane 6 einen Durchbruch ineine neue Dimension bringen kann, wird interessantsein. Ich bin nicht sicher, ob das Konzept schon reif ist.So etwas muss dann auch durchdiskutiert sein. Ich binnicht sicher, ob es erreicht werden kann, dass die Indus-trie die angestrebte höhere Verantwortung tatsächlichübernimmt. Ich bin nicht sicher, dass wir schon wissen,ob die Strukturen so sind, dass wir dem privatwirtschaft-lichen Ansatz in den Vereinigten Staaten widerstehenkönnen.Wir haben es beim Airbus erlebt. Vor 30 Jahren wardas ein freundlicher Gedanke der Bundesregierung ge-wesen – und natürlich von Herrn Strauß. Er wurdeschrittweise entwickelt. Die Industrie hat sich gegen alleErwartungen beteiligt, aber den Durchbruch auf denWeltmärkten erzielte der Airbus in dem Moment, in demdie Industrie die Verantwortung übernommen hat und inder Konkurrenz mit Leidenschaft, Augenmaß und demWillen zum Überleben für das jeweils beste technischeKonzept gekämpft hat. Solche Strukturen auch bei derAriane zu erreichen, wäre eine faszinierende Sache. Dasist ein langer Prozess.Unser Antrag, der ein weiser Antrag ist, schreibt derBundesregierung nicht vor, wie das gemacht werdenkann. Wir sprechen über strategische Ziele. Wir achtendie Hoheit der Exekutive bei den Verhandlungen. Wir
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bewundern die Kompetenz des DLR, wir freuen unsüber das Zusammenspiel der Bundesregierung mit demDLR, aber auch mit ihren Partnern in der Welt. Aber dieAriane wird eines der Themen sein, über die zu entschei-den ist.Zweitens – Frau Zypries hat es angedeutet –: Waspassiert mit der Internationalen Raumstation? Das istschon eine einzigartige Einrichtung, beruhend auf dergrößten technischen Zusammenarbeit, die es in der Weltüberhaupt gibt, einhergehend mit äußerster Komplexität,mit großer Strahlkraft. Wir haben uns beim Betrieb derISS bis 2020 festgelegt. Die Finanzierung muss manjetzt wieder vernünftig festklopfen. Die alte Kostenver-teilung muss stehen.Aber was passiert danach? Ich bin sehr gespannt da-rauf, welche Vorschläge dazu kommen. Es wird Zeit:2020 – bis dahin haben wir uns festgelegt – ist nichtmehr fern. Bis dahin gilt es, herauszufinden, was wirwollen: Wie können wir die Kompetenz dafür, dassMenschen im Weltraum arbeiten können, erhalten? Wiekönnen wir sie weiter sinnvoll nutzen? Wenn wir die ISSweiter nutzen wollen, machen die Partner dabei mit?Welches sind die wissenschaftlichen Anschlusspro-gramme? Darin liegt durchaus, lieber Herr Lutze, Faszi-nation für das, was in der Wissenschaft, in der Material-forschung, bei Legierungen, in der Pharmazie, in derMedizintechnik, an Bord der ISS passiert.Das ist weitestgehend Grundlagenforschung. Grund-lagenforschung – jetzt muss ich aufpassen, dass ichkeine Rede über andere Themen halte – ist wirklich auchdann reizvoll, wenn sich die Industrie vorher überlegt,was dabei herauskommen kann. Wir wollen jetzt einmalschauen, dass die Finanzierung der ISS bis 2020 gesi-chert werden kann und dass es dann verlässlich weiter-läuft.Drittens. Die EU hat jetzt den Auftrag, eine europäi-sche Raumfahrtpolitik zu entwickeln; das ist im 2009 inKraft getretenen Vertrag von Lissabon festgelegt. Das isteine große Aufgabe. Sie gelingt dann, wenn die EU dengroßen strategischen Rahmen für die Raumfahrtpolitikerrichtet und wenn die ESA mit ihrer technischen Kom-petenz die Geräte zur Umsetzung so entwickelt, dass dieNationen, die beteiligt sind, jeweils ihre besten Fähigkei-ten mit einbringen können, und wenn daraus dann einegemeinsame Strategie von großer Stärke entsteht.Dass dies gelingt, ist nicht ganz einfach zu erreichen.Aber wir haben jetzt, an dieser Stelle, die Chance, dieWeichen so zu stellen, dass die Fähigkeit Europas, Welt-raumtechnik in die Gesamtstrategie seiner Industrie- undWirtschaftspolitik, seiner Klima- und Umweltpolitik ein-zubeziehen, kombiniert wird mit dem unabhängigen undbewährten System der ESA und ihrer Partner.Das sind die drei entscheidenden Punkte. Auch das,was hier darüber hinaus ansteht, ist von Bedeutung. Wirhaben über die Raumfahrt im Deutschen Bundestagnicht sehr oft diskutiert; die letzte Weltraumdebatte liegtungefähr ein Jahrzehnt zurück; wir denken also durchausin chinesischen Zeiträumen. Eine wichtige Frage ist hierschon mit angemessener Behutsamkeit angesprochenworden: Wie schön wäre es, wenn wir bald einen deut-schen ESA-Generaldirektor bekämen? Deutschland hatsich bereit erklärt, einen vorzüglichen Kandidaten vor-zuschlagen. 30 Jahre ist es her, dass Reimar Lüst zumGeneraldirektor der ESA gewählt worden ist. Er war einprachtvoller Kandidat; er war ein exzellenter Generaldi-rektor. Das Gleiche traue ich auch Johann-Dietrich Wör-ner zu.
Ministerratskonferenzen haben ihre Tagesordnung.Sie haben in aller Regel aber auch eine kluge zweiteAgenda; Frau Bulmahn, Sie wissen es aus Ihrer früherenRegierungszeit. Die konspirativen Netzwerke, durch diemit unauffälliger, liebevoller Kooperation vorbereitetwird, was hernach an Entscheidungen bis hin zu den de-likaten Personalentscheidungen entstehen kann, sinddort lebendig. Nicht durch die Weisheit der Papiere, son-dern durch den charmanten und liebenswürdigen Um-gang mit Andersmeinenden entsteht dann plötzlich derDurchbruch zur übergeordneten Wahrheit, nämlich zurAkzeptanz unseres Kandidaten.
Schließlich: Zu Recht ist darauf hingewiesen worden,was für eine wirklich gewinnende und beeindruckendeArbeit Alexander Gerst im Weltraum geleistet hat. Wirhaben mit unseren Wissenschaftsastronauten immerGlück gehabt. Ich spreche nicht von Sigmund Jähn. Daswar 1978 in der DDR.
– Andreas, du erinnerst dich noch aus deiner frühen Ju-gendzeit. – Alle deutschen ESA-Wissenschaftsastronau-ten von Ulf Merbold bis Alexander Gerst – ich zähle siegar nicht alle auf – waren ganz verschieden, aber sie wa-ren prima: kompetent, nervenstark, mit einer erkennbarstrahlenden Freude an Technik. Sie waren begeistert,ihre Arbeit zu tun. Besonders die Idee, dass wir es kön-nen, dass Deutschland in Technik glanzvoll ist, dass wirhier verantwortlich mit der Wirklichkeit und unserenMöglichkeiten umgehen, das haben sie rübergebracht –auch über das hinaus, was im Weltraum technisch er-reicht werden kann.
Es ist eine bedeutende Sache, immer wieder mit sicht-baren Beispielen zu zeigen, an welchen Stellen erfolg-reich und mit Strahlwirkung gearbeitet werden kann, umso für Technik zu begeistern. Wenn wir Carbon Nanotu-bes erklären, begeistert das keinen Menschen, auchwenn der Durchbruch gigantisch ist; ein Mensch aber,der im Weltraum erfolgreich arbeitet und wohlbehaltenzurückkehrt, das ist eine gute Sache.Als wir vor vielen Jahren den Space-Shuttle „Enter-prise“ der NASA aus dem Weltraum nach Köln geholthaben, sagten die Leute erst: Was soll das? Da kommenvielleicht 5 000 Menschen. – Es waren dann 300 000,weil die Begeisterung für einen sichtbaren Erfolg in die
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nächste Runde weiterträgt. Es kommt immer darauf an,dass jeder ein bisschen mehr leistet, als er sich zutraut,jeder: der Arbeiter in der Fabrik ebenso wie der Astro-naut im Weltraum.Aus diesem Geist Deutschlands Zukunft zu bauen,das ist das Ziel, das wir gemeinsam mit dieser zuver-sichtlichen und hochkompetenten Regierung haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat als nächs-
ter Redner Dieter Janecek das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Dr. Riesenhuber,ob wir die übergeordnete Wahrheit oder gar Weisheit indiesem Antrag heute finden, das werden wir noch disku-tieren. Ich will aber eines gestehen: Eine gewisse kindli-che Freude hat mich schon ereilt, als ich erfahren habe,dass diese Debatte stattfindet. Ich glaube allerdingsnicht, dass wir mit dieser Debatte heute die gesetzlichenGrundlagen für die Einführung des Warp-Antriebs legenwerden, auch wenn sich manche das erträumen.Mir fällt dazu eines noch ein: Als im letzten Jahr nachder Bundestagswahl die Bundesregierung noch nicht ge-bildet war, hatten wir als Abgeordnete unverhofft einbisschen mehr Zeit, und diese Zeit habe ich genutzt, ummir die 176 Folgen von Star Trek: Deep Space Nine nocheinmal anzuschauen.
Damit hängt zusammen, dass es bei mir in Sachen Tech-nikbegeisterung jetzt durchaus einen gewissen Über-schwang gibt.Aber kommen wir zum Antrag. In dem Kontext warfür mich ein schönes Erlebnis, dass wir – Dank an HerrnWillsch und andere – die Möglichkeit hatten, am Diens-tag in der Parlamentarischen Gesellschaft mit unseremAstronauten, Herrn Gerst, direkt zu sprechen. Ein paarFragen haben wir ihm gestellt. Ich habe ihm auch eineFrage gestellt. Es hat mich sehr beeindruckt, wie er siebeantwortet hat. Ich habe ihn gefragt, wie denn seinBlick auf die Erde jetzt ist, wo er draußen ist und unssieht, wo er auf diesen begrenzten kleinen Planeten sieht.Er hat so geantwortet: Auf der Erde denken wir oft, un-ser Lebensraum sei fast unbegrenzt; doch dem, der vonweit draußen die Erde betrachtet, wird schnell klar, wieverletzlich der Blaue Planet ist. – Das ist natürlich für ei-nen Grünen, aber, ich glaube, auch für Sie alle eine Aus-sage, die zum Nachdenken anregt und zu der Frage führt,wofür wir die Raumfahrt eigentlich einsetzen wollen.Da gibt es natürlich eine ganze Menge von Interessen.Ein ganz wesentlicher Punkt ist durchaus die Klimafor-schung, auch die Frage, wie wir geostationär mit satelli-tengestützten Systemen die Mobilität verbessern kön-nen. Das ist ein durchaus schwieriges Thema. DenkenSie an die Fragen des Datenschutzes! Wir haben jetzt dieDiskussion um die Pkw-Maut in Deutschland. Wir wis-sen – das ist die ökologische Perspektive –, dass wir mitsatellitengestützt erfassten Daten Verkehrsflüsse ganzanders steuern könnten, als wir das mit dem Pickerl ausÖsterreich hinbekommen könnten. Auch diese Diskus-sion gilt es zu führen.
Ihr Antrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegender Koalitionsfraktionen, enthält eine Reihe von Punk-ten, denen ich zustimmen kann. Sie wollen den konkre-ten Nutzen für den Menschen in den Mittelpunkt derdeutschen und europäischen Raumfahrtpolitik stellen.Das ist auch unser Ansatz. Das unterschreibe ich gern.Sie sagen: Die Raumfahrt spielt bei der Bewältigungglobaler Herausforderungen – wie der Messung undAnalyse klimatischer Prozesse des Planeten – eine wich-tige, vielleicht in der Zukunft sogar entscheidende Rolle.Auch dem würde ich zustimmen. Es gibt dafür aus derVergangenheit sowie mit Blick in die Zukunft eine ganzeReihe von Beispielen. Beispielsweise soll der deutsch-französische Satellit Merlin ab 2017 eine Weltkarte derMethankonzentration erstellen, damit Methanquellenund Methansenken – das ist ein zentrales Thema beimKlimaschutz – identifiziert werden können. Das ist alsoeine wichtige Mission, zweifelsohne.Wir reden auch über die Satellitennavigation – Stich-wort „SatNav“ –; dieses Thema hatte ich angesprochen.Hier geht es um die Potenziale von Satelliten für einenmöglichen Wandel im Bereich der Mobilität. Denken Siedaran, dass wir dann in Zukunft in Ballungsräumen oderländlichen Regionen Fahrverhalten durch Geodaten be-einflussen bzw. steuern könnten – ein schwierigesThema, zweifelsohne, aber eines, das mich als jeman-den, der versucht, ökologische Lösungen zu finden,durchaus anspricht. Dazu kann die Raumfahrt definitiveinen Beitrag leisten.Ein schwieriges Thema ist sicherlich die bemannteRaumfahrt. Jetzt sind wir alle voller Begeisterung fürAlexander Gerst. Gleichzeitig wissen wir – das beschrei-ben Sie in Ihrem Antrag durchaus kritisch –, dass dieFrage, ob der Raumfahrt-Robotik die Zukunft gehörtund inwiefern menschlich bemannte Missionen nochSinn haben werden, eine zentrale Frage sein wird. MeinAnsatz wäre, ein Stück weit zu hinterfragen, wofür wirdie bemannte Raumfahrt brauchen. Wenn Sie sagen wür-den: „Wir brauchen sie, um eine weitere Vision zu ver-wirklichen, um neue Welten zu entdecken, um die Gren-zen unseres Planeten zu verlassen“, wenn Sie das alsoauf ein anderes Niveau heben würden, dann wäre das einanderer Ansatz, als wenn es – das müssen wir bei allerFreude selbstkritisch sehen – vornehmlich um Marketingund PR von Raumfahrt geht. – Diesen Spannungsbogenwollte ich darstellen.Zum Schluss komme ich noch zu einer kurzen Ein-schätzung zur ISS. Ich glaube, dass die ISS ein notwen-diges Projekt war und ist. Dass die Kosten aus dem Ru-der gelaufen sind, ist nicht schön; da muss man in derZukunft besser hinschauen und aufpassen. Dass eine Be-teiligung Deutschlands bis 2020 notwendig ist – bei Ge-samtprojektkosten von 100 Milliarden Euro; davon8 Milliarden Euro durch die ESA bereitgestellt –, sehenwir auch so. Man muss aber sehr genau fragen, wie wirunser Geld in der Zukunft sinnvoll investieren können.
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Dieter Janecek
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Auch an der Stelle müssen wir aus Fehlern der Vergan-genheit lernen.Insofern danke ich Ihnen für diesen Antrag und hoffesehr auf eine gute Wiederkehr von Herrn Gerst am10. November.Danke schön.
Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang
Tiefensee das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Zypriesmusste zu einem ganz dringenden Termin; aber ichmöchte ihr trotzdem ganz herzlich für ihr Lob danken. –Lieber Heinz, die Arbeit, die in diesem Antrag steckt,hat sich offensichtlich gelohnt. Wir haben deutlich ge-macht, dass die Legislative die Exekutive in Deutsch-land und vor allem auch in Europa stärken will.Ich erkenne bei diesem Thema eigentlich großes Ein-vernehmen. Herr Lutze, das war ein mühsames Suchenin dem Antrag, um etwas zu finden, aufgrund dessen Siedagegenstimmen könnten. Hier besteht eigentlich großerKonsens im Haus. Dennoch sehe ich drei große Gefah-ren bei diesem Thema. Deshalb haben wir diesen Antraggeschrieben und vorgelegt.Die erste ist: Trotz aller Euphorie, die besteht, wasAlexander Gerst angeht, was die Raumsonde Rosetta an-geht, die auf dem Kometen landen wird, wird immerwieder diskutiert: Brauchen wir die Raumfahrt eigent-lich? Müssen wir so viel Geld dafür ausgeben? – Wennes darum geht, im Haushalt die entsprechenden Mittelbereitzustellen, ist die Akzeptanz nicht durchweg gege-ben. Deshalb muss immer wieder darauf hingewiesenwerden, dass Raumfahrt eine Schlüsseltechnologie istmit Ausstrahlung auf vielfältige Wissenschaftsbereiche,auf Wirtschaftsbranchen, auf eine Grundlagenforschung,die weit über Deutschland und Europa hinaus von Be-deutung ist. Und wir haben ein strategisches Ziel. HerrLutze, Sie haben angemahnt, dass wir die internationaleZusammenarbeit brauchen. Das ist sicherlich richtig.Aber wir müssen uns andererseits auch als Europäerstark aufstellen. Der erste Punkt ist also: Wir müssenmehr dafür tun, um bei diesem Thema, das eigentlich re-lativ weit weg ist, obwohl es uns im Alltag betrifft, einegrößere Akzeptanz, eine größere Begeisterung zu erzeu-gen.Das Zweite ist: Wir brauchen eine Verstetigung derHaushaltsmittel. In Deutschland ist uns das gelungen.Wir sind jetzt, wenn ich mir den Aufwuchs anschaue– 2005 etwa 900 Millionen Euro –, bei 1,4 MilliardenEuro. Davon entfallen 634 Millionen Euro auf die ESAund davon wiederum 115 Millionen Euro auf die Träger-systeme. Aber es reicht nicht, diese Haushaltsmittel inDeutschland zu verstetigen, sondern wir brauchen auchweiterhin die Unterstützung mindestens unserer großenPartner Frankreich, Italien und Großbritannien. Beden-ken Sie dabei: Den Wirtschaften dort geht es nicht so gutwie unserer. Man hört erste Stimmen, dass die Pro-gramme unter Umständen finanziell gefährdet sind. Wirbrauchen also eine Verstetigung der Haushaltsmittel zurUmsetzung unserer Raumfahrtstrategie, damit wir alldas, was wir uns vorgenommen haben, auch finanzierenkönnen.Das Dritte – das treibt mich noch viel mehr um; es istbereits angeklungen – ist die Frage, wie wir in Europazusammenarbeiten wollen. Für mich ist ein Programmwie Galileo nicht nur irgendein Programm zur Satelliten-navigation, sondern die Blaupause, wie wir in Europazukünftig auch auf anderen Feldern zusammenarbeitenwollen.
Wir haben nämlich in diesem großen Maßstab bisher nurAirbus und Galileo. Dabei sind die drei Themen, dieschon angeklungen sind, noch einmal aufzurufen.Das ist erstens die Frage: Wie wollen wir die ESA inZukunft aufstellen? Die Entscheidungen werden jetzt inder Diskussion fallen, spätestens bis 2020. Wir sprechenuns dafür aus, dass es auch weiterhin eine eigenständige,mit vielfältigen Kompetenzen ausgestattete ESA gibtund keine Verschmelzung, bei der EU und ESA sich ge-genseitig behindern. Der entscheidende Punkt ist, dasswir schneller, durchsetzungsstärker und wettbewerbsfä-higer werden, nicht zuletzt gegenüber unseren Konkur-renten in den USA, in Russland und in China.Zweitens werden wir uns bei konkreten Projekten wiezum Beispiel Ariane – also Ariane 5 ME, Ariane 5 Plusoder eben Ariane 62/64 – schnell entscheiden müssen –gründlich prüfen, aber schnell entscheiden müssen –, da-mit wir den Anschluss nicht verpassen. Wir haben jetztdie Haushaltsmittel in Höhe von 115 Millionen Euro,und wir wissen: Falls die Entscheidung zugunsten derAriane 6 fällt, werden wir unter Umständen neu nach-denken müssen. Auch dafür braucht es Akzeptanz aufeuropäischer Ebene.Drittens brauchen wir beim Thema ISS eine intensiveZusammenarbeit.Wir müssen also mehr Akzeptanz und Begeisterungerzeugen. Wir wollen dafür sorgen, dass die Haushalts-mittel in unserem Haushalt und in dem anderer europäi-scher Länder verstetigt und aufgestockt werden, wo dasmöglich ist, auch in Ländern, wo die wirtschaftliche Si-tuation schwierig ist. Und wir brauchen eine Zusammen-arbeit, die uns schlagkräftiger und wettbewerbsfähigermacht. Dann ist mir um die Vision und um das ganzKonkrete nicht bange.Vielen Dank.
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6040 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
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Als nächster Redner hat der Kollege Andreas
Mattfeldt das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Immer, wenn ich gefragt werde, wasdenn das wohl herausragendste Ereignis in meinem Ge-burtsjahr 1969 war – an die SPD: das war nicht, dassWilly Brandt Kanzler wurde –, antworte ich: Das bedeu-tendste Ereignis war die Mondlandung, die den Ameri-kanern 1969 geglückt war, und der legendäre Satz vonNeil Armstrong beim Betreten des Mondes, als er sagte:Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber eingroßer Sprung für die Menschheit. – Ich glaube, dem istnichts hinzuzufügen. Dass die Menschheit es geschaffthat, auf dem Mond zu landen, war eben nicht nur fürNeil Armstrong ein besonderer Moment, das war nichtnur für die USA ein besonderer Moment, sondern – ichkenne es aus Erzählungen – das war auch bei uns inDeutschland ein besonderes Highlight-Ereignis. Auchder Wirtschaftsminister sagte am Dienstag, dass er sichgut daran erinnern kann. Ich glaube, das dokumentiertdie Bedeutung noch einmal eindrucksvoll.Die Raumfahrt hat sich seit 1969 weiterentwickelt.Sie hat unseren technischen und auch medizinischenFortschritt erheblich geprägt. Gerade wenn wir Europäerim Bereich des technischen Fortschritts weiter vorne mitdabei sein wollen, ist es zwingend, dass wir uns einen ei-genständigen Zugang zum All erhalten. Hier dürfen wiruns eben nicht auf andere Nationen, Herr Lutze, verlas-sen. Was passiert, wenn wir keine geeignete europäischeTrägerrakete einsetzen können, haben wir erst kürzlicherleben müssen, als aufgrund eines Konstruktionsfehlersder Sojus-Trägerrakete ein für das Satellitennavigations-system Galileo bestimmter Satellit nicht in die richtigeUmlaufbahn befördert werden konnte und daher nichtmehr nutzbar ist. Deshalb ist für mich klar: Wir dürfenuns im Bereich von Trägerraketen nicht abhängen lassenund müssen weiterhin aktiv sein.Wenn ich an andere Nationen denke, denke ich an Na-tionen, die zurzeit wirtschaftlich sehr erfolgreich agie-ren, wie zum Beispiel an China. Sie haben ganz klareStrategien. Sie setzen auf eigene Entwicklungen, und sieverlassen sich eben nicht auf andere. Nationen wieChina sehen und nutzen die Chancen, die sich aus neuenEntwicklungen für sie technologisch, aber im weiterenVerlauf auch wirtschaftlich ergeben. Gerade im Tele-kommunikations- oder im Verteidigungsbereich sehe icherhebliche Türen, die wir nicht zuschlagen dürfen. Nein,im Gegenteil, Europa muss unter dem Dach der ESA inder Raumfahrt weiterhin führend agieren.Hierzu möchte der vorliegende Antrag der Koali-tionsfraktionen, über den wir heute debattieren, beitra-gen. Mit einem klaren Bekenntnis der Mehrheit desDeutschen Bundestages möchten wir die Verhandlungenvon Frau Staatssekretärin Zypries auf der ESA-Minister-ratskonferenz stärken und untermauern. Europa soll wis-sen, dass das deutsche Parlament mit ganz großer Mehr-heit zur weiteren Entwicklung der ESA-Idee steht,meine sehr verehrten Damen und Herren.Viele Menschen in Deutschland – Sie haben es ebengehört – verfolgen in diesen Tagen die Aktivitäten unse-res deutschen Astronauten Alexander Gerst, der auf derISS seinen Dienst tut und die Menschen in unseremLand mit seiner Arbeit und vor allem – das darf ich sa-gen – mit seiner Berichterstattung begeistert. Der Nutzender Raumfahrt wird von Herrn Gerst, wie ich meine, sehreindrucksvoll dargestellt. Hierzu nutzt Alexander Gerstalle heute üblichen medialen Kanäle. Erstmals könnenwir die Mission eines deutschen Astronauten auch in densozialen Netzwerken hautnah und ganz persönlich be-gleiten. Ich jedenfalls freue mich jeden Morgen sehr aufdas Bild von Alexander Gerst aus der ISS. Die Men-schen – das sieht man an den Kommentaren sehr ein-drucksvoll – begleiten Alexander Gerst bei der Mission.Sie sind, so mag man fast denken, bei der ESA-Missionlive dabei.Was für mich aber neben aller wissenschaftlichen Ar-beit von enormer Bedeutung ist, ist, dass Gerst esschafft, junge Menschen für technische und physikali-sche Zusammenhänge zu begeistern. Ich gehe sogarnoch einen Schritt weiter: Gerst schafft es, dass vielejunge Menschen intensiv darüber nachdenken, ihre Stu-diengänge und ihre zukünftigen Berufe auch in techni-schen Bereichen zu suchen. Meine Damen und Herren,das wollen wir doch. Wir geben über zahlreiche Haus-haltstitel viel Geld aus, um für die technischen und wis-senschaftlichen Berufe, die sogenannten MINT-Berufe,zu werben – leider, wie ich häufig feststelle, mit verhal-tenem Erfolg. Deshalb sollten wir darüber nachdenken,ob es nicht vielleicht sinnvoller und sogar günstiger ist,erneut eine bemannte Raumfahrtmission auf die ISS inunsere Planungen aufzunehmen, gerade auch nach demgroßen Erfolg von Alexander Gerst.Natürlich wissen wir, dass Raumfahrt Geld kostet.Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir bei aller Eupho-rie zur Raumfahrt die Wirtschaftlichkeit im Auge behal-ten. Ich persönlich bleibe dabei – das kommt auch indem Antrag zum Tragen –, dass ich die Weiterentwick-lung der Ariane 5 – dann als ME – befürworte, bevor wireine komplett neue Ariane 6 entwickeln. Dies ist nichtnur aus haushälterischer Sicht – dazu komme ich späternoch –, sondern ganz besonders aus technologischenGründen wichtig.Wir setzen mit der jetzigen Ariane-Generation eineTechnologie ein, die erst seit 2008 in dieser Art fliegt.Diese an Zuverlässigkeit unschlagbare Trägerrakete jetztschon auszutauschen, ist technologischer, vor allem aberwirtschaftlicher Unsinn. Eine vernünftige Weiterent-wicklung ist wesentlich sinnvoller als eine kompletteNeuentwicklung. Die derzeitige Weiterentwicklung isthaushaltstechnisch noch finanzierbar, während einekomplett neue Ariane-6-Generation uns vor große haus-haltstechnische Probleme stellen wird, die ich mir alsHaushälter derzeit gar nicht vorstellen kann.Das gilt übrigens auch für die Haushalte einiger ESA-Partnerländer, wenn ich mir deren Haushaltslage an-schaue.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6041
Andreas Mattfeldt
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Allein die groben Schätzungen gehen von Kosten fürdie Ariane-6-Entwicklung in Höhe von 4,31 MilliardenEuro aus. Erfahrungsgemäß ist bei solchen Schätzungenmit erheblichen Kostensteigerungen zu rechnen. DieRestentwicklungskosten mit Abschluss der Weiterent-wicklung zur Ariane 5 ME betragen hingegen nur1,2 Milliarden Euro. Der Erstflug ist bereits für 2018 ge-plant.Meine Damen und Herren, diese Zahlen untermauern,dass die Neuentwicklung einer Ariane 6 nicht nur austechnologischer, sondern gerade auch aus haushaltspoli-tischer Sicht zum jetzigen Zeitpunkt der völlig falscheWeg wäre, den sich nicht nur Deutschland nicht leistenkann. Deshalb mein Appell an Frau Zypries, an die Mi-nisterratskonferenz: Lassen Sie uns die bewährte Tech-nologie weiterentwickeln und verlässlich zum Vorteilvon uns Europäern nutzen!Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Debatte.
Ich glaube, ich kann im Namen des ganzen Hauses sa-
gen, dass wir Alexander Gerst eine gute Rückkehr wün-
schen und der Bundesregierung gute Verhandlungen auf
der Ministerkonferenz. Da geht es wirklich um wichtige
Entscheidungen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3040 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Achter Familienbericht
Zeit für Familie – Familienzeitpolitik als
Chance einer nachhaltigen Familienpolitik
und Stellungnahme der Bundesregierung
Drucksache 17/9000
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in die-
ser Debatte erhält die Staatssekretärin Caren Marks das
Wort. – Frau Marks, Sie haben das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es istnunmehr zwei Jahre her, dass die Bundesregierung denAchten Familienbericht „Zeit für Familie – Familienzeit-politik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik“vorgelegt hat. Der Bericht hat jedoch an Aktualitätnichts eingebüßt. Im Gegenteil: Zeit ist für Familien einMegathema. Denken wir an das erwerbstätige Paar, dassich partnerschaftlich um seine Kinder kümmert, an Al-leinerziehende, die ganz besonders auf einen familien-freundlichen Arbeitsplatz und zeitlich flexible Betreu-ungsangebote angewiesen sind. Denken wir auch an dieFamilie, in der die Kinder noch in die Kita oder zurSchule gehen und in der gleichzeitig ein Angehörigerpflegebedürftig wird.Für die Bundesregierung steht daher außer Frage, Fa-milienzeitpolitik zu einem starken Thema zu machen.Wir greifen deshalb den Achten Familienbericht in die-ser Legislaturperiode in verschiedener Hinsicht auf – miteiner modernen und lebenslaufbezogenen Zeitpolitik fürFamilien, die die Wünsche der meisten Familien nachmehr Zeit füreinander ernst nimmt, mit einer Familien-politik, die gleichzeitig darauf setzt, Müttern und Väternbeides zu ermöglichen: Zeit für Familie und Zeit für denBeruf. Das ist der Anspruch, den junge Familien heutean die Familienpolitik haben; denn die Lebenswirklich-keit und die Wünsche von Familien haben sich verän-dert.Zur Lebensrealität von Familien gehört, dass immermehr Mütter berufstätig sind. Es gehört auch dazu, dasssich Väter zunehmend an der Erziehung und Betreuungihrer Kinder beteiligen. Eltern brauchen flexible Lösun-gen, insbesondere am Arbeitsplatz, aber auch darüber hi-naus, zum Beispiel beim bürgerschaftlichen Engage-ment; aber sie wollen, jeder für sich, auch ein festes undausreichendes Einkommen, und sie wollen sich beideaktiv in der Familie einbringen. Es ist sicherlich nichtimmer leicht, alles unter einen Hut zu bekommen. EinSchlüssel zum Erfolg ist die Partnerschaftlichkeit.Die Mehrheit der Familien wünscht sich eine partner-schaftliche Aufteilung. Die wenigsten aber könnendiesen Wunsch bislang realisieren. Zeit ist zu einerKategorie der Lebensqualität geworden, insbesonderevon Familien.Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, deshalb lohnt sich der Blick in denFamilienbericht. Die Kommission hat wichtige Eck-punkte für eine Zeitpolitik für Familien entwickelt. Esgilt, Rahmenbedingungen zu gestalten und Partner-schaftlichkeit zu stärken.Wir brauchen eine neue Qualität in der Arbeitsteilungzwischen Männern und Frauen in Familie und Beruf;denn sie steht für eine gerechte Balance im Leben beiderGeschlechter und sie trägt den Wünschen vieler Frauenund Männer Rechnung. Dabei geht es vor allem umZeitsouveränität und um Zeitkompetenz. Es geht alsonicht nur um ein reines Mehr an Zeit, sondern auch umden Umgang mit der Zeit. Es geht um eine lebenslaufbe-
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6042 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Parl. Staatssekretärin Caren Marks
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zogene Zeitpolitik, die viele gesellschaftliche Bereichebetrifft: die Arbeitswelt oder den Lebensalltag von Fa-milien sowie das unmittelbare Umfeld vor Ort.Stets bedarf es verschiedener Partner, die sich für guteRahmenbedingungen für Familien einsetzen. So habenwir mit unserem Unternehmensprogramm und mit den670 Lokalen Bündnissen für Familie auch die Wirtschaftund die Zivilgesellschaft mit an Bord. Der Staat brauchtstarke Partner; ohne sie geht es nicht.Meine sehr geehrten Damen und Herren, was setzenwir konkret um, um dem Leitbild der Partnerschaftlich-keit gerecht zu werden? Nach dem Elterngeld und demRechtsanspruch auf die Betreuung von Kindern ab demersten Lebensjahr kommt jetzt der nächste Schritt indiese Richtung, das Elterngeld Plus. Heute Vormittag ha-ben wir diesen Gesetzentwurf verabschiedet. Mit demElterngeld Plus stärken wir sowohl die Zeitsouveränitätvon Müttern und Vätern als auch die Partnerschaftlich-keit. Das neue Elterngeld Plus ist eine Antwort auf dieFrage vieler Familien, wie eine zeitgemäße Familien-politik aussehen muss.Bei einer zeitgemäßen Familienpolitik müssen wiralle Generationen im Blick haben. Wir müssen uns ver-stärkt der Frage zuwenden, wie wir Menschen bei derFürsorge und Pflege älterer und hilfsbedürftiger Fami-lienmitglieder besser unterstützen können. Wir habendeshalb einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Ver-einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf auf den Weggebracht, der genau dies zum Ziel hat.Eine moderne Zeitpolitik entsteht nicht von allein. Sieist Aufgabe vieler Akteure. Übrigens profitieren nichtnur Familien davon, sondern auch die Arbeitgeber. Einemoderne Familienpolitik ist längst ein harter Standort-faktor. Wir sind zusammen gefordert, für eine neue undnachhaltige Arbeits- und Lebensqualität einzutreten. Daslohnt sich für die Familien, aber auch für die gesamteGesellschaft in unserem Land.Herzlichen Dank.
Als nächster Redner in der Debatte spricht Harald
Petzold.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Wirdiskutieren heute den Achten Familienbericht der Bun-desregierung. Das ist gut so. Ich will aber vorweg sagen:Wir diskutieren einen Bericht, der eigentlich schon vorzweieinhalb Jahren vorgelegt werden sollte. Ich finde esein wenig bedauerlich, Frau Staatssekretärin, dass esnicht wenigstens ein Wort der Erklärung oder Entschul-digung dafür gibt, dass Sie das Parlament zweieinhalbJahre auf diesen Familienbericht haben warten lassen.
Ich finde, dass man durchaus nachfragen muss, auchwenn es inzwischen einen Regierungswechsel gegebenhat, wo die Gründe dafür liegen.Ich möchte drei Punkte nennen, die aus Sicht meinerFraktion gut am Familienbericht sind. Zum einen stellenSie das Thema „Zeit für Familie“ voran; das ist einwichtiges Thema. Ich finde darüber hinaus, dass der ge-forderte Ausbau der Kinderbetreuung, der im Familien-bericht thematisiert wird, ein wichtiger Punkt ist, überden wir diskutieren sollten. Das ist meiner Fraktion einwichtiges Anliegen. Ich bin froh, dass es in meiner Hei-mat Brandenburg in den nächsten Jahren gelingen wird,den Betreuungsschlüssel im Kitabereich weiter zu ver-bessern, dass es gelingen wird, die Rahmenbedingungenfür die Arbeit in Kitas und damit auch die Bedingungenfür die Betreuung insgesamt weiter zu verbessern.
Ich finde es auch gut, dass der Achte Familienbericht dasThema „Flexibilisierung von Elternzeit“ aufgreift.Es ist aber dramatisch, Frau Staatssekretärin, dass imFamilienbericht kein einziges Wort über die Themen„Kinderarmut“ und „Armut von Familien“ verlorenwird. Neben dem Thema „Zeit für Familie“ ist es vor al-len Dingen die Lebenssituation von Familien, die da-rüber entscheidet, ob Kinder gut aufwachsen und Fami-lien sich erfolgreich entwickeln können.
Die Koalition kann dazu aber nicht sehr viel sagen; denndas Thema Kinder- oder Familienarmut kommt im Ko-alitionsvertrag nicht vor.Nun ist es ja nicht so, dass im Koalitionsvertrag keinewichtigen Themen vorkommen würden. Beispielsweisewird die Frage, ob Kinder beim Fahrradfahren einenHelm tragen sollen, im Koalitionsvertrag ziemlich aus-führlich behandelt. Das ist ein wichtiges Thema – daswill ich ausdrücklich sagen –; aber ein ebenso wichtigesThema wie Kinderarmut kommt eben nicht vor. Deswe-gen bin ich sehr froh, dass eine Politikerin wie DianaGolze, die hier viele Jahre erfolgreich Familienpolitikbetrieben hat, in meiner Heimat Brandenburg jetzt alsMinisterin das Thema „Kinderarmut und Familienar-mut“ ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt hat unddass die Koalition in Brandenburg aus Linken und SPDdieses Thema zu einem zentralen Punkt ihrer Familien-politik machen wird.
Familien haben keine Zeit; Sie haben das zu Rechtkritisiert, Frau Staatssekretärin. Die Arbeitswelt, sprich:die Unternehmen und der öffentliche Dienst, nehmenwenig bis keine Rücksicht auf Familien. Familien müs-sen ihre Arbeitszeit besser einteilen können. Aber dieErfahrung zeigt, dass die freiwilligen Initiativen, wie derLeitfaden „Erfolgsfaktor Familie“, leider nicht mehr alsheiße Luft sind. Gerade einmal 0,13 Prozent aller Unter-nehmen beteiligen sich daran. Ich bin froh, dass Sie we-nigstens die Lokalen Bündnisse für Familie angespro-
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Harald Petzold
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chen haben; denn ich bin der Meinung: Hier wird aktivPolitik betrieben. Auch hier setzt Brandenburg mit sei-nen Lokalen Bündnissen für Familie aus meiner Sicht ei-nen wichtigen Impuls. Es ist ein Vorreiter für Familien-freundlichkeit in der Arbeitswelt geworden.
Ich habe mich sehr gefreut – das will ich abschließendsagen, und ich bitte Sie, Frau Staatssekretärin, das IhrerChefin zu sagen –, dass zumindest in der Schwerpunkt-planung von Frau Ministerin Schwesig das Thema „les-bische und schwule Familien“, also sogenannte Regen-bogenfamilien, einen höheren Stellenwert bekommensoll. Sie haben im Ausschuss ausgeführt, dass das in derVorhabenplanung ganz vorne steht. Ich freue mich, dassdieses Thema unter Ihrer Führung mehr Aufmerksam-keit erfährt. Es stimmt mich sehr hoffnungsvoll, dassdieses Thema inzwischen in allen Fraktionen angekom-men ist. Es gibt engagierte Abgeordnete, die sich persön-lich dafür einsetzen. Ich habe deswegen die große Hoff-nung, dass wir hier im Bundestag einen neuen Umgangmit den Lebensfragen von Regenbogenfamilien errei-chen werden. Aufmerksamkeit alleine genügt aber nicht.Wir müssen auch gleiche Rechte schaffen; das ist einewichtige Voraussetzung. In diesem Zusammenhang mussman sich fragen: Warum wird lesbischen Frauen diekünstliche Befruchtung verwehrt? Warum wird Schwu-len und Lesben das gemeinsame Adoptionsrecht ver-wehrt? Warum werden Lesben und Schwule als poten-zielle Pflegeeltern benachteiligt? Antworten auf dieseFragen blieben bisher offen.Familienpolitik ist Teil der gesellschaftlichen Verhält-nisse. Sie wurde immer wieder verschiedentlich inter-pretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Da-für werden wir Linke uns einsetzen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wün-sche Ihnen allen ein erholsames Wochenende mit IhrenFamilien.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ingrid
Pahlmann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen!Es wurde alles rascher, damit mehr Zeit ist.Es ist immer weniger Zeit.Diese Erfahrung des Dichters und Chemikers EliasCanetti dürfte jedem von uns, der mit einem vollgepack-ten Terminkalender zwischen Berlin und Wahlkreis hin-und herpendelt, gerade in Zeiten des Bahnstreiks nurallzu bekannt sein. Diese Erfahrung machen aber auchFamilien in unserem Land.Selbst wenn der Achte Familienbericht Deutschlandim internationalen Vergleich einen hohen Zeitwohlstandattestiert, sehen sich Familien zunehmend mit den He-rausforderungen wachsenden Zeitmangels konfrontiert.Auch durch die neuen Rollen von Männern und Frauenwird das Familienleben häufig von Zeitknappheit undZeitkonflikten geprägt. Verstehen Sie mich nicht falsch:Dass junge Eltern heute mehrheitlich eine partnerschaft-liche Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeitanstreben, ist in meinen Augen eine gute und wirklichrichtige Entscheidung. Es bedeutet aber auch, dass dieRahmenbedingungen entsprechend angepasst und vieleLebensbereiche – vom Arbeits- und Erwerbsleben in denUnternehmen über Infrastruktur und Kinderbetreuung –flexibler werden müssen; denn Familien brauchen Zeitfür ihr Familienleben.Eltern brauchen Zeit, um ihre Kinder zu erziehen, undsie brauchen Zeit, wenn Angehörige Unterstützung be-nötigen oder pflegebedürftig werden. Dabei geht es nichteinfach nur um ein Mehr an Zeit allein; Frau Marks wiesbereits darauf hin. Entscheidend ist vielmehr die Stär-kung der Zeitsouveränität der Familien, eine optimierteSynchronisation von Zeitstrukturen aller relevanten In-stitutionen, eine Umverteilung von Zeit im Lebenslauf,zwischen den Geschlechtern und den Generationen, undauch eine stärkere Nutzung familienexterner Dienstleis-tungen.Bundesregierung und Sachverständige stimmen darinüberein, dass eine moderne Familienpolitik Familien er-möglichen sollte, über ihren Zeitgebrauch souverän zuentscheiden. Für uns als Union heißt das, dass jede Fa-milie selbst entscheiden soll, welches Lebens- und Be-treuungsmodell für sie das richtige ist. Wir erkennen dieVielfalt der Familien an und wollen sie darin unterstüt-zen.
Mit dem heute Vormittag verabschiedeten Gesetz zumElterngeld Plus und zur flexibleren Elternzeit setzen wirdiese Politik um. Ziel ist es, den Eltern mehr Zeit für dieFamilie zu geben und neue Gestaltungsmöglichkeitensowie mehr Flexibilität im Alltag zu schaffen. Die El-ternzeit kann nun länger in Anspruch genommen wer-den. Wenn zum Beispiel in der Phase des Schuleintrittsbesonderer Betreuungsbedarf besteht, können sich El-tern diese Zeit nehmen. Das ist sicher bei der Mehrheitder Kinder, die heute oft schon frühzeitig Übergangspha-sen gewohnt sind, zum Beispiel durch die frühkindlichenBetreuungseinrichtungen, nicht der Fall. In jenen Fami-lien jedoch, in denen Kinder diesen besonderen Bedarfhaben, müssen sich die arbeitenden Eltern nun nichtmehr durch Krankschreibung oder ähnliche Schritte dieZeit für ihre Kinder freischaufeln. Auch für die Arbeit-geber stellt dies eine bessere und verlässlichere Lösungdar.Der demografische Wandel, der zurzeit wie einSchreckgespenst durch unser Land geistert, birgt zumin-dest in diesem Punkt eine Chance. Menschen werdenimmer älter und bleiben dabei gesünder. Dieses Poten-zial müssen wir aktivieren, um sie für die Familienzeitzu gewinnen. Explizit wird hier der Bundesfreiwilligen-dienst als geeignetes Instrument zur Förderung des zivil-
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Ingrid Pahlmann
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gesellschaftlichen Engagements älterer Menschen ge-nannt. Es sollte zu diesem Zweck genutzt werden.Gerade vor zwei Tagen hatte ich ein Gespräch mit einerBesuchergruppe Bundesfreiwilligendienstleistender, dieallesamt weit über 27 Jahre alt waren. Diese haben mirbestätigt, was die Sachverständigen angeregt haben: DerBundesfreiwilligendienst ermutigt auch die Älteren, diefrei gewordene Zeit durch freiwilliges Engagement fürdie Gesellschaft zu nutzen. Wieder einmal wird deutlich:Der Bundesfreiwilligendienst ist ein Erfolgsmodell.
Die Mehrgenerationenhäuser – ein anderes Thema –,deren Finanzierung wir für nächstes Jahr gesichert ha-ben, sind geeignete Plattformen für die Förderung undKoordinierung zivilgesellschaftlichen Engagements inden Kommunen. Mit den von Ursula von der Leyen insLeben gerufenen Häusern haben wir deutschlandweiteine Infrastruktur geschaffen, die vor Ort einen ganzwichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesell-schaft leistet, die Möglichkeit zur gesellschaftlichenTeilhabe für und zwischen allen Altersgruppen eröffnetund zum freiwilligen Engagement anregt.Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz haben wirauch bürgerschaftliches Engagement in der Pflege ge-stärkt. Die Versorgung pflegebedürftiger Angehörigerkostet Familien viel Kraft und Zeit. Mit dem zu erwar-tenden Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen steigtnicht nur der Bedarf an ausgebildeten Pflegekräften,sondern auch der an ehrenamtlich in der Pflege Aktiven.Sie engagieren sich zum Beispiel in Betreuungsgruppenoder entlasten Pflegende durch die stundenweise Über-nahme der Betreuung und Versorgung. Sie unterstützenauch bei der Beratung von Pflegebedürftigen und ihrenAngehörigen.Doch die Engagementbereitschaft im Bereich Pflegewird heute bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Auchhier setzt das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz an. Men-schen, die sich in der Pflege engagieren möchten, kön-nen sich entsprechend schulen und qualifizieren lassensowie kostenlos die Pflegekurse der Pflegekassen besu-chen. Auch der Aus- und Aufbau von Selbsthilfegrup-pen, Organisationen und Kontaktstellen wird finanziellstärker gefördert als bisher. All diese Maßnahmen brin-gen Entlastungen für betreuende Angehörige und schaf-fen zeitliche Freiräume.Der Wohlstand einer Gesellschaft ist eben nicht alleinin Zahlen des Bruttoinlandsprodukts zu messen. Zeit-wohlstand hat sowohl auf die Lebensqualität als auch aufdie Zufriedenheit von Familien einen erheblichen Ein-fluss und spielt bei der Entscheidung für Kinder eine be-deutende Rolle.
Wir wollen die gesellschaftlichen Rahmenbedingun-gen für Familien so gestalten, dass sich junge Menschenfür Kinder entscheiden können, und wir wollen FamilienHandlungsspielräume für eine souveräne Gestaltung ih-rer Möglichkeiten geben. Wichtige Weichenstellungenhaben wir heute auf den Weg gebracht. Lassen Sie unsgemeinsam daran arbeiten, Zeitwohlstand und Zeitsou-veränität für Familien zu mehren.Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes Wo-chenende.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Franziska Brantner fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Danke schön. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund liebe Kollegen! Liebe Damen und Herren! Ich habekeine Zeit. Ich kann jetzt nicht. Ich muss jetzt los. – Dassind Sätze, die uns allen sehr bekannt sind. Ich habe Zeit. –Diesen Satz kennt man nicht, da möchte man gleichnachfragen: Oh Gott, hast du deinen Job verloren? Ist al-les okay? Bist du krank? Ist es in unserer Gesellschaft ei-gentlich normaler, zu sagen, dass man keine Zeit hat, alszu sagen, dass man Zeit hat, Zeit für seine Kinder, für dieEltern, für die Freunde, für die Gesellschaft oder auchnur für sich?Verdichtung der Arbeitszeit, Entgrenzung des Ar-beitslebens, das betrifft Familien ganz besonders. Dennsie haben neben dem Beruf noch andere Verpflichtun-gen. Diese Verpflichtungen rufen zum Beispiel: Mama,bastelst du mit mir? Oder der Sohnemann ruft: Ich habejetzt Hunger.Keine Zeit zu haben, das gehört mittlerweile für diemeisten Familien zur Realität. Damit verbunden ist dasGefühl, nicht allen Ansprüchen und auch nicht seinen ei-genen Wünschen gerecht werden zu können. Eine Studieder AOK zeigt, dass das Auswirkungen hat, nicht nur aufdie Eltern, sondern eben auch auf die Kinder. GestressteEltern haben häufiger Kinder mit gesundheitlichen Be-schwerden.Der Achte Familienbericht, über den wir heute disku-tieren, gibt einen Strauß an Empfehlungen. Eine davonmöchte ich gerne zitieren. Empfohlen wird „ein bedarfs-gerechter Ausbau an qualitativ hochwertigen Betreu-ungsplätzen in Kindertageseinrichtungen und in der Ta-gespflege, der den Bedürfnissen der Kinder und Elternentspricht …“Weiter heißt es:Erst wenn für alle Kinder Ganztagsbetreuungs-plätze in hervorragender Qualität vorhanden sind,haben Eltern tatsächlich eine Wahlmöglichkeit.Wir haben es heute Morgen schon andiskutiert. Das Er-gebnis des Kitagipfels ist vor allen Dingen unter finan-ziellen Gesichtspunkten bestimmt noch nicht der richtigeund letzte Satz auf dem Weg zu hervorragender Qualitätfür alle Plätze.
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Dr. Franziska Brantner
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Ich kann wirklich nur an Sie alle appellieren: NehmenSie sich etwas von den 10 Milliarden Euro Zukunftsin-vestitionen, und nutzen Sie dieses Geld zur Verbesse-rung der Kitaqualität. Liebe SPD, kämpfen Sie dafür,dass etwas davon bei den Kindern ankommt. Sie, liebeCDU/CSU, können Herrn Schäuble sagen, dass das dochwirklich eine lohnenswerte Investition in Deutschlandist.
– Aber es reicht nicht.Gute Familienzeitpolitik verändert die Arbeitswelt.Erlauben Sie mir, noch einmal zu zitieren. Das ist einklassisch wissenschaftlicher Satz. Er lautet:Kritisch reflektiert werden sollte das Bild des vollverfügbaren und „sorglosen“ Arbeitnehmers ohneprivate Verpflichtungen …Das heißt übersetzt: Es gibt immer noch das Modell desUnverheirateten ohne Kinder. Diese Arbeitnehmer sindsorgenlos und immer verfügbar. Ich glaube, hier müssenwir ansetzen. Der Arbeitsmarkt muss sich nach den Fa-milien richten. Es darf nicht sein, dass sich die Familiennach dem Arbeitsmarkt zu richten haben.
Frau Schwesig ist jetzt nicht da, daher spreche ichSie, Frau Marks, an. Die Idee von Frau Schwesig ist jadie einer Familienarbeitszeit. Eine solche Familien-arbeitszeit würden laut DIW nur 1 Prozent der Eltern inAnspruch nehmen. Das heißt, das hört sich immer schönan, aber es trifft nur für 1 Prozent der Eltern zu. Ist daswirklich die Signalwirkung, die wir uns wünschen? Ver-lieren wir dabei nicht diejenigen aus dem Blick, die un-ter einer Doppelbelastung aus Zeitdruck und geringemEinkommen leiden, die sich eine Reduzierung ihrer Ar-beitszeit allein schon aus finanziellen Gründen nichtleisten können?Es braucht eben mehr als die Signalwirkung von gutverdienenden Doppelverdienerpaaren. Wir brauchenmehr als dieses 1 Prozent. Wir brauchen gezielte undauch gesetzliche Reformen, um etwas voranzubringen.Auch an dieser Stelle möchte ich aus dem Achten Fa-milienbericht zitieren. Dieser schlägt vor, dass im Teilzeit-und Befristungsgesetz ein Recht der Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer erweitert wird „auf Mitsprache beider Lage der Arbeitszeit“. Das halte ich für einen wichti-gen Punkt. Dabei geht es gar nicht darum, ob man weni-ger oder mehr arbeitet, sondern darum, wann man an-fängt und wann man aufhört. Ich glaube, dass das einwichtiger und zentraler Punkt ist.Zudem zeigen Studien, dass Mütter nicht unbedingtweniger arbeiten wollen, sondern meistens sogar nochmehr. Hauptsächlich wollen sie aber selbstbestimmt ar-beiten und bestimmen können, wann sie mit der Arbeitbeginnen und wann sie mit der Arbeit aufhören.
Vielleicht können Sie das mitnehmen. Ich glaube, dashätte mehr Effekt als die Familienarbeitszeit.Auch Lebenszeit- und Kontenmodelle sind wichtigeAnsätze, die es zu vertiefen gilt, damit man im Lebenauch einmal aussteigen kann für Kinder, für Pflege, füreine Weiterbildung oder für ein Ehrenamt, dann aber zu-rückkommen kann.Abschließend möchte ich noch einmal aus dem Fami-lienbericht zitieren:Gesellschaftliche Erwartungen prägen die Zeitver-wendung des Einzelnen. Gesellschaftliche Erwar-tungen orientieren sich an Werten. Der Stellenwertfamiliärer Verantwortung muss stärker im gesell-schaftlichen Wertekanon verankert werden.Nehmen wir uns die Zeit, dies zu ändern, damit eswieder normal wird, zu sagen: Ich habe Zeit für dich.Ich danke.
Die Kollegin Yüksel hat nun für die SPD-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe,trotz – oder wegen – Bahnstreik sind Sie hiergeblieben.Das freut mich natürlich; denn das Thema Familienpoli-tik ist zentral und liegt uns besonders am Herzen. Dafürmöchte ich Ihnen natürlich danken. – Das war jetzt keineKritik.
Der Familienbericht der Bundesregierung aus demJahr 2012 hat das Thema „Zeit für Familie“ als Schwer-punkt. Das ist ein sehr wichtiges Thema für einzelne Fa-milien und auch für unser Land. Wir setzen uns für mehrZeitsouveränität ein und greifen die Empfehlungen derSachverständigenkommission auf.Wir wollen es den Familien ermöglich, ihr Leben freinach ihren persönlichen Wünschen und individuellenZielen zu gestalten. Wenn beide Elternteile einer Er-werbstätigkeit nachgehen wollen oder müssen, ist esAufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen dafür zuschaffen.Familienpolitik bedeutet, Familien im Alltag zu ent-lasten und ihnen mehr Möglichkeiten für ein gemeinsa-mes Miteinander und Füreinander zu eröffnen, damit siesich frei entfalten und ihre Ziele verfolgen können.Meine Kinder sind mittlerweile erwachsen und gehenihre eigenen Wege. Ich erinnere mich aber noch sehr gut
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Gülistan Yüksel
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an meine eigene Zeit als junge berufstätige Mutter, in deres nicht so einfach war, Familie und Beruf miteinanderzu vereinbaren. Heute erleichtern die gesellschaftspoliti-schen Rahmenbedingungen diese Aufgabe. Es bestehtaber nach wie vor Handlungsbedarf.Der vorliegende Bericht bietet eine gute Grundlage,an der wir gemeinsam ansetzen sollten. Ein zentralerPunkt einer modernen Familienzeitpolitik ist die Verein-barkeit von Familie und Beruf. Denn Familien brauchennotwendige Auszeiten in unterschiedlichen Lebenspha-sen. Insbesondere in Zeiten der Familiengründung undder Pflege von Angehörigen ist es für Familien wichtig,die Möglichkeit zu haben, ihre Zeit flexibel einzuteilen.Nach der Einführung des Elterngeldes folgt nun alsodie Weiterentwicklung durch das Elterngeld Plus. Da-rüber freuen wir uns als SPD-Fraktion sehr; denn da-durch werden im Alltag mehr Flexibilität und Zeiträumegeschaffen.
Um Eltern dieses zu ermöglichen, ist auch eine be-darfsgerechte Kinderbetreuung notwendig. Mit der Auf-stockung des Sondervermögens Kinderbetreuungsausbauauf 1 Milliarde Euro werden nun zusätzliche Betreu-ungsplätze geschaffen. Jedoch müssen auch Zeitstruktu-ren mehr an die Alltagsrealität der Familien angepasstwerden.In dem Bericht wird eine bessere Abstimmung zwi-schen Arbeitszeiten und Öffnungszeiten von Kitas,Schulen, Behörden und Kultureinrichtungen gefordert.Ebenso wird die Bedeutung von Ganztagsschulen her-vorgehoben. Ausreichend Plätze gibt es bislang leidernicht. Hier ist eine Baustelle, an der wir noch zu arbeitenhaben.Viele Familien fragen sich, wie sie die Kinderbetreu-ung während der Schulferien organisieren können. Ini-tiativen vor Ort leisten hier bereits gute Arbeit. Es müs-sen aber weitere Schritte ergriffen werden, um Familienzu unterstützen. Flexiblere Arbeitszeitmodelle solltendaher, langfristig gesehen, unbedingt unterstützt werden.Für uns Sozialdemokraten bleibt die Familienarbeitszeitdas Ziel; denn sie ist der richtige Weg hin zu einer nach-haltigen Familienpolitik.
Sie entspricht den Wünschen vieler Eltern, da sie Müt-tern und Vätern partnerschaftlich mehr Freiraum erlaubt.Auch beim Thema Pflege sah die Sachverständigen-kommission weiteren Handlungsbedarf; denn auch die-ser Bereich berührt Familien und deren Zeitmanagementstark. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Ver-einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf entlasten wirArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich der ver-antwortungsvollen Aufgabe der Pflege ihrer Angehöri-gen stellen wollen oder aufgrund ihrer Familiensituationstellen müssen. Familien können somit souverän überihre Zeit entscheiden und mehr füreinander da sein.Es ist wichtig und richtig, dass sich in dem Berichtdem Thema Familienzeitpolitik gewidmet wird. Die ge-sellschafts- und familienpolitischen Rahmenbedingun-gen an die heutigen Lebensmodelle der Bevölkerunganzupassen, ist für die Funktionsfähigkeit unserer mo-dernen Gesellschaft unerlässlich. Erste zentrale Maßnah-men zur Ermöglichung von mehr Flexibilität im Alltagund mehr Partnerschaftlichkeit sind bereits auf den Weggebracht. Die Ergebnisse des Berichtes zeigen uns aber,dass es noch weitere wichtige Bereiche in der Familien-zeitpolitik gibt, an denen wir arbeiten müssen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familie ist einewichtige Säule in unserem Leben. Sie bietet Schutz, Si-cherheit, Geborgenheit und Liebe. Sie ist das Fundamenteiner funktionierenden Gesellschaft. Um diese Säuleauch weiterhin stabil zu halten, müssen wir gemeinsam„Zeit für Familie“ schaffen. Lassen Sie uns die Ergeb-nisse des Familienberichtes dazu nutzen, dieses Ziel mitvoller Energie weiter zu verfolgen.Ich danke Ihnen ganz herzlich und wünsche Ihnennoch einen schönen Heimweg.
Das Wort hat der Kollege Markus Koob für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauer! Nie wurde mehr Geld in Familien in-vestiert als heute. Nie wurden Familien qualitativ bessergefördert als heute. 200 Milliarden Euro gibt der StaatJahr für Jahr für 156 ehe- und familienbezogene Leistun-gen aus. Das investieren wir, das investiert die Gesell-schaft gerne; denn Investitionen in die Familie sind nichtnur Investitionen in die Gesellschaft, sondern auch In-vestitionen in Zukunft und Nachhaltigkeit.In dem Achten Familienbericht der Bundesregierungwird Zeit gefordert: Zeit in den Familien füreinander, umsich umeinander zu kümmern, Zeit miteinander verbrin-gen zu können. Das ist gut und richtig so. Gerade in denletzten Wochen ist diesbezüglich vieles auf den Weg ge-bracht worden.Wir haben heute – das ist mehrfach erwähnt worden –das Elterngeld Plus beschlossen. Das ist ein starkesSignal zugunsten der partnerschaftlichen Erziehungsver-antwortung und gewährt den Eltern eine längere gemein-same Zeit in der Familie. In den nächsten Wochen wer-den wir zudem über den Entwurf eines Gesetzes zurbesseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf zuberaten haben.Zukünftig werden die von der Union in der Vergan-genheit auf den Weg gebrachten Pflegezeit und Fami-lienpflegezeit ausgebaut werden. Neu ist, dass dann je-der Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin eine bis zuzehntägige Arbeitsauszeit nehmen kann, um einen An-gehörigen zu pflegen. Während dieser zehn Tage besteht
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Markus Koob
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die Möglichkeit, Pflegeunterstützungsgeld durch diePflegekasse des Angehörigen zu erhalten.Zentraler Punkt des Gesetzes ist der zukünftigeRechtsanspruch auf Familienpflegezeit. Für einen Be-schäftigten wird es ab 2016 möglich sein, bis zu 24 Mo-nate vom Arbeitgeber teilweise freigestellt zu werden,um einen Angehörigen zu pflegen. Dazu müssen beiverhältnismäßig geringen Lohneinbußen mindestens15 Stunden in der Woche parallel weitergearbeitet wer-den.Jeder Mensch, der einen Angehörigen pflegt, verdientunsere Anerkennung und Unterstützung. Mit dem Ge-setzentwurf zur besseren Vereinbarkeit von Familie,Pflege und Beruf erreichen wir beides. Angehörige ha-ben nun ein Instrument, sich auf die Notsituation der Fa-milie einzustellen und die letzten Wochen und Monate inintensiver Familienzeit zu verbringen. Das sind wir denFamilien in Deutschland schuldig.
Eine fast schon überfällige Anpassung findet zudembezüglich der Begrifflichkeit der nahen Angehörigen imPflegezeitgesetz statt. Wenn Stiefeltern, Schwägerinnenund Schwager oder Menschen in lebenspartnerschafts-ähnlichen Gemeinschaften keinen Rechtsanspruch aufPflegebegleitung ihrer Angehörigen haben, dann ist dasaus der Zeit gefallen und gehört geändert. Diese Ände-rung vollziehen wir mit dem Gesetzentwurf.Aber nicht nur das Elterngeld Plus und die bessereVereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf wird denFamilien mehr Zeit füreinander geben. Zentral für die ef-fizientere Zeitnutzung in den Familien, wie sie der AchteFamilienbericht fordert, ist der Kitaausbau, den wir be-reits vor einigen Jahren auf den Weg gebracht haben. Bis2014 hat der Bund 5,4 Milliarden Euro in den Ausbauder Kinderbetreuung und die Übernahme der Betriebs-kosten der Kinderbetreuungseinrichtungen investiert.Allein in dieser Legislaturperiode unterstützt derBund die Kommunen beim Betreuungsausbau mit zu-sätzlichen 550 Millionen Euro, damit auch in den nächs-ten Jahren qualitativ hochwertige Kindertagesplätzegeschaffen werden können. Wir möchten eine flächende-ckende Betreuung für Kinder berufstätiger Eltern. Durchflexiblere Betreuungszeiten der Kinder soll es den Elternermöglicht werden, Familie und Beruf leichter miteinan-der zu vereinbaren. Mit einer besseren Zeitsynchronisa-tion wirken wir direkt positiv auf das Zeitbudget der Fa-milien ein, indem diese den Tagesablauf nicht nach denKitaöffnungszeiten richten müssen, sondern in ihrer Ar-beitszeit- und damit anschließend auch in ihrer Familien-zeitgestaltung freier sind.Der CDU/CSU-Fraktion ist es wichtig, die Verbesse-rung der Kitas voranzutreiben. Kitas dürfen keine Park-plätze für Kinder sein; sie müssen vielmehr erste qualita-tiv hochwertige Bildungseinrichtungen der Gesellschaftdarstellen.
Im Bereich der Kindertagesbetreuung bewegt sich vie-les. Wir sind noch nicht am Ziel, aber auf einem gutenWeg dorthin.Den Ausbau der Kindertagesstätten haben wir mit fi-nanziellen Entlastungen der Kommunen flankiert. Über-haupt haben die Kommunen seit Amtsantritt von AngelaMerkel eine erhebliche Entlastung erfahren. Der Schlüs-sel für mehr Familienzeit, die der Achte Familienberichtder Bundesregierung einfordert, liegt auch in der besse-ren finanziellen Ausstattung der Kommunen, damitdiese ihre Aufgaben wie die Kindertagesbetreuung bes-ser wahrnehmen können. Wir als Union haben nicht nurdafür gesorgt, dass der Bund die Kosten für die Grund-sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung über-nimmt, sondern wir zahlen den Kommunen von 2015 bis2017 zusätzlich 1 Milliarde Euro pro Jahr.Ein Meilenstein der Politik der Großen Koalition zurEntlastung der Kommunen wird zudem das geplanteBundesteilhabegesetz im nächsten Jahr werden. DiesesGesetz wird die Kommunen im Bereich der Eingliede-rungshilfe für Menschen mit Behinderung aller Voraus-sicht nach um 5 Milliarden Euro entlasten. Durch dieEntlastung der Kommunen wird Geld für weitere wich-tige kommunale Aufgaben wie den Kindertagesbetreu-ungsausbau und den Erhalt von Schwimmbädern, Bib-liotheken, Theatern und anderen Einrichtungen fürFamilien frei.Seit der Vorstellung des Achten Familienberichts derBundesregierung sind zweieinhalb Jahre vergangen, aberdie Zeit wurde von der CDU/CSU-geführten Bundesre-gierung gut und effizient genutzt. Das Elterngeld wurdeum das Elterngeld Plus ergänzt. Der Kindertagesstätten-ausbau wurde weiter vorangetrieben. Familiäre Pflegewird auf neue, stabilere Füße gestellt.Die beste Familienpolitik ist eben die Politik, die Zeitfür Familien schafft. Damit haben wir in den vergange-nen Legislaturperioden bereits begonnen, und wir wer-den es in den kommenden Jahren konsequent fortführen.Ich freue mich mit Ihnen allen gemeinsam – in die-sem Thema gibt es nämlich eine breite Übereinstim-mung –, an diesem wichtigen Thema zu arbeiten und ge-meinsam etwas für die Familien in unserem Land zuerreichen. Auch wenn ich ein Vertreter der Gattung „un-verheiratet und kinderlos“ bin und viel Zeit habe, liegenmir die Familien nichtsdestotrotz sehr am Herzen.Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende.
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Zollner, ebenfalls
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Gäste auf denZuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zeitpolitik ist heute als Teil von Gesellschaftspolitiknicht mehr wegzudenken. Unser Wohlstand bemisst sichnicht mehr nur am Bruttoinlandsprodukt. Vielmehr wird
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Gudrun Zollner
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der Zugang zur Ressource Zeit ein immer wichtigerer In-dikator für die Lebensqualität jedes Einzelnen. JederEinzelne von uns empfindet Zeit anders, je nachdem, inwelcher Lebensphase er sich gerade befindet. Ichmöchte mich deshalb bei der ehemaligen Familienminis-terin Kristina Schröder nicht nur für die Erstellung desAchten Familienberichts bedanken, sondern auch dafür,dass sie dieses wichtige Thema Zeit in den Fokus ge-rückt hat.Für kinderlose Paare ist der Faktor Zeit ein ganzwichtiger Aspekt bei der Entscheidung für oder gegenNachwuchs geworden. Nach neuesten Studien sehen es85 Prozent der Menschen in Deutschland als wichtig an,eigene Kinder zu haben. Wenn allerdings fehlende Zeitdazu führt, sich gegen Nachwuchs zu entscheiden, wirdmittel- und langfristig unsere gesamte Gesellschaft da-runter leiden. Gerade im Zusammenspiel von Familieund Beruf kommt Zeitknappheit eine entscheidendeRolle zu. Durch die steigende Erwerbstätigkeit vonFrauen und Müttern ist die Bewältigung von Zeitkonflik-ten zu einer zentralen Herausforderung geworden. Be-sonders Familien brauchen Zeit, um sich als solche er-fahren zu können. Zeitkonflikte haben aber nicht nur imfamiliären Bereich negative Folgen, sie führen auch zuerheblichen gesamtpolitischen und gesamtwirtschaftli-chen Konsequenzen. Deshalb muss es auch der Wirt-schaft wichtig sein, eine familienfreundliche Unterneh-menskultur anzubieten.
Die Erwerbsarbeit ist heute der wichtigste externeTaktgeber für die Zeitgestaltung innerhalb der Familie.Deshalb ist es für eine nachhaltige Familienpolitik ent-scheidend, die Arbeitszeit auf der einen Seite und dieZeit mit der Familie auf der anderen Seite in Einklang zubringen. Wir müssen Frauen und Männern, Müttern undVätern alternative Karrierepfade anbieten, um auf allenHierarchieebenen arbeiten zu können.
Führungsaufgaben und Familienzeit dürfen sich nichtlänger gegenseitig ausgrenzen. Zudem muss Vereinbar-keit von Familie und Beruf auch beim Übergang derKinder in die Schule gewährleistet sein. Kinder hören imAlter von sechs Jahren nicht auf, Kind zu sein. Beson-ders für Alleinerziehende ist das ein entscheidenderPunkt. Der Familienbericht verweist zu Recht darauf,dass vor allem sie unter Zeitdruck und Zeitkonflikten lei-den. Die 1,6 Millionen Alleinerziehenden mit ihren2,2 Millionen Kindern sind auch Familie. Sie sind Ein-Eltern-Familien und bedürfen unserer besonderen Unter-stützung. Laut den Familienleitbildern sehen übrigens88 Prozent der deutschen Bevölkerung auch eingetra-gene Lebenspartnerschaften mit Kindern als Familie.Ich möchte noch einen Punkt betonen, der mir selbersehr am Herzen liegt. Zeitpolitik und Zeitsouveränitätmüssen auch zum Ziel haben, den Menschen zu ermögli-chen, ihre Lebensplanung selbstverantwortlich zu gestal-ten. Dazu gehört auch, die Entscheidung zu akzeptieren,dass eine Mutter oder ein Vater zu Hause bleibt, um sichausschließlich um die Erziehung der Kinder zu küm-mern. Die vielen jungen Väter, die sich ganz bewusst fürmehr Zeit für ihre Kinder entscheiden, unterstützen wirdurch das heute verabschiedete Elterngeld Plus, mit demwir auch den Empfehlungen des Achten Familienbe-richts Rechnung tragen.
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – es ist unsere ge-meinsame Aufgabe, Familien zu schützen und zu unter-stützen, die Rahmenbedingungen für mehr Zeitsouverä-nität zu schaffen, die in, mit und um Familien erbrachtenLeistungen mehr anzuerkennen. Das müssen unsere pri-mären Handlungsziele sein.Es darf nicht so weit kommen wie in den USA, woFirmen wie Facebook und Apple die Möglichkeit desSocial Freezing anbieten. Das Einfrieren von Eizellenlöst keinesfalls Probleme bei der Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf oder trägt zur Entzerrung der sogenann-ten Rushhour des Lebens bei.
Nicht die Frauen müssen sich den Firmen anpassen, son-dern die Firmen – wie beispielsweise Facebook undGoogle – den Frauen.
Der richtige Ansatz ist vielmehr, eine familienfreund-liche Arbeitswelt zu schaffen.
Kollegin Zollner, ich störe ungern, aber die Uhr vor
Ihnen zeigt Ihnen unmissverständlich an, wie viel Zeit
Sie schon überschritten haben. Kommen Sie also bitte
zum letzten Satz.
Aus diesem Grund gehört Familienzeitpolitik als
wichtiges Politikfeld in das Zentrum unserer familien-
politischen und wirtschaftspolitischen Arbeit in dieser
und weiteren Legislaturperioden. Hierfür gibt der Achte
Familienbericht wichtige Impulse.
Vielen herzlichen Dank und allen ein gutes und hof-
fentlich schnelles Nachhausekommen.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9000 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6049
Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 c auf:a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm, Caren Lay,weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIELINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Reform der Liegenschaftsveräußerungen
Drucksache 18/2882Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten HeidrunBluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKESofortiges Moratorium für die Wohnungs-und Grundstücksverkäufe durch die Bun-desanstalt für Immobilienaufgaben– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. TobiasLindner, Christian Kühn , LisaPaus, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMoratorium beim Verkauf von Wohnim-mobilien in Städten mit angespanntemWohnungsmarkt durch die Bundesanstaltfür ImmobilienaufgabenDrucksachen 18/1952, 18/1965, 18/2908c) Beratung des Antrags der AbgeordnetenChristian Kühn , Dr. Tobias Lindner,Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFür eine nachhaltige und zukunftsweisendeLiegenschaftspolitik des BundesDrucksache 18/3044Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
InnenausschussSportausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegender Koalition – ich wende mich jetzt zunächst einmalinsbesondere an Sie –, ich bin sehr gespannt, wie Sieheute begründen wollen, warum Sie weiter fleißig zumHöchstgebot Wohnungen durch die Bundesanstalt fürImmobilienaufgaben verkaufen lassen, obwohl Woh-nungsknappheit und steigende Mieten in vielen deut-schen Groß- und Hochschulstädten längst zu einer all-täglichen Realität geworden sind.Nichtsdestotrotz begrüße ich natürlich auch die Kol-leginnen und Kollegen von den Grünen.
Die Folgen treffen schon lange nicht mehr nur ein-kommensschwache Mieterhaushalte, sondern auch vielevon denen, die sich selbst als gutsituiert und gutbürger-lich bezeichnen würden.Die Linke hat die kritische Situation und die rasanteZuspitzung des Angebots und der Nachfrageverhältnisseauf den Wohnungsmärkten in den zurückliegenden Jah-ren immer wieder benannt. Wir haben schon vor langerZeit begonnen, in Anträgen aufzuzeigen, was zu tun ist,um das zu ändern.
Die Antwort der Bundesregierung, egal ob Große Ko-alition oder die Koalition von CDU/CSU und FDP, warin leichter Variation immer die gleiche: Die Wohnungs-versorgung in Deutschland ist gut, und der Markt wird esschon richten.
Diese jahrelange Ignoranz und geradezu religiöse Markt-gläubigkeit sind neben dem aktiv praktizierten Privati-sierungswahn ursächlich für die nicht gelösten Woh-nungsprobleme und für das Entstehen der jetzt nichtmehr zu versteckenden Zuspitzung in Großstädten wieHamburg und Berlin.Vor ein paar Tagen haben wir die Bundesregierungaufgefordert, wirksam gegen Wohnungsnot und Mietwu-cher in den Studentenstädten vorzugehen. Gerade ges-tern haben Sie beschlossen, dass in diesen Städten nunAsylsuchende und Flüchtlinge wegen der Wohnungsnotwahrscheinlich auch in Gewerbegebieten untergebrachtwerden.Ich stelle fest: Auch diese Bundesregierung will keineProbleme lösen. Sie will sie bestenfalls verharmlosenund wegdelegieren.
Dabei könnte der Hendricks’sche wohnungspolitischeDreiklang aus Wiederbelebung des sozialen, aber totenWohnungsbaus, einer Investitionsoffensive und flankie-renden mietrechtlichen Regelungen eigentlich wirklichetwas bewegen.
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Heidrun Bluhm
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Aber da klingt nichts. Ich höre keine Sinfonie, und ichsehe auch keine Bewegung.Nun haben wir mit unserem Antrag „Sofortiges Mo-ratorium für die Wohnungs- und Grundstücksverkäufedurch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“ dieBundesregierung aufgefordert, einfach einmal nichts zutun, einfach einmal die Füße stillzuhalten. Wenigstensdas sollte ihr doch gelingen.
Aber nein! Dabei könnte die Bundesregierung an dieserStelle sozusagen mit hauseigenen Mitteln ein ganz kleinwenig, sozusagen als wichtiges Signal, zur Entspannungder Mietensituation in extrem angespannten Wohnungs-lagen beitragen, damit nicht, wenn die Regierung dochnoch aufwacht – ups! –, plötzlich alles weg ist, was denMieterinnen und Mietern in diesem Land, was dem Ge-meinwohl helfen könnte, statt zu sagen: Da schauen wirdann, wenn es soweit ist. Ich denke zum Beispiel an die5 000 eigenen Wohnungen des Bundes hier in Berlin, dievon der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben verwal-tet werden.Sie selbst müssten nur Ihren Koalitionsvertrag ernstnehmen und Ihre eigene Bundesanstalt für Immobilien-aufgaben veranlassen, das zu tun, was im Koalitionsver-trag steht, nämlich – ich zitiere –: „mit Rücksicht auf dievielen am Gemeinwohl orientierten Vorhaben der Kom-munen, wie der Beschaffung von sozialem Wohnraumund einer lebendigen Stadt, eine verbilligte Abgabe vonGrundstücken“ zu realisieren,
wenn auch nur bis maximal 100 Millionen Euro.Allein der aktuell laufende Verkauf von 48 Wohnun-gen in Berlin an der Großgörschenstraße bzw. Katzler-straße, mit dem die BImA 7,1 Millionen Euro für das„Schäuble-Denkmal“, die schwarze Null, beisteuernsoll, ist nicht nur ein Skandal, sondern ein weitererTreibsatz für die überbordende Spekulation mit Wohn-raum. 7,1 Millionen Euro für 48 Wohnungen, das ist das39-Fache der jetzigen Jahresmiete! Kein seriöser Be-standshalter, der die Wohnungen innerhalb des Mietspie-gels vermieten will, kann diesen Preis bezahlen.
Das können nur Finanzspekulanten, die diese Mietwoh-nungen für Superreiche zu Luxusappartements oder zuluxuriösen Anlageobjekten machen wollen. Die Bundes-regierung weiß das; aber leider geht ihr wohl auch dasam Allerwertesten vorbei.
Nun hat das Land Berlin der BImA einen Kaufantragfür deren gesamtes Berliner Portfolio vorgelegt. Bravo!Wir sind gespannt, wie weit die Kaufpreisvorstellungenwohl auseinandergehen werden und wie sich beide Gro-ßen Koalitionen – die eine im Land, die andere imBund – da einigen. Ich glaube erst an eine Einigung,wenn die Tinte auf den Kaufverträgen trocken ist.
Heute schon wird zu bedenken gegeben, dass einemnicht marktgerechten Verkauf haushaltsrechtliche Vor-schriften des Bundes und gar das europäische Beihilfe-recht entgegenstehen. Na, dann ändern wir das eben.
Deshalb bieten wir Ihnen heute mit unserem Entwurf ei-nes Gesetzes zur Reform der Liegenschaftsveräußerun-gen einen Weg an, genau das zu tun.Die Linke weiß, dass die Bundesregierung viel zu tunhat. Deswegen haben wir ihr an dieser Stelle schon ein-mal einen Vorschlag gemacht, der dabei helfen kann, dasumzusetzen, was sie immer behauptet, tun zu wollen. Siewerden damit Ihrem Koalitionsvertrag gerecht und lie-fern endlich den Beweis, dass es Ihnen ernst ist mit demBündnis für bezahlbares Wohnen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Schon beim Beitrag der Kollegin Bluhm eben
ist ein Stück weit deutlich geworden, worüber wir heute
reden bzw. nicht reden. In der Tagesordnung ist ange-
kündigt: Liegenschaftspolitik. Sie haben hier gesprochen
über Immobilienpolitik
mit Schwerpunkt hier auf Berlin. Da machen wir schon
sehr feine Unterschiede. Denn wenn wir über Liegen-
schaftspolitik reden, dann reden wir nicht über ein her-
renloses Vermögen, das herumliegt und mit dem wir in
irgendeiner Form spielen können, sondern über ein Ver-
mögen des Bundes; dieses Vermögen des Bundes ist das
Vermögen des Steuerzahlers. Und mit dem Vermögen
des Steuerzahlers haben wir ordentlich umzugehen.
So wie hanseatische Kaufleute damit umgehen würden,
müssen auch wir mit diesem Vermögen umgehen und als
Wahrer dieses Vermögens dafür sorgen, dass es uns er-
halten bleibt. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt, auf den ich eingehen möchte, sind
die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die wir selbst als
Gesetzgeber uns gesetzt haben.
Kollege Brackmann, gestatten Sie eine Frage oderBemerkung der Kollegin Paus?
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Gerne.
Kollege Brackmann, Sie sind ja im Haushaltsaus-
schuss, und im Haushaltsausschuss werden die Einzel-
pläne behandelt. Da gibt es auch in einem Einzelplan ei-
nen Titel zur Stadtentwicklung. Da beraten Sie unter
anderem über Städtebauförderungsprogramme. Von da-
her wissen Sie, dass sozialer Wohnungsbau in Deutsch-
land zurzeit zu wenig stattfindet, dass in den Ballungs-
räumen über Jahre zu wenig investiert worden ist. Das
ist also ein Thema, das aktuell auch bei Ihnen diskutiert
wird.
Finden Sie nicht, dass es richtig wäre, wenn sich der
Bund bei der Veräußerung einer Mietimmobilie anders
verhalten würde als die normalen privaten allgemein be-
kannten Spekulanten im Land Berlin?
Finden Sie nicht, dass der Bund berücksichtigen sollte,
dass ihm, wenn er auf der einen Seite Einnahmen da-
durch erzielt, dass er sich nicht entsprechend dem ver-
hält, was im Grundgesetz festgeschrieben ist, nämlich
für das Gemeinwohl zu sorgen, auf der anderen Seite zu-
sätzliche Ausgaben entstehen?
Ich bin mit Ihnen der Auffassung, dass wir mit derWohnungsbauförderung in dem Einzelplan dafür sorgenmüssen, dass bezahlbarer Wohnraum bei uns geschaffenund erhalten wird.
Das ist eine wichtige Aufgabe, die der Bund auch wahr-nimmt. Allein im Haushalt 2015 werden wir den Län-dern, den Kommunen 518 Millionen Euro für die Förde-rung von sozialem Wohnungsbau bereitstellen – und das,obwohl nach der Zuständigkeitsregelung zwischenBund, Ländern und Kommunen, die im Grundgesetzverankert ist, Wohnraumpolitik Aufgabe der Länder ist.Die Länder haben Wert darauf gelegt, dass sie das aufLänderebene, auf kommunaler Ebene machen, und dasist auch richtig so, weil die Wohnungsbausituation inBerlin natürlich eine andere ist als in Hintertupfingen.Aus diesem Grund ist das eine gute, eine kluge Politik,bei der die Länder und Kommunen vom Bund nachhaltigunterstützt werden.Ich fahre in meiner Rede fort. – Liegenschaftspolitikmuss deshalb darauf basieren, Mittel zu organisieren, da-mit wir zum Beispiel im Rahmen der Städtebauförde-rung entsprechende Politik gestalten können. Deswegenkommt es darauf an, dass wir uns hier im Bundestagüber die Aufgabenteilung verständigen. Auf der einenSeite müssen wir als Haushälter, als Vermögensverwal-ter dafür sorgen, dass wir Einnahmen haben, damit aufder anderen Seite die Fachpolitiker Probleme lösen kön-nen. Das ist auch ein Stück Haushaltswahrheit undHaushaltsklarheit. Deswegen müssen wir bei unsererVermögenspolitik genau so vorgehen, wie im Übrigenauch die Länder vorgehen.Ich darf mich da noch einmal auf die Linken bezie-hen. In § 63 Landeshaushaltsordnung Brandenburg istdieselbe Regelung enthalten, wie wir sie im Bund haben.Auch Brandenburg veräußert Liegenschaften vorschrifts-gemäß zum vollen Wert. Insofern steht die Politik, dieSie hier vertreten, im Gegensatz zu Ihrem eigenen Han-deln in Brandenburg.
Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist in sichwidersprüchlich. Da ist es sehr wohlfeil, hier aufzutretenund zu sagen: Macht auf Bundesebene etwas anderes!Vor diesem Hintergrund wäre es, wenn wir Vermögendes Bundes verkaufen, wenn wir Wohnungen verkaufen,auch wettbewerbsrechtlich, beihilferechtlich ein Pro-blem bzw. würde uns große Sorgen machen, wenn wir andieser Stelle Sonderkonditionen für einzelne Aufgabenund für einzelne Zwecke anböten.Sie haben weiterhin behauptet, Frau Kollegin Bluhm,der Bund hätte das Potenzial, mit den 5 100 Wohnungenin Berlin die Wohnungspolitik in Berlin aktiv mitzuge-stalten. Diese 5 100 Wohnungen, die der Bund in Berlinhält, sind exakt 0,3 Prozent des Wohnungsbestands inBerlin.
Wenn Sie mir sagen wollen, dass damit großartig Woh-nungspolitik hier in Berlin gemacht werden kann,
dann geht das am Thema wesentlich vorbei.
Der Wohnungsmarkt hier ist dramatisch größer.
Dann setzen Sie in Ihrem Gesetzentwurf noch einenobendrauf, und das entlarvt Sie, glaube ich, vollends. InIhrem Gesetzentwurf wollen Sie regeln, dass Verkäufenicht stattfinden dürfen; es sei denn zum Beispiel an be-sonders geförderte Kommunen oder landeseigene Ge-sellschaften.
– Die machen sozialen Wohnungsbau wie andere auch,aber dies – so hat es Berlin für sich entschieden – inForm einer Aktiengesellschaft, also gewinnorientiert.Und dann wollen Sie sie bezüglich des vom Bund ge-kauften Wohnraums vom Weiterveräußerungsverbotausnehmen. Das heißt, dass die landeseigene Gesell-schaft mit dem ehemaligen Bundesvermögen Gewinnmachen kann. Und dann schreiben Sie noch – weil Ihnen
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Norbert Brackmann
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selbst das ja bewusst ist –, dass dem Bund ein Vorkaufs-recht eingeräumt wird, und zwar zu dem Preis, der amMarkt erzielt würde. Sie glauben doch selbst nicht, dasswir am Anfang vergünstigt Grundstücke an diese Ak-tiengesellschaft übertragen und hinterher, wenn ein Ge-winn am Markt erzielt werden kann, ein Vorkaufsrechtausüben, über das wir die Gewinnmarge auch noch zah-len. Da würden wir zu Recht nicht nur vom Bundesrech-nungshof, sondern wohl zuallererst auch von Ihnenangegriffen, dass wir das Vermögen des Bundes ver-schleudert hätten. Das, meine lieben Damen und Herren,kann doch nicht Ziel der Politik des Bundes sein, die aufNachhaltigkeit gerade für die Schichten ausgerichtet ist,für die Sie vorgeben zu kämpfen, so etwas zu unterstüt-zen.Im Übrigen unterstützt der Bund die Kommunen mitseiner Politik aktiv. Wir haben das Erstzugriffsrecht be-schlossen, das es den Ländern und Kommunen ermög-licht, Immobilien gerade nicht zu Konditionen des freienMarktes zu erwerben, sondern zum Gutachterwert. Sieselbst haben ja das Beispiel Großgörschenstraße ange-sprochen. Da hat die landeseigene gewinnorientierte Ge-sellschaft einen Preis geboten, der deutlich unter demVerkehrswert lag. Klar, sie will – das muss sie nach demGesetz ja auch – damit Gewinn machen. Wir haben ge-sagt: Nein, das geht nicht; wir verlagern diese Aufgabenicht. Wir führen stattdessen das Erstzugriffsrecht ein.Dieses Erstzugriffsrecht erweist sich bundesweit alshervorragendes Modell – einige Hundert Gemeinden ha-ben davon schon Gebrauch gemacht –, und auch der de-signierte Bürgermeister der Stadt Berlin, der Stadtent-wicklungssenator Müller, hat jetzt einen solchen Antraggestellt, weil er erkannt hat, dass es die einzig vernünf-tige Lösung ist, wenn man vom Preis des freien Marktesweg will, zum Gutachterwert zu erwerben. Deswegenhat er dem Bund angeboten, alle infrage kommendenBerliner Flächen zu erwerben. Diese Wohnungsbaupoli-tik ist, glaube ich, für die Kommune, für das Land Ber-lin, genau richtig. Wir als Bund werden dieses Bemühenunterstützen.
Kollege Brackmann, gestatten Sie eine weitere Be-
merkung oder Zwischenfrage der Kollegin Paus? – Ich
mache aber gleich darauf aufmerksam, dass das die
letzte Zwischenfrage ist, die ich zumindest aus Ihren
Reihen zulassen werde.
Dann lasse ich sie besonders gerne zu.
Herr Brackmann, Sie haben gerade ein bisschen insi-
nuiert, dass die landeseigene Berliner Gesellschaft einen
Preis geboten hätte, über den sie einen hohen Gewinn
und der Bund einen hohen Verlust machen würde. Das
möchte ich richtigstellen: Ich glaube, wir beide wissen,
dass die Gesellschaft einen an den Bestandsmieten und
am Mietpreisspiegel orientierten Preis geboten hat. Es
ging nicht darum, Gewinn zu machen. Das Wertgutach-
ten hatte offenbar eine andere Grundlage.
Sind Sie nicht mit mir zusammen der Meinung, dass
es richtig wäre – gerade auch mit Blick darauf, dass wir
in den nächsten Wochen über das Thema Mietpreis-
bremse und die Frage der Verdrängung und Gentrifizie-
rung usw. diskutieren werden –, wenn auch für den Bund
der Standard gelten würde, ein Objekt dann nicht zu ver-
kaufen, wenn feststeht, dass alle Mieterinnen und Mie-
ter, die sich derzeit in diesem Mietobjekt befinden, das
Objekt nach dem Verkauf definitiv verlassen müssen?
Außerdem würde mich in diesem Zusammenhang
Folgendes interessieren: Ich kenne keinen Experten, der
nachvollziehen kann, wie dieses Wertgutachten auf ei-
nen Wert von 7,1 Millionen Euro für diese Immobilie
gekommen ist. Wir haben mehrfach angefragt, ob wir
dieses Wertgutachten bekommen können. Der zustän-
dige Staatssekretär hat im Bauausschuss ebenfalls ge-
sagt, dass er mehrfach versucht hat, dieses Wertgutach-
ten aus dem zuständigen Ministerium zu erhalten, um
sich ein eigenes Bild darüber machen zu können. Denn
niemand kann verstehen, wie dieses Wertgutachten auf
den Betrag von 7,1 Millionen Euro kommt. Bisher liegt
uns das nicht vor.
Wenn Sie jetzt darauf rekurrieren, dass das richtig sei
und dass andere das hätten anerkennen müssen, dann
frage ich Sie: Können Sie mir erklären, wie diese
7,1 Millionen Euro zustande kommen und ob das ein ad-
äquater Preis ist? Wir jedenfalls können das nicht nach-
vollziehen und sagen: Es ist kein adäquater Preis, und es
ist richtig gewesen von der landeseigenen Gesellschaft
– nicht aus Gewinninteresse heraus, sondern im Sinne
und zum Schutz der Mieterinnen und Mieter –, diese
7,1 Millionen Euro nicht zu akzeptieren, sondern einen
angemessenen Kaufpreis zu fordern, der so hoch ist, dass
die Menschen, die jetzt dort wohnen, dort auch tatsäch-
lich wohnen bleiben können.
Erster Punkt. Zu dem Gutachten selbst kann ich Ihnennatürlich nichts sagen, weil es ein laufendes Verfahrenist
und ich im Übrigen das Gutachten im Detail auch nichtkenne. Es wäre auch unredlich, in einem laufenden Ver-fahren ein solches Gutachten einigermaßen öffentlichauf den Markt zu geben. Aber ganz falsch, Frau Kolle-gin, kann das Gutachten nicht sein. Nehmen wir einmaldie anderen öffentlich gewordenen oder zumindest inunseren Kreisen öffentlich gewordenen Zahlen: Einmalhaben wir diese 7,1 Millionen Euro laut Gutachten; dannhaben wir das millionenbeschwerte, aber geringere An-gebot – die Zahl nenne ich jetzt einmal nicht –,
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Norbert Brackmann
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das die landeseigene Berliner Gesellschaft abgegebenhat; und schließlich einen Wert, der auf dem Markt er-zielt werden könnte –
er scheint ja bekannt zu sein; er soll beim 39-Fachen desMietwertes liegen –, der also, wenn ich das einmal hoch-rechne, bei 9 Millionen Euro liegt. Wenn nun der imGutachten genannte Wert genau in der Mitte zwischenHöchstwert und dem niedrigeren Angebot liegt, sprichtdas zumindest dafür, dass das Gutachten nicht völlig da-neben liegt. Deswegen habe ich auch gar keinen Grund,dieses Gutachten anzuzweifeln.
Damit sind wir beim nächsten Punkt. Wo wird eigent-lich wie Wohnungsbaupolitik gemacht? Ich hatte bereitsgesagt, dass wir nicht nur Geld zur Verfügung stellen– ich habe diese 518 Millionen Euro genannt, die wir2015 überweisen –, sondern trotz der bewussten Ent-scheidung, eine Aufgabenteilung vorzunehmen und dieWohnungsbaupolitik in die Zuständigkeit der Länderund Kommunen zu geben, den Kommunen und Ländernauch eine ganze Reihe von Handlungsoptionen mit aufden Weg gegeben. Es gibt Umwandlungsverbote,Milieuschutzsatzungen und Zweckentfremdungsverbote.Vor einigen Monaten haben wir hier mit der Mietpreis-bremse auch noch eine weitere Möglichkeit geschaffen.Es ist also ein großes Repertoire, das den Kommunenund Ländern zur Verfügung steht, um in ihrer Zuständig-keit aktiv Wohnungsbau- und Mietpreispolitik zu betrei-ben.
Das sollte man als allererstes nutzen, um Einfluss zunehmen.
Außerdem sollte man sich darum bemühen, den Bau vonWohnungen so voranzutreiben, dass er sich lohnt – auchin großen Städten und nicht nur auf dem flachen Land –,
und so für den entsprechenden Zuwachs an Wohnungensorgen.Ein weiterer Punkt betrifft uns alle gemeinsam. Hiergeht es um Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit.
Wo kämen wir hin – ich könnte damit im Zweifel nochleben und meine Kolleginnen und Kollegen im Haus-haltsausschuss auch –, wenn wir im Haushaltsausschussdas, was Sie für die Wohnungspolitiker fordern – eswäre ein Leichtes, die Umweltpolitiker zu ermuntern,uns aufzufordern, dass wir auch noch etwas Umweltpoli-tisches machen und Ähnliches –, für uns in Anspruchnehmen würden? Dann würden all diese inhaltlichenFragen in den Haushaltsausschuss verlagert und wirwürden entscheiden, wer wo etwas günstiger bekommt.
– Der Kollege Dr. Krüger lacht schon. Wir haben da alsoein ähnliches Verständnis. – Wir würden uns also nichtzwingend dagegen wehren, aber es wäre unkorrekt; dennes gäbe dann keine Haushaltswahrheit und keine Haus-haltsklarheit mehr. Aber so wie das Verständnis der Ar-beit in diesem Parlament ist, auch völlig zu Recht ist, istes unsere Aufgabe im Haushaltsausschuss, das Vermö-gen zu erhalten und zu mehren,
damit an anderer Stelle die Fachpolitiker mit den Mit-teln, die das Parlament ihnen zur Verfügung stellt, in deneinzelnen Bereichen, für die sie da sind, das Optimaletun können.
– Auch wenn Sie sich nicht zu Wort gemeldet haben:Die 100 Millionen Euro für die Konversionsflächen ha-ben einen völlig anderen Hintergrund, nämlich denKommunen vor dem Hintergrund der Lasten, die durchdie Konversion entstehen, zu helfen, umzustrukturieren.Aber das ist keine Politik, die inhaltlich dazu führt, dasswir Kommunen überfordern, überfrachten oder Ähnli-ches.
Nach dem Baurecht liegen alle diese Zuständigkeitenbei den Kommunen. Daran will diese Koalition auchnichts ändern; denn das ist gut, das ist richtig so, und daslenkt die Entscheidungskraft dahin, wo von ihr Ge-brauch gemacht werden muss.
Das ist klassische kommunale Selbstverwaltung.
Deswegen – damit möchte ich heute schließen – ist esnicht der richtige Weg, über Verbilligung von Grundstü-cken, über Verbilligung von Wohnungsverkäufen und
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über Subventionierung des Preises den Versuch zu ma-chen, mittelbar eine Art Mietpreisbremse einzuführen.Wir sind der Meinung: Wenn man das machen will, dannmuss das so gemacht werden, dass man die vielfältigenMöglichkeiten der Schaffung neuen Wohnraums wahr-nimmt. Dabei unterstützt der Bund. Bei der Attraktivi-tätssteigerung von Wohnraum unterstützt der Bund. DieNeuschaffung von Wohnungen kann nach Bau- und Pla-nungsrecht nur von den Gemeinden gemacht werden.Wenn jeder, der daran beteiligt ist, gemeinsam mit unsan einem Strick ziehen würde, dann würden wir für dieMieter in unserem Land viel mehr bewegen als mit sol-chen Vorlagen, die nichts anderes sind als Schaumschlä-gerei.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Christian Kühn für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-ehrter Herr Brackmann, erst einmal stelle ich fest, dassSie 17 Minuten Zeit hatten, dass Sie eine reine haushal-terische Rede gehalten haben und heute kein Wohnungs-politiker und kein Baupolitiker der Union zu einem zen-tralen Thema der Bau- und Wohnungspolitik spricht.Das zeigt, welchen Stellenwert Bauen und Wohnen beider Union hat, nämlich gar keinen.
Zweitens stelle ich fest, dass Sie die Verbindung zwi-schen dem Kaufpreis für den Erwerb von Immobilienund den Folgen auf den Wohnungsmärkten zumindestignorieren. Ich finde, dies ist eine Grundvoraussetzung,um Wohnungspolitik betrachten zu können. Liegen-schaftspolitik ist im Kern Wohnungs- und Baupolitik.Das können Sie auch mit Ihrer 17-minütigen Rede, dieSie gehalten haben, nicht einfach wegwischen.
Ich will Ihnen weiterhin sagen: Wenn Sie als Unionbei der Liegenschaftspolitik in der Form weitermachenund rein auf die Gewinnmaximierung setzen, werden Siein der Wohnungs- und Baupolitik am Ende versagen undnichts Richtiges hinkriegen.Ich sage Ihnen außerdem: Bei den Konversionslie-genschaften machen Sie ja etwas für die Kommunen,weil Sie die Kommunen da unterstützen wollen. Aber esgibt auch andere Handlungsfelder bzw. Probleme derKommunen, die man dringend angehen muss, beispiels-weise die angespannten Wohnungsmärkte und die He-rausforderung, dass Kommunen jetzt viele Flüchtlingeunterbringen müssen und händeringend nach Flächen su-chen. Überall dort müssen Sie als Bund das InstrumentBundesanstalt für Immobilienaufgaben einsetzen. Dastun Sie nicht. Deswegen versagen Sie bei diesen Aufga-ben und machen im Kern, so finde ich, eine neoliberaleLiegenschaftspolitik statt eine verantwortliche Bau- undWohnungspolitik.
Bei der Großgörschenstraße setzen Sie – das sage ichIhnen auch – auf den Höchstpreis. Das ist skandalös. Ge-rade die Großgörschenstraße liegt in einem Wohnungs-markt, der einer der dynamischsten in ganz Deutschlandist. Da heizt der Bund nun mit dem Verkauf zum absolu-ten Höchstpreis die Spirale, die dort entsteht, noch wei-ter an. Einerseits lassen Sie sich heute als Große Koali-tion im Bundesrat als Anwälte der kleinen Mieterinnenund Mieter feiern und sagen: „Wir tun doch etwas da-für“, andererseits heizen Sie solche Preisspiralen mit Ih-rer Liegenschaftspolitik an. Das passt nicht zusammen.So wird die Mietpreisbremse, die sowieso schon durch-löchert ist, zu einer reinen Alibiveranstaltung. So werdenIhre Wohnungspolitik und ihre Baupolitik zu einer Alibi-veranstaltung.
Ich fordere Sie deswegen auf: Ändern Sie § 1 BImA-Gesetz. Nehmen Sie dort städtebauliche Kriterien hinein.Nehmen Sie wohnungspolitische Ziele hinein, und än-dern Sie die Haushaltsordnung. Lassen Sie die Liegen-schaftspolitik nicht zu einem reinen Gnadenakt werden.Ich habe gehört, es soll ein Spitzengespräch wegen derGroßgörschenstraße geben. Ich finde, Liegenschaftspoli-tik darf nicht davon abhängen, ob ein Finanzminister denDaumen nach oben hält oder nach unten senkt. Es mussvielmehr um strukturelle Fragen, um städtebauliche Fra-gen und um wohnungsbaupolitische Fragen gehen.
In unserem Antrag fordern wir ein umfassendes Kon-zept zur Liegenschaftspolitik, das zeigt, wie auf der ei-nen Seite haushalterische Fragen und auf der anderenSeite strukturelle wie städtebauliche und wohnungspoli-tische Fragen berücksichtigt werden können und wie eineffektiver Mieterschutz gewährleistet werden kann. Da-ran sollten Sie sich orientieren.Ihre Rede, Herr Brackmann, hat ganz klar gezeigt,dass Sie sich in der Großen Koalition überhaupt nicht ei-nig sind. Sie sind sich auch in der Union nicht einig; dasmerke ich, wenn ich mit Ihren Kollegen aus Berlin spre-che.
Sie versagen einfach in der Wohnungspolitik und derLiegenschaftspolitik in Gänze.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6055
Christian Kühn
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Wir haben auch ein Verkaufsmoratorium beantragt.Das wäre das Geringste, das Sie tun könnten, um dieWohnungsmärkte zu entspannen. Auch das tun Sie nicht.Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben dieDinge in ihren Haushaltsordnungen geändert. Dort wer-den heute auch Konzeptvergaben und die Berücksichti-gung städtebaulicher Kriterien ermöglicht. Daran solltesich der Bund orientieren. In diesen Ländern wird einegute Bau- und Wohnungspolitik gemacht – auf Bundes-ebene leider nicht, weil Sie von der Union es blockieren.
Ich höre von Ihnen immer: Die Haushaltsordnungsteht dem Ganzen entgegen. – Haben Sie doch einfachmal ein bisschen Mut! Wir hier im Parlament können dieHaushaltsordnung ändern. Das Europarecht steht demauch nicht entgegen; das hat uns der WissenschaftlicheDienst des Bundestages bestätigt.
Ich sage Ihnen ganz klar: Sie können heute hier in derGroßen Koalition Farbe bekennen und sich entscheiden,ob Sie eine andere Liegenschaftspolitik machen wollenoder eben nicht. Ich glaube, Sie werden wieder sagen:Nein, wir lassen alles so, wie es ist. – Damit versagenSie in der Liegenschaftspolitik. Damit lassen Sie dieMieterinnen und Mieter in Deutschland im Regen ste-hen. 40 000 Wohnungen gehören dem Bund, gerade inGebieten mit angespannten Wohnungsmärkten; das istmehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Damit kön-nen Sie den Mieterinnen und Mietern etwas geben undauch wirklich dafür sorgen, dass sie weiterhin zu bezahl-baren Preisen vernünftig wohnen können. Das wollenSie nicht. Insofern versagen Sie hier.Sie von der Großen Koalition versagen in der Liegen-schaftspolitik, und Sie versagen in der Wohnungsbau-politik leider in Gänze.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger für
die SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Für uns Sozialdemokraten ist es gute Tra-dition, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, auch undgerade für Menschen, die nicht viel Geld im Portemon-naie haben. Es ist nicht in Ordnung, wenn viele Men-schen 50 Prozent und mehr ihres Nettogehaltes für eini-germaßen vernünftiges Wohnen ausgeben müssen.Gegen diese Entwicklung haben wir bereits einiges ge-tan. So haben wir im Kabinett die Mietpreisbremse be-schlossen; sie wurde eben schon angesprochen. Damitwird ab 2015 die Miete in angespannten Märkten nurnoch maximal 10 Prozent über der ortsüblichen Ver-gleichsmiete liegen dürfen.Im Haushalt 2014 haben wir bereits die Städtebauför-derungsmittel von 455 auf 700 Millionen Euro erhöht.Damit kann der Investitionsbedarf bei den vordringli-chen städtebaulichen Innovationsprojekten in den Kom-munen abgedeckt werden. Darüber hinaus entwickelnwir das Programm „Soziale Stadt“ mit 150 MillionenEuro zum Leitprogramm der sozialen Integration. Damitunterstützen wir die Stabilisierung und Aufwertungstrukturschwacher Stadt- und Ortsteile.Nun liegen uns heute hier ein Gesetzentwurf der Lin-ken und Anträge der Grünen und der Linken vor, bei de-nen man nach Lektüre den Eindruck gewinnen kann,dass bezahlbarer Wohnraum deshalb knapp wird, weildie Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ihre gesetzli-che Pflicht wahrnimmt und nicht mehr benötigte bundes-eigene Wohnungen zum entsprechenden Marktwert ver-kauft.Fakt ist in der Tat, dass die BImA als zuständige Bun-desbehörde für die Verwertung der vom Bund nicht mehrbenötigten Bundesliegenschaften – zurzeit bundesweitcirca 70 000 Wohnungen – eine besondere Verantwor-tung für den Immobilien- und den Wohnungsmarkt so-wie die regionale Entwicklung hat. Dieser Verantwor-tung kommt sie im Rahmen ihres gesetzlichen Auftragsnach, sprich: nach dem geltenden Haushaltsrecht veräu-ßert sie zum vollen Verkehrswert.Hierbei ist es auch heute schon in der Regel gute Tra-dition, dass die BImA die zu veräußernden Wohnungenentsprechend § 194 Baugesetzbuch zuerst den Kommu-nen und deren Wohnungsbaugesellschaften aufgrund ei-ner entsprechenden Wertermittlung zum Verkehrswertanbietet. Hier ein Moratorium zu fordern, also ein Veräu-ßerungsverbot, wie es die Anträge der Linken und derGrünen tun, ist meines Erachtens ein falscher Ansatz.Gerade einmal 0,3 Prozent des gesamten Wohnungs-bestandes – die Zahl sprach eben schon jemand an – ge-hören der BImA in Berlin, 99,7 Prozent eben nicht. Aberwir müssen und sollen an alle betroffenen Mieterinnenund Mieter denken. Da ist die Fokussierung nur auf ei-nen kleinen Teil der betroffenen Menschen eben nichtdie Lösung, bei der wir haltmachen dürfen. Will mannämlich wirklich helfen, müssen die Instrumente, dieKommunen und Länder haben, auch genutzt werden.Gegebenenfalls müssen diese Instrumente geschaffenwerden.Eine Zweckentfremdungsverbotsverordnung, die inaller Regel die Umwandlung in Ferienwohnungen kon-trolliert, ist in diesem Zusammenhang sicherlich hilf-reich. Sie bleibt aber nur Stückwerk, wenn sie nicht voneiner Umwandlungsverordnung flankiert wird, mit derdie Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnung vorallen Dingen in Milieuschutzgebieten genehmigungs-pflichtig wird.
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Dr. Hans-Ulrich Krüger
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Auch sollte man die Rechte und Möglichkeiten desBaugesetzbuches nutzen. So schreibt zum Beispiel derIhnen sicherlich bekannte § 172 Baugesetzbuch die Er-haltung baulicher Anlagen und der Eigenart von Gebäu-den vor. Wörtlich heißt es dort – ich zitiere –:Die Gemeinde kann in einem Bebauungsplan oderdurch eine sonstige Satzung Gebiete bezeichnen, indenen1. zur Erhaltung der städtebaulichen Eigenart …2. zur Erhaltung der Zusammensetzung der Wohn-bevölkerung … oder3. bei städtebaulichen Umstrukturierungen …der Rückbau, die Änderung oder die Nutzungsän-derung … der Genehmigung bedürfen.Sie sehen also: Der Gesetzgeber, liebe Kolleginnenund Kollegen, hat genügend Instrumente, um den Patien-ten „mangelnder Wohnraum“ mit bezahlbaren Mietenentsprechend versorgen zu können.
Fazit: Auf der einen Seite haben wir die Kommunenund die Länder, die die bestehenden gesetzlichen Instru-mente des Baugesetzbuches nutzen bzw. diese per Um-wandlungsverordnung schaffen müssen. Auf der anderenSeite haben wir den Bund, der mit Maßnahmen der Städ-tebauförderung, der Förderung des sozialen Wohnungs-baus, also mit einer aktiven Wohnungspolitik, diese Auf-gabe unterstützt.In diesem Zusammenhang spielt die BImA die ergän-zende wichtige Rolle, die man diskutieren und gegebe-nenfalls auch modifizieren darf. Ich verweise hier bereitsauf einen Antrag der SPD aus der letzten Legislaturpe-riode, und zwar vom 12. Juni 2012, in dem bereits gefor-dert wurde, die Tätigkeit der BImA stärker als bisher anstrukturpolitischen Zielsetzungen auszurichten.
Einen ersten Schritt, liebe Kolleginnen und Kollegen,haben wir mit der Regelung im Koalitionsvertrag getan,indem wir 100 Millionen Euro bereitgestellt haben, umeine verbilligte Abgabe von Konversionsflächen ankommunale Träger zu ermöglichen.Hier müssen wir weiterarbeiten, und hier müssen wirAkzente setzen – in dem Bewusstsein, dass wir als Bunddie Aufgabenerfüllung der Länder und Kommunen zwarunterstützen, aber nicht ersetzen können.Ich danke Ihnen.
Der Kollege Klaus Mindrup hat ebenfalls für die
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist gut, dass wir heute über Liegenschafts-politik reden. Als langjähriger Kommunalpolitiker habeich mich damit natürlich schon beschäftigt.Ich bin im Frühjahr nach Schöneberg gefahren, alsmich die betroffenen Mieter dorthin eingeladen hatten,und habe das Gespräch gesucht. Wenn ich über die Lie-genschaftspolitik rede, denke ich zuallererst an dieseMenschen. Ich verstehe aber auch, dass wir über Zahlenreden müssen, wenn wir über Liegenschaftspolitik spre-chen. Das möchte ich dankend aufgreifen.Laut der Bilanz der BImA lag der Wert der Grundstü-cke und der Gebäude, die sie verkaufen will, Ende 2013bei 2 875 273 105,53 Euro. Das ist der geplante Erlösdessen, was die BImA laut Bilanz insgesamt über dieJahre veräußern will. Sie hatte im Jahr 2013 einen Um-satz von 4,8 Milliarden Euro gemacht. Allerdings stamm-ten davon 4,2 Milliarden Euro aus Vermietung und Ver-pachtung und mit 440 Millionen Euro nur 9 Prozent ausdem Verkauf von Liegenschaften. An den Bundeshaus-halt wurden 2,8 Milliarden Euro abgeführt. Das istsechsmal so viel, wie aus Verkäufen eingenommenwurde.Warum nenne ich diese Zahlen hier? Manchmal hatman in der Diskussion den Eindruck, dass Wohl undWehe des Bundeshaushalts an den Verkaufserlösen derBImA hängt und dass der Bundeshaushalt, wenn wirnicht zum Höchstpreis veräußern, an dieser Stelle einProblem bekommt. Das ist offenbar eine deutliche Über-treibung.
Kommen wir nun zurück zu unseren Berliner Nach-barn, den Mieterinnen und Mietern der Katzlerstraße/Großgörschenstraße. Sie haben Angst, dass sie aus ihrenWohnungen verdrängt werden.
Diese Sorge ist auch absolut berechtigt; denn inDeutschland hat sich nicht nur ein grauer Kapitalmarkt,sondern auch ein grauer Baumarkt entwickelt. Es ist Pra-xis, dass solche Häuser rücksichtslos und – was mindes-tens genauso schlimm ist – erfolgreich entmietet werden,um dann die Wohnungen als Eigentumswohnungen zuveräußern. Hier ist es Aufgabe der Politik, auf allen Ebe-nen tätig zu werden.
An dieser Stelle muss ich die CSU loben. Sie hat inBayern eine Umwandlungsverordnung beschlossen, so-dass man nicht mehr einfach ohne Genehmigung Miet-wohnungen in Eigentumswohnungen umwandeln darf.
In der Pressemitteilung der Bayerischen Staatskanzleivom 4. Februar 2014 heißt es wörtlich:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6057
Klaus Mindrup
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Damit setzen wir nunmehr um, was wir vor denLandtagswahlen angekündigt haben und was imvergangenen Jahr am Widerstand der FDP geschei-tert war.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe die FDPhier im Bund nicht mehr. Ich kann Ihnen aber sagen: DieSPD steht auf jeden Fall an der Seite derer, die eine so-ziale und zugleich wertkonservative Politik machen wol-len.
Kollege Mindrup, gestatten Sie eine Bemerkung oder
Frage der Kollegin Lötzsch?
Ja, bitte.
Herzlichen Dank, Herr Kollege. Ich will eine Zwi-
schenbemerkung machen.
Ich hoffe, dass Sie in der SPD miteinander kommuni-
zieren. Falls Sie nicht miteinander kommunizieren soll-
ten, darf ich Ihnen mitteilen, dass wir im Haushaltsaus-
schuss – Herr Kühn, dort werden viele Fragen beraten,
die uns alle betreffen, und darum können sich Haushälter
auch zu diesen Fragen äußern; das nur als kleine Neben-
bemerkung – über das Moratorium gesprochen haben.
Der Vertreter der SPD, Johannes Kahrs, hat mehrmals
gesagt: Leute, lasst uns diesen Antrag verschieben, wir
kriegen schon eine gute Lösung hin.
Nach zweimaligem Verschieben wurde das Thema
auf die Tagesordnung gesetzt, und wir haben über das
Moratorium abgestimmt. Die Vertreter der Koalition ha-
ben dagegen gestimmt. Die heldenhaften Berliner SPD-
Abgeordneten und die heldenhaften Berliner CDU-Ab-
geordneten, die der Berliner Presse erzählen, dass sie al-
les tun würden, um die Mieterinnen und Mieter zu unter-
stützen, sind einfach gegangen, weil sie sich an der
Abstimmung nicht beteiligen wollten.
Es geht hier um die Frage der politischen Ehrlichkeit.
Sie rennen in Berlin durch die Gegend und erzählen, wie
man den Bund beeinflussen wolle, wie man sich gegen-
über dem Bundesfinanzministerium eingebracht habe.
Das Bundesfinanzministerium hat mir übrigens mitge-
teilt, dass ihm ein Brief der Berliner Abgeordneten nicht
vorliegt.
Seien Sie doch ehrlich! Sagen Sie, Sie können sich
nicht durchsetzen, Sie wollen sich nicht durchsetzen.
Tun Sie hier nicht so, als stünden Sie auf der Seite der
Mieterinnen und Mieter. Oder sagen Sie, Sie wollen eine
entsprechende Regelung endlich umsetzen. Dann sorgen
Sie aber auch dafür, dass Ihre Fraktionskollegen entspre-
chend abstimmen. Ich finde, so geht das nicht. Das ist
unehrlich gegenüber der Öffentlichkeit.
Werte Kollegin, wir haben in Berlin ein Problem mit
der Glaubwürdigkeit. Diese Glaubwürdigkeit hängt auch
mit der rot-roten Koalition in Berlin zusammen, die
nämlich keine alternative Liegenschaftspolitik hinbe-
kommen hat; die haben wir jetzt erstaunlicherweise mit
den Kollegen von der CDU hinbekommen. Als Sie noch
mit uns regiert haben, hatten wir die Politik des Höchst-
preises. Das habe ich damals kritisiert.
– Entschuldigung. Ich bin Berliner SPD-Mitglied und
auch Landesvorstandsmitglied. Mir wurde immer ge-
sagt: Wenn die Linke in Berlin Höchstpreispolitik macht,
dann stehst du ja links von den Linken. Wie soll man so
etwas durchsetzen? Wo stehst du eigentlich?
Es ist doch vernünftige Politik, dass man nicht alles
zum Höchstpreis veräußert. Wir sind an dem Thema
dran, Frau Lötzsch. Die SPD-Fraktion hat am Dienstag
einstimmig den klaren Beschluss gefasst, dass wir eine
andere Liegenschaftspolitik im Bund haben wollen.
Für uns ist ganz entscheidend, dass wir vorbildlich han-
deln.
Der Bund muss vorbildlich sein.
Wir haben das Bündnis für bezahlbares Bauen und
Wohnen ins Leben gerufen. Wir haben uns mit der
Union auf die Mietpreisbremse verständigt. Die ist aber
noch nicht gesetzlich umgesetzt. Herr Brackmann, ma-
chen wir uns doch nichts vor: Wenn die Mietpreisbremse
Gesetzeskraft hat, reduziert das logischerweise den Er-
tragswert der Immobilien, die in Gebieten mit ange-
spannter Wohnraumlage veräußert werden sollen. In
Berlin wurde dies von den städtischen Wohnungsbauge-
sellschaften mit dem Mietenbündnis bereits vorwegge-
nommen. Das heißt, es kann kein so hoher Preis erzielt
werden. Wenn Ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin
der Umwandlungsverordnung zustimmen würden, dann
würde uns das noch weiterbringen; denn das würde wie-
derum den Wert senken.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Paus?
Gerne.
Da Sie gerade gesagt haben, dass Sie sich in der SPD-Bundestagsfraktion intensiv mit dem Thema auseinan-dersetzen, dass das Bieterverfahren zur Großgörschen-straße abgeschlossen ist und dass damit zu rechnen ist,dass das diesem Hause in den nächsten Wochen vorliegt,
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6058 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Lisa Paus
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frage ich: Können Sie uns auch mitteilen, wie die Situa-tion hinsichtlich der Großgörschenstraße konkret aus-sieht? Können Sie uns heute hier sagen, dass die Häuserin der Großgörschenstraße nicht zum Höchstpreis ver-kauft werden? Wie ist die Beschlusslage der SPD-Frak-tion in dieser Frage?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich muss hier ganz
klar sagen: Wir haben einen Koalitionsvertrag, und im
Augenblick haben wir noch keine geänderte Grundlage.
Darauf komme ich im weiteren Verlauf meiner Rede
aber noch zu sprechen.
Was für mich persönlich wichtig ist – das ist auch
noch einmal ein Appell an die Kolleginnen und Kollegen
aus dem Bundesfinanzministerium –, ist Folgendes: Man
sollte vor der Einführung der Mietpreisbremse keinen
Schlussverkauf von Bundesimmobilien vornehmen. Das
ist ganz wichtig; denn die Spekulationsökonomie ist ein
wenig wie eine griechische Tragödie: Man weiß schon
am Anfang, dass es am Ende schiefgeht.
Wir als SPD wollen eine andere Liegenschaftspolitik.
Wir wollen, dass bei Veräußerungen auch die städte-,
wohnungs- und strukturpolitischen Ziele im Blick behal-
ten werden können. Wir wollen Konzeptverfahren, und
zwar zum Festpreis. In der Mitteilung der EU-Kommis-
sion vom 10. Juli 1997 ist klar festgelegt, dass man das
machen kann, wenn man will. Vor allen Dingen kann
man das machen, wenn man ein klares wohnungspoliti-
sches Ziel, hier: bezahlbare Mieten, hat.
Genauso kann man vorgehen, wenn es um die drin-
gend notwendige Unterbringung von Flüchtlingen geht.
Dann muss man nicht zum Höchstpreis verkaufen. Das
ist auch finanzpolitisch sinnvoll. Es macht doch keinen
Sinn, auf der einen Seite Wohnungen teuer zu veräußern
und auf der anderen Seite einen viel höheren Aufwand
zu betreiben und viel mehr Geld auszugeben, um neuen
Wohnraum zu schaffen und darüber hinaus auch noch
Grundsicherungsleistungen und Wohngeld zu zahlen.
Wenn man das nicht ganzheitlich sieht, hält man sich
eben auch nicht an das Prinzip von Haushaltsklarheit
und Haushaltswahrheit. Diese Art der Kreislaufwirt-
schaft ist wirklich unsinnig: Man kann doch nicht auf der
einen Seite das Geld einnehmen, das man auf der ande-
ren Seite wieder ausgibt.
Wir reden hier immer von der schwarzen Null. Diese
schwarze Null muss nachhaltig sein. Sie darf nicht mit
hohen Folgekosten erkauft werden. Das würde uns näm-
lich teuer zu stehen kommen. Hohe Folgekosten entste-
hen, wenn man nicht investiert oder ohne Augenmaß
Vermögen aus der Hand gibt.
Der Koalitionsvertrag bietet Orientierung. Seine
Überschrift lautet: „Deutschlands Zukunft gestalten.“
Gestalten müssen wir auch in der Bau- und Liegen-
schaftspolitik. Das Streben nach Nachhaltigkeit ist das
richtige Motiv. Wir müssen den Nachhaltigkeitsgedan-
ken dort stärker einbeziehen. Wir müssen ökologisch,
wirtschaftlich und sozial handeln. Dieser Ansatz zieht
sich auch durch den Koalitionsvertrag.
Insofern ist ein Moratorium keine Lösung. Wir müs-
sen schauen – diesbezüglich hoffe ich auf weitere kon-
struktive Gespräche mit der Union, vor allen Dingen mit
den Baupolitikern –, dass wir zu einer Baupolitik kom-
men, die dem Prinzip der Nachhaltigkeit Rechnung trägt.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/2882 und 18/3044 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksa-che 18/2908. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe aseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1952 mit demTitel „Sofortiges Moratorium für die Wohnungs- undGrundstücksverkäufe durch die Bundesanstalt für Immo-bilienaufgaben“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 18/1965 mit dem Titel „Moratoriumbeim Verkauf von Wohnimmobilien in Städten mit ange-spanntem Wohnungsmarkt durch die Bundesanstalt fürImmobilienaufgaben“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derUnionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Frak-tion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünenangenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Werner Kammer, Arnold Vaatz, Ulrich Lange,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten GustavHerzog, Sören Bartol, Kirsten Lühmann, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDWasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltungzukunftsfest gestaltenDrucksache 18/3041Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
SportausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6059
Vizepräsidentin Petra Pau
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen raschvorzunehmen, damit ich die Aussprache eröffnen kann.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-minister für Verkehr und digitale Infrastruktur,Alexander Dobrindt.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Schifffahrt ist in der Tat eine der tragen-den Säulen der deutschen Volkswirtschaft. Die Grund-lage dafür, dass wir eine leistungsfähige Schifffahrt undleistungsstarke Wasserwege gestalten und erhalten, isteine starke und effiziente Wasserstraßen- und Schiff-fahrtsverwaltung.Wir haben mit unserer Prognose für die Güter-verkehre in den letzten Monaten sehr deutlich daraufhingewiesen, dass wir Güterverkehrssteigerungen von40 Prozent erwarten. Wenn wir diese Güterverkehrsstei-gerungen, die notwendig sind, um den Wohlstand auchin Deutschland zu erhalten, auf den Verkehrsträgern ab-bilden wollen, brauchen wir auch sehr starke und intakteWasserstraßen. Die Entlastung von Schiene und Straßekann nur durch die Kapazitäten der Wasserstraße erfol-gen. Deswegen haben wir in unseren ganzen Reform-bemühungen der Wasserstraßen- und Schifffahrtsver-waltung immer dieses Ziel hochgehalten. DieLeistungsfähigkeit muss am Schluss gesteigert werden.Eine Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwal-tung darf nicht dazu führen, dass wir am Schluss weni-ger Kapazitäten auf den Wasserstraßen abbilden. Viel-mehr müssen wir mehr Kapazitäten abbilden.
Deswegen haben wir von der Koalition gleich zu Be-ginn Grundsätze formuliert, wie man eine Reform derWasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung beschreibenkann. Ein Grundsatz war, die Regionalität zu erhalten.Ein weiterer war, die Kompetenz vor Ort zu stärken. Eindritter Grundsatz war, die eigenständige Aufgabenerfül-lung zu sichern. Diese Grundsätze sind nicht zu jederZeit als oberste Grundsätze einer Reform genannt wor-den. Lange Zeit hat man auch über andere Möglichkei-ten nachgedacht.
Wir gehen gemeinsam – das war immer unsere Überzeu-gung – in die Richtung: Stärkung der lokalen Kräfte beider Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwal-tung.
– Der Beifall zeigt, dass wir uns einig sind und dass dieReform gelungen ist.
Selten ist mir so viel Applaus in diesem Haus entgegen-geschallt wie jetzt gerade.
Das überrascht mich fast.
Wir haben in der Wasserstraßen- und Schifffahrtsver-waltung 14 000 Mitarbeiter. Sie ist eine der größten Bun-desbehörden, auf jeden Fall die größte Bundesbehördeim Bereich der Infrastruktur. Das zeigt auch die Dimen-sion. Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung mitihren Mitarbeitern ist überall vor Ort in Deutschland ver-treten und organisiert überall vor Ort in Deutschland dieWirtschaftsverkehre. Das zeigt auch ihre Bedeutung fürdas ganze Land. Vielleicht gab es auch deswegen dieseintensive Diskussion. 20 Jahre hat es gedauert, eine Re-form in ihren wesentlichen Grundzügen zu beschreibenund jetzt auch umzusetzen. Dass wir dieses Ziel jetzt er-reicht haben, ist in der Tat ein sehr gutes Ergebnis.Die Reform schafft Planungssicherheit für die Wirt-schaft, für die Nutzer der Wasserstraßen und für die Be-schäftigten der WSV. Die Standorte der bisherigen39 Wasser- und Schifffahrtsämter bleiben erhalten. Wirhaben Revierverantwortungen gezeichnet. Wir werdeneine stärkere Vernetzung der Standorte innerhalb der Re-viere umsetzen. Insbesondere durch diese Vernetzunginnerhalb der Revierstruktur werden der regionaleGedanke der Reform unterstützt und die lokale Verant-wortung vor Ort gestärkt.In den nächsten Wochen und Monaten wird den künf-tigen Wasserstraßen- und Schifffahrtsämtern der Prozessder Reformumsetzung nahegebracht. Ich will ausdrück-lich betonen, dass die Konkretisierung der Struktur – an-gesichts der Breite der WSV dauert eine derartige Um-setzung eine gewisse Zeit – natürlich bedeutet,fachlichen und organisatorischen Anregungen gegen-über weiter offen zu sein. Wir haben diese Struktur ge-meinsam mit den Kolleginnen und Kollegen, also mitden Mitarbeitern der WSV, entwickelt. Dies soll auch inden nächsten Monaten für den Umsetzungsprozess gel-ten. Die bessere Idee ist immer der Konkurrent zur gutenIdee. Deswegen sind wir an möglichen Weiterentwick-lungen durchaus interessiert.Wir haben eine organisatorische Aufgabentrennung– so war es formuliert – von Verkehr und Infrastrukturgeprüft. Wir kamen eindeutig zu dem Ergebnis, dass einesolche Aufgabenaufteilung mit einer entsprechendenÄmterstruktur nicht zweck- und zielführend ist. Vorzu-ziehen ist eindeutig eine Struktur mit größeren Zustän-digkeitsbereichen in den einzelnen Revieren. Deswegenhaben wir der Aufgabentrennung von Verkehr und Infra-struktur eine klare Absage erteilt, meine Damen undHerren.Wir wollen die Kompetenzen vor Ort stärken. Deswe-gen ist, was die zentrale Steuerung betrifft, die Zustän-
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6060 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Bundesminister Alexander Dobrindt
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digkeit der im Mai vergangenen Jahres eingerichtetenGeneraldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt richtiggewesen, und sie bleibt richtig. Diese Zuständigkeit en-det aber dort, wo regionale Belange und Kenntnissemaßgeblich sind. Ich glaube, auch das ist ein deutlichesBekenntnis zur Stärkung der Funktionsfähigkeit vor Ort.Wir richten die WSV intensiv nach den spezifischenRevieranforderungen aus. Damit sichern und fördern wirdie intensive Kooperation zwischen einzelnen Revier-verwaltungen und der verladenden sowie der Transport-wirtschaft. Wir entsprechen damit zugleich den regionalsehr unterschiedlichen Anforderungen. Das gilt insbe-sondere für die spezifischen Belange der Küste und derSeeschifffahrt. Die Organisation und Kontrolle der Ver-kehrssicherung in der Deutschen Bucht bleiben ebensoeine vorrangige Vor-Ort-Aufgabe wie die Regelung desSchiffverkehrs von der Nord- und Ostsee in die deut-schen Seehäfen.Mit der Reform stärken wir die regionale Kompetenzund den unmittelbaren Revierbezug und sichern kurzeAbstimmungswege zwischen Wirtschaft und Verwal-tung.Meine Damen und Herren, die Verwaltung dient derWirtschaft, die Verwaltung dient den Wirtschaftswegen,und die Verwaltung dient vor allem der Wertschöpfung,die die Wirtschaft auf diesen Verkehrswegen erbringenkann. Deswegen kann eine besonders enge Vor-Ort-Ab-stimmung zwischen Verwaltung und Wirtschaft am bes-ten mit unserem Reviergedanken erreicht werden.Schleusen, Wehre, Brücken, Pumpen und all das, waswir an technischen Bauwerken an den Wasserwegenkennen, brauchen Planung und Betreuung mit einemgroßen ingenieurtechnischen Sachverstand. Manchmalist nicht nur ingenieurtechnischer Sachverstand, sondernauch ein erhebliches Maß an Improvisationstalent erfor-derlich. Das kann die WSV. Das müssen wir auch für dieZukunft sichern. Das geht nur mit entsprechenden Fach-kräften und Planungskapazitäten. Deswegen war es mirund unserem Haus ein besonders großes Anliegen, imnächsten Jahr wie auch in diesem Jahr zusätzliche Fach-kräftestellen zu erwirken, sodass die notwendige Kom-petenz an Ingenieurleistung und Improvisationstalentnicht verloren gehen.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wirden Umsetzungs- und Modernisierungsprozess in diesersehr konstruktiven Art und Weise gemeinsam mit denMitarbeitern und den Interessenvertretungen gestaltenkonnten. Das Mitwirkungsverfahren, wie wir es im Ein-vernehmen mit dem Hauptpersonalrat festgelegt undschriftlich vereinbart haben, hat dieses harmonische Mit-einander gesichert. Ich möchte mich beim Hauptperso-nalrat und bei allen Beschäftigten ausdrücklich für diekonstruktive Zusammenarbeit in den letzten Monatenbedanken.Wir modernisieren mit dieser Reform nicht nur eineder größten Flächenverwaltungen unseres Landes, son-dern wir stärken damit zugleich die große Bedeutung un-serer Wasserstraßen im Transport- und Güterverkehr.Mit den Mitteln aus dem zusätzlichen Investitionspaketin dreistelliger Millionenhöhe, die wir in die Wasserstra-ßen und Schifffahrtswege in dieser Wahlperiode inves-tieren werden, stellen wir klar, dass die Wasserstraßenbeim Investitionshochlauf des Verkehrsministeriums überalle Transportwege hinweg eine ganz bedeutende Rolleeinnehmen werden.Gemeinsam schaffen wir es, dass die Wasserstraße fürdie Anforderungen der Zukunft fit wird und für denTransport der Güterverkehre gerüstet ist. Das ist einegroße Reform, nicht nur für die Mitarbeiter, sondern imBesonderen auch für die deutsche Wirtschaft.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Dobrindt, wenn Sie das, was Sie vorgelegt habenund jetzt mit einem Antrag der Koalitionsfraktionen un-terlegen, als das Ergebnis eines 20-jährigen Prozessesbezeichnen, dann ist das noch erbärmlicher, als es ohne-hin ist. Das ist wirklich entlarvend.
Eine zweite Anmerkung. Die Improvisationsfähigkeitder Kolleginnen und Kollegen in der WSV, die Sie aus-drücklich begrüßen, entspringt nicht dem Wunsch, inno-vativ und improvisierend tätig zu sein, sondern diesesImprovisieren ist schlicht eine Notwendigkeit, weil teil-weise das Personal fehlt, weil die Ausstattung fehlt, weilentsprechende Rahmenbedingungen nicht gegeben sind.Diese Notwendigkeit, zu improvisieren, möchte ichgerne durch eine vernünftige WSV-Reform vermeiden.
Mit dem Auftrag, die WSV umzubauen, ist die An-drohung verbunden gewesen: Wir machen aus der WSVals einer Ausführungsverwaltung eine Gewährleistungs-verwaltung. All das, was an Kompetenzen abzugebenist, sollte abgegeben werden. Nur noch geringe Zustän-digkeiten sollten in den Händen der WSV-Beschäftigtenbleiben.Sechs Berichte hat es bedurft, um über die Ziele desWSV-Reformprozesses zu berichten. Wir haben mindes-tens 20 Debatten hier im Plenum und im Ausschuss dazugeführt, um uns mit dieser Frage auseinanderzusetzen.Die Kolleginnen und Kollegen selbst haben sich mit Pro-testaktionen von Schweinfurt bis nach Wilhelmshaveneingebracht, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu ma-chen. Es hat Streiks bedurft, um auf die Frage der Be-schäftigungssicherung hinzuweisen, ohne dass es letzt-endlich zu einem Tarifvertrag gekommen wäre, weil sichdas Ministerium geweigert hat.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6061
Herbert Behrens
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Das macht den Kolleginnen und Kollegen weiterhinSorgen, aber auch – das haben Sie eben gesagt – dieWirtschaft ist davon betroffen. Die Wirtschaftsverbändemachen sich Sorgen, dass dieser Prozess nicht so voran-geht, wie er vorangehen müsste.Nun kommt dieser Antrag dazu. Jetzt wäre dieChance gewesen – insbesondere durch den Einfluss derSPD –, endlich einmal Butter bei die Fische zu gebenund zu sagen: Jetzt ist die Möglichkeit da, das falscheEinstielen der WSV-Reform, damals maßgeblich betrie-ben von der FDP, zu beenden und die richtige Richtungeinzuschlagen. Aber was lesen wir? Forderungen mit ei-nem hohen Finanzierungsvorbehalt, sehr vage Ankündi-gungen und dann auch noch unzutreffende Hinweise aufdie umfängliche Beteiligung der Belegschaft. Wenn manmit den Kolleginnen und Kollegen spricht, stellt manfest, dass das so nicht zutrifft.Die Binnenschifffahrt braucht verlässliche Investitio-nen. Wenn jetzt schon Forderungen gestellt werden, dieunter einem Finanzierungsvorbehalt stehen werden– weil der Finanzminister an der schwarzen Null festhal-ten will, obwohl die Steuereinnahmen, wie wir gehörthaben, vermutlich sinken werden –, dann kann man sichvon vornherein davon verabschieden, dann sind zweivon acht Forderungen heute schon erledigt.Die anderen Ankündigungen betreffen die Generaldi-rektion Wasserstraßen und Schifffahrt. Eben wurde er-wähnt, dass eine Generaldirektion aufgebaut wurde. Daswar aber im Mai 2013. Just vor Auslaufen der letztenWahlperiode musste schnell noch einmal ordentlichdraufgehauen werden, ohne zu wissen, was danachkommt. Ein Jahr später wird immer noch daran herum-gedoktert, die Generaldirektion in Gang zu bringen. Kol-legen erzählen, dass erst jetzt ein Mietvertrag abge-schlossen wurde. Erst jetzt beginnt der Umbau, undwann die Arbeit aufgenommen wird, ist fraglich.Das ist keine zuverlässige Perspektive für die Be-schäftigten. Gleichzeitig soll die Zahl der Wasser- undSchifffahrtsämter von 39 auf 18 verringert werden. Dasbedeutet erst einmal Totalumbau. Keiner weiß genau,wie dieser aussehen soll, weil es gleichzeitig angeblichkeinen Abbau der Außenstellen geben soll, damit dieoperative Arbeit, die geleistet werden muss, weiterhinmöglich ist.Was die Beteiligung der Beschäftigten angeht, ist na-türlich der Hauptpersonalrat beteiligt worden. Er mussauch beteiligt werden. Das gilt auch für andere Personal-räte. Wir haben schließlich ein Personalvertretungsge-setz. Danach sind bei Personalumsetzungen immer dieBeschäftigtenvertreter zu beteiligen.Darüber hinaus werden die Erfahrungen aus früherenReformprozessen der WSV überhaupt nicht mit einbezo-gen. Es hat früher Arbeitsgruppen gegeben, in denen dieBeschäftigten – damals allerdings aus der Not heraus,mit weniger Geld und Personal auskommen zu müssen –ihre Arbeit neu organisiert haben. Das war ein hochinno-vativer Prozess. Das sagen die Kolleginnen und Kolle-gen heute noch. Das ist aber bei diesem großen Umbauüberhaupt kein Thema.Insofern sind wichtige Fragen überhaupt nicht geklärtworden: Wie kriegen wir vernünftige beschäftigungssi-chernde Maßnahmen hin, die die Arbeit so erhalten, dasssie weiterhin von der WSV erledigt werden kann? Dieausgebildeten Fachkräfte werden jetzt nicht mehr einJahr übernommen, sondern zwei Jahre. Das war’s. Dasist keine Perspektive, weder für die jungen Leute underst recht nicht für eine arbeitsfähige WSV.
Über den Antrag müssen wir das Problem noch ein-mal angehen. Wir wollen eine Perspektive für eine WSV,die sowohl den Kunden als auch den Beschäftigten zu-gutekommt und die es ermöglicht, die künftigen Aufga-ben zu bewältigen.Vielen Dank.
Die Kollegin Bettina Hagedorn hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Für die SPD-Fraktion will ich an dieser Stelle sa-gen: Heute führen wir eine erfreuliche Debatte anlässlicheines richtig guten Anlasses, Herr Minister. Der sechsteWSV-Bericht in Verbindung mit einem gemeinsamenAntrag der Großen Koalition zu dessen Umsetzung be-stätigt, dass wir gemeinsam auf einem richtig guten Wegsind und dass wir ein richtig gutes Signal an die über12 000 Beschäftigten der WSV senden wollen und sen-den können.
Darüber sind wir gemeinsam sehr froh.
Herr Minister, gerade wir beide – ich bin die Haushäl-terin für den Verkehrsbereich – haben in der Vergangen-heit schon manches Mal freundschaftlich die Klingengekreuzt. Ich danke Ihnen an dieser Stelle auch ganz per-sönlich; denn wir hatten es – das ist schon angesprochenworden – in der letzten Legislaturperiode mit einer Kahl-schlagpolitik und einem unsäglichen Reformversuch zutun, der letzten Endes, wie noch im fünften WSV-Be-richt dokumentiert ist, einen Personalabbau auf unter10 000 Mitarbeiter beinhaltet hätte, mit der Zielsetzungdes damaligen Haushaltsausschusses, zu einer reinenGewährleistungsverwaltung zu kommen.Wir haben im Koalitionsvertrag eindeutig vereinbart,dass wir in diesem Bereich eine Neuorientierung vorneh-men wollen. Aber ich glaube, dass man es den Mitarbei-tern nicht verdenken kann, dass viele von ihnen gesagthaben: Ich will darauf hoffen, allein mir fehlt derGlaube. – Diese Glaubwürdigkeit hat die Große Koali-
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6062 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Bettina Hagedorn
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tion jetzt mit diesem Schritt wiedererlangt; davon bin ichfest überzeugt.Ich will Ihnen deshalb persönlich danken, weil ichweiß, dass es auch ein sehr großes Beharrungsvermögengab, die Beschäftigten nicht in der Form mit einzubezie-hen, wie wir es verabredet und wie wir es uns gemein-sam gewünscht haben. Sie haben das gemacht. Sie habenden Hauptpersonalrat nicht nur angehört, sondern seinenBelangen auch zur Durchsetzung verholfen. Das hatauch der Personalrat anerkannt. Das ist ein wichtigerSchritt; denn eine Reform kann nicht auf dem Papier ge-deihen, sondern nur, wenn alle an einem Strang und ineine Richtung ziehen. Ich danke Ihnen dafür, dass wirdas gemeinsam hinbekommen haben.
Einige Aufgaben liegen noch vor uns. Aber wir habenauch noch ein bisschen Zeit. Das Personal spielt einewichtige Rolle. Der Haushaltsausschuss in neuer Zusam-mensetzung hat im Mai dieses Jahres in einem Maßgabe-beschluss, lieber Eckhardt Rehberg, Ihrem Ministeriumgeraten, eine Fachkräfteoffensive – ganz im Gegensatzzu dem, was in der letzten Legislaturperiode gemachtwurde – zu starten. Wir haben im Haushalt 2014, der inder Summe einen Aufwuchs von 35 Stellen vorsieht, denersten Schritt gemacht. Wir sehen besonderen Bedarf inden technischen Berufen, bei den Ingenieuren, aber auchbei den Technikern und Handwerkern. Nicht nur die vonIhnen zu Recht erwähnten technisch anspruchsvollenBauwerke, sondern auch viele Planungsprozesse erfor-dern Sachverstand. Dieser ist notwendig, wenn wir Pro-zesse beschleunigen und Geld in das Wasserstraßennetzdes Bundes rechtssicher investieren wollen. Der Haus-halt 2015, der schon als Regierungsentwurf vorliegt,sieht 50 weitere Stellen bei der Wasser- und Schifffahrts-verwaltung vor. Diese Stellen werden wir auch schaffen.Wir haben noch manches miteinander vor. Es darfnicht verschwiegen werden, dass ungefähr 200 Millio-nen Euro, die eigentlich in Wasserstraßen investiert wer-den sollen, nicht verausgabt werden können, nicht weilSie oder wir die Taschen zugenäht hätten, sondern weilaktuell nicht ausreichend Personal zur Verfügung steht,um die Voraussetzungen zu schaffen, das Geld rechtssi-cher auszugeben.Der Herr Finanzminister hat gerade eine neue, großeInvestitionsoffensive im Umfang von 10 MilliardenEuro für die nächsten Jahre angekündigt. Die Große Ko-alition hat sich allerdings noch nicht darauf verständigt,wofür konkret das Geld ausgegeben werden soll. Wirsind sicher, dass ein Teil des Geldes für die Infrastruktur,für die Sie zuständig sind, Herr Minister, bereitgestelltwird. Ich wünsche mir, dass dann auch mehr in die Was-serstraßen investiert wird. Aber das bedeutet, dass wirfür das Personal, das für die Wasserstraßen zuständig ist,viel mehr tun müssen. Ein guter Schritt ist, dass die Aus-zubildenden jetzt zwei Jahre übernommen werden unddass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung mit über 10Prozent eine unverändert hohe Ausbildungsquote vorzu-weisen hat. Das ist aber nur der erste Schritt. WeitereSchritte müssen folgen. Ich hoffe, dass wir diese Schrittegemeinsam machen werden.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Lassen Sie uns als Erstes festhalten: UnsereBeschäftigten in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltungleisten hervorragende Arbeit. Das können wir gar nichtoft genug betonen.
Sie unterhalten die vielen Wasserstraßen und sind dafürzuständig, dass unzählige Kanäle, Schleusen und Brü-cken reibungslos funktionieren. Die vielen motiviertenMitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ich auf meinenReisen zu den Ämtern der Wasser- und Schifffahrtsver-waltung persönlich kennengelernt und schätzen gelernthabe, sind es inzwischen leid, auf die Umsetzung der Re-form zu warten. Es muss jetzt endlich losgehen. Sonstglaubt niemand mehr an eine Reform.Liebe Kolleginnen und Kollegen dieser großen Still-standskoalition,
Ihr Antrag macht deutlich – genauso wie das, was FrauHagedorn eben gesagt hat; da hilft es auch nichts, wennSie, Herr Herzog, hier etwas hineinbölken –, dass Sieeine Reform überhaupt nicht wollen
und damit den Stillstand in der Mammutbehörde WSVin Stein meißeln.Bereits seit Anfang der 90er-Jahre begleiten wir dasProjekt WSV-Reform im Bundestag. Jetzt hatten Siewirklich die einmalige Gelegenheit, mit der begonnenenReform, die in der letzten Wahlperiode auf Druck fast al-ler Fraktionen, außer der SPD und der Linkspartei, ange-stoßen wurde, ein gutes und sinnvolles Projekt weiterzu-führen. Stattdessen bleibt die Reform noch nicht einmalauf halber Strecke stehen. Aufgemachte Baustellen wer-den gar nicht erst abgeschlossen.Lassen Sie mich drei Baustellen nennen:Erstens. Effizienten Verwaltungsstrukturen und mehrVerantwortung für die Beschäftigten geben Sie eine Ab-sage. Kosteneinsparungen und wirtschaftliches Handelnbleiben weiterhin Fremdworte.Zweitens. Die auf dem Papier neu gegründeteGDWS, Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt,hat zwar in Bonn mittlerweile irgendwo eine Hütte ge-funden, aber es findet sich immer noch kein Mitarbeiterdafür. Niemand möchte dort arbeiten. Daher frage ich
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014 6063
Dr. Valerie Wilms
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Sie: Bis wann wollen Sie eigentlich die neue Leitungs-ebene der WSV in Bonn wirklich einrichten? Wann sindMitarbeiter der WSV wirklich bereit, dorthin zu gehen?Drittens. Der neue Zuschnitt der Ämter sollte bis2020 fertiggestellt sein. Jetzt sieht man das nicht mehr soeng und peilt 2024 an. Womöglich wird es aber nochspäter oder gar nichts. Das zeigt: Sie verschieben jetztalles auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. VerantwortlichesHandeln, Herr Minister, Herr Staatssekretär, liebe Kolle-ginnen und Kollegen der so Großen Koalition, sieht an-ders aus.
Wie Sie so etwas richtig machen können, haben wirIhnen vor ein paar Wochen hier im Plenarsaal gezeigt,zwar nicht an einem späten Freitagnachmittag, aber aneinem Donnerstagabend. Wir haben Ihnen gezeigt, wieeine Reform gelingen kann.Wir brauchen dringend eine echte Anlagenbuchhal-tung. Herr Minister, Sie hatten mir gesagt, dass geradeeinmal 10 Prozent aller Wasserstraßen bewertet sind.Schauerlich! Damit hätte man schon längst weiter seinkönnen. Wir brauchen dringend ein echtes Controlling.Ich habe immer noch nicht gesehen, dass hier ein richti-ges System eingeführt worden ist. Wir brauchen drin-gend eine echte Kosten- und Leistungsrechnung, die bisin alle Ebenen geht. Fehlanzeige!Ohne dass diese Punkte umgesetzt werden, wird eskeine Budgetverantwortung der Mitarbeiter vor Ort ge-ben können. Apropos Mitarbeiter: Bisher kann uns dieBundesregierung auf Nachfrage noch nicht einmal klarbeantworten, wie viele Mitarbeiter die Wasser- undSchifffahrtsverwaltung tatsächlich für die Erledigungwelcher Aufgaben benötigt. Wir haben es eben schon ge-hört: 12 000 oder 14 000, würfeln wir doch. Trotzdemwerden schon einmal die Behördenreviere neu struktu-riert oder – sagen wir es besser – an Wahlkreisgrenzenangepasst. Lieber Herr Minister, das Thema hatten wirschon gestern bei der Mautdebatte, an der Sie leidernicht teilnehmen konnten.
Ich erinnere an die Ortsumgehung in Oberau in IhremWahlkreis.Das ist die falsche Reihenfolge. So geht das nicht.Konsequent und sinnvoll wäre: erst Personalbedarfspla-nung und dann die Vorlage des Standortkonzepts. AberSie erarbeiten erst ein unausgegorenes Standortkonzeptund schauen dann, wie viele Beschäftigte Sie wo unter-bekommen. Das kann nicht funktionieren.
Außerdem bin ich gespannt, wie Sie mit der von unsschon lange geforderten Priorisierung der Wasserstraßenumgehen werden. Hier gibt es Bestrebungen aus be-stimmten Ecken Ihres Hauses, Herr Minister, bei derAufstellung des Bundesverkehrswegeplanes diese gan-zen Priorisierungen wieder einzusammeln. Wenn Sie daswirklich vorhaben, können Sie die Arbeit am Bundes-verkehrswegeplan auch gleich ganz einstellen. Das wärenach meiner Auffassung wirklich die beste Lösung; denndann verkommt dieser Bundesverkehrswegeplan nichtwieder zu einer unfinanzierbaren Wunschliste.Ich fordere Sie daher auf: Halten Sie sich an Ihre Ver-sprechen beim Bundesverkehrswegeplan! Das werdenwir im nächsten Jahr hoffentlich sehen. Gehen Sie dieseReform endlich an! Beenden Sie die Zeit der leerenSprechblasen! Die Beschäftigten der Wasser- und Schiff-fahrtsverwaltung und die Schifffahrt werden es Ihnendanken.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zuletzt hatten wir am 10. Oktober eine Debatte zu einemder wichtigen Verkehrsträger unseres Landes geführt.Der Anlass war damals ein älter gewordener Antrag derGrünen. Ich habe Ihnen versprochen: Wir als Koalitionwerden einen besseren Antrag vorlegen. Versprochenund Wort gehalten! Heute diskutieren wir einen gutenAntrag der Koalitionsfraktionen.Ich will mit einem herzlichen Wort des Dankes anmeinen Kollegen Hans-Werner Kammer, aber auch andie zuständigen Haushälter Bettina Hagedorn undEckhardt Rehberg beginnen, die immer dafür gesorgt ha-ben, dass unsere Wünsche zumindest in dem Bereich, indem sie es als Haushälter für erfüllbar halten, auch eineRealisierungschance haben. Ich glaube, es ist gut, wennVerkehrspolitiker und Haushälter so eng zusammen-arbeiten und Ihnen, Herr Minister, sozusagen die Vorlageliefern, um das alles schön zu realisieren.
Die Grundlage für den Antrag der Koalition ist das,was wir nach intensiven Verhandlungen in den Koali-tionsvertrag hineingeschrieben haben. Aber die Aus-gangslage ist eine weniger schöne: Oktober 2010, jenerberühmte Herbst der Entscheidungen, in dem nicht nurder Unsinn beschlossen worden ist, die Laufzeit derAtomkraftwerke zu verlängern, sondern in dem vonSchwarz-Gelb im Haushaltsausschuss auch jener be-rühmt-berüchtigte Beschluss gefasst worden ist – Kol-lege Behrens, die Linken haben da gepennt und zunächstzugestimmt –, Personal abzubauen und aus einer funk-tionierenden Verwaltung einen Apparat zu schaffen, dernur noch Aufträge vergibt und der der Auftragserfüllungnur noch hinterherrennt.Die Berichte 1 bis 5 waren immer von Kritik beglei-tet, und zwar in der ganzen Breite,
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Gustav Herzog
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von der Wirtschaft, von den Beschäftigten. Auch dieFachpresse hat sich nie lobend darüber geäußert. Jetzt,Herr Minister Dobrindt, legen Sie den sechsten Berichtvor: Lob von allen Seiten. Ich bin schon misstrauisch ge-fragt worden, warum ich Sie in diesem Zusammenhangimmer wieder lobe. Dieses Lob ist gerechtfertigt. Siekennen mich auch als heftigen Kritiker.
Für jene, die dieser Debatte folgen oder die Redennachlesen: Liebe Frau Kollegin Wilms, lieber Herr Kol-lege Behrens, ich weiß, dass Sie hier kritisieren müssen;aber es hörte sich etwas nach Ritual an. Es schien, dassSie sich wirklich bemüht haben, an dem, was wir ausdem sechsten Bericht machen wollen, immer noch etwaszu kritisieren. Okay, das nehmen wir zur Kenntnis, undwir werden das Ganze im Ausschuss noch im Detail dis-kutieren.
Frau Kollegin Wilms, die Einführung einer Buchhal-tung als den entscheidenden Fortschritt einer Reformhier im Plenum vorzutragen, zeigt doch, wie sehr Siesich bemüht haben, irgendwo irgendetwas zu finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sehr dieser Pro-zess von den Beschäftigten nicht nur wohlwollend be-gleitet, sondern auch mitgestaltet worden ist, zeigt auch,dass Vertrauen da war, den damals zwischenzeitlich aus-gesetzten Streik völlig zu beenden.Wenn wir hier von einer Verwaltung bzw. einer Be-hörde sprechen, ist es für die Menschen, die mit der Mate-rie nicht so sehr zu tun haben, wichtig, darauf hinzuwei-sen, dass die meisten der 12 000 bis 14 000 Beschäftigtenmehr im handwerklich-technischen Bereich aktiv sind.Das sind Leute, die bei jedem Wetter hinausfahren unddafür sorgen, dass das Schleusentor auf- und zugeht, diedurch Hochwasser entwurzelte Bäume entfernen, um dieVerkehrssicherheit sicherzustellen, die überwiegend imSchichtbetrieb arbeiten. Das sind keine Schreibtischar-beiter, sondern Leute, die unter erschwerten Bedingun-gen arbeiten, und sie haben unseren Respekt und unsereAnerkennung verdient.
Diese Leute sind ins Zweifeln darüber gekommen, obdie Politik ihre Arbeit überhaupt noch zu schätzen weiß.Wir haben deren Vertrauen mit der klaren Aussage wie-derhergestellt: Die Standorte bleiben erhalten. Es werdennur sozialverträgliche Umsetzungen vorgenommen. –Wir müssen uns als Parlament gemeinsam mit demMinisterium bemühen, dafür zu sorgen, dass die Wasser-straßen- und Schifffahrtsverwaltung ein attraktiver Ar-beitgeber wird.
Dieser Arbeitgeber steht in Konkurrenz zu vielen ande-ren, die gute und besser bezahlte Jobs anbieten. DieWasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung soll guteLeute haben, die das Geld, das wir zur Verfügung stel-len, auch ausgeben können.Ich habe die Pressemitteilung des Kollegen UlrichLange von heute Mittag, 12.13 Uhr, gelesen. Er hat da-rauf verwiesen, dass ab 2016 zusätzlich 10 MilliardenEuro für Investitionen in die Infrastruktur zur Verfügungstehen sollen, und er hat verlangt, dass ein Teil davon indie Verkehrsinfrastruktur fließt. Ich bin voll dafür. Ichhätte mir nur gewünscht, dass er neben der Straße, derSchiene und den Brücken auch die Wasserstraßen er-wähnt hätte; denn dafür brauchen wir ebenfalls eineMenge Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Abschließend will ich darauf hinweisen, dass jetztauch aus den Ländern große Zustimmung kommt. Ichschaue einmal in das Land der Binnenschifffahrt, näm-lich nach Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es einen An-trag von SPD, CDU, Grünen, FDP – dort ist die FDPnoch im Parlament – und Piraten – ich habe etwas ge-schmunzelt; selbst die Piraten stehen mit auf dem Antrag –vom September dieses Jahres zu diesem Thema. Darinwird ein klares Bekenntnis zu den Bundeswasserstraßen,zur Binnenschifffahrt abgelegt. Über 50 Prozent desUmschlags findet in Nordrhein-Westfalen statt. Das fin-det hier auch seinen Niederschlag.Auch die Verkehrsministerkonferenz hat klar gesagt,dass sie dazu steht. Das finde ich gut.Lassen Sie mich, Kolleginnen und Kollegen, nach allden etwas ernsten Ausführungen noch etwas Schönes sa-gen und zeigen, was auf unseren Wasserstraßen allesmöglich ist. Der gute Uli Stahl aus Altrip hat mit einemumgebauten Angelkahn von Altrip aus – das ist inRheinland-Pfalz – eine Tour über Duisburg bis nachEberswalde gemacht. Er ist 1 820 Kilometer auf unserenBundeswasserstraßen gefahren und hat 685 Brücken und40 Schleusen bewältigt. Auch so etwas kann man auf un-seren Wasserstraßen machen, und das ist gut so.Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Hans-Werner Kammer hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Verehrte Zuhörer! Wir debattieren heute zum wiederhol-ten Mal die Reform der WSV, diesmal im Zusammenhangmit unserem sehr guten Antrag „Wasserstraßen- undSchifffahrtsverwaltung zukunftsfest gestalten“. Ich bin
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Hans-Werner Kammer
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der Überzeugung, dass sich der lange Diskussionspro-zess gelohnt hat; denn mit dem sechsten Bericht desMinisteriums ist klar, wohin die Reise geht. Auch derKollege Herzog hat diesen Antrag eingangs lobend er-wähnt. An unserem Antrag hat er intensiv mitgearbeitet.Das gilt auch für Frau Hagedorn und Eckhardt Rehberg.Ich glaube, gemeinsam haben wir damit etwas Hervorra-gendes vorgelegt.Die Umsetzung wird zwar noch einige Zeit in An-spruch nehmen, aber ich bin überzeugt, dass mit Bundes-minister Alexander Dobrindt die Wasserstraßen- undSchifffahrtsverwaltung für die Zukunft fitgemacht wird.Er hat heute die Bedeutung dieser Verwaltung für dieWirtschaft insgesamt noch einmal herausgestellt.Wir verwirklichen damit ein zentrales Projekt derVerkehrspolitik der Großen Koalition. Der Koalitions-vertrag sieht vor, dass bei der WSV-Reform die regiona-len Kompetenzen gesichert und die Beschäftigten stärkerin den Reformprozess eingebunden werden sollen. Dasist gelungen.Kern des Vorhabens ist die neue Aufgabenstruktur derWSV. Die veraltete Struktur aus Kaisers Zeiten wird ge-rade generalüberholt. Eine neue Generaldirektion hat be-reits die Koordination der WSV in ganz Deutschlandübernommen, Frau Wilms. Die Zeit von sieben parallelarbeitenden Direktionen ist vorbei. Die regionalen Kom-petenzen sind künftig bei den 18 Wasserstraßen- undSchifffahrtsämtern, die über mehr Befugnisse verfügenals ihre Vorgängereinrichtungen. Das war auch unser ge-meinsames Ziel.Das operative Geschäft der WSV findet dort statt, woes hingehört: auf der Ämterebene. Dieser Punkt war fürden Kollegen Herzog und für mich in der zurückliegen-den Diskussion um die Reform von ganz entscheidenderBedeutung.
Darum haben wir immer gerungen; denn die Wasserstra-ßennutzer und die Wirtschaft brauchen starke Ansprech-partner vor Ort. Die bekommen sie in der Zukunft. Es istein schlüssiges Konzept, das unser Verkehrsminister mitdem sechsten Bericht auf den Tisch gelegt hat.Sichergestellt ist darin auch, dass alle 39 Ämterstand-orte erhalten werden. Es wird auch keinen Kahlschlagbeim Personal geben. Stattdessen soll der Eigenerledi-gungsanteil bei der WSV wieder steigen.Die touristische Nutzung der Wasserstraßen habenwir dabei ebenfalls im Auge. Das ist auch ein wichtigerPunkt. Die Sorgen einiger Bundesländer, vor allem derneuen Bundesländer, sind deshalb unbegründet.Wir werden die Wasserstraßenverwaltung flächende-ckend stärken. Keine Region wird abgehängt.Herr Behrens, Sie haben von einer erbärmlichen Re-form gesprochen. Ich hätte mich gefreut, wenn die Linkezukunftsorientiert daran mitgearbeitet und in allen Fällen– auch Sie in Ihrem Vortrag hier – die Wahrheit gesagthätte. In Wilhelmshaven hat zum Beispiel niemand pro-testiert. Ich habe den Prozess mit den Wilhelmshavenernvor Ort intensiv begleitet.
Frau Wilms, Herr Kollege Herzog hat ja schon daraufhingewiesen, dass Ihnen gerade noch die Buchhaltungeingefallen ist. Sie haben aber noch einen tollen Punktgenannt: Sie haben gesagt, wir müssten uns erst mal mitdem Personal auseinandersetzen und sehen, ob wir damitklarkommen, und dann könnten wir über die Standortereden. – Aber ohne Standorte brauchen wir kein Perso-nal. Deshalb ist der vom Ministerium vorgeschlageneWeg, zuerst die Standorte zu zementieren und dann dasPersonal entsprechend einzusetzen, wie es vor Ort benö-tigt wird, genau richtig.Mit den acht Kernforderungen unseres Antrages un-terstützen wir die hervorragende Arbeit des Ministe-riums und geben gleichzeitig klare Ziele vor. Ich will nureinige davon erwähnen:Im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel solldurch Erhalt und Ausbau der Bundeswasserstraßen dieErreichbarkeit der deutschen Binnen- und Seehäfen opti-miert werden. Das fordern wir in unserem Antrag. Dazuwird uns das Ministerium entsprechende Berichte undeine Priorisierung der notwendigen Investitions- und Er-haltungsmaßnahmen vorlegen.Gleichzeitig soll die Einrichtung der 18 Wasserstraßen-und Schifffahrtsämter zügig erfolgen. Die Beschäftigtensollen daran beteiligt werden – das hat der Minister schonausgeführt. Ziel ist es, die operativen Verantwortlichkei-ten und regionalen Entscheidungskompetenzen in den18 Revieren zu stärken. So wird die WSV zu einem mo-dernen Dienstleister für die Schifffahrt.Außerdem soll die Deckung des Fachkräftebedarfsoffensiv angegangen werden. Auch das steht in unseremAntrag. Dazu müssen die gesetzlichen und tariflichenMöglichkeiten sowie Aus-, Fort- und Weiterbildungs-möglichkeiten genutzt werden. Erste Schritte sind dankder Unterstützung durch die Haushälter der Koalition be-reits gelungen.Wichtig ist dabei, dass die Arbeitsfähigkeit der WSVauch während des Reformprozesses erhalten bleibt; dennder Verkehr muss weiter fließen. Deshalb sollen die Re-formbemühungen zunächst die Generaldirektion und die18 Ämter umfassen. Änderungen in anderen Bereichen,etwa den Außenbezirken, Bauhöfen oder Revierzentra-len, sollen auf das Notwendigste beschränkt sein. So ge-hen wir die Reform Schritt für Schritt an.Und wir werden letztendlich – das ist für Frau Wilmswichtig – bis zum Frühjahr 2015 ein Rechtsbereini-gungsgesetz einbringen.Sie sehen, wir gehen auf die wesentlichen Punkte dessechsten Berichts zur Reform der WSV ein und bringenso die Reform weiter voran. Auch für die Oppositionsollte es jetzt leicht sein, mit an Bord zu kommen undsich dem guten Antrag der Koalition anzuschließen.
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6066 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 64. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. November 2014
Hans-Werner Kammer
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Ich wünsche allen ein schönes Wochenende und einenstreikfreien Nachhauseweg.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3041 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 12. November 2014, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute – ob zu Wasser, zur
Schiene, zur Straße oder wie auch immer – für das Wo-
chenende.