Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 9. November
1989 war ein vergleichsweise gewöhnlicher Donnerstag
in einer Sitzungswoche. Und doch sollte dieser Plenartag
überraschend mit dem Singen unserer Nationalhymne
enden, wie wir es gerade gesehen haben. Aus einem ge-
wöhnlichen Tag, aber in durchaus bewegten Zeiten,
wurde ein historischer Tag, der Tag, an dem die Mauer
fiel. Es wurde der Schicksalstag der Deutschen. Auf das
Ende der Plenarsitzung folgte dann auch eine außerge-
wöhnliche Nacht, eine Nacht, die die Welt veränderte.
Die damalige Situation im Plenarsaal, die Bilder, die
in jenen Stunden um die Welt gingen, werde ich nie ver-
gessen: Menschen aus Ost und West, die sich bislang
nicht kannten, laufen aufeinander zu, fallen sich in die
Arme, tanzen auf der Mauer vor dem Brandenburger
Tor, und ihre Gesichtszüge sind von großer Freude und
ebenso großer Ungläubigkeit geprägt. Scheinwerfer, die
lange dazu dienten, Flüchtlinge aufzuspüren, beleuchten
nun den Taumel des Glücks, das Ende von Diktatur und
Spaltung. Von diesen Bildern ging meines Erachtens
auch eine große Symbolkraft aus. Es war, als würde man
in jedem Gesicht die Freiheit sehen. Es waren die Men-
schen in der ehemaligen DDR, die mit ihrem Engage-
ment das Licht der Freiheit entzündet haben. Sie waren
nicht alleine, sondern, wie der Herr Bundestagspräsident
in seiner Rede zum Ausdruck gebracht hat, begleitet von
vielen Menschen in vielen anderen europäischen Län-
dern, die auch in ihrer Heimat für Freiheit, Demokratie
und Menschenrechte mutig gekämpft haben.
Das alles geschah ohne Blutvergießen, ohne einen
einzigen Schuss. Hierfür, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, empfinde ich noch heute große Dankbarkeit.
Vielleicht haben wir im Westen erst in diesen Stunden
so richtig begriffen, welche Kraft die Sehnsucht vieler
Menschen nach Freiheit entfalten kann, dass sie Furcht
und Angst überwindet und einen Staat, der den Men-
schen die Freiheit vorenthält, auch in die Knie zwingen
kann. Was es aber heißt, durch eine Mauer der eigenen
Freiheit beraubt zu sein, was es heißt, von einem Un-
rechtsregime bespitzelt und gegängelt zu werden, das
haben die vielen politischen Gefangenen, das haben die
Flüchtlinge und Ausreisewilligen und vor allem die
Mauertoten aufs Bitterste gelehrt. Ihnen allen wollen wir
auch heute gedenken.
Der Fall der Mauer, meine Damen und Herren, war
der erste Schritt in Richtung Freiheit. Ihm sollte dann der
zweite in Richtung Einheit folgen. Fasziniert haben wir
miterlebt, wie bei den Montagsdemonstrationen aus dem
Ruf „Wir sind das Volk“ dann „Wir sind ein Volk“ wurde
und damit plötzlich die Frage der deutschen Einheit auf
der weltpolitischen Agenda stand.
Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit war für
uns in der Union nie ein Lippenbekenntnis, sondern im-
mer eine Herzensangelegenheit.
Wir haben in all den Jahrzehnten der Teilung am Gedan-
ken der deutschen Einheit festgehalten, auch und gerade
als dies im Westen Deutschlands zunehmend unpopulä-
rer wurde und die politische Bereitschaft wuchs, sich mit
einer Zweistaatlichkeit zu arrangieren. Ich darf ganz per-
sönlich sagen: Auf diesen klaren Kurs der Union bin ich
auch heute und gerade heute besonders stolz.
Bayern hat durch seine Klage gegen den Grundlagen-
vertrag vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahre
1973 erreicht, dass das im Grundgesetz verankerte Wie-
dervereinigungsgebot für alle Verfassungsorgane unver-
ändert bindend blieb. Tatsächlich ist am 3. Oktober 1990
die staatliche Einheit Deutschlands in freier Selbstbe-
stimmung in Erfüllung gegangen. Unvergessen ist dabei
die historische Leistung von Bundeskanzler Helmut
Kohl. Er hat die einmalige Chance mit Mut und Über-
zeugungskraft ergriffen, als sich mit dem Mauerfall das
Tor zur Einheit unseres Vaterlandes öffnete.
Es ist heute aber ebenso wichtig, die großartige Auf-
bauleistung der Bevölkerung und der Politiker in den
östlichen Bundesländern zu würdigen. Auf das, was dort
in den vergangenen 25 Jahren gemeinsam erreicht
wurde, können alle stolz sein.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach dem
Mauerfall gehören in Deutschland staatliche Unterdrü-
ckung und Willfährigkeit der Vergangenheit an. Doch
Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind uns nicht
einfach so gegeben. Das lehrt uns unsere Geschichte,
und das lehren uns auch die Krisenherde dieser Welt. So
darf der 9. November 1989 für uns nicht nur ein Tag der
Freude und der Dankbarkeit sein, sondern soll uns
gleichsam Verpflichtung und Auftrag sein, immer und
überall für die Werte einzutreten, für die ein ganzes Volk
im Herbst 1989 mutig gekämpft hat.
Ich danke Ihnen.