Protokoll:
18027

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 27

  • date_rangeDatum: 4. April 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:25 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/27 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 27. Sitzung Berlin, Freitag, den 4. April 2014 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Philipp Mißfelder, Sibylle Pfeiffer, Frank Heinrich (Chemnitz), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Niels Annen, Dr. Bärbel Kofler, Gabriela Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Kordula Schulz- Asche, Tom Koenigs, Omid Nouripour, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Erinnerung und Ge- denken an die Opfer des Völkermordes in Ruanda 1994 Drucksache 18/973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2163 B Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2163 C Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2166 A Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2167 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2168 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2170 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 2171 C Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2172 C Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 2174 B Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2175 B Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 2176 D Wilfried Lorenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2178 B Tagesordnungspunkt 19: a) Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Fünf Jahre UN- Behindertenrechtskonvention – Sofort- programm für Barrierefreiheit und ge- gen Diskriminierung Drucksache 18/977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2180 A b) Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Diana Golze, Sabine Zimmermann (Zwi- ckau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Programm zur Be- seitigung von Barrieren auflegen Drucksache 18/972 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2180 B Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2180 C Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2182 A Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2183 C Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2184 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2185 B Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2186 A Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 2187 A Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2188 A Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . . . 2188 D Jutta Eckenbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2190 A Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2191 A Dr. Matthias Bartke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 2192 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 2193 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . 2194 C Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU) . . 2195 C Heike Baehrens (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2196 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 Uwe Lagosky (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2197 C Dr. Martin Rosemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . 2198 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Bundesregierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am maritimen Begleitschutz bei der Hydro- lyse syrischer Chemiewaffen an Bord der CAPE RAY im Rahmen der gemeinsamen VN/OVCW-Mission zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen Drucksache 18/984 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2200 A Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2200 B Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2200 C Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 2201 D Michael Roth, Staatsminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2203 A Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2204 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2205 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 2205 D Michael Roth, Staatsminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2206 A Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2206 C Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2207 C Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2208 C Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Deckungslücken der Sozialen Pflegeversicherung schließen und die staatlich geförderten Pflegezusatzversi- cherungen – sogenannter Pflege-Bahr – ab- schaffen Drucksache 18/591 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2209 C Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 2209 D Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2210 D Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 2211 A Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2212 C Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 2213 C Tino Sorge (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2215 B Heiko Schmelzle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2216 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2217 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2219 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2220 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2163 (A) (C) (D)(B) 27. Sitzung Berlin, Freitag, den 4. April 2014 Beginn: 9.01 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2219 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 04.04.2014 Bahr, Ulrike SPD 04.04.2014 Dr. Bartels, Hans-Peter SPD 04.04.2014 Barthel, Klaus SPD 04.04.2014 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 04.04.2014 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 04.04.2014 Brähmig, Klaus CDU/CSU 04.04.2014 Brase, Willi SPD 04.04.2014 Dr. Brunner, Karl-Heinz SPD 04.04.2014 Bülow, Marco SPD 04.04.2014 Dr. Diaby, Karamba SPD 04.04.2014 Ernst, Klaus DIE LINKE 04.04.2014 Ernstberger, Petra SPD 04.04.2014 Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 04.04.2014 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 04.04.2014 Gohlke, Nicole DIE LINKE 04.04.2014 Groß, Michael SPD 04.04.2014 Gunkel, Wolfgang SPD 04.04.2014 Ilgen, Matthias SPD 04.04.2014 Karawanskij, Susanna DIE LINKE 04.04.2014 Kaster, Bernhard CDU/CSU 04.04.2014 Krellmann, Jutta DIE LINKE 04.04.2014 Dr. Krings, Günter CDU/CSU 04.04.2014 Kühn-Mengel, Helga SPD 04.04.2014 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 04.04.2014 Meiwald, Peter BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 04.04.2014 Dr. Priesmeier, Wilhelm SPD 04.04.2014 Roth (Heringen), Michael SPD 04.04.2014 Rüthrich, Susann SPD 04.04.2014 Schieder (Schwandorf), Marianne SPD 04.04.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 04.04.2014 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 04.04.2014 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 04.04.2014 Dr. Sitte, Petra DIE LINKE 04.04.2014 Stritzl, Thomas CDU/CSU 04.04.2014 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 04.04.2014 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 04.04.2014 Ulrich, Alexander DIE LINKE 04.04.2014 Dr. Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 04.04.2014 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 2220 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 (A) (C) (D)(B) Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur hat mitgeteilt, dass er gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: – Unterrichtung durch die Bundesregierung Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 36 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes Bahn 2013 – Reform zügig umsetzen! Drucksachen 17/14076, 18/641 Nr. 16 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Tätigkeitsbericht 2012 der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisen- bahnen für den Bereich Eisenbahnen mit Stellungnahme der Bundesregierung Drucksachen 18/356, 18/526 Nr. 1.4 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Projektfortschritte beim Ausbau der grenzüberschreitenden Schienenverkehrsachsen Drucksachen 18/357, 18/526 Nr. 1.5 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unions- dokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Be- ratung abgesehen hat. Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 04.04.2014 Weinberg, Harald DIE LINKE 04.04.2014 Dr. Weisgerber, Anja CDU/CSU 04.04.2014 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 04.04.2014 Ziegler, Dagmar SPD 04.04.2014 Zypries, Brigitte SPD 04.04.2014 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Offsetdruc sellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 K Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/419 Nr. C.1 Ratsdokument 9706/13 Drucksache 18/419 Nr. A.2 EuB-BReg 43/2013 Drucksache 18/419 Nr. A.14 Ratsdokument 11396/13 Sportausschuss Drucksache 18/642 Nr. A.1 Ratsdokument 5842/14 Haushaltsausschuss Drucksache 18/544 Nr. A.27 Ratsdokument 5359/14 Drucksache 18/822 Nr. A.15 Ratsdokument 6266/14 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/642 Nr. A.4 Ratsdokument 5958/14 Drucksache 18/822 Nr. A.24 Ratsdokument 6054/14 Drucksache 18/822 Nr. A.25 Ratsdokument 6445/14 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Drucksache 18/419 Nr. A.114 Ratsdokument 10275/13 Drucksache 18/419 Nr. A.122 Ratsdokument 13065/13 Drucksache 18/419 Nr. A.123 Ratsdokument 13234/13 Drucksache 18/419 Nr. A.126 Ratsdokument 13716/13 Drucksache 18/419 Nr. A.127 Ratsdokument 13717/13 Drucksache 18/544 Nr. A.41 Ratsdokument 5166/14 Drucksache 18/544 Nr. A.42 Ratsdokument 17967/13 Drucksache 18/544 Nr. A.43 Ratsdokument 18136/13 Drucksache 18/822 Nr. C.2 Ratsdokument 10154/13 Drucksache 18/822 Nr. C.3 Ratsdokument 10160/13 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 18/419 Nr. A.170 Ratsdokument 12453/13 Drucksache 18/642 Nr. A.11 Ratsdokument 5855/14 kerei, Bessemerstraße 83–91, 1 öln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 22 27. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 18 Gedenken an die Opfer des Völkermordes in Ruanda TOP 19 Programm für Barrierefreiheit ZP 3 Bundeswehreinsatz Vernichtung syrischer Chemiewaffen TOP 21 Soziale Pflegeversicherung Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802700000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zur voraussichtlich letzten Ple-
narsitzung dieser Woche.

Ich habe Ihnen mit Blick auf die nächste Sitzungswo-
che, die ja unmittelbar bevorsteht, mitzuteilen, dass sich
der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf ver-
ständigt hat, während der Haushaltsberatungen ab dem
8. April wie üblich keine Befragung der Bundesregie-
rung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stun-
den durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von
Montag, dem 7. April, bis Freitag, dem 11. April, festge-
legt worden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Das
ist nicht der Fall. Dann haben wir das so vereinbart.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Philipp
Mißfelder, Sibylle Pfeiffer, Frank Heinrich

(Chemnitz), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Niels Annen, Dr. Bärbel Kofler, Gabriela
Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Tom Koenigs, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Erinnerung und Gedenken an die Opfer des
Völkermordes in Ruanda 1994

Drucksache 18/973

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
kann ich keinen Widerspruch erkennen, sodass wir so
verfahren können.

Dazu liegt ein Antrag vor, über den wir dann später
befinden werden.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-
Walter Steinmeier.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Die Berge Ruandas strömen Wärme und Behaglich-
keit aus. Sie locken durch Schönheit und Stille,
kristallene Luft, Ruhe und die Vollkommenheit ih-
rer Linien und Formen. Am Morgen füllt durchsich-
tiger Nebel die grünen Täler.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So
beschreibt Richard Kapuscinski die Landschaft von
Ruanda. „Land der tausend Hügel“ wird Ruanda deshalb
auch im Volksmund dort genannt.

Einer der tausend Hügel liegt in Murambi. Hierhin
waren Zehntausende Tutsi geflüchtet, als vor 20 Jahren
der Massenmord in Ruanda begann. „Oben am Hügel in
der neu gebauten Schule seid ihr sicher“, hatte der Bi-
schof gesagt. Genau an diesem Morgen, am 21. April
1994, umstellten Milizen die Schulgebäude und began-
nen zu morden, mit Macheten, Messern und Knüppeln –
ein Blutrausch, der kein Ende nehmen wollte. Zehntau-
sende Menschen starben auf diesem Hügel an einem ein-
zigen Tag. Jonathan Nturo hat das Massaker als kleiner
Junge überlebt. Heute sagt er beim Blick über den Hü-
gel: Ich wundere mich manchmal, dass hier noch Gras
wächst, dass das Leben weitergeht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es ist schwer, zu
begreifen, dass die Erde sich weiterdreht nach einem sol-
chen Grauen des Völkermords. Dieses Gefühl kennt je-
der von uns, vielleicht vom ersten Besuch in Bergen-
Belsen, Buchenwald oder Auschwitz. Es beschleicht je-
den, der an solche Orte kommt. Aber auch überall dort
wächst noch Gras. Jetzt im Frühling blühen sogar die
Bäume.

Als Deutscher bin ich vorsichtig mit historischen Ver-
gleichen. Sie werden der Einzigartigkeit und Unver-
gleichbarkeit dieser Verbrechen und insbesondere der
Dimension nationalsozialistischer Verbrechen nie ge-
recht. Sie werden aber auch der Geschichte und den un-
terschiedlichen Kulturen Afrikas nicht gerecht. Und
trotzdem: Als Deutscher kann man von einem Völker-
mord in Afrika nicht sprechen, ohne an den von uns
selbst zu verantwortenden Völkermord zu denken. Das





Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

sind Schicksalsmomente unserer Kontinente. Sie prägen
unser Handeln bis heute und prägen eben auch – davon
rede ich – die Beziehungen unserer Völker zueinander.
Unsere Schicksalsmomente mögen so unterschiedlich
sein wie die Landschaften – die Hügel von Ruanda, die
Wälder um Auschwitz, die Mohnfelder von Verdun –,
doch die Lehren aus diesen Schicksalsmomenten verbin-
den uns. Sie sind Lehren einer geteilten Menschlichkeit.

Die eine Lehre, die an einem Gedenktag wie heute zu
ziehen ist, die wir ziehen müssen, heißt: Niemals wieder!
Ja, niemals wieder. Doch viel schwieriger ist die Frage,
wie wir dieser Verantwortung des „Niemals wieder!“ ei-
gentlich gerecht werden. Seien wir ehrlich: Wir haben
schon einmal „Niemals wieder!“ gerufen. Das war 1948,
nach dem Holocaust, als die Vereinten Nationen die Völ-
kermordkonvention beschlossen haben. Doch wir haben
dieses Versprechen nicht halten können. Die internatio-
nale Gemeinschaft hat versagt, als sie in Ruanda vor
20 Jahren inmitten der Gewalt ihre Blauhelmsoldaten
abzog.

Zur Wahrheit gehört auch, dass heute, in der Gegen-
wart, die Dämonen des Völkermords keineswegs ge-
bannt sind, auch wenn die internationale Gemeinschaft
unter der Überschrift „Responsibility to Protect“ auf Ru-
anda reagiert hat, auch wenn sie Prävention, Einsatzfä-
higkeit und die internationale Strafgerichtsbarkeit ver-
bessert hat. Wir sprechen nicht überall von Völkermord,
aber wir stehen im Kongo, in Zentralafrika und in Syrien
vor endlosem Blutvergießen.

Jonathan Nturo und allen Opfern von Menschheits-
verbrechen können wir den Verlust ihrer Kinder, Väter,
Mütter und Freunde niemals wiedergutmachen. Aber wir
schulden ihnen etwas, auch wenn wir ehrlich wissen,
dass nicht jedes Unrecht und jedes Blutvergießen ge-
stoppt werden kann. Wir schulden ihnen, dass wir uns
nicht dem Gefühl der Ohnmacht und schon gar nicht der
Gleichgültigkeit hingeben, dass wir nicht nur anpran-
gern, sondern das uns Mögliche tun, das in unserer
Macht steht, um Völkermord zu verhindern. Das ist un-
sere Verpflichtung, und dieser Verpflichtung müssen wir
gerecht werden.


(Beifall im ganzen Hause)


Ruanda ist dabei, Vergangenheit aufzuarbeiten, ein
neues Ruanda zu schaffen. Überall in Afrika entsteht
ganz viel Neues in diesen Jahren. Afrika, habe ich in ei-
ner anderen Rede gesagt, verändert sich schneller als un-
sere Wahrnehmung von Afrika.

Das ist der Grund für meine Reise nach Äthiopien,
Tansania und Angola, die ich in der vergangenen Woche
gemacht habe. So unterschiedlich die drei Länder sind,
so habe ich doch eigentlich überall, von fast allen Ge-
sprächspartnern, denselben Ruf gehört. Der Ruf lautet:
Wir wollen keine Bettler vor den Türen Europas sein. –
Der afrikanische Kontinent ist aus sich heraus lebensfä-
hig, kann Nahrung und Entwicklung für alle Menschen
jedenfalls potenziell bereitstellen.

Wenn es um Sicherheit, Stabilität und Frieden geht,
sagen viele: Wir wollen nicht um Europas Soldaten bit-
ten, sondern wollen das selbst bewältigen können, selbst
handeln können. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das
muss eben auch unser Interesse sein. Wir Europäer wol-
len auch, dass Afrika sein Schicksal in die eigenen
Hände nimmt. Afrika ist ein Kontinent im Aufbruch, und
wir müssen diesen Aufbruch massiv unterstützen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Dazu gehört auch, dass wir viele der afrikanischen
Staaten heute mehr und mehr als Partner wahrnehmen.
Wir brauchen sie als Partner, auch um die globalen He-
rausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, be-
wältigen zu können. Wenn man dort unterwegs ist, dann
merkt man, wie sehr unsere beiden Kontinente, Europa
und Afrika, aufeinander angewiesen sind, zueinander ge-
rückt sind, wie sehr wir von der Stabilität des jeweils an-
deren Kontinentes abhängen. Das erleben wir Europäer
– und wir reden hier auch darüber –, wenn Flüchtlinge
aus Afrikas Krisenherden an Europas Grenzen stoßen.
Aber man spürt es auch in vielen Gesprächen in Afrika,
wenn dort gesagt wird: Wir spüren hier vor allen Dingen
eure seit fünf Jahren dauernde Krise in Europa, weil von
den europäischen Staaten, insbesondere den südeuropäi-
schen Staaten, weniger investiert wird. – Die europäi-
sche Krise hinterlässt eben auch tiefe Spuren in Afrika.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel ist leicht
beschrieben. Danach zu handeln, ist nicht ganz so
einfach. Dazu entwickelt sich Afrika viel zu rasant, viel
zu vielfältig. Dieses Afrika will einfach unter keine
knackige Überschrift passen, nach der Medien und gele-
gentlich die Politik suchen. Afrika ist weder einfach Kri-
senkontinent noch einfach Chancenkontinent. Wahr-
scheinlich hat Horst Köhler recht, der gesagt hat: Solche
Urteile sagen ohnehin viel mehr über uns selber als über
Afrika.

Ich finde, wenn die Entwicklung Afrikas so vielfältig
ist, dann muss unser Instrumentenkasten daran angepasst
werden und genauso vielfältig sein. Je nach Land und je
nach Lage gehören in diesen Instrumentenkasten wirt-
schaftliche Investitionen genauso wie Abrüstung oder
die Eindämmung von Kleinwaffen; dazu gehört kulturel-
ler Austausch genauso wie Straßenbau, die Stärkung des
Rechtsstaates genauso wie das Training von Sicherheits-
kräften. All diese Instrumente habe ich in verschiedenen
Ländern, in verschiedenen Staaten gesehen, und alle
werden sich in den afrikapolitischen Leitlinien der Bun-
desregierung wiederfinden, die wir gerade erarbeiten.

Ich weiß auch aus eigener Erfahrung: Gerade gegen-
über Afrika bleibt Außenpolitik immer auch ein Balan-
ceakt. Dazu gehört der Respekt vor den Unterschieden
und die Suche nach Gemeinsamkeiten, aber auch die
Feststellung dessen, was möglicherweise unvereinbar
ist.

Gemeinsamkeiten gibt es heute sehr viel mehr als das
„Nie wieder!“, von dem ich ganz am Anfang meiner
Rede gesprochen habe, das „Nie wieder!“ zu Krieg und
Völkermord.

Es ist sehr viel mehr, weil erstens die Europäer wie
die Afrikaner gelernt haben, mit Nachbarn zu leben, mit





Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

ihnen zu arbeiten statt gegen sie. Das ist eine Leitidee
der regionalen Integration, wie wir sie in Europa ent-
wickelt haben; aber das ist eben auch die Leitidee der
Afrikanischen Union.

Ich befürchte, wir unterschätzen gelegentlich, was
von den afrikanischen Organisationen mittlerweile ge-
leistet wird. Natürlich reden wir zu Recht über Einsätze,
über Mandate, die hier im Deutschen Bundestag be-
schlossen werden. Aber viele wissen einfach nicht, dass
die Afrikanische Union 70 000 Soldaten in innerafrika-
nischen Konflikten im Einsatz hat und mit Mühe – und
nicht überall erfolgreich – danach sucht, dort Stabilität
wiederherzustellen, wo sie verloren gegangen ist. Die
Stärkung der afrikanischen Eigenverantwortung, die
dazu notwendig ist, hat auf dem EU-Afrika-Gipfel in
dieser Woche eine große Rolle gespielt.

Wir versuchen, diese Eigenverantwortung zu stärken –
nicht nur durch situative Ausbildungsmissionen, sondern
ganz gezielt, indem wir beispielsweise das Kofi Annan
International Peacekeeping Training Centre in Ghana
unterstützen oder das Peace and Security Centre – ich
konnte mir das ansehen –, das wir auf dem Gelände der
Afrikanischen Union in Addis Abeba bauen und das
nächstes Jahr eröffnet wird, pünktlicher als manche Bau-
stelle in Deutschland.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweitens. Wir wollen die Vielfalt der Menschen
schützen. Die Botschafterin Ruandas hat in einer Rede
zum 20-jährigen Gedenken an den Völkermord gesagt:

Wir bauen ein Ruanda auf, in dem alle Menschen …
sich mit gleichen Rechten entfalten können.

In Vielfalt leben, das geht nur – das wissen wir – in ei-
nem Rechtsstaat, auf den sich alle verlassen können.
Dazu gehört die Freiheit von Meinung und Religion ge-
nauso wie die Freiheit der sexuellen Orientierung. Das
war ein Grundsatz, der auf meiner Reise eine große
Rolle gespielt hat, zum Beispiel beim Besuch des Ger-
man Tanzanian Law Centre in Daressalam, wo ich Stu-
denten getroffen habe, die sehr an einem Rechtsstaats-
dialog mit uns, mit Europa, aber insbesondere mit
Deutschland, interessiert sind. Viele ihrer Lehrer haben
an deutschen Universitäten studiert. Deshalb will ich an
dieser Stelle den vielen deutschen Universitäten meinen
herzlichen Dank für ihr Engagement auf dem afrikani-
schen Kontinent aussprechen, insbesondere dem Deut-
schen Akademischen Austauschdienst, der sich durch
seine Stipendienprogramme mit unendlicher Energie da-
für einsetzt, dass die entsprechenden Vorhaben auf den
Weg gebracht werden können.


(Beifall im ganzen Hause)


Drittens haben wir gelernt, dass Frieden oder Unfrie-
den auch materielle Grundlagen hat, insbesondere dann,
wenn sie fehlen. Der Völkermord vor 20 Jahren wurde
angeheizt durch materielle Not, durch knappe Ressour-
cen, durch Konflikte, die die Machthaber systematisch
ausgenutzt haben, um möglichst viele Menschen in das
Morden zu verstricken. Deshalb gehört zu den Lehren
des Völkermords das Friedensversprechen auf der einen
Seite, aber auch das Wohlstandsversprechen auf der an-
deren Seite.

Kongo, Nigeria und Angola, alle diese Staaten lehren
uns, dass Öl, Gas, Gold und Diamanten nicht von selbst
für Wohlstandsentwicklung sorgen, an der alle teilhaben,
sondern das muss politisch organisiert werden. Nur
wenn der wirtschaftliche Aufbruch Perspektiven für alle
Menschen schafft, nur wenn er – auch durch Bildung,
Entwicklung und die Schaffung eines Gesundheitswe-
sens – alle Menschen am Wohlstand teilhaben lässt,
schweißt er die Gesellschaft zusammen. Nur dann kön-
nen wir für Frieden sorgen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Addis Abeba führte ich längere Gespräche mit Ver-
tretern der Afrikanischen Union, auch mit der Kommis-
sionsvorsitzenden Frau Dlamini-Zuma. Nach den Ge-
sprächen stellte eine deutsche Journalistin die relativ
klare Frage an Frau Zuma: Was ist eigentlich die größte
Erwartung Afrikas an Europa? Frau Zuma hat eine klare
Antwort gegeben. Sie sagte: Unsere Jugend! Für sie wol-
len wir mit Europa arbeiten, für ihre Ausbildung, für ihre
wirtschaftlichen Perspektiven. Die nächste Frage der
Journalistin war: Und was hat Europa von Afrika zu er-
warten? Darauf antwortete Frau Zuma: Auch unsere Ju-
gend! Unsere Jugend ist unser Reichtum, und von die-
sem Reichtum wird auch Europa profitieren.

Meine Damen und Herren, die Lehren aus den
Schicksalsmomenten, die ich genannt habe, verbinden
uns. 20 Jahre nach dem Völkermord ist Ruanda heute ein
Land, das auf dem Weg ist in eine neue Zukunft, ohne zu
verdrängen, ohne zu vergessen.

Die tausend Hügel, von denen ich gesprochen habe,
sind und bleiben die Schicksalslandschaft Afrikas.
Roméo Dallaire, der 1993 als Kommandeur der Blau-
helme nach Ruanda kam, rief, als er diese tausend Hügel
sah: Ein Garten Eden ist das hier. Wenige Monate später
musste er voll Scham und Wut das Massaker mit anse-
hen.

Die Erinnerung ist in tausend Hügeln eingeprägt. Ihr
Name bleibt verbunden mit den Menschheitsverbrechen
vor 20 Jahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben
aller Erinnerung, die in dieser Landschaft ruht: Denen,
die Ruanda heute aufbauen, mögen die tausend Hügel
wieder Heimat sein und fruchtbarer Boden.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802700100

Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Liebich für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802700200

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Ihr

habt gute Arbeit geleistet“, so bedankte sich der Präfekt
des Verwaltungsbezirks Gikongoro im Süden Ruandas
bei jenen, die innerhalb weniger Stunden Abertausende
von Menschen getötet hatten. Damals, vor 20 Jahren, hat
kein Virus des Tötens, wie manche sagen, das Land be-
fallen. Es waren keine vermeintlichen Wilden, die sich
in einen Stammeskrieg verirrten. Es waren gebildete,
moderne Eliten, die Unvorstellbares taten. Sie organi-
sierten einen hunderttausendfachen Mord an den Tutsi
und den gemäßigten Hutu und führten ihn teilweise auch
eigenhändig durch. Eine Frage, der wir uns heute stellen
müssen, ist, wie es zu diesem Völkermord kommen
konnte und wer dafür in Ruanda, in Afrika, in Europa, in
unserer Weltgemeinschaft die Verantwortung trägt. Wie
konnte so etwas geschehen in einem Land, in dem die
Menschen die gleiche Sprache sprechen, meist auch die
gleiche Religion haben, in dem man über sehr lange Zeit
friedlich miteinander lebte und sich vor allem dadurch
unterschied, dass der eine Ackerbauer und der andere
Viehbesitzer war?

Hutu und Tutsi wurden erst von Europäern zu Fein-
den gemacht. Es war der Engländer John Speke, der
1860 fand, dass die Tutsi den neolithisch-hamitischen
Völkern zugerechnet werden müssten und den afrikani-
schen Hutu überlegen seien. Festgeschrieben wurden die
angeblichen Rassenunterschiede durch die Deutschen,
deren Kolonie das Territorium Ruandas zunächst war,
und vor allem durch die belgischen Kolonialherren, die
in Pässe eintragen ließen, ob jemand Hutu oder Tutsi ist.
Soziale Unterschiede wurden ethnisiert, damit die euro-
päischen Mächte das Land leichter beherrschen und die
Gruppen gegeneinander ausspielen konnten. Hier liegt
die Wurzel des Übels.

Es waren auch die Belgier, die eine Hutu-Regierung
in Ruanda ins Amt brachten und damit der jahrhunderte-
alten Tutsi-Herrschaft ein Ende setzten. Die Hutu diskri-
minierten die Tutsi. Die Tutsi flohen. Es gab Kämpfe
und Tote, und die Invasion der Tutsi der Ruandischen
Patriotischen Front, der heutigen Regierungspartei
Ruandas, unter Paul Kagame von Uganda aus konnte nur
durch das Eingreifen Frankreichs, das die Hutu-Regie-
rung unterstützte, gestoppt werden.

Nun begann die Vorbereitung zum Völkermord: Ra-
dios wurden umsonst im Land verteilt, um Hass- und
Gewaltaufrufe zu verbreiten. Als das Präsidentenflug-
zeug am 6. April 1994 abgeschossen wurde, brachen alle
Dämme. Mit Namenslisten gingen die Anhänger von
Hutu Power, so der Name einer rassistischen Partei, als
Erstes zu den Häusern der gemäßigten Hutu-Politiker
und brachten sie um. Am 7. April 1994, also einen Tag
später, war die gesamte Regierung ausgelöscht oder un-
tergetaucht. Dann wurde den Milizen freie Hand ge-
währt. Allen, die sich an den Massakern beteiligten, bot
man materielle Anreize. Wer nicht mitmischte, wurde
mitsamt seiner Familie getötet. In 100 Tagen wurden
75 Prozent der ruandischen Tutsi ermordet. Das Grauen
wird noch heute in zahlreichen Gedenkstätten deutlich.
Viele stellten und stellen sich die Frage, warum die
Weltgemeinschaft den Geschehnissen keinen Riegel vor-
geschoben hat, warum die UNO nicht militärisch einge-
griffen hat, als die Dimension der Unmenschlichkeit be-
kannt wurde. Ich finde diese Frage verständlich.

Noch wichtiger ist es, sich damit auseinanderzuset-
zen, was man hätte tun können, um den Völkermord
schon vor seinem Geschehen zu verhindern. Vor der Ver-
antwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung, vor sol-
chen Verbrechen liegt die Verantwortung, zu vermeiden,
dass es überhaupt so weit kommen kann.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Warum wurden vor 130 Jahren hier ganz in der Nähe
in der Wilhelmstraße die Grundlagen für die Aufteilung
der Kolonien Afrikas gelegt und willkürlich Grenzen ge-
zogen, ohne irgendeinen der Menschen zu fragen, die
seit Jahrhunderten auf diesem Kontinent lebten? Was
war die Rolle Deutschlands und Belgiens bei der Zie-
hung der Grenzen zwischen den Bewohnern Ruandas?
Schließlich: Was ist mit Frankreich? „Hebt endlich die
Geheimhaltung der Rolle Frankreichs in Ruanda auf!“,
fordert seit vergangenem Mittwoch eine Petition, die be-
reits von Tausenden Franzosen unterschrieben wurde.
Denn immer noch hält die Regierung Hollande die Ak-
ten unter Verschluss.

Französische Experten hatten die rassistische Hutu
Power bei der statistischen Erfassung und Organisation
der gesamten Bevölkerung beraten. Die Statistiken ha-
ben später beim Völkermord geholfen. Die Genozid-
Regierung selbst wurde in den Räumen der französi-
schen Botschaft in Kigali gegründet, und als der Völker-
mord bereits auf Hochtouren lief, wurde sie noch in
Paris empfangen. Wer Außenpolitik nicht nur von der
Seitenlinie machen möchte, Frau Merkel, Herr
Steinmeier, und wer Afrika dabei im Blick hat, der sollte
schleunigst gegenüber den französischen Freunden aktiv
werden und hier Aufklärung fordern.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir die Opfer des Völkermords ehren wollen,
dann sollten wir Ruanda helfen, zum Beispiel den Über-
lebenden des Völkermords, die heute unter HIV und
Aids leiden, und jenen, die an ihrem Lebensabend keine
Familien mehr haben, die sie unterstützen können. Wir
helfen nicht, wenn wir mit Kritik an der Scheindemokra-
tie, die Ruanda heute ist, sparen. Unterdrückung der
Opposition, mangelnde Pressefreiheit und die Rolle
Kagames im Kongo dürfen nicht verschwiegen werden.

Eines noch zum Schluss: Bitte legitimieren Sie keine
neuen Militäreinsätze in Situationen, die mit Ruandas
Völkermord mit Hunderttausenden Toten nicht zu ver-
gleichen sind!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Eine soziale und gerechte Weltwirtschaftsordnung und
daraus erwachsende Stabilität – der Außenminister hat
darauf hingewiesen – sind sicher keine Garantie, aber





Stefan Liebich


(A) (C)



(D)(B)

können helfen, solche Abgründe der Unmenschlichkeit
zu vermeiden. Hier haben wir noch viel zu tun.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802700300

Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1802700400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

diesen Tagen jährt sich der Völkermord in Ruanda – am
kommenden Montag findet eine Gedenkveranstaltung in
Ruanda selbst statt – zum 20. Mal. Zwischen April und
Juni 1994 wurden über 800 000 Menschen, vorwiegend
Tutsi, aber auch gemäßigte Hutu, Opfer eines unbe-
schreiblichen Sterbens. Der Deutsche Bundestag ver-
neigt sich mit diesem Gedenken und den Initiativen, die
wir ergriffen haben, vor den Opfern von Gewalt, Mord
und Vertreibung. Wir wollen durch unser Gedenken si-
cherstellen, dass dies nicht vergessen wird.

Wir bedauern insbesondere, dass es der internationa-
len Gemeinschaft trotz zahlreicher Hinweise aus dem
Land und außerhalb des Landes damals nicht gelungen
ist, die Vorboten des Völkermords zu erkennen und die
Entwicklung zu verhindern. Deshalb wollen wir mit die-
ser Debatte nicht nur anregen, der Opfer zu gedenken
– dies tun wir –, sondern wir wollen auch darüber spre-
chen – das ist in den vorherigen Wortbeiträgen bereits
geschehen –, wie Völkermord insgesamt verhindert wer-
den kann und welchen Einfluss europäische Politik, po-
sitiv wie negativ, auf Afrika haben kann.

Die Ursachen dieses Völkermords sind von meinem
Vorredner sehr deutlich herausgearbeitet worden. Eines
muss man sagen: Selbstverständlich haben auch europäi-
sche Länder dort aufgrund ihrer Interessenpolitik herum-
experimentiert. Dies hat dem Land nicht gutgetan, und
das haben viele Menschen mit dem Tod bezahlt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Die autoritäre Militärregierung hat damals versucht,
die Opposition niederzuringen und dringend notwendige
Reformen zu verhindern. Als 1973 Präsident Juvénal
Habyarimana durch einen Staatsstreich ins Amt kam,
war die Rollenverteilung nicht nur in ethnischer Hinsicht
klar, sondern auch machtpolitisch zementiert. Zur Kon-
solidierung seiner Macht platzierte der Präsident diverse
Hutu-Anhänger in nahezu allen Schlüsselpositionen, vor
allem in der Armee des Landes.

Anfang der 90er-Jahre eskalierten die Auseinander-
setzungen mit der Patriotischen Front, der Rwandese
Patriotic Front, des heutigen Staatspräsidenten Paul
Kagame, der später den Völkermord beendet hat. Lokale
Pogrome kosteten damals bereits Hunderte von Tutsi das
Leben.
Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichneten
Regierung und Opposition am 4. August 1993 in Tansa-
nia ein Friedensabkommen, das eine Teilung der Macht
sowie eine Integration der Rebellenarmee vorsah. Beide
Parteien befürworteten die Stationierung einer UN-Blau-
helmtruppe, um die Umsetzung der Vereinbarung zu
überwachen.

Am 5. Oktober 1993 richtete der UN-Sicherheitsrat
mit der Resolution 872 auf Vorschlag des damaligen Ge-
neralsekretärs Boutros Boutros-Ghali eine UNO-Mis-
sion für Ruanda ein. Aber auch das hat den späteren Völ-
kermord nicht verhindert. Der damalige UNAMIR-
Kommandeur traf am 22. Oktober 1993 in der ruandi-
schen Hauptstadt Kigali ein, die ersten Soldaten fünf
Tage später. Das heißt, die UNO war damals schon prä-
sent. Die Etablierung einer Übergangsregierung unter
Einschluss der Patriotischen Front Kagames scheiterte
jedoch. Über Radio – das wurde bereits gesagt – wurde
damals bereits dazu aufgerufen, die Tutsi umzubringen.

Die Situation eskalierte vollkommen, als am 6. April
1994 das Flugzeug abgeschossen wurde, in dem Präsi-
dent Habyarimana saß, und dieser dabei ums Leben kam.
Dadurch wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die
Planungen dazu wurden aber wahrscheinlich schon vor-
her getroffen.

Wir müssen kritisch überprüfen, was die UNO-Mis-
sion damals gebracht hat und ob sie vielleicht Schlimme-
res hätte verhindern können. Die UNO hat sich deshalb
Jahre später, im Jahr 1999, unter dem früheren schwedi-
schen Premierminister Carlsson ausführlich mit diesem
Völkermord und mit seinem Zustandekommen beschäf-
tigt. Ich möchte aus dem Bericht zitieren:

Die Unabhängige Untersuchungskommission stellt
fest, daß die Vereinten Nationen im Vorfeld und
während des Völkermordes in Ruanda 1994 in
mehreren grundsätzlichen Punkten versagt haben.
Die Verantwortung für das Versagen der Vereinten
Nationen, den Völkermord in Ruanda zu verhin-
dern oder zu stoppen, liegt bei einer Reihe verschie-
dener Akteure, insbesondere beim Generalsekretär,
dem Sekretariat, dem UNO-Sicherheitsrat, der
UNAMIR und bei der breiteren Mitgliedschaft der
Vereinten Nationen. Diese internationale Verant-
wortung verlangt eine klare Entschuldigung der Or-
ganisation und der betreffenden Mitgliedstaaten ge-
genüber dem ruandischen Volk. Hinsichtlich der
Verantwortung jener Ruander, die den Völkermord
an ihren Landsleuten planten, dazu aufhetzten und
ihn begingen, sind fortgesetzte Bemühungen erfor-
derlich, sie vor Gericht zu stellen, vor den Interna-
tionalen Strafgerichtshof für Ruanda und vor natio-
nale Gerichte in Ruanda selbst.

Aus diesem Bericht und aus den vielen Bemühungen,
die es damals gab, um den Völkermord und das Versa-
gen der internationalen Staatengemeinschaft aufzuarbei-
ten, ist die Diskussion um die sogenannte Responsibility
to Protect entstanden. Sie spielt hier sehr häufig eine
Rolle. Häufig wird aber vergessen, dass der Ausgangs-
punkt eigentlich das Versagen der UNO im Hinblick auf
den Völkermord in Ruanda war. Deshalb ist es richtig,





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

wenn man die Responsibility to Protect bemüht oder als
politisches Hilfsargument anführt, dass man sich verge-
wissert, dass dieser Gedenktag eine ganz wichtige Funk-
tion hat, und dass man sieht – es ist uns gelungen, die
Debatte um RtoP in der UNO voranzubringen –: Häufig
führt die Selbstblockade der UNO dazu, dass es keine
Garantie dafür gibt, dass dieses Prinzip auch angewandt
wird.

Vor diesem Hintergrund möchte ich an einem Punkt
– gar nicht polemisch – widersprechen. Auch hier im
Hause gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob
man im Rahmen der Responsibility to Protect oder im
Rahmen weiterer Möglichkeiten zur Verhinderung eines
Völkermordes militärische Maßnahmen ergreifen sollte
oder nicht.

Ich stimme dem, was gesagt worden ist, zu. Man kann
generell sagen: Es ist besser, wenn man vorausschauend
agiert. – Die verfehlte Kolonialpolitik hat dazu geführt,
dass man Ruanda zu wenig geholfen hat, dass man
Ruanda in diese Situation gebracht hat, dass man Eth-
nien zuerst kreiert und sie dann gegeneinander aufge-
hetzt hat. Aber nichtsdestotrotz: Wenn so etwas falsch
gelaufen ist und sich ein Land in eine falsche Richtung
bewegt, dann muss man bereit sein, zum Schutz der Zi-
vilbevölkerung als äußerstes Mittel der Politik auch mili-
tärische Maßnahmen zu ergreifen. Da stimmen wir hier
im Haus eben nicht alle überein. Deshalb möchte ich
mich noch einmal dafür starkmachen, dass ein Mittel im
Rahmen der Responsibility to Protect als äußerste Mög-
lichkeit eben auch militärische Maßnahmen sein sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Bundesaußenminister hat klargemacht, dass er ei-
nen Schwerpunkt seiner Arbeit auf Afrika legt; ich
glaube, seine jüngste Reise vor ein paar Tagen dokumen-
tiert das sehr deutlich. Deshalb möchte ich heute unsere
Bereitschaft betonen, mit der Regierung in Ruanda ein
neues Kapitel der bilateralen Zusammenarbeit aufzu-
schlagen. Kritische Punkte in Bezug auf Präsident
Kagame sind angesprochen worden. Aber eines sollten
wir nicht vergessen: Dieser Mann hat den Völkermord
damals beendet und zur Aussöhnung im Land erheblich
beigetragen.

Wir sehen, dass Ruanda Schwierigkeiten hat. Wir se-
hen aber auch, dass die wirtschaftlichen Perspektiven,
die Perspektiven von Good Governance und Regierungs-
führung im Allgemeinen viel besser sind als in vielen an-
deren Ländern. Vor diesem Hintergrund sollten wir am
heutigen Tage mit Blick auf die Zukunft festhalten, dass
wir, gerade was die Region der Großen Seen oder die
Diskussion über den Kongo angeht, mit Ruanda zusam-
menarbeiten, die politische und die bilaterale Zusam-
menarbeit vertiefen und weiterhin versuchen wollen, ein
freundschaftliches und partnerschaftliches Verhältnis zur
Regierung zu pflegen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802700500

Das Wort erhält nun die Kollegin Kordula Schulz-

Asche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gab
viele Ereignisse, Bilder und Gefühle im Jahr 1994, die
ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Eine kleine
Auswahl:

Am Abend des 6. April 1994 hatten wir in Kigali ei-
nen portugiesischen Arbeitskollegen zu Besuch. Meine
dreijährige Tochter lag schon schlafend im Bett, als um
20.20 Uhr ein lauter Knall aus Richtung Flughafen zu
hören war. Wenig später erfuhren wir über Telefon und
Funkgeräte vom Abschuss des Flugzeugs des damaligen
ruandischen Präsidenten. In dieser Nacht auf den 7. Ap-
ril begann der systematische Völkermord an den Tutsi
und die Ermordung von moderaten und oppositionellen
Hutu.

Am 7. April erhielten wir den Anruf der Ehefrau eines
Arbeitskollegen, beide Tutsi, die uns verzweifelt um
Hilfe bat, weil Soldaten versuchten, in das Haus einzu-
dringen. Plötzlich hörten wir Krachen im Hintergrund
und kurz darauf Schreie; dann brach das Gespräch ab.
Später haben wir erfahren, dass an diesem Tag die ge-
samte Familie ermordet worden war.

Am 9. April fuhren wir im ersten Konvoi im Rahmen
der Evakuierung Richtung Burundi. Als wir uns der klei-
nen Stadt Gitarama näherten, kam uns ein alter, sehr
hoch gewachsener Mann, ein Bauer, entgegen. Er
schaute auf den Konvoi, begriff, dass die Ausländer ge-
rade dabei waren, das Land zu verlassen, ließ seinen
Stab fallen und schlug verzweifelt die Hände vor das Ge-
sicht. In diesem Moment dachte ich wieder einmal: Wir
werden es wahrscheinlich schaffen, aber diese Menschen
hier lassen wir zurück. Müsste man nicht bleiben?
Müsste man nicht irgendetwas tun? – Ein Gefühl, meine
Damen und Herren, das man nie wieder vergisst.

Im September und Oktober 1994, nach dem Völker-
mord, kehrte ich nach Ruanda zurück und erfuhr von
vielen Kolleginnen und Kollegen, die unter den Opfern
waren, aber auch von jenen Kolleginnen und Kollegen,
von denen es hieß, dass sie gemordet haben. So fuhr ich
bis 1998 regelmäßig zu der Nichtregierungsorganisation,
in der ich vor dem Völkermord gearbeitet hatte, um die
Einarbeitung neuer Mitarbeiter zu begleiten.

Die Frage „Warum habt ihr nicht geholfen?“ konnte
ich allerdings nicht beantworten. Aber seitdem bin ich
der festen Überzeugung, dass es eine Verantwortung der
internationalen Gemeinschaft gibt, aus den Fehlern in
Ruanda zu lernen, um eine Zivilbevölkerung tatsächlich
wirksam vor Völkermord zu schützen und vor allem alle
Möglichkeiten der Prävention zu erkennen, dann aber
auch zu nutzen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)






Kordula Schulz-Asche


(A) (C)



(D)(B)

Im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht für mich
das Gedenken an die vielen Opfer des Völkermords in
Ruanda. Wir gedenken auch jener, die, sich selbst größ-
ter Gefahr aussetzend, anderen geholfen haben. Wir ha-
ben aber auch ausdrücklich des Leids derjenigen zu ge-
denken, die überlebt haben, die Verwandte verloren
haben – manche haben ihre ganze Familie verloren –,
die, selbst traumatisiert, verstümmelt, vergewaltigt, nun
ihren Platz in der heutigen ruandischen Gesellschaft fin-
den müssen. Sie gehören oft zu den Vergessenen dieses
Völkermords. Die Konzentration, die richtige Konzen-
tration auf die juristische Verurteilung der Täter vernach-
lässigt nach wie vor die Frage, wie die Opfer, wie die
Zeugen besser unterstützt werden können. Hier, meine
Damen und Herren, sehe ich auch international noch
großen Handlungsbedarf, auch für die Zukunft.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Der fraktionsübergreifende Antrag erwähnt die ruan-
dischen Bemühungen zur Aufarbeitung, die Arbeit des
Arusha-Tribunals, den Aufbau eines geordneten Staats-
wesens, unterstützt auch durch die Zusammenarbeit mit
Deutschland, mit dem Ziel einer guten demokratischen,
rechtsstaatlichen und nachhaltig sozioökonomischen
Entwicklung in der Region der Großen Seen. Wirkliche
Partnerschaft heißt aber auch, immer dann in den Dialog
zu treten, wenn Menschenrechte verletzt werden. Die
nachhaltige Entwicklung eines Landes ist nur möglich,
wenn sich der Rechtsstaat auf eine aktive vielfältige Zi-
vilgesellschaft stützen kann, die keine Angst vor Verfol-
gung haben muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Auch hier könnte Ruanda zu einem Vorbild werden. Die
Bereitschaft, dies zu unterstützen, besteht – da bin ich
mir sicher – im gesamten Haus.

Die bisherige Aufarbeitung des Völkermords in Ru-
anda – ich denke an seine Genese, seine Mechanismen
und seine Akteure – hat bereits geholfen, internationale
Instrumente der Frühwarnung und Prävention zu entwi-
ckeln, auch wenn es – das wird uns immer wieder be-
wusst – schwere Rückschläge gibt. Besonders die Res-
ponsibility to Protect, die durch die Vereinten Nationen
2005 entwickelt und etabliert wurde, geht auch auf die
Erfahrungen in Ruanda zurück.

Heute ist daher eine entscheidende Frage, ob wir
wirklich bereits alle Erfahrungen aufgearbeitet und wirk-
lich alle Konsequenzen gezogen haben. Die Antwort ist:
offensichtlich nein. Es ist immer leicht, auf andere zu
zeigen. Die Verantwortlichen für das Versagen der inter-
nationalen Gemeinschaft während des Völkermords hat-
ten einige schnell identifiziert: die USA mit ihrem Schei-
tern in Somalia, Belgien als ehemalige Kolonialmacht,
Frankreich als starker Verbündeter der Regierung
Habyarimana, die Vereinten Nationen, weil sie es ver-
säumt hatten, früher einzugreifen.

Und Deutschland? Vor dem Hintergrund der sich hin-
ziehenden Friedensverhandlungen in Arusha häuften
sich seit 1992 immer mehr Informationen über Trai-
ningscamps von Milizen, Waffenverteilung, Todeslisten
mit Namen von Tutsi und oppositionellen Hutu, über
Massaker, auch in großem Ausmaß, an der Bevölkerung.
Was wurde aufgrund all dieser Warnungen getan? Wa-
rum wurden geheimdienstliche Erkenntnisse Deutsch-
lands nicht an die UN-Ruanda-Mission weitergeleitet?
Warum wurde die Bitte der UN im Mai 1994 auf Sani-
tätssoldaten abgeschlagen? Warum wurden 147 Flücht-
linge, für die Rheinland-Pfalz sogar die Übernahme aller
Kosten zugesagt hatte, nicht in Deutschland aufgenom-
men? Warum dauerte es so lange, bis der damalige Au-
ßenminister das Wort „Völkermord“ in den Mund nahm,
und warum hatte es, als er es tat, keinerlei Folgen? Wa-
rum hat der Bundestag 1994 kein einziges Mal über Ru-
anda diskutiert? – Das sind nur einige offene Fragen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


„Wo wart ihr? Warum habt ihr uns nicht geholfen?“
Bartholomäus Grill sagt in dieser Woche in einem sehr
beeindruckenden Artikel im Spiegel:

Ich schäme mich bei solchen Fragen bis heute.

Er hinterfragt die eigene Rolle als Journalist und seine
1994, wie er selbst sagt, „flott hingeschriebene Fernana-
lyse“.

Weiter sagt Herr Grill:

Am Ende schrieb ich, dass eine Intervention von
außen wohl zwecklos sei. Der Text enthält die un-
verzeihlichsten Irrtümer, die mir in meinem Berufs-
leben unterlaufen sind.

Hoffentlich ist dieser Artikel ein Auslöser der Aufar-
beitung von journalistischer Seite der Art und Weise von
Berichterstattung, aber zum Beispiel auch der Ausbil-
dung von Journalisten der Zeitschrift Kangura oder des
Senders Radio-Télévision Libre des Mille Collines.

Es ist auch überfällig, die Verantwortung der deut-
schen Entwicklungs-, Verteidigungs-, Außen- und In-
nenpolitik aufzuarbeiten. In den 20 Jahren vor dem Völ-
kermord war Deutschland der zweitgrößte Geber.
Ruanda erhielt Ausstattungshilfe für die Streitkräfte, und
seit 1978 gab es auch vor Ort eine Beratergruppe der
Bundeswehr – bis zum April 1994. DED, GTZ, die
Deutsche Welle, politische Stiftungen, die beiden großen
Kirchen und viele Nichtregierungsorganisationen wirk-
ten vor Ort. Die enge Partnerschaft zwischen Rheinland-
Pfalz und Ruanda bestand in den 1990er-Jahren aus über
650 Projekten. Und wieder die Fragen: Wo wart ihr?
Warum habt ihr uns nicht geholfen?

Die Prävention von Völkermorden bedarf der Ent-
schiedenheit der Vereinten Nationen. Diese Entschieden-
heit wird immer auch geprägt vom Engagement einzel-
ner Nationen. Im Ruanda vor dem Völkermord hielten
Politiker aus fast allen Parteien Ausschau nach dem En-
gagement eines neutralen Partners, und ihre Hoffnung
richtete sich auf Deutschland. Dass es wiederholt und
zunehmend dringlicher den Wunsch nach einer deut-
schen Vermittlungsinitiative gab, wissen wir vom Hö-
rensagen. Ob dies stimmt und ob die Bundesrepublik je-
mals erwogen hatte, diesem Wunsch nachzukommen,
wird man heute ohne eine gründliche historische Auf-
arbeitung kaum noch belegen können.





Kordula Schulz-Asche


(A) (C)



(D)(B)

Nach dem Völkermord war Deutschland eines der
ersten Länder, die in Ruanda wieder aktiv wurden. Mit
wesentlicher deutscher Unterstützung haben die afrika-
nischen Partnerländer mit dem Ausbau von Frühwarn-
systemen und der Unterstützung von Friedensmissionen
beginnen können, die es vor dem Völkermord in Ruanda
überhaupt nicht gegeben hat. Was nun fehlt, ist eine sys-
tematische, unabhängige wissenschaftliche Aufarbei-
tung der deutschen Politik in den Jahren 1990 bis 1994.
Dies betrifft auch die Politik im Verhältnis zu anderen
europäischen Partnern; Frankreich ist bereits genannt
worden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Das Ziel einer solchen Aufarbeitung sollte es sein,
dass wir für die Zukunft weitere Lehren daraus ziehen
und wirklich sagen können: Unser Ziel ist: Nie wieder
Völkermord! Lassen Sie uns alle gemeinsam, auch vor
dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte, eine Ant-
wort auf die Frage finden: Warum habt ihr uns nicht ge-
holfen?

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802700600

Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1802700700

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kollegin Schulz-Asche, ich
möchte Ihnen für Ihre eindrücklichen, sehr persönlichen
Worte recht herzlich danken.


(Beifall im ganzen Hause)


Am 6. April 1994 wurde die Maschine des ruandi-
schen Präsidenten im Landeanflug auf Kigali abgeschos-
sen. Dabei kamen alle Insassen ums Leben. Nur wenige
Minuten später begann der Mord an Hunderttausenden
Tutsi, aber auch an moderaten Hutu, die sich schützend
vor ihre Nachbarn gestellt hatten. Es war keine spontane
Eruption von Gewalt, sondern ein von langer Hand orga-
nisatorisch und ideologisch vorbereiteter Mord. In den
Reden ist darauf hingewiesen worden: Die Verantwortli-
chen dafür – meine Damen und Herren, das macht es be-
sonders schwer zu verstehen – waren bekannt.

Auch für mich hat die Erinnerung an den Genozid in
Ruanda einen sehr persönlichen Bezug: Am 6. April
1994 habe ich meinen 21. Geburtstag gefeiert. Die Trag-
weite der Ereignisse, die wir eher beiläufig über das Ra-
dio erfahren haben, habe ich damals, wie so viele andere
auch, nicht erfasst.
In Ruanda sind zwischen April und Juli 1994 syste-
matisch unvorstellbare Verbrechen begangen worden,
Verbrechen, die unser Fassungsvermögen auf eine harte
Probe stellen; der Außenminister hat dazu die richtigen
Worte gefunden. Ich glaube – ohne unpassende Verglei-
che anstellen zu wollen –: Für uns Deutsche stellt dieser
Gedenktag eine besondere – wie soll man sagen? – He-
rausforderung dar. Wir wissen, wie schwer es ist, zu den
dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit zu stehen. Ich
bin deshalb dankbar und ich freue mich darüber, dass es
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gelungen
ist, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen, den wir
heute verabschieden wollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heutige Ge-
denktag erinnert uns nicht nur an den von Deutschen be-
gangenen Völkermord an den Juden, sondern auch an
das Versagen der internationalen Gemeinschaft, dem
Morden in Ruanda ein Ende zu bereiten; auch darauf ist
zu Recht hingewiesen worden. Dieses – man kann das
gar nicht häufig genug betonen – Versagen der interna-
tionalen Gemeinschaft ist auch unser Versagen, ist auch
ein Versagen der deutschen Politik gewesen.

Seit dem Völkermord in Ruanda stellen wir uns in
diesem Parlament, in der deutschen Öffentlichkeit bei
Nachrichten über massive Menschenrechtsverletzungen
die Frage: Ist unsere Antwort angemessen? Der häufig
ausgesprochene, manchmal aber auch unausgesprochene
Maßstab für die Antwort ist Ruanda; in gewisser Weise
ist Ruanda somit zum Synonym für Menschheitsverbre-
chen geworden.

Wenn wir heute der Opfer gedenken, müssen wir uns
auch die Frage stellen, ob wir aus diesem gemeinschaft-
lichen Versagen die notwendigen, die richtigen Lehren
gezogen haben. Krisen betreffen häufig nicht nur ein
Land – wir haben häufig nicht mehr die klassischen
Akteure innerstaatlicher Konflikte –, Konfliktursachen
kennen oftmals keine Staatsgrenzen mehr. Das stellt uns
vor große Herausforderungen. Gerade die aktuellen Kri-
sen in Mali, in der Zentralafrikanischen Republik und im
Südsudan, die den Deutschen Bundestag und die deut-
sche Öffentlichkeit beschäftigen, machen allesamt nicht
an – manchmal aus der Kolonialzeit stammenden, will-
kürlichen – Grenzen halt, und sie können leicht über
diese Grenzen hinaus Auswirkungen haben. Unsere
Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss darauf an-
gemessen reagieren. Wir alle wissen: Das ist nicht im-
mer einfach.

Ruanda hat, auch wenn uns einige innenpolitische
Entwicklungen durchaus Sorgen bereiten, in den letzten
Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Wir ermu-
tigen die Regierung, auf diesem Wege weiterzugehen.
Ich möchte die Gelegenheit deshalb gerne nutzen, den
Generalkonsul Ruandas in Vertretung der Botschafterin
heute auf der Bühne zu begrüßen: Seien Sie uns herzlich
willkommen!


(Beifall)


Der Genozid in Ruanda hat in der Zwischenzeit sehr
konkrete politische, aber auch völkerrechtliche Konse-
quenzen ausgelöst. So wurde die sogenannte Schutzver-





Niels Annen


(A) (C)



(D)(B)

antwortung als Kategorie des Völkerrechts entwickelt.
Das ist ein Fortschritt, weil Staaten, die massive Men-
schenrechtsverletzungen zu verantworten haben, sich
nicht mehr hinter der nationalen Souveränität verstecken
können. Natürlich ist auch diese Norm nicht perfekt, und
die Diskussion über den Einsatz der NATO in Libyen
zeigt uns, wie schmal der Grat zwischen berechtigtem
– auch militärischem – Eingreifen auf der einen und der
Überinterpretation eines auf der Schutzverantwortung
basierenden Mandates der Vereinten Nationen auf der
anderen Seite ist.

Gerade deshalb sei hier ausdrücklich daran erinnert:
Die eigentliche Bedeutung der Schutzverantwortung
liegt in der Verpflichtung, Staaten in die Lage zu verset-
zen, Massengewalttaten im Vorfeld solcher Ereignisse zu
verhindern. Ich halte es für eine zentrale Aufgabe der
deutschen Politik, diese Fähigkeiten aufzubauen und da-
bei mit den afrikanischen Staaten und der Afrikanischen
Union zusammenzuarbeiten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen möchte
ich dem Bundesaußenminister dafür danken, dass er aus-
drücklich darauf hingewiesen hat, wie wichtig diese Ko-
operation mit den afrikanischen Staaten ist. Ich will das
hier einmal vielleicht auch etwas salopp formulieren: In
der Wahrnehmung der deutschen Politik, aber auch in
der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit wird
Afrika manchmal wie ein Land behandelt, und dabei
vergessen wir, wie unterschiedlich die Entwicklungen in
Afrika sind. Wir müssen die positiven Entwicklungen
unterstützen, und ich glaube, dazu können wir als Parla-
mentarier beitragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Heute – und das ist ein Fortschritt – herrscht ein weit-
gehender Konsens darüber, dass die Staatengemein-
schaft in Ruanda versagt hat. Der ehemalige amerikani-
sche Präsident Bill Clinton, der sein Wegschauen in
Ruanda als das schwerste Versäumnis seines Lebens be-
zeichnet hat, hat in einer Rede in Kigali Folgendes for-
muliert – ich zitiere –: Wir haben nicht schnell genug re-
agiert, die Verbrechen nicht das genannt, was sie waren:
ein Genozid. Wir können die Vergangenheit nicht än-
dern, aber alles in unserer Macht Stehende tun, um eine
Zukunft ohne Angst, aber voller Hoffnung zu bauen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bleibt auch wei-
terhin unsere Aufgabe.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802700800

Wolfgang Gehrcke hat nun das Wort für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802700900

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Es bleibt natürlich die Fassungslosig-
keit über das, was in Ruanda passiert ist. Ich finde, das
können der menschliche Verstand und erst recht die
menschliche Seele nicht aufnehmen und verarbeiten. Ich
wünsche mir sehr, dass diese Fassungslosigkeit frak-
tionsübergreifend alle Mitglieder dieses Parlamentes be-
wegt.

Vielleicht können wir eines tun, nämlich zu gleichen
Fragen kommen. Ob wir dann auch zu gleichen Antwor-
ten kommen, weiß ich nicht. Ich möchte Ihnen aber an-
bieten, dass wir über gleiche Fragen an gleichen Ant-
worten arbeiten. Ich biete Ihnen also meine Fragen an
und bitte Sie, mit darüber nachzudenken.

Meine erste Frage lautet natürlich: Was kann Men-
schen dazu bringen, andere Menschen in einer kollekti-
ven Raserei umzubringen? Brecht hat das einmal so for-
muliert: Welche Kälte muss über Menschen gekommen
sein, um so etwas vollbringen zu können? – Auf diese
Frage suche ich eine Antwort: Was kann Menschen dazu
bringen?

Ich blicke dabei nicht nur auf Ruanda, und ich sage
das schon gar nicht in Verbindung mit Afrika. Wir kön-
nen hier auch auf die Killing Fields in Kambodscha
blicken, und wir können blicken auf die Geschichte un-
seres eigenen Landes. Ich fand es sehr in Ordnung, dass
der Außenminister auch angesprochen hat, dass wir von
Deutschland als von einem Land reden, das industriell,
massenhaft, Menschen ermordet hat. Wir kommen also
auch aus einer Tradition der Schuld.

Meine nächste Frage lautet: Was kann man dafür tun,
dass Menschen so immun gemacht werden, dass sie
nicht gegen andere Menschen aufgehetzt werden kön-
nen? Das ist doch eine Frage, die wir weltweit beantwor-
ten müssen.

Ich suche eine Antwort darauf, dass solche Aufhet-
zungen wie in Ruanda nicht vom Himmel fallen, son-
dern Ursachen haben. Wenn man Bevölkerungsteile auf-
einander hetzt, hat das zuletzt und am wenigsten
ethnische und religiöse, sondern auch konkrete ökono-
mische und politische Ursachen.

Ich möchte gerne, dass wir Anstrengungen dafür un-
ternehmen, Ausgleichsformen zu finden, und ein staatli-
ches Gewaltmonopol entwickeln, das tatsächlich an
Recht, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit gebunden
ist.

Wir können, wenn wir über Ruanda diskutieren, nicht
von uns weisen, auch über koloniale Geschichte zu re-
den. Ich möchte den Außenminister und auch die Bun-
desregierung sehr bitten: Wenn Sie von einer neuen
Afrika-Konzeption sprechen, die dringend notwendig
ist, dann lassen Sie uns auch darüber reden, dass sich die
europäischen Staaten, auch Deutschland, gegenüber der
Bevölkerung in vielen Ländern Afrikas schuldig ge-
macht haben.


(Beifall bei der LINKEN)






Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

Nur wenn wir unsere Schuld eingestehen, wird eine neue
Konzeption überhaupt möglich werden. Darüber sollten
wir gemeinsam nachdenken, gerade vor dem Hinter-
grund dessen, was heute in vielen Teilen Afrikas pas-
siert.

Wir sollten auch darüber nachdenken, dass soziale
Konflikte durch Landknappheit, Landraub, Land-Grab-
bing und durch Wasserknappheit verstärkt werden
– Landknappheit und Wasserknappheit sind die ökono-
mischen Ursachen von Kriegen der Gegenwart und auch
der Zukunft –, dass Konflikte durch Spekulationen auf
Preise verstärkt werden, durch die Zerstörung gewachse-
ner Strukturen, durch die Verführung von Elitekonzep-
tionen und auch durch sprachliche Spaltung. Kann man
nicht, wenn wir aus Ruanda lernen wollen, eine Afrika-
Politik entwickeln, die sich ganz klar gegen Land- und
Wasserraub ausspricht, gegen die Fortsetzung des Kolo-
nialismus mit ökonomischen Mitteln? Darauf müssen
wir Antworten geben.

Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
Konflikte nicht vom Himmel fallen. Es ist immer ko-
misch, wenn es heißt, irgendetwas sei plötzlich eingetre-
ten. Nichts tritt plötzlich ein; Konflikte werden vorberei-
tet und geschürt. Ruanda hat eine halbe Million
Macheten im Ausland gekauft. Hat sich niemand die
Frage gestellt, wozu man eine halbe Million Macheten
kauft? Vielleicht sind wir, was Ruanda angeht, über das
Archaische des Völkermordes erschrocken. Ich frage
mich selbst und auch uns: Was ist mit Kleinwaffen? Sind
die Kleinwaffen nicht die moderne Form der Macheten?


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Müssen wir nicht zumindest zu einer Initiative „Schluss
mit dem Handel und dem Profit durch den weltweiten
Verkauf von Kleinwaffen“ kommen? Diese Fragen rich-
ten sich an uns selbst. Muss man nicht zusammen und
öffentlich der Propaganda nachgehen und Propaganda
sofort aufgreifen, wo sie rassistisch ist oder zum Rassis-
mus führt, auch in Europa, auch im eigenen Land? Das
müssen die Schlussfolgerungen sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Kofi Annan hat nach dem Völkermord gesagt: „Der
Grund für das Scheitern von Ruanda war fehlender poli-
tische Wille.“ – Bringen wir einen wirklichen Willen zur
Gleichberechtigung auf, politisch und ökonomisch, da-
mit so etwas nicht wieder eintritt!

Ich möchte zum Schluss noch ganz knapp einige
Punkte ansprechen, die mir sehr am Herzen liegen.
Wenn wir über Völkermord sprechen, müssen wir dann
nicht zugleich auch darüber reden, dass jeden Tag welt-
weit 57 000 Menschen verhungern? Auch das ist eine
Form von Völkermord, die wir bekämpfen müssen.
Müssen wir nicht darüber reden, dass im Mittelmeer
19 000 Menschen ertrunken sind, Menschen, die gehofft
hatten, in Europa ein besseres Leben zu finden? Ist nicht
auch das ein Teil der Verantwortung, die wir wahrneh-
men müssen? Ich finde, das ist unsere Verantwortung.
Indem wir solche Fragen aufwerfen, finden wir einen
neuen Weg zu den afrikanischen Ländern. Indem wir un-
sere Schuld anerkennen, können wir die Schuld anderer
besser benennen. Diese Botschaft wollte ich Ihnen von
dieser Stelle aus überbringen. Lassen Sie uns zumindest
gemeinsame Fragen stellen! Über die Antworten kann
man dann streiten.

Ich hätte gerne an diesem fraktionsübergreifenden
Antrag mitgearbeitet. Das Verhalten, diese Kleinkariert-
heit, dass man im Zusammenhang mit einem Völker-
mord die Linke ausgrenzt und sie daran hindert, an ei-
nem solchen Antrag mitzuarbeiten und ihre Fragen
einzubringen, muss sich hier in diesem Hause ändern.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802701000

Andreas Nick erhält nun das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Andreas Nick (CDU):
Rede ID: ID1802701100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit un-
seren Familien umgebracht werden.“ So steht es in ei-
nem am 15. April 1994 in Mugonero geschriebenen
Brief. Das Zitat ist auch Titel eines Buches mit Berichten
über das unvorstellbare Grauen des Völkermords in
Ruanda.

Wir gedenken heute der Opfer. Von April bis Juli
1994 verloren in Ruanda mehr als 800 000 Menschen ihr
Leben durch unvorstellbare Gewalttaten, die das maleri-
sche Land der tausend Hügel in ein Meer von Blut und
Tränen verwandelten. In knapp 100 Tagen töteten Ange-
hörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der im Land
lebenden Tutsi-Minderheit ebenso wie moderate Hutus,
die sich dem Völkermord widersetzten. Wir ehren des-
halb heute auch die Bemühungen derjenigen Ruander,
die sich oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens für die
Rettung von Frauen, Männern und Kindern eingesetzt
haben, zum Beispiel der über 1 200 in das Hôtel des
Mille Collines in Kigali geflohenen Menschen, an deren
Rettung der preisgekrönte Film Hotel Ruanda erinnert.

Die Ereignisse in Ruanda waren keineswegs – darin
sind sich die meisten Beobachter heute einig – ein hefti-
ger Ausbruch uralter „Stammesfehden“ zwischen Hutu
und Tutsi, traditionellen Ackerbauern und Viehzüchtern.
Sie tragen vielmehr zahlreiche Merkmale eines systema-
tischen und geplanten Völkermords als Teil eines bruta-
len Machtkampfs, bei dem nicht zuletzt – das wurde
schon angesprochen – der Einsatz von Radiosendern als
„Hassmedien“ zur Aufstachelung der Gewalt eine wich-
tige Rolle spielte.

In seinem Buch Handschlag mit dem Teufel – Die
Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in
Ruanda schreibt der kanadische General Roméo
Dallaire:





Dr. Andreas Nick


(A) (C)



(D)(B)

Ich habe in Ruanda dem Teufel die Hand geschüt-
telt. Ich habe ihn gesehen, gerochen und berührt.

Er ist an dieser Erfahrung fast zerbrochen. Als Komman-
deur der in Ruanda stationierten Blauhelmtruppen
musste er ertragen, dass ihm trotz seiner eindringlichen
Berichte seitens der Weltgemeinschaft die benötigte
Hilfe verweigert wurde, um den Völkermord zu stoppen.
Wir bedauern daher auch nachdrücklich die wenig ent-
schiedene Rolle der internationalen Gemeinschaft, die
trotz vielfältiger Informationen über das mörderische
Handeln vor Ort nicht ausreichend versucht hat, diese
Gräuel zu beenden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein Völkermord wie der in Ruanda ist teuflisch; aber
er ist kein Werk des Teufels, sondern er wird von Men-
schen an Menschen begangen. Wir Europäer, wir Deut-
schen zumal, haben an dieser Stelle mit Blick auf unsere
eigene Geschichte wahrlich keinen Anlass zu Hochmut
gegenüber den Menschen in Afrika. Die Ortsnamen
Auschwitz und Srebrenica sind dafür Mahnung genug.

Fassungslos stehen wir aber immer wieder vor diesen
Ereignissen und fragen: Wie ist das möglich? Wie kön-
nen Menschen sich derart entmenschlichen, dass sie zu
solchen Taten fähig werden? Die Entmenschlichung
steht dabei nicht am Ende, sondern bereits am Anfang,
nämlich die Entmenschlichung des anderen in den Au-
gen der späteren Täter als entscheidender Schritt auf
dem Weg zur eigenen Entmenschlichung, die derartige
Verbrechen erst möglich macht. Das Gegenüber wird re-
duziert auf seine vermeintliche Zugehörigkeit zu einer
andersartigen Gruppe; ein einzelnes seiner vielen Identi-
tätsmerkmale wird verabsolutiert, sei es die Sprache, das
religiöse Bekenntnis, die ethnische Herkunft oder der so-
ziale Status. Wenn der andere Mensch aber nicht mehr
als in seinem Menschsein gleich und gleichwertig ange-
sehen wird, dann ist eine ganz wesentliche Hemm-
schwelle zur Entmenschlichung der Täter gefallen.

Die Philosophin Hannah Arendt hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass Völkermord – anders als es sich in ei-
ner wenig treffsicheren deutschen Übersetzung einge-
bürgert hat – im Kern nicht ein „Verbrechen gegen die
Menschlichkeit“ ist, sondern ein „Verbrechen gegen die
Menschheit“. Genau deshalb kann sich die Völkerge-
meinschaft ihrer Verantwortung nicht entziehen, wie sie
es 1994 in Ruanda viel zu lange getan hat. Denn erst bei
der Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda wurde die
UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des
Völkermordes aus dem Jahre 1948 erstmals praktisch
angewendet: Im November 1994 wurde der Internatio-
nale Strafgerichtshof für Ruanda eingesetzt. Mit rund
60 Verurteilungen vor allem der Drahtzieher – hochran-
gige Politiker, Offiziere, Amtsträger und Journalisten –
hat das sogenannte Arusha-Tribunal durchaus Maßstäbe
gesetzt: Erstmals wurde ein Regierungschef wegen Völ-
kermord verurteilt, und auch die Rolle der sogenannten
Hassmedien wurde juristisch aufgearbeitet.

In Reaktion auf das Versagen der internationalen Ge-
meinschaft in Ruanda wurde das Konzept der Schutzver-
antwortung, der Responsibility to Protect, entwickelt
und 2005 von den Vereinten Nationen verabschiedet
– Kollege Mißfelder ist darauf schon ausführlich einge-
gangen –: Schutz vor Kriegsverbrechen, ethnischen Säu-
berungen und anderen Menschheitsverbrechen. Dabei
geht es um eine dreifache Verpflichtung der Staatenge-
meinschaft: zur Prävention, zur Reaktion und zum Wie-
deraufbau.

Wo steht Ruanda heute? Mehr als drei Viertel der Ru-
ander sind jünger als 36 Jahre, viele haben im Völker-
mord ihre Eltern verloren und sind als Waisen aufge-
wachsen. Neben der Aufarbeitung durch die nationalen
Gerichte haben bis 2012 etwa 200 000 Laienrichter in
den wiederbelebten traditionellen Gacaca-Gerichten am
Prozess von Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Ver-
söhnung mitgewirkt. Die Bezugnahme auf ethnische
Identitäten als Hutu oder Tutsi ist heute verboten. Bei al-
len noch bestehenden Problemen, auch in der Festigung
demokratischer Strukturen und umfassender bürgerli-
cher Rechte: Ein Mitte der 90er-Jahre als kaum lebensfä-
hig erachtetes Land gilt heute in vielen Bereichen als Er-
folgsgeschichte, als eines der sichersten und am
wenigsten korrupten Länder Afrikas. Mit einem wirt-
schaftlichen Wachstum von jährlich 7 bis 8 Prozent ist
Ruanda auf gutem Wege, die meisten Millenniumsziele
der Vereinten Nationen zu erreichen.

Wir unterstützen die erfolgreichen Ansätze zur wirt-
schaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung in Ru-
anda in vielfältiger Weise. Viele Menschen in meiner
Heimat Rheinland-Pfalz haben dabei eine ganz beson-
dere und persönliche Beziehung zum Land der tausend
Hügel; denn auf Initiative des damaligen Ministerpräsi-
denten Bernhard Vogel ist Ruanda seit 1982 das Partner-
land von Rheinland-Pfalz. Es ist eine Partnerschaft, die
trotz aller Verwerfungen den Genozid 1994 nicht nur
überlebt, sondern sich bis heute als eines der wirksams-
ten und beständigsten Hilfsprogramme in Ruanda
erwiesen hat. Es ist eine beispielhafte Graswurzelpart-
nerschaft, auf Augenhöhe, mit breitem zivilgesellschaft-
lichem Engagement und konkreten Projekten:
250 Schulpartnerschaften, 50 Initiativgruppen und mehr
als 1 000 erfolgreich umgesetzte Kleinprojekte sind eine
eindrucksvolle Bilanz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich kurz nur wenige Beispiele aus mei-
nem Wahlkreis nennen. Die Gemeinde Holzheim ist mit
930 Einwohnern die kleinste Gemeinde in Rheinland-
Pfalz, die seit 1988 eine kommunale Partnerschaft in
Ruanda unterhält. Aus Veranstaltungserlösen und priva-
ten Spenden sind in dieser Zeit über 300 000 Euro pro-
jektbezogen nach Ruanda geflossen, für Wasser- und
Stromversorgung, eine Primarschule und eine Gesund-
heitsstation. – Die Kreishandwerkerschaft Rhein-Wes-
terwald hat vor kurzem ein Schulbauprojekt für 300 Kin-
der finanziert. Die Wirtschaftsjunioren Westerwald-
Lahn sammeln, ebenfalls unter dem Dach der Stiftung
„fly and help“, derzeit für ein vergleichbares Projekt. –
Der Verein „Hilfe für Ruanda aus Hachenburg e. V.“
engagiert sich seit 2005 in vielfältigen Projekten vor al-





Dr. Andreas Nick


(A) (C)



(D)(B)

lem im medizinischen Bereich, bei Bildung und Land-
wirtschaft.

Was diese Partnerschaft so wertvoll macht, ist, neben
ihrer Nachhaltigkeit, der unmittelbare Bezug und die
Vielzahl der persönlichen Begegnungen zwischen Men-
schen aus Ruanda und Rheinland-Pfalz. Alle Besucher
berichten von der Freude und der Dankbarkeit und von
strahlenden Kinderaugen, die sie in der Begegnung mit
den Menschen in Ruanda erleben durften und die sie als
große persönliche Bereicherung empfinden. „Wir sind
nach dieser Reise andere Menschen als vorher“ – so be-
schrieb kürzlich ein Reisender seine Erfahrung.

Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat vor ei-
nigen Tagen gesagt:

Was wir für die deutsch-afrikanischen Beziehungen
brauchen, ist eine neue Bescheidenheit in unserer
Haltung und eine neue Leidenschaft in unserem
Handeln.

Die heutige Erinnerung an den Völkermord in Ruanda
vor 20 Jahren gibt dazu allen Anlass und die Partner-
schaft von Rheinland-Pfalz mit Ruanda ein gutes Bei-
spiel.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802701200

Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Gabriela

Heinrich für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1802701300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und

Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Über 800 000
Menschen mussten in Ruanda sterben. Sie starben, weil
die internationale Gemeinschaft weggeschaut hat. Unser
fraktionsübergreifender Antrag ist ein Signal, dass wir
uns gegen das Wegschauen und gleichzeitig für Versöh-
nung aussprechen. Worin bestand das Wegschauen der
internationalen Staatengemeinschaft vor 20 Jahren? Die
Friedenstruppe UNAMIR wurde verkleinert statt vergrö-
ßert, als der Genozid schon in vollem Gang war. War-
nungen im Vorfeld wurden nicht ernst genommen. Die
Welt tat den Völkermord als Stammeskrieg ab. Dieses
Versagen der internationalen Staatengemeinschaft darf
sich niemals wiederholen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit unserem Antrag bauen wir auf dem Konzept der
Schutzverantwortung auf. Diese Norm der Vereinten Na-
tionen ist eine Folge des Völkermords in Ruanda. Wenn
Staaten nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihre
Bevölkerung zu schützen, muss die internationale Staa-
tengemeinschaft reagieren und diese Verantwortung
übernehmen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn
Menschen massenhaft ermordet werden oder ethnischen
Säuberungen ausgesetzt sind. Ganz wichtig ist – der
Kollege Niels Annen hat das bereits beschrieben –: Re-
agieren ist nur eine Seite der Schutzverantwortung. Die
internationale Gemeinschaft muss Staaten auch ermuti-
gen, den Schutz der Bevölkerung selbst zu übernehmen,
und Staaten müssen überhaupt erst in die Lage versetzt
werden, dies zu leisten.

Meine Hochachtung gilt dem Bemühen Ruandas, Sta-
bilität und Staatlichkeit wiederherzustellen. Versöhnung
ist die Grundlage von Stabilität, und Stabilität ist die
Grundlage dafür, dass sich Ruanda weiterentwickelt,
wirtschaftlich und als Demokratie. Dazu gehören dann
auch Pressefreiheit, Meinungs- und Versammlungsfrei-
heit sowie das Zulassen von Opposition. All das ist nicht
einfach in einem Land, in dem vor 20 Jahren ein Geno-
zid stattfand und die Menschen noch viel miteinander re-
den müssen, um voranzukommen.

Der Antrag erkennt die Bemühungen um Aufarbei-
tung und Versöhnung in Ruanda ausdrücklich an. Grund-
lage dafür ist, die Täter zu bestrafen und alles dafür zu
tun, dass sich Glutnester des Konflikts nicht wieder ent-
zünden. Wir müssen uns Folgendes vor Augen führen:
Heute leben in Ruanda die Täter von damals neben den
Opfern und deren Angehörigen. Am 20. Jahrestag des
Völkermords werden unsägliche Albträume wiederkeh-
ren, Albträume, die von abgehackten Gliedmaßen han-
deln, von Macheten und von Vergewaltigung. Meine
Hochachtung gebührt daher den Menschen in Ruanda.
Sie sind bereit, sich zu versöhnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vergewaltigung als Kriegshandlung zu beschreiben
und aufzuarbeiten, ist ein Tabuthema – nicht nur in
Ruanda –, das es zu brechen gilt. Mir ist das wichtig;
denn in Ruanda wurden unzählige Frauen vielfach brutal
vergewaltigt. Viele unter ihnen mussten vorher die Er-
mordung ihrer Familien mit ansehen. Viele wurden
schwanger. Viele wurden mit HIV infiziert. Sie wurden
schwanger mit Kindern, die sie nicht lieben konnten,
traumatisierte Kinder und traumatisierte Mütter, Kinder,
die nicht geliebt und die verstoßen wurden. So etwas
kann einer der teuflischsten Kreisläufe werden, die
denkbar sind. Deswegen ist es so wichtig, dass unser An-
trag Ruanda ermutigt, sich noch mehr zu kümmern, sich
noch mehr zu kümmern, Tabus aufzuheben und den
Traumata zu begegnen. Das ist auch der Punkt, wo wir
weiter unterstützen müssen und unterstützen können.
Ein Beispiel dafür ist der Zivile Friedensdienst. Er unter-
stützt die Reintegration von Flüchtlingen und die Frie-
densarbeit in der Region Große Seen. Er kümmert sich
auch um traumatisierte Menschen, insbesondere um von
Gewalt betroffene Frauen.

Ruanda ist bei allen Fortschritten noch immer ein sehr
armes Land. Aber es gibt auch Erfolge, auf denen wir
weiter aufbauen sollten. So hat Ruanda zum Beispiel
eine Krankenversicherung. Rund 90 Prozent der Men-
schen sind krankenversichert. Das wurde von der GIZ
und mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit unter-
stützt. Die unzähligen Projekte von Rheinland-Pfalz





Gabriela Heinrich


(A) (C)



(D)(B)

wurden bereits beschrieben. Auch hier wird Ruanda in
seiner Entwicklung unterstützt. Es sind Partnerschaften
und Projekte wie diese, mit denen wir unterstützen, dass
der Versöhnungsprozess fortgeführt wird. Mit unserem
Antrag wollen wir solche Projekte stärken und setzen da-
mit auf Prävention.

Meine Damen und Herren, die historische Verantwor-
tung Deutschlands gegenüber Ruanda ist älter als
20 Jahre; das wurde bereits erwähnt. Meine afrikani-
schen Freunde weisen mich immer wieder darauf hin,
dass das Deutsche Reich und Belgien als Kolonial-
mächte beteiligt waren, die Menschen künstlich in Hutu
und Tutsi einzuteilen. Eine rassistische Politik setzte die
Tutsi als Elite des Landes fest. Dadurch bildete sich der
Gegensatz dieser Völkergruppen erst richtig heraus und
dies, obwohl die Menschen die gleiche Sprache spre-
chen.

Es ist ein wichtiges Ziel der ruandischen Regierung,
diese Einteilung wieder aufzuheben. Es gehört zur Ver-
söhnung, diesen Gegensatz aufzulösen. Versöhnung ist
möglich. Wer könnte das besser verstehen als wir Deut-
sche, die wir uns mit ganz Europa versöhnen mussten?

Ruanda muss für uns eine Warnung sein, nicht weg-
zuschauen und unsere Verantwortung wahrzunehmen.
Das bedeutet die Prävention von Konflikten und Men-
schenrechtsverletzungen. Das bedeutet aber auch Wie-
deraufbau und Versöhnung. Letzteres ist für Ruanda die
beste Prävention.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802701400

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin

Dagmar Wöhrl das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1802701500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist heute Morgen schon viel von internationaler Verant-
wortung damals und heute gesprochen worden. Ich
möchte Ihnen zunächst einmal zwei Zitate vorlesen. Ers-
tes Zitat:

Am Abend zuvor spielten meine Kinder mit den
Nachbarskindern, mein Mann unterhielt sich mit ih-
rem Vater und ich kochte … das Abendessen. Am
Tag darauf kamen sie und töteten meine Familie.
Man sagt mir nun, ich solle nach vorne schauen.
Mein Mann und meine Kinder wurden ermordet.
Wie kann ich also verzeihen?

Zweites Zitat:

Als sie unsere Stadt einnahmen, haben sie zuerst
meinen Vater erschossen. Als sie dann wieder zu
unserem Haus kamen, wollten sie die angeblich
versteckten Waffen bei uns mitnehmen. Meine
Mutter und meine Schwester sagten ihnen, dass wir
keine Waffen im Hause hätten. Als ich wieder nach
Hause kam, fand ich sie beide tot auf dem Fußbo-
den. Ich bin nun ganz alleine.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, erkennen Sie einen
Unterschied? Das erste Zitat ist 20 Jahre alt, das zweite
nur ein paar Monate. Das erste stammt aus Ruanda, das
zweite aus der Zentralafrikanischen Republik. Das stellt
uns vor die Frage, wie es heute mit unserer internationa-
len Schutzverantwortung steht, zumindest gegen die
schlimmsten Verbrechen: Völkermord und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit.

Wir haben es gehört: Zwischen dem 6. April und dem
17. Juli 1994 wurden in Ruanda über 800 000 Menschen
ermordet – kaltblütig, systematisch, grausam –, das
heißt, fast 10 Prozent der Bevölkerung. Mit anderen
Worten: mindestens 8 000 Menschen am Tag, in der Mi-
nute fünf Tote. Eine mediale Hetzkampagne im Land
stachelte die Mörder zusätzlich an. Radiosender melde-
ten: Das Grab ist nur halb voll. Wer hilft uns, es zu fül-
len? – Nur eine halbe Stunde nach dem Abschuss des
Flugzeuges des Präsidenten wurden die ersten Tutsi und
Oppositionspolitiker ermordet. Es war ein organisierter
Völkermord. Es war kein Bürgerkrieg. Es war auch kein
Stammeskrieg, wie die Weltpresse damals einfältig ti-
telte. Es war vorbereitet. Hutu-Milizen hatten vorberei-
tete Listen mit Namen und Adressen von allen Tutsis.
Wochen vorher wurden über 100 000 Macheten aus
China bestellt. Das hätten Warnungen sein sollen.

Wer Ruanda kennt, liebe Kolleginnen und Kollegen,
weiß, dass Ruanda ein kleines Land ist. Es ist das am
dichtesten bevölkerte Land in ganz Afrika: 432 Einwoh-
ner pro Quadratkilometer. Es gab einen Verteilungs-
kampf um knappe Ressourcen.

Es war ein ethnischer Konflikt, der seit Generationen
brodelte und dann zum Ausbruch kam. Es gab nur ein
Ziel. Das einzige Ziel war, die Minderheit der Tutsis
vollständig auszurotten. Während in Ruanda blindwütig
gemordet wurde – dies wurde angesprochen –, hat die
internationale Gemeinschaft versagt: die Vereinten Na-
tionen, der Westen, die afrikanischen Bruderstaaten und
die Weltpresse. Es fehlte der Mut, international Verant-
wortung zu übernehmen, der Mut, die Situation zu ver-
stehen, der Mut einzugreifen und der Mut, gegen die
Instrumentalisierung von Glaube und Ethnien vorzuge-
hen. Durch eine ehrliche Analyse damals wären wir ge-
zwungen gewesen, einzugreifen. Mut hatte damals nie-
mand außer einigen Ruandern, die unter Einsatz ihres
Lebens versucht haben, ihren Brüdern und ihren
Schwestern zu helfen und sie vor den Mordlustigen zu
verstecken, so wie der Direktor des Hôtel des Mille
Collines in Kigali, der mehr als 1 000 Menschen gerettet
hat.

Haben wir aus dem Versagen damals Lehren gezo-
gen? – Es hat sich das Rechtsinstitut der Schutzverant-
wortung entwickelt. Der Internationale Strafgerichtshof
für Ruanda wurde eingerichtet; heute nimmt der Interna-
tionale Strafgerichtshof in Den Haag über seine Recht-
sprechung Einfluss. Es ist das erste Mal, dass die Straflo-
sigkeit für schwerwiegende Verbrechen politischer
Amtsträger beendet wurde. Es ist das erste Mal, dass
Vergewaltigung als Begehungsform des Völkermordes





Dagmar G. Wöhrl


(A) (C)



(D)(B)

vor Gericht anerkannt worden ist. Die Vereinten Natio-
nen haben sich bei den Friedensmissionen einen neuen
strategischen Ansatz gegeben, nämlich dass die zentra-
len Aufgaben der Schutz der Zivilbevölkerung, der
Schutz der Menschenrechte sind und dass ein robustes
Mandat, nicht nur eines zur Selbstverteidigung, notwen-
dig sein kann.

Inzwischen sind 20 Jahre vergangen. Ruanda wird als
Musterland dargestellt mit Wachstumsraten von 8 Pro-
zent. Die Weltbank hat Ruanda letztes Jahr als unterneh-
merfreundlichstes Land ganz Afrikas bezeichnet. Der
Wiederaufbau schreitet voran, auch dank internationaler
Unterstützung, auch dank deutscher Unterstützung im
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Ruanda
übernimmt international Verantwortung. Ruanda ist zu
einem verlässlichen Partner bei Friedensmissionen auf
dem afrikanischen Kontinent geworden. Allein 850 Sol-
daten aus Ruanda sind an MISCA beteiligt, der Mission
in der Zentralafrikanischen Republik, auch aufgrund der
eigenen schmerzlichen und leidvollen Erfahrungen.

Es besteht Nachholbedarf; das ist klar. In den Berei-
chen Meinungsfreiheit und politische Teilhabe ist noch
viel zu tun. Trotz vieler Fortschritte ist – das ist uns be-
wusst – ein nachhaltiger innerer Friede noch nicht gege-
ben. Die Unterscheidung zwischen Hutus und Tutsis ist
präsent, auch wenn die Verfassung heute eine Unter-
scheidung verbietet. Es gibt noch viele traumatisierte
Täter und Opfer. Zur Versöhnung wurden die Gacaca-
Gerichte eingerichtet, an denen bis 2012 2 Millionen
Fälle verhandelt wurden. Aber kann sich ein Täter mit
dem Opfer versöhnen, das er vergewaltigt und gefoltert
hat, dessen Familie er ermordet hat? Opfer und Täter le-
ben notgedrungen noch heute Tür an Tür. Man versucht
zu verdrängen; vergessen wird man kaum können.

Wir versuchen, die Menschen bei der Versöhnung zu
unterstützen. Dies tun wir mit unserem Zivilen Friedens-
dienst und mit der GIZ, die gemeinsam mit dem Dach-
verband IBUKA die Überlebenden des Genozids bei
dem Versöhnungsprozess in den Dörfern unterstützt.
Dieser Tage gedenken Millionen Ruander ihrer verstor-
benen Familienmitglieder. Der Verlust ist jedoch nicht
mehr gutzumachen.

Aber auch heute, liebe Kolleginnen und Kollegen,
werden Menschen getötet, leben noch immer viele Men-
schen in Gefahr vor Folter und Vergewaltigung. Ich
denke an Syrien mit inzwischen über 150 000 Toten. Ich
denke an den Südsudan. Ich denke an die Zentralafrika-
nische Republik, in der ein blutiger Konflikt zwischen
Moslems und Christen stattfindet und ein Versöhnungs-
prozess in weiter Ferne ist. Er hat noch nicht einmal be-
gonnen. Das Morden geht weiter. Wie müssen wir, wie
muss eine verantwortungsbewusste Weltgemeinschaft
darauf reagieren?

Der Genozid hat die Weltbevölkerung aufgeschreckt.
Es ist gut, dass wir heute diese Debatte führen. Vor
20 Jahren haben wir sie nicht geführt. Das war ein ganz
großer Fehler. Wir haben die Verantwortung, Menschen
weltweit zu schützen, denen Mord und Vergewaltigung
droht. Wir wissen aber auch, dass der Einfluss, auf natio-
nale Konflikte zu reagieren, oft begrenzt ist. Ein Engage-
ment kann gefährlich sein. Das Leben unserer Soldaten
kann auf dem Spiel stehen. Verantwortung zu überneh-
men heißt nicht, dass wir uns künftig überall militärisch
engagieren müssen. Verantwortung zu übernehmen heißt
vielmehr, sich nach Kräften und Möglichkeiten inner-
halb der Europäischen Union und innerhalb der Verein-
ten Nationen zu engagieren, zu vermitteln, präventiv tä-
tig zu werden, um gemeinsam Gräueltaten frühzeitig zu
verhindern.

Die Weltgemeinschaft muss lernen, öfter mit einer
Stimme zu sprechen; denn nur dann schaffen wir es,
Konflikte auch helfend mit zu beseitigen. Wir müssen
das Konzept der Schutzverantwortung mit unseren Part-
nern noch konkreter ausgestalten und die Entwicklung
eigener afrikanischer Instrumente zur Krisenprävention
unterstützen. Wir versuchen, im Rahmen unserer Mög-
lichkeiten, auch im Rahmen der Entwicklungszusam-
menarbeit, Einfluss zu nehmen, frühzeitig gezielte ent-
wicklungspolitische und präventive Maßnahmen zu
ergreifen, damit unsere Partnerländer sich selbst helfen
können, um wirtschaftliche Stabilität, politische Teil-
habe und langfristigen Frieden für sich zu erreichen.

Ruanda ist seit 2000 ein Schwerpunktland der bilate-
ralen Zusammenarbeit. Wir wissen, dass unser Antrag
heute auch zeigt: Wir müssen und werden uns weiterhin
für die Stärkung der Demokratie und der Menschen-
rechte als Grundlage des Friedens in Ruanda einsetzen.
Wir werden Ruanda weiterhin beim Aufbau einer star-
ken Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien unter-
stützen. Wir haben die Verpflichtung – die Opfer, die Er-
mordeten verpflichten uns –, Menschen in anderen
Ländern, die von Gräueltaten bedroht sind oder an denen
Gräueltaten verübt werden, zu helfen. Es müssen noch
viele mutige Schritte getan werden, bis wir wirklich und
ehrlich von einer internationalen Verantwortung spre-
chen können.

Wir gedenken heute zusammen mit den Ruandern ih-
rer Opfer, zu denen auch viele unschuldige Hutus gehö-
ren – auch das muss man erwähnen –, die versucht ha-
ben, Unterstützung zu leisten. Ich glaube, wir alle
gemeinsam hier im Hause können zusichern, dass wir sie
auf dem Weg zu Stabilität und langfristigem Frieden
auch weiterhin begleiten werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802701600

Frank Heinrich hat nun das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion


(Beifall bei der CDU/CSU)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1802701700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Gedenken, Versöhnung, Aufarbeitung: Ich
denke, auch Geschichte schreiben sollte im Mittelpunkt
stehen, Geschichte schreiben über das, was wir in den





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

letzten 20 Jahren in diesem Land schon erlebt haben und
was nicht mit dem heutigen Gedenken aufhört.

Ich möchte drei Menschen aus dem Buch La Stratégie
des antilopes, Die Strategie der Antilopen, des Franzo-
sen Jean Hatzfeld über diese Zeit vor 20 Jahren zu Wort
kommen lassen.

Cassius war 1994 sieben Jahre alt. An die Taten hat er
nur vier klare Erinnerungen:

Meine Mutter, die vor meinen Augen geköpft
wurde, bevor ich an der Reihe sein sollte. Das Eisen
der Machete über meinem Kopf. Das Versteck aus
Blättern im Wald, in dem ich tagelang hockte. Die
faulende Wunde in meinem Kopf, sodass ich mich
heute noch an der Stelle kratze, an der die Insekten
früher in meinem Kopf fraßen.

Ignace Rukiramacumu:

Das Vertrauen neu zu finden, interethnisch zu heira-
ten, das ist wohl im Eimer. Aber etwas zusammen
trinken, sich Kühe schenken, einander auf dem
Acker zu helfen, das hängt vom Charakter eines je-
den Einzelnen ab. … Es ist der Verlust, der das
tiefste Innere zerstört und der verhindert, zu verges-
sen. Die Versöhnung ist eine Pflicht der Menschen
in Ruanda, die keinen anderen Acker als ihr kleines
Land haben. Sie wird quälend sein, aber sie wird
gelingen, auch weil die Behörden gerecht mit bei-
den Lagern sind, indem sie alle dazu bringen, sich
als gleich zu akzeptieren.

Sylvie Umubyeyi:

Früher war ich viel zu sehr von Angst geprägt.
Wenn ich einen der Mörder sehen würde, müsste
ich an meine verschwundenen Eltern, an alles, was
ich verloren haben, denken. Wie ich es schon sagte:
Wenn man sich zu lange bei der Angst vor dem Ge-
nozid aufhält, verliert man die Hoffnung. Man ver-
liert, was man vom Leben retten konnte. Ich behalte
die Hoffnung, eines Tages glücklich zu sein. … Ich,
ich leide nicht an meinem Körper. Ich habe schöne
Kinder. Ich kann reisen und sprechen. Ich wurde in
meiner Existenz beschnitten, aber ich will absolut
weitermachen. Wenn ich kein Vertrauen in meinen
Nachbarn mehr habe, behalte ich doch das Ver-
trauen in mich.

Einige von uns hatten gestern die Gelegenheit, mit
Überlebenden zu sprechen. Mir blieben zwei Sätze aus
diesem Gespräch besonders in Erinnerung. Der erste
war: An dem Tag habe ich den Glauben an die Mensch-
heit verloren. Und der zweite: Immer wieder sehe ich
dieses Bild vor mir: das Ackerfeld, und aus den Furchen
ragen die Arme der niedergemetzelten Kinder.

20 Jahre ist es in diesem April her, dass Ruanda zum
Schauplatz dieses Massenmordes wurde. Es war der
furchtbarste Völkermord seit der Judenvernichtung der
Nationalsozialisten – es wurde hier erwähnt – und dem
Genozid auf den Killing Fields in Kambodscha. Inner-
halb von nur 100 Tagen starben mehr als 800 000 Men-
schen. Wohl nie in der Menschheitsgeschichte haben so
viele Täter in so kurzer Zeit so viele Mitmenschen um-
gebracht.

„Ntidigasubire“ – „Nie wieder“ – steht nun auf gro-
ßen Plakaten an den Straßen in Kigali, an den Toren der
Gedenkstätten, auf den Gräbern, und damit endet heute
jede Radiosendung über den Genozid. Die Wunden und
das Gedenken an die Opfer – nicht nur an die, die gestor-
ben sind – sind noch da; der Genozid ist noch sehr prä-
sent. Viele Menschen tragen die Narben. Aber Ruanda
ist auf einem guten Weg, auf einem Weg der Versöhnung
und der Entwicklung. Das haben wir heute in dieser De-
batte und in diesem Antrag ausgedrückt.

Eines der Elemente auf dem Weg der Versöhnung ist
die Aufarbeitung der Geschichte. Letztes Jahr hatten wir
in unserem Ausschuss die ruandische Außenministerin
Louise Mushikiwabo zu Gast. Sie sagte Folgendes:

Nach dem Ende des Völkermords …, bei dem die
internationale Gemeinschaft … versagt hatte, stand
Ruanda vor der Wahl. Würde die Wut darüber uns
an diesem historischen Punkt in eine insulare und
verbitterte Nation verwandeln – oder können wir
den Zorn überwinden und stattdessen mehr … Zu-
sammenarbeit mit der Welt anstreben? Wir haben
uns für Letzteres entschieden, für einen Weg der
Versöhnung …

Dafür war und ist weiterhin eine ehrliche Aufarbeitung
der Geschichte notwendig, nicht nur bis heute, sondern
auch ab heute.

Aus dem ruandischen Genozid wurden Lehren gezo-
gen – wir haben es von mehreren Kollegen gehört –:
Responsibility to Protect, die Schutzverantwortung, die
von den Vereinten Nationen entwickelt wurde. Wir brau-
chen solche Frühwarnsysteme, wir brauchen mehr Prä-
vention. In unserer Debatte über Afrika vor zwei Wo-
chen haben wir auch dieses Wort sehr oft gehört:
Preparedness.

Es wurde eine Geschichte geschrieben, nicht nur eine
Genozidgeschichte, sondern auch eine Geschichte der
Aufarbeitung, der Entwicklung. Wir haben gehört: Ru-
anda wird als afrikanisches Musterland bezeichnet, als
Erfolgsmodell. Dafür sprechen wirtschaftliche Argu-
mente, die Bekämpfung der Korruption, die Frauen-
rechte, die Erfüllung der MDGs und die Erfolge beim
Umweltschutz.

Deutschland hat sehr gute Beziehungen zu Ruanda,
aus bekannten Gründen. Ich selbst freue mich über eine
gute Zusammenarbeit mit der Botschafterin von Ruanda.
Wir begegnen uns auf vielen Veranstaltungen. Sie hat
gute Beziehungen zu allen Fraktionen. Gestern Morgen
war sie beim Gedenken an die deutsche Verantwortung
beim ruandischen Genozid mit dabei. Als Freunde müs-
sen wir auch begleiten, müssen wir möglicherweise un-
terstützen, nicht nur mit Geldern, sondern auch durch Er-
innern und Mahnen. In den letzten Monaten gab es
Berichte über Fragen, die von Menschenrechtsorganisa-
tionen aufgeworfen wurden, die die Transparenz, das
Demonstrationsrecht, die Medienfreiheit und das Ver-
schwindenlassen von Menschen betreffen. Das Positive
überwiegt bei weitem, und doch darf man an diesen Stel-





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

len nicht aufhören, zu mahnen. Wir ermuntern Ruanda
auch durch unsere Unterstützung: Bleiben Sie dran!
Schreiben Sie weiter Geschichte! Dieser Prozess ist
nicht beendet; wir Deutsche wissen sehr wohl, wie lange
ein solcher Prozess dauern kann.

Daraus folgt unter anderem die Notwendigkeit, auch
mit unseren Geldern die wissenschaftliche Aufarbeitung
weiter zu fördern. Wir haben, wie ich gerade gesagt
habe, eine lange Geschichte der Verdrängung, Aufarbei-
tung und Weiterentwicklung. Es bleibt noch eine ganze
Menge zu tun. Deshalb wollen wir dafür auch Haushalts-
mittel einsetzen. Dabei wünschen wir uns aber auch – da
spreche ich als Menschenrechtler – eine Beobachtung
und Stärkung der Entwicklung von Demokratie und
Menschenrechten in diesem Land von diesem Tag an.

Der Außenminister hat es vorhin gesagt: Wir müssen
das uns Mögliche tun, das in unserer – gemeinsamen –
Macht steht. Ich sage „gemeinsam“, weil das, was wir
hier ausdrücken, im gemeinsamen Interesse der Weltge-
meinschaft und Ruandas liegt. Ich habe schon in der
letzten Debatte über Afrikapolitik vor 14 Tagen von dem
Traum gesprochen, dass wir irgendwann nicht mehr nur
von gemeinsamer Augenhöhe sprechen, sondern mögli-
cherweise von Afrika als Big Brother, dass wir nicht nur
vom Chancenkontinent sprechen, sondern von einem
Kontinent, der uns vielleicht noch viel mehr zu geben
hat, als wir jemals für möglich halten.

Ein kurzes Beispiel zum Schluss. Bei einem Vortrag
in der Schweiz vor nicht allzu langer Zeit hatte ein über-
lebender Tutsi von seinen Erlebnissen in besagter Zeit
berichtet. Es herrschte Betroffenheit. Kurz darauf sieht
man ihn, wie er zur Musik im Gottesdienst tanzt. Eine
deutsche Freundin – etwas verwirrt über die Situation –
fragte ihn später: Wie kannst du tanzen, nach dem, was
du alles erlebt hast? Seine Antwort: Wie kann es sein,
dass ihr das nicht erlebt habt und nicht tanzt? – Lebens-
mut und Lebensbejahung, trotz solcher Erlebnisse, als
kulturelles Gut, das können wir sehr wohl von Ruanda
und vielen anderen in Afrika lernen.

Der Außenminister hat heute Morgen in seiner Rede
Frau Zuma zitiert. Er sagte: Wir können sehr viel lernen
vom Reichtum der Jugend in Afrika.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802701800

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Wilfried Lorenz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Wilfried Lorenz (CDU):
Rede ID: ID1802701900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! 20 Jahre nach
dem Völkermord in Ruanda und fast 70 Jahre nach Ende
des Zweiten Weltkriegs ist es berechtigt, die Frage zu
stellen: Hat die internationale Völkergemeinschaft aus
der Geschichte gelernt?

Wir gedenken heute des grausamsten Völkermords
auf dem afrikanischen Kontinent. Gedenken heißt inne-
halten, erinnern, aber vor allem Wege in eine bessere Zu-
kunft finden und diese dann auch zu gehen. Erinnern an
den ruandischen Völkermord heißt gleichzeitig, sich an
die Verantwortung der internationalen Staatengemein-
schaft für Afrika und andere Regionen in der Welt zu er-
innern. Ich möchte an dieser Stelle die Frage wiederho-
len: Haben wir aus der Geschichte wirklich ausreichend
gelernt?

Wir erinnern uns heute an die unfassbare Gewalt in
Ruanda, die die internationale Staatengemeinschaft nicht
beenden konnte. Wir erinnern uns heute an Blutbäder
und an unaussprechliche Grausamkeiten, die uns mit
Abscheu und Entsetzen erfüllen. Gerade deshalb ist es
mir persönlich ein wichtiges Anliegen, heute hier zu
sprechen, und zwar als Bürger eines Staates, der sich für
ein friedliches Miteinander in der Welt einsetzt und
Grundrechte wie Würde und körperliche Unversehrtheit
seiner Bürgerinnen und Bürger schützt, und als Kind ei-
ner Zeit, in der die unmittelbaren Nachwirkungen des
Zweiten Weltkriegs in Deutschland noch hautnah zu
spüren waren.

Die Regierungskoalition und die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen haben gemeinsam einen Antrag formuliert,
in dem sie das in Ruanda Geschehene verurteilen und die
unsäglichen Gräueltaten gerade an Frauen und Kindern
ächten. Das Bedauern über – ich zitiere aus dem Antrag –
„die wenig entschiedene Rolle der internationalen Ge-
meinschaft, die trotz vielfältiger Informationen über das
mörderische Handeln vor Ort nicht ausreichend versucht
hat, die Gräuel zu beenden“, kommt darin deutlich zum
Ausdruck. Gleichzeitig werden wir mit dem Antrag
Wege aufzeigen, um den Versöhnungsprozess und den
Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen
in Ruanda zu unterstützen.

Der Völkermord in Ruanda entstand aus einem Jahr-
zehnte schwelenden Konflikt zwischen Volksgruppen
der Hutu und der Tutsi. Erinnern wir uns kurz. April bis
Juni 1994: 800 000 Tutsis und gemäßigte Hutus in nur
100 Tagen ermordet, systematisch hingemetzelt auf das
Grausamste mit Macheten, Äxten und Knüppeln; Morde,
Köpfungen und Vergewaltigungen als Normalität. Das
ist die schreckliche Bilanz des Völkermordes in Ruanda,
und dennoch: Die ruandische Gesellschaft ist dabei, die
Geschichte aufzuarbeiten, und hat bereits eine große
Wegstrecke hin zu einem inneren Frieden zurückgelegt.
In unserem Antrag würdigen wir ausdrücklich den Bei-
trag der Regierung Ruandas zur gesamtgesellschaftli-
chen Versöhnung. Sie, diese Regierung, diese Menschen
dort, haben die Lehren aus dem nicht verhinderten Ge-
nozid gezogen. Sie verfolgen eine auf Schaffung demo-
kratischer Strukturen gerichtete Reformagenda und en-
gagieren sich für ein globales Bewusstsein, das die
Früherkennung aufkommender Konflikte und die Prä-
vention fördert. Hier wurde aus der Geschichte gelernt.

Systematische Eliminierungen ethnischer Volksgrup-
pen, Massaker und Völkerrechtsverletzungen gab es aber





Wilfried Lorenz


(A) (C)



(D)(B)

auch in der europäischen Geschichte nach dem Zweiten
Weltkrieg, sogar noch in der Zeit nach dem Fall des Ei-
sernen Vorhangs, als wir alle von der Friedensdividende
gesprochen haben. Ich denke zum Beispiel an Srebre-
nica. Im Fall Ruanda blieb die Völkergemeinschaft zu-
nächst untätig. Es gab keinen Aufschrei der Empörung,
nur zögerlich wurde entschieden, das Blauhelmkontin-
gent aufzustocken, eine UN-Resolution gab es erst im
späteren Verlauf der Krise, als das Töten schon im vollen
Gange war.

Was lernen wir aus diesen Ereignissen? Welche Leh-
ren ziehen wir daraus?

Erstens. Durch Nichthandeln kann sich die Völkerge-
meinschaft ebenso schuldig machen wie durch Handeln.

Zweitens. Deutschland muss seiner Rolle als politisch
und wirtschaftlich starke Kraft in der Völkergemein-
schaft gerecht werden. Dies haben unser Bundespräsi-
dent, Herr Gauck, und die Bundesverteidigungsministe-
rin, Frau Dr. von der Leyen, in Grundsatzreden sehr
deutlich formuliert.

Daher ist das Engagement Deutschlands in Zentral-
afrika und Somalia nur konsequent. Im internationalen
Miteinander können Wegschauen, Zögern und Untätig-
bleiben die furchtbaren Konsequenzen haben, auf die
wir in diesem Moment, in dieser Stunde schauen.

Der Völkergemeinschaft müssen Möglichkeiten zuge-
standen werden, schwere Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit und Verstöße gegen das Völkerrecht zu unterbin-
den; RtoP ist hier gerade angesprochen worden. Dieses
Eingreifen muss frühzeitig geschehen, bevor Morde,
Folter, Verstümmelungen oder Massenvergewaltigun-
gen unvorstellbare Ausmaße annehmen können – wie in
Ruanda –, auch wenn sich die Völkergemeinschaft dabei
ohne Mandat – wie im Kosovo-Krieg – anfangs in einer
völkerrechtlichen Grauzone bewegt.

Solche Grauzonen resultierten bisher aus einem Veto-
verhalten weniger Staaten im UN-Sicherheitsrat, das un-
geachtet menschlichen Leidens machtpolitischen Inte-
ressen diente. Wir haben es gerade wieder erleben
müssen, dass eine Verletzung des Völkerrechts nicht
vom UN-Sicherheitsrat verurteilt werden konnte. Alle
fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates ste-
hen in der besonderen Pflicht, bewusst mit ihrem Veto-
recht umzugehen. Sie sind aufgerufen, eine Kultur der
Zusammenarbeit zu pflegen; denn wir befinden uns im
21. Jahrhundert, in dem die Stärke des Rechts und nicht
das Recht des Stärkeren gelten muss.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deutschland trägt seiner Verantwortung mit dem
Konzept der vernetzten Sicherheit Rechnung. Wir betrei-
ben kein Säbelrasseln, sondern vernetzen außen-, ent-
wicklungs- und sicherheitspolitische Kompetenz, um die
Ursachen von Konflikten frühzeitig erkennen und diese
eindämmen zu können.

Die Friedensdenkschrift des Rates der Evangelischen
Kirche aus dem Jahr 2007 hat den Titel: „Aus Gottes
Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“. Ja, wir
müssen für Frieden sorgen. Militärbischof Rink verweist
in einem Interview zu Recht darauf, dass militärische
Einsätze nur die Ultima Ratio sein können. Entwick-
lungshelfer wollen wegen der Lage vor Ort zurzeit nicht
mehr in die Zentralafrikanische Republik gehen. Vor
diesem Hintergrund stellt sich Bischof Rink die Frage,
„ob die internationale Gemeinschaft zusieht, wenn das
Land im Chaos versinkt, Menschen erschossen werden
oder verhungern, oder ob, weil alle anderen Möglichkei-
ten nicht mehr greifen, unter Umständen ein Einsatz der
Bundeswehr mit entsprechendem Mandat – sagen wir:
als Schlichtungshilfe – dazu beiträgt, wieder ein rechts-
staatliches Leben herzustellen.“

Meine tiefste Überzeugung ist, dass Deutschland die
Verpflichtung hat, Verantwortung zu übernehmen. Wir
müssen anderen Staaten helfen, Sicherheit zu schaffen.
Das ist die Grundlage für Frieden, Freiheit und wirt-
schaftlichen Wohlstand. Das ist auch eine moralische
Pflicht, gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte.
Unsere Sicherheit, auf der wir unseren Wohlstand aufge-
baut haben, haben wir jahrzehntelang durch andere Län-
der garantiert bekommen. Das sollten wir Deutsche nicht
vergessen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich eine sehr persönliche Anmerkung
machen. Ich habe als Kind 1949 die Berliner Blockade
erlebt und war glücklich und froh, eines dieser Essens-
pakete, die vom Himmel geworfen wurden, aufzufan-
gen. Ich habe mich damals darüber gefreut, dass ich es
bekommen habe, aber auch darüber, dass ich meinen
Hunger zumindest teilweise stillen konnte. Dabei ist an-
zumerken, dass die Menschen in dieser Stadt nur über-
lebt haben, weil sie von ehemaligen Kriegsgegnern nicht
im Stich gelassen worden sind. Den Ausdruck „nicht im
Stich lassen“ haben wir heute in der Diskussion schon
mehrfach gehört. Daraus entstanden Freundschaften,
Freundschaften über Jahrzehnte hinweg, Freundschaf-
ten zwischen Menschen, Freundschaften von Land zu
Land und Freundschaften, die den Frieden in Europa ge-
deihen ließen.

Lassen Sie mich zum Schluss – meine Redezeit ist ab-
gelaufen – ein afrikanisches Sprichwort zitieren: „Siehst
du Unrecht und Böses und sprichst nicht dagegen, dann
wirst du sein Opfer.“ Mein Fazit aus dieser Diskussion
ist: Völkermord darf sich nicht wiederholen, heute nicht,
morgen nicht, nirgendwo. Dieser Verantwortung müssen
wir uns stellen, jetzt, jederzeit und überall.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1802702000

Das war, Herr Kollege Lorenz, Ihre erste Rede im

Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulie-
ren möchte.


(Beifall)






Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte mich aber auch bei allen Kolleginnen und
Kollegen ausdrücklich bedanken, die an dieser Diskus-
sion teilgenommen haben, und insbesondere allen Red-
nerinnen und Rednern aus allen Fraktionen meinen Res-
pekt ausdrücken für die Art und Weise, mit der sie sich
mit diesem Thema auseinandergesetzt haben.


(Beifall im ganzen Hause)


Um ähnlich wie Herr Lorenz ganz zum Schluss eine
persönliche Anmerkung zu machen: Nach dieser denk-
würdigen Debatte bleibt das bittere Fazit, dass uns die
selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Ver-
antwortung 20 Jahre nach den Ereignissen überzeugen-
der gelingt als die konkrete Wahrnehmung unserer Ver-
pflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt, als
die Ereignisse stattgefunden haben.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 18/973 mit dem Titel: „Er-
innerung und Gedenken an die Opfer des Völkermordes
in Ruanda 1994“. Wer stimmt diesem Antrag zu? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser
Antrag mit breiter Mehrheit bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.

Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 19 a
und 19 b:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonven-
tion – Sofortprogramm für Barrierefreiheit
und gegen Diskriminierung

Drucksache 18/977
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Werner, Diana Golze, Sabine Zimmermann

(Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion DIE LINKE

Programm zur Beseitigung von Barrieren
auflegen

Drucksache 18/972
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsauschuss
Federführung strittig

Interfraktionell ist auch hier eine Debattenzeit von
96 Minuten vereinbart worden. – Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Corinna Rüffer für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802702100

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Es geht an dieser Stelle nachdenklich weiter. Seit fünf
Jahren ist die Konvention der Vereinten Nationen über
die Rechte von Menschen mit Behinderungen geltendes
Recht in Deutschland. Dass wir eine solche Konvention
haben, ist in erster Linie denjenigen Menschen mit Be-
hinderungen zu verdanken, die über Jahrzehnte nicht
aufgegeben haben, für ihre Rechte zu kämpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bei ihnen möchte ich mich heute bedanken. Was sie ge-
tan haben, war bitter nötig.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Als die Vereinten Nationen das Jahr 1981 zum UNO-
Jahr der Behinderten erklärten, ernteten sie heftige Kri-
tik von Menschen mit Behinderungen in ganz Deutsch-
land. In einer Resolution schrieb die Aktionsgruppe ge-
gen das UNO-Jahr:

Wir erklären, daß das „Internationale Jahr der Be-
hinderten“ … über unsere Köpfe hinweg und gegen
unsere Interessen durchgeführt wird.

Sie sprachen von einer Integrationsoperette, die die
gravierenden Missstände im Behindertenbereich ver-
schleiern soll. Menschen mit Behinderungen kämen als
selbstbestimmt handelnde Menschen nicht vor. Aus
diesem Grund organisierten die Aktivistinnen und Akti-
visten das sogenannte Krüppeltribunal. Hier machten sie
auf Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat auf-
merksam. Zur Sprache kamen die unwürdige Lebens-
situation in Heimen, Behördenwillkür, Sonderwelten
durch Werkstätten, die Situation behinderter Frauen,
Mobilitätsbarrieren und vieles andere mehr. Der Erfolg
dieser Bewegung wurde nicht zuletzt deutlich, als gut
20 Jahre später behinderte Menschen selber über die
UN-Konventionen mitverhandelt haben. Er wird deut-
lich, wenn Menschen mit Behinderungen in politische
Entscheidungsprozesse ernsthaft einbezogen werden und
als Expertinnen und Experten ernstgenommen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU])


Er wird auch an jeder Rampe und an jeder Übersetzung
in leichte Sprache deutlich. Der Kern der Kritik, der be-
reits vor 30 Jahren formuliert wurde, richtete sich gegen
eine Politik, die den Schein aufrechterhielt und Miss-
stände verschleierte, also gegen Integrationsoperetten.

Die Situation behinderter Menschen hat sich in den
letzten 30 Jahren erheblich verbessert. Das liegt auch da-
ran, dass Menschen mit Behinderungen für ihr Selbstbe-
stimmungsrecht gekämpft haben. Wenn ich mir behin-
dertenpolitische Reden anhöre, dann frage ich mich
allerdings gelegentlich, ob wir mittlerweile von Inklu-





Corinna Rüffer


(A) (C)



(D)(B)

sionsoperetten sprechen müssten. Die Gruppe derjeni-
gen, die gerne von Inklusion spricht und nicht aus dem
Quark kommt, wenn es wirklich um etwas geht, hat je-
denfalls prominente Vertreter. „Gut Ding will Weile ha-
ben“ scheint ihr Motto zu sein. Ich bin gespannt, wie
häufig uns Frau Nahles das in puncto Teilhabegesetz
noch erklären wird. Wenn ich mir die Finanzplanung
dieser Bundesregierung anschaue, dann muss ich fest-
stellen, dass es vor 2017 jedenfalls nicht losgehen wird.

Wenn es darum geht, die Umsetzung der Behinderten-
rechtskonvention voranzutreiben, sollten wir uns nicht
von schönen Worten blenden lassen. Wir müssen im
Blick behalten, was sich wirklich verändert und was sich
im Leben von Menschen mit Behinderungen konkret
verbessert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Lebenssituation behinderter Menschen ist in
Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern re-
lativ gut. Wir müssen bei der Umsetzung der Konvention
keinesfalls bei null anfangen. Gerade aus diesem Grund
sollten wir unsere Erfolge daran messen, wie gut es uns
gelingt, auch denjenigen eine selbstbestimmte Teilhabe
zu ermöglichen, die besonders verletzlich sind. Wir soll-
ten uns fragen, wie selbstbestimmt zum Beispiel diejeni-
gen leben, die nicht in einer Werkstatt arbeiten dürfen,
weil sie – auch nachdem sie an Maßnahmen im Berufs-
bildungsbereich teilgenommen haben – kein Mindest-
maß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung er-
bringen werden. Wir sollten uns fragen, was wir für die
Selbstbestimmungsrechte derjenigen tun, die nicht spre-
chen können. Wir sollten uns auch fragen – jetzt schlage
ich einen etwas weiteren Bogen –, wie unsere Vorstel-
lungen von einem lebenswerten Leben die Entscheidung
über einen Schwangerschaftsabbruch beeinflussen,
wenn eine genetische Untersuchung nahelegt, dass ein
Kind mit einer Beeinträchtigung leben wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU])


Gemeinsam mit mehr als 20 Kolleginnen und Kolle-
gen aus meiner Fraktion habe ich vor zwei Wochen die
Bundesregierung zu ihren behindertenpolitischen Vorha-
ben befragt. So wollten wir beispielsweise wissen, wie
Menschen mit Behinderungen leben, die nach Deutsch-
land geflüchtet sind. Auch hier handelt es sich um Perso-
nen, die besonders verletzlich sind. Wir wollten wissen,
wie diese Menschen untergebracht sind, ob sie Zugang
zu Rehamaßnahmen haben und ob die Bundesregierung
zu diesen Fragen Daten erheben wird, sollten diese bis-
her nicht zur Verfügung stehen. Die Antwort in der Fra-
gestunde: Anerkannte Flüchtlinge werden nicht in Un-
terkünften für Asylbewerber untergebracht. Außerdem
stehen ihnen Sozialhilfeleistungen und medizinische
Versorgung wie eigenen Staatsangehörigen zur Verfü-
gung. Ganz ehrlich: Das ist in etwa so, als würde ich auf
die Frage nach einem Kuchenrezept antworten, dass
Mehl eine der Zutaten ist und man den Ofen benutzen
kann, den man auch für Lasagne verwendet. Diese Bun-
desregierung ist offensichtlich nicht gewillt, sich mit der
Situation behinderter Menschen auseinanderzusetzen,
die nach Deutschland geflüchtet sind.

Ich möchte zum Ende meiner Rede noch eine Ent-
wicklung ansprechen, die wir gerade vor dem Hinter-
grund der Behindertenrechtskonvention im Auge behal-
ten sollten. In den letzten Jahren beobachte ich verstärkt
die Tendenz, dass gegenüber Arbeitgeberinnen und
Arbeitgebern die besonderen Fähigkeiten von Menschen
mit Behinderungen angepriesen werden. So informiert
zum Beispiel die BDA darüber, dass behinderte Men-
schen am Arbeitsplatz häufig besonders motiviert sind,
weil sie beweisen möchten, das ihre Arbeit Wertschät-
zung verdient. Das mag so sein. Aber lassen wir uns das
einmal auf der Zunge zergehen: Hier wird dafür gewor-
ben, Menschen mit Behinderungen einzustellen, weil sie
sich beweisen möchten. Das hat nichts zu tun mit der
Perspektive der Behindertenrechtskonvention.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die Konvention zielt darauf, einen inklusiven Arbeits-
markt zu schaffen. Das bedeutet, der Arbeitsmarkt muss
so gestaltet werden, dass sowohl der sehr leistungsstarke
als auch der leistungsschwache Mensch seinen Lebens-
unterhalt durch Arbeit verdienen können. Menschen mit
Behinderungen haben ein Recht auf Arbeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte es für sinn-
voll, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bestehende
Vorurteile über Menschen mit Behinderungen reflektie-
ren und hoffentlich überwinden – selbstverständlich. Wir
dürfen uns aber nicht damit zufriedengeben, wenn von
Inklusion gesprochen wird und damit gemeint ist, Men-
schen mit Behinderungen als wertvolle und nicht aus-
reichend genutzte Ressource am Arbeitsmarkt zu präsen-
tieren. Wenn Menschen mit Behinderungen besonders
motiviert arbeiten, weil sie stärker als nichtbehinderte
Menschen das Gefühl haben, sich beweisen zu müssen,
dann liegt das daran, dass sie derzeit diskriminiert wer-
den. Das ist ein Problem, gegen das wir vorgehen müs-
sen. Das ist jedenfalls kein guter Zustand, aus dem Profit
geschlagen werden sollte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit fünf Jahren ist
die Behindertenrechtskonvention geltendes Recht in
Deutschland. Mit der Konvention haben wir uns ver-
pflichtet, Menschen mit Behinderungen die gleichbe-
rechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermög-
lichen. Das passiert nicht, wenn möglichst viele
Menschen möglichst oft „Inklusion“ sagen. Die Bundes-
regierung täte gut daran, sich vom Vertrösten und Verzö-
gern aufs Handeln zu verlegen. Vielleicht möchte sie uns
ja beweisen, dass ihre Arbeit Wertschätzung verdient.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802702200

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Guten Morgen von

meiner Seite aus!

Der nächste Redner: Uwe Schummer für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1802702300

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!

Dass Sie die Bundesregierung zum Handeln auffordern,
und zwar endlich, nachdem die Große Koalition jetzt
100 Tage an der Regierung ist, finde ich bemerkenswert.


(Vereinzelt Heiterkeit)


Es gibt keine Koalitionsvereinbarung, in die mehr Hand-
lungsempfehlungen zur Inklusion in allen Politikberei-
chen aufgenommen worden sind als in die jetzt gültige
zwischen Union und Sozialdemokraten. Diese enthält
insgesamt zwanzig solcher Handlungsempfehlungen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben ja bereits am Mittwoch im Ausschuss für
Arbeit und Soziales und in anderen Ausschüssen mit-
einander diskutiert und überlegt, wie wir die ambitio-
nierten Ziele der Koalition gemeinsam umsetzen kön-
nen. Ein Thema war der neue Teilhabebericht. Wir haben
gesagt: Wir wollen wegkommen vom alten Bericht zur
Lage der Menschen mit Behinderungen, in dem seit
1982 Defizite aufgeführt und Subventionen dargestellt
wurden. – Die Konsequenz war, dass wir im letzten Jahr
erstmals einen Teilhabebericht zum Thema Inklusion er-
stellt haben, in dem auch die sehr unterschiedlichen Le-
benswirklichkeiten der Menschen mit Behinderungen
dargestellt werden. So differenziert wie die Lebenswirk-
lichkeiten sind, so differenziert werden auch die politi-
schen Antworten sein müssen.

Es war ein guter und wichtiger Erfolg des früheren
Beauftragten der Bundesregierung für die Belange be-
hinderter Menschen, von Hubert Hüppe – er ist heute un-
ter uns –,


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


dass mit diesem neuen Teilhabebericht auch die UN-
Konvention umgesetzt werden konnte, verbunden mit
der Zielsetzung, für mehr Teilhabe zu sorgen. Der Teil-
habebericht ist auch eine Grundlage für weitere Politik-
ansätze, die die Große Koalition in den nächsten drei
Jahren verfolgen wird, um die Teilhabe insgesamt zu
verbessern, und zwar in allen Bereichen des Lebens.

Im Sinne der Grundregel „Nichts über uns ohne uns“
hat der Deutsche Behindertenrat dafür gesorgt, dass an
der Erstellung des Teilhabeberichts auch Wissenschaftler
beteiligt waren, die selber betroffen sind und daher auch
ihre Lebenswirklichkeit mit einbringen konnten; sie
machten ein Drittel des gesamten Redaktionsteams aus.
Kerstin Tack und ich sind wild entschlossen,

(Kerstin Tack [SPD]: Yes!)


dafür zu sorgen, dass die Mitwirkungsmöglichkeiten der
Verbände der Betroffenen auch bei der Erstellung der
nächsten Teilhabeberichte noch weiter ausgebaut wer-
den,


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


damit das Motto „Nichts über uns ohne uns“ auch als
Grundlage des politischen Handelns verankert wird.

Wir haben damit den Art. 31 der UN-Konvention um-
gesetzt, der uns in der Politik auffordert, Statistiken und
Datensammlungen über die Lebenslagen behinderter
Menschen aufzuarbeiten. In diesen Statistiken und Da-
tensammlungen sollen sich auch differenziert die unter-
schiedlichen Lebenswirklichkeiten und Belange der
Menschen mit Behinderungen oder mit Beeinträchtigun-
gen wiederfinden.

Nach dem Teilhabebericht sind 25 Prozent der Bevöl-
kerung über 18 Jahre betroffen. Das sind 17 Millionen
Menschen. Davon sind etwa 7 Millionen Menschen an-
erkannt schwerbehindert. Wir werden aufgrund der De-
mografie, der Bevölkerungsstruktur, die Frage von Be-
hinderung und Beeinträchtigung, auch von chronischen
Krankheiten, in der Zukunft politisch noch weiter auf-
arbeiten müssen.

Von daher wird es wichtig sein, dass „barrierefrei“ für
alle Facetten des Lebens gilt. Wir hatten am Donnerstag
dieser Woche eine Initiative mit Gehörlosen aus Thürin-
gen zu Gast, die uns aufgefordert haben, die heutigen
technischen Standards zu nutzen, beispielsweise für Ge-
hörlose eine Notruf-App zu entwickeln, mit der man
wichtige Informationen, wichtige Nachrichten sofort zu-
spielen kann, damit auch diese Menschen über ihr
iPhone oder ihr iPad schnell über die aktuelle Sachlage
informiert werden können. Es sind sehr einfache techni-
sche Möglichkeiten, die heute schon existieren, die wir
nur nutzen müssen, um auch in der Kommunikation Bar-
rieren zu überwinden und mehr Teilhabemöglichkeiten
zu schaffen.

Wir müssen aber auch mentale Barrieren, Barrieren in
den Köpfen, Barrieren dadurch, dass wir etwas nicht ge-
lernt haben, überwinden. Wenn man nicht weiß, wie man
mit contergangeschädigten Menschen umgeht, wie man
ihnen die Hand gibt, dann hat man Bedenken, Schwie-
rigkeiten, zieht sich zurück, geht nicht auf diese Men-
schen zu. Das sind unsere Barrieren, die wir aufarbeiten
müssen, damit wir auf die Menschen zugehen, sie begrü-
ßen, mit ihnen scherzen können, damit wir sehr ent-
spannt sein können, wenn wir auf sie zugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Barrieren haben wir alle miteinander, und wir alle mitei-
nander sind aufgefordert, sie zu beseitigen. Es ist nor-
mal, verschieden zu sein, und es ist wichtig, dass wir ler-
nen, offen miteinander umzugehen, in allen Facetten.





Uwe Schummer


(A) (C)



(D)(B)

Der Teilhabebericht gibt uns auch Handlungsempfeh-
lungen. Dazu gehört – das ist auch in unserer Koalitions-
vereinbarung festgelegt worden –, dass wir unter dem
Dach der Kinder- und Jugendhilfe die verschiedenen
Fördermaßnahmen für Eltern, für Kinder, für Jugendli-
che bündeln, sodass es vor Ort eine Anlaufsituation, eine
Struktur gibt, die weiterhilft, wenn Fragen entstehen,
weil zum Beispiel Fördermaßnahmen beantragt werden
müssen.

Wir werden das familiäre Umfeld und die Familien
selbst durch eine Kultur der Nachbarschaft stärken müs-
sen – durch die Vernetzung mit begleitenden Hilfen, Ta-
gesstätten, Beratung und Betreuung. Wir wollen ver-
stärkt die betreuten Werkstätten nutzen. Sie sollen auch
Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der betreuten Werkstät-
ten organisieren. Wir sagen: so viel inklusive Arbeit wie
nur irgend möglich, aber weiterhin so viel Betreuung
wie nötig. Ich halte nichts davon, eine Struktur abzu-
schaffen und zu schauen, was dann passiert. Wir werden
Strukturen miteinander vernetzen müssen, aber immer
mit der Zielsetzung, für den einzelnen Menschen, an
dem wir Maß nehmen, möglichst viel auch inklusive Ar-
beit zu entwickeln.

In meinem Heimatkreis am Niederrhein fangen auch
Kinder mit Downsyndrom an, aus der betreuten Werk-
statt rauszugehen.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hätten da nie reingehört!)


Gemeinsam mit anderen, mit Handwerksmeistern bauen
sie in einem offenen Museum eine niederrheinische Lehm-
kate. Sie sind sehr stolz darauf, eine solche Leistung zu
erbringen. Man sieht auf einmal, wie stark, wie innova-
tiv und wie motiviert sie sind.

Vom Bundesverband der Floristen kam einmal je-
mand zu mir und beklagte sich über den Fachkräfteman-
gel. Ich habe ihn gefragt: Haben Sie einmal überlegt,
beispielsweise verstärkt auch Behinderte einzustellen?
Die Antwort war erst einmal: Die Kunden haben es im-
mer so eilig; die haben keine Zeit, zu warten. – Hier geht
es um Entschleunigung, um Dinge des Miteinanders und
Füreinanders, über die wir miteinander reden müssen.
Wir müssen ein Stück weit auch einen Mentalitätswan-
del, eine Revolution der Herzen erzeugen, damit das
Miteinander und Füreinander insgesamt verbessert wer-
den kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die inklusive Bildung endet in Deutschland heute oft
nach der Kindertagesstätte. 60 Prozent der betroffenen
Kinder gehen noch gemeinsam mit anderen Kindern in
eine Regelkita. In der Grundschule sind es nur noch
34 Prozent. Im weiteren Bildungsverlauf werden es im-
mer weniger, bis hin zu den Restbeständen in der Ar-
beitswelt. Da müssen wir stärker werden; da müssen wir
besser werden.

Auch mit dem Bundesteilhabegesetz wird diese Ziel-
setzung verfolgt werden. Es geht hier eben nicht nur um
ein Sparprogramm für die Kommunen; es geht darum,
dass für die betroffenen Menschen eine Verbesserung,
ein Mehrwert an Teilhabe in der Gesellschaft entwickelt
wird. Sowohl die Kommunen als auch die Länder als
auch der Bund werden zusammen mit den Trägern wei-
terhin aktiv sein müssen. Es kann nicht nur um ein Spar-
programm zwecks Ausgabenentlastung der Kommunen
gehen, es muss letztendlich um mehr Teilhabe für die be-
troffenen Menschen gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Leitidee dieser Großen Koalition – das haben wir
auch in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben – ist
die inklusive Gesellschaft, in der wir gemeinsam lernen,
arbeiten, spielen, wohnen und mit allen Facetten leben.
Das wird unser Anspruch sein. Daran, wie wir das mit-
einander umsetzen werden, können Sie uns gerne in drei
Jahren – nicht nach 100 Tagen – messen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802702400

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist

Katrin Werner für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802702500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Seit fünf Jahren gilt in unserem Land
eine Konvention, die man die modernste Menschen-
rechtskonvention nennt. Was hat sich für 7 Millionen
schwerbehinderte Menschen, für mehr als 17 Millionen
Menschen mit Beeinträchtigungen oder chronischen Er-
krankungen im Alltag praktisch verbessert, verschlech-
tert, oder was blieb, wie es war?

Übereinstimmend sagen viele: Es wird schwieriger,
den Alltag zu organisieren. Es fehlt an inklusiven Infra-
strukturen. Mittelfristig fehlen 3 Millionen barrierefreie
Wohnungen in Deutschland, Defizit steigend. Nur jede
dritte Arztpraxis ist wenigstens rollstuhlgerecht. Noch
immer blüht eine Landschaft von Sonderwelten: Heime,
in denen im Minutentakt verrichtet wird, Werkstätten, in
denen für Dumpinglöhne auch für Rüstungsunterneh-
men, wie zum Beispiel in Bremerhaven, gearbeitet wird,
und Förderschulen, die 75 Prozent der Schüler ohne Ab-
schluss verlassen.

Nach der UN-Behindertenrechtskonvention jedoch
muss Politik Menschen mit Behinderungen absichern,
fördern und ermutigen, selbstbestimmt zu leben; sie
muss also Räume für Selbstentfaltung öffnen – wie für
alle anderen Menschen auch.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Inklusion braucht deshalb „angemessene Vorkehrungen“
für den Einzelfall im Zusammenspiel mit vielen „geeig-
neten Maßnahmen“ im Großen.





Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)

Art. 4 der UN-Behindertenrechtskonvention spricht
davon, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-
und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem
Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen“. Des-
halb unterstützen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, zunächst das Behindertengleichstellungsge-
setz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu
novellieren.

Denn es geht in dieser Wahlperiode nicht isoliert um
ein Bundesteilhabegesetz. Die Gültigkeit des SGB IX
steht – sagen Wissenschaftler – zu 80 Prozent nur auf
dem Papier. Auch in diesem Gesetz ist der Behinde-
rungsbegriff zu ändern. Es geht auch um den arbeitneh-
merähnlichen Status und ein Recht auf bedarfsgerechte
Assistenz in allen Lebensphasen und Lebenslagen, und
zwar unabhängig von Einkommen und Vermögen.


(Beifall bei der LINKEN)


Gebraucht wird eine soziale Umwelt, an der alle Men-
schen mit Beeinträchtigungen teilhaben können. Das
sind auch ältere Menschen und Menschen mit chroni-
schen Erkrankungen, Familien mit Kleinkindern und
Kinder selbst, nicht nur Menschen mit einem Behinde-
rungsgrad. Es geht um alle Menschen mit dauerhaftem
oder zeitweiligem Unterstützungsbedarf.

Es gibt eben auch thematische Focal Points. Einer da-
von ist in der UN-Behindertenrechtskonvention die Bar-
rierefreiheit. Aus Sicht der betroffenen Menschen heißt
das: im Alltag – zu jeder Zeit – nahezu jeden Ort, jede
Einrichtung, jedes Angebot und jede Information errei-
chen, nutzen und verstehen zu können, ohne Bittgänge,
Kostenvorbehalte oder Vermögensanrechnung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schon 2011 forderten die Landesbehindertenbeauf-
tragten in ihrer Dresdner Erklärung energischere Schritte.
Der Teilhabebericht von 2013 zeigt, dass diese fehlen.
Aber inklusive Strukturen wird es ohne Barrierefreiheit
nicht geben. Ein bisschen Barrierefreiheit ist leider ex-
klusiv.

Einzel- und Pilotprojekte reichen nicht. Barrierefreie
Lösungen im Alltag müssen leider immer wieder ein-
gefordert, erstritten oder sogar eingeklagt werden.
Zuletzt kritisierte der Bundesrechungshof, dass vom
Bundesverkehrsministerium und der Deutschen Bahn
AG „die Bahnsteige an mehr als 3 900 kleineren Bahn-
höfen … pauschal als stufenfrei bewertet werden, selbst
wenn die Bahnsteige ausschließlich über Treppen er-
reichbar sind“. Zwei Drittel aller Bahnhöfe werden so
indirekt als barrierefrei ausgegeben, obgleich sie für
Rollstuhlfahrer oder Menschen mit größeren Mobili-
tätseinschränkungen kaum nutzbar sind.

Deshalb fordert die Fraktion Die Linke ein Sofortpro-
gramm zur Beseitigung bestehender Barrieren in Höhe
von jährlich 1 Milliarde Euro für einen Zeitraum von
fünf Jahren.


(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen konkrete Taten, die die Lebenslagen von
Menschen mit Unterstützungsbedarf praktisch verbes-
sern. Wir wollen ein Signal, dass Teilhabe mehr ist als
ein einzelner Leistungsanspruch, nämlich Wert und
Wirklichkeit für alle, ein soziales Gut. Wir wollen diese
Beseitigung von Barrieren bewusst als Zusatzprogramm,
neben dem Bundesleistungsgesetz. Dabei betonen wir,
dass mit dem Teilhabegesetz keine und keiner schlech-
tergestellt werden darf. Aber wir sehen auch: Die Entlas-
tung der Kommunen von den Kosten der Eingliede-
rungshilfe räumt keine einzige Barriere fort. Wir wollen
ein Programm, das in den Kommunen wirkt: dort, wo
Menschen zum Arzt gehen oder rollen; dort, wo sie in
der Schule oder im Theater hören können, was sie nicht
sehen, oder in Bildern verstehen, was Buchstaben ihnen
nicht verraten;


(Beifall bei der LINKEN)


dort, wo sie ihr Recht selbst vertreten, im Rathaus oder
im Gericht; dort, wo sie arbeiten und Freunde am
Stammtisch treffen; dort, wo sie wohnen, daheim statt
im Heim.

Wir wollen von Anfang an eine fachkundige Beglei-
tung durch das Bundeskompetenzzentrum Barrierefrei-
heit und eine Evaluation dieses Programms, damit es
nachhaltig wird. Wir wollen eine Regierung mit men-
schenrechtlichem Tatendrang und beantragen deshalb
geeignete Maßnahmen, wie sie die UN-Konvention ver-
steht. Wir wollen nicht mehr und nicht weniger.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802702600

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort hat Kerstin

Tack für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1802702700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Die UN-Behinderten-
rechtskonvention, die Deutschland vor fünf Jahren ratifi-
ziert hat, verpflichtet uns alle, Teilhabe an allen Lebens-
bereichen dieser Gemeinschaft zu ermöglichen. Aus
dieser Verpflichtung, die wir eingegangen sind, haben
wir geeignete Maßnahmen abzuleiten; denn wir sind zu-
ständig für die Umsetzung der UN-Behindertenrechts-
konvention.

In Deutschland leben 17 Millionen Menschen mit Be-
hinderungen. Nur rund 2 Prozent von ihnen sind von Ge-
burt an bzw. vom ersten Lebensjahr an behindert. Das
heißt, dass im Laufe des Lebens Behinderung uns alle
ereilen kann. Deshalb ist die Zielgruppe, über die wir re-
den, beeindruckend groß.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Kerstin Tack


(A) (C)



(D)(B)

Die Koalition hat sich richtig viel vorgenommen:
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik finden
die Belange von Menschen mit Behinderungen in einem
Koalitionsvertrag flächendeckend Berücksichtigung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist eine große Errungenschaft. Diese Maßnahmen
finden sich im Koalitionsvertrag nicht nur unter „Men-
schen mit Behinderungen“ wieder, sie finden sich – das
werden wir im Laufe der Debatte noch vorgetragen be-
kommen – auch in jedem weiteren Kapitel.

Aber ich will auch sagen, dass die Anträge der Oppo-
sition doch recht enttäuschend sind. Wenn ich sehe, dass
die Kollegin der Grünen anlässlich fünf Jahren Behin-
dertenrechtskonvention ausschließlich fordert, dass wir
das Behindertengleichstellungsgesetz und das All-
gemeine Gleichbehandlungsgesetz ändern, muss ich
ehrlich sagen: Da wollen wir eindeutig mehr als Hand-
lungsauftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention
ableiten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802702800

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage/-be-

merkung von Markus Kurth?


Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1802702900

Selbstverständlich darf Herr Kurth zwischenfragen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802703000

Sie sagen, Sie haben sich wesentlich mehr vorgenom-

men.


Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1802703100

Ja.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802703200

Wie ist es denn dann zu deuten, dass Sie zwar im

Koalitionsvertrag das Bundesteilhabegesetz angespro-
chen und den Kommunen im gleichen Zuge eine Entlas-
tung um 5 Milliarden Euro jährlich in Aussicht gestellt
haben, dies in der vorletzten Woche aber kurzerhand ein-
fach in die kommende Legislaturperiode verschoben ha-
ben, auf das Jahr 2018, wenn Sie ja womöglich gar nicht
mehr regieren?


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Wollt ihr dann mit uns?)



Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1802703300

Herr Kollege Kurth, ich gehe davon aus, dass Sie, wie

alle anderen Kolleginnen und Kollegen des Hohen Hau-
ses auch, den Koalitionsvertrag intensiv gelesen haben
und selbstverständlich in der Lage sind, daraus abzulei-
ten, wie sich unsere 23 Milliarden Euro zusammenset-
zen, weil Sie ja nicht nur lesen, sondern auch rechnen
können. Das, was schon gestern diskutiert wurde, ist
richtig: Wir werden das Bundesteilhabegesetz im Jahr
2016 zur Verabschiedung bringen, und es wird in 2017
in Kraft treten. Das ist unsere Aussage dazu.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Kollegin, vielleicht ist das auch der Grund dafür,
dass Sie in Ihrem Beitrag hier schlussendlich gar nichts
zu Ihrem Antrag gesagt haben. Ich gehe davon aus, dass
fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention natürlich
auch für Sie Anlass sind, mehr zu tun, als sich nur die
zwei Gesetze anzugucken.

Bei der Kollegin der Linken erleben wir das, was wir
schon kennen: 1 Milliarde Euro ist das Mindeste, was
man grundsätzlich in jedem Antrag fordert, ohne dass
man sagt, wo das Geld herkommen soll. Auch hier will
ich sagen: Barrierefreiheit ist eine Selbstverständlich-
keit. Wir werden sie bei den weiteren Maßnahmen zur
Städtebauförderung und anderem selbstverständlich re-
alisieren. Genau so, wie von Ihnen gefordert, ist auch
das Teil unseres Koalitionsvertrages, den wir umzuset-
zen gedenken.


(Beifall bei der SPD – Richard Pitterle [DIE LINKE]: Sagen Sie doch, wo das Geld herkommen soll!)


Mit dem modernen Bundesteilhabegesetz, das wir in
dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen, werden
wir genau diesen Anspruch auf Teilhabe in der Gesell-
schaft umfassend umsetzen. Wir wollen die soziale Teil-
habe aus dem bisherigen Fürsorgesystem der Sozialhilfe
herausholen und es als eigenständiges Recht im SGB IX
verankern. Allein das ist ein Paradigmenwechsel, den
wir aus der UN-Behindertenrechtskonvention als Auf-
trag für uns definieren. Um auch das deutlich zu sagen:
Mit der Herausnahme aus der Sozialhilfe ist selbstver-
ständlich auch das Bedürftigkeitsprinzip obsolet.


(Beifall bei der SPD)


Selbstverständlich haben wir auch die Kosten im
Blick, deren Anstieg ja nicht daraus resultiert, dass die
Menschen ein immer größeres Geldbudget zur Verfü-
gung gestellt bekommen, sondern ausschließlich daraus,
dass die Zahl der Leistungsberechtigten massiv angestie-
gen ist. Haben noch im Jahre 2000 525 000 Menschen
Eingliederungshilfe erhalten, so waren es 2012 bereits
821 000 – mit steigender Tendenz –, und selbstverständ-
lich zieht das eine Spirale nach sich.

Was lernen wir daraus? Daraus muss man doch den
Rückschluss ziehen, dass man insbesondere bei der Ant-
wort auf die Frage, wie man die Hilfe steuern sollte, an-
ders, passgenauer, personen- und nicht institutionenzen-
triert vorgehen und ein neues Leistungspaket
überdenken muss. Genau das steht im Koalitionsvertrag,
und das werden wir machen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, Behinderung ist ein Le-
bensrisiko, das jeden von uns individuell treffen kann.
Gleichzeitig ist Behinderung kein personengebundes





Kerstin Tack


(A) (C)



(D)(B)

Schicksal, sondern es sind die Rahmenbedingungen der
Gesellschaft, die Behinderung produzieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802703400

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1802703500

Ja, mache ich. – Deshalb ist für uns völlig klar: Be-

hinderung darf nicht arm machen. Das betrifft die behin-
derten Personen selber, aber auch die Lebenspartner der
Personen. Auch das wird uns ein Anliegen sein: dass
selbstverständlich jede Person, egal ob mit oder ohne
Behinderung, zur sozialen Teilhabe eigenes Einkommen
ansparen und einsetzen darf. Das ist unser Leitthema;
das werden wir vorlegen.

Wir sind uns sehr sicher, dass wir in drei Jahren ein
sehr zufriedenstellendes Teilhabegesetz auf den Weg
bringen können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802703600

Danke, Frau Kollegin. – Das Wort hat Kerstin

Andreae für Bündnis 90/Die Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802703700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir wollen eine inklusive Gesellschaft, in der Men-
schen- und Bürgerrechte so ernst genommen werden,
dass jeder gleichgestellt ist. Wir müssen mit den – durch
die von uns gestaltete Umwelt, durch unser Verhalten,
durch uns – behinderten Menschen auf Augenhöhe um-
gehen. Es geht darum, dass sich alle Menschen mit der
gleichen Selbstverständlichkeit in ihrem Leben, Wohnen
und Arbeiten bewegen können. Das erfordert eine an-
dere Kultur der Aufmerksamkeit, des Respekts und der
Rücksichtnahme, und zwar nicht nur aus einem karitati-
ven, sozialen Blickwinkel heraus, sondern schlicht des-
halb, weil es ein Menschenrecht ist.


(Beifall im ganzen Hause)


Ja, das Teilhabegesetz kommt – 2017.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht!)


Die Menschen warten aber. Jeder einzelne Schritt ist
wichtig. Jetzt legen wir Ihnen in unserem Antrag vier
Maßnahmen vor, die etwas mit Freiheit, mit Menschen-
rechten, mit Ermöglichung zu tun haben, vier Maßnah-
men, die Sie sofort umsetzen könnten. Es spricht nichts
dagegen, dass Sie 2017 ein Teilhabegesetz auf den Weg
bringen. Aber es spricht viel dagegen, Frau Tack, dass
Sie sagen: Dieser Antrag ist enttäuschend; da steht ja
nicht viel drin. – Setzen Sie diese vier Maßnahmen um,
und Sie haben unheimlich viel erreicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Worum geht es? Es geht um die Anpassung des Be-
hindertenbegriffs an das Verständnis der Behinderten-
rechtskonvention. Wir müssen deutlich sagen: Behinde-
rung entsteht erst dann, wenn ein Mensch, der von der
physischen, geistigen und psychischen Norm, von dem
scheinbar Normalen abweicht, auf Barrieren, Treppen,
enge Räume, komplizierte Anweisungen, Erwartungen
an Stressresistenz, Vorurteile trifft. Die Behinderten-
rechtskonvention nimmt die Gesellschaft als Verursacher
für diese Barrieren in die Verantwortung. Das ist ein Pa-
radigmenwechsel. Dieser Paradigmenwechsel steht un-
serer Gesellschaft gut an. Führen Sie ihn jetzt herbei!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen das Recht auf Verständigung in leichter
Sprache. Behörden müssen schon heute in Gebärden-
sprache und Brailleschrift kommunizieren. Leichte Spra-
che ist notwendig, damit auch geistig behinderte Men-
schen verstehen. Das hat etwas mit Wertschätzung zu
tun, damit, dass auf Augenhöhe kommuniziert wird.
Auch das würde unserer Gesellschaft gut anstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen angemessene Vorkehrungen. Das klingt
kompliziert, ist aber ganz einfach: Da, wo nicht sofort
grundsätzlich etwas geändert werden kann, da, wo wir
kurzfristige Maßnahmen brauchen, da muss eine Umset-
zung leichter möglich sein, etwa die Rampe, damit der
Rollstuhlfahrer am Abend noch ein Bier in der Kneipe
trinken kann. Das sind angemessene Vorkehrungen.

Der letzte Punkt. Derzeit ist der Diskriminierungs-
schutz von Menschen mit Behinderungen auf bestimmte
Teilbereiche beschränkt. Wollen wir akzeptieren, dass,
wie vor einigen Jahren geschehen, einer Familie mit ei-
nem inkontinenten Kind im Jugendalter eine Ferienwoh-
nung während ihres Aufenthalts dort mit der Begrün-
dung gekündigt wurde, dass zu viele Windeln zu viel
Müll produzierten? Wollen wir akzeptieren, dass in man-
chen Restaurants und Klubs Menschen, weil sie sich an-
ders bewegen und anders essen, der Zutritt zu diesen Or-
ten verwehrt wird? Nein, das wollen wir nicht
akzeptieren. Auch hier wird eine Veränderung unserer
Gesellschaft guttun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie uns das gemeinsam angehen. Die Umset-
zung dieser Maßnahmen kostet nicht viel Geld, manch-
mal sogar gar kein Geld. Aber sie bringen vielen viel.
Sie kosten ein Umdenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn es Ihnen schwerfällt, einem Antrag der Opposi-
tion zuzustimmen, dann nehmen Sie einfach diese Vor-
schläge in Ihre jetzigen Debatten auf. Warten Sie nicht
drei Jahre, um diese Maßnahmen für Freiheit und für
Menschenrechte umzusetzen.

Vielen Dank.





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802703800

Danke schön, Frau Kollegin. – Das Wort hat

Dr. Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1802703900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Die Katholische Jugendfür-
sorge in meiner Heimatstadt Regensburg betreibt eine ei-
gene Facebook-Seite, die „Teilhabeprojekte“ heißt. Dort
wird erfreulicherweise nicht nur gelegentlich etwas ge-
postet, sondern es tut sich sehr viel auf dieser Seite. Die
Volkshochschule zum Beispiel bietet eine Altstadtfüh-
rung in leichter Sprache an. Bei „Radio sag’ was!“ gehen
junge Radiomacher mit Behinderung im örtlichen Lokal-
funk mit bemerkenswerten Interviews auf Sendung. Das
Atelier der KJF stellt seine Werke im örtlichen Künstler-
haus Andreas-Stadel inmitten der Werke anderer Künst-
ler aus. Und, und, und. Die KJF Regensburg präsentiert
auf dieser Facebookseite einen Überblick über ihre Teil-
habeprojekte und über das, was jeden Tag im Kleinen
passiert.

Die gute Nachricht nach fünf Jahren UN-Behinder-
tenrechtskonvention lautet daher: Es ist nicht bei der
Idee einer inklusiven Gesellschaft geblieben. Die Sache
lebt, und wir sind damit gut unterwegs.

In der UN-Behindertenrechtskonvention wird bekräf-
tigt – ich zitiere –, „… dass alle Menschenrechte und
Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, ei-
nander bedingen und miteinander verknüpft sind und
dass Menschen mit Behinderungen der volle Genuss die-
ser Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung garan-
tiert werden muss“. Klar, denkt man, wieso sollten Men-
schenrechte auch nicht für Menschen mit Behinderungen
gelten? Doch was sich wie ein Allgemeinplatz anhört,
stößt in der Realität oft an Grenzen: an Barrieren im
wörtlichen Sinne.

Umso wichtiger war es, dass die Vereinten Nationen
mit der Konvention vor fünf Jahren die erste verbindli-
che universelle Menschenrechtsquelle für behinderte
Menschen geschaffen haben. Die unterzeichnenden
Staaten haben sich verpflichtet, die darin festgeschriebe-
nen Rechte in ihre nationale Gesetzgebung zu übertra-
gen. Auch Deutschland hat das getan.

Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen dafür
zu schaffen, dass Teilhabe für alle Menschen gleichbe-
rechtigt ermöglicht wird und Barrieren eingerissen wer-
den. Nun fiel die Behindertenrechtskonvention in Deutsch-
land nicht in ein behindertenpolitisches Vakuum. Erst am
Mittwoch haben wir uns im Ausschuss mit dem Teilha-
bebericht der Bundesregierung befasst. Dieser Teilhabe-
bericht zeigt – neben dem Staatenbericht – auf, an wel-
chen Stellen wir noch etwas tun müssen, um unsere
Verpflichtungen zu erfüllen.
Der Bericht zeigt aber auch, dass die Bundesrepublik,
vor allem auf gesetzgeberischer Seite, schon eine Menge
im Sinne der Konvention für die Menschen mit Behinde-
rung getan hat und tut. Neben den SGB sind das vor al-
lem die – auch in dem Antrag der Grünen angesproche-
nen – Gesetze zur Gleichstellung behinderter Menschen,
das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Be-
hindertengleichstellungsgesetz. Sie trugen und tragen
ganz maßgeblich zur Gleichberechtigung bei und sind
nur einige Beispiele.

Zurzeit werden diese Gesetze vor dem Hintergrund
der Konvention evaluiert. Diese Evaluation soll bis zum
Sommer abgeschlossen sein. Dabei geht es um genau die
Punkte, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Grünen, in Ihrem Antrag ansprechen: nämlich um den
Behinderungsbegriff, um den Einsatz leichter Sprache
usw.

Es ist wichtig, nicht nur die Gleichstellung an sich
rechtlich festzuzurren, sondern eben auch das veränderte
Verständnis von Behinderung, das der Behinderten-
rechtskonvention zugrunde liegt. Da sind wir ganz bei
Ihnen.

Trotz dieser Gesetze, die die gleichen Rechte garan-
tieren, haben Menschen mit und ohne Behinderungen in
der Praxis immer noch häufig ungleiche Chancen auf
Teilhabe. Während ein Viertel der behinderten Men-
schen keine oder nur wenige Behinderungen durch die
Umwelt erfährt, erlebt ein anderes Viertel große Ein-
schränkungen in allen betrachteten Lebensbereichen.

Ein Gießkannenprinzip hilft uns deshalb nicht weiter.
Wir müssen Nachteilsausgleiche und Programme diffe-
renziert auf besonders betroffene Gruppen und Situatio-
nen ausrichten. Die Barrieren, die noch am meisten an
der Teilhabe hindern, müssen als Erste eingerissen wer-
den.

Aufgabe der Politik ist es jedoch nicht nur, die Barrie-
ren für die Betroffenen so weit wie möglich abzubauen.
Jede Barriere ist zwar eine zu viel, aber aus der Behin-
dertenrechtskonvention folgt noch etwas anderes: Die
individuelle Lebensplanung und die Selbstbestimmung
der Menschen mit Behinderung muss mehr geachtet und
gestärkt werden. Viele Barrieren werden bedeutungslos,
wenn dem Menschen mehr Wahlfreiheit gelassen wird,
wenn er die Entscheidungen zu seiner Lebensplanung
selbstbestimmt treffen kann und Teilhabe erfährt.

Die Entwicklung der Eingliederungshilfe zu einem
modernen Teilhaberecht ist deshalb einer der wichtigsten
Bausteine bei der Umsetzung der Behindertenrechtskon-
vention. Dadurch wird sie auch eine der wesentlichen
gesellschaftlichen und sozialpolitischen Aufgaben dieser
Legislaturperiode werden. Wir wollen weg von einer
überwiegend einrichtungsbezogenen hin zu einer perso-
nenzentrierten Hilfe, und daran arbeiten wir.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der Mensch mit Behinderung muss mit seinen spezi-
fischen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen. Wir wollen
deshalb bei der Reform die Perspektive der Betroffenen
kontinuierlich mit einbeziehen. Ein solcher Prozess dau-





Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)

ert tatsächlich; er gewinnt dadurch aber auch an Legiti-
mität und an Qualität.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802704000

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist

Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802704100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Was sagt eigentlich die UN-Behinderten-
rechtskonvention zu dem ganz wichtigen Thema Arbeit?
Sie schreibt klar und deutlich das gleiche Recht auf Ar-
beit für Menschen mit Behinderung fest. Wichtige Ziele
sind der Zugang zum Arbeitsmarkt, die Gewährleistung
von Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung,
die Förderung der Beschäftigung sowie die Barrierefrei-
heit am Arbeitsplatz.

Aber wie ernst nimmt denn diese Bundesregierung
und wie ernst nahm die letzte Bundesregierung dieses
Thema und diese Konvention? Sie erinnern sich alle:
Wir alle haben in diesem Hohen Haus für diese Konven-
tion gestimmt. Ich sage Ihnen trotzdem: Wir sind Licht-
jahre entfernt von einer inklusiven Arbeitswelt.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Lage von Menschen mit Behinderung am Ar-
beitsmarkt ist leider immer noch ein Trauerspiel. Seit
Jahren rührt sich nichts an der hohen Arbeitslosigkeit
von Menschen mit Behinderung. Aktuell sind in der Sta-
tistik über 183 000 schwerbehinderte Menschen. Das ist
im Vergleich zu 2008 ein immenser Anstieg von 10 Pro-
zent.

Bei Betrieben mit mindestens 20 Arbeitsplätzen müs-
sen wenigstens 5 Prozent Menschen mit Behinderung
beschäftigt sein. Wenn die Betriebe diese Quote nicht er-
füllen, dann kommt die sogenannte Ausgleichsabgabe.
Viele Unternehmen kaufen sich aber mit dieser Abgabe
einfach von ihrer Pflicht frei. Deshalb wird die Quote
von 5 Prozent von Jahr zu Jahr – das können Sie be-
obachten – nicht erfüllt. Ein anderes Problem ist: Wenn
ein schwerbehinderter Arbeitsloser seine Arbeitslosig-
keit beendet, findet nur jeder siebente eine Beschäfti-
gung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Zum Vergleich: Bei
nicht schwerbehinderten Arbeitslosen gilt dies in fast je-
dem dritten Fall.

Arbeitgeber klagen regelmäßig über den sogenannten
Fachkräftemangel. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich
kann es nicht mehr hören; denn wenn man einmal auf
das Potenzial von schwerbehinderten Menschen schaut,
dann stellt man fest: Sie sind gut qualifiziert, sie sind
hochmotiviert, aber keiner holt sie aus der Arbeitslosen-
statistik. Wenn solche gut qualifizierten Menschen,
wenn hochmotivierte Menschen mit Behinderung in
meine Bürgersprechstunde kommen und mir erzählen,
wie schwer es ist, wie es fast unmöglich ist, einen Job zu
finden, dann macht mich das richtig wütend; denn ich
verstehe nicht, dass es in einem wirtschaftlich so gut da-
stehenden Land, wie Sie es in den Debatten immer wie-
der erwähnen, nicht möglich ist, mehr Menschen mit Be-
hinderung in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Dabei ginge es auch anders. Wir Linken wollen unter
anderem die Erhöhung der Pflichtquote, zumindest wie-
der auf 6 Prozent, die Erhöhung der Anreize für Unter-
nehmen und eine bessere und dauerhafte Förderung der
Beschäftigung behinderter Menschen.


(Beifall bei der LINKEN)


Eines will ich ganz besonders herausheben, nämlich
dass Menschen, die heute gute Arbeit in einer Werkstatt
für Menschen mit Behinderung leisten, eine Chance zum
Übergang in die reguläre Arbeitswelt bekommen müs-
sen.


(Beifall bei der LINKEN – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Recht!)


– Ein Recht, das ist richtig. – Das würde das Klima in
der Arbeitswelt entscheidend und auch positiv beeinflus-
sen. Ganz wichtig ist es auch, dass bei einem solchen
Übergang die besonderen Rentenansprüche für Men-
schen mit einer Behinderung erhalten bleiben. Wichtig
ist aber auch, Barrierefreiheit umfassend am Arbeits-
platz umzusetzen, und zwar grundsätzlich so, dass Men-
schen mit und ohne Behinderung beschäftigt werden
können.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesre-
gierung, bitte begreifen Sie die UN-Behindertenrechts-
konvention nicht länger als ein schön zu lesendes
Dokument, verstehen Sie es als eine handfeste Arbeits-
anleitung! Fangen Sie an, an einer inklusiven Arbeits-
welt zu arbeiten! Die Barrieren für Menschen mit Be-
hinderung auf dem Arbeitsmarkt müssen endlich
eingerissen werden. Schluss mit jeder Form von Diskri-
minierung!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802704200

Danke, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist Ulla

Schmidt für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1802704300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Für mich bedeutet die Umsetzung der Behinderten-
rechtskonvention eine große gesellschaftspolitische Auf-
gabe. Diese Umsetzung und die damit verbundene Dis-
kussion darüber, welche Schritte wir gehen müssen,
gehören zu den größten gesellschaftspolitischen Heraus-
forderungen zu Beginn dieses Jahrhunderts und sind für
mich genauso bedeutsam wie die Bildungsreformen, die
wir in den 60er-Jahren durchgeführt haben und die das





Ulla Schmidt (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)

Land nachhaltig verändert haben. Das in der Behinder-
tenrechtskonvention festgelegte Menschenrecht auf Teil-
habe an und in der Gesellschaft sollte die Diskussionen
übergreifend bestimmen. Die Diskussionen machen sehr
deutlich, dass dieses Menschenrecht in unserem Land,
das sonst alles versucht, um die Menschenrechte einzu-
halten, Tag für Tag verletzt wird. Ich glaube, dass wir
dieses Menschenrecht nur durchsetzen können, wenn
wir das zu einer gemeinsamen Aufgabe des ganzen Par-
laments machen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin sehr viel unterwegs und habe viele Bundeslän-
der besucht. Egal wer gerade regiert, in keinem Land
und in keiner Kommune wird zu 100 Prozent das umge-
setzt, was wir eigentlich wollen. Ob Brandenburg, Ba-
den-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern oder
Schleswig-Holstein – ich könnte eigentlich alle Bundes-
länder aufzählen –, überall gibt es gelungene Beispiele.
Aber es gibt noch viel zu tun, bis das, was wir wollen,
nämlich die volle Teilhabe aller Menschen, tatsächlich
umgesetzt ist. Deshalb bitte ich Sie: Lassen Sie uns nicht
gegeneinander arbeiten, sondern überlegen, was wir mit-
einander machen können, um dies umzusetzen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für mich ist neben den Artikeln betreffend Arbeits-
markt, Schule und Kindergarten der Art. 9 der Behinder-
tenrechtskonvention, der die Barrierefreiheit behandelt,
essenziell. Menschen können nicht teilhaben, wenn Bar-
rieren sie daran hindern. Aber beim Abbau von Barrie-
ren handelt es sich um einen Prozess. Barrieren lassen
sich nicht per Gesetz von einem Tag auf den anderen
niederreißen. Vielmehr muss jede Barriere Schritt für
Schritt abgebaut werden. Ich bin sehr froh, dass wir im
Präsidium des Deutschen Bundestags beschlossen ha-
ben: Wir wollen, dass der Deutsche Bundestag Vorbild
beim Abbau von Barrieren wird.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung nicht nur
an Anhörungen und Debatten teilhaben, sondern dass sie
sie auch verfolgen können. Wir wollen unsere Publika-
tionen und Debattenübertragungen so aufbereiten, dass
Blinde, Gehörlose, Sehbehinderte, Hörgeschädigte so-
wie Menschen mit kognitiven oder psychischen Ein-
schränkungen am gesellschaftlichen Prozess teilhaben
und sich dafür interessieren können, was wir politisch
entscheiden.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Natürlich kann man der Meinung sein, dass das Teil-
habegesetz nicht alles ist. Aber ich sage Ihnen aufgrund
meiner Erfahrung: Die Gestaltung des Teilhabegesetzes,
das zum Ziel hat, die Eingliederungshilfe aus dem Sys-
tem der Fürsorge herauszuholen und zu einem modernen
Teilhaberecht zu entwickeln, wird der Lackmustest sein,
der deutlich macht, wie ernst es uns damit ist.


(Beifall bei der SPD)


Dabei geht es um vieles, was heute von der Eingliede-
rungshilfe nicht geleistet wird. Es geht um Selbstbestim-
mung und Partizipation, aber auch um Mitmachen und
Beteiligung. Ich bin sehr froh, das unsere Ministerin
Andrea Nahles gesagt hat: Wir beginnen in diesem Jahr
und werden mit den Menschen mit Behinderung einen
entsprechenden Gesetzentwurf erarbeiten und diesen im
Jahr 2016 verabschieden. Lassen Sie sich gesagt sein:
Wer Andrea Nahles kennt, weiß, dass sie das tut.


(Beifall bei der SPD)


Wenn man ein modernes Teilhaberecht gestaltet, ist
eines wichtig: Wir sind als Staat verpflichtet, die Barrie-
ren abzubauen. Wir haben uns als Staat verpflichtet, da-
für zu sorgen, dass Nachteile, die durch eine Behinde-
rung entstehen, ausgeglichen werden. Deshalb sage ich
Ihnen: Es kann nicht sein, dass auf Dauer der Ausgleich
der Nachteile vom Staat in die private Einkommenssitu-
ation des Einzelnen gelegt werden. Auch behinderte
Menschen haben ein Recht auf ein Sparbuch.


(Beifall im ganzen Hause)


Behinderte Menschen haben nach der UN-Konven-
tion ein Recht darauf, dass sie ihre Lebenssituation stetig
verbessern können. Deshalb wird es ein wichtiger Schritt
sein, dass wir diesen Prozess voranbringen. Wir wollen
nicht, dass sich Eltern behinderter Kinder darum sorgen
müssen, ob sie für ihre Kinder ein Guthaben anlegen
können, damit sich die Kinder, wenn die Eltern einmal
nicht mehr leben, Sonderwünsche erfüllen können. Wir
wollen, dass Menschen mit Behinderung ihre Wohnung
und ihre Arbeit frei wählen können. Dann müssen wir
ihnen aber zugestehen, dass sie ansparen dürfen, damit
sie sich Möbel oder andere Dingen kaufen können.


(Beifall im ganzen Hause)


Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lasst uns
daran arbeiten! Das ist eine große Aufgabe, nicht allein
des Bundestages, sondern auch der Länder und der
Kommunen.

Ich bin sehr für die Entlastung der Kommunen, aber
diese Aufgabe ist so groß, dass wir sie nur gemeinsam
schultern können. Erst kommen die Inhalte, erst brau-
chen wir ein modernes Teilhaberecht, und dann können
wir darüber entscheiden, wie wir die Kommunen oder
andere bei dieser Aufgabe entlasten. Machen Sie mit!
Das ist ein ganz wichtiges Projekt.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802704400

Vielen Dank, Ulla Schmidt. – Nächste Rednerin in

der Debatte ist die Kollegin Jutta Eckenbach für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Jutta Eckenbach (CDU):
Rede ID: ID1802704500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kollegen! Teilhabe ist ein Menschenrecht. Das ist heute
Morgen schon ein paarmal gesagt worden. Ich gehe noch
einmal auf die Worte von Hubert Hüppe, unserem ehe-
maligen Beauftragten der Bundesregierung für die Be-
lange behinderter Menschen, der immer für diesen Per-
sonenkreis dagewesen ist, ein. Hubert Hüppe hat immer
wieder gesagt: Es geht nicht darum, dass wir mit diesen
Menschen Mitleid haben, sondern es geht einzig und al-
lein darum, dass wir die Menschen teilhaben lassen an
einem selbstbestimmten Leben. Ich bin sehr froh, dass
der gesamte Bundestag heute Morgen zu dieser Einstel-
lung kommt. Dazu ermutigen wir sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für die CDU/CSU kann ich natürlich sagen, dass uns das
immer wieder ganz wichtig war und ich dies nur der
Form halber heute Morgen noch einmal klarstellen
möchte.

Meine Damen und Herren, seit der Rede des Kollegen
Hüppe hat sich in der Gesetzeslandschaft viel getan. Zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wur-
den in den vergangenen Jahren Verbesserungen bei den
Fahrgastrechten oder Änderungen im Luftverkehrsge-
setz vorgenommen. Gesetze zur Förderung des elek-
tronischen Rechtsverkehrs in der Verwaltung oder vor
Gerichten wurden verabschiedet. Ich freue mich ganz
besonders, dass wir gerade hören konnten, dass sich
auch der Bundestag hier einbringt, für Menschen mit Be-
hinderungen tätig zu werden. Ich freue mich schon auf
den Tag, an dem es möglich sein wird, alle in geeigneter
Form zu erreichen. Dafür von unserer Seite herzlichen
Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es kommt aber auch darauf an, dass wir uns Zeit neh-
men. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Gestatten Sie
mir daher einen Schlenker auf die dortige Landesebene.
Hier möchte ich das Thema Schulpolitik – Stichwort In-
klusion – aufgreifen. Genau dieses Thema entwickelt
sich in Nordrhein-Westfalen zu einem großen Problem.
Das Beispiel Inklusion macht deutlich, dass Überarbei-
tungen, Evaluierungen und Weiterentwicklungen erfor-
derlich sind, um allen Beteiligten gerecht zu werden. Die
Umsetzung der Inklusion darf nicht mit der Brechstange
erfolgen; denn Teilhabe erfordert vor allem Qualität, und
zwar Qualität für alle Seiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auf dieses Umsetzungsproblem in Nordrhein-Westfalen
wollte ich hier besonders hinweisen.

Um unserem hohen Qualitätsanspruch gerecht wer-
den zu können, bedarf es leider auch etwas Zeit: Zeit
zum Austausch aller Interessen und Meinungen; Zeit zur
Überarbeitung; Zeit zur Ausarbeitung. Ein Schnell-
Schnell ist dabei sicher der falsche Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, bereits in der vergangenen
Legislaturperiode wurde dem Bundestag der Teilhabebe-
richt der Bundesregierung vorgelegt. Die Bundesregie-
rung ist – das haben wir heute Morgen schon gehört –
seit 1982 verpflichtet, einen solchen Bericht vorzulegen.
Der letzte Bericht, den wir vorgelegt bekommen haben,
hat jedoch die Besonderheit – das haben wir bereits im
zuständigen Fachausschuss behandelt –, dass in ihm ein
ganz anderer Blickwinkel eingenommen wird und er da-
mit ganz andere Aussagen beinhaltet als die vorherigen
Berichte.

Wir haben im Ausschuss ebenfalls gehört, dass wir
noch mehr Erfahrungen sammeln müssen, dass wir noch
näher an die Menschen herankommen müssen, um noch
mehr von ihnen zu erfahren. Auch von schwerstbehin-
derten Menschen möchte ich wissen, welchen Bedarf
und welche Bedürfnisse sie haben. Aber wie sollen wir
diese Menschen erreichen? Es kommt also darauf an,
ganz spezifische Fragestellungen zu entwickeln, um
diese Menschen zu erreichen; denn es gibt – das ist mir
persönlich wichtig – nicht den Behinderten, vielmehr ha-
ben viele Menschen ganz unterschiedliche Einschrän-
kungen. Den Einzelnen zu erreichen, das muss doch un-
ser Ziel sein. Deswegen ist es, wie ich finde, wichtig,
dass wir eine Vorstudie machen und weitere Entwicklun-
gen beobachten, um noch mehr von den Menschen zu er-
fahren. Dann können wir noch individueller tätig wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In dem Bericht wurde ein Schwerpunkt auf Menschen
mit psychischen Beeinträchtigungen gelegt. Aus meiner
Arbeit im Landschaftsverband Rheinland – ich nenne es
immer mein früheres Leben – weiß ich um die Besonder-
heiten dieser Personengruppen. Wir haben es immer
wieder mit psychisch erkrankten Personen zu tun gehabt.
Es ist auch Aufgabe des Landschaftsverbandes, bei die-
sen Erkrankungen tätig zu werden.

Speziell auf einen Aspekt möchte ich eingehen, bei
dem wir als Nichtbetroffene nicht so sehr im Film sind,
wie ich immer sage, nämlich auf die Langzeitarbeitslo-
sen. Wenn man mit den Betroffenen redet, dann hört
man, dass psychisch erkrankte Langzeitarbeitslose, wenn
sie endlich eine neue Arbeit gefunden haben, es zwei
oder drei Wochen schaffen, dieser Tätigkeit nachzuge-
hen. Aber nach zwei oder drei Wochen ist es vorbei, sie
können ihre Ängste nicht überwinden. Diesen Menschen
müssen wir helfen. Ich glaube, dass das eine ganz wich-
tige Aufgabe ist.

Ein zweiter Bereich, den ich neben der Psychiatrie als
ganz wichtig erachte und den ich während meiner Arbeit
im Landschaftsverband kennengelernt habe, ist der Be-
reich der Jugend- und Behindertenhilfe. Auch in der Ju-
gendhilfe müssen wir Hürden überwinden, die durch die
Sozialgesetzbücher aufgebaut werden. Das ist ganz
wichtig.

Ich sehe gerade, dass mich die Lampe am Rednerpult
durch Blinken darauf hinweist, dass meine Redezeit ab-
gelaufen ist. Ich dachte, sieben Minuten Redezeit seien





Jutta Eckenbach


(A) (C)



(D)(B)

länger. Deswegen komme ich zum Schluss: Behinderung
ist nicht heilbar. Sie ist ein integraler Bestandteil der Per-
sönlichkeit behinderter Menschen und verdient unseren
Respekt. Jedoch sind behindernde Strukturen und behin-
derndes Verhalten heilbar. Wir werden die Welt einfa-
cher machen. Und das werden wir gemeinsam mit unse-
ren Mitstreiterinnen und Mitstreitern einfach machen.

Ich freue mich in diesem Sinne auf die weitere Aus-
sprache in den Ausschüssen und stimme der Überwei-
sung wie alle anderen zu. Ich bedanke mich herzlich für
Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802704600

Vielen Dank, Frau Kollegin Eckenbach. Wir gratulie-

ren Ihnen alle zu Ihrer ersten Rede im Hohen Haus


(Beifall)


und wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit für die
Menschenrechte in unserem Land.

Jetzt hat das Wort Katrin Kunert für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802704700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Werte Frau Eckenbach, ich glaube, fünf Jahre nach Rati-
fizierung der UN-Behindertenrechtskonvention kann
man hier nun wirklich nicht von der Brechstange reden.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Vor drei Wochen kam die überaus erfolgreiche deut-
sche Mannschaft von den Paralympics aus Sotschi
zurück. Sie hat mit neun Goldmedaillen, fünf Silber-
medaillen, einer Bronzemedaille und ganz vielen Top-
platzierungen den zweiten Platz in der Nationenrangliste
erkämpft. Das ist ein sehr tolles Ergebnis.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU] und Matthias Schmidt [Berlin] [SPD])


Positiv will ich anmerken, dass es längst überfällig
war, die Prämienzahlungen für die Medaillen anzuglei-
chen. Endlich ist eine paralympische Medaille genauso
viel wert wie eine olympische Medaille.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Positiv will ich auch anmerken, dass bei der Bericht-
erstattung über die sportlichen Wettkämpfe die Leistun-
gen und die Athletinnen und Athleten im Mittelpunkt
standen und nicht die Leidensgeschichten von Behinder-
ten. Aber all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen,
dass wir auch im Bereich des Sports weit von der Inklu-
sion entfernt sind. Der Geist der UN-Behindertenrechts-
konvention lebt vom selbstbestimmten Mitmachen der
Menschen mit Behinderung; denn sie wissen am besten,
was für sie eine hohe Lebensqualität in der Freizeit,
beim Reisen oder beim Sport ausmacht.


(Beifall bei der LINKEN)

Für den Bereich des Sports hat die Linke in der
17. Wahlperiode einen Antrag eingebracht, der damals
von allen Sachverständigen in einer Anhörung für sehr
gut befunden wurde. Dieser Antrag ist leider abgelehnt
worden. Das sind wir gewöhnt. Aber es ist schon schade,
dass die Koalition sich nicht einmal die Mühe gemacht
hat, ihn als Grundlage zu nehmen, um hier einen neuen
Antrag für den Bereich des Sports vorzulegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Besonders in den Bereichen des Schulsports, des
Breitensports und der Nachwuchsgewinnung stellen wir
immer wieder fest, dass Kinder und Jugendliche zu
schnell eine Sportbefreiung erhalten, weil man mit Be-
hinderungen schlecht bzw. gar nicht umgehen kann. Das
müssen wir ändern. Lehrer-, Übungsleiter- und Trainer-
ausbildung müssen dem inklusiven Anspruch gerecht
werden. Gemeinsames Sporttreiben in der Schule, im
Verein und im Wettbewerb muss selbstverständlich für
alle sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Grundlegende Voraussetzung dafür ist natürlich die
Barrierefreiheit von Sportstätten. Es gibt erst eine ein-
zige Sporthalle in Deutschland, nämlich in Hamburg, die
völlig barrierefrei ist. Das ist ein Manko für die deutsche
Gesellschaft. Deshalb fordern wir auch ein bundesweites
Sportstättensanierungsprogramm. Neben den aktiven
Sportlerinnen und Sportlern müssen wir aber auch die
Zuschauerinnen und Zuschauer mit einer Behinderung
im Blick haben, die den Sport konsumieren wollen. In
diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie geben
das die Möglichkeiten der Übertragung her? Wie gelan-
gen sie barrierefrei ins Stadion? Dazu gibt es ein sehr po-
sitives Beispiel, nämlich einen Reiseführer der Bundes-
liga-Stiftung: Barrierefrei ins Stadion. Auch hier kann
der Bund einmal schauen, welche sportlichen Aktivitä-
ten und Initiativen es gibt, um diesem Ziel gerecht zu
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


An allererster Stelle steht doch aber, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, die Barrieren in den Köpfen zu be-
seitigen. Das ist der Ausgangspunkt. Wenn man diese
Debatte verfolgt, muss man feststellen, dass die Barrie-
refreiheit in vielen Bereichen noch nicht gegeben ist. In-
klusion in eine Gesellschaft bedeutet nämlich nicht un-
bedingt, alle gleich zu behandeln, sondern, sich an den
Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung zu orien-
tieren. Das ist unser Anspruch. Deshalb bleiben wir an
diesem Thema dran.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802704800

Vielen Dank, Frau Kollegin Kunert. – Nächster Red-

ner in der Debatte ist Dr. Matthias Bartke für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(C)



(D)(B)


Dr. Matthias Bartke (SPD):
Rede ID: ID1802704900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Dies ist heute meine erste Rede im Deutschen
Bundestag.


(Beifall)


Ich freue mich sehr darüber, dass ich sie zur UN-Behin-
dertenrechtskonvention halten darf. Es gibt wohl kaum
einen Sozialpolitiker, dem Behindertenpolitik nicht ein
Herzensanliegen ist. Denn der Umgang einer Gesell-
schaft mit ihren Menschen mit Behinderung ist immer
ein Gradmesser für ihre Qualität.

Seit Einführung des SGB IX vor fast 14 Jahren und
vor allem mit der UN-Behindertenrechtskonvention hat
sich in unserem Land viel zum Besseren gewandelt.
Aber die Lage ist noch lange nicht so, dass man sagen
könnte, sie ist gut. Mit der UN-Behindertenrechtskon-
vention wurde die Inklusion zum neuen Leitgedanken
der Behindertenpolitik. Sie beinhaltet eine Abkehr von
der alten Zweiklassentheorie „Behindert“ versus „Nicht
behindert“. Inklusion heißt, dass alle Menschen gleich-
berechtigte Teile eines gemeinsamen Ganzen sind:


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nicht der Mensch muss an die Rahmenbedingungen an-
gepasst werden, sondern der Sozialraum so gestaltet
sein, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft ein Zugang
offen ist. Dies, meine Damen und Herren, ist ein grund-
legender Paradigmenwechsel, den die Konvention be-
wirkt hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nur ist eines auch klar: Eine inklusive Behinderten-
politik gibt es nicht zum Nulltarif. Die Schaffung eines
barrierefreien Sozialraumes ist teuer, manchmal sogar
sehr teuer. Die Unterzeichnung der UN-Konvention ist
auch ein Bekenntnis zu diesen Kosten. Schwarz-Rot be-
kennt sich mit dem Koalitionsvertrag dazu, die Kommu-
nen nicht mit den Kosten für die Behindertenpolitik al-
leinzulassen. Sie werden bei der Eingliederungshilfe um
1 Milliarde Euro jährlich entlastet. Mit Verabschiedung
des Bundesteilhabegesetzes kommt eine jährliche Ent-
lastung um weitere 5 Milliarden Euro hinzu,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und zwar, Herr Kurth, im Jahr 2016. Dies sind wahrlich
keine Peanuts.

Im Koalitionsvertrag haben wir außerdem eine Stär-
kung des inklusiven Arbeitsmarktes vereinbart. Das ist
auch dringend notwendig, denn die Arbeitslosenquote
bei Menschen mit Behinderung ist mehr als doppelt so
hoch wie bei Menschen ohne Behinderung. Besonders
alarmierend ist dabei der hohe Anteil von jungen
Schwerbehinderten. Hier besteht dringender Handlungs-
bedarf.
In meiner Heimatstadt Hamburg ist man für Mitarbei-
ter von Werkstätten für Behinderte im Rahmen eines
neuen Modellprojekts „Budget für Arbeit“ neue Wege
gegangen. Zu diesem Budget gehört unter anderem ein
unbefristeter Lohnkostenzuschuss für Arbeitgeber, die in
ihren Unternehmen geistig behinderte Mitarbeiter ein-
stellen. Das Projekt funktioniert hervorragend. Das
Schöne ist, dass sich das Betriebsklima in den Unterneh-
men häufig verbessert hat: Unternehmen, die zuvor aus-
schließlich auf Effizienz ausgelegt waren, bekommen
durch die geistig behinderten Mitarbeiter plötzlich eine
menschliche Komponente;


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


sie stellen eine Bereicherung für die Betriebe dar. Das ist
gelebte Inklusion. Es freut mich sehr, dass das Modell-
projekt „Budget für Arbeit“ Eingang in den Koalitions-
vertrag gefunden hat. Es ist sinnvoll, über dauerhafte
Lohnkostenzuschüsse nicht nur für Arbeitnehmer mit
geistiger Behinderung, sondern auch für Langzeitar-
beitslose mit körperlichen Behinderungen nachzuden-
ken. Damit erhalten vor allem junge behinderte Arbeits-
lose eine neue Perspektive.

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, auf ein
Problem zu sprechen kommen, das mir besonders am
Herzen liegt. Die UN-Konvention fordert völlig eindeu-
tig, dass Arbeitnehmer nicht wegen ihrer Behinderung
diskriminiert werden oder weniger Lohn bekommen dür-
fen und dass auch sie das Recht auf einen angemessenen
Lebensstandard haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Bei schwerstbehinderten Arbeitnehmern mit persönli-
chem Assistenzbedarf wird hingegen täglich auf das
Krasseste verstoßen. Bei ihnen werden alle Ersparnisse
über 2 600 Euro gegengerechnet und müssen an den
Staat abgeführt werden. Das gilt auch für die Ehepartner.
Ich finde, diese Regelung ist ein Skandal.


(Beifall im ganzen Hause)


Vor zwei Wochen haben wir im Ausschuss für Arbeit
und Soziales in einem formellen Akt eine Petition mit
über 126 000 Unterschriften gegen diese Regelung er-
halten. In ihr ist prägnant formuliert:

Anlegen einer Altersvorsorge? Unmöglich.

Rücklagen für … Notfälle bilden? Nicht erlaubt.

Geld für einen Autokauf ansparen? Fehlanzeige …

Die große Liebe heiraten? Besser nicht.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Diese Verrechnungspraxis entspricht vielleicht den
Buchstaben des SGB XII; den Normen und vor allem
dem Geist der UN-Konvention widerspricht sie auf das
Eklatanteste. Hier tut eine Abhilfe dringend not.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


(A)






Dr. Matthias Bartke


(A) (C)



(D)(B)

Im Bereich der Behindertenpolitik sind wir schon ei-
nen weiten Weg gegangen, aber es liegt auch noch ein
weiter Weg vor uns. Zum Abschluss möchte ich daher
Erich Kästner zitieren, der einmal wunderbar passend
gesagt hat:

Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt wer-
den, kannst du etwas bauen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802705000

Vielen Dank, Herr Kollege. Das ganze Haus gratuliert

Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag. Ich wünsche
Ihnen viel Erfolg, nicht nur im Kampf für die große
Liebe.


(Heiterkeit und Beifall – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Die habe ich schon!)


Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter
Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1802705100

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die UN-Behindertenrechtskonvention hat ei-
nen Prozess ausgelöst, im Zuge dessen auch unser eige-
nes Denken eine Veränderung erfährt.

Zum Schluss dieser erfreulichen Debatte kann man
feststellen: Die Idee einer inklusiven Gesellschaft ist
mittlerweile bei uns angekommen. Sich daran zu gewöh-
nen, war – wenn man sich die Tradition und die bisher
geleistete Arbeit in der Behindertenpolitik in Deutsch-
land vor Augen führt – eine echte Revolution, aber sie ist
gelungen. Unser Bekenntnis ist klar: Ja, wir wollen eine
inklusive Gesellschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das bedeutet vor allen Dingen, die Kompetenzen und
auch den Sachverstand der Menschen mit Behinderun-
gen ernst zu nehmen. Was heißt das? Lassen Sie mich
ein Beispiel nennen: Im Inklusionsbeirat der Bundesre-
gierung sitzen nicht nur Menschen, die Sachverstand ha-
ben und über Behinderte reden, sondern dort sitzen Men-
schen mit Behinderung, um ihre eigenen Interessen und
Bedürfnisse zu artikulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das wichtigste Instrument ist der Nationale Aktions-
plan. All die Forderungen und Wünsche, die vorgetragen
worden sind, müssen jetzt in den Nationalen Aktions-
plan aufgenommen werden. Wir brauchen einen Arbeits-
plan, mit dem uns Schritt für Schritt die Umsetzung hin
zu einer inklusiven Gesellschaft gelingt. Es geht nun da-
rum, dass nicht Politiker über Behinderte schreiben, son-
dern in dem Aktionsplan muss sich das wiederfinden,
was Menschen mit Behinderung selber eingebracht ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Eine Anpassung der Gesetzgebung im Zuge der Re-
form der Eingliederungshilfe hin zu einem neuen Bun-
desteilhabegesetz ist der entscheidende Schritt. Die Op-
position kann sich jetzt natürlich hinstellen und fragen:
Warum gibt es das nicht schon längst? Legt endlich ei-
nen Entwurf vor! – Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
um Ihr Kurzzeitgedächtnis etwas aufzufrischen: Seit
Jahren reden wir in Deutschland über die Reform der
Eingliederungshilfe. Wir haben einen mühsamen, aber
interessanten Prozess angestoßen. In einer Bund-Länder-
Arbeitsgruppe haben sich Bund und Bundesländer zu-
sammen hingesetzt und aufgeschrieben, wie eine solche
Reform inhaltlich aussehen soll. Jetzt ist es in der Tat an
der Zeit, die Reform der Eingliederungshilfe anzu-
packen. Das haben wir uns als Große Koalition vorge-
nommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


In der Debatte gerieten ein paar Dinge durcheinander.
Gestern ist mehr über die Entlastung der Kommunen in
Höhe von 5 Milliarden Euro gesprochen worden als über
den Inhalt der Eingliederungshilfe selbst. Ich will klipp
und klar sagen: Ja, der Bund, wir als Große Koalition,
stehen zu unserer Zusage, im Rahmen der Reform die
kommunale Seite um insgesamt 5 Milliarden Euro zu
entlasten und uns an den Kosten der Eingliederungshilfe
zu beteiligen. Aber bevor es zu einer Entlastung kommt,
müssen die Inhalte stimmen. Das ist das Wesentliche:
Wir wollen eine inhaltliche Reform der Eingliederungs-
hilfe. Das ist unser Ziel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn wir über eine inklusive Gesellschaft sprechen,
dann sprechen wir natürlich über unterschiedliche Arten
von Behinderungen. Ich möchte darauf aufmerksam ma-
chen, dass der Personenkreis der Menschen mit psychi-
schen Behinderungen oft vergessen wird. Unter den rund
7,3 Millionen schwerbehinderten Menschen, die in der
Bundesstatistik verzeichnet sind – ich sage das aus-
drücklich einschränkend –, befindet sich – amtlich fest-
gestellt – 1 Million Menschen mit seelischen Behinde-
rungen. Wir wissen, dass langfristig psychisch kranke
Menschen von sich aus vielfach keine Anerkennung als
Schwerbehinderte beantragen.

Aktuell leben in Deutschland 1,4 Millionen Men-
schen mit der ärztlich gestellten Diagnose Demenz unter
uns. Aber nur etwa ein Drittel dieser Personen beantragt
von sich aus, dass amtlich eine Schwerbehinderung fest-
gestellt wird.

Ein zweiter Hinweis: Im Zusammenhang mit der
wachsenden Anzahl der Menschen mit seelischen Behin-
derungen muss man die dramatisch steigende Zahl der





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

Menschen berücksichtigen, die wegen psychischer Er-
krankungen, wegen psychischer Störungen auf eine Er-
werbstätigkeit verzichten müssen und Erwerbsminde-
rungsrente beantragen. Deshalb ist es wichtig, auch an
die seelisch behinderten Menschen zu denken, wenn
man von Menschen mit Behinderungen spricht.

Natürlich haben Menschen mit psychischen Störun-
gen andere Probleme als zum Beispiel Menschen mit ei-
ner Gehbehinderung oder einer Sinnesbehinderung. Sie
brauchen auch andere Formen von Unterstützung. Ich
will das kurz an drei Punkten verdeutlichen.

Erstens: Teilhabe. Die gesellschaftliche Teilhabe ist
ein zentrales Thema. Um erwerbstätig sein zu können,
benötigen Menschen mit psychischen Behinderungen
auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Arbeitsbedingungen
und Unterstützungsangebote.

Zweitens: Barrierefreiheit. Bezogen auf einen Roll-
stuhlfahrer können wir Barrierefreiheit sehr leicht defi-
nieren. Bezogen auf einen Menschen mit seelischen Be-
hinderungen fällt uns das sehr schwer. Menschen mit
seelischer Behinderung haben oft Schwierigkeiten in so-
zialen Beziehungen. Sie reagieren vielleicht besonders
sensibel auf bestimmte Stressfaktoren. Sie haben viel-
leicht Ängste, die die Alltagsbewältigung, die Teilhabe
am Leben in der Gesellschaft erschweren.

Drittens: Selbstbestimmung. Für Menschen mit psy-
chischen Erkrankungen ist Selbstbestimmung ein wich-
tiges und spezifisches Thema, weil sie oft große Schwie-
rigkeiten haben, eine für sie sinnvolle Entscheidung zu
treffen. Dann müssen Betreuer oder Gerichte für sie ent-
scheiden. Wir haben in der letzten Legislaturperiode das
Betreuungsrecht reformiert und die Schwelle für Zwangs-
maßnahmen, also für Unterbringung oder Zwangsbe-
handlung, deutlich erhöht. Auch das war ein wichtiger
Beitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

Neben dem, was wir rechtlich oder durch finanzielle
Unterstützung regeln können, ist, wie ich finde, für die
Idee einer inklusiven Gesellschaft von großer Bedeu-
tung, dass sich die vielen guten Beispiele, die wir in un-
serem Land haben, vervielfältigen. Deshalb fand ich die
Idee des früheren Behindertenbeauftragten der Bundes-
regierung, Hubert Hüppe, sehr gut, eine sogenannte in-
klusive Landkarte ins Leben zu rufen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Für all die tollen Beispiele, die wir in unserem Land ha-
ben, gilt: Man konnte beantragen, in dieser Landkarte
verzeichnet zu werden. Nicht der Behindertenbeauf-
tragte hat entschieden, wer aufgenommen wird, sondern
Menschen mit Behinderung haben den Auswahlprozess
mitgestaltet und entschieden, wer in die Landkarte auf-
genommen wird. Die besten Beispiele wurden ausge-
zeichnet. Ich glaube, in den kommenden Jahren wird es
entscheidend darauf ankommen, dass wir dafür sorgen,
dass die vielen guten Beispiele für eine inklusive Gesell-
schaft in Deutschland sich möglichst rasch vervielfälti-
gen, sodass wir in einigen Jahren sagen können: Auf die-
ser inklusiven Landkarte gibt es keine weißen Flecken
mehr.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802705200

Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. Es ist gut, dass Sie

Herrn Hüppe erwähnt haben. – Herr Hüppe, ich glaube,
das ganze Haus dankt Ihnen für das, was Sie in diesem
Bereich geleistet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Seien Sie mal nicht so bescheiden! Wir danken Ihnen
nicht nur für die Landkarte.

Nächste Rednerin: Waltraud Wolff für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1802705300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren auf den Zuschauerrängen! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir alle haben übereinstimmend festge-
stellt: Alle Menschen haben den Anspruch und das
Recht auf eine gleichberechtigte Teilhabe am gesell-
schaftlichen Leben. Das hört sich sehr groß an; darüber
ist ja schon vielfältig diskutiert worden. Vor fünf Jahren
wurde dieses Ziel in der UN-Behindertenrechtskonven-
tion festgehalten. Deutschland war das erste Land, das
diese Konvention unterzeichnet und ratifiziert hat, aber
wir sind natürlich noch nicht am Ende des Weges. Auch
unser Ziel ist eine inklusive Gesellschaft. Jeder Mensch
soll seine eigene Lebenssituation so weit wie möglich
selbst gestalten können.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das ist unser Anspruch. Eines kann ich Ihnen sagen, so
wie ich hier stehe: Bis zum Ende dieser Legislaturpe-
riode werden wir auf diesem Weg ein großes Stück vor-
angekommen sein.

Die Behindertenrechtskonvention beschreibt die Ein-
schränkungen von Menschen mit Behinderungen als ab-
hängig von der Wechselbeziehung zwischen den indivi-
duellen Fähigkeiten eines Menschen und den Barrieren,
auf die er trifft. Aufgrund einer Beeinträchtigung ist man
also nicht per se dafür prädestiniert, dass man nicht un-
eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben
kann. Oft ist es doch die Umwelt, die aus einer Beein-
trächtigung erst eine Behinderung macht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hier gilt es, den Finger in die Wunde zu legen. Bei-
spiel: Wenn Fußgänger die Welt planen würden, könnte
das durchaus eine Welt voller Stufen und Treppen sein.
Natürlich hätte das für einen Rollifahrer gravierende
Auswirkungen. In dieser Welt ist aber nicht der Rollstuhl





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)

die Barriere, sondern die Barriere sind die Treppen. Da-
rum müssen diese Treppen weg.


(Beifall bei der SPD)


Aus solchen und aus vielen anderen Gründen haben
wir im Koalitionsvertrag ein zutiefst sinnvolles und
menschliches Ziel definiert:

Menschen mit und ohne Behinderungen sollen zu-
sammen spielen, lernen, leben, arbeiten und wohnen.
In allen Bereichen des Lebens sollen Menschen mit
Behinderungen selbstverständlich dazugehören –
und zwar von Anfang an.


(Beifall bei der SPD)


An circa 20 Stellen im Koalitionsvertrag gibt es dazu
Aussagen. Als ich diese gefunden habe, war ich etwas
erstaunt, aber ich habe mich natürlich sehr darüber ge-
freut. Es gibt größere und kleinere Baustellen, die zu be-
arbeiten sind. Diese betreffen im Grunde genommen alle
Fachgebiete.

Wir haben festgestellt: Wir wollen die Eingliede-
rungshilfe zu einem modernen Teilhabegesetz machen.
Wir wollen eine gemeinsame Bildung vorantreiben und
einen Arbeitsmarkt schaffen, der auch Menschen mit
Behinderungen offensteht. Wir wollen Barrieren ab-
bauen. Wir brauchen einen leichteren Zugang für Men-
schen mit Behinderungen zu Transportmitteln. Jeder
kennt das: Ein Rollstuhlfahrer muss erst bei der Bahn an-
rufen, damit er überhaupt in den ICE kann. Wir brauchen
einen besseren Zugang zu Informationen und Kommuni-
kationsmöglichkeiten. Wir werden in der Gesundheits-
versorgung viel ändern und gerade bei der Vorsorge
mehr tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mir ist eines ganz besonders wichtig: Wir wollen das
Selbstbestimmungsrecht hilfebedürftiger Erwachsener
stärken. Willy Brandt hat in den 70er-Jahren von Men-
schen mit Behinderungen als Erster von Mitbürgern ge-
sprochen. Warum, frage ich, dürfen Menschen mit Be-
hinderungen, die unter voller Betreuung stehen, heute
nicht zur Wahl gehen? Diese Diskriminierung muss ein
Ende haben.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Barrierefreiheit verknüpfen wir immer mit einem
Rolli. Klar, wir wollen da sehr viel tun. Aber Barriere-
freiheit fängt im Kopf an, und zwar bei uns allen. Als
Opposition kann man zwar sagen, dass die Regierung
nicht genug tut, aber zum Beispiel für einen inklusiven
Arbeitsmarkt können wir nur den Rahmen setzen. Wir
brauchen auch Arbeitgeber, die bereit sind, Menschen
mit Behinderungen einzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir müssen den Rahmen auch machen!)

Barrierefreiheit hat also auch etwas mit Bildungsarbeit,
mit dem Abbau von Vorurteilen zu tun. Hierbei müssen
wir alle mithelfen.

Wenn ich von gemeinsamem Lernen und einem ge-
meinsamen Arbeitsmarkt rede, heißt das nicht gleichzei-
tig, dass es keine Werkstätten für Behinderte und keine
Sonderschulen für Kinder mit Förderbedarf geben soll.
Diese werden wir auch in der Zukunft brauchen. In die-
sem Punkt müssen Eltern Sicherheit haben.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU])


Wir wollen Teilhabe statt Fürsorge. Wir wollen ein
gemeinsames Spielen, Lernen, Wohnen und Arbeiten er-
möglichen. Wir tun etwas. Lassen Sie uns das auch ge-
meinsam mit der Opposition tun.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802705400

Danke, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist

Gabriele Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gabriele Schmidt (CDU):
Rede ID: ID1802705500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wenn man gegen Ende einer
Debatte ans Rednerpult tritt, dann ist schon viel gesagt
worden. Wir haben heute Morgen schon sehr viele wun-
derbare Beispiele für gelungene Inklusion, für Aktionen
im Interesse der Menschen mit Behinderungen und für
Leistungen der Menschen mit Behinderungen, zum Bei-
spiel in Sotschi, aber auch lokal, gehört. Ich werde daher
nicht noch weitere Beispiele nennen, sondern versuchen,
das Ganze aus meiner Sicht zusammenzufassen:

Wir wollen die Umsetzung der UN-Behinderten-
rechtskonvention vorantreiben und den Nationalen Ak-
tionsplan gemeinsam mit den Menschen mit Behinde-
rungen weiterentwickeln. Die Konvention ist durch die
Ratifizierung geltendes Recht und eine wichtige Leitli-
nie für die Behindertenpolitik in Deutschland. Das Ziel
des Übereinkommens ist, die selbstbestimmte Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen am politischen, ge-
sellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben
in Deutschland zu fördern, Diskriminierung zu unterbin-
den und den Inklusionsprozess in der Gemeinschaft wei-
ter anzustoßen und zu fördern. Es geht um Chancen-
gleichheit in der Bildung, um berufliche Integration und
um die gesamtstaatliche Aufgabe, Menschen mit Behin-
derungen einen selbstbestimmten Platz in einer barriere-
freien Gesellschaft zu sichern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dabei steht der Zugang für Menschen mit Behinde-
rungen zu Transportmitteln, Informationen, Diensten
und Einrichtungen im Vordergrund. Wir nehmen diese
Aufgabe sehr ernst, auch wenn uns von der Opposition
manchmal etwas anderes unterstellt wird.





Gabriele Schmidt (Ühlingen)



(A) (C)



(D)(B)

Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet
Vertragsstaaten, politische Konzepte zur Durchführung
auszuarbeiten und umzusetzen. Genau dieser Verpflich-
tung ist die Bundesregierung in der Zwischenzeit mit der
Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans nachgekom-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Nationale Aktionsplan wurde 2011 beschlossen.
Er leistet unserer Überzeugung nach einen wichtigen
Beitrag zur Förderung einer gleichberechtigten Teilhabe
von den rund 7 bis 8 Millionen in Deutschland lebenden
Menschen mit Behinderung. Dieser Aktionsplan trägt
nicht nur die Handschrift der Bundesregierung, sondern,
wie wir bereits gehört haben, von Anfang an auch die von
Menschen mit Behinderung. Er umfasst über 200 Einzel-
maßnahmen und hat einen Zeithorizont von zehn Jahren.
Darüber hinaus sind Länder und Kommunen dazu ange-
halten, eigene Aktionspläne zu erarbeiten. Das passiert
in vielgestaltiger Hinsicht; davon haben wir heute schon
gehört.

In dieser Legislaturperiode im Deutschen Bundestag
sind die Fortentwicklung und auch die Verbesserung der
Beteiligungsmöglichkeiten erklärtes Ziel. Von Septem-
ber 2013 bis Juni dieses Jahres wird der Nationale Ak-
tionsplan im Auftrag des BMAS von der Prognos AG
wissenschaftlich evaluiert. Schwerpunkt dabei ist die
Beteiligung der Zivilgesellschaft. In diesem Zusammen-
hang sollte noch einmal der von allen Fraktionen begrüßte
Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebensla-
gen von Menschen mit Beeinträchtigungen erwähnt wer-
den. Dieser Teilhabebericht ist im Übrigen auch von der
Fachöffentlichkeit sehr positiv aufgenommen worden.
Sie sehen also: Wir kommen unseren Verpflichtungen
nach.

Mit der Schaffung des SGB IX, des Behinderten-
gleichstellungsgesetzes, der Gleichstellungsgesetze al-
ler 16 Bundesländer und des am 18. August 2006 in
Kraft getretenen Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes
wurde in den letzten zehn Jahren die Grundlage für mehr
Selbstbestimmung und Teilhabe geschaffen. Die Ergeb-
nisse der Evaluation des Nationalen Aktionsplans und
die Erkenntnisse des Teilhabeberichts werden in die
Weiterentwicklung einfließen. Die Erkenntnisse der
Staatenprüfung werden ebenfalls Berücksichtigung fin-
den.

Im September 2014 soll der von der Bundesregierung
eingereichte erste Staatenbericht aus dem Jahr 2011 vom
UN-Vertragsausschuss für die Rechte von Menschen mit
Behinderungen abschließend geprüft werden. Die Eva-
luation des Behindertengleichstellungsgesetzes und der
drei auf seiner Grundlage ergangenen Rechtsverordnun-
gen ist ebenfalls eine Aufgabe, die sich aus dem Nationa-
len Aktionsplan ergibt. Dabei sollen möglicher Anpas-
sungsbedarf und Regelungslücken aufgezeigt werden.
Die Bewertung des Gesetzes hat zum Ziel, verlässliche
Erkenntnisse darüber zu erhalten, ob alle Gruppen von
Menschen mit Behinderungen ausreichend berücksich-
tigt sind und ob sich die Instrumente dieses Gesetzes in
der Praxis bewährt haben. Hier geht es insbesondere um
leichte Sprache, Zielvereinbarungen und Verbandsklage.
Der Abschlussbericht soll, wie zu vernehmen ist, schon
im Mai dieses Jahres vorliegen.

Zum Schluss möchte ich noch auf die Forderung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach einer Anpassung
des Behinderungsbegriffs eingehen. Wie bereits erwähnt,
ist die Konvention geltendes Recht. Diese Forderung ist
nach meiner Ansicht überflüssig und in der Sache nicht
zielführend. Denn der im SGB IX und im Behinderten-
gleichstellungsgesetz definierte Behinderungsbegriff
stellt eben nicht nur auf gesundheitliche Funktionsbeein-
trächtigungen ab, sondern er nimmt auch die Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen
Leben in den Blick und entspricht somit den Anforde-
rungen der Konvention.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen wird derzeit vom Arbeitsministerium im
Rahmen der bereits angesprochenen Evaluation des Be-
hindertengleichstellungsgesetzes geprüft, ob der Begriff
angepasst werden muss. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Opposition, lassen Sie uns da bitte nicht um
Begriffe streiten, sondern in der Sache arbeiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802705600

Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Nächste Red-

nerin in der Debatte: Heike Baehrens für die SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Heike Baehrens (SPD):
Rede ID: ID1802705700

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und

Herren! Hätten Sie gedacht, dass vier von fünf Arztpra-
xen in Deutschland nicht barrierefrei sind


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Ja, leider!)


und dass in nicht einmal 7 Prozent der Praxen barriere-
freie Sanitärräume vorhanden sind?


(Zuruf von der SPD: Traurig!)


Ist Ihnen bewusst, dass Ärzte und Pflegekräfte in unse-
ren Krankenhäusern mit der Behandlung von an Demenz
erkrankten Patienten und von Menschen mit geistiger
Behinderung in der Regel überfordert sind? Menschen
mit erheblichen Behinderungen oder besonders originel-
lem Verhalten haben oft einen komplexen Hilfebedarf.
Darauf ist unser Gesundheitswesen in der Breite noch
nicht eingestellt. Wir müssen heute ehrlich zugeben,
dass die zentrale Intention der UN-Behindertenrechts-
konvention noch nicht in der Mitte unserer Gesellschaft
angekommen ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE] und Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Recht allgemein und dennoch bestimmt formuliert
Art. 25 der Konvention:





Heike Baehrens


(A) (C)



(D)

Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Men-
schen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchst-
maß an Gesundheit ohne Diskriminierung …

Sehr viel konkreter wird dann Art. 26, der besagt:
Menschen mit Behinderungen sollen in die Lage versetzt
werden,

ein Höchstmaß an Unabhängigkeit … und die volle
Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen
… Zu diesem Zweck organisieren, stärken und er-
weitern die Vertragsstaaten umfassende Habilita-
tions- und Rehabilitationsdienste und -programme,
insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit …
und der Sozialdienste …

Dies bleibt auch fünf Jahre nach Unterzeichnung der
Konvention Aufgabe und Herausforderung in unserem
Land.

Unüberwindbare Treppen, zu schmale Türen, unge-
eignete Behandlungstische und -stühle bei Ärzten und in
Krankenhäusern markieren dabei Barrieren, die mit gu-
tem Willen und mit recht überschaubarem Ressourcen-
einsatz in absehbarer Zeit beseitigt werden können.
Ärzte und andere Akteure jedenfalls hätten den als
Rechtsanspruch verankerten Sinn der UN-Konvention,
vor allem aber auch die Zeichen des demografischen
Wandels noch nicht wirklich erkannt, wenn sie diese
Missstände nicht zeitnah und konsequent beseitigen
würden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


An anderen Stellen sind dickere Bretter zu bohren. So
erleben behinderte und chronisch kranke Menschen bei
der Versorgung mit Arznei- und Hilfsmitteln fast täglich
die Diskrepanz zwischen ihrem gesetzlichen Anspruch
und der vom Kostendämpfungsbestreben beherrschten
Wirklichkeit: wenn die Zeit für den Aufbau von Ver-
trauen und Verstehen fehlt, wenn Assistenz nicht zur
Verfügung steht, wenn das Taschengeld nicht reicht, um
rezeptfreie Arzneimittel bezahlen zu können, wenn
Kommunikation nicht gelingt, weil man einfach nicht
die gleiche Sprache spricht. Die volle Zugänglichkeit zu
Gesundheitsleistungen wird nur dann realisiert, wenn die
noch immer in erheblichem Maße vorhandenen Kommu-
nikationsbarrieren konsequent abgebaut werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Müssten nicht alle Beschäftigten im medizinischen
Bereich eine für Laien verständliche Sprache nutzen, um
so überhaupt erst eine gute Kommunikation auf Augen-
höhe zu ermöglichen? Beipackzettel oder Therapiean-
weisungen in einfacher Sprache zu formulieren, wäre
nicht nur für Menschen mit Behinderungen ein legitimer
Anspruch; es wäre ein Gewinn für alle und ein wichtiger
Beitrag zu einer bürgernahen Gesundheitsversorgung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Noch ein letzter Aspekt. Es gibt viele gute Angebote
und fantastische Hilfsmittel, aber die größten Hürden
sind dann zu überwinden, wenn es um die Frage geht:
Wer trägt die Kosten? Wer ist zuständig? Wo stelle ich
den Antrag? Dies bleibt auch nach fünf Jahren immer
noch eine große Aufgabe und Herausforderung. Dieser
Aufgabe sollten wir uns stellen bei den anstehenden Ge-
setzgebungsvorhaben, die wir uns vorgenommen haben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802705800

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner: Uwe

Lagosky für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD])



Uwe Lagosky (CDU):
Rede ID: ID1802705900

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! „Nichts über uns ohne uns“ steht bei uns im
Koalitionsvertrag als einfache Vorgabe für die Umset-
zung der UN-Behindertenrechtskonvention. Unsere Ge-
sellschaft können wir und wollen wir nur gemeinsam mit
den Menschen mit Behinderung inklusiv gestalten.

Das zentrale Maßnahmenpaket hierfür ist der Natio-
nale Aktionsplan aus dem Jahr 2011. Bei ihm geht es
nicht nur darum, Mittel in mehr Barrierefreiheit zu ste-
cken oder das Behindertengleichstellungsgesetz oder das
AGG zu ändern, wie es in den von der Fraktion Die
Linke und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ein-
gebrachten Anträgen gefordert wird, sondern es geht um
viel mehr; denn die Inklusion betrifft alle Lebenslagen
und erfordert deshalb notwendigerweise einen Wandel
im Denken der Menschen insgesamt. Dieser gesell-
schaftliche Entwicklungsprozess wird durch unsere Vor-
gaben im Koalitionsvertrag sowie durch das Maßnah-
menpaket im Nationalen Aktionsplan mehr als gut
flankiert.

Als letzter Redner in einer Reihe von vielen ist es mir
jetzt wichtig, einmal auf den Arbeitsmarkt zu schauen
und ihn unter dem Blick der Inklusion zu betrachten.
Wer arbeitet und sich auf diese Weise einbringt, erfährt
das Gefühl, gebraucht zu werden. Außerdem haben so-
wohl die berufliche Kommunikation als auch die sozia-
len Kontakte im Betrieb eine besondere Bedeutung für
ein erfülltes Leben.

Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf die 3 Millio-
nen behinderten Menschen hinweisen, die im arbeitsfä-
higen Alter sind. Diese Zahl steigt nach Angaben der
Bundesagentur für Arbeit in den nächsten Jahren noch.
Von ihnen waren im März 2014 ungefähr 183 000 ar-
beitslos. Es hat nach Verlust der Arbeit im Durchschnitt
77 Wochen gebraucht, bis ein Behinderter wieder in den
Arbeitsprozess eingegliedert werden konnte. Bei ande-
ren Arbeitslosen beträgt diese Zeit 64 Wochen. Für ar-
beitslose Schwerbehinderte ist es also deutlich schwieri-
ger, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Kümmern wir uns
also darum, auch dieses Potenzial zu heben! Arbeiten
wir daran, dass die Schwerbehinderten vermehrt in Be-
schäftigung kommen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


(B)






Uwe Lagosky


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sicherlich gibt es
zahlreiche Arbeitgeber, die immer noch unsicher sind,
was die Einstellung von behinderten Menschen angeht:
Fallen teure Anschaffungen an? Sind Umbauarbeiten er-
forderlich? Antworten auf diese Fragen liefern in unserer
Gesellschaft die Arbeitgeberservices und der Technische
Beratungsdienst der Bundesagentur für Arbeit. Sie kön-
nen auch bei der finanziellen Förderung entsprechender
Maßnahmen helfen oder Kontakte zum passenden Kos-
tenträger herstellen. In ihrem Geschäftsbericht weist die
BA übrigens 2,43 Milliarden Euro für die Förderung von
Menschen mit Behinderung aus. Dieses hohe Niveau
wird auch im aktuellen Haushaltsplan gehalten.

Nun müssen die Arbeitgeber solche Fördermaßnah-
men natürlich auch kennen. Als eines der vielen positi-
ven Beispiele möchte ich hier einmal VW nennen. Ich
habe mich vorgestern mit einem Freund unterhalten, der
in der Schwerbehindertenvertretung von VW Salzgitter
mitwirkt. Er bestätigte mir das, was ich in meiner be-
triebsrätlichen Arbeit bei BS|ENERGY bis zum letzten
Jahr kennengelernt habe: Es werden alle Möglichkeiten
ergriffen, damit Beschäftigte mit einer Behinderung im
Arbeitsleben bleiben können. Die Schwerbehinderten-
vertreter organisieren gemeinsam mit dem Betrieb Hilfe-
stellungen an den Arbeitsplätzen. Sie führen Begehun-
gen durch. Sie bieten Beratungsdienstleistungen an und
führen den Dialog mit den Integrationsämtern, und die
wiederum gestalten die Arbeitsplätze entsprechend mit.

Auch die Ausbildung von Menschen mit Behinderung
erfolgt samt aller erdenklichen Hilfestellungen. Ent-
scheidend ist, dass die gesundheitlichen Grundvoraus-
setzungen erfüllt sind und die notwendigen Qualifikatio-
nen gegeben sind. Wir müssen mit solchen guten
Beispielen werben, damit unsere gesamte Gesellschaft
davon lernt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gemäß dem Koalitionsvertrag werden wir die Arbeit
der Schwerbehindertenvertretungen in Zukunft unter-
stützen. Unter anderem geschieht das zurzeit schon
durch die Initiative Inklusion. Diese von der Bundesre-
gierung mit den Ländern, Kammern, Integrationsämtern,
Hauptfürsorgestellen und der BA entwickelte Initiative
soll vor allem jugendlichen Menschen mit Behinderung
den Eintritt in das reguläre Arbeitsgeschäft erleichtern.
Bis 2016 werden in diesem Programm 100 Millionen
Euro ausgegeben, die aus dem Ausgleichsfonds kom-
men; davon haben wir heute hier ja schon mehrfach ge-
hört. In eine ähnliche Richtung geht eines der jüngsten
Projekte: die Inklusionsinitiative für Ausbildung und Be-
schäftigung. Auch diese unterstützt die Bundesregierung
mit 50 Millionen Euro aus dem Ausgleichsfonds.

Fassen wir zusammen: Der 2011 eingeführte Natio-
nale Aktionsplan setzt bis 2020 die UN-Behinderten-
rechtskonvention in Deutschland um. Die meisten Maß-
nahmen wurden bis Ende der 17. Wahlperiode
angeschoben, einige sogar abgeschlossen. Die heutige
Debatte allerdings zeigt, dass wir hier noch viel zu tun
haben. Lassen Sie uns das Bundesteilhabegesetz ge-
meinsam auf den Weg bringen! Dafür möchte ich wer-
ben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802706000

Vielen Dank, Herr Kollege Lagosky. – Sie sind noch

nicht der letzte Redner in dieser Debatte.

Das letzte Wort hat vielmehr Dr. Martin Rosemann
für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Martin Rosemann (SPD):
Rede ID: ID1802706100

Frau Präsidentin! Es ist schön, hier auch einmal das

letzte Wort zu haben.


(Heiterkeit)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802706200

Das allerletzte Wort haben Sie nicht; das habe ich.

Aber Sie haben fast das letzte Wort.


Dr. Martin Rosemann (SPD):
Rede ID: ID1802706300

Das allerletzte Wort haben Sie; das habe ich mir

schon gedacht. – Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit einer persönli-
chen Bemerkung beginnen. Ich selber habe seit meiner
Geburt eine Körperbehinderung: Mein rechtes Bein ist
16 Zentimeter kürzer als das linke; an der rechten Hand
habe ich nur drei Finger. Meine Erfahrung vor allem als
Kind und Jugendlicher war immer: Ich wollte einfach
genauso mitmachen wie die anderen auch, vor allem
beim Fußball. Allen Menschen mit Behinderungen wel-
cher Art auch immer, die ich im Laufe meines Lebens
kennengelernt habe, ging es genauso. Sie wollten keine
Sonderbehandlung, schon gar kein Mitleid,


(Beifall im ganzen Hause)


sondern sie wollten einfach mitmachen und dabei sein
wie die anderen auch. In diesem Geist ist ja auch die
UN-Behindertenrechtskonvention verfasst. Deswegen
ist heute einfach ein guter Tag, zu sagen: Herzlichen
Glückwunsch zu fünf Jahren UN-Behindertenrechtskon-
vention!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei Geburtstagen sollte man vielleicht auch etwas
über die Väter und Mütter sagen. Deswegen will ich,
nachdem vorhin Herrn Hüppe zu Recht für seine Arbeit
gedankt und er für sie gelobt worden ist, auch derjenigen
für ihre Arbeit danken, die damals, als die UN-Behinder-
tenrechtskonvention von Deutschland unterschrieben
wurde, die Beauftragte der Bundesregierung war, näm-
lich Karin Evers-Meyer.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)






Dr. Martin Rosemann


(A) (C)



(D)(B)

Man muss immer noch ein bisschen weiter zurückgehen;
alles hat ja Ursachen. So will ich auch den Vater des
SGB IX, Karl Hermann Haack, nicht verschweigen.
Auch ihm möchte ich für seine Arbeit damals unter Rot-
Grün danken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich wissen wir alle: Bei der Umsetzung der
UN-Konvention gibt es Licht und Schatten. Deshalb ist
es aus meiner Sicht von zentraler Bedeutung, dass sich
die Große Koalition eine umfassendere Reform der Ein-
gliederungshilfe im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes
vorgenommen hat. Das ist eines der wichtigsten und
größten Projekte in dieser Legislaturperiode. Technisch
geht es nur darum, das Bundesteilhabegesetz im SGB IX
als eigenständigen Leistungsbereich zu verankern. Es
geht also um nichts weiter als die Umsetzung der UN-
Behindertenrechtskonvention in ein bundesdeutsches
Teilhaberecht. In Wirklichkeit geht es dabei aber um
nicht weniger als eine völlig neue Ausrichtung der Poli-
tik für behinderte Menschen, nämlich von der Fürsorge
zur Teilhabe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das verlangt von vielen ein völliges Umdenken, ein
neues Denken nach dem Motto: Behindert ist man nicht,
behindert wird man. – Besonders wichtig ist mir wie
auch vielen, die vor mir gesprochen haben, die Teilhabe
von behinderten Menschen am ersten Arbeitsmarkt. Da-
für braucht es mehr Durchlässigkeit. Das bedeutet für
mich aber auch, auf all diejenigen Regelungen kritisch
zu schauen, die bisher eine Beschäftigung am ersten Ar-
beitsmarkt gegenüber einer Beschäftigung in einer
Werkstatt für behinderte Menschen diskriminieren.

Ich habe in meinem Wahlkreis ein Projekt, bei dem
sich Leute darum bemühen, Beschäftigungsverhältnisse
am ersten Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen
zu schaffen.


(René Röspel [SPD]: Sauschwer!)


Das ist in der Praxis mit großem Aufwand verbunden: Es
geht darum, geeignete Stellen zu finden; es geht darum,
Stellen entsprechend auszugestalten; es geht darum, die
Menschen in dieser Beschäftigung auch immer weiter zu
begleiten. Dafür stehen bisher noch nicht ausreichend
Instrumente zur Verfügung.

Meine Damen und Herren, beim Bundesteilhabege-
setz muss aus meiner Sicht gelten: Gründlichkeit geht
vor Schnelligkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das BMAS geht dieses Projekt rechtzeitig an, damit es
mit der notwendigen Gründlichkeit vorangetrieben wer-
den kann, und die SPD-Bundestagsfraktion begleitet die-
sen Prozess auch mit einer eigenen Arbeitsgruppe und
bringt, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, Vor-
schläge ein. Für uns – ich will das für die SPD-Fraktion
noch einmal ganz deutlich sagen – ist zentral, dass das
Bundesteilhabegesetz im Jahr 2016 verabschiedet wird,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


dass es im Jahr 2017 in Kraft tritt und dass die Entlas-
tungswirkungen für die Kommunen bereits im Jahr 2017
beginnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ebenso zentral ist für uns, dass bereits der Prozess der
Entwicklung dieses Bundesteilhabegesetzes inklusiv
sein muss. Das bedeutet: von Beginn an Beteiligung der
Behindertenverbände, und nicht nur der großen Ver-
bände, sondern auch Beteiligung von Selbsthilfegrup-
pen, von Angehörigenvertretungen und von den Men-
schen mit Behinderungen selbst. Es darf keine Änderung
über die Köpfe der Betroffenen hinweg geben. Hier
fängt die Inklusion an, meine Damen und Herren!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Letzter Satz, Frau Präsidentin: Ich meine, dass wir
mit Andrea Nahles und Verena Bentele die beiden richti-
gen Frauen an der Spitze dieses Prozesses haben. Ich
weiß, beiden ist dies ein Herzensanliegen, ebenso uns als
SPD-Bundestagsfraktion. Wir freuen uns darauf.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802706400

Danke, Herr Kollege. – Damit schließe ich die De-

batte.

Ich bedanke mich bei allen; denn es wurde, wie ich
glaube, heute sehr deutlich: Dies ist nicht nur das Anlie-
gen der SPD-Fraktion. Ich hoffe, dass die Gäste auf den
Tribünen gemerkt haben, dass dieses Parlament auch der
Ort für leidenschaftliche Debatten sein kann und ist, De-
batten, in denen man zeigt, dass man das Gemeinsame in
den Vordergrund stellen will und nicht das Trennende.
Nicht nur heute Morgen bei der Debatte zum Völker-
mord in Ruanda, sondern auch jetzt konnte man merken,
dass hier auch Herzenswärme und Intelligenz zu Hause
ist. Vielen Dank für diese intensive Diskussion!


(Beifall)


Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/977 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.


(Unruhe)


– Ich darf kurz noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit
bitten.

Die Vorlage auf Drucksache 18/972 soll ebenfalls an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
wiesen werden. Dabei ist die Federführung aber strittig.
Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Fe-
derführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit. Die Fraktion Die Linke





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit und
Soziales. Deswegen müssen wir jetzt darüber abstim-
men.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim
Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist bei
Zustimmung der Linken und Ablehnung durch CDU/
CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Fe-
derführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Über-
weisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Damit ist der Überweisungsvorschlag mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen bei Ablehnung durch die Linken angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
am maritimen Begleitschutz bei der Hydro-
lyse syrischer Chemiewaffen an Bord der
CAPE RAY im Rahmen der gemeinsamen
VN/OVCW-Mission zur Vernichtung der sy-
rischen Chemiewaffen

Drucksache 18/984
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin Dr. Ursula von der Leyen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Bundesregierung wendet sich heute
mit der Bitte an Sie, der Entsendung einer Fregatte zur
Absicherung der gemeinsamen Mission der Vereinten
Nationen und der Organisation für das Verbot chemi-
scher Waffen zur Vernichtung von syrischen Chemie-
waffen zuzustimmen.

Uns allen ist der dramatische und tragische Hinter-
grund dieser Mission klar: In Syrien tobt seit drei Jahren
ein Bürgerkrieg. Wahrscheinlich sind schon über
100 000 Menschen getötet worden. Millionen Menschen
sind auf der Flucht. Immer wieder kommt es zu grauen-
haften Verbrechen.
Ein unfassbares Ausmaß an Grauen hatte aber das
Verbrechen, das am 21. August 2013 stattfand, als das
Regime Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung
gerichtet hat.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Das war eine Stufe der Barbarei, die wir auf das Aller-
schärfste verurteilen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802706500

Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Jan van Aken?

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Ja.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802706600

Gut.


Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802706700

Frau von der Leyen, Sie haben gerade gesagt, dass

das Regime am 21. August 2013 diese Chemiewaffen
eingesetzt hat. Die Vereinten Nationen sagen nichts
dazu, wer sie eingesetzt hat. Sie sagen ausdrücklich: Es
kann nicht festgestellt werden, wer sie eingesetzt hat. –
Das einzig Konkrete, was sie dazu sagen, ist: Es ist sehr
wahrscheinlich, dass es Chemiewaffen aus den Bestän-
den der syrischen Armee waren, es ist aber völlig unklar,
ob möglicherweise Rebellen diese Waffen eingesetzt ha-
ben, nachdem sie sie erobert hatten, oder Assad-Truppen
selbst.

Da Sie gerade eben gesagt haben, es sei das Regime
gewesen, frage ich Sie: Können Sie kurz darstellen, auf
welche Quellen Sie diese Aussage fußen?

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Auf genau den Quellen, die Sie eben zitiert haben,
nämlich dass es Chemiewaffen aus den Lagern des Regi-
mes waren.


(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)


Genau das haben Sie eben angeführt. Ich glaube, einen
Grabenkrieg darum zu führen, wer diese Chemiewaffen
eingesetzt hat, bringt nichts. Alle Hinweise deuten da-
rauf, dass es so ist, wie wir das gesagt haben.


(Zuruf von der LINKEN: Unverantwortlich für eine Ministerin!)


Darüber aber, dass das eine Barbarei gegen die Bevölke-
rung in Damaskus gewesen ist, besteht in diesem Hohen
Haus wohl Einigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der LINKEN)


Hunderte von Menschen sind durch diese Angriffe
ums Leben gekommen, Hunderte von Kindern und Frauen.
Menschen mit schwersten Verletzungen und Vergiftun-





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

gen sind in Krankenhäuser eingeliefert worden. Es hat
die Grenzen unserer Vorstellungskraft schier überschrit-
ten, als wir gesehen haben, wozu Menschen beim Ein-
satz von Chemiewaffen fähig sind. Deshalb sind wir
heute alle aufgerufen, diese chemischen Waffen nicht
nur zu ächten, sondern mit aller Kraft dabei zu helfen,
sie auch zu vernichten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Weltgemeinschaft hat diesen Angriff nicht nur
verurteilt, sondern sie hat auch gehandelt, und zwar ge-
schlossen und gemeinsam. Jetzt geht es darum, dass wir
konkret werden, dass wir alle dazu stehen, was wir ge-
meinsam beschlossen haben. Für diesen Einsatz ist das
amerikanische Spezialschiff „Cape Ray“ vorgesehen,
das in der Lage ist, auf hoher See eine Hydrolyse dieser
chemischen Kampfstoffe durchzuführen. Nach der Hy-
drolyse entsprechen die chemischen Kampfstoffe han-
delsüblichen Chemieabfällen gewerblicher Art. Dieses
Verfahren läuft über mehrere Wochen und Monate auf
hoher See. Dabei muss die „Cape Ray“ geschützt wer-
den. Die Gefährdungslage im Mittelmeer ist zwar ge-
ring, aber die Symbolkraft dieses Schiffes ist hoch.

Uns ist wichtig, dass im Rahmen der Resolution 2118
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nicht nur die
Beseitigung der Chemiewaffen verbindlich gefordert
wird, sondern auch die Unterstützung dieser Mission.
Deshalb wollen wir nicht nur eine Fregatte entsenden,
sondern wir bieten auch Verbrennungskapazitäten für die
Abfälle, Laborfähigkeiten und finanzielle Unterstützung
an.

Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang
ein Wort zu dieser Mission, die eigentlich zusammen mit
Russland durchgeführt werden sollte. Nach diesem
schrecklichen Verbrechen in Syrien wurde zwischen den
USA und Russland eine Rahmenvereinbarung getroffen.
Auf dieser Basis ist die gemeinsame Resolution des UN-
Sicherheitsrates entstanden. Ursprüngliche Idee war es,
dass der Begleitschutz der „Cape Ray“ als gemeinsame
Operation der NATO und Russlands durchgeführt wird.
Angesichts des russischen Vorgehens auf der Krim hat
die NATO die militärische Kooperation mit Russland
ausgesetzt. Ich finde, das ist verständlich.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Bei dieser gemeinsamen Mission unter dem Dach der
Vereinten Nationen und der OVCW geht es auch darum,
sicherzustellen, dass sich die Stärke des Völkerrechts ge-
gen das brutale Recht des Stärkeren in Syrien durchsetzt.


(Zurufe von der LINKEN)


Ursprünglich hat Russland am Zustandekommen dieser
Resolution mitgewirkt. Das heißt, es teilt unser Inte-
resse, dass auf Basis des Völkerrechts diese syrischen
Chemiewaffen vernichtet werden. Vor diesem Hinter-
grund finde ich es wichtig – das ist unser aller Hoff-
nung –, dass sich Russland darauf besinnt, dass auch in
anderen Regionen der Welt das Völkerrecht voll und
ganz zu respektieren ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn dies wieder der Fall sein sollte, dann, so hoffe ich,
wird auch wieder ein gemeinsames Vorgehen von NATO
und Russland möglich sein.

Zwei Gedanken möchte ich noch mit Ihnen teilen. Die
Krim-Krise bindet zurzeit fast die gesamte Aufmerksam-
keit. Aber der Bürgerkrieg in Syrien tobt immer weiter,
und die Weltgemeinschaft hat noch immer keine Lösung
für diesen Konflikt gefunden. Bei aller Notwendigkeit
der Konzentration auf die Krim-Krise dürfen wir das
Elend der syrischen Bevölkerung nicht vergessen und
unsere Aufmerksamkeit nicht von Syrien abwenden.
Hier muss gemeinsam mit der Weltgemeinschaft eine
Lösung gefunden werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben jetzt die Chance, unseren Beitrag zu den
Abrüstungsbemühungen der Weltgemeinschaft zu er-
bringen. Ich hoffe, dass das ganze Hohe Haus – das sage
ich bewusst mit Blick auf die Linke – dieses Mandat un-
terstützt; denn ich finde: Wer in seiner Forderung nach
Abrüstung glaubwürdig bleiben will, der darf sich dann
bei der praktischen Umsetzung dem auch nicht ver-
schließen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802706800

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Das Wort hat

Christine Buchholz für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802706900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute

geht es um syrische Chemiewaffen. Woher kommt das
Giftgas eigentlich? Zwischen 1982 und 1993 waren
deutsche Firmen an der Lieferung von Material für syri-
sche Giftgasfabriken beteiligt.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Weichen Sie doch der Thematik nicht aus!)


Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen
übermittelte kürzlich 50 Namen der beteiligten deut-
schen Firmen. Doch die Bundesregierung weigert sich,
die Namen der Firmen bekannt zu geben.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Sie hat sie dem Generalbundesanwalt gegeben!)


Es geht noch weiter: Deutsche Firmen haben zwi-
schen 1998 und 2011 350 Tonnen an chemischen Sub-
stanzen, aus denen Giftgas hergestellt werden kann – so-
genannte Dual-Use-Substanzen – an das Assad-Regime
geliefert. Die Bundesregierung wiegelt auch in diesem
Punkt ab.





Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)

Nun geht es endlich um die Zerstörung von Chemie-
waffen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Linke begrüßt, dass die Vernichtung der Reste des
syrischen Giftgases in Deutschland erfolgen soll.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie wären durchaus glaubwürdiger, Frau von der Leyen,
wenn Sie die Exporte von chemiewaffenfähigem Mate-
rial an Länder, die die Chemiewaffenkonvention nicht
unterzeichnet haben, unverzüglich stoppen würden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der heutigen Debatte geht es um ein Mandat für
den Einsatz eines Kriegsschiffes der Marine. Es soll sich
am Schutz des US-Marineschiffes „Cape Ray“ im Mit-
telmeer vor Italien beteiligen. Auf diesem Schiff findet
die erste Stufe der Vernichtung des syrischen Giftgases,
die sogenannte Hydrolyse, statt.

Ursprünglich hieß es, es handele sich um einen Ein-
satz im Rahmen des NATO-Russland-Rates. Dann
wurde die Kooperation mit Russland seitens der NATO
aufgekündigt – wegen der Krim-Krise. Ich glaube nicht,
dass das das ganze Verfahren sicherer gemacht hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt haben wir eine Mission, die unter dem Kom-
mando der USA steht. Auch der Mandatstext zeigt, dass
es sich vor allem um eine US- und NATO-Operation
handelt.


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Unsinn!)


Dazu gibt es noch Fragen: Warum beispielsweise wer-
den als Operationsgebiet das Mittelmeer und der Nordat-
lantik plus angrenzende Seegebiete ausgewiesen? Bisher
hieß es, die deutsche Fregatte soll die „Cape Ray“ nur
auf ihrem kurzen Weg von dem italienischen Hafen
Gioia Tauro in internationale Gewässer vor der italieni-
schen Küste begleiten. Meine Damen und Herren, das
Vorgehen der Regierung macht misstrauisch.


(Beifall bei der LINKEN)


Hinzu kommt, dass, wie wir wissen, der Hydrolyse-
prozess auf der „Cape Ray“ bereits durch eine US-Spezi-
aleinheit an Bord und einen inneren Ring aus US-
Kriegsschiffen geschützt wird. Darum soll ein Ring aus
Kriegsschiffen verschiedener anderer Staaten gelegt
werden, darunter die Fregatte „Augsburg“.

Ich meine, es handelt sich beim Einsatz dieser Fre-
gatte – auch militärisch – vor allem um eine symbolische
Aktion. Doch die entscheidende Frage ist: ein Symbol
für was?


(Henning Otte [CDU/CSU]: Sprechen Sie doch zum Thema!)

Die Antwort liegt auf der Hand: für die neue außenpoliti-
sche Strategie der Bundesregierung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie schicken die Bundeswehr in mehr internationale Ein-
sätze und nennen das Bündnistreue. Sie wollen ihre mili-
tärischen Fähigkeiten ausbauen und testen, und Sie wol-
len die Öffentlichkeit daran gewöhnen; denn noch
immer lehnen drei Viertel der Bevölkerung die Aus-
landseinsätze der Bundeswehr ab.


(Beifall bei der LINKEN – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht diesen! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Frau Buchholz!)


– Nun regen Sie sich aber nicht auf! Sie haben gestern
einen weiteren Bundeswehreinsatz, nämlich den in So-
malia, beschlossen,


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ein Ausweichmanöver nach dem anderen!)


und Sie wollen nächste Woche nicht nur die Entsendung
der Fregatte ins Mittelmeer beschließen, sondern auch
noch einen neuen Einsatz in der Zentralafrikanischen
Republik. Ohne uns!


(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Beides ohne Sie!)


Meine Damen und Herren, meine Fraktion diskutiert
das vorliegende Mandat noch.


(Niels Annen [SPD]: Immerhin!)


Mir persönlich ist noch kein Argument bekannt gewor-
den, das mich bewegen könnte, meine Absicht, mit Nein
zu stimmen, zu ändern.

Ich fasse zusammen: Erstens. Es ist gut, dass die Ver-
nichtung der Reste des syrischen Giftgases in Deutsch-
land erfolgen soll.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Gut, dass wir Verantwortung übernehmen!)


Zweitens. Statt die Bundeswehr in den nächsten Ein-
satz zu schicken, sollten Sie Ihren Beitrag zur Abrüstung
leisten.


(Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Gut, dass wir Verantwortung übernehmen!)


Klären Sie endlich die Beteiligung von deutschen Fir-
men an der Lieferung von Material und Substanzen für
die syrischen Giftgasfabriken auf!


(Henning Otte [CDU/CSU]: Das macht der Generalbundesanwalt! – Gegenruf der Abg. Karin Binder [DIE LINKE]: Das ist eine politische Entscheidung!)


Stoppen Sie die Lieferung von solchen Chemikalien an
die fünf Länder, die keine Vertragsstaaten der Chemie-
waffenkonvention sind!


(Beifall bei der LINKEN)






Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)

Nur so wird glaubwürdig garantiert, dass Chemiewaffen
nicht ihre tödliche Bestimmung finden: weder in Syrien
noch irgendwo sonst auf der Welt.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1802707000

Danke, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist Staats-

minister Michael Roth.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1802707100

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es dürfte neben der Ukraine derzeit keine Kri-
senregion weltweit geben, die uns derart aufwühlt wie
Syrien, ja, gelegentlich fassungslos macht angesichts
dessen, was Menschen dort zu erleiden haben, was ein
Regime, eine Diktatur, Bürgerinnen und Bürgern des ei-
genen Landes antut.

Sie werden sich vielleicht noch an die letzte Rede von
Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu Syrien hier
im Deutschen Bundestag erinnern. Wir standen damals
kurz vor Beginn der Genfer Friedensverhandlungen. Ich
gebe zu: Wir waren damals nicht sonderlich optimis-
tisch, aber wir haben eine Chance für einen politischen
Prozess gesehen, der endlich das furchtbare Leid der
Menschen in Syrien beenden oder doch zumindest die
brutale Gewalt verringern würde. Diese Chance wollten
wir gemeinsam mit unseren Partnern nutzen.

Wir haben auch bei den Oppositionellen in Syrien
– ob sie nun bewaffnet oder unbewaffnet sind – entschie-
den dafür geworben, dass sie diese Chance zum Frieden
ergreifen. In Genf haben die Vertreter der Nationalen
Koalition dann auch – das muss man sagen – sehr kon-
struktiv mitverhandelt. Es war aber wieder einmal das
Assad-Regime, das den Prozess missbraucht hat, um
Zeit zu gewinnen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist völliger Unsinn!)


– Wenn Sie mir, liebe Vertreter der Linkspartei, schon
nicht glauben wollen: Ich zitiere hier den Sondergesand-
ten der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga,
Lakhdar Brahimi. Der hat dies nämlich sehr deutlich for-
muliert. Er als Vertreter der Arabischen Liga und der
Vereinten Nationen – nicht die Bundesregierung und auch
nicht Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier –
hat zum Ausdruck gebracht, er werde so lange keine
dritte Gesprächsrunde einberufen, bis er sicher sein könne,
dass die Regierungsseite ernsthaft verhandele. Wir müssen
hier die Verantwortung schon klar und deutlich benen-
nen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Leider deutet derzeit wenig darauf hin, dass Assad
sich kompromissbereit zeigen wird. Im Gegenteil: Er be-
reitet seine Wiederwahl auf Grundlage einer pseudode-
mokratischen Gesetzgebung vor, die praktisch keine Ge-
genkandidaten zulässt, und er setzt ganz offenbar darauf,
eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu suchen. Der
Diktator setzt die Vernichtung seines eigenen Volkes
kaltblütig fort.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine militärische
Lösung des Syrien-Konflikts kann und darf es nicht ge-
ben. Der Versuch, einen Sieg zu erzwingen, würde die
Spirale der Gewalt noch weiter drehen und noch mehr
Menschenleben fordern. Eine solche Politik ist verant-
wortungslos und menschenverachtend. Ich will noch
einmal in Erinnerung rufen: Assads Regime, die Armee
hat ganze Stadtteile ausgehungert und in die Kapitula-
tion gezwungen. Assad lässt Wohnviertel bombardieren.
Alleine aus Aleppo ist wegen dieser grausamen Kriegs-
führung seit Beginn des Krieges eine halbe Million Men-
schen geflohen. Die Regierung behindert konsequent
den humanitären Zugang in solche Gegenden des Lan-
des, in denen sie eine oppositionelle Gesinnung vermu-
tet.

Wie Sie alle wissen, schreckt das Assad-Regime auch
nicht davor zurück, Giftgas gegen die Zivilbevölkerung
einzusetzen; Frau Bundesministerin von der Leyen hat
dies eben geschildert. Über 1 400 Menschen starben am
21. August des vergangenen Jahres bei den Giftgasan-
griffen auf die Vororte von Damaskus. Eine Untersu-
chung der Vereinten Nationen, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Linkspartei, hat ergeben, dass industriell
gefertigte Kampfstoffe aus einem groß angelegten Che-
miewaffenprogramm zum Einsatz gekommen sind. Die
Bundesregierung ist damals zu der Einschätzung gekom-
men, dass als Täter nur die syrische Armee infrage
kommt.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Fehleinschätzung!)


An dieser Einschätzung, die unsere engsten Verbündeten
teilen, hat sich nichts geändert.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jan van Aken [DIE LINKE]: Herr Roth, Sie haben keine Ahnung!)


Lassen Sie mich noch einmal in Erinnerung rufen:
Derzeit sind innerhalb Syriens fast 6 Millionen Flücht-
linge unterwegs. In den Nachbarländern gibt es 2,6 Mil-
lionen Flüchtlinge, die zum Teil unter kaum zumutbaren
Bedingungen leben müssen. Die Auswirkungen dieses
Bürgerkriegs sind also nicht nur in Syrien selbst auf das
Schmerzhafteste zu spüren. Vielmehr ist die gesamte Re-
gion in einem mehr als fragilen Zustand. Sie ist schwers-
ten Belastungen ausgesetzt. Eine weitere Eskalation der
Gewalt in Syrien droht die konfessionellen Spannungen
zwischen Sunniten, Schiiten und Christen in der ganzen
Region anzuheizen. Hier sitzen viele versierte Außenpo-
litikerinnen und Außenpolitiker, die sich seit Jahren mit
diesem Thema befassen und die wissen, welche Spreng-
kraft diese Region birgt. Wir müssen alles dafür tun, um
die Deeskalation voranzutreiben. Aber es gibt nur sehr
wenige Hoffnungszeichen.

Die Stabilität der Nachbarländer, insbesondere des Li-
banon und des Irak, würde in erheblichem Maße gefähr-
det, wenn wir jetzt nicht endlich zu einer Stabilisierung
Syriens kommen.





Staatsminister Michael Roth


(A) (C)



(D)(B)


(Zuruf von der LINKEN: Sagen Sie das doch den Türken!)


Auch in der Türkei sind rund 850 000 Flüchtlinge unter-
gekommen.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Mehr als in Deutschland!)


Ich werde mich persönlich in Bälde über die Zustände in
den türkischen Flüchtlingslagern informieren.

Die Bundesregierung setzt sich weiterhin intensiv für
eine friedliche Beendigung des Konflikts in Syrien ein.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802707200

Kollege Roth, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung der Kollegin Hänsel?


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1802707300

Bitte.


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802707400

Danke schön. – Herr Staatsminister, Sie haben über

den Konflikt und den grausamen Krieg in Syrien gespro-
chen. Aber ich vermisse von Ihnen einen Satz über die
massive Unterstützung, insbesondere durch Waffenliefe-
rungen, für Rebellen, fundamentalistische Gruppen,
Dschihadisten und Terroristen vonseiten Saudi-Arabiens
in Zusammenarbeit mit den USA. Es ist doch genauso
ein Verbrechen, schweres Gerät an die genannten Grup-
pen zu liefern, die diesen Bürgerkrieg anheizen. Dazu
habe ich von Ihnen bisher kein einziges Wort in der Dar-
stellung dieses Krieges gehört.

Mich interessiert Ihre Meinung zu dem veröffentlich-
ten YouTube-Video, aus dem hervorgeht, dass Personen
im türkischen Außenministerium über einen möglichen
fingierten Angriff von syrischer Seite nachgedacht ha-
ben, und das im Hinblick darauf, dass Bundeswehrsolda-
ten in der Türkei stationiert sind, die jederzeit in einen
solchen Konflikt hineingezogen werden können.

Das sind für mich brennende Fragen. Darauf hätte ich
von Ihnen gerne eine Antwort.


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1802707500

Sehr verehrte Frau Kollegin, was mich eher verstört,

ist, dass Ihnen kein noch so hanebüchenes Argument
recht ist, um Gründe dafür zu finden, diesen Einsatz zu
verhindern bzw. abzulehnen, obwohl er konkret dazu
beiträgt, Chemiewaffen zu vernichten. Das ist der Auf-
trag. Darüber diskutieren wir heute im Deutschen Bun-
destag.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Selbstverständlich haben wir auch gegenüber den
Verantwortlichen der Türkei deutliche Worte gefunden
und darauf hingewiesen, dass das bisherige Mandat der
NATO ausschließlich auf Selbstverteidigung und Unter-
stützung der Verteidigung der Türkei ausgerichtet ist. Sie
müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Türkei
bislang 72 Zivilisten aufgrund von Angriffen Syriens
verloren hat. In der Türkei sind derzeit – darauf habe ich
bereits hingewiesen – über 800 000 Flüchtlinge aus Sy-
rien untergebracht. Trotz dieser dramatischen Lage hat
sich das NATO-Mitglied Türkei verantwortungsbewusst
und besonnen verhalten. Der Bundestag kann sich darauf
verlassen, dass wir weiterhin in allen unseren Gesprä-
chen mit den türkischen Verantwortlichen darauf hinwei-
sen, dass wir vom NATO-Mitglied Türkei, sollte denn
eine Änderung der bisherigen Strategie vorgesehen sein,
eine zeitnahe Aufnahme von Gesprächen mit den
NATO-Bündnispartnern erwarten. Die bisherigen Ge-
spräche haben nicht erkennen lassen, dass die Türkei ge-
willt ist, ihr verantwortungsbewusstes und besonnenes
Verhalten aufzugeben. Das müssen wir auch in dieser
Hinsicht erst einmal würdigen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.


(Beifall des Abg. Niels Annen [SPD] – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Mein Gott, dass man sich so verbiegen kann!)


Wir müssen aber auch realistisch sein. Ich möchte
noch einmal an dem Punkt anknüpfen, den ich vorhin
zum Ausdruck gebracht habe. Wann der Wiedereinstieg
in Friedensverhandlungen gelingen kann, ist derzeit
überhaupt nicht absehbar. Das heißt aber doch nicht,
dass wir zur Untätigkeit verdammt sind – ganz im Ge-
genteil. Deshalb setzen wir uns direkt und unmittelbar
für diejenigen ein, die unter den Grausamkeiten des
Kriegs leiden.

Seit Beginn der Krise in Syrien im Jahr 2011 hat die
Bundesregierung für die Bewältigung der politischen
und humanitären Katastrophe fast 500 Millionen Euro
bereitgestellt. Unsere Hilfe dient insbesondere den Men-
schen, die innerhalb Syriens vor den Kampfhandlungen
fliehen mussten. Sie werden mit Lebensmitteln und Me-
dikamenten versorgt. Flüchtlinge, die über die Grenze in
den benachbarten Libanon geflohen sind, erhalten dort
Versorgung und eine Unterkunft. Aber täglich steigt die
Zahl derer, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
Daher wollen wir dieses humanitäre Engagement inten-
siv weiterführen und möglichst ausbauen.

Insofern bitte ich Sie heute bei dieser Gelegenheit,
liebe Kolleginnen und Kollegen, um Unterstützung.
Ohne weitere finanzielle Unterstützung – dazu brauchen
wir das Ja des Deutschen Bundestages – werden wir die
humanitären Hilfsleistungen leider nicht ausbauen kön-
nen. Ich wäre sehr daran interessiert, wenn sich wirklich
alle Fraktionen bereit erklären könnten, uns in unserem
Bemühen, die humanitären Hilfsleistungen auszubauen,
zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir beschränken uns aber auch nicht darauf, die hu-
manitären Folgen des Bürgerkriegs zu lindern. Wir wol-
len auch verhindern, dass es erneut zu Gräueltaten gegen
die syrische Bevölkerung kommt. Deshalb beteiligt sich
die Bundesregierung an dem Programm zur Vernichtung
der syrischen Chemiewaffen. Wir wollen den abermali-
gen Einsatz dieser Waffen verhindern. Aber auch das ist
kein einfacher Prozess. Das Assad-Regime hat nach





Staatsminister Michael Roth


(A)



(D)(B)

Monaten des Verzögerns im März einige Teile seines
Giftgases außer Landes transportiert. Die Bundesregie-
rung drängt zusammen mit ihren Verbündeten, vor allem
den USA, auf diplomatischem Wege auf einen zügigen
und vollständigen Abtransport der Chemiewaffen; denn
Deutschland hat ein hohes Interesse daran, dieses bei-
spiellose Abrüstungsvorhaben erfolgreich und fristge-
recht abzuschließen. Wir haben das notwendige Know-
how und die notwendigen Kapazitäten, um uns entschie-
den und substanziell einzubringen.

In den vergangenen Monaten haben wir bereits Ver-
antwortung übernommen. Wir haben umfangreiche lo-
gistische und finanzielle Unterstützung für die Organisa-
tion für das Verbot chemischer Waffen, die OVCW,
geleistet. Wir haben darüber hinaus angeboten, Abbau-
stoffe aus den zerstörten syrischen Chemiewaffen sicher
und umweltverträglich in einer Spezialanlage im nieder-
sächsischen Munster zu entsorgen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Resolution 2118
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ruft die
Weltgemeinschaft auf, die Vereinten Nationen und die
Organisation für das Verbot chemischer Waffen bei der
Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zu unterstüt-
zen. Die USA beabsichtigen, die gefährlichsten syri-
schen Chemiewaffen auf einem speziell umgerüsteten
US-Schiff zu neutralisieren. Wir wollen einen weiteren
Beitrag leisten. Eine Fregatte der deutschen Marine soll
sich an dieser multinationalen Begleitschutzoperation
beteiligen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802707600

Kollege Roth, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung des Kollegen Ströbele?


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1802707700

Bitte.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Kollege Roth, dass Sie mir die Gelegen-
heit geben, auf einen Punkt hinzuweisen. – Sie sagen,
dass die UNO alle Nationen aufgefordert hat, bei der Be-
seitigung dieses Giftgases zu helfen. Wieso schließen
Sie plötzlich Russland von der Beteiligung an dieser Ak-
tion zur Beseitigung der Chemiewaffen aus? Ich denke,
dies ist ein Erziehungsversuch gegenüber Russland, ein
Versuch am falschen Objekt. Hier passt es überhaupt
nicht. Wenn es wirklich um eine Aktion geht nach dem
Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ – hier vielleicht
„Giftgas zu Frischluft“, wie auch immer man dies be-
zeichnen will –, dann muss man auch konsequent sein
und muss jeden willkommen heißen, der dabei mitwirkt.
Man kann nicht den einen oder anderen aus ganz ande-
ren politischen Gründen ausschließen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1802707800

Herr Kollege Ströbele, lassen Sie mich zunächst da-

rauf hinweisen, dass sich eine Reihe von NATO- und
Nicht-NATO-Staaten am Begleitschutz für das US-
Schiff beteiligen: Belgien, Frankreich, Finnland, Grie-
chenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, Portugal,
die Türkei. Sie wissen genau, dass es dazu derzeit gar
keine Bereitschaft Russlands gibt. Die Russen sind daran
nicht beteiligt.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht!)


Darüber hinaus wurde aus dem NATO-Russland-
Engagement – der NATO-Russland-Rat ist jetzt suspen-
diert worden; das wissen Sie ganz genau, Sie kennen
auch die Gründe – ein multinationaler Einsatz gemacht.
Alle Staaten, die dazu bereit sind, wurden eingeladen,
sich an diesem Engagement zu beteiligen. Kollege
Ströbele, wir schließen niemanden aus, aber die Zusam-
menarbeit zwischen der NATO und Russland in dem ent-
sprechenden Rat ist suspendiert. Sie sollten also keine
Vermutungen darüber anstellen, dass wir jemanden aus-
schließen wollen. Wir wollen diesen Einsatz zu einem
erfolgreichen Abschluss bringen.

Ursprünglich war das – ich will das noch einmal er-
läutern, Herr Kollege Ströbele – eine gemeinsame Ope-
ration der NATO und der Russischen Föderation. Wir
hätten eine solche gemeinsame Operation sehr begrüßt.
Aber vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen
Vorgehens Russlands in der Ukraine – auch Sie haben
die aktuellen Entwicklungen zur Kenntnis nehmen müs-
sen – ist ein solcher gemeinsamer Einsatz nun nicht
mehr möglich. Die Tür ist aber prinzipiell offen für alle
Teilnehmer weit über den NATO-Rahmen hinaus; ich
habe Ihnen eben eine Reihe von Staaten genannt, die
hier engagiert sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden mit die-
sem Einsatz einmal mehr unsere Verlässlichkeit als Part-
ner demonstrieren, eine bislang beispiellose Abrüstungs-
maßnahme unterstützen, und nicht zuletzt dabei helfen,
das syrische Volk vor der Armee des Diktators Assad zu
schützen. Im Namen der Bundesregierung bitte ich Sie
deshalb um Ihre Zustimmung zu diesem Mandat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802707900

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gehrcke

das Wort.


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802708000

Herr Staatsminister, ich möchte Ihre Argumente gerne

verstehen; denn bei besseren Argumenten würde ich
meine Meinung möglicherweise ändern. Ich verstehe es
aber einfach nicht: Wenn es nun so war, dass Russland
zu der Aktion der Vernichtung der Chemiewaffen – das
ist, wie Sie zu Recht sagen, eine Abrüstungsaktion – ge-
bracht worden ist, vielleicht sogar unter dem Druck der
Weltgemeinschaft oder aus eigenen Motiven, warum ist
Russland dann vor Vollendung dieser Aktion über die

(C)






Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

Suspendierung des NATO-Russland-Rats rausgeschmis-
sen worden? Wenn Sie der Auffassung sind, dass Völ-
kerrechtsfragen thematisiert werden müssen, dann müss-
ten Sie auch darauf bestehen, dass Russland so weit wie
möglich in diese Aktion einbezogen wird. Deswegen
kann ich Ihre Position nicht nachvollziehen. Ich würde
dies aber gerne tun. Straft man Russland damit, wenn
man es daran hindert, in vollem Umfang an der Aktion,
die Sie über den NATO-Russland-Rat zugesagt haben,
mitzuwirken, und dieses Übereinkommen aufkündet? Ist
das wirklich eine angemessene und sinnvolle Strafe?


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802708100

Kollege Roth, Sie haben, wenn Sie das wünschen, die

Möglichkeit, zu erwidern.


(Zuruf von der LINKEN: Besser nicht!)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1802708200

Vielen Dank. – Zu Beginn bitte ich Sie darum, auch

sprachlich abzurüsten.

Die Kurzintervention des Kollegen Gehrcke gibt mir
Gelegenheit, auf folgenden Punkt hinzuweisen: Ange-
sichts der derzeitigen Aktivitäten Russlands von einer
Abstrafaktion zu sprechen, das entbehrt wirklich jeder
Grundlage und macht – sehen Sie mir diesen flapsigen
Begriff nach – den Bock zum Gärtner. Ich finde es un-
kollegial und merkwürdig, dass Sie hier mit einer so ein-
seitigen Argumentation eines versuchen: Ihnen ist kein
Argument zu schade und zu schlecht, um die fraktions-
übergreifende Einmütigkeit, dass es sich hierbei um ei-
nen substanziellen Beitrag zur Vernichtung von Chemie-
waffen handelt, infrage zu stellen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es handelt sich hierbei auch um einen Beitrag, eine
Krisenregion, in der es zu schlimmsten Menschenrechts-
verletzungen kommt, halbwegs zu stabilisieren. Wir be-
finden uns hier doch in einer internationalen Staatenge-
meinschaft, die sich sehen lassen kann.

Ich will noch einen allerletzten Punkt benennen, weil
Sie ja auf die Verantwortung Russlands hingewiesen ha-
ben. Die militärische Absicherung innerhalb der syri-
schen Territorialgewässer wurde bisher ausschließlich
von Russland übernommen.


(Niels Annen [SPD]: Eben!)


Der russische Kreuzer – das wissen Sie sicherlich auch –
befindet sich aber derzeit zu Wartungsarbeiten in Zy-
pern. Weil sich Russland zurückgezogen hat, befürchten
wir, dass es möglicherweise zu weiteren Verzögerungen
kommt. Reden Sie also hier nicht von einer Strafaktion,
Herr Kollege Gehrcke!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das ist wirklich ein Popanz!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802708300

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Brugger das Wort.

(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Da sind wir jetzt gespannt!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
21. August letzten Jahres verloren weit über 1 000 Men-
schen auf qualvolle Art und Weise ihr Leben. Viele von
ihnen erstickten elendig. Unzählige Syrerinnen und Sy-
rer, die den grausamen Giftgasanschlag in der Nähe von
Damaskus überlebt haben, sind heute blind, von den Ver-
brennungen entstellt oder krebskrank.

Der 21. August 2013 war der dunkelste Tag im anhal-
tenden Grauen des syrischen Bürgerkriegs. Dieses Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit hat die Welt zutiefst
erschüttert.


(Michael Roth, Staatsminister: Nicht die Linke!)


Die internationale Gemeinschaft hat diesen Anschlag
mit der UN-Resolution 2118 im September 2013 aufs
Schärfste verurteilt. Der UN-Sicherheitsrat beschloss
einstimmig, dass das gesamte syrische Chemiewaffen-
arsenal herausgegeben und vernichtet werden muss. Die
Zerstörung dieser menschenverachtenden und grausa-
men Waffen ist ein wichtiger und richtiger Schritt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir Grüne begrüßen es ausdrücklich, dass Deutsch-
land sich an der Vernichtung beteiligen will und in
Munster 370 Tonnen der zuvor auf hoher See zersetzten
und verdünnten Chemikalien umweltgerecht verbrannt
werden sollen. Wir Grüne haben die Bundesregierung
bereits im Herbst letzten Jahres aufgefordert, sich jen-
seits finanzieller Unterstützung an diesen Vernichtungs-
aktivitäten zu beteiligen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da haben Sie erst so ein bisschen herumgedruckst. Aber
umso besser, dass Sie sich jetzt dafür entschieden haben;
denn wir haben in Deutschland die nötige Fachexpertise
und in Munster eine weltweit führende Verbrennungsan-
lage, die auf Chemiewaffen spezialisiert ist.

Die Bundesregierung legt heute ein Mandat vor, das
die maritime Absicherung des Hydrolysevorgangs auf
dem US-amerikanischen Schiff „Cape Ray“ und den
Schutz beim Abtransport der chemischen Reststoffe zu
den Vernichtungsanlagen beinhaltet. Mit der Entsendung
einer Fregatte will Deutschland sich an dieser Mission
der Vereinten Nationen und der OVCW in einer breiten
Koalition mit anderen Staaten beteiligen. Ziel dieser
Mission ist es, den Auftrag der Vereinten Nationen um-
zusetzen und ein für alle Mal die grauenhaften syrischen
Chemiewaffen zu zerstören. Mir fällt kein plausibles Ar-
gument ein, warum man diesem Vorhaben nicht zustim-
men kann. Daher unterstützen wir Grüne dieses Mandat.





Agnieszka Brugger


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich frage mich ernsthaft, liebe Kolleginnen und Kol-
legen von der Linkspartei, was man gegen einen Einsatz
haben kann, der Schutz bei der Zerstörung von Massen-
vernichtungswaffen gewährleistet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Vernichtung der Chemiewaffen darf nicht darüber
hinwegtäuschen: Die Zivilbevölkerung in Syrien leidet
immer noch auf das Schlimmste unter dem gnadenlosen
Bürgerkrieg, in dem immer noch Gräueltaten, Morde
und Menschenrechtsverletzungen verübt werden. Eines
ist ganz klar: Auch wenn bei der Vernichtung der syri-
schen Chemiewaffen mit der Regierung zwangsweise
zusammengearbeitet werden muss, kann das Assad-Re-
gime durch diese Aktion mitnichten rehabilitiert werden.

Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
trotz der breiten Zustimmung kann ich Ihnen ein paar
kritische Worte nicht ersparen. Deutschland muss sich
hier nicht nur aus humanitärer Sicht engagieren, sondern
Deutschland trägt auch aufgrund seiner Exportpolitik
große Verantwortung. Deutsche Unternehmen haben
nach Angaben der OVCW eine große Rolle beim Auf-
bau des syrischen Chemiewaffenprogramms gespielt.
Von 1982 bis 1993 gab es 50 Lieferungen deutscher Fir-
men: Steuerungsanlagen, Pumpen, Kontrollventile, Gas-
detektoren, eine Chemiewaschanlage und 2 400 Tonnen
einer Schwefelsäure, die zur Produktion des Giftgases
Sarin genutzt werden kann. Das ist erschreckend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die schwarz-rote Bundesregierung weigert sich mit
Verweis auf das Geschäftsgeheimnis, offenzulegen, wel-
che Unternehmen am Aufbau des syrischen Chemiewaf-
fenprogramms mitverdient haben. Meine Damen und
Herren, das ist inakzeptabel. An dieser Stelle sind Trans-
parenz, Offenheit und lückenlose Aufklärung angesagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zudem wurde bekannt, dass deutsche Unternehmen
bis 2011, auch noch bei Beginn des syrischen Bürger-
krieges, Chemikalien an Syrien geliefert haben, die so-
wohl zivil als auch militärisch nutzbar sind – und das
trotz zahlreicher Expertenwarnungen und obwohl
Deutschland die Chemiewaffenkonvention ratifiziert hat.
Auch das ist ungeheuerlich.

Schwarz-Rot hat im Koalitionsvertrag angekündigt,
beim Export von Dual-Use-Chemikalien etwas verbes-
sern zu wollen. Abgesehen davon, dass Sie dann jetzt
auch so schnell wie möglich an dieser Stelle handeln
sollten, fordern wir Grüne Sie auf, die Ausfuhr- und
Endverbleibskontrolle von Dual-Use-Gütern auf natio-
naler und europäischer Ebene zu verschärfen und dabei
nicht weiterhin Wirtschaftsinteressen ständig höher zu
gewichten als Menschenrechte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren, wir sind es den Opfern des
barbarischen Giftgasanschlages in Syrien schuldig, dass
wir alle uns aktiv dafür einsetzen, dass solche Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit nie wieder verübt werden
können. Diesen Menschen sind wir es schuldig, dass die
grausamsten aller Waffen für immer und ewig vernichtet
werden und dass deutsche Unternehmen nie wieder mit
solchen Programmen Geld verdienen. Diesen Menschen
sind wir es schuldig, dass Massenvernichtungswaffen
– chemische, aber auch biologische und Atomwaffen –
niemals wieder gegen unschuldige Zivilistinnen und Zi-
vilisten eingesetzt werden. Das bedeutet nicht nur, diese
Waffen zu zerstören, sondern auch, eine Kehrtwende in
der Rüstungsexportpolitik, eine Verschärfung der Rüs-
tungsexportkontrolle und eine entsprechende Stärkung
der Verträge an dieser Stelle einzuleiten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Niels Annen [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802708400

Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1802708500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich finde es richtig, dass die Bundesregie-
rung dieses Mandat einbringt, und ich bin der Meinung,
dass wir uns am Schutz der „Cape Ray“ beteiligen soll-
ten. Damit zeigen und dokumentieren wir, dass es uns
wichtig ist, bei der Konfliktlösung – ich betrachte die
Vernichtung der Chemiewaffen als Teil der Konflikt-
lösungsstrategie – nicht nur am Rand zu stehen, sondern
auch ein aktiver Partner zu sein, einen aktiven Beitrag zu
leisten. Ich finde es gut, dass man diesen Weg gefunden
hat.

Natürlich ist das grausame, schreckliche Verbrechen,
das mit dem Einsatz der Chemiewaffen geschehen ist,
bis heute nicht restlos aufgeklärt worden, und die westli-
che Gemeinschaft ist auch mit Sicherheit nicht so ent-
schlossen aufgetreten, wie sich das viele von ihr ge-
wünscht haben. Aber die Paradoxie unseres Handelns an
dieser Stelle, auch die Ankündigungen seitens der Ame-
rikaner, was rote Linien angeht, ist vor allem der Kom-
plexität des Bürgerkrieges in Syrien geschuldet.

Wir haben häufig gesagt – auch ich habe es schon ein-
mal an diesem Platz gesagt –, dass eine Konfliktlösung
nur ohne Assad möglich ist; das war zu Beginn der
Dreh- und Angelpunkt fast aller Wortmeldungen hier im
Hause. Wir sehen aber, dass sich die militärische Situa-
tion aufgrund der massiven Intervention seitens Irans
und der Hisbollah verändert hat und sich das Blatt in mi-
litärischer Hinsicht gewendet hat. Insofern haben wir al-
les darangesetzt, eine politische Lösung voranzubringen,
und haben, anders als andere, einen militärischen Lö-
sungsansatz ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

glaube ich, dass man dieses Mandat nicht als Teil irgend-
welcher militärischen Konstrukte missverstehen darf;
denn hier geht es in der Tat darum, Abrüstungsmaßnah-
men voranzubringen. Nur aus Sicherheitsüberlegungen
heraus muss der Transport der Chemiewaffen militärisch
begleitet werden. Um ein entsprechendes Mandat wirbt
die Bundesregierung an dieser Stelle.

Ich bin der festen Überzeugung, dass es richtig ist, die
Gespräche über die Zukunft Syriens fortzusetzen; aber
ich glaube auch – das ist vorhin in der Debatte mehrfach
gesagt worden –, dass gerade die öffentliche Fokussie-
rung auf andere Problemfelder und Konfliktherde der
Welt dazu geführt hat, dass Syrien und die entsprechen-
den Verhandlungen in den letzten Wochen und Monaten
etwas in den Hintergrund getreten sind. Wenn man ver-
sucht, zu bilanzieren, welche substanziellen Fortschritte
es gegeben hat, dann kommt man leider zu dem Ergeb-
nis, dass es in den letzten Wochen und Monaten keine
substanziellen Fortschritte gegeben hat. Die Situation ist
eher festgefahren.

Wenn Sie sich angeschaut haben, mit welcher Kritik
der amerikanische Präsident, als er Saudi-Arabien be-
suchte, konfrontiert worden ist – Saudi-Arabien sagt
nach wie vor, man habe großes Interesse daran, dass
Amerika die Dschihadisten und die Aufständischen, die
sich aus diesem Teil der Opposition rekrutieren, unter-
stützt –, sehen Sie, wie weit die Position auch unserer
Verbündeten teilweise von unserer abweicht.

Wir müssen die politische Aufmerksamkeit nach wie
vor darauf richten: Wie kann der Bürgerkrieg gestoppt
werden? Welche Zukunft soll das Land haben? Da ist der
Frontverlauf in keiner Weise klar. Denn sosehr wir auch
Sympathie für die syrischen Oppositionellen in Syrien
hegen: Wir können nicht die Augen davor verschließen,
dass viele Dschihadisten von außen eingesickert sind
und dass wir auch im Falle eines Friedensschlusses damit
konfrontiert sein werden, dass Dschihadisten, die viel-
leicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, trainiert,
ausgebildet und kampferprobt zurück nach Deutschland
kommen. Vor diesen Hintergrund sage ich: Die Komple-
xität dieses Problems ist nicht zu überschätzen. Deshalb
sollte man sachlich argumentieren; ich fand allerdings,
dass das bei den Wortbeiträgen der Linkspartei nicht der
Fall war.

Wir werben für dieses Mandat. Wir wollen uns wei-
terhin politisch engagieren, damit Syrien eine friedliche
Zukunft hat. Ich traue mir keine Prognose darüber zu, in
welcher personellen Konstellation das stattfinden wird
und wer die Ansprechpartner sein sollen. Ich habe mit
zahlreichen Vertretern der syrischen Opposition Gesprä-
che geführt. Manche waren mir außerordentlich sympa-
thisch; sie setzen sich für eine friedliche, demokratische
und freie Zukunft ihres Landes ein. Andere hingegen
sehe ich eher als zwielichtige Personen, die etwas ganz
anderes im Schilde führen.

Insgesamt ist festzustellen: Sosehr uns die Ereignisse
auf der Krim, die deutsch-russische Partnerschaft oder
auch das Hickhack um die Zukunft des deutsch-russi-
sche Verhältnisses beschäftigen, sollten wir nicht verges-
sen, dass in Syrien ein Bürgerkrieg tobt, der bisher sehr
viele Opfer gekostet hat. Er verdient nach wie vor unsere
politische Aufmerksamkeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802708600

Der Kollege Dr. Reinhard Brandl hat nun für die

Unionsfraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1802708700

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Auch wenn es heute um ein Mandat für den Einsatz
bewaffneter Streitkräfte geht, ist der ganze Vorgang doch
ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass es sich selbst in
scheinbar ausweglosen Situationen immer lohnt, nach
diplomatischen Lösungen zu suchen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da hat er recht!)


Ich erinnere mich mit Schrecken an den 21. August
– das Datum ist mehrfach genannt worden –, an dem der
grausame Konflikt in Syrien durch den Einsatz von Che-
miewaffen eine neue Dimension erreicht hat. Ich erin-
nere mich genau an die Tage und Wochen danach, in de-
nen die Welt um eine Antwort gerungen hat und in denen
man teilweise das Gefühl hatte: Ein Militärschlag ist un-
ausweichlich.

Dann kam die diplomatische Wende: 14. September
die Einigung zwischen USA und Russland, am selben
Tag dann die Ankündigung des Beitritts Syriens zum
Übereinkommen über ein Verbot chemischer Waffen,
27. September die Resolution des UN-Sicherheitsrates.
Bereits wenige Tage später haben die Vorbereitungen für
die Zerstörung von unglaublichen 1 300 Tonnen Che-
miewaffen an 23 Standorten in Syrien begonnen. Das ist
ein riesengroßer abrüstungspolitischer Erfolg, der – und
das ist eigentlich das Bemerkenswerte – mitten in einem
tobenden Bürgerkrieg zustande gekommen ist. Das ist
ein deutliches Signal an die Länder, dass die Weltge-
meinschaft trotz unterschiedlicher Interessen, trotz Mei-
nungsverschiedenheiten in vielen geostrategischen
Fragen bei einer Frage wie dem Einsatz von Massenver-
nichtungswaffen zusammensteht und dass sie, organi-
siert in den VN, nicht bereit ist, den Einsatz von Massen-
vernichtungswaffen zu dulden, sondern dagegen
vorgeht.

Ich bin auch stolz auf unser Land, auf Deutschland,
weil wir zur Zerstörung dieser Waffen einen wirklich
substanziellen Beitrag leisten. Dazu gehört eine finan-
zielle Unterstützung. Dazu gehört – ganz am Anfang –
vor allem die logistische Unterstützung der Inspektoren,
die Luftunterstützung, die wir damals geleistet haben.
Dazu gehört die Beteiligung deutscher Forschungsinsti-
tute an der Analyse der Kampfstoffe. Dazu gehört die
Vernichtung von 370 Tonnen Reststoffen in Munster.
Und dazu gehört eben auch der Schutz des Spezialschif-
fes der USA, auf dem auf hoher See die Kampfstoffe un-





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)

schädlich gemacht werden. Nur dieser Teil, der Begleit-
schutz dieses Spezialschiffes, braucht ein Mandat des
Deutschen Bundestages. Aber es ist wichtig, deutlich zu
machen, dass das nur ein kleiner Teil eines größeren,
umfassenden Beitrags ist, den Deutschland in diesem
Prozess der Zerstörung der Waffen leistet.

Die Bedrohung des Schiffes ist in den Gewässern
zwar niedrig, nichtsdestotrotz muss es geschützt werden.
Dafür stellen wir von deutscher Seite eine Fregatte und
bis zu 300 Soldaten bereit. Abhängig davon, wie schnell
der Abtransport der Kampfstoffe aus Syrien möglich ist,
kann die ganze Operation bereits in wenigen Monaten
beendet sein.

Die spannende Frage in dieser Debatte lautet: Wel-
chen Grund versucht die Linke dieses Mal an den Haa-
ren herbeizuziehen, um gegen einen solchen Einsatz zu
stimmen? Ich habe Frau Buchholz genau zugehört. Sie
haben aus meiner Sicht ein Sachargument vorgetragen.
Sie sagten, Sie seien misstrauisch, weil das Einsatzgebiet
zu groß gewählt sei. Dieses Sachargument kann ich ent-
kräften. Frau Buchholz, Sie wissen, dass die Hydrolyse
etwa 90 Tage dauern wird, abhängig von ruhiger See und
entsprechenden Witterungsverhältnissen.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das geht bis in den Nordatlantik!)


Deswegen macht es Sinn – wir wissen ja nicht, wie im
Mai oder Juni das Wetter sein wird –, dass das Schiff
dorthin fährt, wo die See ruhig ist.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: In den Nordatlantik!)


Der Eiertanz, den Sie hier aufführen, ist meines Erach-
tens lächerlich. Man sieht an Ihrer Rede, wie blind Ideo-
logie macht: Selbst wenn es um die Vernichtung von
Massenvernichtungswaffen geht, können Sie nicht zu-
stimmen.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht! Da haben Sie nicht zugehört!)


Ich hoffe, dass das die Menschen sehen, die Sie gewählt
haben, und ich hoffe, dass das auch die Menschen sehen,
die Ihnen vielleicht einmal Regierungsverantwortung
zutrauen wollen.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Bloß nicht! Um Gottes willen! Gar nicht erst daran denken!)


So sind Sie aus meiner Sicht nicht in der Lage, Verant-
wortung für unser Land zu übernehmen.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Mit Ihnen schon gar nicht!)


Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802708800

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/984 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Deckungslücken der Sozialen Pflegeversiche-
rung schließen und die staatlich geförderten
Pflegezusatzversicherungen – sogenannter
Pflege-Bahr – abschaffen

Drucksache 18/591
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Pia Zimmermann für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bitte Sie, Frau Zimmermann, so lange zu warten,
bis die notwendigen Umgruppierungen auf der rechten
Seite des Hauses abgeschlossen sind, sodass wir der De-
batte folgen können.


Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802708900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Gute Pflege ist ein Menschenrecht, nur leider
sind wir von der Verwirklichung dieses Menschenrechts
sehr weit entfernt. Stattdessen gibt es eine Pflegemisere,
und es besteht akuter politischer Handlungsbedarf, und
zwar nicht nur hinsichtlich eines besorgniserregenden
Mangels an Pflegekräften, nein, sondern auch mit Blick
auf die wachsende soziale Ungerechtigkeit im Pflegesys-
tem. Herr Minister Gröhe – er ist nicht da –, von Ihnen
und dem Pflegebeauftragten, Herrn Laumann, sind na-
hezu täglich nur wohlfeile Worte zu hören. Aber wenn es
um konkrete Vorschläge geht, zum Beispiel wie bei un-
serem heutigen Antrag, eines dieser grundsätzlichen
Probleme anzugehen, verweigern Sie sich. Darum appel-
liere ich an Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete:
Gehen Sie mit uns diesen Schritt, schaffen Sie diese un-
sinnige Pflege-Bahr-Zusatzversicherung ab!


(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Super Idee!)


Ich richte mich insbesondere an die Kolleginnen und
Kollegen von der SPD und möchte etwas aus einem
Flugblatt, das man auch auf Ihrer Internetseite findet, zi-
tieren. Ich habe das Flugblatt mitgebracht; so sieht es
aus. Zitat:

Die SPD lehnt den „Pflege-Bahr“ ab. Wir wollen
keinen Einstieg in die Zwei-Klassen-Pflege.





Pia Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da hat die SPD recht!)


Sehr gut so weit. Weiter:

Der „Pflege-Bahr“ ist gleichzeitig nutzlos und un-
gerecht, denn er löst die Probleme in der Pflege
nicht.

Auch gut – so weit.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Stimmt!)


Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie sich selber
ernst! Enttäuschen Sie die Menschen in diesem Land
nicht erneut, und stimmen Sie unserem Antrag zu!


(Beifall bei der LINKEN)


Hier noch ein paar Argumente dafür, dass der Pflege-
Bahr abgeschafft gehört. Der Pflege-Bahr privatisiert das
Risiko, pflegebedürftig zu werden, und macht den An-
spruch auf Pflege noch mehr zu einer Frage des Geld-
beutels, noch mehr, weil bereits das Teilleistungsprinzip
der Pflegeversicherung bedeutet, dass sie lediglich eine
Zuschussversicherung ist. Mehr als die Hälfte der Kos-
ten müssen pflegebedürftige Menschen und ihre Ange-
hörigen schon jetzt aus eigener Tasche zahlen. Das lehnt
die Linke entschieden ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Pflege-Bahr verspricht, das Risiko der Pflegebe-
dürftigkeit privat abzusichern. Aber das widerspricht
nicht nur dem Solidarprinzip, sondern stimmt noch nicht
einmal. Er ist vollkommen ungeeignet, die Versorgungs-
lücken zwischen den Leistungen der Pflegeversicherung
und den tatsächlichen Pflegekosten zu schließen. Pflege
wird immer teurer. Eine Anpassung an diese Entwick-
lung ist jedoch beim Pflege-Bahr überhaupt nicht vorge-
sehen. Niemand kann heute sagen, was die vereinbarten
Leistungen wert sind, wenn sie gebraucht werden, und
zwar nicht heute, sondern in der Zukunft, beim Eintritt in
die Pflegebedürftigkeit.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist wie bei Riester!)


– Genau. – Zudem höhlt der Pflege-Bahr das Solidari-
tätsprinzip weiter aus und verschärft die soziale Spal-
tung. Er ist absolut kontraproduktiv, weil er sich nicht an
den Interessen der Menschen orientiert, sondern vor al-
len Dingen Geld in die Versicherungswirtschaft spült.


(Beifall bei der LINKEN)


Alle Menschen haben das gleiche Recht auf eine ih-
ren Bedürfnissen entsprechende Pflege. Deshalb müssen
wir die Finanzierung auf breitere Schultern verlagern.
Wissen Sie eigentlich, dass die Pflegehelferinnen, die
Verkäuferinnen und die Friseurinnen den Pflege-Bahr
mitfinanzieren, und zwar über ihre Steuern, ihn sich sel-
ber aber gar nicht leisten können? Diese Ungerechtigkeit
muss abgeschafft werden.

(Beifall bei der LINKEN)


Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
in der Pflege wäre das Fundament, um gute Pflege für
alle umfänglich zu finanzieren.

Als ersten Schritt fordern wir deshalb den Stopp der
staatlichen Förderung von privaten Zusatzversicherun-
gen und die Rückabwicklung der vorhandenen Verträge.


(Beifall bei der LINKEN)


Um Ihren Argumenten gleich vorzugreifen: Das ist
machbar. Es ist tatsächlich nur eine Frage des politischen
Willens. Denn immerhin sind durch die fünfjährige Ka-
renzzeit beim Pflege-Bahr noch keine Ansprüche ent-
standen. Auch das Beispiel der Rückabwicklung der pri-
vaten Zahnzusatzversicherungen von 2004 zeigt, dass
diese problemlos storniert werden können.

Sie wissen, dass Sie 2014 noch eine große Aufgabe
vor sich haben. Durch das Pflege-Weiterentwicklungsge-
setz sind Sie verpflichtet, die Leistungen zu prüfen und
der Kostenentwicklung anzupassen. Die Menschen mit
Pflegebedarf und die Verbände warten darauf. Wir wer-
den das nicht aus dem Auge verlieren; das kann ich Ih-
nen versprechen.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem fordern wir eine regelgebundene Anpas-
sung der Versicherungsleistungen an die Lohn- und
Preisentwicklungen. Es reicht einfach nicht aus, nur
kurzfristige Leistungsverbesserungen vorzunehmen. Es
braucht eine gänzliche Abkehr vom Teilleistungsprinzip,
um den Ansprüchen auf gute Pflege für alle gerecht wer-
den zu können. Eine Zustimmung zu unserem Antrag
wäre ein vertrauenerweckendes Zeichen für bessere
Pflege und für mehr Pflegegerechtigkeit für alle Men-
schen in diesem Land. Ich bitte um Ihre Zustimmung,
wenn wir demnächst darüber abstimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802709000

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege

Erwin Rüddel das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1802709100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die staatlich geförderte private Zusatzver-
sicherung gegen das Pflegerisiko erlebt derzeit einen
wahren Boom. Wurden im Januar 2013 240 Verträge pro
Tag abgeschlossen, waren es im Juni 2013 bereits über
1 000 Verträge pro Tag. Das zeigt, dass die staatlich ge-
förderte Zusatzversicherung bei den Menschen an-
kommt. Zurzeit werden täglich 1 600 neue Verträge ab-
geschlossen. Die Versicherungswirtschaft ist davon
überzeugt, dass wir in diesem Jahr noch die Millionen-
grenze überschreiten werden. Im Januar 2014 kamen wir
bereits auf über 400 000 Verträge. Was zeigt uns das?






(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802709200

Kollege Rüddel, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung der Kollegin Zimmermann?


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die hat doch gerade geredet! – Tino Sorge [CDU/CSU]: Sie hat doch gerade gesprochen! Frau Zimmermann, hören Sie sich die Argumente doch erst einmal an!)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1802709300

Ja.


Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802709400

Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. – Es ist doch so,

dass Sie die Anzahl an Vertragsabschlüssen, die Sie an-
gestrebt haben, überhaupt nicht erreicht haben; Sie ha-
ben noch nicht einmal die Hälfte davon erreicht. Deut-
lich wird auch: In dem von Ihnen vorgelegten Haushalt
sind die Mittel zur staatlichen Unterstützung und Finan-
zierung der Verträge im Pflege-Bahr deutlich abgesenkt
worden. Das passt meines Erachtens nicht mit dem zu-
sammen, was Sie gerade gesagt haben. Können Sie mir
das vielleicht näher erklären?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1802709500

Ich wäre in meiner Rede noch darauf eingegangen.

Ich halte 1 Million Neuverträge im Jahr 2014 für eine
sensationell hohe Zahl. Auch wenn wir geglaubt haben,
dass wir eine höhere Zahl erreichen könnten, zeigt die
Entwicklung, dass wir unser Ziel, Vorsorge zu fördern
und die Menschen zu motivieren, vorzusorgen, erreicht
haben. Wir sollten vielleicht gemeinsam überlegen, wo
man Anreize schaffen kann, damit wir noch höhere Zah-
len als derzeit erreichen können. Ich denke, das Ziel ist
richtig. Ihrer Logik zufolge dürften wir auch keinen Cent
für Prävention ausgeben.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Davon habe ich kein Wort gesagt! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Völliger Quatsch!)


Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Weg, die
Menschen zu motivieren, Vorsorge zu treffen, der rich-
tige ist. Wir werden in den nächsten Wochen mit der
Pflegereform zeigen, dass Vorsorge ein guter Weg ist.
Mit dem Vorsorgefonds haben wir bereits einen weiteren
Schritt getan.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist ein weiterer Schritt in die falsche Richtung!)


Wir befinden uns auf einem guten Weg; denn er führt in
eine gute Zukunft. Ihr Weg dagegen ist der falsche. Wir
werden auch Ihren Antrag hier im Haus eindrucksvoll
und mit breiter Mehrheit ablehnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die vom Staat geförderte private Zusatzversicherung
wird von den Menschen angenommen. Das beweisen die
Zahlen eindeutig. Das Produkt erfüllt also den Wunsch
des Gesetzgebers, die Bürger stärker vor einer finan-
ziellen Überforderung im Pflegefall zu schützen und zu
mehr Vorsorge zu motivieren. Die Menschen erkennen
zusehends – auch das zeigen die Zahlen –, dass sie bei
der Pflege stärker vorsorgen müssen, und das ist auch
gut so. Denn nach meiner Einschätzung bieten sich ins-
besondere für Frauen und Männer zwischen 25 und
40 Jahren gute Chancen, mit staatlicher Unterstützung
eine zusätzliche Vorsorge gegen das Pflegerisiko im Al-
ter zu schaffen. Vom Staat werden 5 Euro pro Monat als
Zulage gezahlt, wenn der oder die Versicherte einen
Mindestbeitrag von 10 Euro pro Monat leistet.

Risikozuschläge und Gesundheitsprüfungen sind nicht
zulässig. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn auch Men-
schen mit Vorerkrankungen können auf diesem Weg eine
private Versicherung abschließen und mit nur 10 Euro
im Monat den Einstieg in diese Vorsorgemaßnahme ver-
wirklichen.

Statt dieses Instrument infrage zu stellen oder gar ab-
schaffen zu wollen, sollten sich die Initiatoren des vor-
liegenden Antrags, die Fraktion Die Linke, vielleicht
besser überlegen, ob und wie wir es ausbauen und noch
attraktiver machen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich persönlich – das betone ich ausdrücklich – hielte
es durchaus für angebracht, über eine sinnvolle Weiter-
entwicklung der staatlich geförderten Zusatzversiche-
rung nachzudenken. Dabei schwebt mir zum Beispiel
eine Familienkomponente vor, bei der sich die Zahl der
Kinder positiv auf die Höhe des staatlichen Zuschusses
auswirken könnte. Aber auch andere Schritte wären
denkbar, um diese Art der privaten Vorsorge seitens des
Staates zusätzlich zu fördern.

Stattdessen räsoniert die Linke in ihrem Antrag da-
rüber, was die vereinbarten Mindestleistungen von
600 Euro Pflegegeld in der Pflegestufe III bei Eintritt der
Pflegebedürftigkeit in 50 oder 60 Jahren wert sein könn-
ten.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das ist ja auch nicht ganz unwesentlich!)


Das, Frau Zimmermann, kann man sich über diesen Zeit-
raum hinweg sicherlich mit Blick auf alle möglichen und
unmöglichen Zahlen fragen. Anstatt nun darüber nach-
zudenken, ob und wie dieses Produkt durch eine Dyna-
misierung künftig noch verbessert werden könnte, schüt-
tet die Linke lieber das Kind mit dem Bade aus und will
die staatlich geförderte Zusatzversicherung mit einem
Federstrich abschaffen.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Wir wollen eine solidarische Bürgerinnenund Bürgerversicherung!)


Ihr Ziel ist es doch, den Menschen die Chance auf Vor-
sorge zu erschweren.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Quatsch!)


Sie wollen, dass das Teilleistungsprinzip abgeschafft
wird und der Staat zukünftig einfach für alles aufkommt.
Das ist sinngemäß das, was in Ihrem Antrag steht.





Erwin Rüddel


(A) (C)



(D)(B)

Dieser folgt damit einem bekannten Muster:


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Ja!)


einerseits den Menschen Angst machen und ihnen ande-
rerseits Wunderdinge versprechen,


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Ja, ja!)


immer nach dem Motto: Am Ende werden andere für
euch die Zeche zahlen.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: So sind sie!)


Natürlich zeigt sich auch hier wieder, dass Ihnen jegli-
cher Anreiz zu eigener Initiative, zu eigener Verantwor-
tung und zu privater Vorsorge zutiefst zuwider ist. Die
Botschaft Ihres Antrags lautet im Grunde: Macht euch
keine Gedanken, Leute, der Staat wird es schon richten.
– Das ist absolut unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag ist
auch aus einem anderen Grund ein ärgerliches Doku-
ment. Man fragt sich nämlich angesichts der Ausführun-
gen zur gesetzlichen Pflegeversicherung, ob die Kolle-
ginnen und Kollegen von der Linken eigentlich den
Koalitionsvertrag gelesen haben. Falls nicht, will ich
hier im Plenum kurz feststellen:


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh nein! Bitte nicht vorlesen!)


CDU, CSU und SPD haben sich in ihrem Koalitionsver-
trag auf die umfassendste Reform der gesetzlichen Pfle-
geversicherung seit ihrer Einführung 1995 verständigt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das musste ja auch sein, nachdem Sie das vorher schon jahrelang verschleppt haben!)


Wir werden die Leistungsbeträge dynamisieren, den
Schlüssel für Betreuungskräfte pro Pflegebedürftigem
deutlich senken, Leistungen wie Kurzzeit- und Verhin-
derungspflege flexibilisieren,


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Alles mit Eigenbeteiligung!)


die Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes ver-
stärken, einen Pflegevorsorgefonds in Höhe von 1,2 Mil-
liarden Euro jährlich schaffen und vor allem Menschen
mit Demenzerkrankung und ihre Angehörigen weit stär-
ker als bisher unterstützen, indem wir eine Neudefinition
des Pflegebegriffs vornehmen. Schließlich werden wir
für deutlich mehr und für gut ausgebildete und für or-
dentlich bezahlte Fachkräfte in der Pflege sorgen.

Die Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung, wie
ich sie hier skizziert habe, ist ein zentrales politisches
Vorhaben dieser Koalition. Daran konstruktiv mitzuwir-
ken, sind alle in diesem Hause aufgefordert und eingela-
den; das gilt ausdrücklich auch für die Kolleginnen und
Kollegen der Linken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Deshalb haben wir ja einen guten Antrag! – Gegenruf der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU]: Nein! Der Antrag ist nicht gut!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802709600

Die Kollegin Elisabeth Scharfenberg hat für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Im vorliegenden Antrag der Linksfraktion finden
sich einige Forderungen, die wir Grüne durchaus mittra-
gen und unterstreichen können, die sinnvoll sind. Es ist
völlig richtig, dass wir endlich eine klare Regelung für
eine jährliche Anpassung der Pflegeleistungen brauchen.
Jetzt ist es nämlich so, dass die Bundesregierung alle
drei Jahre so Pi mal Daumen bestimmt, wie viel sie denn
geben will. Bei der geplanten Pflegereform von Schwarz-
Rot soll es genauso laufen. Es wird keine objektive
Rechnung geben, sondern es wird geschachert werden:
Leistungsanhebung um 3 Prozent, 4 Prozent oder 5 Pro-
zent? Wer bietet mehr? Wer geht drunter? Entscheidung
nach Gusto oder danach, wer sich gerade durchsetzt! So
ein Vorgehen führt nicht nur zu einer Entwertung der
Leistungen; es führt zu einer Entwertung der Pflegever-
sicherung an sich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sagen, dass die Leistungen regelgebunden zu
zwei Dritteln entlang der Lohn- und zu einem Drittel
entlang der Inflationsentwicklung angepasst werden
müssen. Das wäre sachgerecht, weil sich die Pflegekos-
ten in etwa zu zwei Dritteln aus Personalkosten und zu
einem Drittel aus Sachkosten zusammensetzen. Das ist
übrigens keine neue grüne Forderung. Wir fordern das
schon seit 2012 genau so in unserem Konzept der grünen
Pflege-Bürgerversicherung. Schön, dass die Linksfrak-
tion diesen Vorschlag von uns übernommen hat!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Richtig ist auch die Forderung, den Pflege-Bahr wie-
der abzuwickeln. Der Pflege-Bahr war und ist weder ge-
recht noch sinnvoll, und deshalb muss er – ganz klar –
wieder abgeschafft werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Der unsägliche Pflege-Bahr wurde von Schwarz-Gelb
eingeführt – gegen den Rat der überragenden Mehrheit
aller Fachverbände, gegen den Rat der Expertinnen und
Experten sowie der versammelten Opposition. Damals
war die SPD natürlich auch dagegen, weil ja noch Op-
position. Für 2013 rechneten Sie mit 1,5 Millionen
Pflege-Bahr-Verträgen. Sie haben das vollkommen über-
schätzt. Herr Rüddel, die Rechnung, die Sie gerade vor-
getragen haben, klingt ein bisschen wie Pfeifen im
Walde. Es sind bis heute – April 2014 – gerade einmal
400 000 Verträge abgeschlossen worden. Das ist kein Er-
folg; das ist ein Witz. Der Pflege-Bahr bringt nichts. Alle
haben es Ihnen gesagt. Aber Sie wollten es damals nicht
hören, und Sie wollen es jetzt nicht hören. Die SPD hört





Elisabeth Scharfenberg


(A) (C)



(D)(B)

jetzt leider auch weg. Die SPD hat inzwischen kein Pro-
blem mehr mit dem Pflege-Bahr. Die pflegepolitischen
Überzeugungen der SPD sind sehr schnell auf der Stre-
cke geblieben. Schade!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Mit einigem im Antrag sind wir nicht einverstanden:

Da ist die Forderung der Linken, aus der Pflegeversi-
cherung eine Vollversicherung zu machen. Sie geben da
ein ganz schön voreiliges Versprechen ab. Verdi hat
2012 ein Gutachten über die Auswirkungen einer Pflege-
vollversicherung veröffentlicht. Klar wird: Es gibt viele
Unsicherheiten. Was würde eine Vollversicherung ei-
gentlich bezahlen? Wie teuer wäre eine Vollkasko-Pfle-
geversicherung? Teurer als heute auf jeden Fall! Es gibt
da mehr Fragen als Antworten.

Anders beim Pflege-Bahr. Da sind alle Fragen beant-
wortet. Ich werde noch einmal ganz deutlich: Der
Pflege-Bahr ist eine Luftnummer und nichts anderes –


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


übrigens genauso wie der Pflegevorsorgefonds, den die
GroKo nächstes Jahr einführen will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Da möchte ich Ihnen ein abenteuerliches Interview
mit dem gesundheitspolitischen Sprecher der Unions-
fraktion, Jens Spahn, vom 11. März in der Berliner Zei-
tung nicht vorenthalten. „Sicher wie das Gold der Bun-
desbank“, das war der Titel des Artikels. Darin erklärt
uns Herr Spahn den Pflegevorsorgefonds. Der Fonds,
sagt er, werde so sicher sein wie das Gold, das bei der
Bundesbank lagert. Dann empfiehlt der gelernte Bank-
kaufmann Herr Spahn, dass man das Geld aus dem
Fonds doch bitte schön – ich zitiere – „stärker in Aktien
oder Unternehmensanleihen … oder auch in ausländi-
sche Anlagen“ stecken solle.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, genau! Damit kennt er sich aus!)


Man müsse höhere Renditen erwirtschaften. Außerdem
sei die Idee des Sparens schon „ein Wert an sich“.

Übrigens ist sich die Fachwelt einig, dass der Fonds
nicht funktionieren wird. Das interessiert aber Herrn
Spahn und die CDU/CSU nicht. Das lässt tief blicken.
Ich hoffe, die SPD schwingt sich dazu auf, diesen Un-
sinn endlich zu Ende zu bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Inmitten einer weltweiten Finanzkrise mit dem Geld
der Versicherten zu zocken, den Menschen Märchen
über goldene Töpfe – damit ist der Vorsorgefonds ge-
meint – zu erzählen, das bezeichne ich nicht als ernst-
hafte und nachhaltige Finanzierung. Um das Kraut fett-
zumachen, klammert sich die Große Koalition auch noch
am unsolidarischen und äußerst erfolglosen Pflege-Bahr
fest. Sie sollten die Menschen nicht für dumm verkau-
fen. Eine solide Finanzierung der Pflege schaut anders
aus.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802709700

Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1802709800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im
Mai 1994 verabschiedete der Deutsche Bundestag das
Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflege-
bedürftigkeit. Die soziale Pflegeversicherung als fünfte
Säule der Sozialversicherung in Deutschland ward gebo-
ren. Dieser Beschluss war ein sozialpolitischer Meilen-
stein; er war aber auch keine einfache Geburt. Dieser
Geburt gingen damals 20 Jahre intensive und breite Dis-
kussionen voraus. Es wurden debattiert die Situation der
Pflegebedürftigen, die Folgen des demografischen Wan-
dels und auch die finanziellen Belastungen der Kommu-
nen – heute immer noch aktuelle Themen. Kurz vor dem
20. Geburtstag dieses Gesetzes sei es erlaubt, hier schon
einmal zu gratulieren: Happy Birthday, liebe SPV, liebe
soziale Pflegeversicherung! Du hast dich trotz schwer-
wiegender struktureller Reformstaus zu einer in der Be-
völkerung akzeptierten Sozialversicherung entwickelt.

Die soziale Pflegeversicherung war von Anfang an
als Teilleistungssystem, als Teilkaskoversicherung, wie
sie in der Bevölkerung häufig genannt wird, konzipiert.
Ja, es ist richtig: Es sind notwendige Leistungsverbesse-
rungen vorzunehmen. Die bisherigen Verbesserungen
durch die verschiedensten Gesetze in der ambulanten
und stationären Pflege reichen noch nicht aus. Darauf
hat die Expertenkommission, darauf haben aber auch die
ambulanten Träger und viele andere aufmerksam ge-
macht. Wir selber erleben dies tagtäglich, wenn wir in
die entsprechenden Einrichtungen gehen.

Wir wollen die eng richtungsbezogene Definition der
Pflegebedürftigkeit überwinden und natürlich sehr viel
mehr für Menschen tun, die an Demenz erkrankt sind,
und vor allen Dingen für Menschen, die an psychischen
Erkrankungen leiden. Wir brauchen hier mehr Leis-
tungsansprüche. Das ist uns als Großer Koalition aber
sehr bewusst. Deshalb werden wir dafür sorgen, dass in
dieser Legislaturperiode nachhaltige strukturelle Refor-
men erfolgen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Dann müssen Sie als Erstes den Pflege-Bahr abschaffen!)


Wir haben in der Koalitionsvereinbarung für den Be-
reich Pflege sehr viele Maßnahmen vereinbart; denn wir
wollen, dass Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
von allen gesehen und auch wahrgenommen wird.


(Beifall bei der SPD)






Mechthild Rawert


(A) (C)



(D)(B)

Wir wollen die zügige Neuordnung des Pflegebedürftig-
keitsbegriffs. Wir wollen eine Dynamisierung der Leis-
tungssätze, um so den überproportionalen Eigenfinan-
zierungsanteil nicht weiter steigen zu lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von
Berufstätigkeiten und Pflegetätigkeiten. Wir wollen eine
Aufwertung der Pflegeberufe. Wir wollen ein Pflegebe-
rufegesetz mit einheitlicher Grundausbildung und darauf
aufbauender Spezialisierung. Wir wollen die Kostenfrei-
heit der Ausbildung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die so gewonnenen Mehreinnahmen bei der Pflege
dienen uns allen. Wir wollen eine gute Pflegeinfrastruk-
tur, und weil wir das wollen, sagen wir allen Pflegebe-
dürftigen und ihren Angehörigen: Dazu gehört eine Dy-
namisierung der Leistungssätze. Ich verspreche Ihnen,
Frau Zimmermann, sie wird kommen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann, Mechthild, wann? – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Gucken wir mal!)


Wir haben in der Diskussion vorhin schon gehört,
dass die Pflegeversicherung auf der Leistungsseite eine
Bürgerversicherung ist; denn jede und jeder bekommt,
unabhängig davon, ob sie oder er bei einer privaten oder
in der gesetzlichen Pflegeversicherung versichert ist, die
gleichen Leistungen.


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann macht doch die Finanzseite auch zu einer Bürgerversicherung!)


Ja, es stimmt: Am liebsten wäre uns Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten zur Bekämpfung der chronischen
Unterfinanzierung der gesetzlichen Pflegeversicherung
eine Bürgerversicherung auch auf der Finanzierungsseite
gewesen. Wir haben für diese Legislaturperiode aber an-
dere Modelle verabredet.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht definitiv nicht voran!)


Das heißt jetzt nicht, dass wir gegen eine Bürgerversi-
cherung sind;


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch nicht dafür!)


wir verschieben sie.


(Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Wird ins Archiv verschoben!)


Ich denke, das ist geklärt zwischen uns. Jetzt haben wir
einen Koalitionsvertrag zu erfüllen. Unser Bürgerversi-
cherungskonzept bleibt aber nach wie vor aktuell.


(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ CSU: Ach ja? – Hört! Hört!)


Die in dem Antrag der Linken gewünschte langfris-
tige Abschaffung des Teilleistungsprinzips ist keine Lö-
sung; das lehnen wir ab.

(Beifall des Abg. Heiko Schmelzle [CDU/ CSU])


Vorhin ist schon darauf hingewiesen worden: Es gibt
Konzepte für eine Vollkaskoversicherung, die aber teil-
weise noch auf unzureichenden Annahmen beruhen, und
die Berechnungen sind auch nicht positiv, einmal abge-
sehen davon, dass ich mich frage, wer das finanzieren
soll.

Doch kommen wir zum Pflege-Bahr. Erinnern Sie
sich noch? Im Rahmen des am 1. Januar 2013 in Kraft
getretenen Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes hat die da-
malige schwarz-gelbe Regierung begonnen, private Pfle-
gezusatzversicherungen zu fördern. Zumindest in der
FDP hat mensch sich darüber gefreut, wie ich heute ge-
hört habe: Herr Rüddel persönlich auch.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Er freut sich jetzt!)


– Ja, er freut sich und findet das toll. – Das war aber, wie
gesagt, mehr ein FDP-Kind. Der damalige FDP-General-
sekretär, Christian Lindner, hatte auch gleich einen pas-
senden Namen dafür: Das ist der Pflege-Bahr, den wir
jetzt einführen. – Dieser Pflege-Bahr ist für alle Versi-
cherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer unab-
hängig vom jeweiligen Einkommen gleich hoch. Sie
müssen mindestens 180 Euro zahlen; davon werden
60 Euro staatlich gefördert.

Es blieb kein Geheimnis: Die SPD, Sozialverbände,
Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer,
Fachinstitute, Linke, Grüne, sie alle lehnten die Einfüh-
rung des Pflege-Bahrs ab.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Die SPD auch!)


– Habe ich gesagt; ich habe sie sogar als Erste genannt. –
Mit der Einführung des Pflege-Bahrs waren nämlich
zwei Botschaften verbunden: Zum einen sollte damit
laut Begründung im Gesetzentwurf ein Anreiz zu zusätz-
licher Pflegevorsorge geschaffen werden, quasi ergän-
zend zum Teilleistungssystem. Es gab aber auch noch
eine zweite Botschaft – die lag schon ein bisschen zu-
rück –: Die Einführung einer einkommensunabhängigen
privaten Pflegezusatzversicherung wurde, beispielsweise
im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb von 2009, mit
einer substitutiven Wirkung begründet. Das heißt, damit
ist eine Verlagerung von Finanzierungsverantwortung
von der umlagefinanzierten Sozialversicherung zur kapi-
talgedeckten Privatversicherung intendiert. Glauben Sie
mir: Das will die SPD nicht. Wir sind nach wie vor für
starke Umlagefinanzierungssysteme.


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Produkt ist das gleiche, die Erklärung ist eine andere!)


Vielleicht zur Aufklärung: Durch die Finanzkrise sind
am besten die Versicherungen gekommen, die ein umla-
gegefördertes System hatten.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Die Mischung macht’s!)


Es war viel sicherer, das Geld dort angelegt zu haben, als
bei privaten, profitorientierten Unternehmen. Infolge-





Mechthild Rawert


(A) (C)



(D)(B)

dessen werden wir in Zukunft sicherlich auch noch ein-
mal darüber reden – das gilt auch in Bezug auf andere
Bereiche –, was gute Formen der Förderung sind.

Die Linke fordert in ihrem Antrag auch, den Pflege-
Bahr rückabzuwickeln, und einen Stopp der Pflegever-
sicherung. Alle Verbraucherschützerinnen und Verbrau-
cherschützer – das sind auch Rechtsschutzexperten –
sagen aber: Das ist leider gar nicht möglich; denn dieje-
nigen, die einen Vertrag abgeschlossen haben, bauen da-
rauf, dass es die Förderung weiterhin gibt.

All diejenigen, die jetzt sagen: „Es waren 1,5 Millio-
nen Verträge geplant; herausgekommen sind allerdings
nur 400 000“, haben recht.


(Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Bis jetzt!)


– Es waren schon bis 2013 1,5 Millionen Verträge ange-
dacht.


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Sie beziehen sich auf die Zukunft!)


Das wurde auch bei der Aufstellung des Haushalts be-
rücksichtigt. In der mittelfristigen Finanzplanung für die
Jahre 2014, 2015 und 2016 waren für diese staatliche
Zusatzversicherung nämlich noch jeweils 100 Millionen
Euro vorgesehen. In den Haushalt 2014 eingestellt – ich
finde, diese Bundesregierung ist hier klüger als die vor-
herige – werden aber nur 33 Millionen Euro. Es hat hier
eine gute Kooperation zwischen den Fach- und Finanz-
politikern gegeben. Das muss man hier gar nicht weiter
kommentieren. Wir werden uns sicherlich spätestens in
einem Jahr noch einmal darüber unterhalten. Dass ich
persönlich – das sage ich als Sozialdemokratin – keine
Anhängerin der Privatisierung von Vorsorge bin, ist,
denke ich, unbestritten: Es schadet auch nicht dem Ko-
alitionsfrieden, wenn ich das hier so deutlich sage.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das ist aber wichtig!)


Meine Bitte an alle ist: Die Pflege gehört in die Mitte
der Gesellschaft und muss noch viel mehr Gegenstand
der Diskussionen des Deutschen Bundestages sein. Die
Bürgerinnen und Bürger erwarten viel von uns. Packen
wir es an! Machen wir daraus: gesagt, getan, gerecht!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann verplempert nicht so viel Geld für falsche Sachen!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802709900

Das Wort hat der Kollege Tino Sorge für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Tino Sorge (CDU):
Rede ID: ID1802710000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Zimmermann, ich habe Ihnen genau zugehört


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Sehr gut!)

und muss Ihnen leider sagen: Es hat sich in der bisheri-
gen Debatte im Grunde genau das bestätigt, was aus Ih-
rem Antrag bereits hervorging. Entweder haben Sie
nicht verstanden, dass wir von der Systematik her über
eine Pflegezusatzversicherung reden, oder Sie blenden
das ganz bewusst aus, um hier Effekthascherei zu betrei-
ben. Deshalb werden wir, wie Sie schon gesagt haben,
diesen Schritt nicht mit Ihnen gehen, sondern den Antrag
ablehnen – zu Recht, wie ich finde.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Schade eigentlich!)


Was sind die Fakten? Sie sind teilweise schon ange-
sprochen worden:


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht wirklich! Das muss man einmal ganz klar sagen!)


Bis zum Jahr 2050 werden wir mit ungefähr 4,5 Millio-
nen Pflegebedürftigen rechnen müssen. Damit sind dann
circa 44 Prozent der pflegenahen Generation – das heißt
derjenigen, die über 80 Jahre alt sind – Nutznießer von
Pflegeleistungen. Das hat zur Folge, dass die Pflegekos-
ten nicht nur insgesamt, sondern auch individuell anstei-
gen werden. Durch das stark ansteigende Lebensalter
– die Menschen in unserem Land werden immer älter,
worüber wir uns alle ja freuen – und den medizinischen
Fortschritt liegt es in der Natur der Sache, dass die Pfle-
geaufwendungen steigen. Gerade deshalb ist es eben so
wichtig, dass wir als Politiker denjenigen, deren Pflege-
situation konkret ist, den Pflegebedürftigen und denen,
die in die Pflege eingebunden sind, zur Seite stehen,
sinnvolle Angebote unterbreiten und Unterstützung zu-
teilwerden lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Christine Lambrecht [SPD])


Das Pflegesystem muss auf ein breites Fundament ge-
stellt werden. Aus Sicht der Union ist ein Baustein natür-
lich die staatliche Pflegeversicherung, von der aufgrund
ihrer stetigen Weiterentwicklung sehr viele pflegebe-
dürftige Menschen profitieren, und das ist auch gut. Als
weiteren Baustein gibt es die private Pflegezusatzversi-
cherung, die viele im Haus schon liebevoll Pflege-Bahr
genannt haben.


(Mechthild Rawert [SPD]: Na ja, nicht gerade liebevoll! – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Was Sie so empfinden!)


– Ich habe das so empfunden, Frau Zimmermann.

Diese Pflegezusatzversicherung – ich sage ganz be-
wusst: Pflegezusatzversicherung – ergänzt das staatliche
System. Das heißt, das ist ein Angebot an diejenigen, die
freiwillig eine Zusatzversicherung abschließen möchten.
Die Zahlen sind schon genannt worden: Täglich werden
1 600 Neuverträge abgeschlossen. Insgesamt gibt es
mittlerweile zwischen 400 000 und 500 000 Verträge.
Man sieht: Die Zusatzversicherung wird angenommen.
Es geht hier auch um den Kontext der Eigenvorsorge.
Wir wollen ja die Menschen zu immer mehr Eigenvor-
sorge animieren.





Tino Sorge


(A) (C)



(D)(B)


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das wird nicht angenommen! Die Menschen sind sturer, als Sie denken!)


Gerade meine Generation ist sich dessen bewusst, dass
wir eigenverantwortlich vorsorgen müssen.

Schauen Sie sich doch einmal die Vorzüge der Pflege-
zusatzversicherung an; sie liegen doch auf der Hand. Es
gibt keine Risikozuschläge. Es gibt keine altersbeding-
ten Prämiensteigerungen. Es gibt keine Gesundheitsprü-
fung.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Und keine Dynamisierung! – Maria Michalk [CDU/ CSU]: Vor allen Dingen das Letzte ist doch sehr solidarisch!)


Das heißt: All diejenigen, die früher keine Möglichkeit
hatten, in diesem Bereich eine Versicherung abzuschlie-
ßen, haben jetzt Zugang zu einer Pflegezusatzversiche-
rung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Da wir gerade bei der Systematik sind: Diese Ver-
sicherung war von vornherein – das ist schon angeklun-
gen – als Zusatzversicherung geplant. Es stand nie im
Raum, dass es eine Komplettversicherung werden sollte.
Die Versicherten – auch meine Generation – wissen: Es
handelt sich um eine Zusatzversicherung. Dieses System
hat sich bewährt.

Mit dieser Pflegezusatzversicherung – ich habe es
schon gesagt – ist private Vorsorge überhaupt erst mög-
lich geworden. Deshalb meine Bitte an die Kolleginnen
und Kollegen von den Linken, den Grünen und auch an
Sie, Frau Rawert – ich weiß nicht, ob ich Sie richtig ver-
standen habe –: Lassen Sie die Pflegezusatzversicherung
doch erst einmal wirken!


(Mechthild Rawert [SPD]: Ich kann sie ja nicht abschaffen!)


Schauen wir uns doch erst einmal an, wie sie sich aus-
wirkt! Es ist doch vernünftig, wenn die Evaluation seriös
sein soll, sie erst nach einem längeren Zeitraum vorzu-
nehmen und nicht schon nach einem Jahr.

Wir sind der Meinung, dass die Pflegezusatzversiche-
rung eine ausgewogene Balance zwischen Beitrag und
Versicherungsleistung darstellt. Die Lage der Versicher-
ten war vor Einführung dieser Versicherung wesentlich
schlechter; das sollte hier niemand vergessen. Eine sol-
che Zuschussversicherung bietet die Chance auf mehr
Eigenverantwortung, schärft aber gleichzeitig den Blick
für die Kosten und sensibilisiert dafür, welch große He-
rausforderung die Pflege ist.

Das aktuelle System zeigt, dass Pflegebedürftigkeit
kein individuelles Problem ist; diese Thematik betrifft
immer die ganze Familie. Wir dürfen in diesem Zusam-
menhang nie vergessen, dass Pflegezeiten, der interfami-
liäre Einsatz im Falle einer Pflegebedürftigkeit, heutzu-
tage wesentlich stärker gefördert und unterstützt wird,
als das noch vor Jahren der Fall war. Das ist ein Erfolg;
das können wir doch einmal sagen. Die Bundesregierung
setzt mit Karl-Josef Laumann als Beauftragten für Pflege
ein weiteres deutliches Zeichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Die Versicherten, die Pflegebedürftigen, die Angehö-
rigen und die Pflegekräfte in Deutschland sowie alle Fa-
milien, die sich mit der Pflegesituation auseinanderset-
zen müssen, können weiterhin auf eine gute, verlässliche
und vertrauensvolle Versicherung bauen. Dafür steht die
Bundesregierung. Dafür stehen wir als Union. Dafür
steht die Koalition.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802710100

Kollege Sorge, das war Ihre erste Rede im Deutschen

Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des ge-
samten Hauses herzlich und wünsche Ihnen viel Erfolg
in Ihrer Arbeit.


(Beifall)


Das Wort hat der Kollege Heiko Schmelzle für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Heiko Schmelzle (CDU):
Rede ID: ID1802710200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Besonders begrüßen möchte ich die Parla-
mentarische Staatssekretärin, Frau Widmann-Mauz. Für
mich ist ihre Präsenz als Vertreterin der Regierung an ei-
nem Freitagnachmittag im Plenum des Deutschen Bun-
destages


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstverständlich!)


ein deutliches Zeichen dafür, welch hohen Stellenwert
das Thema Pflege in der 18. Wahlperiode für die Koali-
tionsfraktionen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Die Deutschen sind heute weit über den Eintritt in den
Ruhestand hinaus deutlich rüstiger, als es gleichaltrige
Senioren vor einigen Jahrzehnten gewesen sind. Wir
werden immer älter. Männer haben mittlerweile eine Le-
benserwartung von 78 Jahren, Frauen von circa 83 Jah-
ren. Das steigende Durchschnittsalter ist erfreulich, stellt
unsere Gesellschaft jedoch vor immer größere Heraus-
forderungen; denn die Zahl derjenigen, die auf Pflege
bzw. Hilfe angewiesen sind, steigt ebenfalls stetig.

Mit Weitblick wurde bereits 1995 unter der Regie des
damaligen CDU-Arbeitsministers Norbert Blüm die ge-
setzliche Pflegeversicherung eingeführt. Ziel war es, al-
len Bürgerinnen und Bürgern für den Fall der Pflegebe-
dürftigkeit eine Basisabsicherung zu gewährleisten. Man
legte sich damals ganz bewusst auf das Teilleistungs-
prinzip fest, um überbordende Beitragskosten zu vermei-





Heiko Schmelzle


(A) (C)



(D)(B)

den, die eine vollständige Absicherung des Pflegebe-
dürftigkeitsrisikos mit sich gebracht hätte.

In der letzten Wahlperiode haben wir nun zum 1. Ja-
nuar 2013 eine staatliche Förderung in Kraft gesetzt, die
die Eigenvorsorge im Rahmen einer privaten Pflegezu-
satzversicherung unterstützt. Zum Beispiel erreichen auf
diese Weise junge Menschen im Alter zwischen 20 und
40 Jahren mit einem Eigenbeitrag von 10 Euro monat-
lich und einer staatlichen Förderung von 5 Euro monat-
lich tendenziell deutlich mehr, als das Mindestsiche-
rungsziel von 600 Euro in Pflegestufe III vorsieht. Im
Idealfall sind dies bis zu 1 400 Euro über den Erstat-
tungsbetrag hinaus, der bereits durch die gesetzliche
Pflegeversicherung gezahlt wird.

Die Zahlen des Verbandes der Privaten Krankenversi-
cherung sind eindeutig. Vor Einführung der staatlichen
Förderung hatten circa 1,8 Millionen Menschen eine pri-
vate Pflegezusatzversicherung. Seit deren Einführung
sind bereits 500 000 neue Verträge abgeschlossen wor-
den. Dies entspricht innerhalb kürzester Zeit einer Stei-
gerung um 27 Prozent. Das heißt, der von uns bzw. von
der Politik gesetzte Anreiz hat insofern die gewünschte
Wirkung entfaltet, vielleicht nicht im gewünschten
Maße, aber die Richtung ist vorgegeben. Wenn aktuell
1 600 Verträge pro Tag dazukommen, dann ist das doch
ein Erfolg.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese Zahlen werden durch die aktuelle repräsentative
Allensbach-Umfrage untermauert. In dieser wurden rund
2 000 Menschen zum Thema Pflege befragt. 60 Prozent
der Befragten hielten eine staatlich bezuschusste private
Pflegezusatzversicherung für eine gute Sache.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Immerhin!)


Was können wir aus den erwähnten Zahlen schließen?
Die Bürgerinnen und Bürger verstehen, dass man ergän-
zend Eigenvorsorge betreiben muss. Vor diesem Hinter-
grund muss man die Basisversorgung sehen.

Die Fraktion Die Linke will mit ihrem Antrag die
staatliche Förderung der ergänzenden privaten Pflege-
versicherung stoppen und wünscht eine Rückabwicklung
der 500 000 bereits abgeschlossenen Verträge. Des Wei-
teren fordern die Antragsteller langfristig einen Umbau
der Pflegeversicherung zu einer „Vollkaskoversiche-
rung“. Ich frage mich ernsthaft, wer das am Ende bezah-
len soll.

Die Linke verschließt in diesem Zusammenhang aus
meiner Sicht die Augen vor den anstehenden Herausfor-
derungen, die sich uns aufgrund einer alternden Bevöl-
kerung stellen. Besonders irritiert war ich, im Antrag der
Linken Folgendes zu lesen – ich zitiere –:
Die geförderten Tarife sind aufgrund des Kontra-
hierungszwangs und der fehlenden risikobezogenen
Prämienkalkulation teurer als vergleichbare nicht
geförderte Produkte.

Jetzt kommt der springende Punkt:

Das führt zu einer negativen Risikoselektion und
weiteren Beitragssteigerungen.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das passt nicht zusammen!)


Das sehe ich völlig anders. Ich sehe es gerade als die so-
ziale Komponente der staatlichen Förderung der ergän-
zenden privaten Pflegeversicherung an, dass auch Men-
schen mit Vorerkrankungen noch aktiv etwas tun
können, um ihr persönliches Risiko einer Pflegebedürf-
tigkeit finanziell abzusichern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Linke möchte also gerade jenen die Möglichkeit der
staatlich geförderten Eigenvorsorge nehmen, denen die
geltende Regelung am meisten hilft.

Ich möchte den Antragstellern abschließend ein Zitat
von Mahatma Gandhi mit auf den Weg geben. Es lautet
wie folgt:

Wir haben die Pflicht, stets die Folgen unserer
Handlungen zu bedenken.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit bei mei-
ner ersten Rede.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1802710300

Kollege Schmelzle, Sie sagten es abschließend: Das

war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Auch Ih-
nen alles Gute für Ihre weitere Arbeit!


(Beifall)


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/591 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Dienstag, den 8. April 2014, 11 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen gute
Erholung über das Wochenende.