Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich zur voraussichtlich letzten Ple-narsitzung dieser Woche.Ich habe Ihnen mit Blick auf die nächste Sitzungswo-che, die ja unmittelbar bevorsteht, mitzuteilen, dass sichder Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf ver-ständigt hat, während der Haushaltsberatungen ab dem8. April wie üblich keine Befragung der Bundesregie-rung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stun-den durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage vonMontag, dem 7. April, bis Freitag, dem 11. April, festge-legt worden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Dasist nicht der Fall. Dann haben wir das so vereinbart.Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten PhilippMißfelder, Sibylle Pfeiffer, Frank Heinrich
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenNiels Annen, Dr. Bärbel Kofler, GabrielaHeinrich, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten KordulaSchulz-Asche, Tom Koenigs, Omid Nouripour,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENErinnerung und Gedenken an die Opfer desVölkermordes in Ruanda 1994Drucksache 18/973Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazukann ich keinen Widerspruch erkennen, sodass wir soverfahren können.Dazu liegt ein Antrag vor, über den wir dann späterbefinden werden.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Die Berge Ruandas strömen Wärme und Behaglich-keit aus. Sie locken durch Schönheit und Stille,kristallene Luft, Ruhe und die Vollkommenheit ih-rer Linien und Formen. Am Morgen füllt durchsich-tiger Nebel die grünen Täler.Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sobeschreibt Richard Kapuscinski die Landschaft vonRuanda. „Land der tausend Hügel“ wird Ruanda deshalbauch im Volksmund dort genannt.Einer der tausend Hügel liegt in Murambi. Hierhinwaren Zehntausende Tutsi geflüchtet, als vor 20 Jahrender Massenmord in Ruanda begann. „Oben am Hügel inder neu gebauten Schule seid ihr sicher“, hatte der Bi-schof gesagt. Genau an diesem Morgen, am 21. April1994, umstellten Milizen die Schulgebäude und began-nen zu morden, mit Macheten, Messern und Knüppeln –ein Blutrausch, der kein Ende nehmen wollte. Zehntau-sende Menschen starben auf diesem Hügel an einem ein-zigen Tag. Jonathan Nturo hat das Massaker als kleinerJunge überlebt. Heute sagt er beim Blick über den Hü-gel: Ich wundere mich manchmal, dass hier noch Graswächst, dass das Leben weitergeht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es ist schwer, zubegreifen, dass die Erde sich weiterdreht nach einem sol-chen Grauen des Völkermords. Dieses Gefühl kennt je-der von uns, vielleicht vom ersten Besuch in Bergen-Belsen, Buchenwald oder Auschwitz. Es beschleicht je-den, der an solche Orte kommt. Aber auch überall dortwächst noch Gras. Jetzt im Frühling blühen sogar dieBäume.Als Deutscher bin ich vorsichtig mit historischen Ver-gleichen. Sie werden der Einzigartigkeit und Unver-gleichbarkeit dieser Verbrechen und insbesondere derDimension nationalsozialistischer Verbrechen nie ge-recht. Sie werden aber auch der Geschichte und den un-terschiedlichen Kulturen Afrikas nicht gerecht. Undtrotzdem: Als Deutscher kann man von einem Völker-mord in Afrika nicht sprechen, ohne an den von unsselbst zu verantwortenden Völkermord zu denken. Das
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sind Schicksalsmomente unserer Kontinente. Sie prägenunser Handeln bis heute und prägen eben auch – davonrede ich – die Beziehungen unserer Völker zueinander.Unsere Schicksalsmomente mögen so unterschiedlichsein wie die Landschaften – die Hügel von Ruanda, dieWälder um Auschwitz, die Mohnfelder von Verdun –,doch die Lehren aus diesen Schicksalsmomenten verbin-den uns. Sie sind Lehren einer geteilten Menschlichkeit.Die eine Lehre, die an einem Gedenktag wie heute zuziehen ist, die wir ziehen müssen, heißt: Niemals wieder!Ja, niemals wieder. Doch viel schwieriger ist die Frage,wie wir dieser Verantwortung des „Niemals wieder!“ ei-gentlich gerecht werden. Seien wir ehrlich: Wir habenschon einmal „Niemals wieder!“ gerufen. Das war 1948,nach dem Holocaust, als die Vereinten Nationen die Völ-kermordkonvention beschlossen haben. Doch wir habendieses Versprechen nicht halten können. Die internatio-nale Gemeinschaft hat versagt, als sie in Ruanda vor20 Jahren inmitten der Gewalt ihre Blauhelmsoldatenabzog.Zur Wahrheit gehört auch, dass heute, in der Gegen-wart, die Dämonen des Völkermords keineswegs ge-bannt sind, auch wenn die internationale Gemeinschaftunter der Überschrift „Responsibility to Protect“ auf Ru-anda reagiert hat, auch wenn sie Prävention, Einsatzfä-higkeit und die internationale Strafgerichtsbarkeit ver-bessert hat. Wir sprechen nicht überall von Völkermord,aber wir stehen im Kongo, in Zentralafrika und in Syrienvor endlosem Blutvergießen.Jonathan Nturo und allen Opfern von Menschheits-verbrechen können wir den Verlust ihrer Kinder, Väter,Mütter und Freunde niemals wiedergutmachen. Aber wirschulden ihnen etwas, auch wenn wir ehrlich wissen,dass nicht jedes Unrecht und jedes Blutvergießen ge-stoppt werden kann. Wir schulden ihnen, dass wir unsnicht dem Gefühl der Ohnmacht und schon gar nicht derGleichgültigkeit hingeben, dass wir nicht nur anpran-gern, sondern das uns Mögliche tun, das in unsererMacht steht, um Völkermord zu verhindern. Das ist un-sere Verpflichtung, und dieser Verpflichtung müssen wirgerecht werden.
Ruanda ist dabei, Vergangenheit aufzuarbeiten, einneues Ruanda zu schaffen. Überall in Afrika entstehtganz viel Neues in diesen Jahren. Afrika, habe ich in ei-ner anderen Rede gesagt, verändert sich schneller als un-sere Wahrnehmung von Afrika.Das ist der Grund für meine Reise nach Äthiopien,Tansania und Angola, die ich in der vergangenen Wochegemacht habe. So unterschiedlich die drei Länder sind,so habe ich doch eigentlich überall, von fast allen Ge-sprächspartnern, denselben Ruf gehört. Der Ruf lautet:Wir wollen keine Bettler vor den Türen Europas sein. –Der afrikanische Kontinent ist aus sich heraus lebensfä-hig, kann Nahrung und Entwicklung für alle Menschenjedenfalls potenziell bereitstellen.Wenn es um Sicherheit, Stabilität und Frieden geht,sagen viele: Wir wollen nicht um Europas Soldaten bit-ten, sondern wollen das selbst bewältigen können, selbsthandeln können. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, dasmuss eben auch unser Interesse sein. Wir Europäer wol-len auch, dass Afrika sein Schicksal in die eigenenHände nimmt. Afrika ist ein Kontinent im Aufbruch, undwir müssen diesen Aufbruch massiv unterstützen.
Dazu gehört auch, dass wir viele der afrikanischenStaaten heute mehr und mehr als Partner wahrnehmen.Wir brauchen sie als Partner, auch um die globalen He-rausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, be-wältigen zu können. Wenn man dort unterwegs ist, dannmerkt man, wie sehr unsere beiden Kontinente, Europaund Afrika, aufeinander angewiesen sind, zueinander ge-rückt sind, wie sehr wir von der Stabilität des jeweils an-deren Kontinentes abhängen. Das erleben wir Europäer– und wir reden hier auch darüber –, wenn Flüchtlingeaus Afrikas Krisenherden an Europas Grenzen stoßen.Aber man spürt es auch in vielen Gesprächen in Afrika,wenn dort gesagt wird: Wir spüren hier vor allen Dingeneure seit fünf Jahren dauernde Krise in Europa, weil vonden europäischen Staaten, insbesondere den südeuropäi-schen Staaten, weniger investiert wird. – Die europäi-sche Krise hinterlässt eben auch tiefe Spuren in Afrika.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel ist leichtbeschrieben. Danach zu handeln, ist nicht ganz soeinfach. Dazu entwickelt sich Afrika viel zu rasant, vielzu vielfältig. Dieses Afrika will einfach unter keineknackige Überschrift passen, nach der Medien und gele-gentlich die Politik suchen. Afrika ist weder einfach Kri-senkontinent noch einfach Chancenkontinent. Wahr-scheinlich hat Horst Köhler recht, der gesagt hat: SolcheUrteile sagen ohnehin viel mehr über uns selber als überAfrika.Ich finde, wenn die Entwicklung Afrikas so vielfältigist, dann muss unser Instrumentenkasten daran angepasstwerden und genauso vielfältig sein. Je nach Land und jenach Lage gehören in diesen Instrumentenkasten wirt-schaftliche Investitionen genauso wie Abrüstung oderdie Eindämmung von Kleinwaffen; dazu gehört kulturel-ler Austausch genauso wie Straßenbau, die Stärkung desRechtsstaates genauso wie das Training von Sicherheits-kräften. All diese Instrumente habe ich in verschiedenenLändern, in verschiedenen Staaten gesehen, und allewerden sich in den afrikapolitischen Leitlinien der Bun-desregierung wiederfinden, die wir gerade erarbeiten.Ich weiß auch aus eigener Erfahrung: Gerade gegen-über Afrika bleibt Außenpolitik immer auch ein Balan-ceakt. Dazu gehört der Respekt vor den Unterschiedenund die Suche nach Gemeinsamkeiten, aber auch dieFeststellung dessen, was möglicherweise unvereinbarist.Gemeinsamkeiten gibt es heute sehr viel mehr als das„Nie wieder!“, von dem ich ganz am Anfang meinerRede gesprochen habe, das „Nie wieder!“ zu Krieg undVölkermord.Es ist sehr viel mehr, weil erstens die Europäer wiedie Afrikaner gelernt haben, mit Nachbarn zu leben, mit
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ihnen zu arbeiten statt gegen sie. Das ist eine Leitideeder regionalen Integration, wie wir sie in Europa ent-wickelt haben; aber das ist eben auch die Leitidee derAfrikanischen Union.Ich befürchte, wir unterschätzen gelegentlich, wasvon den afrikanischen Organisationen mittlerweile ge-leistet wird. Natürlich reden wir zu Recht über Einsätze,über Mandate, die hier im Deutschen Bundestag be-schlossen werden. Aber viele wissen einfach nicht, dassdie Afrikanische Union 70 000 Soldaten in innerafrika-nischen Konflikten im Einsatz hat und mit Mühe – undnicht überall erfolgreich – danach sucht, dort Stabilitätwiederherzustellen, wo sie verloren gegangen ist. DieStärkung der afrikanischen Eigenverantwortung, diedazu notwendig ist, hat auf dem EU-Afrika-Gipfel indieser Woche eine große Rolle gespielt.Wir versuchen, diese Eigenverantwortung zu stärken –nicht nur durch situative Ausbildungsmissionen, sondernganz gezielt, indem wir beispielsweise das Kofi AnnanInternational Peacekeeping Training Centre in Ghanaunterstützen oder das Peace and Security Centre – ichkonnte mir das ansehen –, das wir auf dem Gelände derAfrikanischen Union in Addis Abeba bauen und dasnächstes Jahr eröffnet wird, pünktlicher als manche Bau-stelle in Deutschland.
Zweitens. Wir wollen die Vielfalt der Menschenschützen. Die Botschafterin Ruandas hat in einer Redezum 20-jährigen Gedenken an den Völkermord gesagt:Wir bauen ein Ruanda auf, in dem alle Menschen …sich mit gleichen Rechten entfalten können.In Vielfalt leben, das geht nur – das wissen wir – in ei-nem Rechtsstaat, auf den sich alle verlassen können.Dazu gehört die Freiheit von Meinung und Religion ge-nauso wie die Freiheit der sexuellen Orientierung. Daswar ein Grundsatz, der auf meiner Reise eine großeRolle gespielt hat, zum Beispiel beim Besuch des Ger-man Tanzanian Law Centre in Daressalam, wo ich Stu-denten getroffen habe, die sehr an einem Rechtsstaats-dialog mit uns, mit Europa, aber insbesondere mitDeutschland, interessiert sind. Viele ihrer Lehrer habenan deutschen Universitäten studiert. Deshalb will ich andieser Stelle den vielen deutschen Universitäten meinenherzlichen Dank für ihr Engagement auf dem afrikani-schen Kontinent aussprechen, insbesondere dem Deut-schen Akademischen Austauschdienst, der sich durchseine Stipendienprogramme mit unendlicher Energie da-für einsetzt, dass die entsprechenden Vorhaben auf denWeg gebracht werden können.
Drittens haben wir gelernt, dass Frieden oder Unfrie-den auch materielle Grundlagen hat, insbesondere dann,wenn sie fehlen. Der Völkermord vor 20 Jahren wurdeangeheizt durch materielle Not, durch knappe Ressour-cen, durch Konflikte, die die Machthaber systematischausgenutzt haben, um möglichst viele Menschen in dasMorden zu verstricken. Deshalb gehört zu den Lehrendes Völkermords das Friedensversprechen auf der einenSeite, aber auch das Wohlstandsversprechen auf der an-deren Seite.Kongo, Nigeria und Angola, alle diese Staaten lehrenuns, dass Öl, Gas, Gold und Diamanten nicht von selbstfür Wohlstandsentwicklung sorgen, an der alle teilhaben,sondern das muss politisch organisiert werden. Nurwenn der wirtschaftliche Aufbruch Perspektiven für alleMenschen schafft, nur wenn er – auch durch Bildung,Entwicklung und die Schaffung eines Gesundheitswe-sens – alle Menschen am Wohlstand teilhaben lässt,schweißt er die Gesellschaft zusammen. Nur dann kön-nen wir für Frieden sorgen.
In Addis Abeba führte ich längere Gespräche mit Ver-tretern der Afrikanischen Union, auch mit der Kommis-sionsvorsitzenden Frau Dlamini-Zuma. Nach den Ge-sprächen stellte eine deutsche Journalistin die relativklare Frage an Frau Zuma: Was ist eigentlich die größteErwartung Afrikas an Europa? Frau Zuma hat eine klareAntwort gegeben. Sie sagte: Unsere Jugend! Für sie wol-len wir mit Europa arbeiten, für ihre Ausbildung, für ihrewirtschaftlichen Perspektiven. Die nächste Frage derJournalistin war: Und was hat Europa von Afrika zu er-warten? Darauf antwortete Frau Zuma: Auch unsere Ju-gend! Unsere Jugend ist unser Reichtum, und von die-sem Reichtum wird auch Europa profitieren.Meine Damen und Herren, die Lehren aus denSchicksalsmomenten, die ich genannt habe, verbindenuns. 20 Jahre nach dem Völkermord ist Ruanda heute einLand, das auf dem Weg ist in eine neue Zukunft, ohne zuverdrängen, ohne zu vergessen.Die tausend Hügel, von denen ich gesprochen habe,sind und bleiben die Schicksalslandschaft Afrikas.Roméo Dallaire, der 1993 als Kommandeur der Blau-helme nach Ruanda kam, rief, als er diese tausend Hügelsah: Ein Garten Eden ist das hier. Wenige Monate spätermusste er voll Scham und Wut das Massaker mit anse-hen.Die Erinnerung ist in tausend Hügeln eingeprägt. IhrName bleibt verbunden mit den Menschheitsverbrechenvor 20 Jahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nebenaller Erinnerung, die in dieser Landschaft ruht: Denen,die Ruanda heute aufbauen, mögen die tausend Hügelwieder Heimat sein und fruchtbarer Boden.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Liebich fürdie Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Ihrhabt gute Arbeit geleistet“, so bedankte sich der Präfektdes Verwaltungsbezirks Gikongoro im Süden Ruandasbei jenen, die innerhalb weniger Stunden Abertausendevon Menschen getötet hatten. Damals, vor 20 Jahren, hatkein Virus des Tötens, wie manche sagen, das Land be-fallen. Es waren keine vermeintlichen Wilden, die sichin einen Stammeskrieg verirrten. Es waren gebildete,moderne Eliten, die Unvorstellbares taten. Sie organi-sierten einen hunderttausendfachen Mord an den Tutsiund den gemäßigten Hutu und führten ihn teilweise aucheigenhändig durch. Eine Frage, der wir uns heute stellenmüssen, ist, wie es zu diesem Völkermord kommenkonnte und wer dafür in Ruanda, in Afrika, in Europa, inunserer Weltgemeinschaft die Verantwortung trägt. Wiekonnte so etwas geschehen in einem Land, in dem dieMenschen die gleiche Sprache sprechen, meist auch diegleiche Religion haben, in dem man über sehr lange Zeitfriedlich miteinander lebte und sich vor allem dadurchunterschied, dass der eine Ackerbauer und der andereViehbesitzer war?Hutu und Tutsi wurden erst von Europäern zu Fein-den gemacht. Es war der Engländer John Speke, der1860 fand, dass die Tutsi den neolithisch-hamitischenVölkern zugerechnet werden müssten und den afrikani-schen Hutu überlegen seien. Festgeschrieben wurden dieangeblichen Rassenunterschiede durch die Deutschen,deren Kolonie das Territorium Ruandas zunächst war,und vor allem durch die belgischen Kolonialherren, diein Pässe eintragen ließen, ob jemand Hutu oder Tutsi ist.Soziale Unterschiede wurden ethnisiert, damit die euro-päischen Mächte das Land leichter beherrschen und dieGruppen gegeneinander ausspielen konnten. Hier liegtdie Wurzel des Übels.Es waren auch die Belgier, die eine Hutu-Regierungin Ruanda ins Amt brachten und damit der jahrhunderte-alten Tutsi-Herrschaft ein Ende setzten. Die Hutu diskri-minierten die Tutsi. Die Tutsi flohen. Es gab Kämpfeund Tote, und die Invasion der Tutsi der RuandischenPatriotischen Front, der heutigen RegierungsparteiRuandas, unter Paul Kagame von Uganda aus konnte nurdurch das Eingreifen Frankreichs, das die Hutu-Regie-rung unterstützte, gestoppt werden.Nun begann die Vorbereitung zum Völkermord: Ra-dios wurden umsonst im Land verteilt, um Hass- undGewaltaufrufe zu verbreiten. Als das Präsidentenflug-zeug am 6. April 1994 abgeschossen wurde, brachen alleDämme. Mit Namenslisten gingen die Anhänger vonHutu Power, so der Name einer rassistischen Partei, alsErstes zu den Häusern der gemäßigten Hutu-Politikerund brachten sie um. Am 7. April 1994, also einen Tagspäter, war die gesamte Regierung ausgelöscht oder un-tergetaucht. Dann wurde den Milizen freie Hand ge-währt. Allen, die sich an den Massakern beteiligten, botman materielle Anreize. Wer nicht mitmischte, wurdemitsamt seiner Familie getötet. In 100 Tagen wurden75 Prozent der ruandischen Tutsi ermordet. Das Grauenwird noch heute in zahlreichen Gedenkstätten deutlich.Viele stellten und stellen sich die Frage, warum dieWeltgemeinschaft den Geschehnissen keinen Riegel vor-geschoben hat, warum die UNO nicht militärisch einge-griffen hat, als die Dimension der Unmenschlichkeit be-kannt wurde. Ich finde diese Frage verständlich.Noch wichtiger ist es, sich damit auseinanderzuset-zen, was man hätte tun können, um den Völkermordschon vor seinem Geschehen zu verhindern. Vor der Ver-antwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung, vor sol-chen Verbrechen liegt die Verantwortung, zu vermeiden,dass es überhaupt so weit kommen kann.
Warum wurden vor 130 Jahren hier ganz in der Nähein der Wilhelmstraße die Grundlagen für die Aufteilungder Kolonien Afrikas gelegt und willkürlich Grenzen ge-zogen, ohne irgendeinen der Menschen zu fragen, dieseit Jahrhunderten auf diesem Kontinent lebten? Waswar die Rolle Deutschlands und Belgiens bei der Zie-hung der Grenzen zwischen den Bewohnern Ruandas?Schließlich: Was ist mit Frankreich? „Hebt endlich dieGeheimhaltung der Rolle Frankreichs in Ruanda auf!“,fordert seit vergangenem Mittwoch eine Petition, die be-reits von Tausenden Franzosen unterschrieben wurde.Denn immer noch hält die Regierung Hollande die Ak-ten unter Verschluss.Französische Experten hatten die rassistische HutuPower bei der statistischen Erfassung und Organisationder gesamten Bevölkerung beraten. Die Statistiken ha-ben später beim Völkermord geholfen. Die Genozid-Regierung selbst wurde in den Räumen der französi-schen Botschaft in Kigali gegründet, und als der Völker-mord bereits auf Hochtouren lief, wurde sie noch inParis empfangen. Wer Außenpolitik nicht nur von derSeitenlinie machen möchte, Frau Merkel, HerrSteinmeier, und wer Afrika dabei im Blick hat, der sollteschleunigst gegenüber den französischen Freunden aktivwerden und hier Aufklärung fordern.
Wenn wir die Opfer des Völkermords ehren wollen,dann sollten wir Ruanda helfen, zum Beispiel den Über-lebenden des Völkermords, die heute unter HIV undAids leiden, und jenen, die an ihrem Lebensabend keineFamilien mehr haben, die sie unterstützen können. Wirhelfen nicht, wenn wir mit Kritik an der Scheindemokra-tie, die Ruanda heute ist, sparen. Unterdrückung derOpposition, mangelnde Pressefreiheit und die RolleKagames im Kongo dürfen nicht verschwiegen werden.Eines noch zum Schluss: Bitte legitimieren Sie keineneuen Militäreinsätze in Situationen, die mit RuandasVölkermord mit Hunderttausenden Toten nicht zu ver-gleichen sind!
Eine soziale und gerechte Weltwirtschaftsordnung unddaraus erwachsende Stabilität – der Außenminister hatdarauf hingewiesen – sind sicher keine Garantie, aber
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Stefan Liebich
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können helfen, solche Abgründe der Unmenschlichkeitzu vermeiden. Hier haben wir noch viel zu tun.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Indiesen Tagen jährt sich der Völkermord in Ruanda – amkommenden Montag findet eine Gedenkveranstaltung inRuanda selbst statt – zum 20. Mal. Zwischen April undJuni 1994 wurden über 800 000 Menschen, vorwiegendTutsi, aber auch gemäßigte Hutu, Opfer eines unbe-schreiblichen Sterbens. Der Deutsche Bundestag ver-neigt sich mit diesem Gedenken und den Initiativen, diewir ergriffen haben, vor den Opfern von Gewalt, Mordund Vertreibung. Wir wollen durch unser Gedenken si-cherstellen, dass dies nicht vergessen wird.Wir bedauern insbesondere, dass es der internationa-len Gemeinschaft trotz zahlreicher Hinweise aus demLand und außerhalb des Landes damals nicht gelungenist, die Vorboten des Völkermords zu erkennen und dieEntwicklung zu verhindern. Deshalb wollen wir mit die-ser Debatte nicht nur anregen, der Opfer zu gedenken– dies tun wir –, sondern wir wollen auch darüber spre-chen – das ist in den vorherigen Wortbeiträgen bereitsgeschehen –, wie Völkermord insgesamt verhindert wer-den kann und welchen Einfluss europäische Politik, po-sitiv wie negativ, auf Afrika haben kann.Die Ursachen dieses Völkermords sind von meinemVorredner sehr deutlich herausgearbeitet worden. Einesmuss man sagen: Selbstverständlich haben auch europäi-sche Länder dort aufgrund ihrer Interessenpolitik herum-experimentiert. Dies hat dem Land nicht gutgetan, unddas haben viele Menschen mit dem Tod bezahlt.
Die autoritäre Militärregierung hat damals versucht,die Opposition niederzuringen und dringend notwendigeReformen zu verhindern. Als 1973 Präsident JuvénalHabyarimana durch einen Staatsstreich ins Amt kam,war die Rollenverteilung nicht nur in ethnischer Hinsichtklar, sondern auch machtpolitisch zementiert. Zur Kon-solidierung seiner Macht platzierte der Präsident diverseHutu-Anhänger in nahezu allen Schlüsselpositionen, vorallem in der Armee des Landes.Anfang der 90er-Jahre eskalierten die Auseinander-setzungen mit der Patriotischen Front, der RwandesePatriotic Front, des heutigen Staatspräsidenten PaulKagame, der später den Völkermord beendet hat. LokalePogrome kosteten damals bereits Hunderte von Tutsi dasLeben.Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichnetenRegierung und Opposition am 4. August 1993 in Tansa-nia ein Friedensabkommen, das eine Teilung der Machtsowie eine Integration der Rebellenarmee vorsah. BeideParteien befürworteten die Stationierung einer UN-Blau-helmtruppe, um die Umsetzung der Vereinbarung zuüberwachen.Am 5. Oktober 1993 richtete der UN-Sicherheitsratmit der Resolution 872 auf Vorschlag des damaligen Ge-neralsekretärs Boutros Boutros-Ghali eine UNO-Mis-sion für Ruanda ein. Aber auch das hat den späteren Völ-kermord nicht verhindert. Der damalige UNAMIR-Kommandeur traf am 22. Oktober 1993 in der ruandi-schen Hauptstadt Kigali ein, die ersten Soldaten fünfTage später. Das heißt, die UNO war damals schon prä-sent. Die Etablierung einer Übergangsregierung unterEinschluss der Patriotischen Front Kagames scheitertejedoch. Über Radio – das wurde bereits gesagt – wurdedamals bereits dazu aufgerufen, die Tutsi umzubringen.Die Situation eskalierte vollkommen, als am 6. April1994 das Flugzeug abgeschossen wurde, in dem Präsi-dent Habyarimana saß, und dieser dabei ums Leben kam.Dadurch wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht. DiePlanungen dazu wurden aber wahrscheinlich schon vor-her getroffen.Wir müssen kritisch überprüfen, was die UNO-Mis-sion damals gebracht hat und ob sie vielleicht Schlimme-res hätte verhindern können. Die UNO hat sich deshalbJahre später, im Jahr 1999, unter dem früheren schwedi-schen Premierminister Carlsson ausführlich mit diesemVölkermord und mit seinem Zustandekommen beschäf-tigt. Ich möchte aus dem Bericht zitieren:Die Unabhängige Untersuchungskommission stelltfest, daß die Vereinten Nationen im Vorfeld undwährend des Völkermordes in Ruanda 1994 inmehreren grundsätzlichen Punkten versagt haben.Die Verantwortung für das Versagen der VereintenNationen, den Völkermord in Ruanda zu verhin-dern oder zu stoppen, liegt bei einer Reihe verschie-dener Akteure, insbesondere beim Generalsekretär,dem Sekretariat, dem UNO-Sicherheitsrat, derUNAMIR und bei der breiteren Mitgliedschaft derVereinten Nationen. Diese internationale Verant-wortung verlangt eine klare Entschuldigung der Or-ganisation und der betreffenden Mitgliedstaaten ge-genüber dem ruandischen Volk. Hinsichtlich derVerantwortung jener Ruander, die den Völkermordan ihren Landsleuten planten, dazu aufhetzten undihn begingen, sind fortgesetzte Bemühungen erfor-derlich, sie vor Gericht zu stellen, vor den Interna-tionalen Strafgerichtshof für Ruanda und vor natio-nale Gerichte in Ruanda selbst.Aus diesem Bericht und aus den vielen Bemühungen,die es damals gab, um den Völkermord und das Versa-gen der internationalen Staatengemeinschaft aufzuarbei-ten, ist die Diskussion um die sogenannte Responsibilityto Protect entstanden. Sie spielt hier sehr häufig eineRolle. Häufig wird aber vergessen, dass der Ausgangs-punkt eigentlich das Versagen der UNO im Hinblick aufden Völkermord in Ruanda war. Deshalb ist es richtig,
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Philipp Mißfelder
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wenn man die Responsibility to Protect bemüht oder alspolitisches Hilfsargument anführt, dass man sich verge-wissert, dass dieser Gedenktag eine ganz wichtige Funk-tion hat, und dass man sieht – es ist uns gelungen, dieDebatte um RtoP in der UNO voranzubringen –: Häufigführt die Selbstblockade der UNO dazu, dass es keineGarantie dafür gibt, dass dieses Prinzip auch angewandtwird.Vor diesem Hintergrund möchte ich an einem Punkt– gar nicht polemisch – widersprechen. Auch hier imHause gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, obman im Rahmen der Responsibility to Protect oder imRahmen weiterer Möglichkeiten zur Verhinderung einesVölkermordes militärische Maßnahmen ergreifen sollteoder nicht.Ich stimme dem, was gesagt worden ist, zu. Man kanngenerell sagen: Es ist besser, wenn man vorausschauendagiert. – Die verfehlte Kolonialpolitik hat dazu geführt,dass man Ruanda zu wenig geholfen hat, dass manRuanda in diese Situation gebracht hat, dass man Eth-nien zuerst kreiert und sie dann gegeneinander aufge-hetzt hat. Aber nichtsdestotrotz: Wenn so etwas falschgelaufen ist und sich ein Land in eine falsche Richtungbewegt, dann muss man bereit sein, zum Schutz der Zi-vilbevölkerung als äußerstes Mittel der Politik auch mili-tärische Maßnahmen zu ergreifen. Da stimmen wir hierim Haus eben nicht alle überein. Deshalb möchte ichmich noch einmal dafür starkmachen, dass ein Mittel imRahmen der Responsibility to Protect als äußerste Mög-lichkeit eben auch militärische Maßnahmen sein sollten.
Der Bundesaußenminister hat klargemacht, dass er ei-nen Schwerpunkt seiner Arbeit auf Afrika legt; ichglaube, seine jüngste Reise vor ein paar Tagen dokumen-tiert das sehr deutlich. Deshalb möchte ich heute unsereBereitschaft betonen, mit der Regierung in Ruanda einneues Kapitel der bilateralen Zusammenarbeit aufzu-schlagen. Kritische Punkte in Bezug auf PräsidentKagame sind angesprochen worden. Aber eines solltenwir nicht vergessen: Dieser Mann hat den Völkermorddamals beendet und zur Aussöhnung im Land erheblichbeigetragen.Wir sehen, dass Ruanda Schwierigkeiten hat. Wir se-hen aber auch, dass die wirtschaftlichen Perspektiven,die Perspektiven von Good Governance und Regierungs-führung im Allgemeinen viel besser sind als in vielen an-deren Ländern. Vor diesem Hintergrund sollten wir amheutigen Tage mit Blick auf die Zukunft festhalten, dasswir, gerade was die Region der Großen Seen oder dieDiskussion über den Kongo angeht, mit Ruanda zusam-menarbeiten, die politische und die bilaterale Zusam-menarbeit vertiefen und weiterhin versuchen wollen, einfreundschaftliches und partnerschaftliches Verhältnis zurRegierung zu pflegen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun die Kollegin Kordula Schulz-Asche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gabviele Ereignisse, Bilder und Gefühle im Jahr 1994, dieich mein Leben lang nicht vergessen werde. Eine kleineAuswahl:Am Abend des 6. April 1994 hatten wir in Kigali ei-nen portugiesischen Arbeitskollegen zu Besuch. Meinedreijährige Tochter lag schon schlafend im Bett, als um20.20 Uhr ein lauter Knall aus Richtung Flughafen zuhören war. Wenig später erfuhren wir über Telefon undFunkgeräte vom Abschuss des Flugzeugs des damaligenruandischen Präsidenten. In dieser Nacht auf den 7. Ap-ril begann der systematische Völkermord an den Tutsiund die Ermordung von moderaten und oppositionellenHutu.Am 7. April erhielten wir den Anruf der Ehefrau einesArbeitskollegen, beide Tutsi, die uns verzweifelt umHilfe bat, weil Soldaten versuchten, in das Haus einzu-dringen. Plötzlich hörten wir Krachen im Hintergrundund kurz darauf Schreie; dann brach das Gespräch ab.Später haben wir erfahren, dass an diesem Tag die ge-samte Familie ermordet worden war.Am 9. April fuhren wir im ersten Konvoi im Rahmender Evakuierung Richtung Burundi. Als wir uns der klei-nen Stadt Gitarama näherten, kam uns ein alter, sehrhoch gewachsener Mann, ein Bauer, entgegen. Erschaute auf den Konvoi, begriff, dass die Ausländer ge-rade dabei waren, das Land zu verlassen, ließ seinenStab fallen und schlug verzweifelt die Hände vor das Ge-sicht. In diesem Moment dachte ich wieder einmal: Wirwerden es wahrscheinlich schaffen, aber diese Menschenhier lassen wir zurück. Müsste man nicht bleiben?Müsste man nicht irgendetwas tun? – Ein Gefühl, meineDamen und Herren, das man nie wieder vergisst.Im September und Oktober 1994, nach dem Völker-mord, kehrte ich nach Ruanda zurück und erfuhr vonvielen Kolleginnen und Kollegen, die unter den Opfernwaren, aber auch von jenen Kolleginnen und Kollegen,von denen es hieß, dass sie gemordet haben. So fuhr ichbis 1998 regelmäßig zu der Nichtregierungsorganisation,in der ich vor dem Völkermord gearbeitet hatte, um dieEinarbeitung neuer Mitarbeiter zu begleiten.Die Frage „Warum habt ihr nicht geholfen?“ konnteich allerdings nicht beantworten. Aber seitdem bin ichder festen Überzeugung, dass es eine Verantwortung derinternationalen Gemeinschaft gibt, aus den Fehlern inRuanda zu lernen, um eine Zivilbevölkerung tatsächlichwirksam vor Völkermord zu schützen und vor allem alleMöglichkeiten der Prävention zu erkennen, dann aberauch zu nutzen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2169
Kordula Schulz-Asche
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Im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht für michdas Gedenken an die vielen Opfer des Völkermords inRuanda. Wir gedenken auch jener, die, sich selbst größ-ter Gefahr aussetzend, anderen geholfen haben. Wir ha-ben aber auch ausdrücklich des Leids derjenigen zu ge-denken, die überlebt haben, die Verwandte verlorenhaben – manche haben ihre ganze Familie verloren –,die, selbst traumatisiert, verstümmelt, vergewaltigt, nunihren Platz in der heutigen ruandischen Gesellschaft fin-den müssen. Sie gehören oft zu den Vergessenen diesesVölkermords. Die Konzentration, die richtige Konzen-tration auf die juristische Verurteilung der Täter vernach-lässigt nach wie vor die Frage, wie die Opfer, wie dieZeugen besser unterstützt werden können. Hier, meineDamen und Herren, sehe ich auch international nochgroßen Handlungsbedarf, auch für die Zukunft.
Der fraktionsübergreifende Antrag erwähnt die ruan-dischen Bemühungen zur Aufarbeitung, die Arbeit desArusha-Tribunals, den Aufbau eines geordneten Staats-wesens, unterstützt auch durch die Zusammenarbeit mitDeutschland, mit dem Ziel einer guten demokratischen,rechtsstaatlichen und nachhaltig sozioökonomischenEntwicklung in der Region der Großen Seen. WirklichePartnerschaft heißt aber auch, immer dann in den Dialogzu treten, wenn Menschenrechte verletzt werden. Dienachhaltige Entwicklung eines Landes ist nur möglich,wenn sich der Rechtsstaat auf eine aktive vielfältige Zi-vilgesellschaft stützen kann, die keine Angst vor Verfol-gung haben muss.
Auch hier könnte Ruanda zu einem Vorbild werden. DieBereitschaft, dies zu unterstützen, besteht – da bin ichmir sicher – im gesamten Haus.Die bisherige Aufarbeitung des Völkermords in Ru-anda – ich denke an seine Genese, seine Mechanismenund seine Akteure – hat bereits geholfen, internationaleInstrumente der Frühwarnung und Prävention zu entwi-ckeln, auch wenn es – das wird uns immer wieder be-wusst – schwere Rückschläge gibt. Besonders die Res-ponsibility to Protect, die durch die Vereinten Nationen2005 entwickelt und etabliert wurde, geht auch auf dieErfahrungen in Ruanda zurück.Heute ist daher eine entscheidende Frage, ob wirwirklich bereits alle Erfahrungen aufgearbeitet und wirk-lich alle Konsequenzen gezogen haben. Die Antwort ist:offensichtlich nein. Es ist immer leicht, auf andere zuzeigen. Die Verantwortlichen für das Versagen der inter-nationalen Gemeinschaft während des Völkermords hat-ten einige schnell identifiziert: die USA mit ihrem Schei-tern in Somalia, Belgien als ehemalige Kolonialmacht,Frankreich als starker Verbündeter der RegierungHabyarimana, die Vereinten Nationen, weil sie es ver-säumt hatten, früher einzugreifen.Und Deutschland? Vor dem Hintergrund der sich hin-ziehenden Friedensverhandlungen in Arusha häuftensich seit 1992 immer mehr Informationen über Trai-ningscamps von Milizen, Waffenverteilung, Todeslistenmit Namen von Tutsi und oppositionellen Hutu, überMassaker, auch in großem Ausmaß, an der Bevölkerung.Was wurde aufgrund all dieser Warnungen getan? Wa-rum wurden geheimdienstliche Erkenntnisse Deutsch-lands nicht an die UN-Ruanda-Mission weitergeleitet?Warum wurde die Bitte der UN im Mai 1994 auf Sani-tätssoldaten abgeschlagen? Warum wurden 147 Flücht-linge, für die Rheinland-Pfalz sogar die Übernahme allerKosten zugesagt hatte, nicht in Deutschland aufgenom-men? Warum dauerte es so lange, bis der damalige Au-ßenminister das Wort „Völkermord“ in den Mund nahm,und warum hatte es, als er es tat, keinerlei Folgen? Wa-rum hat der Bundestag 1994 kein einziges Mal über Ru-anda diskutiert? – Das sind nur einige offene Fragen.
„Wo wart ihr? Warum habt ihr uns nicht geholfen?“Bartholomäus Grill sagt in dieser Woche in einem sehrbeeindruckenden Artikel im Spiegel:Ich schäme mich bei solchen Fragen bis heute.Er hinterfragt die eigene Rolle als Journalist und seine1994, wie er selbst sagt, „flott hingeschriebene Fernana-lyse“.Weiter sagt Herr Grill:Am Ende schrieb ich, dass eine Intervention vonaußen wohl zwecklos sei. Der Text enthält die un-verzeihlichsten Irrtümer, die mir in meinem Berufs-leben unterlaufen sind.Hoffentlich ist dieser Artikel ein Auslöser der Aufar-beitung von journalistischer Seite der Art und Weise vonBerichterstattung, aber zum Beispiel auch der Ausbil-dung von Journalisten der Zeitschrift Kangura oder desSenders Radio-Télévision Libre des Mille Collines.Es ist auch überfällig, die Verantwortung der deut-schen Entwicklungs-, Verteidigungs-, Außen- und In-nenpolitik aufzuarbeiten. In den 20 Jahren vor dem Völ-kermord war Deutschland der zweitgrößte Geber.Ruanda erhielt Ausstattungshilfe für die Streitkräfte, undseit 1978 gab es auch vor Ort eine Beratergruppe derBundeswehr – bis zum April 1994. DED, GTZ, dieDeutsche Welle, politische Stiftungen, die beiden großenKirchen und viele Nichtregierungsorganisationen wirk-ten vor Ort. Die enge Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda bestand in den 1990er-Jahren aus über650 Projekten. Und wieder die Fragen: Wo wart ihr?Warum habt ihr uns nicht geholfen?Die Prävention von Völkermorden bedarf der Ent-schiedenheit der Vereinten Nationen. Diese Entschieden-heit wird immer auch geprägt vom Engagement einzel-ner Nationen. Im Ruanda vor dem Völkermord hieltenPolitiker aus fast allen Parteien Ausschau nach dem En-gagement eines neutralen Partners, und ihre Hoffnungrichtete sich auf Deutschland. Dass es wiederholt undzunehmend dringlicher den Wunsch nach einer deut-schen Vermittlungsinitiative gab, wissen wir vom Hö-rensagen. Ob dies stimmt und ob die Bundesrepublik je-mals erwogen hatte, diesem Wunsch nachzukommen,wird man heute ohne eine gründliche historische Auf-arbeitung kaum noch belegen können.
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2170 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Kordula Schulz-Asche
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Nach dem Völkermord war Deutschland eines derersten Länder, die in Ruanda wieder aktiv wurden. Mitwesentlicher deutscher Unterstützung haben die afrika-nischen Partnerländer mit dem Ausbau von Frühwarn-systemen und der Unterstützung von Friedensmissionenbeginnen können, die es vor dem Völkermord in Ruandaüberhaupt nicht gegeben hat. Was nun fehlt, ist eine sys-tematische, unabhängige wissenschaftliche Aufarbei-tung der deutschen Politik in den Jahren 1990 bis 1994.Dies betrifft auch die Politik im Verhältnis zu andereneuropäischen Partnern; Frankreich ist bereits genanntworden.
Das Ziel einer solchen Aufarbeitung sollte es sein,dass wir für die Zukunft weitere Lehren daraus ziehenund wirklich sagen können: Unser Ziel ist: Nie wiederVölkermord! Lassen Sie uns alle gemeinsam, auch vordem Hintergrund unserer eigenen Geschichte, eine Ant-wort auf die Frage finden: Warum habt ihr uns nicht ge-holfen?Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen für die
SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kollegin Schulz-Asche, ichmöchte Ihnen für Ihre eindrücklichen, sehr persönlichenWorte recht herzlich danken.
Am 6. April 1994 wurde die Maschine des ruandi-schen Präsidenten im Landeanflug auf Kigali abgeschos-sen. Dabei kamen alle Insassen ums Leben. Nur wenigeMinuten später begann der Mord an HunderttausendenTutsi, aber auch an moderaten Hutu, die sich schützendvor ihre Nachbarn gestellt hatten. Es war keine spontaneEruption von Gewalt, sondern ein von langer Hand orga-nisatorisch und ideologisch vorbereiteter Mord. In denReden ist darauf hingewiesen worden: Die Verantwortli-chen dafür – meine Damen und Herren, das macht es be-sonders schwer zu verstehen – waren bekannt.Auch für mich hat die Erinnerung an den Genozid inRuanda einen sehr persönlichen Bezug: Am 6. April1994 habe ich meinen 21. Geburtstag gefeiert. Die Trag-weite der Ereignisse, die wir eher beiläufig über das Ra-dio erfahren haben, habe ich damals, wie so viele andereauch, nicht erfasst.In Ruanda sind zwischen April und Juli 1994 syste-matisch unvorstellbare Verbrechen begangen worden,Verbrechen, die unser Fassungsvermögen auf eine harteProbe stellen; der Außenminister hat dazu die richtigenWorte gefunden. Ich glaube – ohne unpassende Verglei-che anstellen zu wollen –: Für uns Deutsche stellt dieserGedenktag eine besondere – wie soll man sagen? – He-rausforderung dar. Wir wissen, wie schwer es ist, zu dendunklen Seiten der eigenen Vergangenheit zu stehen. Ichbin deshalb dankbar und ich freue mich darüber, dass esCDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gelungenist, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen, den wirheute verabschieden wollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heutige Ge-denktag erinnert uns nicht nur an den von Deutschen be-gangenen Völkermord an den Juden, sondern auch andas Versagen der internationalen Gemeinschaft, demMorden in Ruanda ein Ende zu bereiten; auch darauf istzu Recht hingewiesen worden. Dieses – man kann dasgar nicht häufig genug betonen – Versagen der interna-tionalen Gemeinschaft ist auch unser Versagen, ist auchein Versagen der deutschen Politik gewesen.Seit dem Völkermord in Ruanda stellen wir uns indiesem Parlament, in der deutschen Öffentlichkeit beiNachrichten über massive Menschenrechtsverletzungendie Frage: Ist unsere Antwort angemessen? Der häufigausgesprochene, manchmal aber auch unausgesprocheneMaßstab für die Antwort ist Ruanda; in gewisser Weiseist Ruanda somit zum Synonym für Menschheitsverbre-chen geworden.Wenn wir heute der Opfer gedenken, müssen wir unsauch die Frage stellen, ob wir aus diesem gemeinschaft-lichen Versagen die notwendigen, die richtigen Lehrengezogen haben. Krisen betreffen häufig nicht nur einLand – wir haben häufig nicht mehr die klassischenAkteure innerstaatlicher Konflikte –, Konfliktursachenkennen oftmals keine Staatsgrenzen mehr. Das stellt unsvor große Herausforderungen. Gerade die aktuellen Kri-sen in Mali, in der Zentralafrikanischen Republik und imSüdsudan, die den Deutschen Bundestag und die deut-sche Öffentlichkeit beschäftigen, machen allesamt nichtan – manchmal aus der Kolonialzeit stammenden, will-kürlichen – Grenzen halt, und sie können leicht überdiese Grenzen hinaus Auswirkungen haben. UnserePolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss darauf an-gemessen reagieren. Wir alle wissen: Das ist nicht im-mer einfach.Ruanda hat, auch wenn uns einige innenpolitischeEntwicklungen durchaus Sorgen bereiten, in den letztenJahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Wir ermu-tigen die Regierung, auf diesem Wege weiterzugehen.Ich möchte die Gelegenheit deshalb gerne nutzen, denGeneralkonsul Ruandas in Vertretung der Botschafterinheute auf der Bühne zu begrüßen: Seien Sie uns herzlichwillkommen!
Der Genozid in Ruanda hat in der Zwischenzeit sehrkonkrete politische, aber auch völkerrechtliche Konse-quenzen ausgelöst. So wurde die sogenannte Schutzver-
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Niels Annen
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antwortung als Kategorie des Völkerrechts entwickelt.Das ist ein Fortschritt, weil Staaten, die massive Men-schenrechtsverletzungen zu verantworten haben, sichnicht mehr hinter der nationalen Souveränität versteckenkönnen. Natürlich ist auch diese Norm nicht perfekt, unddie Diskussion über den Einsatz der NATO in Libyenzeigt uns, wie schmal der Grat zwischen berechtigtem– auch militärischem – Eingreifen auf der einen und derÜberinterpretation eines auf der Schutzverantwortungbasierenden Mandates der Vereinten Nationen auf deranderen Seite ist.Gerade deshalb sei hier ausdrücklich daran erinnert:Die eigentliche Bedeutung der Schutzverantwortungliegt in der Verpflichtung, Staaten in die Lage zu verset-zen, Massengewalttaten im Vorfeld solcher Ereignisse zuverhindern. Ich halte es für eine zentrale Aufgabe derdeutschen Politik, diese Fähigkeiten aufzubauen und da-bei mit den afrikanischen Staaten und der AfrikanischenUnion zusammenzuarbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen möchteich dem Bundesaußenminister dafür danken, dass er aus-drücklich darauf hingewiesen hat, wie wichtig diese Ko-operation mit den afrikanischen Staaten ist. Ich will dashier einmal vielleicht auch etwas salopp formulieren: Inder Wahrnehmung der deutschen Politik, aber auch inder Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit wirdAfrika manchmal wie ein Land behandelt, und dabeivergessen wir, wie unterschiedlich die Entwicklungen inAfrika sind. Wir müssen die positiven Entwicklungenunterstützen, und ich glaube, dazu können wir als Parla-mentarier beitragen.
Heute – und das ist ein Fortschritt – herrscht ein weit-gehender Konsens darüber, dass die Staatengemein-schaft in Ruanda versagt hat. Der ehemalige amerikani-sche Präsident Bill Clinton, der sein Wegschauen inRuanda als das schwerste Versäumnis seines Lebens be-zeichnet hat, hat in einer Rede in Kigali Folgendes for-muliert – ich zitiere –: Wir haben nicht schnell genug re-agiert, die Verbrechen nicht das genannt, was sie waren:ein Genozid. Wir können die Vergangenheit nicht än-dern, aber alles in unserer Macht Stehende tun, um eineZukunft ohne Angst, aber voller Hoffnung zu bauen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bleibt auch wei-terhin unsere Aufgabe.Herzlichen Dank.
Wolfgang Gehrcke hat nun das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Es bleibt natürlich die Fassungslosig-keit über das, was in Ruanda passiert ist. Ich finde, daskönnen der menschliche Verstand und erst recht diemenschliche Seele nicht aufnehmen und verarbeiten. Ichwünsche mir sehr, dass diese Fassungslosigkeit frak-tionsübergreifend alle Mitglieder dieses Parlamentes be-wegt.Vielleicht können wir eines tun, nämlich zu gleichenFragen kommen. Ob wir dann auch zu gleichen Antwor-ten kommen, weiß ich nicht. Ich möchte Ihnen aber an-bieten, dass wir über gleiche Fragen an gleichen Ant-worten arbeiten. Ich biete Ihnen also meine Fragen anund bitte Sie, mit darüber nachzudenken.Meine erste Frage lautet natürlich: Was kann Men-schen dazu bringen, andere Menschen in einer kollekti-ven Raserei umzubringen? Brecht hat das einmal so for-muliert: Welche Kälte muss über Menschen gekommensein, um so etwas vollbringen zu können? – Auf dieseFrage suche ich eine Antwort: Was kann Menschen dazubringen?Ich blicke dabei nicht nur auf Ruanda, und ich sagedas schon gar nicht in Verbindung mit Afrika. Wir kön-nen hier auch auf die Killing Fields in Kambodschablicken, und wir können blicken auf die Geschichte un-seres eigenen Landes. Ich fand es sehr in Ordnung, dassder Außenminister auch angesprochen hat, dass wir vonDeutschland als von einem Land reden, das industriell,massenhaft, Menschen ermordet hat. Wir kommen alsoauch aus einer Tradition der Schuld.Meine nächste Frage lautet: Was kann man dafür tun,dass Menschen so immun gemacht werden, dass sienicht gegen andere Menschen aufgehetzt werden kön-nen? Das ist doch eine Frage, die wir weltweit beantwor-ten müssen.Ich suche eine Antwort darauf, dass solche Aufhet-zungen wie in Ruanda nicht vom Himmel fallen, son-dern Ursachen haben. Wenn man Bevölkerungsteile auf-einander hetzt, hat das zuletzt und am wenigstenethnische und religiöse, sondern auch konkrete ökono-mische und politische Ursachen.Ich möchte gerne, dass wir Anstrengungen dafür un-ternehmen, Ausgleichsformen zu finden, und ein staatli-ches Gewaltmonopol entwickeln, das tatsächlich anRecht, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit gebundenist.Wir können, wenn wir über Ruanda diskutieren, nichtvon uns weisen, auch über koloniale Geschichte zu re-den. Ich möchte den Außenminister und auch die Bun-desregierung sehr bitten: Wenn Sie von einer neuenAfrika-Konzeption sprechen, die dringend notwendigist, dann lassen Sie uns auch darüber reden, dass sich dieeuropäischen Staaten, auch Deutschland, gegenüber derBevölkerung in vielen Ländern Afrikas schuldig ge-macht haben.
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2172 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Wolfgang Gehrcke
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Nur wenn wir unsere Schuld eingestehen, wird eine neueKonzeption überhaupt möglich werden. Darüber solltenwir gemeinsam nachdenken, gerade vor dem Hinter-grund dessen, was heute in vielen Teilen Afrikas pas-siert.Wir sollten auch darüber nachdenken, dass sozialeKonflikte durch Landknappheit, Landraub, Land-Grab-bing und durch Wasserknappheit verstärkt werden– Landknappheit und Wasserknappheit sind die ökono-mischen Ursachen von Kriegen der Gegenwart und auchder Zukunft –, dass Konflikte durch Spekulationen aufPreise verstärkt werden, durch die Zerstörung gewachse-ner Strukturen, durch die Verführung von Elitekonzep-tionen und auch durch sprachliche Spaltung. Kann mannicht, wenn wir aus Ruanda lernen wollen, eine Afrika-Politik entwickeln, die sich ganz klar gegen Land- undWasserraub ausspricht, gegen die Fortsetzung des Kolo-nialismus mit ökonomischen Mitteln? Darauf müssenwir Antworten geben.Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, dassKonflikte nicht vom Himmel fallen. Es ist immer ko-misch, wenn es heißt, irgendetwas sei plötzlich eingetre-ten. Nichts tritt plötzlich ein; Konflikte werden vorberei-tet und geschürt. Ruanda hat eine halbe MillionMacheten im Ausland gekauft. Hat sich niemand dieFrage gestellt, wozu man eine halbe Million Machetenkauft? Vielleicht sind wir, was Ruanda angeht, über dasArchaische des Völkermordes erschrocken. Ich fragemich selbst und auch uns: Was ist mit Kleinwaffen? Sinddie Kleinwaffen nicht die moderne Form der Macheten?
Müssen wir nicht zumindest zu einer Initiative „Schlussmit dem Handel und dem Profit durch den weltweitenVerkauf von Kleinwaffen“ kommen? Diese Fragen rich-ten sich an uns selbst. Muss man nicht zusammen undöffentlich der Propaganda nachgehen und Propagandasofort aufgreifen, wo sie rassistisch ist oder zum Rassis-mus führt, auch in Europa, auch im eigenen Land? Dasmüssen die Schlussfolgerungen sein.
Kofi Annan hat nach dem Völkermord gesagt: „DerGrund für das Scheitern von Ruanda war fehlender poli-tische Wille.“ – Bringen wir einen wirklichen Willen zurGleichberechtigung auf, politisch und ökonomisch, da-mit so etwas nicht wieder eintritt!Ich möchte zum Schluss noch ganz knapp einigePunkte ansprechen, die mir sehr am Herzen liegen.Wenn wir über Völkermord sprechen, müssen wir dannnicht zugleich auch darüber reden, dass jeden Tag welt-weit 57 000 Menschen verhungern? Auch das ist eineForm von Völkermord, die wir bekämpfen müssen.Müssen wir nicht darüber reden, dass im Mittelmeer19 000 Menschen ertrunken sind, Menschen, die gehoffthatten, in Europa ein besseres Leben zu finden? Ist nichtauch das ein Teil der Verantwortung, die wir wahrneh-men müssen? Ich finde, das ist unsere Verantwortung.Indem wir solche Fragen aufwerfen, finden wir einenneuen Weg zu den afrikanischen Ländern. Indem wir un-sere Schuld anerkennen, können wir die Schuld andererbesser benennen. Diese Botschaft wollte ich Ihnen vondieser Stelle aus überbringen. Lassen Sie uns zumindestgemeinsame Fragen stellen! Über die Antworten kannman dann streiten.Ich hätte gerne an diesem fraktionsübergreifendenAntrag mitgearbeitet. Das Verhalten, diese Kleinkariert-heit, dass man im Zusammenhang mit einem Völker-mord die Linke ausgrenzt und sie daran hindert, an ei-nem solchen Antrag mitzuarbeiten und ihre Frageneinzubringen, muss sich hier in diesem Hause ändern.Herzlichen Dank.
Andreas Nick erhält nun das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit un-seren Familien umgebracht werden.“ So steht es in ei-nem am 15. April 1994 in Mugonero geschriebenenBrief. Das Zitat ist auch Titel eines Buches mit Berichtenüber das unvorstellbare Grauen des Völkermords inRuanda.Wir gedenken heute der Opfer. Von April bis Juli1994 verloren in Ruanda mehr als 800 000 Menschen ihrLeben durch unvorstellbare Gewalttaten, die das maleri-sche Land der tausend Hügel in ein Meer von Blut undTränen verwandelten. In knapp 100 Tagen töteten Ange-hörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der im Landlebenden Tutsi-Minderheit ebenso wie moderate Hutus,die sich dem Völkermord widersetzten. Wir ehren des-halb heute auch die Bemühungen derjenigen Ruander,die sich oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens für dieRettung von Frauen, Männern und Kindern eingesetzthaben, zum Beispiel der über 1 200 in das Hôtel desMille Collines in Kigali geflohenen Menschen, an derenRettung der preisgekrönte Film Hotel Ruanda erinnert.Die Ereignisse in Ruanda waren keineswegs – darinsind sich die meisten Beobachter heute einig – ein hefti-ger Ausbruch uralter „Stammesfehden“ zwischen Hutuund Tutsi, traditionellen Ackerbauern und Viehzüchtern.Sie tragen vielmehr zahlreiche Merkmale eines systema-tischen und geplanten Völkermords als Teil eines bruta-len Machtkampfs, bei dem nicht zuletzt – das wurdeschon angesprochen – der Einsatz von Radiosendern als„Hassmedien“ zur Aufstachelung der Gewalt eine wich-tige Rolle spielte.In seinem Buch Handschlag mit dem Teufel – DieMitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord inRuanda schreibt der kanadische General RoméoDallaire:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2173
Dr. Andreas Nick
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Ich habe in Ruanda dem Teufel die Hand geschüt-telt. Ich habe ihn gesehen, gerochen und berührt.Er ist an dieser Erfahrung fast zerbrochen. Als Komman-deur der in Ruanda stationierten Blauhelmtruppenmusste er ertragen, dass ihm trotz seiner eindringlichenBerichte seitens der Weltgemeinschaft die benötigteHilfe verweigert wurde, um den Völkermord zu stoppen.Wir bedauern daher auch nachdrücklich die wenig ent-schiedene Rolle der internationalen Gemeinschaft, dietrotz vielfältiger Informationen über das mörderischeHandeln vor Ort nicht ausreichend versucht hat, dieseGräuel zu beenden.
Ein Völkermord wie der in Ruanda ist teuflisch; aberer ist kein Werk des Teufels, sondern er wird von Men-schen an Menschen begangen. Wir Europäer, wir Deut-schen zumal, haben an dieser Stelle mit Blick auf unsereeigene Geschichte wahrlich keinen Anlass zu Hochmutgegenüber den Menschen in Afrika. Die OrtsnamenAuschwitz und Srebrenica sind dafür Mahnung genug.Fassungslos stehen wir aber immer wieder vor diesenEreignissen und fragen: Wie ist das möglich? Wie kön-nen Menschen sich derart entmenschlichen, dass sie zusolchen Taten fähig werden? Die Entmenschlichungsteht dabei nicht am Ende, sondern bereits am Anfang,nämlich die Entmenschlichung des anderen in den Au-gen der späteren Täter als entscheidender Schritt aufdem Weg zur eigenen Entmenschlichung, die derartigeVerbrechen erst möglich macht. Das Gegenüber wird re-duziert auf seine vermeintliche Zugehörigkeit zu einerandersartigen Gruppe; ein einzelnes seiner vielen Identi-tätsmerkmale wird verabsolutiert, sei es die Sprache, dasreligiöse Bekenntnis, die ethnische Herkunft oder der so-ziale Status. Wenn der andere Mensch aber nicht mehrals in seinem Menschsein gleich und gleichwertig ange-sehen wird, dann ist eine ganz wesentliche Hemm-schwelle zur Entmenschlichung der Täter gefallen.Die Philosophin Hannah Arendt hat zu Recht daraufhingewiesen, dass Völkermord – anders als es sich in ei-ner wenig treffsicheren deutschen Übersetzung einge-bürgert hat – im Kern nicht ein „Verbrechen gegen dieMenschlichkeit“ ist, sondern ein „Verbrechen gegen dieMenschheit“. Genau deshalb kann sich die Völkerge-meinschaft ihrer Verantwortung nicht entziehen, wie siees 1994 in Ruanda viel zu lange getan hat. Denn erst beider Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda wurde dieUN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung desVölkermordes aus dem Jahre 1948 erstmals praktischangewendet: Im November 1994 wurde der Internatio-nale Strafgerichtshof für Ruanda eingesetzt. Mit rund60 Verurteilungen vor allem der Drahtzieher – hochran-gige Politiker, Offiziere, Amtsträger und Journalisten –hat das sogenannte Arusha-Tribunal durchaus Maßstäbegesetzt: Erstmals wurde ein Regierungschef wegen Völ-kermord verurteilt, und auch die Rolle der sogenanntenHassmedien wurde juristisch aufgearbeitet.In Reaktion auf das Versagen der internationalen Ge-meinschaft in Ruanda wurde das Konzept der Schutzver-antwortung, der Responsibility to Protect, entwickeltund 2005 von den Vereinten Nationen verabschiedet– Kollege Mißfelder ist darauf schon ausführlich einge-gangen –: Schutz vor Kriegsverbrechen, ethnischen Säu-berungen und anderen Menschheitsverbrechen. Dabeigeht es um eine dreifache Verpflichtung der Staatenge-meinschaft: zur Prävention, zur Reaktion und zum Wie-deraufbau.Wo steht Ruanda heute? Mehr als drei Viertel der Ru-ander sind jünger als 36 Jahre, viele haben im Völker-mord ihre Eltern verloren und sind als Waisen aufge-wachsen. Neben der Aufarbeitung durch die nationalenGerichte haben bis 2012 etwa 200 000 Laienrichter inden wiederbelebten traditionellen Gacaca-Gerichten amProzess von Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Ver-söhnung mitgewirkt. Die Bezugnahme auf ethnischeIdentitäten als Hutu oder Tutsi ist heute verboten. Bei al-len noch bestehenden Problemen, auch in der Festigungdemokratischer Strukturen und umfassender bürgerli-cher Rechte: Ein Mitte der 90er-Jahre als kaum lebensfä-hig erachtetes Land gilt heute in vielen Bereichen als Er-folgsgeschichte, als eines der sichersten und amwenigsten korrupten Länder Afrikas. Mit einem wirt-schaftlichen Wachstum von jährlich 7 bis 8 Prozent istRuanda auf gutem Wege, die meisten Millenniumszieleder Vereinten Nationen zu erreichen.Wir unterstützen die erfolgreichen Ansätze zur wirt-schaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung in Ru-anda in vielfältiger Weise. Viele Menschen in meinerHeimat Rheinland-Pfalz haben dabei eine ganz beson-dere und persönliche Beziehung zum Land der tausendHügel; denn auf Initiative des damaligen Ministerpräsi-denten Bernhard Vogel ist Ruanda seit 1982 das Partner-land von Rheinland-Pfalz. Es ist eine Partnerschaft, dietrotz aller Verwerfungen den Genozid 1994 nicht nurüberlebt, sondern sich bis heute als eines der wirksams-ten und beständigsten Hilfsprogramme in Ruandaerwiesen hat. Es ist eine beispielhafte Graswurzelpart-nerschaft, auf Augenhöhe, mit breitem zivilgesellschaft-lichem Engagement und konkreten Projekten:250 Schulpartnerschaften, 50 Initiativgruppen und mehrals 1 000 erfolgreich umgesetzte Kleinprojekte sind eineeindrucksvolle Bilanz.
Lassen Sie mich kurz nur wenige Beispiele aus mei-nem Wahlkreis nennen. Die Gemeinde Holzheim ist mit930 Einwohnern die kleinste Gemeinde in Rheinland-Pfalz, die seit 1988 eine kommunale Partnerschaft inRuanda unterhält. Aus Veranstaltungserlösen und priva-ten Spenden sind in dieser Zeit über 300 000 Euro pro-jektbezogen nach Ruanda geflossen, für Wasser- undStromversorgung, eine Primarschule und eine Gesund-heitsstation. – Die Kreishandwerkerschaft Rhein-Wes-terwald hat vor kurzem ein Schulbauprojekt für 300 Kin-der finanziert. Die Wirtschaftsjunioren Westerwald-Lahn sammeln, ebenfalls unter dem Dach der Stiftung„fly and help“, derzeit für ein vergleichbares Projekt. –Der Verein „Hilfe für Ruanda aus Hachenburg e. V.“engagiert sich seit 2005 in vielfältigen Projekten vor al-
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2174 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Dr. Andreas Nick
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lem im medizinischen Bereich, bei Bildung und Land-wirtschaft.Was diese Partnerschaft so wertvoll macht, ist, nebenihrer Nachhaltigkeit, der unmittelbare Bezug und dieVielzahl der persönlichen Begegnungen zwischen Men-schen aus Ruanda und Rheinland-Pfalz. Alle Besucherberichten von der Freude und der Dankbarkeit und vonstrahlenden Kinderaugen, die sie in der Begegnung mitden Menschen in Ruanda erleben durften und die sie alsgroße persönliche Bereicherung empfinden. „Wir sindnach dieser Reise andere Menschen als vorher“ – so be-schrieb kürzlich ein Reisender seine Erfahrung.Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat vor ei-nigen Tagen gesagt:Was wir für die deutsch-afrikanischen Beziehungenbrauchen, ist eine neue Bescheidenheit in unsererHaltung und eine neue Leidenschaft in unseremHandeln.Die heutige Erinnerung an den Völkermord in Ruandavor 20 Jahren gibt dazu allen Anlass und die Partner-schaft von Rheinland-Pfalz mit Ruanda ein gutes Bei-spiel.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Gabriela
Heinrich für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen undKolleginnen! Meine Damen und Herren! Über 800 000Menschen mussten in Ruanda sterben. Sie starben, weildie internationale Gemeinschaft weggeschaut hat. Unserfraktionsübergreifender Antrag ist ein Signal, dass wiruns gegen das Wegschauen und gleichzeitig für Versöh-nung aussprechen. Worin bestand das Wegschauen derinternationalen Staatengemeinschaft vor 20 Jahren? DieFriedenstruppe UNAMIR wurde verkleinert statt vergrö-ßert, als der Genozid schon in vollem Gang war. War-nungen im Vorfeld wurden nicht ernst genommen. DieWelt tat den Völkermord als Stammeskrieg ab. DiesesVersagen der internationalen Staatengemeinschaft darfsich niemals wiederholen.
Mit unserem Antrag bauen wir auf dem Konzept derSchutzverantwortung auf. Diese Norm der Vereinten Na-tionen ist eine Folge des Völkermords in Ruanda. WennStaaten nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihreBevölkerung zu schützen, muss die internationale Staa-tengemeinschaft reagieren und diese Verantwortungübernehmen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wennMenschen massenhaft ermordet werden oder ethnischenSäuberungen ausgesetzt sind. Ganz wichtig ist – derKollege Niels Annen hat das bereits beschrieben –: Re-agieren ist nur eine Seite der Schutzverantwortung. Dieinternationale Gemeinschaft muss Staaten auch ermuti-gen, den Schutz der Bevölkerung selbst zu übernehmen,und Staaten müssen überhaupt erst in die Lage versetztwerden, dies zu leisten.Meine Hochachtung gilt dem Bemühen Ruandas, Sta-bilität und Staatlichkeit wiederherzustellen. Versöhnungist die Grundlage von Stabilität, und Stabilität ist dieGrundlage dafür, dass sich Ruanda weiterentwickelt,wirtschaftlich und als Demokratie. Dazu gehören dannauch Pressefreiheit, Meinungs- und Versammlungsfrei-heit sowie das Zulassen von Opposition. All das ist nichteinfach in einem Land, in dem vor 20 Jahren ein Geno-zid stattfand und die Menschen noch viel miteinander re-den müssen, um voranzukommen.Der Antrag erkennt die Bemühungen um Aufarbei-tung und Versöhnung in Ruanda ausdrücklich an. Grund-lage dafür ist, die Täter zu bestrafen und alles dafür zutun, dass sich Glutnester des Konflikts nicht wieder ent-zünden. Wir müssen uns Folgendes vor Augen führen:Heute leben in Ruanda die Täter von damals neben denOpfern und deren Angehörigen. Am 20. Jahrestag desVölkermords werden unsägliche Albträume wiederkeh-ren, Albträume, die von abgehackten Gliedmaßen han-deln, von Macheten und von Vergewaltigung. MeineHochachtung gebührt daher den Menschen in Ruanda.Sie sind bereit, sich zu versöhnen.
Vergewaltigung als Kriegshandlung zu beschreibenund aufzuarbeiten, ist ein Tabuthema – nicht nur inRuanda –, das es zu brechen gilt. Mir ist das wichtig;denn in Ruanda wurden unzählige Frauen vielfach brutalvergewaltigt. Viele unter ihnen mussten vorher die Er-mordung ihrer Familien mit ansehen. Viele wurdenschwanger. Viele wurden mit HIV infiziert. Sie wurdenschwanger mit Kindern, die sie nicht lieben konnten,traumatisierte Kinder und traumatisierte Mütter, Kinder,die nicht geliebt und die verstoßen wurden. So etwaskann einer der teuflischsten Kreisläufe werden, diedenkbar sind. Deswegen ist es so wichtig, dass unser An-trag Ruanda ermutigt, sich noch mehr zu kümmern, sichnoch mehr zu kümmern, Tabus aufzuheben und denTraumata zu begegnen. Das ist auch der Punkt, wo wirweiter unterstützen müssen und unterstützen können.Ein Beispiel dafür ist der Zivile Friedensdienst. Er unter-stützt die Reintegration von Flüchtlingen und die Frie-densarbeit in der Region Große Seen. Er kümmert sichauch um traumatisierte Menschen, insbesondere um vonGewalt betroffene Frauen.Ruanda ist bei allen Fortschritten noch immer ein sehrarmes Land. Aber es gibt auch Erfolge, auf denen wirweiter aufbauen sollten. So hat Ruanda zum Beispieleine Krankenversicherung. Rund 90 Prozent der Men-schen sind krankenversichert. Das wurde von der GIZund mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit unter-stützt. Die unzähligen Projekte von Rheinland-Pfalz
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2175
Gabriela Heinrich
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wurden bereits beschrieben. Auch hier wird Ruanda inseiner Entwicklung unterstützt. Es sind Partnerschaftenund Projekte wie diese, mit denen wir unterstützen, dassder Versöhnungsprozess fortgeführt wird. Mit unseremAntrag wollen wir solche Projekte stärken und setzen da-mit auf Prävention.Meine Damen und Herren, die historische Verantwor-tung Deutschlands gegenüber Ruanda ist älter als20 Jahre; das wurde bereits erwähnt. Meine afrikani-schen Freunde weisen mich immer wieder darauf hin,dass das Deutsche Reich und Belgien als Kolonial-mächte beteiligt waren, die Menschen künstlich in Hutuund Tutsi einzuteilen. Eine rassistische Politik setzte dieTutsi als Elite des Landes fest. Dadurch bildete sich derGegensatz dieser Völkergruppen erst richtig heraus unddies, obwohl die Menschen die gleiche Sprache spre-chen.Es ist ein wichtiges Ziel der ruandischen Regierung,diese Einteilung wieder aufzuheben. Es gehört zur Ver-söhnung, diesen Gegensatz aufzulösen. Versöhnung istmöglich. Wer könnte das besser verstehen als wir Deut-sche, die wir uns mit ganz Europa versöhnen mussten?Ruanda muss für uns eine Warnung sein, nicht weg-zuschauen und unsere Verantwortung wahrzunehmen.Das bedeutet die Prävention von Konflikten und Men-schenrechtsverletzungen. Das bedeutet aber auch Wie-deraufbau und Versöhnung. Letzteres ist für Ruanda diebeste Prävention.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin
Dagmar Wöhrl das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist heute Morgen schon viel von internationaler Verant-wortung damals und heute gesprochen worden. Ichmöchte Ihnen zunächst einmal zwei Zitate vorlesen. Ers-tes Zitat:Am Abend zuvor spielten meine Kinder mit denNachbarskindern, mein Mann unterhielt sich mit ih-rem Vater und ich kochte … das Abendessen. AmTag darauf kamen sie und töteten meine Familie.Man sagt mir nun, ich solle nach vorne schauen.Mein Mann und meine Kinder wurden ermordet.Wie kann ich also verzeihen?Zweites Zitat:Als sie unsere Stadt einnahmen, haben sie zuerstmeinen Vater erschossen. Als sie dann wieder zuunserem Haus kamen, wollten sie die angeblichversteckten Waffen bei uns mitnehmen. MeineMutter und meine Schwester sagten ihnen, dass wirkeine Waffen im Hause hätten. Als ich wieder nachHause kam, fand ich sie beide tot auf dem Fußbo-den. Ich bin nun ganz alleine.Liebe Kolleginnen und Kollegen, erkennen Sie einenUnterschied? Das erste Zitat ist 20 Jahre alt, das zweitenur ein paar Monate. Das erste stammt aus Ruanda, daszweite aus der Zentralafrikanischen Republik. Das stelltuns vor die Frage, wie es heute mit unserer internationa-len Schutzverantwortung steht, zumindest gegen dieschlimmsten Verbrechen: Völkermord und Verbrechengegen die Menschlichkeit.Wir haben es gehört: Zwischen dem 6. April und dem17. Juli 1994 wurden in Ruanda über 800 000 Menschenermordet – kaltblütig, systematisch, grausam –, dasheißt, fast 10 Prozent der Bevölkerung. Mit anderenWorten: mindestens 8 000 Menschen am Tag, in der Mi-nute fünf Tote. Eine mediale Hetzkampagne im Landstachelte die Mörder zusätzlich an. Radiosender melde-ten: Das Grab ist nur halb voll. Wer hilft uns, es zu fül-len? – Nur eine halbe Stunde nach dem Abschuss desFlugzeuges des Präsidenten wurden die ersten Tutsi undOppositionspolitiker ermordet. Es war ein organisierterVölkermord. Es war kein Bürgerkrieg. Es war auch keinStammeskrieg, wie die Weltpresse damals einfältig ti-telte. Es war vorbereitet. Hutu-Milizen hatten vorberei-tete Listen mit Namen und Adressen von allen Tutsis.Wochen vorher wurden über 100 000 Macheten ausChina bestellt. Das hätten Warnungen sein sollen.Wer Ruanda kennt, liebe Kolleginnen und Kollegen,weiß, dass Ruanda ein kleines Land ist. Es ist das amdichtesten bevölkerte Land in ganz Afrika: 432 Einwoh-ner pro Quadratkilometer. Es gab einen Verteilungs-kampf um knappe Ressourcen.Es war ein ethnischer Konflikt, der seit Generationenbrodelte und dann zum Ausbruch kam. Es gab nur einZiel. Das einzige Ziel war, die Minderheit der Tutsisvollständig auszurotten. Während in Ruanda blindwütiggemordet wurde – dies wurde angesprochen –, hat dieinternationale Gemeinschaft versagt: die Vereinten Na-tionen, der Westen, die afrikanischen Bruderstaaten unddie Weltpresse. Es fehlte der Mut, international Verant-wortung zu übernehmen, der Mut, die Situation zu ver-stehen, der Mut einzugreifen und der Mut, gegen dieInstrumentalisierung von Glaube und Ethnien vorzuge-hen. Durch eine ehrliche Analyse damals wären wir ge-zwungen gewesen, einzugreifen. Mut hatte damals nie-mand außer einigen Ruandern, die unter Einsatz ihresLebens versucht haben, ihren Brüdern und ihrenSchwestern zu helfen und sie vor den Mordlustigen zuverstecken, so wie der Direktor des Hôtel des MilleCollines in Kigali, der mehr als 1 000 Menschen gerettethat.Haben wir aus dem Versagen damals Lehren gezo-gen? – Es hat sich das Rechtsinstitut der Schutzverant-wortung entwickelt. Der Internationale Strafgerichtshoffür Ruanda wurde eingerichtet; heute nimmt der Interna-tionale Strafgerichtshof in Den Haag über seine Recht-sprechung Einfluss. Es ist das erste Mal, dass die Straflo-sigkeit für schwerwiegende Verbrechen politischerAmtsträger beendet wurde. Es ist das erste Mal, dassVergewaltigung als Begehungsform des Völkermordes
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Dagmar G. Wöhrl
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vor Gericht anerkannt worden ist. Die Vereinten Natio-nen haben sich bei den Friedensmissionen einen neuenstrategischen Ansatz gegeben, nämlich dass die zentra-len Aufgaben der Schutz der Zivilbevölkerung, derSchutz der Menschenrechte sind und dass ein robustesMandat, nicht nur eines zur Selbstverteidigung, notwen-dig sein kann.Inzwischen sind 20 Jahre vergangen. Ruanda wird alsMusterland dargestellt mit Wachstumsraten von 8 Pro-zent. Die Weltbank hat Ruanda letztes Jahr als unterneh-merfreundlichstes Land ganz Afrikas bezeichnet. DerWiederaufbau schreitet voran, auch dank internationalerUnterstützung, auch dank deutscher Unterstützung imRahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Ruandaübernimmt international Verantwortung. Ruanda ist zueinem verlässlichen Partner bei Friedensmissionen aufdem afrikanischen Kontinent geworden. Allein 850 Sol-daten aus Ruanda sind an MISCA beteiligt, der Missionin der Zentralafrikanischen Republik, auch aufgrund dereigenen schmerzlichen und leidvollen Erfahrungen.Es besteht Nachholbedarf; das ist klar. In den Berei-chen Meinungsfreiheit und politische Teilhabe ist nochviel zu tun. Trotz vieler Fortschritte ist – das ist uns be-wusst – ein nachhaltiger innerer Friede noch nicht gege-ben. Die Unterscheidung zwischen Hutus und Tutsis istpräsent, auch wenn die Verfassung heute eine Unter-scheidung verbietet. Es gibt noch viele traumatisierteTäter und Opfer. Zur Versöhnung wurden die Gacaca-Gerichte eingerichtet, an denen bis 2012 2 MillionenFälle verhandelt wurden. Aber kann sich ein Täter mitdem Opfer versöhnen, das er vergewaltigt und gefolterthat, dessen Familie er ermordet hat? Opfer und Täter le-ben notgedrungen noch heute Tür an Tür. Man versuchtzu verdrängen; vergessen wird man kaum können.Wir versuchen, die Menschen bei der Versöhnung zuunterstützen. Dies tun wir mit unserem Zivilen Friedens-dienst und mit der GIZ, die gemeinsam mit dem Dach-verband IBUKA die Überlebenden des Genozids beidem Versöhnungsprozess in den Dörfern unterstützt.Dieser Tage gedenken Millionen Ruander ihrer verstor-benen Familienmitglieder. Der Verlust ist jedoch nichtmehr gutzumachen.Aber auch heute, liebe Kolleginnen und Kollegen,werden Menschen getötet, leben noch immer viele Men-schen in Gefahr vor Folter und Vergewaltigung. Ichdenke an Syrien mit inzwischen über 150 000 Toten. Ichdenke an den Südsudan. Ich denke an die Zentralafrika-nische Republik, in der ein blutiger Konflikt zwischenMoslems und Christen stattfindet und ein Versöhnungs-prozess in weiter Ferne ist. Er hat noch nicht einmal be-gonnen. Das Morden geht weiter. Wie müssen wir, wiemuss eine verantwortungsbewusste Weltgemeinschaftdarauf reagieren?Der Genozid hat die Weltbevölkerung aufgeschreckt.Es ist gut, dass wir heute diese Debatte führen. Vor20 Jahren haben wir sie nicht geführt. Das war ein ganzgroßer Fehler. Wir haben die Verantwortung, Menschenweltweit zu schützen, denen Mord und Vergewaltigungdroht. Wir wissen aber auch, dass der Einfluss, auf natio-nale Konflikte zu reagieren, oft begrenzt ist. Ein Engage-ment kann gefährlich sein. Das Leben unserer Soldatenkann auf dem Spiel stehen. Verantwortung zu überneh-men heißt nicht, dass wir uns künftig überall militärischengagieren müssen. Verantwortung zu übernehmen heißtvielmehr, sich nach Kräften und Möglichkeiten inner-halb der Europäischen Union und innerhalb der Verein-ten Nationen zu engagieren, zu vermitteln, präventiv tä-tig zu werden, um gemeinsam Gräueltaten frühzeitig zuverhindern.Die Weltgemeinschaft muss lernen, öfter mit einerStimme zu sprechen; denn nur dann schaffen wir es,Konflikte auch helfend mit zu beseitigen. Wir müssendas Konzept der Schutzverantwortung mit unseren Part-nern noch konkreter ausgestalten und die Entwicklungeigener afrikanischer Instrumente zur Krisenpräventionunterstützen. Wir versuchen, im Rahmen unserer Mög-lichkeiten, auch im Rahmen der Entwicklungszusam-menarbeit, Einfluss zu nehmen, frühzeitig gezielte ent-wicklungspolitische und präventive Maßnahmen zuergreifen, damit unsere Partnerländer sich selbst helfenkönnen, um wirtschaftliche Stabilität, politische Teil-habe und langfristigen Frieden für sich zu erreichen.Ruanda ist seit 2000 ein Schwerpunktland der bilate-ralen Zusammenarbeit. Wir wissen, dass unser Antragheute auch zeigt: Wir müssen und werden uns weiterhinfür die Stärkung der Demokratie und der Menschen-rechte als Grundlage des Friedens in Ruanda einsetzen.Wir werden Ruanda weiterhin beim Aufbau einer star-ken Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien unter-stützen. Wir haben die Verpflichtung – die Opfer, die Er-mordeten verpflichten uns –, Menschen in anderenLändern, die von Gräueltaten bedroht sind oder an denenGräueltaten verübt werden, zu helfen. Es müssen nochviele mutige Schritte getan werden, bis wir wirklich undehrlich von einer internationalen Verantwortung spre-chen können.Wir gedenken heute zusammen mit den Ruandern ih-rer Opfer, zu denen auch viele unschuldige Hutus gehö-ren – auch das muss man erwähnen –, die versucht ha-ben, Unterstützung zu leisten. Ich glaube, wir allegemeinsam hier im Hause können zusichern, dass wir sieauf dem Weg zu Stabilität und langfristigem Friedenauch weiterhin begleiten werden.Vielen Dank.
Frank Heinrich hat nun das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gedenken, Versöhnung, Aufarbeitung: Ichdenke, auch Geschichte schreiben sollte im Mittelpunktstehen, Geschichte schreiben über das, was wir in den
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Frank Heinrich
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letzten 20 Jahren in diesem Land schon erlebt haben undwas nicht mit dem heutigen Gedenken aufhört.Ich möchte drei Menschen aus dem Buch La Stratégiedes antilopes, Die Strategie der Antilopen, des Franzo-sen Jean Hatzfeld über diese Zeit vor 20 Jahren zu Wortkommen lassen.Cassius war 1994 sieben Jahre alt. An die Taten hat ernur vier klare Erinnerungen:Meine Mutter, die vor meinen Augen geköpftwurde, bevor ich an der Reihe sein sollte. Das Eisender Machete über meinem Kopf. Das Versteck ausBlättern im Wald, in dem ich tagelang hockte. Diefaulende Wunde in meinem Kopf, sodass ich michheute noch an der Stelle kratze, an der die Insektenfrüher in meinem Kopf fraßen.Ignace Rukiramacumu:Das Vertrauen neu zu finden, interethnisch zu heira-ten, das ist wohl im Eimer. Aber etwas zusammentrinken, sich Kühe schenken, einander auf demAcker zu helfen, das hängt vom Charakter eines je-den Einzelnen ab. … Es ist der Verlust, der dastiefste Innere zerstört und der verhindert, zu verges-sen. Die Versöhnung ist eine Pflicht der Menschenin Ruanda, die keinen anderen Acker als ihr kleinesLand haben. Sie wird quälend sein, aber sie wirdgelingen, auch weil die Behörden gerecht mit bei-den Lagern sind, indem sie alle dazu bringen, sichals gleich zu akzeptieren.Sylvie Umubyeyi:Früher war ich viel zu sehr von Angst geprägt.Wenn ich einen der Mörder sehen würde, müssteich an meine verschwundenen Eltern, an alles, wasich verloren haben, denken. Wie ich es schon sagte:Wenn man sich zu lange bei der Angst vor dem Ge-nozid aufhält, verliert man die Hoffnung. Man ver-liert, was man vom Leben retten konnte. Ich behaltedie Hoffnung, eines Tages glücklich zu sein. … Ich,ich leide nicht an meinem Körper. Ich habe schöneKinder. Ich kann reisen und sprechen. Ich wurde inmeiner Existenz beschnitten, aber ich will absolutweitermachen. Wenn ich kein Vertrauen in meinenNachbarn mehr habe, behalte ich doch das Ver-trauen in mich.Einige von uns hatten gestern die Gelegenheit, mitÜberlebenden zu sprechen. Mir blieben zwei Sätze ausdiesem Gespräch besonders in Erinnerung. Der erstewar: An dem Tag habe ich den Glauben an die Mensch-heit verloren. Und der zweite: Immer wieder sehe ichdieses Bild vor mir: das Ackerfeld, und aus den Furchenragen die Arme der niedergemetzelten Kinder.20 Jahre ist es in diesem April her, dass Ruanda zumSchauplatz dieses Massenmordes wurde. Es war derfurchtbarste Völkermord seit der Judenvernichtung derNationalsozialisten – es wurde hier erwähnt – und demGenozid auf den Killing Fields in Kambodscha. Inner-halb von nur 100 Tagen starben mehr als 800 000 Men-schen. Wohl nie in der Menschheitsgeschichte haben soviele Täter in so kurzer Zeit so viele Mitmenschen um-gebracht.„Ntidigasubire“ – „Nie wieder“ – steht nun auf gro-ßen Plakaten an den Straßen in Kigali, an den Toren derGedenkstätten, auf den Gräbern, und damit endet heutejede Radiosendung über den Genozid. Die Wunden unddas Gedenken an die Opfer – nicht nur an die, die gestor-ben sind – sind noch da; der Genozid ist noch sehr prä-sent. Viele Menschen tragen die Narben. Aber Ruandaist auf einem guten Weg, auf einem Weg der Versöhnungund der Entwicklung. Das haben wir heute in dieser De-batte und in diesem Antrag ausgedrückt.Eines der Elemente auf dem Weg der Versöhnung istdie Aufarbeitung der Geschichte. Letztes Jahr hatten wirin unserem Ausschuss die ruandische AußenministerinLouise Mushikiwabo zu Gast. Sie sagte Folgendes:Nach dem Ende des Völkermords …, bei dem dieinternationale Gemeinschaft … versagt hatte, standRuanda vor der Wahl. Würde die Wut darüber unsan diesem historischen Punkt in eine insulare undverbitterte Nation verwandeln – oder können wirden Zorn überwinden und stattdessen mehr … Zu-sammenarbeit mit der Welt anstreben? Wir habenuns für Letzteres entschieden, für einen Weg derVersöhnung …Dafür war und ist weiterhin eine ehrliche Aufarbeitungder Geschichte notwendig, nicht nur bis heute, sondernauch ab heute.Aus dem ruandischen Genozid wurden Lehren gezo-gen – wir haben es von mehreren Kollegen gehört –:Responsibility to Protect, die Schutzverantwortung, dievon den Vereinten Nationen entwickelt wurde. Wir brau-chen solche Frühwarnsysteme, wir brauchen mehr Prä-vention. In unserer Debatte über Afrika vor zwei Wo-chen haben wir auch dieses Wort sehr oft gehört:Preparedness.Es wurde eine Geschichte geschrieben, nicht nur eineGenozidgeschichte, sondern auch eine Geschichte derAufarbeitung, der Entwicklung. Wir haben gehört: Ru-anda wird als afrikanisches Musterland bezeichnet, alsErfolgsmodell. Dafür sprechen wirtschaftliche Argu-mente, die Bekämpfung der Korruption, die Frauen-rechte, die Erfüllung der MDGs und die Erfolge beimUmweltschutz.Deutschland hat sehr gute Beziehungen zu Ruanda,aus bekannten Gründen. Ich selbst freue mich über einegute Zusammenarbeit mit der Botschafterin von Ruanda.Wir begegnen uns auf vielen Veranstaltungen. Sie hatgute Beziehungen zu allen Fraktionen. Gestern Morgenwar sie beim Gedenken an die deutsche Verantwortungbeim ruandischen Genozid mit dabei. Als Freunde müs-sen wir auch begleiten, müssen wir möglicherweise un-terstützen, nicht nur mit Geldern, sondern auch durch Er-innern und Mahnen. In den letzten Monaten gab esBerichte über Fragen, die von Menschenrechtsorganisa-tionen aufgeworfen wurden, die die Transparenz, dasDemonstrationsrecht, die Medienfreiheit und das Ver-schwindenlassen von Menschen betreffen. Das Positiveüberwiegt bei weitem, und doch darf man an diesen Stel-
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Frank Heinrich
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len nicht aufhören, zu mahnen. Wir ermuntern Ruandaauch durch unsere Unterstützung: Bleiben Sie dran!Schreiben Sie weiter Geschichte! Dieser Prozess istnicht beendet; wir Deutsche wissen sehr wohl, wie langeein solcher Prozess dauern kann.Daraus folgt unter anderem die Notwendigkeit, auchmit unseren Geldern die wissenschaftliche Aufarbeitungweiter zu fördern. Wir haben, wie ich gerade gesagthabe, eine lange Geschichte der Verdrängung, Aufarbei-tung und Weiterentwicklung. Es bleibt noch eine ganzeMenge zu tun. Deshalb wollen wir dafür auch Haushalts-mittel einsetzen. Dabei wünschen wir uns aber auch – daspreche ich als Menschenrechtler – eine Beobachtungund Stärkung der Entwicklung von Demokratie undMenschenrechten in diesem Land von diesem Tag an.Der Außenminister hat es vorhin gesagt: Wir müssendas uns Mögliche tun, das in unserer – gemeinsamen –Macht steht. Ich sage „gemeinsam“, weil das, was wirhier ausdrücken, im gemeinsamen Interesse der Weltge-meinschaft und Ruandas liegt. Ich habe schon in derletzten Debatte über Afrikapolitik vor 14 Tagen von demTraum gesprochen, dass wir irgendwann nicht mehr nurvon gemeinsamer Augenhöhe sprechen, sondern mögli-cherweise von Afrika als Big Brother, dass wir nicht nurvom Chancenkontinent sprechen, sondern von einemKontinent, der uns vielleicht noch viel mehr zu gebenhat, als wir jemals für möglich halten.Ein kurzes Beispiel zum Schluss. Bei einem Vortragin der Schweiz vor nicht allzu langer Zeit hatte ein über-lebender Tutsi von seinen Erlebnissen in besagter Zeitberichtet. Es herrschte Betroffenheit. Kurz darauf siehtman ihn, wie er zur Musik im Gottesdienst tanzt. Einedeutsche Freundin – etwas verwirrt über die Situation –fragte ihn später: Wie kannst du tanzen, nach dem, wasdu alles erlebt hast? Seine Antwort: Wie kann es sein,dass ihr das nicht erlebt habt und nicht tanzt? – Lebens-mut und Lebensbejahung, trotz solcher Erlebnisse, alskulturelles Gut, das können wir sehr wohl von Ruandaund vielen anderen in Afrika lernen.Der Außenminister hat heute Morgen in seiner RedeFrau Zuma zitiert. Er sagte: Wir können sehr viel lernenvom Reichtum der Jugend in Afrika.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Wilfried Lorenz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! 20 Jahre nachdem Völkermord in Ruanda und fast 70 Jahre nach Endedes Zweiten Weltkriegs ist es berechtigt, die Frage zustellen: Hat die internationale Völkergemeinschaft ausder Geschichte gelernt?Wir gedenken heute des grausamsten Völkermordsauf dem afrikanischen Kontinent. Gedenken heißt inne-halten, erinnern, aber vor allem Wege in eine bessere Zu-kunft finden und diese dann auch zu gehen. Erinnern anden ruandischen Völkermord heißt gleichzeitig, sich andie Verantwortung der internationalen Staatengemein-schaft für Afrika und andere Regionen in der Welt zu er-innern. Ich möchte an dieser Stelle die Frage wiederho-len: Haben wir aus der Geschichte wirklich ausreichendgelernt?Wir erinnern uns heute an die unfassbare Gewalt inRuanda, die die internationale Staatengemeinschaft nichtbeenden konnte. Wir erinnern uns heute an Blutbäderund an unaussprechliche Grausamkeiten, die uns mitAbscheu und Entsetzen erfüllen. Gerade deshalb ist esmir persönlich ein wichtiges Anliegen, heute hier zusprechen, und zwar als Bürger eines Staates, der sich fürein friedliches Miteinander in der Welt einsetzt undGrundrechte wie Würde und körperliche Unversehrtheitseiner Bürgerinnen und Bürger schützt, und als Kind ei-ner Zeit, in der die unmittelbaren Nachwirkungen desZweiten Weltkriegs in Deutschland noch hautnah zuspüren waren.Die Regierungskoalition und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben gemeinsam einen Antrag formuliert,in dem sie das in Ruanda Geschehene verurteilen und dieunsäglichen Gräueltaten gerade an Frauen und Kindernächten. Das Bedauern über – ich zitiere aus dem Antrag –„die wenig entschiedene Rolle der internationalen Ge-meinschaft, die trotz vielfältiger Informationen über dasmörderische Handeln vor Ort nicht ausreichend versuchthat, die Gräuel zu beenden“, kommt darin deutlich zumAusdruck. Gleichzeitig werden wir mit dem AntragWege aufzeigen, um den Versöhnungsprozess und denAufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturenin Ruanda zu unterstützen.Der Völkermord in Ruanda entstand aus einem Jahr-zehnte schwelenden Konflikt zwischen Volksgruppender Hutu und der Tutsi. Erinnern wir uns kurz. April bisJuni 1994: 800 000 Tutsis und gemäßigte Hutus in nur100 Tagen ermordet, systematisch hingemetzelt auf dasGrausamste mit Macheten, Äxten und Knüppeln; Morde,Köpfungen und Vergewaltigungen als Normalität. Dasist die schreckliche Bilanz des Völkermordes in Ruanda,und dennoch: Die ruandische Gesellschaft ist dabei, dieGeschichte aufzuarbeiten, und hat bereits eine großeWegstrecke hin zu einem inneren Frieden zurückgelegt.In unserem Antrag würdigen wir ausdrücklich den Bei-trag der Regierung Ruandas zur gesamtgesellschaftli-chen Versöhnung. Sie, diese Regierung, diese Menschendort, haben die Lehren aus dem nicht verhinderten Ge-nozid gezogen. Sie verfolgen eine auf Schaffung demo-kratischer Strukturen gerichtete Reformagenda und en-gagieren sich für ein globales Bewusstsein, das dieFrüherkennung aufkommender Konflikte und die Prä-vention fördert. Hier wurde aus der Geschichte gelernt.Systematische Eliminierungen ethnischer Volksgrup-pen, Massaker und Völkerrechtsverletzungen gab es aber
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Wilfried Lorenz
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auch in der europäischen Geschichte nach dem ZweitenWeltkrieg, sogar noch in der Zeit nach dem Fall des Ei-sernen Vorhangs, als wir alle von der Friedensdividendegesprochen haben. Ich denke zum Beispiel an Srebre-nica. Im Fall Ruanda blieb die Völkergemeinschaft zu-nächst untätig. Es gab keinen Aufschrei der Empörung,nur zögerlich wurde entschieden, das Blauhelmkontin-gent aufzustocken, eine UN-Resolution gab es erst imspäteren Verlauf der Krise, als das Töten schon im vollenGange war.Was lernen wir aus diesen Ereignissen? Welche Leh-ren ziehen wir daraus?Erstens. Durch Nichthandeln kann sich die Völkerge-meinschaft ebenso schuldig machen wie durch Handeln.Zweitens. Deutschland muss seiner Rolle als politischund wirtschaftlich starke Kraft in der Völkergemein-schaft gerecht werden. Dies haben unser Bundespräsi-dent, Herr Gauck, und die Bundesverteidigungsministe-rin, Frau Dr. von der Leyen, in Grundsatzreden sehrdeutlich formuliert.Daher ist das Engagement Deutschlands in Zentral-afrika und Somalia nur konsequent. Im internationalenMiteinander können Wegschauen, Zögern und Untätig-bleiben die furchtbaren Konsequenzen haben, auf diewir in diesem Moment, in dieser Stunde schauen.Der Völkergemeinschaft müssen Möglichkeiten zuge-standen werden, schwere Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit und Verstöße gegen das Völkerrecht zu unterbin-den; RtoP ist hier gerade angesprochen worden. DiesesEingreifen muss frühzeitig geschehen, bevor Morde,Folter, Verstümmelungen oder Massenvergewaltigun-gen unvorstellbare Ausmaße annehmen können – wie inRuanda –, auch wenn sich die Völkergemeinschaft dabeiohne Mandat – wie im Kosovo-Krieg – anfangs in einervölkerrechtlichen Grauzone bewegt.Solche Grauzonen resultierten bisher aus einem Veto-verhalten weniger Staaten im UN-Sicherheitsrat, das un-geachtet menschlichen Leidens machtpolitischen Inte-ressen diente. Wir haben es gerade wieder erlebenmüssen, dass eine Verletzung des Völkerrechts nichtvom UN-Sicherheitsrat verurteilt werden konnte. Allefünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates ste-hen in der besonderen Pflicht, bewusst mit ihrem Veto-recht umzugehen. Sie sind aufgerufen, eine Kultur derZusammenarbeit zu pflegen; denn wir befinden uns im21. Jahrhundert, in dem die Stärke des Rechts und nichtdas Recht des Stärkeren gelten muss.
Deutschland trägt seiner Verantwortung mit demKonzept der vernetzten Sicherheit Rechnung. Wir betrei-ben kein Säbelrasseln, sondern vernetzen außen-, ent-wicklungs- und sicherheitspolitische Kompetenz, um dieUrsachen von Konflikten frühzeitig erkennen und dieseeindämmen zu können.Die Friedensdenkschrift des Rates der EvangelischenKirche aus dem Jahr 2007 hat den Titel: „Aus GottesFrieden leben – für gerechten Frieden sorgen“. Ja, wirmüssen für Frieden sorgen. Militärbischof Rink verweistin einem Interview zu Recht darauf, dass militärischeEinsätze nur die Ultima Ratio sein können. Entwick-lungshelfer wollen wegen der Lage vor Ort zurzeit nichtmehr in die Zentralafrikanische Republik gehen. Vordiesem Hintergrund stellt sich Bischof Rink die Frage,„ob die internationale Gemeinschaft zusieht, wenn dasLand im Chaos versinkt, Menschen erschossen werdenoder verhungern, oder ob, weil alle anderen Möglichkei-ten nicht mehr greifen, unter Umständen ein Einsatz derBundeswehr mit entsprechendem Mandat – sagen wir:als Schlichtungshilfe – dazu beiträgt, wieder ein rechts-staatliches Leben herzustellen.“Meine tiefste Überzeugung ist, dass Deutschland dieVerpflichtung hat, Verantwortung zu übernehmen. Wirmüssen anderen Staaten helfen, Sicherheit zu schaffen.Das ist die Grundlage für Frieden, Freiheit und wirt-schaftlichen Wohlstand. Das ist auch eine moralischePflicht, gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte.Unsere Sicherheit, auf der wir unseren Wohlstand aufge-baut haben, haben wir jahrzehntelang durch andere Län-der garantiert bekommen. Das sollten wir Deutsche nichtvergessen.
Lassen Sie mich eine sehr persönliche Anmerkungmachen. Ich habe als Kind 1949 die Berliner Blockadeerlebt und war glücklich und froh, eines dieser Essens-pakete, die vom Himmel geworfen wurden, aufzufan-gen. Ich habe mich damals darüber gefreut, dass ich esbekommen habe, aber auch darüber, dass ich meinenHunger zumindest teilweise stillen konnte. Dabei ist an-zumerken, dass die Menschen in dieser Stadt nur über-lebt haben, weil sie von ehemaligen Kriegsgegnern nichtim Stich gelassen worden sind. Den Ausdruck „nicht imStich lassen“ haben wir heute in der Diskussion schonmehrfach gehört. Daraus entstanden Freundschaften,Freundschaften über Jahrzehnte hinweg, Freundschaf-ten zwischen Menschen, Freundschaften von Land zuLand und Freundschaften, die den Frieden in Europa ge-deihen ließen.Lassen Sie mich zum Schluss – meine Redezeit ist ab-gelaufen – ein afrikanisches Sprichwort zitieren: „Siehstdu Unrecht und Böses und sprichst nicht dagegen, dannwirst du sein Opfer.“ Mein Fazit aus dieser Diskussionist: Völkermord darf sich nicht wiederholen, heute nicht,morgen nicht, nirgendwo. Dieser Verantwortung müssenwir uns stellen, jetzt, jederzeit und überall.Ich bedanke mich.
Das war, Herr Kollege Lorenz, Ihre erste Rede imDeutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulie-ren möchte.
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich möchte mich aber auch bei allen Kolleginnen undKollegen ausdrücklich bedanken, die an dieser Diskus-sion teilgenommen haben, und insbesondere allen Red-nerinnen und Rednern aus allen Fraktionen meinen Res-pekt ausdrücken für die Art und Weise, mit der sie sichmit diesem Thema auseinandergesetzt haben.
Um ähnlich wie Herr Lorenz ganz zum Schluss einepersönliche Anmerkung zu machen: Nach dieser denk-würdigen Debatte bleibt das bittere Fazit, dass uns dieselbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Ver-antwortung 20 Jahre nach den Ereignissen überzeugen-der gelingt als die konkrete Wahrnehmung unserer Ver-pflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt, alsdie Ereignisse stattgefunden haben.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antragder Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DieGrünen auf der Drucksache 18/973 mit dem Titel: „Er-innerung und Gedenken an die Opfer des Völkermordesin Ruanda 1994“. Wer stimmt diesem Antrag zu? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieserAntrag mit breiter Mehrheit bei Enthaltung der FraktionDie Linke angenommen.Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 19 aund 19 b:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten CorinnaRüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFünf Jahre UN-Behindertenrechtskonven-tion – Sofortprogramm für Barrierefreiheitund gegen DiskriminierungDrucksache 18/977Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinWerner, Diana Golze, Sabine Zimmermann
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKEProgramm zur Beseitigung von BarrierenauflegenDrucksache 18/972Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsauschussFederführung strittigInterfraktionell ist auch hier eine Debattenzeit von96 Minuten vereinbart worden. – Dazu höre ich keinenWiderspruch. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Corinna Rüffer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Es geht an dieser Stelle nachdenklich weiter. Seit fünfJahren ist die Konvention der Vereinten Nationen überdie Rechte von Menschen mit Behinderungen geltendesRecht in Deutschland. Dass wir eine solche Konventionhaben, ist in erster Linie denjenigen Menschen mit Be-hinderungen zu verdanken, die über Jahrzehnte nichtaufgegeben haben, für ihre Rechte zu kämpfen.
Bei ihnen möchte ich mich heute bedanken. Was sie ge-tan haben, war bitter nötig.
Als die Vereinten Nationen das Jahr 1981 zum UNO-Jahr der Behinderten erklärten, ernteten sie heftige Kri-tik von Menschen mit Behinderungen in ganz Deutsch-land. In einer Resolution schrieb die Aktionsgruppe ge-gen das UNO-Jahr:Wir erklären, daß das „Internationale Jahr der Be-hinderten“ … über unsere Köpfe hinweg und gegenunsere Interessen durchgeführt wird.Sie sprachen von einer Integrationsoperette, die diegravierenden Missstände im Behindertenbereich ver-schleiern soll. Menschen mit Behinderungen kämen alsselbstbestimmt handelnde Menschen nicht vor. Ausdiesem Grund organisierten die Aktivistinnen und Akti-visten das sogenannte Krüppeltribunal. Hier machten sieauf Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat auf-merksam. Zur Sprache kamen die unwürdige Lebens-situation in Heimen, Behördenwillkür, Sonderweltendurch Werkstätten, die Situation behinderter Frauen,Mobilitätsbarrieren und vieles andere mehr. Der Erfolgdieser Bewegung wurde nicht zuletzt deutlich, als gut20 Jahre später behinderte Menschen selber über dieUN-Konventionen mitverhandelt haben. Er wird deut-lich, wenn Menschen mit Behinderungen in politischeEntscheidungsprozesse ernsthaft einbezogen werden undals Expertinnen und Experten ernstgenommen werden.
Er wird auch an jeder Rampe und an jeder Übersetzungin leichte Sprache deutlich. Der Kern der Kritik, der be-reits vor 30 Jahren formuliert wurde, richtete sich gegeneine Politik, die den Schein aufrechterhielt und Miss-stände verschleierte, also gegen Integrationsoperetten.Die Situation behinderter Menschen hat sich in denletzten 30 Jahren erheblich verbessert. Das liegt auch da-ran, dass Menschen mit Behinderungen für ihr Selbstbe-stimmungsrecht gekämpft haben. Wenn ich mir behin-dertenpolitische Reden anhöre, dann frage ich michallerdings gelegentlich, ob wir mittlerweile von Inklu-
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Corinna Rüffer
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sionsoperetten sprechen müssten. Die Gruppe derjeni-gen, die gerne von Inklusion spricht und nicht aus demQuark kommt, wenn es wirklich um etwas geht, hat je-denfalls prominente Vertreter. „Gut Ding will Weile ha-ben“ scheint ihr Motto zu sein. Ich bin gespannt, wiehäufig uns Frau Nahles das in puncto Teilhabegesetznoch erklären wird. Wenn ich mir die Finanzplanungdieser Bundesregierung anschaue, dann muss ich fest-stellen, dass es vor 2017 jedenfalls nicht losgehen wird.Wenn es darum geht, die Umsetzung der Behinderten-rechtskonvention voranzutreiben, sollten wir uns nichtvon schönen Worten blenden lassen. Wir müssen imBlick behalten, was sich wirklich verändert und was sichim Leben von Menschen mit Behinderungen konkretverbessert.
Die Lebenssituation behinderter Menschen ist inDeutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern re-lativ gut. Wir müssen bei der Umsetzung der Konventionkeinesfalls bei null anfangen. Gerade aus diesem Grundsollten wir unsere Erfolge daran messen, wie gut es unsgelingt, auch denjenigen eine selbstbestimmte Teilhabezu ermöglichen, die besonders verletzlich sind. Wir soll-ten uns fragen, wie selbstbestimmt zum Beispiel diejeni-gen leben, die nicht in einer Werkstatt arbeiten dürfen,weil sie – auch nachdem sie an Maßnahmen im Berufs-bildungsbereich teilgenommen haben – kein Mindest-maß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung er-bringen werden. Wir sollten uns fragen, was wir für dieSelbstbestimmungsrechte derjenigen tun, die nicht spre-chen können. Wir sollten uns auch fragen – jetzt schlageich einen etwas weiteren Bogen –, wie unsere Vorstel-lungen von einem lebenswerten Leben die Entscheidungüber einen Schwangerschaftsabbruch beeinflussen,wenn eine genetische Untersuchung nahelegt, dass einKind mit einer Beeinträchtigung leben wird.
Gemeinsam mit mehr als 20 Kolleginnen und Kolle-gen aus meiner Fraktion habe ich vor zwei Wochen dieBundesregierung zu ihren behindertenpolitischen Vorha-ben befragt. So wollten wir beispielsweise wissen, wieMenschen mit Behinderungen leben, die nach Deutsch-land geflüchtet sind. Auch hier handelt es sich um Perso-nen, die besonders verletzlich sind. Wir wollten wissen,wie diese Menschen untergebracht sind, ob sie Zugangzu Rehamaßnahmen haben und ob die Bundesregierungzu diesen Fragen Daten erheben wird, sollten diese bis-her nicht zur Verfügung stehen. Die Antwort in der Fra-gestunde: Anerkannte Flüchtlinge werden nicht in Un-terkünften für Asylbewerber untergebracht. Außerdemstehen ihnen Sozialhilfeleistungen und medizinischeVersorgung wie eigenen Staatsangehörigen zur Verfü-gung. Ganz ehrlich: Das ist in etwa so, als würde ich aufdie Frage nach einem Kuchenrezept antworten, dassMehl eine der Zutaten ist und man den Ofen benutzenkann, den man auch für Lasagne verwendet. Diese Bun-desregierung ist offensichtlich nicht gewillt, sich mit derSituation behinderter Menschen auseinanderzusetzen,die nach Deutschland geflüchtet sind.Ich möchte zum Ende meiner Rede noch eine Ent-wicklung ansprechen, die wir gerade vor dem Hinter-grund der Behindertenrechtskonvention im Auge behal-ten sollten. In den letzten Jahren beobachte ich verstärktdie Tendenz, dass gegenüber Arbeitgeberinnen undArbeitgebern die besonderen Fähigkeiten von Menschenmit Behinderungen angepriesen werden. So informiertzum Beispiel die BDA darüber, dass behinderte Men-schen am Arbeitsplatz häufig besonders motiviert sind,weil sie beweisen möchten, das ihre Arbeit Wertschät-zung verdient. Das mag so sein. Aber lassen wir uns daseinmal auf der Zunge zergehen: Hier wird dafür gewor-ben, Menschen mit Behinderungen einzustellen, weil siesich beweisen möchten. Das hat nichts zu tun mit derPerspektive der Behindertenrechtskonvention.
Die Konvention zielt darauf, einen inklusiven Arbeits-markt zu schaffen. Das bedeutet, der Arbeitsmarkt mussso gestaltet werden, dass sowohl der sehr leistungsstarkeals auch der leistungsschwache Mensch seinen Lebens-unterhalt durch Arbeit verdienen können. Menschen mitBehinderungen haben ein Recht auf Arbeit.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte es für sinn-voll, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bestehendeVorurteile über Menschen mit Behinderungen reflektie-ren und hoffentlich überwinden – selbstverständlich. Wirdürfen uns aber nicht damit zufriedengeben, wenn vonInklusion gesprochen wird und damit gemeint ist, Men-schen mit Behinderungen als wertvolle und nicht aus-reichend genutzte Ressource am Arbeitsmarkt zu präsen-tieren. Wenn Menschen mit Behinderungen besondersmotiviert arbeiten, weil sie stärker als nichtbehinderteMenschen das Gefühl haben, sich beweisen zu müssen,dann liegt das daran, dass sie derzeit diskriminiert wer-den. Das ist ein Problem, gegen das wir vorgehen müs-sen. Das ist jedenfalls kein guter Zustand, aus dem Profitgeschlagen werden sollte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit fünf Jahren istdie Behindertenrechtskonvention geltendes Recht inDeutschland. Mit der Konvention haben wir uns ver-pflichtet, Menschen mit Behinderungen die gleichbe-rechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermög-lichen. Das passiert nicht, wenn möglichst vieleMenschen möglichst oft „Inklusion“ sagen. Die Bundes-regierung täte gut daran, sich vom Vertrösten und Verzö-gern aufs Handeln zu verlegen. Vielleicht möchte sie unsja beweisen, dass ihre Arbeit Wertschätzung verdient.Vielen Dank.
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2182 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Guten Morgen von
meiner Seite aus!
Der nächste Redner: Uwe Schummer für die CDU/
CSU-Fraktion.
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!Dass Sie die Bundesregierung zum Handeln auffordern,und zwar endlich, nachdem die Große Koalition jetzt100 Tage an der Regierung ist, finde ich bemerkenswert.
Es gibt keine Koalitionsvereinbarung, in die mehr Hand-lungsempfehlungen zur Inklusion in allen Politikberei-chen aufgenommen worden sind als in die jetzt gültigezwischen Union und Sozialdemokraten. Diese enthältinsgesamt zwanzig solcher Handlungsempfehlungen.
Wir haben ja bereits am Mittwoch im Ausschuss fürArbeit und Soziales und in anderen Ausschüssen mit-einander diskutiert und überlegt, wie wir die ambitio-nierten Ziele der Koalition gemeinsam umsetzen kön-nen. Ein Thema war der neue Teilhabebericht. Wir habengesagt: Wir wollen wegkommen vom alten Bericht zurLage der Menschen mit Behinderungen, in dem seit1982 Defizite aufgeführt und Subventionen dargestelltwurden. – Die Konsequenz war, dass wir im letzten Jahrerstmals einen Teilhabebericht zum Thema Inklusion er-stellt haben, in dem auch die sehr unterschiedlichen Le-benswirklichkeiten der Menschen mit Behinderungendargestellt werden. So differenziert wie die Lebenswirk-lichkeiten sind, so differenziert werden auch die politi-schen Antworten sein müssen.Es war ein guter und wichtiger Erfolg des früherenBeauftragten der Bundesregierung für die Belange be-hinderter Menschen, von Hubert Hüppe – er ist heute un-ter uns –,
dass mit diesem neuen Teilhabebericht auch die UN-Konvention umgesetzt werden konnte, verbunden mitder Zielsetzung, für mehr Teilhabe zu sorgen. Der Teil-habebericht ist auch eine Grundlage für weitere Politik-ansätze, die die Große Koalition in den nächsten dreiJahren verfolgen wird, um die Teilhabe insgesamt zuverbessern, und zwar in allen Bereichen des Lebens.Im Sinne der Grundregel „Nichts über uns ohne uns“hat der Deutsche Behindertenrat dafür gesorgt, dass ander Erstellung des Teilhabeberichts auch Wissenschaftlerbeteiligt waren, die selber betroffen sind und daher auchihre Lebenswirklichkeit mit einbringen konnten; siemachten ein Drittel des gesamten Redaktionsteams aus.Kerstin Tack und ich sind wild entschlossen,
dafür zu sorgen, dass die Mitwirkungsmöglichkeiten derVerbände der Betroffenen auch bei der Erstellung dernächsten Teilhabeberichte noch weiter ausgebaut wer-den,
damit das Motto „Nichts über uns ohne uns“ auch alsGrundlage des politischen Handelns verankert wird.Wir haben damit den Art. 31 der UN-Konvention um-gesetzt, der uns in der Politik auffordert, Statistiken undDatensammlungen über die Lebenslagen behinderterMenschen aufzuarbeiten. In diesen Statistiken und Da-tensammlungen sollen sich auch differenziert die unter-schiedlichen Lebenswirklichkeiten und Belange derMenschen mit Behinderungen oder mit Beeinträchtigun-gen wiederfinden.Nach dem Teilhabebericht sind 25 Prozent der Bevöl-kerung über 18 Jahre betroffen. Das sind 17 MillionenMenschen. Davon sind etwa 7 Millionen Menschen an-erkannt schwerbehindert. Wir werden aufgrund der De-mografie, der Bevölkerungsstruktur, die Frage von Be-hinderung und Beeinträchtigung, auch von chronischenKrankheiten, in der Zukunft politisch noch weiter auf-arbeiten müssen.Von daher wird es wichtig sein, dass „barrierefrei“ füralle Facetten des Lebens gilt. Wir hatten am Donnerstagdieser Woche eine Initiative mit Gehörlosen aus Thürin-gen zu Gast, die uns aufgefordert haben, die heutigentechnischen Standards zu nutzen, beispielsweise für Ge-hörlose eine Notruf-App zu entwickeln, mit der manwichtige Informationen, wichtige Nachrichten sofort zu-spielen kann, damit auch diese Menschen über ihriPhone oder ihr iPad schnell über die aktuelle Sachlageinformiert werden können. Es sind sehr einfache techni-sche Möglichkeiten, die heute schon existieren, die wirnur nutzen müssen, um auch in der Kommunikation Bar-rieren zu überwinden und mehr Teilhabemöglichkeitenzu schaffen.Wir müssen aber auch mentale Barrieren, Barrieren inden Köpfen, Barrieren dadurch, dass wir etwas nicht ge-lernt haben, überwinden. Wenn man nicht weiß, wie manmit contergangeschädigten Menschen umgeht, wie manihnen die Hand gibt, dann hat man Bedenken, Schwie-rigkeiten, zieht sich zurück, geht nicht auf diese Men-schen zu. Das sind unsere Barrieren, die wir aufarbeitenmüssen, damit wir auf die Menschen zugehen, sie begrü-ßen, mit ihnen scherzen können, damit wir sehr ent-spannt sein können, wenn wir auf sie zugehen.
Barrieren haben wir alle miteinander, und wir alle mitei-nander sind aufgefordert, sie zu beseitigen. Es ist nor-mal, verschieden zu sein, und es ist wichtig, dass wir ler-nen, offen miteinander umzugehen, in allen Facetten.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2183
Uwe Schummer
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Der Teilhabebericht gibt uns auch Handlungsempfeh-lungen. Dazu gehört – das ist auch in unserer Koalitions-vereinbarung festgelegt worden –, dass wir unter demDach der Kinder- und Jugendhilfe die verschiedenenFördermaßnahmen für Eltern, für Kinder, für Jugendli-che bündeln, sodass es vor Ort eine Anlaufsituation, eineStruktur gibt, die weiterhilft, wenn Fragen entstehen,weil zum Beispiel Fördermaßnahmen beantragt werdenmüssen.Wir werden das familiäre Umfeld und die Familienselbst durch eine Kultur der Nachbarschaft stärken müs-sen – durch die Vernetzung mit begleitenden Hilfen, Ta-gesstätten, Beratung und Betreuung. Wir wollen ver-stärkt die betreuten Werkstätten nutzen. Sie sollen auchArbeitsmöglichkeiten außerhalb der betreuten Werkstät-ten organisieren. Wir sagen: so viel inklusive Arbeit wienur irgend möglich, aber weiterhin so viel Betreuungwie nötig. Ich halte nichts davon, eine Struktur abzu-schaffen und zu schauen, was dann passiert. Wir werdenStrukturen miteinander vernetzen müssen, aber immermit der Zielsetzung, für den einzelnen Menschen, andem wir Maß nehmen, möglichst viel auch inklusive Ar-beit zu entwickeln.In meinem Heimatkreis am Niederrhein fangen auchKinder mit Downsyndrom an, aus der betreuten Werk-statt rauszugehen.
Gemeinsam mit anderen, mit Handwerksmeistern bauensie in einem offenen Museum eine niederrheinische Lehm-kate. Sie sind sehr stolz darauf, eine solche Leistung zuerbringen. Man sieht auf einmal, wie stark, wie innova-tiv und wie motiviert sie sind.Vom Bundesverband der Floristen kam einmal je-mand zu mir und beklagte sich über den Fachkräfteman-gel. Ich habe ihn gefragt: Haben Sie einmal überlegt,beispielsweise verstärkt auch Behinderte einzustellen?Die Antwort war erst einmal: Die Kunden haben es im-mer so eilig; die haben keine Zeit, zu warten. – Hier gehtes um Entschleunigung, um Dinge des Miteinanders undFüreinanders, über die wir miteinander reden müssen.Wir müssen ein Stück weit auch einen Mentalitätswan-del, eine Revolution der Herzen erzeugen, damit dasMiteinander und Füreinander insgesamt verbessert wer-den kann.
Die inklusive Bildung endet in Deutschland heute oftnach der Kindertagesstätte. 60 Prozent der betroffenenKinder gehen noch gemeinsam mit anderen Kindern ineine Regelkita. In der Grundschule sind es nur noch34 Prozent. Im weiteren Bildungsverlauf werden es im-mer weniger, bis hin zu den Restbeständen in der Ar-beitswelt. Da müssen wir stärker werden; da müssen wirbesser werden.Auch mit dem Bundesteilhabegesetz wird diese Ziel-setzung verfolgt werden. Es geht hier eben nicht nur umein Sparprogramm für die Kommunen; es geht darum,dass für die betroffenen Menschen eine Verbesserung,ein Mehrwert an Teilhabe in der Gesellschaft entwickeltwird. Sowohl die Kommunen als auch die Länder alsauch der Bund werden zusammen mit den Trägern wei-terhin aktiv sein müssen. Es kann nicht nur um ein Spar-programm zwecks Ausgabenentlastung der Kommunengehen, es muss letztendlich um mehr Teilhabe für die be-troffenen Menschen gehen.
Die Leitidee dieser Großen Koalition – das haben wirauch in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben – istdie inklusive Gesellschaft, in der wir gemeinsam lernen,arbeiten, spielen, wohnen und mit allen Facetten leben.Das wird unser Anspruch sein. Daran, wie wir das mit-einander umsetzen werden, können Sie uns gerne in dreiJahren – nicht nach 100 Tagen – messen.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist
Katrin Werner für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Seit fünf Jahren gilt in unserem Landeine Konvention, die man die modernste Menschen-rechtskonvention nennt. Was hat sich für 7 Millionenschwerbehinderte Menschen, für mehr als 17 MillionenMenschen mit Beeinträchtigungen oder chronischen Er-krankungen im Alltag praktisch verbessert, verschlech-tert, oder was blieb, wie es war?Übereinstimmend sagen viele: Es wird schwieriger,den Alltag zu organisieren. Es fehlt an inklusiven Infra-strukturen. Mittelfristig fehlen 3 Millionen barrierefreieWohnungen in Deutschland, Defizit steigend. Nur jededritte Arztpraxis ist wenigstens rollstuhlgerecht. Nochimmer blüht eine Landschaft von Sonderwelten: Heime,in denen im Minutentakt verrichtet wird, Werkstätten, indenen für Dumpinglöhne auch für Rüstungsunterneh-men, wie zum Beispiel in Bremerhaven, gearbeitet wird,und Förderschulen, die 75 Prozent der Schüler ohne Ab-schluss verlassen.Nach der UN-Behindertenrechtskonvention jedochmuss Politik Menschen mit Behinderungen absichern,fördern und ermutigen, selbstbestimmt zu leben; siemuss also Räume für Selbstentfaltung öffnen – wie füralle anderen Menschen auch.
Inklusion braucht deshalb „angemessene Vorkehrungen“für den Einzelfall im Zusammenspiel mit vielen „geeig-neten Maßnahmen“ im Großen.
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2184 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Katrin Werner
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Art. 4 der UN-Behindertenrechtskonvention sprichtdavon, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesemÜbereinkommen anerkannten Rechte zu treffen“. Des-halb unterstützen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, zunächst das Behindertengleichstellungsge-setz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zunovellieren.Denn es geht in dieser Wahlperiode nicht isoliert umein Bundesteilhabegesetz. Die Gültigkeit des SGB IXsteht – sagen Wissenschaftler – zu 80 Prozent nur aufdem Papier. Auch in diesem Gesetz ist der Behinde-rungsbegriff zu ändern. Es geht auch um den arbeitneh-merähnlichen Status und ein Recht auf bedarfsgerechteAssistenz in allen Lebensphasen und Lebenslagen, undzwar unabhängig von Einkommen und Vermögen.
Gebraucht wird eine soziale Umwelt, an der alle Men-schen mit Beeinträchtigungen teilhaben können. Dassind auch ältere Menschen und Menschen mit chroni-schen Erkrankungen, Familien mit Kleinkindern undKinder selbst, nicht nur Menschen mit einem Behinde-rungsgrad. Es geht um alle Menschen mit dauerhaftemoder zeitweiligem Unterstützungsbedarf.Es gibt eben auch thematische Focal Points. Einer da-von ist in der UN-Behindertenrechtskonvention die Bar-rierefreiheit. Aus Sicht der betroffenen Menschen heißtdas: im Alltag – zu jeder Zeit – nahezu jeden Ort, jedeEinrichtung, jedes Angebot und jede Information errei-chen, nutzen und verstehen zu können, ohne Bittgänge,Kostenvorbehalte oder Vermögensanrechnung.
Schon 2011 forderten die Landesbehindertenbeauf-tragten in ihrer Dresdner Erklärung energischere Schritte.Der Teilhabebericht von 2013 zeigt, dass diese fehlen.Aber inklusive Strukturen wird es ohne Barrierefreiheitnicht geben. Ein bisschen Barrierefreiheit ist leider ex-klusiv.Einzel- und Pilotprojekte reichen nicht. BarrierefreieLösungen im Alltag müssen leider immer wieder ein-gefordert, erstritten oder sogar eingeklagt werden.Zuletzt kritisierte der Bundesrechungshof, dass vomBundesverkehrsministerium und der Deutschen BahnAG „die Bahnsteige an mehr als 3 900 kleineren Bahn-höfen … pauschal als stufenfrei bewertet werden, selbstwenn die Bahnsteige ausschließlich über Treppen er-reichbar sind“. Zwei Drittel aller Bahnhöfe werden soindirekt als barrierefrei ausgegeben, obgleich sie fürRollstuhlfahrer oder Menschen mit größeren Mobili-tätseinschränkungen kaum nutzbar sind.Deshalb fordert die Fraktion Die Linke ein Sofortpro-gramm zur Beseitigung bestehender Barrieren in Höhevon jährlich 1 Milliarde Euro für einen Zeitraum vonfünf Jahren.
Wir wollen konkrete Taten, die die Lebenslagen vonMenschen mit Unterstützungsbedarf praktisch verbes-sern. Wir wollen ein Signal, dass Teilhabe mehr ist alsein einzelner Leistungsanspruch, nämlich Wert undWirklichkeit für alle, ein soziales Gut. Wir wollen dieseBeseitigung von Barrieren bewusst als Zusatzprogramm,neben dem Bundesleistungsgesetz. Dabei betonen wir,dass mit dem Teilhabegesetz keine und keiner schlech-tergestellt werden darf. Aber wir sehen auch: Die Entlas-tung der Kommunen von den Kosten der Eingliede-rungshilfe räumt keine einzige Barriere fort. Wir wollenein Programm, das in den Kommunen wirkt: dort, woMenschen zum Arzt gehen oder rollen; dort, wo sie inder Schule oder im Theater hören können, was sie nichtsehen, oder in Bildern verstehen, was Buchstaben ihnennicht verraten;
dort, wo sie ihr Recht selbst vertreten, im Rathaus oderim Gericht; dort, wo sie arbeiten und Freunde amStammtisch treffen; dort, wo sie wohnen, daheim stattim Heim.Wir wollen von Anfang an eine fachkundige Beglei-tung durch das Bundeskompetenzzentrum Barrierefrei-heit und eine Evaluation dieses Programms, damit esnachhaltig wird. Wir wollen eine Regierung mit men-schenrechtlichem Tatendrang und beantragen deshalbgeeignete Maßnahmen, wie sie die UN-Konvention ver-steht. Wir wollen nicht mehr und nicht weniger.Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort hat Kerstin
Tack für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Die UN-Behinderten-rechtskonvention, die Deutschland vor fünf Jahren ratifi-ziert hat, verpflichtet uns alle, Teilhabe an allen Lebens-bereichen dieser Gemeinschaft zu ermöglichen. Ausdieser Verpflichtung, die wir eingegangen sind, habenwir geeignete Maßnahmen abzuleiten; denn wir sind zu-ständig für die Umsetzung der UN-Behindertenrechts-konvention.In Deutschland leben 17 Millionen Menschen mit Be-hinderungen. Nur rund 2 Prozent von ihnen sind von Ge-burt an bzw. vom ersten Lebensjahr an behindert. Dasheißt, dass im Laufe des Lebens Behinderung uns alleereilen kann. Deshalb ist die Zielgruppe, über die wir re-den, beeindruckend groß.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2185
Kerstin Tack
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Die Koalition hat sich richtig viel vorgenommen:Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik findendie Belange von Menschen mit Behinderungen in einemKoalitionsvertrag flächendeckend Berücksichtigung.
Das ist eine große Errungenschaft. Diese Maßnahmenfinden sich im Koalitionsvertrag nicht nur unter „Men-schen mit Behinderungen“ wieder, sie finden sich – daswerden wir im Laufe der Debatte noch vorgetragen be-kommen – auch in jedem weiteren Kapitel.Aber ich will auch sagen, dass die Anträge der Oppo-sition doch recht enttäuschend sind. Wenn ich sehe, dassdie Kollegin der Grünen anlässlich fünf Jahren Behin-dertenrechtskonvention ausschließlich fordert, dass wirdas Behindertengleichstellungsgesetz und das All-gemeine Gleichbehandlungsgesetz ändern, muss ichehrlich sagen: Da wollen wir eindeutig mehr als Hand-lungsauftrag aus der UN-Behindertenrechtskonventionableiten.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage/-be-
merkung von Markus Kurth?
Selbstverständlich darf Herr Kurth zwischenfragen.
Sie sagen, Sie haben sich wesentlich mehr vorgenom-
men.
Ja.
Wie ist es denn dann zu deuten, dass Sie zwar im
Koalitionsvertrag das Bundesteilhabegesetz angespro-
chen und den Kommunen im gleichen Zuge eine Entlas-
tung um 5 Milliarden Euro jährlich in Aussicht gestellt
haben, dies in der vorletzten Woche aber kurzerhand ein-
fach in die kommende Legislaturperiode verschoben ha-
ben, auf das Jahr 2018, wenn Sie ja womöglich gar nicht
mehr regieren?
Herr Kollege Kurth, ich gehe davon aus, dass Sie, wiealle anderen Kolleginnen und Kollegen des Hohen Hau-ses auch, den Koalitionsvertrag intensiv gelesen habenund selbstverständlich in der Lage sind, daraus abzulei-ten, wie sich unsere 23 Milliarden Euro zusammenset-zen, weil Sie ja nicht nur lesen, sondern auch rechnenkönnen. Das, was schon gestern diskutiert wurde, istrichtig: Wir werden das Bundesteilhabegesetz im Jahr2016 zur Verabschiedung bringen, und es wird in 2017in Kraft treten. Das ist unsere Aussage dazu.
Frau Kollegin, vielleicht ist das auch der Grund dafür,dass Sie in Ihrem Beitrag hier schlussendlich gar nichtszu Ihrem Antrag gesagt haben. Ich gehe davon aus, dassfünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention natürlichauch für Sie Anlass sind, mehr zu tun, als sich nur diezwei Gesetze anzugucken.Bei der Kollegin der Linken erleben wir das, was wirschon kennen: 1 Milliarde Euro ist das Mindeste, wasman grundsätzlich in jedem Antrag fordert, ohne dassman sagt, wo das Geld herkommen soll. Auch hier willich sagen: Barrierefreiheit ist eine Selbstverständlich-keit. Wir werden sie bei den weiteren Maßnahmen zurStädtebauförderung und anderem selbstverständlich re-alisieren. Genau so, wie von Ihnen gefordert, ist auchdas Teil unseres Koalitionsvertrages, den wir umzuset-zen gedenken.
Mit dem modernen Bundesteilhabegesetz, das wir indieser Legislaturperiode auf den Weg bringen, werdenwir genau diesen Anspruch auf Teilhabe in der Gesell-schaft umfassend umsetzen. Wir wollen die soziale Teil-habe aus dem bisherigen Fürsorgesystem der Sozialhilfeherausholen und es als eigenständiges Recht im SGB IXverankern. Allein das ist ein Paradigmenwechsel, denwir aus der UN-Behindertenrechtskonvention als Auf-trag für uns definieren. Um auch das deutlich zu sagen:Mit der Herausnahme aus der Sozialhilfe ist selbstver-ständlich auch das Bedürftigkeitsprinzip obsolet.
Selbstverständlich haben wir auch die Kosten imBlick, deren Anstieg ja nicht daraus resultiert, dass dieMenschen ein immer größeres Geldbudget zur Verfü-gung gestellt bekommen, sondern ausschließlich daraus,dass die Zahl der Leistungsberechtigten massiv angestie-gen ist. Haben noch im Jahre 2000 525 000 MenschenEingliederungshilfe erhalten, so waren es 2012 bereits821 000 – mit steigender Tendenz –, und selbstverständ-lich zieht das eine Spirale nach sich.Was lernen wir daraus? Daraus muss man doch denRückschluss ziehen, dass man insbesondere bei der Ant-wort auf die Frage, wie man die Hilfe steuern sollte, an-ders, passgenauer, personen- und nicht institutionenzen-triert vorgehen und ein neues Leistungspaketüberdenken muss. Genau das steht im Koalitionsvertrag,und das werden wir machen.
Meine Damen und Herren, Behinderung ist ein Le-bensrisiko, das jeden von uns individuell treffen kann.Gleichzeitig ist Behinderung kein personengebundes
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Kerstin Tack
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Schicksal, sondern es sind die Rahmenbedingungen derGesellschaft, die Behinderung produzieren.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, mache ich. – Deshalb ist für uns völlig klar: Be-
hinderung darf nicht arm machen. Das betrifft die behin-
derten Personen selber, aber auch die Lebenspartner der
Personen. Auch das wird uns ein Anliegen sein: dass
selbstverständlich jede Person, egal ob mit oder ohne
Behinderung, zur sozialen Teilhabe eigenes Einkommen
ansparen und einsetzen darf. Das ist unser Leitthema;
das werden wir vorlegen.
Wir sind uns sehr sicher, dass wir in drei Jahren ein
sehr zufriedenstellendes Teilhabegesetz auf den Weg
bringen können.
Herzlichen Dank.
Danke, Frau Kollegin. – Das Wort hat Kerstin
Andreae für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir wollen eine inklusive Gesellschaft, in der Men-schen- und Bürgerrechte so ernst genommen werden,dass jeder gleichgestellt ist. Wir müssen mit den – durchdie von uns gestaltete Umwelt, durch unser Verhalten,durch uns – behinderten Menschen auf Augenhöhe um-gehen. Es geht darum, dass sich alle Menschen mit dergleichen Selbstverständlichkeit in ihrem Leben, Wohnenund Arbeiten bewegen können. Das erfordert eine an-dere Kultur der Aufmerksamkeit, des Respekts und derRücksichtnahme, und zwar nicht nur aus einem karitati-ven, sozialen Blickwinkel heraus, sondern schlicht des-halb, weil es ein Menschenrecht ist.
Ja, das Teilhabegesetz kommt – 2017.
Die Menschen warten aber. Jeder einzelne Schritt istwichtig. Jetzt legen wir Ihnen in unserem Antrag vierMaßnahmen vor, die etwas mit Freiheit, mit Menschen-rechten, mit Ermöglichung zu tun haben, vier Maßnah-men, die Sie sofort umsetzen könnten. Es spricht nichtsdagegen, dass Sie 2017 ein Teilhabegesetz auf den Wegbringen. Aber es spricht viel dagegen, Frau Tack, dassSie sagen: Dieser Antrag ist enttäuschend; da steht janicht viel drin. – Setzen Sie diese vier Maßnahmen um,und Sie haben unheimlich viel erreicht.
Worum geht es? Es geht um die Anpassung des Be-hindertenbegriffs an das Verständnis der Behinderten-rechtskonvention. Wir müssen deutlich sagen: Behinde-rung entsteht erst dann, wenn ein Mensch, der von derphysischen, geistigen und psychischen Norm, von demscheinbar Normalen abweicht, auf Barrieren, Treppen,enge Räume, komplizierte Anweisungen, Erwartungenan Stressresistenz, Vorurteile trifft. Die Behinderten-rechtskonvention nimmt die Gesellschaft als Verursacherfür diese Barrieren in die Verantwortung. Das ist ein Pa-radigmenwechsel. Dieser Paradigmenwechsel steht un-serer Gesellschaft gut an. Führen Sie ihn jetzt herbei!
Wir wollen das Recht auf Verständigung in leichterSprache. Behörden müssen schon heute in Gebärden-sprache und Brailleschrift kommunizieren. Leichte Spra-che ist notwendig, damit auch geistig behinderte Men-schen verstehen. Das hat etwas mit Wertschätzung zutun, damit, dass auf Augenhöhe kommuniziert wird.Auch das würde unserer Gesellschaft gut anstehen.
Wir wollen angemessene Vorkehrungen. Das klingtkompliziert, ist aber ganz einfach: Da, wo nicht sofortgrundsätzlich etwas geändert werden kann, da, wo wirkurzfristige Maßnahmen brauchen, da muss eine Umset-zung leichter möglich sein, etwa die Rampe, damit derRollstuhlfahrer am Abend noch ein Bier in der Kneipetrinken kann. Das sind angemessene Vorkehrungen.Der letzte Punkt. Derzeit ist der Diskriminierungs-schutz von Menschen mit Behinderungen auf bestimmteTeilbereiche beschränkt. Wollen wir akzeptieren, dass,wie vor einigen Jahren geschehen, einer Familie mit ei-nem inkontinenten Kind im Jugendalter eine Ferienwoh-nung während ihres Aufenthalts dort mit der Begrün-dung gekündigt wurde, dass zu viele Windeln zu vielMüll produzierten? Wollen wir akzeptieren, dass in man-chen Restaurants und Klubs Menschen, weil sie sich an-ders bewegen und anders essen, der Zutritt zu diesen Or-ten verwehrt wird? Nein, das wollen wir nichtakzeptieren. Auch hier wird eine Veränderung unsererGesellschaft guttun.
Lassen Sie uns das gemeinsam angehen. Die Umset-zung dieser Maßnahmen kostet nicht viel Geld, manch-mal sogar gar kein Geld. Aber sie bringen vielen viel.Sie kosten ein Umdenken.
Wenn es Ihnen schwerfällt, einem Antrag der Opposi-tion zuzustimmen, dann nehmen Sie einfach diese Vor-schläge in Ihre jetzigen Debatten auf. Warten Sie nichtdrei Jahre, um diese Maßnahmen für Freiheit und fürMenschenrechte umzusetzen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2187
Kerstin Andreae
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Danke schön, Frau Kollegin. – Das Wort hat
Dr. Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Katholische Jugendfür-sorge in meiner Heimatstadt Regensburg betreibt eine ei-gene Facebook-Seite, die „Teilhabeprojekte“ heißt. Dortwird erfreulicherweise nicht nur gelegentlich etwas ge-postet, sondern es tut sich sehr viel auf dieser Seite. DieVolkshochschule zum Beispiel bietet eine Altstadtfüh-rung in leichter Sprache an. Bei „Radio sag’ was!“ gehenjunge Radiomacher mit Behinderung im örtlichen Lokal-funk mit bemerkenswerten Interviews auf Sendung. DasAtelier der KJF stellt seine Werke im örtlichen Künstler-haus Andreas-Stadel inmitten der Werke anderer Künst-ler aus. Und, und, und. Die KJF Regensburg präsentiertauf dieser Facebookseite einen Überblick über ihre Teil-habeprojekte und über das, was jeden Tag im Kleinenpassiert.Die gute Nachricht nach fünf Jahren UN-Behinder-tenrechtskonvention lautet daher: Es ist nicht bei derIdee einer inklusiven Gesellschaft geblieben. Die Sachelebt, und wir sind damit gut unterwegs.In der UN-Behindertenrechtskonvention wird bekräf-tigt – ich zitiere –, „… dass alle Menschenrechte undGrundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, ei-nander bedingen und miteinander verknüpft sind unddass Menschen mit Behinderungen der volle Genuss die-ser Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung garan-tiert werden muss“. Klar, denkt man, wieso sollten Men-schenrechte auch nicht für Menschen mit Behinderungengelten? Doch was sich wie ein Allgemeinplatz anhört,stößt in der Realität oft an Grenzen: an Barrieren imwörtlichen Sinne.Umso wichtiger war es, dass die Vereinten Nationenmit der Konvention vor fünf Jahren die erste verbindli-che universelle Menschenrechtsquelle für behinderteMenschen geschaffen haben. Die unterzeichnendenStaaten haben sich verpflichtet, die darin festgeschriebe-nen Rechte in ihre nationale Gesetzgebung zu übertra-gen. Auch Deutschland hat das getan.Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen dafürzu schaffen, dass Teilhabe für alle Menschen gleichbe-rechtigt ermöglicht wird und Barrieren eingerissen wer-den. Nun fiel die Behindertenrechtskonvention in Deutsch-land nicht in ein behindertenpolitisches Vakuum. Erst amMittwoch haben wir uns im Ausschuss mit dem Teilha-bebericht der Bundesregierung befasst. Dieser Teilhabe-bericht zeigt – neben dem Staatenbericht – auf, an wel-chen Stellen wir noch etwas tun müssen, um unsereVerpflichtungen zu erfüllen.Der Bericht zeigt aber auch, dass die Bundesrepublik,vor allem auf gesetzgeberischer Seite, schon eine Mengeim Sinne der Konvention für die Menschen mit Behinde-rung getan hat und tut. Neben den SGB sind das vor al-lem die – auch in dem Antrag der Grünen angesproche-nen – Gesetze zur Gleichstellung behinderter Menschen,das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Be-hindertengleichstellungsgesetz. Sie trugen und tragenganz maßgeblich zur Gleichberechtigung bei und sindnur einige Beispiele.Zurzeit werden diese Gesetze vor dem Hintergrundder Konvention evaluiert. Diese Evaluation soll bis zumSommer abgeschlossen sein. Dabei geht es um genau diePunkte, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen derGrünen, in Ihrem Antrag ansprechen: nämlich um denBehinderungsbegriff, um den Einsatz leichter Spracheusw.Es ist wichtig, nicht nur die Gleichstellung an sichrechtlich festzuzurren, sondern eben auch das veränderteVerständnis von Behinderung, das der Behinderten-rechtskonvention zugrunde liegt. Da sind wir ganz beiIhnen.Trotz dieser Gesetze, die die gleichen Rechte garan-tieren, haben Menschen mit und ohne Behinderungen inder Praxis immer noch häufig ungleiche Chancen aufTeilhabe. Während ein Viertel der behinderten Men-schen keine oder nur wenige Behinderungen durch dieUmwelt erfährt, erlebt ein anderes Viertel große Ein-schränkungen in allen betrachteten Lebensbereichen.Ein Gießkannenprinzip hilft uns deshalb nicht weiter.Wir müssen Nachteilsausgleiche und Programme diffe-renziert auf besonders betroffene Gruppen und Situatio-nen ausrichten. Die Barrieren, die noch am meisten ander Teilhabe hindern, müssen als Erste eingerissen wer-den.Aufgabe der Politik ist es jedoch nicht nur, die Barrie-ren für die Betroffenen so weit wie möglich abzubauen.Jede Barriere ist zwar eine zu viel, aber aus der Behin-dertenrechtskonvention folgt noch etwas anderes: Dieindividuelle Lebensplanung und die Selbstbestimmungder Menschen mit Behinderung muss mehr geachtet undgestärkt werden. Viele Barrieren werden bedeutungslos,wenn dem Menschen mehr Wahlfreiheit gelassen wird,wenn er die Entscheidungen zu seiner Lebensplanungselbstbestimmt treffen kann und Teilhabe erfährt.Die Entwicklung der Eingliederungshilfe zu einemmodernen Teilhaberecht ist deshalb einer der wichtigstenBausteine bei der Umsetzung der Behindertenrechtskon-vention. Dadurch wird sie auch eine der wesentlichengesellschaftlichen und sozialpolitischen Aufgaben dieserLegislaturperiode werden. Wir wollen weg von einerüberwiegend einrichtungsbezogenen hin zu einer perso-nenzentrierten Hilfe, und daran arbeiten wir.
Der Mensch mit Behinderung muss mit seinen spezi-fischen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen. Wir wollendeshalb bei der Reform die Perspektive der Betroffenenkontinuierlich mit einbeziehen. Ein solcher Prozess dau-
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Dr. Astrid Freudenstein
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ert tatsächlich; er gewinnt dadurch aber auch an Legiti-mität und an Qualität.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist
Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Was sagt eigentlich die UN-Behinderten-
rechtskonvention zu dem ganz wichtigen Thema Arbeit?
Sie schreibt klar und deutlich das gleiche Recht auf Ar-
beit für Menschen mit Behinderung fest. Wichtige Ziele
sind der Zugang zum Arbeitsmarkt, die Gewährleistung
von Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung,
die Förderung der Beschäftigung sowie die Barrierefrei-
heit am Arbeitsplatz.
Aber wie ernst nimmt denn diese Bundesregierung
und wie ernst nahm die letzte Bundesregierung dieses
Thema und diese Konvention? Sie erinnern sich alle:
Wir alle haben in diesem Hohen Haus für diese Konven-
tion gestimmt. Ich sage Ihnen trotzdem: Wir sind Licht-
jahre entfernt von einer inklusiven Arbeitswelt.
Die Lage von Menschen mit Behinderung am Ar-
beitsmarkt ist leider immer noch ein Trauerspiel. Seit
Jahren rührt sich nichts an der hohen Arbeitslosigkeit
von Menschen mit Behinderung. Aktuell sind in der Sta-
tistik über 183 000 schwerbehinderte Menschen. Das ist
im Vergleich zu 2008 ein immenser Anstieg von 10 Pro-
zent.
Bei Betrieben mit mindestens 20 Arbeitsplätzen müs-
sen wenigstens 5 Prozent Menschen mit Behinderung
beschäftigt sein. Wenn die Betriebe diese Quote nicht er-
füllen, dann kommt die sogenannte Ausgleichsabgabe.
Viele Unternehmen kaufen sich aber mit dieser Abgabe
einfach von ihrer Pflicht frei. Deshalb wird die Quote
von 5 Prozent von Jahr zu Jahr – das können Sie be-
obachten – nicht erfüllt. Ein anderes Problem ist: Wenn
ein schwerbehinderter Arbeitsloser seine Arbeitslosig-
keit beendet, findet nur jeder siebente eine Beschäfti-
gung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Zum Vergleich: Bei
nicht schwerbehinderten Arbeitslosen gilt dies in fast je-
dem dritten Fall.
Arbeitgeber klagen regelmäßig über den sogenannten
Fachkräftemangel. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich
kann es nicht mehr hören; denn wenn man einmal auf
das Potenzial von schwerbehinderten Menschen schaut,
dann stellt man fest: Sie sind gut qualifiziert, sie sind
hochmotiviert, aber keiner holt sie aus der Arbeitslosen-
statistik. Wenn solche gut qualifizierten Menschen,
wenn hochmotivierte Menschen mit Behinderung in
meine Bürgersprechstunde kommen und mir erzählen,
wie schwer es ist, wie es fast unmöglich ist, einen Job zu
finden, dann macht mich das richtig wütend; denn ich
verstehe nicht, dass es in einem wirtschaftlich so gut da-
stehenden Land, wie Sie es in den Debatten immer wie-
der erwähnen, nicht möglich ist, mehr Menschen mit Be-
hinderung in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Dabei ginge es auch anders. Wir Linken wollen unter
anderem die Erhöhung der Pflichtquote, zumindest wie-
der auf 6 Prozent, die Erhöhung der Anreize für Unter-
nehmen und eine bessere und dauerhafte Förderung der
Beschäftigung behinderter Menschen.
Eines will ich ganz besonders herausheben, nämlich
dass Menschen, die heute gute Arbeit in einer Werkstatt
für Menschen mit Behinderung leisten, eine Chance zum
Übergang in die reguläre Arbeitswelt bekommen müs-
sen.
– Ein Recht, das ist richtig. – Das würde das Klima in
der Arbeitswelt entscheidend und auch positiv beeinflus-
sen. Ganz wichtig ist es auch, dass bei einem solchen
Übergang die besonderen Rentenansprüche für Men-
schen mit einer Behinderung erhalten bleiben. Wichtig
ist aber auch, Barrierefreiheit umfassend am Arbeits-
platz umzusetzen, und zwar grundsätzlich so, dass Men-
schen mit und ohne Behinderung beschäftigt werden
können.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesre-
gierung, bitte begreifen Sie die UN-Behindertenrechts-
konvention nicht länger als ein schön zu lesendes
Dokument, verstehen Sie es als eine handfeste Arbeits-
anleitung! Fangen Sie an, an einer inklusiven Arbeits-
welt zu arbeiten! Die Barrieren für Menschen mit Be-
hinderung auf dem Arbeitsmarkt müssen endlich
eingerissen werden. Schluss mit jeder Form von Diskri-
minierung!
Danke schön.
Danke, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist Ulla
Schmidt für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Für mich bedeutet die Umsetzung der Behinderten-rechtskonvention eine große gesellschaftspolitische Auf-gabe. Diese Umsetzung und die damit verbundene Dis-kussion darüber, welche Schritte wir gehen müssen,gehören zu den größten gesellschaftspolitischen Heraus-forderungen zu Beginn dieses Jahrhunderts und sind fürmich genauso bedeutsam wie die Bildungsreformen, diewir in den 60er-Jahren durchgeführt haben und die das
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Ulla Schmidt
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Land nachhaltig verändert haben. Das in der Behinder-tenrechtskonvention festgelegte Menschenrecht auf Teil-habe an und in der Gesellschaft sollte die Diskussionenübergreifend bestimmen. Die Diskussionen machen sehrdeutlich, dass dieses Menschenrecht in unserem Land,das sonst alles versucht, um die Menschenrechte einzu-halten, Tag für Tag verletzt wird. Ich glaube, dass wirdieses Menschenrecht nur durchsetzen können, wennwir das zu einer gemeinsamen Aufgabe des ganzen Par-laments machen.
Ich bin sehr viel unterwegs und habe viele Bundeslän-der besucht. Egal wer gerade regiert, in keinem Landund in keiner Kommune wird zu 100 Prozent das umge-setzt, was wir eigentlich wollen. Ob Brandenburg, Ba-den-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern oderSchleswig-Holstein – ich könnte eigentlich alle Bundes-länder aufzählen –, überall gibt es gelungene Beispiele.Aber es gibt noch viel zu tun, bis das, was wir wollen,nämlich die volle Teilhabe aller Menschen, tatsächlichumgesetzt ist. Deshalb bitte ich Sie: Lassen Sie uns nichtgegeneinander arbeiten, sondern überlegen, was wir mit-einander machen können, um dies umzusetzen.
Für mich ist neben den Artikeln betreffend Arbeits-markt, Schule und Kindergarten der Art. 9 der Behinder-tenrechtskonvention, der die Barrierefreiheit behandelt,essenziell. Menschen können nicht teilhaben, wenn Bar-rieren sie daran hindern. Aber beim Abbau von Barrie-ren handelt es sich um einen Prozess. Barrieren lassensich nicht per Gesetz von einem Tag auf den anderenniederreißen. Vielmehr muss jede Barriere Schritt fürSchritt abgebaut werden. Ich bin sehr froh, dass wir imPräsidium des Deutschen Bundestags beschlossen ha-ben: Wir wollen, dass der Deutsche Bundestag Vorbildbeim Abbau von Barrieren wird.
Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung nicht nuran Anhörungen und Debatten teilhaben, sondern dass siesie auch verfolgen können. Wir wollen unsere Publika-tionen und Debattenübertragungen so aufbereiten, dassBlinde, Gehörlose, Sehbehinderte, Hörgeschädigte so-wie Menschen mit kognitiven oder psychischen Ein-schränkungen am gesellschaftlichen Prozess teilhabenund sich dafür interessieren können, was wir politischentscheiden.
Natürlich kann man der Meinung sein, dass das Teil-habegesetz nicht alles ist. Aber ich sage Ihnen aufgrundmeiner Erfahrung: Die Gestaltung des Teilhabegesetzes,das zum Ziel hat, die Eingliederungshilfe aus dem Sys-tem der Fürsorge herauszuholen und zu einem modernenTeilhaberecht zu entwickeln, wird der Lackmustest sein,der deutlich macht, wie ernst es uns damit ist.
Dabei geht es um vieles, was heute von der Eingliede-rungshilfe nicht geleistet wird. Es geht um Selbstbestim-mung und Partizipation, aber auch um Mitmachen undBeteiligung. Ich bin sehr froh, das unsere MinisterinAndrea Nahles gesagt hat: Wir beginnen in diesem Jahrund werden mit den Menschen mit Behinderung einenentsprechenden Gesetzentwurf erarbeiten und diesen imJahr 2016 verabschieden. Lassen Sie sich gesagt sein:Wer Andrea Nahles kennt, weiß, dass sie das tut.
Wenn man ein modernes Teilhaberecht gestaltet, isteines wichtig: Wir sind als Staat verpflichtet, die Barrie-ren abzubauen. Wir haben uns als Staat verpflichtet, da-für zu sorgen, dass Nachteile, die durch eine Behinde-rung entstehen, ausgeglichen werden. Deshalb sage ichIhnen: Es kann nicht sein, dass auf Dauer der Ausgleichder Nachteile vom Staat in die private Einkommenssitu-ation des Einzelnen gelegt werden. Auch behinderteMenschen haben ein Recht auf ein Sparbuch.
Behinderte Menschen haben nach der UN-Konven-tion ein Recht darauf, dass sie ihre Lebenssituation stetigverbessern können. Deshalb wird es ein wichtiger Schrittsein, dass wir diesen Prozess voranbringen. Wir wollennicht, dass sich Eltern behinderter Kinder darum sorgenmüssen, ob sie für ihre Kinder ein Guthaben anlegenkönnen, damit sich die Kinder, wenn die Eltern einmalnicht mehr leben, Sonderwünsche erfüllen können. Wirwollen, dass Menschen mit Behinderung ihre Wohnungund ihre Arbeit frei wählen können. Dann müssen wirihnen aber zugestehen, dass sie ansparen dürfen, damitsie sich Möbel oder andere Dingen kaufen können.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lasst unsdaran arbeiten! Das ist eine große Aufgabe, nicht alleindes Bundestages, sondern auch der Länder und derKommunen.Ich bin sehr für die Entlastung der Kommunen, aberdiese Aufgabe ist so groß, dass wir sie nur gemeinsamschultern können. Erst kommen die Inhalte, erst brau-chen wir ein modernes Teilhaberecht, und dann könnenwir darüber entscheiden, wie wir die Kommunen oderandere bei dieser Aufgabe entlasten. Machen Sie mit!Das ist ein ganz wichtiges Projekt.Danke schön.
Vielen Dank, Ulla Schmidt. – Nächste Rednerin inder Debatte ist die Kollegin Jutta Eckenbach für dieCDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKollegen! Teilhabe ist ein Menschenrecht. Das ist heuteMorgen schon ein paarmal gesagt worden. Ich gehe nocheinmal auf die Worte von Hubert Hüppe, unserem ehe-maligen Beauftragten der Bundesregierung für die Be-lange behinderter Menschen, der immer für diesen Per-sonenkreis dagewesen ist, ein. Hubert Hüppe hat immerwieder gesagt: Es geht nicht darum, dass wir mit diesenMenschen Mitleid haben, sondern es geht einzig und al-lein darum, dass wir die Menschen teilhaben lassen aneinem selbstbestimmten Leben. Ich bin sehr froh, dassder gesamte Bundestag heute Morgen zu dieser Einstel-lung kommt. Dazu ermutigen wir sie.
Für die CDU/CSU kann ich natürlich sagen, dass uns dasimmer wieder ganz wichtig war und ich dies nur derForm halber heute Morgen noch einmal klarstellenmöchte.Meine Damen und Herren, seit der Rede des KollegenHüppe hat sich in der Gesetzeslandschaft viel getan. ZurUmsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wur-den in den vergangenen Jahren Verbesserungen bei denFahrgastrechten oder Änderungen im Luftverkehrsge-setz vorgenommen. Gesetze zur Förderung des elek-tronischen Rechtsverkehrs in der Verwaltung oder vorGerichten wurden verabschiedet. Ich freue mich ganzbesonders, dass wir gerade hören konnten, dass sichauch der Bundestag hier einbringt, für Menschen mit Be-hinderungen tätig zu werden. Ich freue mich schon aufden Tag, an dem es möglich sein wird, alle in geeigneterForm zu erreichen. Dafür von unserer Seite herzlichenDank.
Es kommt aber auch darauf an, dass wir uns Zeit neh-men. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Gestatten Siemir daher einen Schlenker auf die dortige Landesebene.Hier möchte ich das Thema Schulpolitik – Stichwort In-klusion – aufgreifen. Genau dieses Thema entwickeltsich in Nordrhein-Westfalen zu einem großen Problem.Das Beispiel Inklusion macht deutlich, dass Überarbei-tungen, Evaluierungen und Weiterentwicklungen erfor-derlich sind, um allen Beteiligten gerecht zu werden. DieUmsetzung der Inklusion darf nicht mit der Brechstangeerfolgen; denn Teilhabe erfordert vor allem Qualität, undzwar Qualität für alle Seiten.
Auf dieses Umsetzungsproblem in Nordrhein-Westfalenwollte ich hier besonders hinweisen.Um unserem hohen Qualitätsanspruch gerecht wer-den zu können, bedarf es leider auch etwas Zeit: Zeitzum Austausch aller Interessen und Meinungen; Zeit zurÜberarbeitung; Zeit zur Ausarbeitung. Ein Schnell-Schnell ist dabei sicher der falsche Weg.
Meine Damen und Herren, bereits in der vergangenenLegislaturperiode wurde dem Bundestag der Teilhabebe-richt der Bundesregierung vorgelegt. Die Bundesregie-rung ist – das haben wir heute Morgen schon gehört –seit 1982 verpflichtet, einen solchen Bericht vorzulegen.Der letzte Bericht, den wir vorgelegt bekommen haben,hat jedoch die Besonderheit – das haben wir bereits imzuständigen Fachausschuss behandelt –, dass in ihm einganz anderer Blickwinkel eingenommen wird und er da-mit ganz andere Aussagen beinhaltet als die vorherigenBerichte.Wir haben im Ausschuss ebenfalls gehört, dass wirnoch mehr Erfahrungen sammeln müssen, dass wir nochnäher an die Menschen herankommen müssen, um nochmehr von ihnen zu erfahren. Auch von schwerstbehin-derten Menschen möchte ich wissen, welchen Bedarfund welche Bedürfnisse sie haben. Aber wie sollen wirdiese Menschen erreichen? Es kommt also darauf an,ganz spezifische Fragestellungen zu entwickeln, umdiese Menschen zu erreichen; denn es gibt – das ist mirpersönlich wichtig – nicht den Behinderten, vielmehr ha-ben viele Menschen ganz unterschiedliche Einschrän-kungen. Den Einzelnen zu erreichen, das muss doch un-ser Ziel sein. Deswegen ist es, wie ich finde, wichtig,dass wir eine Vorstudie machen und weitere Entwicklun-gen beobachten, um noch mehr von den Menschen zu er-fahren. Dann können wir noch individueller tätig wer-den.
In dem Bericht wurde ein Schwerpunkt auf Menschenmit psychischen Beeinträchtigungen gelegt. Aus meinerArbeit im Landschaftsverband Rheinland – ich nenne esimmer mein früheres Leben – weiß ich um die Besonder-heiten dieser Personengruppen. Wir haben es immerwieder mit psychisch erkrankten Personen zu tun gehabt.Es ist auch Aufgabe des Landschaftsverbandes, bei die-sen Erkrankungen tätig zu werden.Speziell auf einen Aspekt möchte ich eingehen, beidem wir als Nichtbetroffene nicht so sehr im Film sind,wie ich immer sage, nämlich auf die Langzeitarbeitslo-sen. Wenn man mit den Betroffenen redet, dann hörtman, dass psychisch erkrankte Langzeitarbeitslose, wennsie endlich eine neue Arbeit gefunden haben, es zweioder drei Wochen schaffen, dieser Tätigkeit nachzuge-hen. Aber nach zwei oder drei Wochen ist es vorbei, siekönnen ihre Ängste nicht überwinden. Diesen Menschenmüssen wir helfen. Ich glaube, dass das eine ganz wich-tige Aufgabe ist.Ein zweiter Bereich, den ich neben der Psychiatrie alsganz wichtig erachte und den ich während meiner Arbeitim Landschaftsverband kennengelernt habe, ist der Be-reich der Jugend- und Behindertenhilfe. Auch in der Ju-gendhilfe müssen wir Hürden überwinden, die durch dieSozialgesetzbücher aufgebaut werden. Das ist ganzwichtig.Ich sehe gerade, dass mich die Lampe am Rednerpultdurch Blinken darauf hinweist, dass meine Redezeit ab-gelaufen ist. Ich dachte, sieben Minuten Redezeit seien
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Jutta Eckenbach
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länger. Deswegen komme ich zum Schluss: Behinderungist nicht heilbar. Sie ist ein integraler Bestandteil der Per-sönlichkeit behinderter Menschen und verdient unserenRespekt. Jedoch sind behindernde Strukturen und behin-derndes Verhalten heilbar. Wir werden die Welt einfa-cher machen. Und das werden wir gemeinsam mit unse-ren Mitstreiterinnen und Mitstreitern einfach machen.Ich freue mich in diesem Sinne auf die weitere Aus-sprache in den Ausschüssen und stimme der Überwei-sung wie alle anderen zu. Ich bedanke mich herzlich fürIhre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Eckenbach. Wir gratulie-
ren Ihnen alle zu Ihrer ersten Rede im Hohen Haus
und wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit für die
Menschenrechte in unserem Land.
Jetzt hat das Wort Katrin Kunert für die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Frau Eckenbach, ich glaube, fünf Jahre nach Rati-
fizierung der UN-Behindertenrechtskonvention kann
man hier nun wirklich nicht von der Brechstange reden.
Vor drei Wochen kam die überaus erfolgreiche deut-
sche Mannschaft von den Paralympics aus Sotschi
zurück. Sie hat mit neun Goldmedaillen, fünf Silber-
medaillen, einer Bronzemedaille und ganz vielen Top-
platzierungen den zweiten Platz in der Nationenrangliste
erkämpft. Das ist ein sehr tolles Ergebnis.
Positiv will ich anmerken, dass es längst überfällig
war, die Prämienzahlungen für die Medaillen anzuglei-
chen. Endlich ist eine paralympische Medaille genauso
viel wert wie eine olympische Medaille.
Positiv will ich auch anmerken, dass bei der Bericht-
erstattung über die sportlichen Wettkämpfe die Leistun-
gen und die Athletinnen und Athleten im Mittelpunkt
standen und nicht die Leidensgeschichten von Behinder-
ten. Aber all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen,
dass wir auch im Bereich des Sports weit von der Inklu-
sion entfernt sind. Der Geist der UN-Behindertenrechts-
konvention lebt vom selbstbestimmten Mitmachen der
Menschen mit Behinderung; denn sie wissen am besten,
was für sie eine hohe Lebensqualität in der Freizeit,
beim Reisen oder beim Sport ausmacht.
Für den Bereich des Sports hat die Linke in der
17. Wahlperiode einen Antrag eingebracht, der damals
von allen Sachverständigen in einer Anhörung für sehr
gut befunden wurde. Dieser Antrag ist leider abgelehnt
worden. Das sind wir gewöhnt. Aber es ist schon schade,
dass die Koalition sich nicht einmal die Mühe gemacht
hat, ihn als Grundlage zu nehmen, um hier einen neuen
Antrag für den Bereich des Sports vorzulegen.
Besonders in den Bereichen des Schulsports, des
Breitensports und der Nachwuchsgewinnung stellen wir
immer wieder fest, dass Kinder und Jugendliche zu
schnell eine Sportbefreiung erhalten, weil man mit Be-
hinderungen schlecht bzw. gar nicht umgehen kann. Das
müssen wir ändern. Lehrer-, Übungsleiter- und Trainer-
ausbildung müssen dem inklusiven Anspruch gerecht
werden. Gemeinsames Sporttreiben in der Schule, im
Verein und im Wettbewerb muss selbstverständlich für
alle sein.
Grundlegende Voraussetzung dafür ist natürlich die
Barrierefreiheit von Sportstätten. Es gibt erst eine ein-
zige Sporthalle in Deutschland, nämlich in Hamburg, die
völlig barrierefrei ist. Das ist ein Manko für die deutsche
Gesellschaft. Deshalb fordern wir auch ein bundesweites
Sportstättensanierungsprogramm. Neben den aktiven
Sportlerinnen und Sportlern müssen wir aber auch die
Zuschauerinnen und Zuschauer mit einer Behinderung
im Blick haben, die den Sport konsumieren wollen. In
diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie geben
das die Möglichkeiten der Übertragung her? Wie gelan-
gen sie barrierefrei ins Stadion? Dazu gibt es ein sehr po-
sitives Beispiel, nämlich einen Reiseführer der Bundes-
liga-Stiftung: Barrierefrei ins Stadion. Auch hier kann
der Bund einmal schauen, welche sportlichen Aktivitä-
ten und Initiativen es gibt, um diesem Ziel gerecht zu
werden.
An allererster Stelle steht doch aber, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, die Barrieren in den Köpfen zu be-
seitigen. Das ist der Ausgangspunkt. Wenn man diese
Debatte verfolgt, muss man feststellen, dass die Barrie-
refreiheit in vielen Bereichen noch nicht gegeben ist. In-
klusion in eine Gesellschaft bedeutet nämlich nicht un-
bedingt, alle gleich zu behandeln, sondern, sich an den
Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung zu orien-
tieren. Das ist unser Anspruch. Deshalb bleiben wir an
diesem Thema dran.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Kunert. – Nächster Red-ner in der Debatte ist Dr. Matthias Bartke für die SPD.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Dies ist heute meine erste Rede im DeutschenBundestag.
Ich freue mich sehr darüber, dass ich sie zur UN-Behin-dertenrechtskonvention halten darf. Es gibt wohl kaumeinen Sozialpolitiker, dem Behindertenpolitik nicht einHerzensanliegen ist. Denn der Umgang einer Gesell-schaft mit ihren Menschen mit Behinderung ist immerein Gradmesser für ihre Qualität.Seit Einführung des SGB IX vor fast 14 Jahren undvor allem mit der UN-Behindertenrechtskonvention hatsich in unserem Land viel zum Besseren gewandelt.Aber die Lage ist noch lange nicht so, dass man sagenkönnte, sie ist gut. Mit der UN-Behindertenrechtskon-vention wurde die Inklusion zum neuen Leitgedankender Behindertenpolitik. Sie beinhaltet eine Abkehr vonder alten Zweiklassentheorie „Behindert“ versus „Nichtbehindert“. Inklusion heißt, dass alle Menschen gleich-berechtigte Teile eines gemeinsamen Ganzen sind:
Nicht der Mensch muss an die Rahmenbedingungen an-gepasst werden, sondern der Sozialraum so gestaltetsein, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft ein Zugangoffen ist. Dies, meine Damen und Herren, ist ein grund-legender Paradigmenwechsel, den die Konvention be-wirkt hat.
Nur ist eines auch klar: Eine inklusive Behinderten-politik gibt es nicht zum Nulltarif. Die Schaffung einesbarrierefreien Sozialraumes ist teuer, manchmal sogarsehr teuer. Die Unterzeichnung der UN-Konvention istauch ein Bekenntnis zu diesen Kosten. Schwarz-Rot be-kennt sich mit dem Koalitionsvertrag dazu, die Kommu-nen nicht mit den Kosten für die Behindertenpolitik al-leinzulassen. Sie werden bei der Eingliederungshilfe um1 Milliarde Euro jährlich entlastet. Mit Verabschiedungdes Bundesteilhabegesetzes kommt eine jährliche Ent-lastung um weitere 5 Milliarden Euro hinzu,
und zwar, Herr Kurth, im Jahr 2016. Dies sind wahrlichkeine Peanuts.Im Koalitionsvertrag haben wir außerdem eine Stär-kung des inklusiven Arbeitsmarktes vereinbart. Das istauch dringend notwendig, denn die Arbeitslosenquotebei Menschen mit Behinderung ist mehr als doppelt sohoch wie bei Menschen ohne Behinderung. Besondersalarmierend ist dabei der hohe Anteil von jungenSchwerbehinderten. Hier besteht dringender Handlungs-bedarf.In meiner Heimatstadt Hamburg ist man für Mitarbei-ter von Werkstätten für Behinderte im Rahmen einesneuen Modellprojekts „Budget für Arbeit“ neue Wegegegangen. Zu diesem Budget gehört unter anderem einunbefristeter Lohnkostenzuschuss für Arbeitgeber, die inihren Unternehmen geistig behinderte Mitarbeiter ein-stellen. Das Projekt funktioniert hervorragend. DasSchöne ist, dass sich das Betriebsklima in den Unterneh-men häufig verbessert hat: Unternehmen, die zuvor aus-schließlich auf Effizienz ausgelegt waren, bekommendurch die geistig behinderten Mitarbeiter plötzlich einemenschliche Komponente;
sie stellen eine Bereicherung für die Betriebe dar. Das istgelebte Inklusion. Es freut mich sehr, dass das Modell-projekt „Budget für Arbeit“ Eingang in den Koalitions-vertrag gefunden hat. Es ist sinnvoll, über dauerhafteLohnkostenzuschüsse nicht nur für Arbeitnehmer mitgeistiger Behinderung, sondern auch für Langzeitar-beitslose mit körperlichen Behinderungen nachzuden-ken. Damit erhalten vor allem junge behinderte Arbeits-lose eine neue Perspektive.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, auf einProblem zu sprechen kommen, das mir besonders amHerzen liegt. Die UN-Konvention fordert völlig eindeu-tig, dass Arbeitnehmer nicht wegen ihrer Behinderungdiskriminiert werden oder weniger Lohn bekommen dür-fen und dass auch sie das Recht auf einen angemessenenLebensstandard haben.
Bei schwerstbehinderten Arbeitnehmern mit persönli-chem Assistenzbedarf wird hingegen täglich auf dasKrasseste verstoßen. Bei ihnen werden alle Ersparnisseüber 2 600 Euro gegengerechnet und müssen an denStaat abgeführt werden. Das gilt auch für die Ehepartner.Ich finde, diese Regelung ist ein Skandal.
Vor zwei Wochen haben wir im Ausschuss für Arbeitund Soziales in einem formellen Akt eine Petition mitüber 126 000 Unterschriften gegen diese Regelung er-halten. In ihr ist prägnant formuliert:Anlegen einer Altersvorsorge? Unmöglich.Rücklagen für … Notfälle bilden? Nicht erlaubt.Geld für einen Autokauf ansparen? Fehlanzeige …Die große Liebe heiraten? Besser nicht.
Diese Verrechnungspraxis entspricht vielleicht denBuchstaben des SGB XII; den Normen und vor allemdem Geist der UN-Konvention widerspricht sie auf dasEklatanteste. Hier tut eine Abhilfe dringend not.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2193
Dr. Matthias Bartke
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Im Bereich der Behindertenpolitik sind wir schon ei-nen weiten Weg gegangen, aber es liegt auch noch einweiter Weg vor uns. Zum Abschluss möchte ich daherErich Kästner zitieren, der einmal wunderbar passendgesagt hat:Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt wer-den, kannst du etwas bauen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Herr Kollege. Das ganze Haus gratuliert
Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag. Ich wünsche
Ihnen viel Erfolg, nicht nur im Kampf für die große
Liebe.
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter
Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die UN-Behindertenrechtskonvention hat ei-nen Prozess ausgelöst, im Zuge dessen auch unser eige-nes Denken eine Veränderung erfährt.Zum Schluss dieser erfreulichen Debatte kann manfeststellen: Die Idee einer inklusiven Gesellschaft istmittlerweile bei uns angekommen. Sich daran zu gewöh-nen, war – wenn man sich die Tradition und die bishergeleistete Arbeit in der Behindertenpolitik in Deutsch-land vor Augen führt – eine echte Revolution, aber sie istgelungen. Unser Bekenntnis ist klar: Ja, wir wollen eineinklusive Gesellschaft.
Das bedeutet vor allen Dingen, die Kompetenzen undauch den Sachverstand der Menschen mit Behinderun-gen ernst zu nehmen. Was heißt das? Lassen Sie michein Beispiel nennen: Im Inklusionsbeirat der Bundesre-gierung sitzen nicht nur Menschen, die Sachverstand ha-ben und über Behinderte reden, sondern dort sitzen Men-schen mit Behinderung, um ihre eigenen Interessen undBedürfnisse zu artikulieren.
Das wichtigste Instrument ist der Nationale Aktions-plan. All die Forderungen und Wünsche, die vorgetragenworden sind, müssen jetzt in den Nationalen Aktions-plan aufgenommen werden. Wir brauchen einen Arbeits-plan, mit dem uns Schritt für Schritt die Umsetzung hinzu einer inklusiven Gesellschaft gelingt. Es geht nun da-rum, dass nicht Politiker über Behinderte schreiben, son-dern in dem Aktionsplan muss sich das wiederfinden,was Menschen mit Behinderung selber eingebracht ha-ben.
Eine Anpassung der Gesetzgebung im Zuge der Re-form der Eingliederungshilfe hin zu einem neuen Bun-desteilhabegesetz ist der entscheidende Schritt. Die Op-position kann sich jetzt natürlich hinstellen und fragen:Warum gibt es das nicht schon längst? Legt endlich ei-nen Entwurf vor! – Verehrte Kolleginnen und Kollegen,um Ihr Kurzzeitgedächtnis etwas aufzufrischen: SeitJahren reden wir in Deutschland über die Reform derEingliederungshilfe. Wir haben einen mühsamen, aberinteressanten Prozess angestoßen. In einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe haben sich Bund und Bundesländer zu-sammen hingesetzt und aufgeschrieben, wie eine solcheReform inhaltlich aussehen soll. Jetzt ist es in der Tat ander Zeit, die Reform der Eingliederungshilfe anzu-packen. Das haben wir uns als Große Koalition vorge-nommen.
In der Debatte gerieten ein paar Dinge durcheinander.Gestern ist mehr über die Entlastung der Kommunen inHöhe von 5 Milliarden Euro gesprochen worden als überden Inhalt der Eingliederungshilfe selbst. Ich will klippund klar sagen: Ja, der Bund, wir als Große Koalition,stehen zu unserer Zusage, im Rahmen der Reform diekommunale Seite um insgesamt 5 Milliarden Euro zuentlasten und uns an den Kosten der Eingliederungshilfezu beteiligen. Aber bevor es zu einer Entlastung kommt,müssen die Inhalte stimmen. Das ist das Wesentliche:Wir wollen eine inhaltliche Reform der Eingliederungs-hilfe. Das ist unser Ziel.
Wenn wir über eine inklusive Gesellschaft sprechen,dann sprechen wir natürlich über unterschiedliche Artenvon Behinderungen. Ich möchte darauf aufmerksam ma-chen, dass der Personenkreis der Menschen mit psychi-schen Behinderungen oft vergessen wird. Unter den rund7,3 Millionen schwerbehinderten Menschen, die in derBundesstatistik verzeichnet sind – ich sage das aus-drücklich einschränkend –, befindet sich – amtlich fest-gestellt – 1 Million Menschen mit seelischen Behinde-rungen. Wir wissen, dass langfristig psychisch krankeMenschen von sich aus vielfach keine Anerkennung alsSchwerbehinderte beantragen.Aktuell leben in Deutschland 1,4 Millionen Men-schen mit der ärztlich gestellten Diagnose Demenz unteruns. Aber nur etwa ein Drittel dieser Personen beantragtvon sich aus, dass amtlich eine Schwerbehinderung fest-gestellt wird.Ein zweiter Hinweis: Im Zusammenhang mit derwachsenden Anzahl der Menschen mit seelischen Behin-derungen muss man die dramatisch steigende Zahl der
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2194 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Peter Weiß
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Menschen berücksichtigen, die wegen psychischer Er-krankungen, wegen psychischer Störungen auf eine Er-werbstätigkeit verzichten müssen und Erwerbsminde-rungsrente beantragen. Deshalb ist es wichtig, auch andie seelisch behinderten Menschen zu denken, wennman von Menschen mit Behinderungen spricht.Natürlich haben Menschen mit psychischen Störun-gen andere Probleme als zum Beispiel Menschen mit ei-ner Gehbehinderung oder einer Sinnesbehinderung. Siebrauchen auch andere Formen von Unterstützung. Ichwill das kurz an drei Punkten verdeutlichen.Erstens: Teilhabe. Die gesellschaftliche Teilhabe istein zentrales Thema. Um erwerbstätig sein zu können,benötigen Menschen mit psychischen Behinderungenauf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Arbeitsbedingungenund Unterstützungsangebote.Zweitens: Barrierefreiheit. Bezogen auf einen Roll-stuhlfahrer können wir Barrierefreiheit sehr leicht defi-nieren. Bezogen auf einen Menschen mit seelischen Be-hinderungen fällt uns das sehr schwer. Menschen mitseelischer Behinderung haben oft Schwierigkeiten in so-zialen Beziehungen. Sie reagieren vielleicht besonderssensibel auf bestimmte Stressfaktoren. Sie haben viel-leicht Ängste, die die Alltagsbewältigung, die Teilhabeam Leben in der Gesellschaft erschweren.Drittens: Selbstbestimmung. Für Menschen mit psy-chischen Erkrankungen ist Selbstbestimmung ein wich-tiges und spezifisches Thema, weil sie oft große Schwie-rigkeiten haben, eine für sie sinnvolle Entscheidung zutreffen. Dann müssen Betreuer oder Gerichte für sie ent-scheiden. Wir haben in der letzten Legislaturperiode dasBetreuungsrecht reformiert und die Schwelle für Zwangs-maßnahmen, also für Unterbringung oder Zwangsbe-handlung, deutlich erhöht. Auch das war ein wichtigerBeitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-vention. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.Neben dem, was wir rechtlich oder durch finanzielleUnterstützung regeln können, ist, wie ich finde, für dieIdee einer inklusiven Gesellschaft von großer Bedeu-tung, dass sich die vielen guten Beispiele, die wir in un-serem Land haben, vervielfältigen. Deshalb fand ich dieIdee des früheren Behindertenbeauftragten der Bundes-regierung, Hubert Hüppe, sehr gut, eine sogenannte in-klusive Landkarte ins Leben zu rufen.
Für all die tollen Beispiele, die wir in unserem Land ha-ben, gilt: Man konnte beantragen, in dieser Landkarteverzeichnet zu werden. Nicht der Behindertenbeauf-tragte hat entschieden, wer aufgenommen wird, sondernMenschen mit Behinderung haben den Auswahlprozessmitgestaltet und entschieden, wer in die Landkarte auf-genommen wird. Die besten Beispiele wurden ausge-zeichnet. Ich glaube, in den kommenden Jahren wird esentscheidend darauf ankommen, dass wir dafür sorgen,dass die vielen guten Beispiele für eine inklusive Gesell-schaft in Deutschland sich möglichst rasch vervielfälti-gen, sodass wir in einigen Jahren sagen können: Auf die-ser inklusiven Landkarte gibt es keine weißen Fleckenmehr.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. Es ist gut, dass Sie
Herrn Hüppe erwähnt haben. – Herr Hüppe, ich glaube,
das ganze Haus dankt Ihnen für das, was Sie in diesem
Bereich geleistet haben.
Seien Sie mal nicht so bescheiden! Wir danken Ihnen
nicht nur für die Landkarte.
Nächste Rednerin: Waltraud Wolff für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren auf den Zuschauerrängen! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir alle haben übereinstimmend festge-stellt: Alle Menschen haben den Anspruch und dasRecht auf eine gleichberechtigte Teilhabe am gesell-schaftlichen Leben. Das hört sich sehr groß an; darüberist ja schon vielfältig diskutiert worden. Vor fünf Jahrenwurde dieses Ziel in der UN-Behindertenrechtskonven-tion festgehalten. Deutschland war das erste Land, dasdiese Konvention unterzeichnet und ratifiziert hat, aberwir sind natürlich noch nicht am Ende des Weges. Auchunser Ziel ist eine inklusive Gesellschaft. Jeder Menschsoll seine eigene Lebenssituation so weit wie möglichselbst gestalten können.
Das ist unser Anspruch. Eines kann ich Ihnen sagen, sowie ich hier stehe: Bis zum Ende dieser Legislaturpe-riode werden wir auf diesem Weg ein großes Stück vor-angekommen sein.Die Behindertenrechtskonvention beschreibt die Ein-schränkungen von Menschen mit Behinderungen als ab-hängig von der Wechselbeziehung zwischen den indivi-duellen Fähigkeiten eines Menschen und den Barrieren,auf die er trifft. Aufgrund einer Beeinträchtigung ist manalso nicht per se dafür prädestiniert, dass man nicht un-eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhabenkann. Oft ist es doch die Umwelt, die aus einer Beein-trächtigung erst eine Behinderung macht.
Hier gilt es, den Finger in die Wunde zu legen. Bei-spiel: Wenn Fußgänger die Welt planen würden, könntedas durchaus eine Welt voller Stufen und Treppen sein.Natürlich hätte das für einen Rollifahrer gravierendeAuswirkungen. In dieser Welt ist aber nicht der Rollstuhl
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Waltraud Wolff
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die Barriere, sondern die Barriere sind die Treppen. Da-rum müssen diese Treppen weg.
Aus solchen und aus vielen anderen Gründen habenwir im Koalitionsvertrag ein zutiefst sinnvolles undmenschliches Ziel definiert:Menschen mit und ohne Behinderungen sollen zu-sammen spielen, lernen, leben, arbeiten und wohnen.In allen Bereichen des Lebens sollen Menschen mitBehinderungen selbstverständlich dazugehören –und zwar von Anfang an.
An circa 20 Stellen im Koalitionsvertrag gibt es dazuAussagen. Als ich diese gefunden habe, war ich etwaserstaunt, aber ich habe mich natürlich sehr darüber ge-freut. Es gibt größere und kleinere Baustellen, die zu be-arbeiten sind. Diese betreffen im Grunde genommen alleFachgebiete.Wir haben festgestellt: Wir wollen die Eingliede-rungshilfe zu einem modernen Teilhabegesetz machen.Wir wollen eine gemeinsame Bildung vorantreiben undeinen Arbeitsmarkt schaffen, der auch Menschen mitBehinderungen offensteht. Wir wollen Barrieren ab-bauen. Wir brauchen einen leichteren Zugang für Men-schen mit Behinderungen zu Transportmitteln. Jederkennt das: Ein Rollstuhlfahrer muss erst bei der Bahn an-rufen, damit er überhaupt in den ICE kann. Wir braucheneinen besseren Zugang zu Informationen und Kommuni-kationsmöglichkeiten. Wir werden in der Gesundheits-versorgung viel ändern und gerade bei der Vorsorgemehr tun.
Mir ist eines ganz besonders wichtig: Wir wollen dasSelbstbestimmungsrecht hilfebedürftiger Erwachsenerstärken. Willy Brandt hat in den 70er-Jahren von Men-schen mit Behinderungen als Erster von Mitbürgern ge-sprochen. Warum, frage ich, dürfen Menschen mit Be-hinderungen, die unter voller Betreuung stehen, heutenicht zur Wahl gehen? Diese Diskriminierung muss einEnde haben.
Barrierefreiheit verknüpfen wir immer mit einemRolli. Klar, wir wollen da sehr viel tun. Aber Barriere-freiheit fängt im Kopf an, und zwar bei uns allen. AlsOpposition kann man zwar sagen, dass die Regierungnicht genug tut, aber zum Beispiel für einen inklusivenArbeitsmarkt können wir nur den Rahmen setzen. Wirbrauchen auch Arbeitgeber, die bereit sind, Menschenmit Behinderungen einzustellen.
Barrierefreiheit hat also auch etwas mit Bildungsarbeit,mit dem Abbau von Vorurteilen zu tun. Hierbei müssenwir alle mithelfen.Wenn ich von gemeinsamem Lernen und einem ge-meinsamen Arbeitsmarkt rede, heißt das nicht gleichzei-tig, dass es keine Werkstätten für Behinderte und keineSonderschulen für Kinder mit Förderbedarf geben soll.Diese werden wir auch in der Zukunft brauchen. In die-sem Punkt müssen Eltern Sicherheit haben.
Wir wollen Teilhabe statt Fürsorge. Wir wollen eingemeinsames Spielen, Lernen, Wohnen und Arbeiten er-möglichen. Wir tun etwas. Lassen Sie uns das auch ge-meinsam mit der Opposition tun.Herzlichen Dank.
Danke, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist
Gabriele Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn man gegen Ende einerDebatte ans Rednerpult tritt, dann ist schon viel gesagtworden. Wir haben heute Morgen schon sehr viele wun-derbare Beispiele für gelungene Inklusion, für Aktionenim Interesse der Menschen mit Behinderungen und fürLeistungen der Menschen mit Behinderungen, zum Bei-spiel in Sotschi, aber auch lokal, gehört. Ich werde dahernicht noch weitere Beispiele nennen, sondern versuchen,das Ganze aus meiner Sicht zusammenzufassen:Wir wollen die Umsetzung der UN-Behinderten-rechtskonvention vorantreiben und den Nationalen Ak-tionsplan gemeinsam mit den Menschen mit Behinde-rungen weiterentwickeln. Die Konvention ist durch dieRatifizierung geltendes Recht und eine wichtige Leitli-nie für die Behindertenpolitik in Deutschland. Das Zieldes Übereinkommens ist, die selbstbestimmte Teilhabevon Menschen mit Behinderungen am politischen, ge-sellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebenin Deutschland zu fördern, Diskriminierung zu unterbin-den und den Inklusionsprozess in der Gemeinschaft wei-ter anzustoßen und zu fördern. Es geht um Chancen-gleichheit in der Bildung, um berufliche Integration undum die gesamtstaatliche Aufgabe, Menschen mit Behin-derungen einen selbstbestimmten Platz in einer barriere-freien Gesellschaft zu sichern.
Dabei steht der Zugang für Menschen mit Behinde-rungen zu Transportmitteln, Informationen, Dienstenund Einrichtungen im Vordergrund. Wir nehmen dieseAufgabe sehr ernst, auch wenn uns von der Oppositionmanchmal etwas anderes unterstellt wird.
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2196 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Gabriele Schmidt
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Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtetVertragsstaaten, politische Konzepte zur Durchführungauszuarbeiten und umzusetzen. Genau dieser Verpflich-tung ist die Bundesregierung in der Zwischenzeit mit derErarbeitung des Nationalen Aktionsplans nachgekom-men.
Der Nationale Aktionsplan wurde 2011 beschlossen.Er leistet unserer Überzeugung nach einen wichtigenBeitrag zur Förderung einer gleichberechtigten Teilhabevon den rund 7 bis 8 Millionen in Deutschland lebendenMenschen mit Behinderung. Dieser Aktionsplan trägtnicht nur die Handschrift der Bundesregierung, sondern,wie wir bereits gehört haben, von Anfang an auch die vonMenschen mit Behinderung. Er umfasst über 200 Einzel-maßnahmen und hat einen Zeithorizont von zehn Jahren.Darüber hinaus sind Länder und Kommunen dazu ange-halten, eigene Aktionspläne zu erarbeiten. Das passiertin vielgestaltiger Hinsicht; davon haben wir heute schongehört.In dieser Legislaturperiode im Deutschen Bundestagsind die Fortentwicklung und auch die Verbesserung derBeteiligungsmöglichkeiten erklärtes Ziel. Von Septem-ber 2013 bis Juni dieses Jahres wird der Nationale Ak-tionsplan im Auftrag des BMAS von der Prognos AGwissenschaftlich evaluiert. Schwerpunkt dabei ist dieBeteiligung der Zivilgesellschaft. In diesem Zusammen-hang sollte noch einmal der von allen Fraktionen begrüßteTeilhabebericht der Bundesregierung über die Lebensla-gen von Menschen mit Beeinträchtigungen erwähnt wer-den. Dieser Teilhabebericht ist im Übrigen auch von derFachöffentlichkeit sehr positiv aufgenommen worden.Sie sehen also: Wir kommen unseren Verpflichtungennach.Mit der Schaffung des SGB IX, des Behinderten-gleichstellungsgesetzes, der Gleichstellungsgesetze al-ler 16 Bundesländer und des am 18. August 2006 inKraft getretenen Allgemeinen Gleichstellungsgesetzeswurde in den letzten zehn Jahren die Grundlage für mehrSelbstbestimmung und Teilhabe geschaffen. Die Ergeb-nisse der Evaluation des Nationalen Aktionsplans unddie Erkenntnisse des Teilhabeberichts werden in dieWeiterentwicklung einfließen. Die Erkenntnisse derStaatenprüfung werden ebenfalls Berücksichtigung fin-den.Im September 2014 soll der von der Bundesregierungeingereichte erste Staatenbericht aus dem Jahr 2011 vomUN-Vertragsausschuss für die Rechte von Menschen mitBehinderungen abschließend geprüft werden. Die Eva-luation des Behindertengleichstellungsgesetzes und derdrei auf seiner Grundlage ergangenen Rechtsverordnun-gen ist ebenfalls eine Aufgabe, die sich aus dem Nationa-len Aktionsplan ergibt. Dabei sollen möglicher Anpas-sungsbedarf und Regelungslücken aufgezeigt werden.Die Bewertung des Gesetzes hat zum Ziel, verlässlicheErkenntnisse darüber zu erhalten, ob alle Gruppen vonMenschen mit Behinderungen ausreichend berücksich-tigt sind und ob sich die Instrumente dieses Gesetzes inder Praxis bewährt haben. Hier geht es insbesondere umleichte Sprache, Zielvereinbarungen und Verbandsklage.Der Abschlussbericht soll, wie zu vernehmen ist, schonim Mai dieses Jahres vorliegen.Zum Schluss möchte ich noch auf die Forderung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen nach einer Anpassungdes Behinderungsbegriffs eingehen. Wie bereits erwähnt,ist die Konvention geltendes Recht. Diese Forderung istnach meiner Ansicht überflüssig und in der Sache nichtzielführend. Denn der im SGB IX und im Behinderten-gleichstellungsgesetz definierte Behinderungsbegriffstellt eben nicht nur auf gesundheitliche Funktionsbeein-trächtigungen ab, sondern er nimmt auch die Teilhabevon Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichenLeben in den Blick und entspricht somit den Anforde-rungen der Konvention.
Im Übrigen wird derzeit vom Arbeitsministerium imRahmen der bereits angesprochenen Evaluation des Be-hindertengleichstellungsgesetzes geprüft, ob der Begriffangepasst werden muss. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der Opposition, lassen Sie uns da bitte nicht umBegriffe streiten, sondern in der Sache arbeiten.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Nächste Red-
nerin in der Debatte: Heike Baehrens für die SPD-Frak-
tion.
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Hätten Sie gedacht, dass vier von fünf Arztpra-xen in Deutschland nicht barrierefrei sind
und dass in nicht einmal 7 Prozent der Praxen barriere-freie Sanitärräume vorhanden sind?
Ist Ihnen bewusst, dass Ärzte und Pflegekräfte in unse-ren Krankenhäusern mit der Behandlung von an Demenzerkrankten Patienten und von Menschen mit geistigerBehinderung in der Regel überfordert sind? Menschenmit erheblichen Behinderungen oder besonders originel-lem Verhalten haben oft einen komplexen Hilfebedarf.Darauf ist unser Gesundheitswesen in der Breite nochnicht eingestellt. Wir müssen heute ehrlich zugeben,dass die zentrale Intention der UN-Behindertenrechts-konvention noch nicht in der Mitte unserer Gesellschaftangekommen ist.
Recht allgemein und dennoch bestimmt formuliertArt. 25 der Konvention:
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Heike Baehrens
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Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Men-schen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchst-maß an Gesundheit ohne Diskriminierung …Sehr viel konkreter wird dann Art. 26, der besagt:Menschen mit Behinderungen sollen in die Lage versetztwerden,ein Höchstmaß an Unabhängigkeit … und die volleTeilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen… Zu diesem Zweck organisieren, stärken und er-weitern die Vertragsstaaten umfassende Habilita-tions- und Rehabilitationsdienste und -programme,insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit …und der Sozialdienste …Dies bleibt auch fünf Jahre nach Unterzeichnung derKonvention Aufgabe und Herausforderung in unseremLand.Unüberwindbare Treppen, zu schmale Türen, unge-eignete Behandlungstische und -stühle bei Ärzten und inKrankenhäusern markieren dabei Barrieren, die mit gu-tem Willen und mit recht überschaubarem Ressourcen-einsatz in absehbarer Zeit beseitigt werden können.Ärzte und andere Akteure jedenfalls hätten den alsRechtsanspruch verankerten Sinn der UN-Konvention,vor allem aber auch die Zeichen des demografischenWandels noch nicht wirklich erkannt, wenn sie dieseMissstände nicht zeitnah und konsequent beseitigenwürden.
An anderen Stellen sind dickere Bretter zu bohren. Soerleben behinderte und chronisch kranke Menschen beider Versorgung mit Arznei- und Hilfsmitteln fast täglichdie Diskrepanz zwischen ihrem gesetzlichen Anspruchund der vom Kostendämpfungsbestreben beherrschtenWirklichkeit: wenn die Zeit für den Aufbau von Ver-trauen und Verstehen fehlt, wenn Assistenz nicht zurVerfügung steht, wenn das Taschengeld nicht reicht, umrezeptfreie Arzneimittel bezahlen zu können, wennKommunikation nicht gelingt, weil man einfach nichtdie gleiche Sprache spricht. Die volle Zugänglichkeit zuGesundheitsleistungen wird nur dann realisiert, wenn dienoch immer in erheblichem Maße vorhandenen Kommu-nikationsbarrieren konsequent abgebaut werden.
Müssten nicht alle Beschäftigten im medizinischenBereich eine für Laien verständliche Sprache nutzen, umso überhaupt erst eine gute Kommunikation auf Augen-höhe zu ermöglichen? Beipackzettel oder Therapiean-weisungen in einfacher Sprache zu formulieren, wärenicht nur für Menschen mit Behinderungen ein legitimerAnspruch; es wäre ein Gewinn für alle und ein wichtigerBeitrag zu einer bürgernahen Gesundheitsversorgung.
Noch ein letzter Aspekt. Es gibt viele gute Angeboteund fantastische Hilfsmittel, aber die größten Hürdensind dann zu überwinden, wenn es um die Frage geht:Wer trägt die Kosten? Wer ist zuständig? Wo stelle ichden Antrag? Dies bleibt auch nach fünf Jahren immernoch eine große Aufgabe und Herausforderung. DieserAufgabe sollten wir uns stellen bei den anstehenden Ge-setzgebungsvorhaben, die wir uns vorgenommen haben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner: Uwe
Lagosky für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! „Nichts über uns ohne uns“ steht bei uns imKoalitionsvertrag als einfache Vorgabe für die Umset-zung der UN-Behindertenrechtskonvention. Unsere Ge-sellschaft können wir und wollen wir nur gemeinsam mitden Menschen mit Behinderung inklusiv gestalten.Das zentrale Maßnahmenpaket hierfür ist der Natio-nale Aktionsplan aus dem Jahr 2011. Bei ihm geht esnicht nur darum, Mittel in mehr Barrierefreiheit zu ste-cken oder das Behindertengleichstellungsgesetz oder dasAGG zu ändern, wie es in den von der Fraktion DieLinke und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ein-gebrachten Anträgen gefordert wird, sondern es geht umviel mehr; denn die Inklusion betrifft alle Lebenslagenund erfordert deshalb notwendigerweise einen Wandelim Denken der Menschen insgesamt. Dieser gesell-schaftliche Entwicklungsprozess wird durch unsere Vor-gaben im Koalitionsvertrag sowie durch das Maßnah-menpaket im Nationalen Aktionsplan mehr als gutflankiert.Als letzter Redner in einer Reihe von vielen ist es mirjetzt wichtig, einmal auf den Arbeitsmarkt zu schauenund ihn unter dem Blick der Inklusion zu betrachten.Wer arbeitet und sich auf diese Weise einbringt, erfährtdas Gefühl, gebraucht zu werden. Außerdem haben so-wohl die berufliche Kommunikation als auch die sozia-len Kontakte im Betrieb eine besondere Bedeutung fürein erfülltes Leben.Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf die 3 Millio-nen behinderten Menschen hinweisen, die im arbeitsfä-higen Alter sind. Diese Zahl steigt nach Angaben derBundesagentur für Arbeit in den nächsten Jahren noch.Von ihnen waren im März 2014 ungefähr 183 000 ar-beitslos. Es hat nach Verlust der Arbeit im Durchschnitt77 Wochen gebraucht, bis ein Behinderter wieder in denArbeitsprozess eingegliedert werden konnte. Bei ande-ren Arbeitslosen beträgt diese Zeit 64 Wochen. Für ar-beitslose Schwerbehinderte ist es also deutlich schwieri-ger, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Kümmern wir unsalso darum, auch dieses Potenzial zu heben! Arbeitenwir daran, dass die Schwerbehinderten vermehrt in Be-schäftigung kommen!
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2198 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Uwe Lagosky
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, sicherlich gibt eszahlreiche Arbeitgeber, die immer noch unsicher sind,was die Einstellung von behinderten Menschen angeht:Fallen teure Anschaffungen an? Sind Umbauarbeiten er-forderlich? Antworten auf diese Fragen liefern in unsererGesellschaft die Arbeitgeberservices und der TechnischeBeratungsdienst der Bundesagentur für Arbeit. Sie kön-nen auch bei der finanziellen Förderung entsprechenderMaßnahmen helfen oder Kontakte zum passenden Kos-tenträger herstellen. In ihrem Geschäftsbericht weist dieBA übrigens 2,43 Milliarden Euro für die Förderung vonMenschen mit Behinderung aus. Dieses hohe Niveauwird auch im aktuellen Haushaltsplan gehalten.Nun müssen die Arbeitgeber solche Fördermaßnah-men natürlich auch kennen. Als eines der vielen positi-ven Beispiele möchte ich hier einmal VW nennen. Ichhabe mich vorgestern mit einem Freund unterhalten, derin der Schwerbehindertenvertretung von VW Salzgittermitwirkt. Er bestätigte mir das, was ich in meiner be-triebsrätlichen Arbeit bei BS|ENERGY bis zum letztenJahr kennengelernt habe: Es werden alle Möglichkeitenergriffen, damit Beschäftigte mit einer Behinderung imArbeitsleben bleiben können. Die Schwerbehinderten-vertreter organisieren gemeinsam mit dem Betrieb Hilfe-stellungen an den Arbeitsplätzen. Sie führen Begehun-gen durch. Sie bieten Beratungsdienstleistungen an undführen den Dialog mit den Integrationsämtern, und diewiederum gestalten die Arbeitsplätze entsprechend mit.Auch die Ausbildung von Menschen mit Behinderungerfolgt samt aller erdenklichen Hilfestellungen. Ent-scheidend ist, dass die gesundheitlichen Grundvoraus-setzungen erfüllt sind und die notwendigen Qualifikatio-nen gegeben sind. Wir müssen mit solchen gutenBeispielen werben, damit unsere gesamte Gesellschaftdavon lernt.
Gemäß dem Koalitionsvertrag werden wir die Arbeitder Schwerbehindertenvertretungen in Zukunft unter-stützen. Unter anderem geschieht das zurzeit schondurch die Initiative Inklusion. Diese von der Bundesre-gierung mit den Ländern, Kammern, Integrationsämtern,Hauptfürsorgestellen und der BA entwickelte Initiativesoll vor allem jugendlichen Menschen mit Behinderungden Eintritt in das reguläre Arbeitsgeschäft erleichtern.Bis 2016 werden in diesem Programm 100 MillionenEuro ausgegeben, die aus dem Ausgleichsfonds kom-men; davon haben wir heute hier ja schon mehrfach ge-hört. In eine ähnliche Richtung geht eines der jüngstenProjekte: die Inklusionsinitiative für Ausbildung und Be-schäftigung. Auch diese unterstützt die Bundesregierungmit 50 Millionen Euro aus dem Ausgleichsfonds.Fassen wir zusammen: Der 2011 eingeführte Natio-nale Aktionsplan setzt bis 2020 die UN-Behinderten-rechtskonvention in Deutschland um. Die meisten Maß-nahmen wurden bis Ende der 17. Wahlperiodeangeschoben, einige sogar abgeschlossen. Die heutigeDebatte allerdings zeigt, dass wir hier noch viel zu tunhaben. Lassen Sie uns das Bundesteilhabegesetz ge-meinsam auf den Weg bringen! Dafür möchte ich wer-ben.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Lagosky. – Sie sind noch
nicht der letzte Redner in dieser Debatte.
Das letzte Wort hat vielmehr Dr. Martin Rosemann
für die SPD.
Frau Präsidentin! Es ist schön, hier auch einmal das
letzte Wort zu haben.
Das allerletzte Wort haben Sie nicht; das habe ich.
Aber Sie haben fast das letzte Wort.
Das allerletzte Wort haben Sie; das habe ich mirschon gedacht. – Sehr geehrte Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich will mit einer persönli-chen Bemerkung beginnen. Ich selber habe seit meinerGeburt eine Körperbehinderung: Mein rechtes Bein ist16 Zentimeter kürzer als das linke; an der rechten Handhabe ich nur drei Finger. Meine Erfahrung vor allem alsKind und Jugendlicher war immer: Ich wollte einfachgenauso mitmachen wie die anderen auch, vor allembeim Fußball. Allen Menschen mit Behinderungen wel-cher Art auch immer, die ich im Laufe meines Lebenskennengelernt habe, ging es genauso. Sie wollten keineSonderbehandlung, schon gar kein Mitleid,
sondern sie wollten einfach mitmachen und dabei seinwie die anderen auch. In diesem Geist ist ja auch dieUN-Behindertenrechtskonvention verfasst. Deswegenist heute einfach ein guter Tag, zu sagen: HerzlichenGlückwunsch zu fünf Jahren UN-Behindertenrechtskon-vention!
Bei Geburtstagen sollte man vielleicht auch etwasüber die Väter und Mütter sagen. Deswegen will ich,nachdem vorhin Herrn Hüppe zu Recht für seine Arbeitgedankt und er für sie gelobt worden ist, auch derjenigenfür ihre Arbeit danken, die damals, als die UN-Behinder-tenrechtskonvention von Deutschland unterschriebenwurde, die Beauftragte der Bundesregierung war, näm-lich Karin Evers-Meyer.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2199
Dr. Martin Rosemann
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Man muss immer noch ein bisschen weiter zurückgehen;alles hat ja Ursachen. So will ich auch den Vater desSGB IX, Karl Hermann Haack, nicht verschweigen.Auch ihm möchte ich für seine Arbeit damals unter Rot-Grün danken.
Natürlich wissen wir alle: Bei der Umsetzung derUN-Konvention gibt es Licht und Schatten. Deshalb istes aus meiner Sicht von zentraler Bedeutung, dass sichdie Große Koalition eine umfassendere Reform der Ein-gliederungshilfe im Rahmen des Bundesteilhabegesetzesvorgenommen hat. Das ist eines der wichtigsten undgrößten Projekte in dieser Legislaturperiode. Technischgeht es nur darum, das Bundesteilhabegesetz im SGB IXals eigenständigen Leistungsbereich zu verankern. Esgeht also um nichts weiter als die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in ein bundesdeutschesTeilhaberecht. In Wirklichkeit geht es dabei aber umnicht weniger als eine völlig neue Ausrichtung der Poli-tik für behinderte Menschen, nämlich von der Fürsorgezur Teilhabe.
Das verlangt von vielen ein völliges Umdenken, einneues Denken nach dem Motto: Behindert ist man nicht,behindert wird man. – Besonders wichtig ist mir wieauch vielen, die vor mir gesprochen haben, die Teilhabevon behinderten Menschen am ersten Arbeitsmarkt. Da-für braucht es mehr Durchlässigkeit. Das bedeutet fürmich aber auch, auf all diejenigen Regelungen kritischzu schauen, die bisher eine Beschäftigung am ersten Ar-beitsmarkt gegenüber einer Beschäftigung in einerWerkstatt für behinderte Menschen diskriminieren.Ich habe in meinem Wahlkreis ein Projekt, bei demsich Leute darum bemühen, Beschäftigungsverhältnisseam ersten Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschenzu schaffen.
Das ist in der Praxis mit großem Aufwand verbunden: Esgeht darum, geeignete Stellen zu finden; es geht darum,Stellen entsprechend auszugestalten; es geht darum, dieMenschen in dieser Beschäftigung auch immer weiter zubegleiten. Dafür stehen bisher noch nicht ausreichendInstrumente zur Verfügung.Meine Damen und Herren, beim Bundesteilhabege-setz muss aus meiner Sicht gelten: Gründlichkeit gehtvor Schnelligkeit.
Das BMAS geht dieses Projekt rechtzeitig an, damit esmit der notwendigen Gründlichkeit vorangetrieben wer-den kann, und die SPD-Bundestagsfraktion begleitet die-sen Prozess auch mit einer eigenen Arbeitsgruppe undbringt, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, Vor-schläge ein. Für uns – ich will das für die SPD-Fraktionnoch einmal ganz deutlich sagen – ist zentral, dass dasBundesteilhabegesetz im Jahr 2016 verabschiedet wird,
dass es im Jahr 2017 in Kraft tritt und dass die Entlas-tungswirkungen für die Kommunen bereits im Jahr 2017beginnen.
Ebenso zentral ist für uns, dass bereits der Prozess derEntwicklung dieses Bundesteilhabegesetzes inklusivsein muss. Das bedeutet: von Beginn an Beteiligung derBehindertenverbände, und nicht nur der großen Ver-bände, sondern auch Beteiligung von Selbsthilfegrup-pen, von Angehörigenvertretungen und von den Men-schen mit Behinderungen selbst. Es darf keine Änderungüber die Köpfe der Betroffenen hinweg geben. Hierfängt die Inklusion an, meine Damen und Herren!
Letzter Satz, Frau Präsidentin: Ich meine, dass wirmit Andrea Nahles und Verena Bentele die beiden richti-gen Frauen an der Spitze dieses Prozesses haben. Ichweiß, beiden ist dies ein Herzensanliegen, ebenso uns alsSPD-Bundestagsfraktion. Wir freuen uns darauf.Herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Damit schließe ich die De-batte.Ich bedanke mich bei allen; denn es wurde, wie ichglaube, heute sehr deutlich: Dies ist nicht nur das Anlie-gen der SPD-Fraktion. Ich hoffe, dass die Gäste auf denTribünen gemerkt haben, dass dieses Parlament auch derOrt für leidenschaftliche Debatten sein kann und ist, De-batten, in denen man zeigt, dass man das Gemeinsame inden Vordergrund stellen will und nicht das Trennende.Nicht nur heute Morgen bei der Debatte zum Völker-mord in Ruanda, sondern auch jetzt konnte man merken,dass hier auch Herzenswärme und Intelligenz zu Hauseist. Vielen Dank für diese intensive Diskussion!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/977 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.
– Ich darf kurz noch einmal um Ihre Aufmerksamkeitbitten.Die Vorlage auf Drucksache 18/972 soll ebenfalls andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-wiesen werden. Dabei ist die Federführung aber strittig.Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Fe-derführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,Bau und Reaktorsicherheit. Die Fraktion Die Linke
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2200 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
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wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit undSoziales. Deswegen müssen wir jetzt darüber abstim-men.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beimAusschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für die-sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist beiZustimmung der Linken und Ablehnung durch CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Fe-derführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,Bau und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Über-weisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist der Überweisungsvorschlag mitden Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DieGrünen bei Ablehnung durch die Linken angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungBeteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfteam maritimen Begleitschutz bei der Hydro-lyse syrischer Chemiewaffen an Bord derCAPE RAY im Rahmen der gemeinsamenVN/OVCW-Mission zur Vernichtung der sy-rischen ChemiewaffenDrucksache 18/984Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsauschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre undsehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin Dr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Bundesregierung wendet sich heutemit der Bitte an Sie, der Entsendung einer Fregatte zurAbsicherung der gemeinsamen Mission der VereintenNationen und der Organisation für das Verbot chemi-scher Waffen zur Vernichtung von syrischen Chemie-waffen zuzustimmen.Uns allen ist der dramatische und tragische Hinter-grund dieser Mission klar: In Syrien tobt seit drei Jahrenein Bürgerkrieg. Wahrscheinlich sind schon über100 000 Menschen getötet worden. Millionen Menschensind auf der Flucht. Immer wieder kommt es zu grauen-haften Verbrechen.Ein unfassbares Ausmaß an Grauen hatte aber dasVerbrechen, das am 21. August 2013 stattfand, als dasRegime Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerunggerichtet hat.
Das war eine Stufe der Barbarei, die wir auf das Aller-schärfste verurteilen.
Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Jan van Aken?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Ja.
Gut.
Frau von der Leyen, Sie haben gerade gesagt, dassdas Regime am 21. August 2013 diese Chemiewaffeneingesetzt hat. Die Vereinten Nationen sagen nichtsdazu, wer sie eingesetzt hat. Sie sagen ausdrücklich: Eskann nicht festgestellt werden, wer sie eingesetzt hat. –Das einzig Konkrete, was sie dazu sagen, ist: Es ist sehrwahrscheinlich, dass es Chemiewaffen aus den Bestän-den der syrischen Armee waren, es ist aber völlig unklar,ob möglicherweise Rebellen diese Waffen eingesetzt ha-ben, nachdem sie sie erobert hatten, oder Assad-Truppenselbst.Da Sie gerade eben gesagt haben, es sei das Regimegewesen, frage ich Sie: Können Sie kurz darstellen, aufwelche Quellen Sie diese Aussage fußen?Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Auf genau den Quellen, die Sie eben zitiert haben,nämlich dass es Chemiewaffen aus den Lagern des Regi-mes waren.
Genau das haben Sie eben angeführt. Ich glaube, einenGrabenkrieg darum zu führen, wer diese Chemiewaffeneingesetzt hat, bringt nichts. Alle Hinweise deuten da-rauf, dass es so ist, wie wir das gesagt haben.
Darüber aber, dass das eine Barbarei gegen die Bevölke-rung in Damaskus gewesen ist, besteht in diesem HohenHaus wohl Einigkeit.
Hunderte von Menschen sind durch diese Angriffeums Leben gekommen, Hunderte von Kindern und Frauen.Menschen mit schwersten Verletzungen und Vergiftun-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2201
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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gen sind in Krankenhäuser eingeliefert worden. Es hatdie Grenzen unserer Vorstellungskraft schier überschrit-ten, als wir gesehen haben, wozu Menschen beim Ein-satz von Chemiewaffen fähig sind. Deshalb sind wirheute alle aufgerufen, diese chemischen Waffen nichtnur zu ächten, sondern mit aller Kraft dabei zu helfen,sie auch zu vernichten.
Die Weltgemeinschaft hat diesen Angriff nicht nurverurteilt, sondern sie hat auch gehandelt, und zwar ge-schlossen und gemeinsam. Jetzt geht es darum, dass wirkonkret werden, dass wir alle dazu stehen, was wir ge-meinsam beschlossen haben. Für diesen Einsatz ist dasamerikanische Spezialschiff „Cape Ray“ vorgesehen,das in der Lage ist, auf hoher See eine Hydrolyse dieserchemischen Kampfstoffe durchzuführen. Nach der Hy-drolyse entsprechen die chemischen Kampfstoffe han-delsüblichen Chemieabfällen gewerblicher Art. DiesesVerfahren läuft über mehrere Wochen und Monate aufhoher See. Dabei muss die „Cape Ray“ geschützt wer-den. Die Gefährdungslage im Mittelmeer ist zwar ge-ring, aber die Symbolkraft dieses Schiffes ist hoch.Uns ist wichtig, dass im Rahmen der Resolution 2118des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nicht nur dieBeseitigung der Chemiewaffen verbindlich gefordertwird, sondern auch die Unterstützung dieser Mission.Deshalb wollen wir nicht nur eine Fregatte entsenden,sondern wir bieten auch Verbrennungskapazitäten für dieAbfälle, Laborfähigkeiten und finanzielle Unterstützungan.Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhangein Wort zu dieser Mission, die eigentlich zusammen mitRussland durchgeführt werden sollte. Nach diesemschrecklichen Verbrechen in Syrien wurde zwischen denUSA und Russland eine Rahmenvereinbarung getroffen.Auf dieser Basis ist die gemeinsame Resolution des UN-Sicherheitsrates entstanden. Ursprüngliche Idee war es,dass der Begleitschutz der „Cape Ray“ als gemeinsameOperation der NATO und Russlands durchgeführt wird.Angesichts des russischen Vorgehens auf der Krim hatdie NATO die militärische Kooperation mit Russlandausgesetzt. Ich finde, das ist verständlich.
Bei dieser gemeinsamen Mission unter dem Dach derVereinten Nationen und der OVCW geht es auch darum,sicherzustellen, dass sich die Stärke des Völkerrechts ge-gen das brutale Recht des Stärkeren in Syrien durchsetzt.
Ursprünglich hat Russland am Zustandekommen dieserResolution mitgewirkt. Das heißt, es teilt unser Inte-resse, dass auf Basis des Völkerrechts diese syrischenChemiewaffen vernichtet werden. Vor diesem Hinter-grund finde ich es wichtig – das ist unser aller Hoff-nung –, dass sich Russland darauf besinnt, dass auch inanderen Regionen der Welt das Völkerrecht voll undganz zu respektieren ist.
Wenn dies wieder der Fall sein sollte, dann, so hoffe ich,wird auch wieder ein gemeinsames Vorgehen von NATOund Russland möglich sein.Zwei Gedanken möchte ich noch mit Ihnen teilen. DieKrim-Krise bindet zurzeit fast die gesamte Aufmerksam-keit. Aber der Bürgerkrieg in Syrien tobt immer weiter,und die Weltgemeinschaft hat noch immer keine Lösungfür diesen Konflikt gefunden. Bei aller Notwendigkeitder Konzentration auf die Krim-Krise dürfen wir dasElend der syrischen Bevölkerung nicht vergessen undunsere Aufmerksamkeit nicht von Syrien abwenden.Hier muss gemeinsam mit der Weltgemeinschaft eineLösung gefunden werden.
Wir haben jetzt die Chance, unseren Beitrag zu denAbrüstungsbemühungen der Weltgemeinschaft zu er-bringen. Ich hoffe, dass das ganze Hohe Haus – das sageich bewusst mit Blick auf die Linke – dieses Mandat un-terstützt; denn ich finde: Wer in seiner Forderung nachAbrüstung glaubwürdig bleiben will, der darf sich dannbei der praktischen Umsetzung dem auch nicht ver-schließen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Das Wort hat
Christine Buchholz für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heutegeht es um syrische Chemiewaffen. Woher kommt dasGiftgas eigentlich? Zwischen 1982 und 1993 warendeutsche Firmen an der Lieferung von Material für syri-sche Giftgasfabriken beteiligt.
Die Organisation für das Verbot chemischer Waffenübermittelte kürzlich 50 Namen der beteiligten deut-schen Firmen. Doch die Bundesregierung weigert sich,die Namen der Firmen bekannt zu geben.
Es geht noch weiter: Deutsche Firmen haben zwi-schen 1998 und 2011 350 Tonnen an chemischen Sub-stanzen, aus denen Giftgas hergestellt werden kann – so-genannte Dual-Use-Substanzen – an das Assad-Regimegeliefert. Die Bundesregierung wiegelt auch in diesemPunkt ab.
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2202 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Christine Buchholz
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Nun geht es endlich um die Zerstörung von Chemie-waffen.
Die Linke begrüßt, dass die Vernichtung der Reste dessyrischen Giftgases in Deutschland erfolgen soll.
Sie wären durchaus glaubwürdiger, Frau von der Leyen,wenn Sie die Exporte von chemiewaffenfähigem Mate-rial an Länder, die die Chemiewaffenkonvention nichtunterzeichnet haben, unverzüglich stoppen würden.
In der heutigen Debatte geht es um ein Mandat fürden Einsatz eines Kriegsschiffes der Marine. Es soll sicham Schutz des US-Marineschiffes „Cape Ray“ im Mit-telmeer vor Italien beteiligen. Auf diesem Schiff findetdie erste Stufe der Vernichtung des syrischen Giftgases,die sogenannte Hydrolyse, statt.Ursprünglich hieß es, es handele sich um einen Ein-satz im Rahmen des NATO-Russland-Rates. Dannwurde die Kooperation mit Russland seitens der NATOaufgekündigt – wegen der Krim-Krise. Ich glaube nicht,dass das das ganze Verfahren sicherer gemacht hat.
Jetzt haben wir eine Mission, die unter dem Kom-mando der USA steht. Auch der Mandatstext zeigt, dasses sich vor allem um eine US- und NATO-Operationhandelt.
Dazu gibt es noch Fragen: Warum beispielsweise wer-den als Operationsgebiet das Mittelmeer und der Nordat-lantik plus angrenzende Seegebiete ausgewiesen? Bisherhieß es, die deutsche Fregatte soll die „Cape Ray“ nurauf ihrem kurzen Weg von dem italienischen HafenGioia Tauro in internationale Gewässer vor der italieni-schen Küste begleiten. Meine Damen und Herren, dasVorgehen der Regierung macht misstrauisch.
Hinzu kommt, dass, wie wir wissen, der Hydrolyse-prozess auf der „Cape Ray“ bereits durch eine US-Spezi-aleinheit an Bord und einen inneren Ring aus US-Kriegsschiffen geschützt wird. Darum soll ein Ring ausKriegsschiffen verschiedener anderer Staaten gelegtwerden, darunter die Fregatte „Augsburg“.Ich meine, es handelt sich beim Einsatz dieser Fre-gatte – auch militärisch – vor allem um eine symbolischeAktion. Doch die entscheidende Frage ist: ein Symbolfür was?
Die Antwort liegt auf der Hand: für die neue außenpoliti-sche Strategie der Bundesregierung.
Sie schicken die Bundeswehr in mehr internationale Ein-sätze und nennen das Bündnistreue. Sie wollen ihre mili-tärischen Fähigkeiten ausbauen und testen, und Sie wol-len die Öffentlichkeit daran gewöhnen; denn nochimmer lehnen drei Viertel der Bevölkerung die Aus-landseinsätze der Bundeswehr ab.
– Nun regen Sie sich aber nicht auf! Sie haben gesterneinen weiteren Bundeswehreinsatz, nämlich den in So-malia, beschlossen,
und Sie wollen nächste Woche nicht nur die Entsendungder Fregatte ins Mittelmeer beschließen, sondern auchnoch einen neuen Einsatz in der ZentralafrikanischenRepublik. Ohne uns!
Meine Damen und Herren, meine Fraktion diskutiertdas vorliegende Mandat noch.
Mir persönlich ist noch kein Argument bekannt gewor-den, das mich bewegen könnte, meine Absicht, mit Neinzu stimmen, zu ändern.Ich fasse zusammen: Erstens. Es ist gut, dass die Ver-nichtung der Reste des syrischen Giftgases in Deutsch-land erfolgen soll.
Zweitens. Statt die Bundeswehr in den nächsten Ein-satz zu schicken, sollten Sie Ihren Beitrag zur Abrüstungleisten.
Klären Sie endlich die Beteiligung von deutschen Fir-men an der Lieferung von Material und Substanzen fürdie syrischen Giftgasfabriken auf!
Stoppen Sie die Lieferung von solchen Chemikalien andie fünf Länder, die keine Vertragsstaaten der Chemie-waffenkonvention sind!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2203
Christine Buchholz
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Nur so wird glaubwürdig garantiert, dass Chemiewaffennicht ihre tödliche Bestimmung finden: weder in Syriennoch irgendwo sonst auf der Welt.
Danke, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist Staats-
minister Michael Roth.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es dürfte neben der Ukraine derzeit keine Kri-senregion weltweit geben, die uns derart aufwühlt wieSyrien, ja, gelegentlich fassungslos macht angesichtsdessen, was Menschen dort zu erleiden haben, was einRegime, eine Diktatur, Bürgerinnen und Bürgern des ei-genen Landes antut.Sie werden sich vielleicht noch an die letzte Rede vonAußenminister Frank-Walter Steinmeier zu Syrien hierim Deutschen Bundestag erinnern. Wir standen damalskurz vor Beginn der Genfer Friedensverhandlungen. Ichgebe zu: Wir waren damals nicht sonderlich optimis-tisch, aber wir haben eine Chance für einen politischenProzess gesehen, der endlich das furchtbare Leid derMenschen in Syrien beenden oder doch zumindest diebrutale Gewalt verringern würde. Diese Chance wolltenwir gemeinsam mit unseren Partnern nutzen.Wir haben auch bei den Oppositionellen in Syrien– ob sie nun bewaffnet oder unbewaffnet sind – entschie-den dafür geworben, dass sie diese Chance zum Friedenergreifen. In Genf haben die Vertreter der NationalenKoalition dann auch – das muss man sagen – sehr kon-struktiv mitverhandelt. Es war aber wieder einmal dasAssad-Regime, das den Prozess missbraucht hat, umZeit zu gewinnen.
– Wenn Sie mir, liebe Vertreter der Linkspartei, schonnicht glauben wollen: Ich zitiere hier den Sondergesand-ten der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga,Lakhdar Brahimi. Der hat dies nämlich sehr deutlich for-muliert. Er als Vertreter der Arabischen Liga und derVereinten Nationen – nicht die Bundesregierung und auchnicht Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier –hat zum Ausdruck gebracht, er werde so lange keinedritte Gesprächsrunde einberufen, bis er sicher sein könne,dass die Regierungsseite ernsthaft verhandele. Wir müssenhier die Verantwortung schon klar und deutlich benen-nen.
Leider deutet derzeit wenig darauf hin, dass Assadsich kompromissbereit zeigen wird. Im Gegenteil: Er be-reitet seine Wiederwahl auf Grundlage einer pseudode-mokratischen Gesetzgebung vor, die praktisch keine Ge-genkandidaten zulässt, und er setzt ganz offenbar darauf,eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu suchen. DerDiktator setzt die Vernichtung seines eigenen Volkeskaltblütig fort.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine militärischeLösung des Syrien-Konflikts kann und darf es nicht ge-ben. Der Versuch, einen Sieg zu erzwingen, würde dieSpirale der Gewalt noch weiter drehen und noch mehrMenschenleben fordern. Eine solche Politik ist verant-wortungslos und menschenverachtend. Ich will nocheinmal in Erinnerung rufen: Assads Regime, die Armeehat ganze Stadtteile ausgehungert und in die Kapitula-tion gezwungen. Assad lässt Wohnviertel bombardieren.Alleine aus Aleppo ist wegen dieser grausamen Kriegs-führung seit Beginn des Krieges eine halbe Million Men-schen geflohen. Die Regierung behindert konsequentden humanitären Zugang in solche Gegenden des Lan-des, in denen sie eine oppositionelle Gesinnung vermu-tet.Wie Sie alle wissen, schreckt das Assad-Regime auchnicht davor zurück, Giftgas gegen die Zivilbevölkerungeinzusetzen; Frau Bundesministerin von der Leyen hatdies eben geschildert. Über 1 400 Menschen starben am21. August des vergangenen Jahres bei den Giftgasan-griffen auf die Vororte von Damaskus. Eine Untersu-chung der Vereinten Nationen, liebe Kolleginnen undKollegen der Linkspartei, hat ergeben, dass industriellgefertigte Kampfstoffe aus einem groß angelegten Che-miewaffenprogramm zum Einsatz gekommen sind. DieBundesregierung ist damals zu der Einschätzung gekom-men, dass als Täter nur die syrische Armee infragekommt.
An dieser Einschätzung, die unsere engsten Verbündetenteilen, hat sich nichts geändert.
Lassen Sie mich noch einmal in Erinnerung rufen:Derzeit sind innerhalb Syriens fast 6 Millionen Flücht-linge unterwegs. In den Nachbarländern gibt es 2,6 Mil-lionen Flüchtlinge, die zum Teil unter kaum zumutbarenBedingungen leben müssen. Die Auswirkungen diesesBürgerkriegs sind also nicht nur in Syrien selbst auf dasSchmerzhafteste zu spüren. Vielmehr ist die gesamte Re-gion in einem mehr als fragilen Zustand. Sie ist schwers-ten Belastungen ausgesetzt. Eine weitere Eskalation derGewalt in Syrien droht die konfessionellen Spannungenzwischen Sunniten, Schiiten und Christen in der ganzenRegion anzuheizen. Hier sitzen viele versierte Außenpo-litikerinnen und Außenpolitiker, die sich seit Jahren mitdiesem Thema befassen und die wissen, welche Spreng-kraft diese Region birgt. Wir müssen alles dafür tun, umdie Deeskalation voranzutreiben. Aber es gibt nur sehrwenige Hoffnungszeichen.Die Stabilität der Nachbarländer, insbesondere des Li-banon und des Irak, würde in erheblichem Maße gefähr-det, wenn wir jetzt nicht endlich zu einer StabilisierungSyriens kommen.
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2204 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Staatsminister Michael Roth
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Auch in der Türkei sind rund 850 000 Flüchtlinge unter-gekommen.
Ich werde mich persönlich in Bälde über die Zustände inden türkischen Flüchtlingslagern informieren.Die Bundesregierung setzt sich weiterhin intensiv füreine friedliche Beendigung des Konflikts in Syrien ein.
Kollege Roth, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Hänsel?
Bitte.
Danke schön. – Herr Staatsminister, Sie haben über
den Konflikt und den grausamen Krieg in Syrien gespro-
chen. Aber ich vermisse von Ihnen einen Satz über die
massive Unterstützung, insbesondere durch Waffenliefe-
rungen, für Rebellen, fundamentalistische Gruppen,
Dschihadisten und Terroristen vonseiten Saudi-Arabiens
in Zusammenarbeit mit den USA. Es ist doch genauso
ein Verbrechen, schweres Gerät an die genannten Grup-
pen zu liefern, die diesen Bürgerkrieg anheizen. Dazu
habe ich von Ihnen bisher kein einziges Wort in der Dar-
stellung dieses Krieges gehört.
Mich interessiert Ihre Meinung zu dem veröffentlich-
ten YouTube-Video, aus dem hervorgeht, dass Personen
im türkischen Außenministerium über einen möglichen
fingierten Angriff von syrischer Seite nachgedacht ha-
ben, und das im Hinblick darauf, dass Bundeswehrsolda-
ten in der Türkei stationiert sind, die jederzeit in einen
solchen Konflikt hineingezogen werden können.
Das sind für mich brennende Fragen. Darauf hätte ich
von Ihnen gerne eine Antwort.
Sehr verehrte Frau Kollegin, was mich eher verstört,ist, dass Ihnen kein noch so hanebüchenes Argumentrecht ist, um Gründe dafür zu finden, diesen Einsatz zuverhindern bzw. abzulehnen, obwohl er konkret dazubeiträgt, Chemiewaffen zu vernichten. Das ist der Auf-trag. Darüber diskutieren wir heute im Deutschen Bun-destag.
Selbstverständlich haben wir auch gegenüber denVerantwortlichen der Türkei deutliche Worte gefundenund darauf hingewiesen, dass das bisherige Mandat derNATO ausschließlich auf Selbstverteidigung und Unter-stützung der Verteidigung der Türkei ausgerichtet ist. Siemüssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Türkeibislang 72 Zivilisten aufgrund von Angriffen Syriensverloren hat. In der Türkei sind derzeit – darauf habe ichbereits hingewiesen – über 800 000 Flüchtlinge aus Sy-rien untergebracht. Trotz dieser dramatischen Lage hatsich das NATO-Mitglied Türkei verantwortungsbewusstund besonnen verhalten. Der Bundestag kann sich daraufverlassen, dass wir weiterhin in allen unseren Gesprä-chen mit den türkischen Verantwortlichen darauf hinwei-sen, dass wir vom NATO-Mitglied Türkei, sollte denneine Änderung der bisherigen Strategie vorgesehen sein,eine zeitnahe Aufnahme von Gesprächen mit denNATO-Bündnispartnern erwarten. Die bisherigen Ge-spräche haben nicht erkennen lassen, dass die Türkei ge-willt ist, ihr verantwortungsbewusstes und besonnenesVerhalten aufzugeben. Das müssen wir auch in dieserHinsicht erst einmal würdigen, liebe Kolleginnen undKollegen.
Wir müssen aber auch realistisch sein. Ich möchtenoch einmal an dem Punkt anknüpfen, den ich vorhinzum Ausdruck gebracht habe. Wann der Wiedereinstiegin Friedensverhandlungen gelingen kann, ist derzeitüberhaupt nicht absehbar. Das heißt aber doch nicht,dass wir zur Untätigkeit verdammt sind – ganz im Ge-genteil. Deshalb setzen wir uns direkt und unmittelbarfür diejenigen ein, die unter den Grausamkeiten desKriegs leiden.Seit Beginn der Krise in Syrien im Jahr 2011 hat dieBundesregierung für die Bewältigung der politischenund humanitären Katastrophe fast 500 Millionen Eurobereitgestellt. Unsere Hilfe dient insbesondere den Men-schen, die innerhalb Syriens vor den Kampfhandlungenfliehen mussten. Sie werden mit Lebensmitteln und Me-dikamenten versorgt. Flüchtlinge, die über die Grenze inden benachbarten Libanon geflohen sind, erhalten dortVersorgung und eine Unterkunft. Aber täglich steigt dieZahl derer, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.Daher wollen wir dieses humanitäre Engagement inten-siv weiterführen und möglichst ausbauen.Insofern bitte ich Sie heute bei dieser Gelegenheit,liebe Kolleginnen und Kollegen, um Unterstützung.Ohne weitere finanzielle Unterstützung – dazu brauchenwir das Ja des Deutschen Bundestages – werden wir diehumanitären Hilfsleistungen leider nicht ausbauen kön-nen. Ich wäre sehr daran interessiert, wenn sich wirklichalle Fraktionen bereit erklären könnten, uns in unseremBemühen, die humanitären Hilfsleistungen auszubauen,zu unterstützen.
Wir beschränken uns aber auch nicht darauf, die hu-manitären Folgen des Bürgerkriegs zu lindern. Wir wol-len auch verhindern, dass es erneut zu Gräueltaten gegendie syrische Bevölkerung kommt. Deshalb beteiligt sichdie Bundesregierung an dem Programm zur Vernichtungder syrischen Chemiewaffen. Wir wollen den abermali-gen Einsatz dieser Waffen verhindern. Aber auch das istkein einfacher Prozess. Das Assad-Regime hat nach
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2205
Staatsminister Michael Roth
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Monaten des Verzögerns im März einige Teile seinesGiftgases außer Landes transportiert. Die Bundesregie-rung drängt zusammen mit ihren Verbündeten, vor allemden USA, auf diplomatischem Wege auf einen zügigenund vollständigen Abtransport der Chemiewaffen; dennDeutschland hat ein hohes Interesse daran, dieses bei-spiellose Abrüstungsvorhaben erfolgreich und fristge-recht abzuschließen. Wir haben das notwendige Know-how und die notwendigen Kapazitäten, um uns entschie-den und substanziell einzubringen.In den vergangenen Monaten haben wir bereits Ver-antwortung übernommen. Wir haben umfangreiche lo-gistische und finanzielle Unterstützung für die Organisa-tion für das Verbot chemischer Waffen, die OVCW,geleistet. Wir haben darüber hinaus angeboten, Abbau-stoffe aus den zerstörten syrischen Chemiewaffen sicherund umweltverträglich in einer Spezialanlage im nieder-sächsischen Munster zu entsorgen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Resolution 2118des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ruft dieWeltgemeinschaft auf, die Vereinten Nationen und dieOrganisation für das Verbot chemischer Waffen bei derVernichtung der syrischen Chemiewaffen zu unterstüt-zen. Die USA beabsichtigen, die gefährlichsten syri-schen Chemiewaffen auf einem speziell umgerüstetenUS-Schiff zu neutralisieren. Wir wollen einen weiterenBeitrag leisten. Eine Fregatte der deutschen Marine sollsich an dieser multinationalen Begleitschutzoperationbeteiligen.
Kollege Roth, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Ströbele?
Bitte.
Danke, Herr Kollege Roth, dass Sie mir die Gelegen-
heit geben, auf einen Punkt hinzuweisen. – Sie sagen,
dass die UNO alle Nationen aufgefordert hat, bei der Be-
seitigung dieses Giftgases zu helfen. Wieso schließen
Sie plötzlich Russland von der Beteiligung an dieser Ak-
tion zur Beseitigung der Chemiewaffen aus? Ich denke,
dies ist ein Erziehungsversuch gegenüber Russland, ein
Versuch am falschen Objekt. Hier passt es überhaupt
nicht. Wenn es wirklich um eine Aktion geht nach dem
Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ – hier vielleicht
„Giftgas zu Frischluft“, wie auch immer man dies be-
zeichnen will –, dann muss man auch konsequent sein
und muss jeden willkommen heißen, der dabei mitwirkt.
Man kann nicht den einen oder anderen aus ganz ande-
ren politischen Gründen ausschließen.
Herr Kollege Ströbele, lassen Sie mich zunächst da-
rauf hinweisen, dass sich eine Reihe von NATO- und
Nicht-NATO-Staaten am Begleitschutz für das US-
Schiff beteiligen: Belgien, Frankreich, Finnland, Grie-
chenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, Portugal,
die Türkei. Sie wissen genau, dass es dazu derzeit gar
keine Bereitschaft Russlands gibt. Die Russen sind daran
nicht beteiligt.
Darüber hinaus wurde aus dem NATO-Russland-
Engagement – der NATO-Russland-Rat ist jetzt suspen-
diert worden; das wissen Sie ganz genau, Sie kennen
auch die Gründe – ein multinationaler Einsatz gemacht.
Alle Staaten, die dazu bereit sind, wurden eingeladen,
sich an diesem Engagement zu beteiligen. Kollege
Ströbele, wir schließen niemanden aus, aber die Zusam-
menarbeit zwischen der NATO und Russland in dem ent-
sprechenden Rat ist suspendiert. Sie sollten also keine
Vermutungen darüber anstellen, dass wir jemanden aus-
schließen wollen. Wir wollen diesen Einsatz zu einem
erfolgreichen Abschluss bringen.
Ursprünglich war das – ich will das noch einmal er-
läutern, Herr Kollege Ströbele – eine gemeinsame Ope-
ration der NATO und der Russischen Föderation. Wir
hätten eine solche gemeinsame Operation sehr begrüßt.
Aber vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen
Vorgehens Russlands in der Ukraine – auch Sie haben
die aktuellen Entwicklungen zur Kenntnis nehmen müs-
sen – ist ein solcher gemeinsamer Einsatz nun nicht
mehr möglich. Die Tür ist aber prinzipiell offen für alle
Teilnehmer weit über den NATO-Rahmen hinaus; ich
habe Ihnen eben eine Reihe von Staaten genannt, die
hier engagiert sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden mit die-
sem Einsatz einmal mehr unsere Verlässlichkeit als Part-
ner demonstrieren, eine bislang beispiellose Abrüstungs-
maßnahme unterstützen, und nicht zuletzt dabei helfen,
das syrische Volk vor der Armee des Diktators Assad zu
schützen. Im Namen der Bundesregierung bitte ich Sie
deshalb um Ihre Zustimmung zu diesem Mandat.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gehrcke
das Wort.
Herr Staatsminister, ich möchte Ihre Argumente gerneverstehen; denn bei besseren Argumenten würde ichmeine Meinung möglicherweise ändern. Ich verstehe esaber einfach nicht: Wenn es nun so war, dass Russlandzu der Aktion der Vernichtung der Chemiewaffen – dasist, wie Sie zu Recht sagen, eine Abrüstungsaktion – ge-bracht worden ist, vielleicht sogar unter dem Druck derWeltgemeinschaft oder aus eigenen Motiven, warum istRussland dann vor Vollendung dieser Aktion über die
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2206 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Wolfgang Gehrcke
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Suspendierung des NATO-Russland-Rats rausgeschmis-sen worden? Wenn Sie der Auffassung sind, dass Völ-kerrechtsfragen thematisiert werden müssen, dann müss-ten Sie auch darauf bestehen, dass Russland so weit wiemöglich in diese Aktion einbezogen wird. Deswegenkann ich Ihre Position nicht nachvollziehen. Ich würdedies aber gerne tun. Straft man Russland damit, wennman es daran hindert, in vollem Umfang an der Aktion,die Sie über den NATO-Russland-Rat zugesagt haben,mitzuwirken, und dieses Übereinkommen aufkündet? Istdas wirklich eine angemessene und sinnvolle Strafe?
Kollege Roth, Sie haben, wenn Sie das wünschen, die
Möglichkeit, zu erwidern.
Vielen Dank. – Zu Beginn bitte ich Sie darum, auch
sprachlich abzurüsten.
Die Kurzintervention des Kollegen Gehrcke gibt mir
Gelegenheit, auf folgenden Punkt hinzuweisen: Ange-
sichts der derzeitigen Aktivitäten Russlands von einer
Abstrafaktion zu sprechen, das entbehrt wirklich jeder
Grundlage und macht – sehen Sie mir diesen flapsigen
Begriff nach – den Bock zum Gärtner. Ich finde es un-
kollegial und merkwürdig, dass Sie hier mit einer so ein-
seitigen Argumentation eines versuchen: Ihnen ist kein
Argument zu schade und zu schlecht, um die fraktions-
übergreifende Einmütigkeit, dass es sich hierbei um ei-
nen substanziellen Beitrag zur Vernichtung von Chemie-
waffen handelt, infrage zu stellen.
Es handelt sich hierbei auch um einen Beitrag, eine
Krisenregion, in der es zu schlimmsten Menschenrechts-
verletzungen kommt, halbwegs zu stabilisieren. Wir be-
finden uns hier doch in einer internationalen Staatenge-
meinschaft, die sich sehen lassen kann.
Ich will noch einen allerletzten Punkt benennen, weil
Sie ja auf die Verantwortung Russlands hingewiesen ha-
ben. Die militärische Absicherung innerhalb der syri-
schen Territorialgewässer wurde bisher ausschließlich
von Russland übernommen.
Der russische Kreuzer – das wissen Sie sicherlich auch –
befindet sich aber derzeit zu Wartungsarbeiten in Zy-
pern. Weil sich Russland zurückgezogen hat, befürchten
wir, dass es möglicherweise zu weiteren Verzögerungen
kommt. Reden Sie also hier nicht von einer Strafaktion,
Herr Kollege Gehrcke!
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun dieKollegin Brugger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am21. August letzten Jahres verloren weit über 1 000 Men-schen auf qualvolle Art und Weise ihr Leben. Viele vonihnen erstickten elendig. Unzählige Syrerinnen und Sy-rer, die den grausamen Giftgasanschlag in der Nähe vonDamaskus überlebt haben, sind heute blind, von den Ver-brennungen entstellt oder krebskrank.Der 21. August 2013 war der dunkelste Tag im anhal-tenden Grauen des syrischen Bürgerkriegs. Dieses Ver-brechen gegen die Menschlichkeit hat die Welt zutiefsterschüttert.
Die internationale Gemeinschaft hat diesen Anschlagmit der UN-Resolution 2118 im September 2013 aufsSchärfste verurteilt. Der UN-Sicherheitsrat beschlosseinstimmig, dass das gesamte syrische Chemiewaffen-arsenal herausgegeben und vernichtet werden muss. DieZerstörung dieser menschenverachtenden und grausa-men Waffen ist ein wichtiger und richtiger Schritt.
Wir Grüne begrüßen es ausdrücklich, dass Deutsch-land sich an der Vernichtung beteiligen will und inMunster 370 Tonnen der zuvor auf hoher See zersetztenund verdünnten Chemikalien umweltgerecht verbranntwerden sollen. Wir Grüne haben die Bundesregierungbereits im Herbst letzten Jahres aufgefordert, sich jen-seits finanzieller Unterstützung an diesen Vernichtungs-aktivitäten zu beteiligen.
Da haben Sie erst so ein bisschen herumgedruckst. Aberumso besser, dass Sie sich jetzt dafür entschieden haben;denn wir haben in Deutschland die nötige Fachexpertiseund in Munster eine weltweit führende Verbrennungsan-lage, die auf Chemiewaffen spezialisiert ist.Die Bundesregierung legt heute ein Mandat vor, dasdie maritime Absicherung des Hydrolysevorgangs aufdem US-amerikanischen Schiff „Cape Ray“ und denSchutz beim Abtransport der chemischen Reststoffe zuden Vernichtungsanlagen beinhaltet. Mit der Entsendungeiner Fregatte will Deutschland sich an dieser Missionder Vereinten Nationen und der OVCW in einer breitenKoalition mit anderen Staaten beteiligen. Ziel dieserMission ist es, den Auftrag der Vereinten Nationen um-zusetzen und ein für alle Mal die grauenhaften syrischenChemiewaffen zu zerstören. Mir fällt kein plausibles Ar-gument ein, warum man diesem Vorhaben nicht zustim-men kann. Daher unterstützen wir Grüne dieses Mandat.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2207
Agnieszka Brugger
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Ich frage mich ernsthaft, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Linkspartei, was man gegen einen Einsatzhaben kann, der Schutz bei der Zerstörung von Massen-vernichtungswaffen gewährleistet.
Die Vernichtung der Chemiewaffen darf nicht darüberhinwegtäuschen: Die Zivilbevölkerung in Syrien leidetimmer noch auf das Schlimmste unter dem gnadenlosenBürgerkrieg, in dem immer noch Gräueltaten, Mordeund Menschenrechtsverletzungen verübt werden. Einesist ganz klar: Auch wenn bei der Vernichtung der syri-schen Chemiewaffen mit der Regierung zwangsweisezusammengearbeitet werden muss, kann das Assad-Re-gime durch diese Aktion mitnichten rehabilitiert werden.Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,trotz der breiten Zustimmung kann ich Ihnen ein paarkritische Worte nicht ersparen. Deutschland muss sichhier nicht nur aus humanitärer Sicht engagieren, sondernDeutschland trägt auch aufgrund seiner Exportpolitikgroße Verantwortung. Deutsche Unternehmen habennach Angaben der OVCW eine große Rolle beim Auf-bau des syrischen Chemiewaffenprogramms gespielt.Von 1982 bis 1993 gab es 50 Lieferungen deutscher Fir-men: Steuerungsanlagen, Pumpen, Kontrollventile, Gas-detektoren, eine Chemiewaschanlage und 2 400 Tonneneiner Schwefelsäure, die zur Produktion des GiftgasesSarin genutzt werden kann. Das ist erschreckend.
Die schwarz-rote Bundesregierung weigert sich mitVerweis auf das Geschäftsgeheimnis, offenzulegen, wel-che Unternehmen am Aufbau des syrischen Chemiewaf-fenprogramms mitverdient haben. Meine Damen undHerren, das ist inakzeptabel. An dieser Stelle sind Trans-parenz, Offenheit und lückenlose Aufklärung angesagt.
Zudem wurde bekannt, dass deutsche Unternehmenbis 2011, auch noch bei Beginn des syrischen Bürger-krieges, Chemikalien an Syrien geliefert haben, die so-wohl zivil als auch militärisch nutzbar sind – und dastrotz zahlreicher Expertenwarnungen und obwohlDeutschland die Chemiewaffenkonvention ratifiziert hat.Auch das ist ungeheuerlich.Schwarz-Rot hat im Koalitionsvertrag angekündigt,beim Export von Dual-Use-Chemikalien etwas verbes-sern zu wollen. Abgesehen davon, dass Sie dann jetztauch so schnell wie möglich an dieser Stelle handelnsollten, fordern wir Grüne Sie auf, die Ausfuhr- undEndverbleibskontrolle von Dual-Use-Gütern auf natio-naler und europäischer Ebene zu verschärfen und dabeinicht weiterhin Wirtschaftsinteressen ständig höher zugewichten als Menschenrechte.
Meine Damen und Herren, wir sind es den Opfern desbarbarischen Giftgasanschlages in Syrien schuldig, dasswir alle uns aktiv dafür einsetzen, dass solche Verbre-chen gegen die Menschlichkeit nie wieder verübt werdenkönnen. Diesen Menschen sind wir es schuldig, dass diegrausamsten aller Waffen für immer und ewig vernichtetwerden und dass deutsche Unternehmen nie wieder mitsolchen Programmen Geld verdienen. Diesen Menschensind wir es schuldig, dass Massenvernichtungswaffen– chemische, aber auch biologische und Atomwaffen –niemals wieder gegen unschuldige Zivilistinnen und Zi-vilisten eingesetzt werden. Das bedeutet nicht nur, dieseWaffen zu zerstören, sondern auch, eine Kehrtwende inder Rüstungsexportpolitik, eine Verschärfung der Rüs-tungsexportkontrolle und eine entsprechende Stärkungder Verträge an dieser Stelle einzuleiten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich finde es richtig, dass die Bundesregie-rung dieses Mandat einbringt, und ich bin der Meinung,dass wir uns am Schutz der „Cape Ray“ beteiligen soll-ten. Damit zeigen und dokumentieren wir, dass es unswichtig ist, bei der Konfliktlösung – ich betrachte dieVernichtung der Chemiewaffen als Teil der Konflikt-lösungsstrategie – nicht nur am Rand zu stehen, sondernauch ein aktiver Partner zu sein, einen aktiven Beitrag zuleisten. Ich finde es gut, dass man diesen Weg gefundenhat.Natürlich ist das grausame, schreckliche Verbrechen,das mit dem Einsatz der Chemiewaffen geschehen ist,bis heute nicht restlos aufgeklärt worden, und die westli-che Gemeinschaft ist auch mit Sicherheit nicht so ent-schlossen aufgetreten, wie sich das viele von ihr ge-wünscht haben. Aber die Paradoxie unseres Handelns andieser Stelle, auch die Ankündigungen seitens der Ame-rikaner, was rote Linien angeht, ist vor allem der Kom-plexität des Bürgerkrieges in Syrien geschuldet.Wir haben häufig gesagt – auch ich habe es schon ein-mal an diesem Platz gesagt –, dass eine Konfliktlösungnur ohne Assad möglich ist; das war zu Beginn derDreh- und Angelpunkt fast aller Wortmeldungen hier imHause. Wir sehen aber, dass sich die militärische Situa-tion aufgrund der massiven Intervention seitens Iransund der Hisbollah verändert hat und sich das Blatt in mi-litärischer Hinsicht gewendet hat. Insofern haben wir al-les darangesetzt, eine politische Lösung voranzubringen,und haben, anders als andere, einen militärischen Lö-sungsansatz ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund
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2208 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Philipp Mißfelder
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glaube ich, dass man dieses Mandat nicht als Teil irgend-welcher militärischen Konstrukte missverstehen darf;denn hier geht es in der Tat darum, Abrüstungsmaßnah-men voranzubringen. Nur aus Sicherheitsüberlegungenheraus muss der Transport der Chemiewaffen militärischbegleitet werden. Um ein entsprechendes Mandat wirbtdie Bundesregierung an dieser Stelle.Ich bin der festen Überzeugung, dass es richtig ist, dieGespräche über die Zukunft Syriens fortzusetzen; aberich glaube auch – das ist vorhin in der Debatte mehrfachgesagt worden –, dass gerade die öffentliche Fokussie-rung auf andere Problemfelder und Konfliktherde derWelt dazu geführt hat, dass Syrien und die entsprechen-den Verhandlungen in den letzten Wochen und Monatenetwas in den Hintergrund getreten sind. Wenn man ver-sucht, zu bilanzieren, welche substanziellen Fortschrittees gegeben hat, dann kommt man leider zu dem Ergeb-nis, dass es in den letzten Wochen und Monaten keinesubstanziellen Fortschritte gegeben hat. Die Situation isteher festgefahren.Wenn Sie sich angeschaut haben, mit welcher Kritikder amerikanische Präsident, als er Saudi-Arabien be-suchte, konfrontiert worden ist – Saudi-Arabien sagtnach wie vor, man habe großes Interesse daran, dassAmerika die Dschihadisten und die Aufständischen, diesich aus diesem Teil der Opposition rekrutieren, unter-stützt –, sehen Sie, wie weit die Position auch unsererVerbündeten teilweise von unserer abweicht.Wir müssen die politische Aufmerksamkeit nach wievor darauf richten: Wie kann der Bürgerkrieg gestopptwerden? Welche Zukunft soll das Land haben? Da ist derFrontverlauf in keiner Weise klar. Denn sosehr wir auchSympathie für die syrischen Oppositionellen in Syrienhegen: Wir können nicht die Augen davor verschließen,dass viele Dschihadisten von außen eingesickert sindund dass wir auch im Falle eines Friedensschlusses damitkonfrontiert sein werden, dass Dschihadisten, die viel-leicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, trainiert,ausgebildet und kampferprobt zurück nach Deutschlandkommen. Vor diesen Hintergrund sage ich: Die Komple-xität dieses Problems ist nicht zu überschätzen. Deshalbsollte man sachlich argumentieren; ich fand allerdings,dass das bei den Wortbeiträgen der Linkspartei nicht derFall war.Wir werben für dieses Mandat. Wir wollen uns wei-terhin politisch engagieren, damit Syrien eine friedlicheZukunft hat. Ich traue mir keine Prognose darüber zu, inwelcher personellen Konstellation das stattfinden wirdund wer die Ansprechpartner sein sollen. Ich habe mitzahlreichen Vertretern der syrischen Opposition Gesprä-che geführt. Manche waren mir außerordentlich sympa-thisch; sie setzen sich für eine friedliche, demokratischeund freie Zukunft ihres Landes ein. Andere hingegensehe ich eher als zwielichtige Personen, die etwas ganzanderes im Schilde führen.Insgesamt ist festzustellen: Sosehr uns die Ereignisseauf der Krim, die deutsch-russische Partnerschaft oderauch das Hickhack um die Zukunft des deutsch-russi-sche Verhältnisses beschäftigen, sollten wir nicht verges-sen, dass in Syrien ein Bürgerkrieg tobt, der bisher sehrviele Opfer gekostet hat. Er verdient nach wie vor unserepolitische Aufmerksamkeit.Herzlichen Dank.
Der Kollege Dr. Reinhard Brandl hat nun für die
Unionsfraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Auch wenn es heute um ein Mandat für den Einsatzbewaffneter Streitkräfte geht, ist der ganze Vorgang dochein eindrucksvoller Beleg dafür, dass es sich selbst inscheinbar ausweglosen Situationen immer lohnt, nachdiplomatischen Lösungen zu suchen.
Ich erinnere mich mit Schrecken an den 21. August– das Datum ist mehrfach genannt worden –, an dem dergrausame Konflikt in Syrien durch den Einsatz von Che-miewaffen eine neue Dimension erreicht hat. Ich erin-nere mich genau an die Tage und Wochen danach, in de-nen die Welt um eine Antwort gerungen hat und in denenman teilweise das Gefühl hatte: Ein Militärschlag ist un-ausweichlich.Dann kam die diplomatische Wende: 14. Septemberdie Einigung zwischen USA und Russland, am selbenTag dann die Ankündigung des Beitritts Syriens zumÜbereinkommen über ein Verbot chemischer Waffen,27. September die Resolution des UN-Sicherheitsrates.Bereits wenige Tage später haben die Vorbereitungen fürdie Zerstörung von unglaublichen 1 300 Tonnen Che-miewaffen an 23 Standorten in Syrien begonnen. Das istein riesengroßer abrüstungspolitischer Erfolg, der – unddas ist eigentlich das Bemerkenswerte – mitten in einemtobenden Bürgerkrieg zustande gekommen ist. Das istein deutliches Signal an die Länder, dass die Weltge-meinschaft trotz unterschiedlicher Interessen, trotz Mei-nungsverschiedenheiten in vielen geostrategischenFragen bei einer Frage wie dem Einsatz von Massenver-nichtungswaffen zusammensteht und dass sie, organi-siert in den VN, nicht bereit ist, den Einsatz von Massen-vernichtungswaffen zu dulden, sondern dagegenvorgeht.Ich bin auch stolz auf unser Land, auf Deutschland,weil wir zur Zerstörung dieser Waffen einen wirklichsubstanziellen Beitrag leisten. Dazu gehört eine finan-zielle Unterstützung. Dazu gehört – ganz am Anfang –vor allem die logistische Unterstützung der Inspektoren,die Luftunterstützung, die wir damals geleistet haben.Dazu gehört die Beteiligung deutscher Forschungsinsti-tute an der Analyse der Kampfstoffe. Dazu gehört dieVernichtung von 370 Tonnen Reststoffen in Munster.Und dazu gehört eben auch der Schutz des Spezialschif-fes der USA, auf dem auf hoher See die Kampfstoffe un-
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Dr. Reinhard Brandl
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schädlich gemacht werden. Nur dieser Teil, der Begleit-schutz dieses Spezialschiffes, braucht ein Mandat desDeutschen Bundestages. Aber es ist wichtig, deutlich zumachen, dass das nur ein kleiner Teil eines größeren,umfassenden Beitrags ist, den Deutschland in diesemProzess der Zerstörung der Waffen leistet.Die Bedrohung des Schiffes ist in den Gewässernzwar niedrig, nichtsdestotrotz muss es geschützt werden.Dafür stellen wir von deutscher Seite eine Fregatte undbis zu 300 Soldaten bereit. Abhängig davon, wie schnellder Abtransport der Kampfstoffe aus Syrien möglich ist,kann die ganze Operation bereits in wenigen Monatenbeendet sein.Die spannende Frage in dieser Debatte lautet: Wel-chen Grund versucht die Linke dieses Mal an den Haa-ren herbeizuziehen, um gegen einen solchen Einsatz zustimmen? Ich habe Frau Buchholz genau zugehört. Siehaben aus meiner Sicht ein Sachargument vorgetragen.Sie sagten, Sie seien misstrauisch, weil das Einsatzgebietzu groß gewählt sei. Dieses Sachargument kann ich ent-kräften. Frau Buchholz, Sie wissen, dass die Hydrolyseetwa 90 Tage dauern wird, abhängig von ruhiger See undentsprechenden Witterungsverhältnissen.
Deswegen macht es Sinn – wir wissen ja nicht, wie imMai oder Juni das Wetter sein wird –, dass das Schiffdorthin fährt, wo die See ruhig ist.
Der Eiertanz, den Sie hier aufführen, ist meines Erach-tens lächerlich. Man sieht an Ihrer Rede, wie blind Ideo-logie macht: Selbst wenn es um die Vernichtung vonMassenvernichtungswaffen geht, können Sie nicht zu-stimmen.
Ich hoffe, dass das die Menschen sehen, die Sie gewählthaben, und ich hoffe, dass das auch die Menschen sehen,die Ihnen vielleicht einmal Regierungsverantwortungzutrauen wollen.
So sind Sie aus meiner Sicht nicht in der Lage, Verant-wortung für unser Land zu übernehmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/984 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Sabine Zimmermann ,
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Deckungslücken der Sozialen Pflegeversiche-
rung schließen und die staatlich geförderten
Pflegezusatzversicherungen – sogenannter
Pflege-Bahr – abschaffen
Drucksache 18/591
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Pia Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
Ich bitte Sie, Frau Zimmermann, so lange zu warten,
bis die notwendigen Umgruppierungen auf der rechten
Seite des Hauses abgeschlossen sind, sodass wir der De-
batte folgen können.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gute Pflege ist ein Menschenrecht, nur leidersind wir von der Verwirklichung dieses Menschenrechtssehr weit entfernt. Stattdessen gibt es eine Pflegemisere,und es besteht akuter politischer Handlungsbedarf, undzwar nicht nur hinsichtlich eines besorgniserregendenMangels an Pflegekräften, nein, sondern auch mit Blickauf die wachsende soziale Ungerechtigkeit im Pflegesys-tem. Herr Minister Gröhe – er ist nicht da –, von Ihnenund dem Pflegebeauftragten, Herrn Laumann, sind na-hezu täglich nur wohlfeile Worte zu hören. Aber wenn esum konkrete Vorschläge geht, zum Beispiel wie bei un-serem heutigen Antrag, eines dieser grundsätzlichenProbleme anzugehen, verweigern Sie sich. Darum appel-liere ich an Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete:Gehen Sie mit uns diesen Schritt, schaffen Sie diese un-sinnige Pflege-Bahr-Zusatzversicherung ab!
Ich richte mich insbesondere an die Kolleginnen undKollegen von der SPD und möchte etwas aus einemFlugblatt, das man auch auf Ihrer Internetseite findet, zi-tieren. Ich habe das Flugblatt mitgebracht; so sieht esaus. Zitat:Die SPD lehnt den „Pflege-Bahr“ ab. Wir wollenkeinen Einstieg in die Zwei-Klassen-Pflege.
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2210 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Pia Zimmermann
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Sehr gut so weit. Weiter:Der „Pflege-Bahr“ ist gleichzeitig nutzlos und un-gerecht, denn er löst die Probleme in der Pflegenicht.Auch gut – so weit.
Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie sich selberernst! Enttäuschen Sie die Menschen in diesem Landnicht erneut, und stimmen Sie unserem Antrag zu!
Hier noch ein paar Argumente dafür, dass der Pflege-Bahr abgeschafft gehört. Der Pflege-Bahr privatisiert dasRisiko, pflegebedürftig zu werden, und macht den An-spruch auf Pflege noch mehr zu einer Frage des Geld-beutels, noch mehr, weil bereits das Teilleistungsprinzipder Pflegeversicherung bedeutet, dass sie lediglich eineZuschussversicherung ist. Mehr als die Hälfte der Kos-ten müssen pflegebedürftige Menschen und ihre Ange-hörigen schon jetzt aus eigener Tasche zahlen. Das lehntdie Linke entschieden ab.
Der Pflege-Bahr verspricht, das Risiko der Pflegebe-dürftigkeit privat abzusichern. Aber das widersprichtnicht nur dem Solidarprinzip, sondern stimmt noch nichteinmal. Er ist vollkommen ungeeignet, die Versorgungs-lücken zwischen den Leistungen der Pflegeversicherungund den tatsächlichen Pflegekosten zu schließen. Pflegewird immer teurer. Eine Anpassung an diese Entwick-lung ist jedoch beim Pflege-Bahr überhaupt nicht vorge-sehen. Niemand kann heute sagen, was die vereinbartenLeistungen wert sind, wenn sie gebraucht werden, undzwar nicht heute, sondern in der Zukunft, beim Eintritt indie Pflegebedürftigkeit.
– Genau. – Zudem höhlt der Pflege-Bahr das Solidari-tätsprinzip weiter aus und verschärft die soziale Spal-tung. Er ist absolut kontraproduktiv, weil er sich nicht anden Interessen der Menschen orientiert, sondern vor al-len Dingen Geld in die Versicherungswirtschaft spült.
Alle Menschen haben das gleiche Recht auf eine ih-ren Bedürfnissen entsprechende Pflege. Deshalb müssenwir die Finanzierung auf breitere Schultern verlagern.Wissen Sie eigentlich, dass die Pflegehelferinnen, dieVerkäuferinnen und die Friseurinnen den Pflege-Bahrmitfinanzieren, und zwar über ihre Steuern, ihn sich sel-ber aber gar nicht leisten können? Diese Ungerechtigkeitmuss abgeschafft werden.
Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherungin der Pflege wäre das Fundament, um gute Pflege füralle umfänglich zu finanzieren.Als ersten Schritt fordern wir deshalb den Stopp derstaatlichen Förderung von privaten Zusatzversicherun-gen und die Rückabwicklung der vorhandenen Verträge.
Um Ihren Argumenten gleich vorzugreifen: Das istmachbar. Es ist tatsächlich nur eine Frage des politischenWillens. Denn immerhin sind durch die fünfjährige Ka-renzzeit beim Pflege-Bahr noch keine Ansprüche ent-standen. Auch das Beispiel der Rückabwicklung der pri-vaten Zahnzusatzversicherungen von 2004 zeigt, dassdiese problemlos storniert werden können.Sie wissen, dass Sie 2014 noch eine große Aufgabevor sich haben. Durch das Pflege-Weiterentwicklungsge-setz sind Sie verpflichtet, die Leistungen zu prüfen undder Kostenentwicklung anzupassen. Die Menschen mitPflegebedarf und die Verbände warten darauf. Wir wer-den das nicht aus dem Auge verlieren; das kann ich Ih-nen versprechen.
Außerdem fordern wir eine regelgebundene Anpas-sung der Versicherungsleistungen an die Lohn- undPreisentwicklungen. Es reicht einfach nicht aus, nurkurzfristige Leistungsverbesserungen vorzunehmen. Esbraucht eine gänzliche Abkehr vom Teilleistungsprinzip,um den Ansprüchen auf gute Pflege für alle gerecht wer-den zu können. Eine Zustimmung zu unserem Antragwäre ein vertrauenerweckendes Zeichen für besserePflege und für mehr Pflegegerechtigkeit für alle Men-schen in diesem Land. Ich bitte um Ihre Zustimmung,wenn wir demnächst darüber abstimmen.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Erwin Rüddel das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Die staatlich geförderte private Zusatzver-sicherung gegen das Pflegerisiko erlebt derzeit einenwahren Boom. Wurden im Januar 2013 240 Verträge proTag abgeschlossen, waren es im Juni 2013 bereits über1 000 Verträge pro Tag. Das zeigt, dass die staatlich ge-förderte Zusatzversicherung bei den Menschen an-kommt. Zurzeit werden täglich 1 600 neue Verträge ab-geschlossen. Die Versicherungswirtschaft ist davonüberzeugt, dass wir in diesem Jahr noch die Millionen-grenze überschreiten werden. Im Januar 2014 kamen wirbereits auf über 400 000 Verträge. Was zeigt uns das?
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Kollege Rüddel, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Zimmermann?
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. – Es ist doch so,
dass Sie die Anzahl an Vertragsabschlüssen, die Sie an-
gestrebt haben, überhaupt nicht erreicht haben; Sie ha-
ben noch nicht einmal die Hälfte davon erreicht. Deut-
lich wird auch: In dem von Ihnen vorgelegten Haushalt
sind die Mittel zur staatlichen Unterstützung und Finan-
zierung der Verträge im Pflege-Bahr deutlich abgesenkt
worden. Das passt meines Erachtens nicht mit dem zu-
sammen, was Sie gerade gesagt haben. Können Sie mir
das vielleicht näher erklären?
Ich wäre in meiner Rede noch darauf eingegangen.Ich halte 1 Million Neuverträge im Jahr 2014 für einesensationell hohe Zahl. Auch wenn wir geglaubt haben,dass wir eine höhere Zahl erreichen könnten, zeigt dieEntwicklung, dass wir unser Ziel, Vorsorge zu fördernund die Menschen zu motivieren, vorzusorgen, erreichthaben. Wir sollten vielleicht gemeinsam überlegen, woman Anreize schaffen kann, damit wir noch höhere Zah-len als derzeit erreichen können. Ich denke, das Ziel istrichtig. Ihrer Logik zufolge dürften wir auch keinen Centfür Prävention ausgeben.
Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Weg, dieMenschen zu motivieren, Vorsorge zu treffen, der rich-tige ist. Wir werden in den nächsten Wochen mit derPflegereform zeigen, dass Vorsorge ein guter Weg ist.Mit dem Vorsorgefonds haben wir bereits einen weiterenSchritt getan.
Wir befinden uns auf einem guten Weg; denn er führt ineine gute Zukunft. Ihr Weg dagegen ist der falsche. Wirwerden auch Ihren Antrag hier im Haus eindrucksvollund mit breiter Mehrheit ablehnen.
Die vom Staat geförderte private Zusatzversicherungwird von den Menschen angenommen. Das beweisen dieZahlen eindeutig. Das Produkt erfüllt also den Wunschdes Gesetzgebers, die Bürger stärker vor einer finan-ziellen Überforderung im Pflegefall zu schützen und zumehr Vorsorge zu motivieren. Die Menschen erkennenzusehends – auch das zeigen die Zahlen –, dass sie beider Pflege stärker vorsorgen müssen, und das ist auchgut so. Denn nach meiner Einschätzung bieten sich ins-besondere für Frauen und Männer zwischen 25 und40 Jahren gute Chancen, mit staatlicher Unterstützungeine zusätzliche Vorsorge gegen das Pflegerisiko im Al-ter zu schaffen. Vom Staat werden 5 Euro pro Monat alsZulage gezahlt, wenn der oder die Versicherte einenMindestbeitrag von 10 Euro pro Monat leistet.Risikozuschläge und Gesundheitsprüfungen sind nichtzulässig. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn auch Men-schen mit Vorerkrankungen können auf diesem Weg eineprivate Versicherung abschließen und mit nur 10 Euroim Monat den Einstieg in diese Vorsorgemaßnahme ver-wirklichen.Statt dieses Instrument infrage zu stellen oder gar ab-schaffen zu wollen, sollten sich die Initiatoren des vor-liegenden Antrags, die Fraktion Die Linke, vielleichtbesser überlegen, ob und wie wir es ausbauen und nochattraktiver machen können.
Ich persönlich – das betone ich ausdrücklich – hieltees durchaus für angebracht, über eine sinnvolle Weiter-entwicklung der staatlich geförderten Zusatzversiche-rung nachzudenken. Dabei schwebt mir zum Beispieleine Familienkomponente vor, bei der sich die Zahl derKinder positiv auf die Höhe des staatlichen Zuschussesauswirken könnte. Aber auch andere Schritte wärendenkbar, um diese Art der privaten Vorsorge seitens desStaates zusätzlich zu fördern.Stattdessen räsoniert die Linke in ihrem Antrag da-rüber, was die vereinbarten Mindestleistungen von600 Euro Pflegegeld in der Pflegestufe III bei Eintritt derPflegebedürftigkeit in 50 oder 60 Jahren wert sein könn-ten.
Das, Frau Zimmermann, kann man sich über diesen Zeit-raum hinweg sicherlich mit Blick auf alle möglichen undunmöglichen Zahlen fragen. Anstatt nun darüber nach-zudenken, ob und wie dieses Produkt durch eine Dyna-misierung künftig noch verbessert werden könnte, schüt-tet die Linke lieber das Kind mit dem Bade aus und willdie staatlich geförderte Zusatzversicherung mit einemFederstrich abschaffen.
Ihr Ziel ist es doch, den Menschen die Chance auf Vor-sorge zu erschweren.
Sie wollen, dass das Teilleistungsprinzip abgeschafftwird und der Staat zukünftig einfach für alles aufkommt.Das ist sinngemäß das, was in Ihrem Antrag steht.
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2212 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Erwin Rüddel
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Dieser folgt damit einem bekannten Muster:
einerseits den Menschen Angst machen und ihnen ande-rerseits Wunderdinge versprechen,
immer nach dem Motto: Am Ende werden andere füreuch die Zeche zahlen.
Natürlich zeigt sich auch hier wieder, dass Ihnen jegli-cher Anreiz zu eigener Initiative, zu eigener Verantwor-tung und zu privater Vorsorge zutiefst zuwider ist. DieBotschaft Ihres Antrags lautet im Grunde: Macht euchkeine Gedanken, Leute, der Staat wird es schon richten.– Das ist absolut unverantwortlich.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag istauch aus einem anderen Grund ein ärgerliches Doku-ment. Man fragt sich nämlich angesichts der Ausführun-gen zur gesetzlichen Pflegeversicherung, ob die Kolle-ginnen und Kollegen von der Linken eigentlich denKoalitionsvertrag gelesen haben. Falls nicht, will ichhier im Plenum kurz feststellen:
CDU, CSU und SPD haben sich in ihrem Koalitionsver-trag auf die umfassendste Reform der gesetzlichen Pfle-geversicherung seit ihrer Einführung 1995 verständigt.
Wir werden die Leistungsbeträge dynamisieren, denSchlüssel für Betreuungskräfte pro Pflegebedürftigemdeutlich senken, Leistungen wie Kurzzeit- und Verhin-derungspflege flexibilisieren,
die Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes ver-stärken, einen Pflegevorsorgefonds in Höhe von 1,2 Mil-liarden Euro jährlich schaffen und vor allem Menschenmit Demenzerkrankung und ihre Angehörigen weit stär-ker als bisher unterstützen, indem wir eine Neudefinitiondes Pflegebegriffs vornehmen. Schließlich werden wirfür deutlich mehr und für gut ausgebildete und für or-dentlich bezahlte Fachkräfte in der Pflege sorgen.Die Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung, wieich sie hier skizziert habe, ist ein zentrales politischesVorhaben dieser Koalition. Daran konstruktiv mitzuwir-ken, sind alle in diesem Hause aufgefordert und eingela-den; das gilt ausdrücklich auch für die Kolleginnen undKollegen der Linken.
Die Kollegin Elisabeth Scharfenberg hat für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Im vorliegenden Antrag der Linksfraktion findensich einige Forderungen, die wir Grüne durchaus mittra-gen und unterstreichen können, die sinnvoll sind. Es istvöllig richtig, dass wir endlich eine klare Regelung füreine jährliche Anpassung der Pflegeleistungen brauchen.Jetzt ist es nämlich so, dass die Bundesregierung alledrei Jahre so Pi mal Daumen bestimmt, wie viel sie denngeben will. Bei der geplanten Pflegereform von Schwarz-Rot soll es genauso laufen. Es wird keine objektiveRechnung geben, sondern es wird geschachert werden:Leistungsanhebung um 3 Prozent, 4 Prozent oder 5 Pro-zent? Wer bietet mehr? Wer geht drunter? Entscheidungnach Gusto oder danach, wer sich gerade durchsetzt! Soein Vorgehen führt nicht nur zu einer Entwertung derLeistungen; es führt zu einer Entwertung der Pflegever-sicherung an sich.
Wir sagen, dass die Leistungen regelgebunden zuzwei Dritteln entlang der Lohn- und zu einem Drittelentlang der Inflationsentwicklung angepasst werdenmüssen. Das wäre sachgerecht, weil sich die Pflegekos-ten in etwa zu zwei Dritteln aus Personalkosten und zueinem Drittel aus Sachkosten zusammensetzen. Das istübrigens keine neue grüne Forderung. Wir fordern dasschon seit 2012 genau so in unserem Konzept der grünenPflege-Bürgerversicherung. Schön, dass die Linksfrak-tion diesen Vorschlag von uns übernommen hat!
Richtig ist auch die Forderung, den Pflege-Bahr wie-der abzuwickeln. Der Pflege-Bahr war und ist weder ge-recht noch sinnvoll, und deshalb muss er – ganz klar –wieder abgeschafft werden.
Der unsägliche Pflege-Bahr wurde von Schwarz-Gelbeingeführt – gegen den Rat der überragenden Mehrheitaller Fachverbände, gegen den Rat der Expertinnen undExperten sowie der versammelten Opposition. Damalswar die SPD natürlich auch dagegen, weil ja noch Op-position. Für 2013 rechneten Sie mit 1,5 MillionenPflege-Bahr-Verträgen. Sie haben das vollkommen über-schätzt. Herr Rüddel, die Rechnung, die Sie gerade vor-getragen haben, klingt ein bisschen wie Pfeifen imWalde. Es sind bis heute – April 2014 – gerade einmal400 000 Verträge abgeschlossen worden. Das ist kein Er-folg; das ist ein Witz. Der Pflege-Bahr bringt nichts. Allehaben es Ihnen gesagt. Aber Sie wollten es damals nichthören, und Sie wollen es jetzt nicht hören. Die SPD hört
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2213
Elisabeth Scharfenberg
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jetzt leider auch weg. Die SPD hat inzwischen kein Pro-blem mehr mit dem Pflege-Bahr. Die pflegepolitischenÜberzeugungen der SPD sind sehr schnell auf der Stre-cke geblieben. Schade!
Mit einigem im Antrag sind wir nicht einverstanden:Da ist die Forderung der Linken, aus der Pflegeversi-cherung eine Vollversicherung zu machen. Sie geben daein ganz schön voreiliges Versprechen ab. Verdi hat2012 ein Gutachten über die Auswirkungen einer Pflege-vollversicherung veröffentlicht. Klar wird: Es gibt vieleUnsicherheiten. Was würde eine Vollversicherung ei-gentlich bezahlen? Wie teuer wäre eine Vollkasko-Pfle-geversicherung? Teurer als heute auf jeden Fall! Es gibtda mehr Fragen als Antworten.Anders beim Pflege-Bahr. Da sind alle Fragen beant-wortet. Ich werde noch einmal ganz deutlich: DerPflege-Bahr ist eine Luftnummer und nichts anderes –
übrigens genauso wie der Pflegevorsorgefonds, den dieGroKo nächstes Jahr einführen will.
Da möchte ich Ihnen ein abenteuerliches Interviewmit dem gesundheitspolitischen Sprecher der Unions-fraktion, Jens Spahn, vom 11. März in der Berliner Zei-tung nicht vorenthalten. „Sicher wie das Gold der Bun-desbank“, das war der Titel des Artikels. Darin erklärtuns Herr Spahn den Pflegevorsorgefonds. Der Fonds,sagt er, werde so sicher sein wie das Gold, das bei derBundesbank lagert. Dann empfiehlt der gelernte Bank-kaufmann Herr Spahn, dass man das Geld aus demFonds doch bitte schön – ich zitiere – „stärker in Aktienoder Unternehmensanleihen … oder auch in ausländi-sche Anlagen“ stecken solle.
Man müsse höhere Renditen erwirtschaften. Außerdemsei die Idee des Sparens schon „ein Wert an sich“.Übrigens ist sich die Fachwelt einig, dass der Fondsnicht funktionieren wird. Das interessiert aber HerrnSpahn und die CDU/CSU nicht. Das lässt tief blicken.Ich hoffe, die SPD schwingt sich dazu auf, diesen Un-sinn endlich zu Ende zu bringen.
Inmitten einer weltweiten Finanzkrise mit dem Geldder Versicherten zu zocken, den Menschen Märchenüber goldene Töpfe – damit ist der Vorsorgefonds ge-meint – zu erzählen, das bezeichne ich nicht als ernst-hafte und nachhaltige Finanzierung. Um das Kraut fett-zumachen, klammert sich die Große Koalition auch nocham unsolidarischen und äußerst erfolglosen Pflege-Bahrfest. Sie sollten die Menschen nicht für dumm verkau-fen. Eine solide Finanzierung der Pflege schaut andersaus.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! ImMai 1994 verabschiedete der Deutsche Bundestag dasGesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflege-bedürftigkeit. Die soziale Pflegeversicherung als fünfteSäule der Sozialversicherung in Deutschland ward gebo-ren. Dieser Beschluss war ein sozialpolitischer Meilen-stein; er war aber auch keine einfache Geburt. DieserGeburt gingen damals 20 Jahre intensive und breite Dis-kussionen voraus. Es wurden debattiert die Situation derPflegebedürftigen, die Folgen des demografischen Wan-dels und auch die finanziellen Belastungen der Kommu-nen – heute immer noch aktuelle Themen. Kurz vor dem20. Geburtstag dieses Gesetzes sei es erlaubt, hier schoneinmal zu gratulieren: Happy Birthday, liebe SPV, liebesoziale Pflegeversicherung! Du hast dich trotz schwer-wiegender struktureller Reformstaus zu einer in der Be-völkerung akzeptierten Sozialversicherung entwickelt.Die soziale Pflegeversicherung war von Anfang anals Teilleistungssystem, als Teilkaskoversicherung, wiesie in der Bevölkerung häufig genannt wird, konzipiert.Ja, es ist richtig: Es sind notwendige Leistungsverbesse-rungen vorzunehmen. Die bisherigen Verbesserungendurch die verschiedensten Gesetze in der ambulantenund stationären Pflege reichen noch nicht aus. Daraufhat die Expertenkommission, darauf haben aber auch dieambulanten Träger und viele andere aufmerksam ge-macht. Wir selber erleben dies tagtäglich, wenn wir indie entsprechenden Einrichtungen gehen.Wir wollen die eng richtungsbezogene Definition derPflegebedürftigkeit überwinden und natürlich sehr vielmehr für Menschen tun, die an Demenz erkrankt sind,und vor allen Dingen für Menschen, die an psychischenErkrankungen leiden. Wir brauchen hier mehr Leis-tungsansprüche. Das ist uns als Großer Koalition abersehr bewusst. Deshalb werden wir dafür sorgen, dass indieser Legislaturperiode nachhaltige strukturelle Refor-men erfolgen werden.
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung für den Be-reich Pflege sehr viele Maßnahmen vereinbart; denn wirwollen, dass Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabevon allen gesehen und auch wahrgenommen wird.
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2214 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Mechthild Rawert
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Wir wollen die zügige Neuordnung des Pflegebedürftig-keitsbegriffs. Wir wollen eine Dynamisierung der Leis-tungssätze, um so den überproportionalen Eigenfinan-zierungsanteil nicht weiter steigen zu lassen.
Wir wollen Verbesserungen bei der Vereinbarkeit vonBerufstätigkeiten und Pflegetätigkeiten. Wir wollen eineAufwertung der Pflegeberufe. Wir wollen ein Pflegebe-rufegesetz mit einheitlicher Grundausbildung und daraufaufbauender Spezialisierung. Wir wollen die Kostenfrei-heit der Ausbildung.
Die so gewonnenen Mehreinnahmen bei der Pflegedienen uns allen. Wir wollen eine gute Pflegeinfrastruk-tur, und weil wir das wollen, sagen wir allen Pflegebe-dürftigen und ihren Angehörigen: Dazu gehört eine Dy-namisierung der Leistungssätze. Ich verspreche Ihnen,Frau Zimmermann, sie wird kommen.
Wir haben in der Diskussion vorhin schon gehört,dass die Pflegeversicherung auf der Leistungsseite eineBürgerversicherung ist; denn jede und jeder bekommt,unabhängig davon, ob sie oder er bei einer privaten oderin der gesetzlichen Pflegeversicherung versichert ist, diegleichen Leistungen.
Ja, es stimmt: Am liebsten wäre uns Sozialdemokratinnenund Sozialdemokraten zur Bekämpfung der chronischenUnterfinanzierung der gesetzlichen Pflegeversicherungeine Bürgerversicherung auch auf der Finanzierungsseitegewesen. Wir haben für diese Legislaturperiode aber an-dere Modelle verabredet.
Das heißt jetzt nicht, dass wir gegen eine Bürgerversi-cherung sind;
wir verschieben sie.
Ich denke, das ist geklärt zwischen uns. Jetzt haben wireinen Koalitionsvertrag zu erfüllen. Unser Bürgerversi-cherungskonzept bleibt aber nach wie vor aktuell.
Die in dem Antrag der Linken gewünschte langfris-tige Abschaffung des Teilleistungsprinzips ist keine Lö-sung; das lehnen wir ab.
Vorhin ist schon darauf hingewiesen worden: Es gibtKonzepte für eine Vollkaskoversicherung, die aber teil-weise noch auf unzureichenden Annahmen beruhen, unddie Berechnungen sind auch nicht positiv, einmal abge-sehen davon, dass ich mich frage, wer das finanzierensoll.Doch kommen wir zum Pflege-Bahr. Erinnern Siesich noch? Im Rahmen des am 1. Januar 2013 in Kraftgetretenen Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes hat die da-malige schwarz-gelbe Regierung begonnen, private Pfle-gezusatzversicherungen zu fördern. Zumindest in derFDP hat mensch sich darüber gefreut, wie ich heute ge-hört habe: Herr Rüddel persönlich auch.
– Ja, er freut sich und findet das toll. – Das war aber, wiegesagt, mehr ein FDP-Kind. Der damalige FDP-General-sekretär, Christian Lindner, hatte auch gleich einen pas-senden Namen dafür: Das ist der Pflege-Bahr, den wirjetzt einführen. – Dieser Pflege-Bahr ist für alle Versi-cherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer unab-hängig vom jeweiligen Einkommen gleich hoch. Siemüssen mindestens 180 Euro zahlen; davon werden60 Euro staatlich gefördert.Es blieb kein Geheimnis: Die SPD, Sozialverbände,Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer,Fachinstitute, Linke, Grüne, sie alle lehnten die Einfüh-rung des Pflege-Bahrs ab.
– Habe ich gesagt; ich habe sie sogar als Erste genannt. –Mit der Einführung des Pflege-Bahrs waren nämlichzwei Botschaften verbunden: Zum einen sollte damitlaut Begründung im Gesetzentwurf ein Anreiz zu zusätz-licher Pflegevorsorge geschaffen werden, quasi ergän-zend zum Teilleistungssystem. Es gab aber auch nocheine zweite Botschaft – die lag schon ein bisschen zu-rück –: Die Einführung einer einkommensunabhängigenprivaten Pflegezusatzversicherung wurde, beispielsweiseim Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb von 2009, miteiner substitutiven Wirkung begründet. Das heißt, damitist eine Verlagerung von Finanzierungsverantwortungvon der umlagefinanzierten Sozialversicherung zur kapi-talgedeckten Privatversicherung intendiert. Glauben Siemir: Das will die SPD nicht. Wir sind nach wie vor fürstarke Umlagefinanzierungssysteme.
Vielleicht zur Aufklärung: Durch die Finanzkrise sindam besten die Versicherungen gekommen, die ein umla-gegefördertes System hatten.
Es war viel sicherer, das Geld dort angelegt zu haben, alsbei privaten, profitorientierten Unternehmen. Infolge-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2215
Mechthild Rawert
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dessen werden wir in Zukunft sicherlich auch noch ein-mal darüber reden – das gilt auch in Bezug auf andereBereiche –, was gute Formen der Förderung sind.Die Linke fordert in ihrem Antrag auch, den Pflege-Bahr rückabzuwickeln, und einen Stopp der Pflegever-sicherung. Alle Verbraucherschützerinnen und Verbrau-cherschützer – das sind auch Rechtsschutzexperten –sagen aber: Das ist leider gar nicht möglich; denn dieje-nigen, die einen Vertrag abgeschlossen haben, bauen da-rauf, dass es die Förderung weiterhin gibt.All diejenigen, die jetzt sagen: „Es waren 1,5 Millio-nen Verträge geplant; herausgekommen sind allerdingsnur 400 000“, haben recht.
– Es waren schon bis 2013 1,5 Millionen Verträge ange-dacht.
Das wurde auch bei der Aufstellung des Haushalts be-rücksichtigt. In der mittelfristigen Finanzplanung für dieJahre 2014, 2015 und 2016 waren für diese staatlicheZusatzversicherung nämlich noch jeweils 100 MillionenEuro vorgesehen. In den Haushalt 2014 eingestellt – ichfinde, diese Bundesregierung ist hier klüger als die vor-herige – werden aber nur 33 Millionen Euro. Es hat hiereine gute Kooperation zwischen den Fach- und Finanz-politikern gegeben. Das muss man hier gar nicht weiterkommentieren. Wir werden uns sicherlich spätestens ineinem Jahr noch einmal darüber unterhalten. Dass ichpersönlich – das sage ich als Sozialdemokratin – keineAnhängerin der Privatisierung von Vorsorge bin, ist,denke ich, unbestritten: Es schadet auch nicht dem Ko-alitionsfrieden, wenn ich das hier so deutlich sage.
Meine Bitte an alle ist: Die Pflege gehört in die Mitteder Gesellschaft und muss noch viel mehr Gegenstandder Diskussionen des Deutschen Bundestages sein. DieBürgerinnen und Bürger erwarten viel von uns. Packenwir es an! Machen wir daraus: gesagt, getan, gerecht!
Das Wort hat der Kollege Tino Sorge für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe FrauZimmermann, ich habe Ihnen genau zugehört
und muss Ihnen leider sagen: Es hat sich in der bisheri-gen Debatte im Grunde genau das bestätigt, was aus Ih-rem Antrag bereits hervorging. Entweder haben Sienicht verstanden, dass wir von der Systematik her übereine Pflegezusatzversicherung reden, oder Sie blendendas ganz bewusst aus, um hier Effekthascherei zu betrei-ben. Deshalb werden wir, wie Sie schon gesagt haben,diesen Schritt nicht mit Ihnen gehen, sondern den Antragablehnen – zu Recht, wie ich finde.
Was sind die Fakten? Sie sind teilweise schon ange-sprochen worden:
Bis zum Jahr 2050 werden wir mit ungefähr 4,5 Millio-nen Pflegebedürftigen rechnen müssen. Damit sind danncirca 44 Prozent der pflegenahen Generation – das heißtderjenigen, die über 80 Jahre alt sind – Nutznießer vonPflegeleistungen. Das hat zur Folge, dass die Pflegekos-ten nicht nur insgesamt, sondern auch individuell anstei-gen werden. Durch das stark ansteigende Lebensalter– die Menschen in unserem Land werden immer älter,worüber wir uns alle ja freuen – und den medizinischenFortschritt liegt es in der Natur der Sache, dass die Pfle-geaufwendungen steigen. Gerade deshalb ist es eben sowichtig, dass wir als Politiker denjenigen, deren Pflege-situation konkret ist, den Pflegebedürftigen und denen,die in die Pflege eingebunden sind, zur Seite stehen,sinnvolle Angebote unterbreiten und Unterstützung zu-teilwerden lassen.
Das Pflegesystem muss auf ein breites Fundament ge-stellt werden. Aus Sicht der Union ist ein Baustein natür-lich die staatliche Pflegeversicherung, von der aufgrundihrer stetigen Weiterentwicklung sehr viele pflegebe-dürftige Menschen profitieren, und das ist auch gut. Alsweiteren Baustein gibt es die private Pflegezusatzversi-cherung, die viele im Haus schon liebevoll Pflege-Bahrgenannt haben.
– Ich habe das so empfunden, Frau Zimmermann.Diese Pflegezusatzversicherung – ich sage ganz be-wusst: Pflegezusatzversicherung – ergänzt das staatlicheSystem. Das heißt, das ist ein Angebot an diejenigen, diefreiwillig eine Zusatzversicherung abschließen möchten.Die Zahlen sind schon genannt worden: Täglich werden1 600 Neuverträge abgeschlossen. Insgesamt gibt esmittlerweile zwischen 400 000 und 500 000 Verträge.Man sieht: Die Zusatzversicherung wird angenommen.Es geht hier auch um den Kontext der Eigenvorsorge.Wir wollen ja die Menschen zu immer mehr Eigenvor-sorge animieren.
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2216 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014
Tino Sorge
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Gerade meine Generation ist sich dessen bewusst, dasswir eigenverantwortlich vorsorgen müssen.Schauen Sie sich doch einmal die Vorzüge der Pflege-zusatzversicherung an; sie liegen doch auf der Hand. Esgibt keine Risikozuschläge. Es gibt keine altersbeding-ten Prämiensteigerungen. Es gibt keine Gesundheitsprü-fung.
Das heißt: All diejenigen, die früher keine Möglichkeithatten, in diesem Bereich eine Versicherung abzuschlie-ßen, haben jetzt Zugang zu einer Pflegezusatzversiche-rung.
Da wir gerade bei der Systematik sind: Diese Ver-sicherung war von vornherein – das ist schon angeklun-gen – als Zusatzversicherung geplant. Es stand nie imRaum, dass es eine Komplettversicherung werden sollte.Die Versicherten – auch meine Generation – wissen: Eshandelt sich um eine Zusatzversicherung. Dieses Systemhat sich bewährt.Mit dieser Pflegezusatzversicherung – ich habe esschon gesagt – ist private Vorsorge überhaupt erst mög-lich geworden. Deshalb meine Bitte an die Kolleginnenund Kollegen von den Linken, den Grünen und auch anSie, Frau Rawert – ich weiß nicht, ob ich Sie richtig ver-standen habe –: Lassen Sie die Pflegezusatzversicherungdoch erst einmal wirken!
Schauen wir uns doch erst einmal an, wie sie sich aus-wirkt! Es ist doch vernünftig, wenn die Evaluation seriössein soll, sie erst nach einem längeren Zeitraum vorzu-nehmen und nicht schon nach einem Jahr.Wir sind der Meinung, dass die Pflegezusatzversiche-rung eine ausgewogene Balance zwischen Beitrag undVersicherungsleistung darstellt. Die Lage der Versicher-ten war vor Einführung dieser Versicherung wesentlichschlechter; das sollte hier niemand vergessen. Eine sol-che Zuschussversicherung bietet die Chance auf mehrEigenverantwortung, schärft aber gleichzeitig den Blickfür die Kosten und sensibilisiert dafür, welch große He-rausforderung die Pflege ist.Das aktuelle System zeigt, dass Pflegebedürftigkeitkein individuelles Problem ist; diese Thematik betrifftimmer die ganze Familie. Wir dürfen in diesem Zusam-menhang nie vergessen, dass Pflegezeiten, der interfami-liäre Einsatz im Falle einer Pflegebedürftigkeit, heutzu-tage wesentlich stärker gefördert und unterstützt wird,als das noch vor Jahren der Fall war. Das ist ein Erfolg;das können wir doch einmal sagen. Die Bundesregierungsetzt mit Karl-Josef Laumann als Beauftragten für Pflegeein weiteres deutliches Zeichen.
Die Versicherten, die Pflegebedürftigen, die Angehö-rigen und die Pflegekräfte in Deutschland sowie alle Fa-milien, die sich mit der Pflegesituation auseinanderset-zen müssen, können weiterhin auf eine gute, verlässlicheund vertrauensvolle Versicherung bauen. Dafür steht dieBundesregierung. Dafür stehen wir als Union. Dafürsteht die Koalition.Herzlichen Dank.
Kollege Sorge, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des ge-
samten Hauses herzlich und wünsche Ihnen viel Erfolg
in Ihrer Arbeit.
Das Wort hat der Kollege Heiko Schmelzle für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Besonders begrüßen möchte ich die Parla-mentarische Staatssekretärin, Frau Widmann-Mauz. Fürmich ist ihre Präsenz als Vertreterin der Regierung an ei-nem Freitagnachmittag im Plenum des Deutschen Bun-destages
ein deutliches Zeichen dafür, welch hohen Stellenwertdas Thema Pflege in der 18. Wahlperiode für die Koali-tionsfraktionen hat.
Die Deutschen sind heute weit über den Eintritt in denRuhestand hinaus deutlich rüstiger, als es gleichaltrigeSenioren vor einigen Jahrzehnten gewesen sind. Wirwerden immer älter. Männer haben mittlerweile eine Le-benserwartung von 78 Jahren, Frauen von circa 83 Jah-ren. Das steigende Durchschnittsalter ist erfreulich, stelltunsere Gesellschaft jedoch vor immer größere Heraus-forderungen; denn die Zahl derjenigen, die auf Pflegebzw. Hilfe angewiesen sind, steigt ebenfalls stetig.Mit Weitblick wurde bereits 1995 unter der Regie desdamaligen CDU-Arbeitsministers Norbert Blüm die ge-setzliche Pflegeversicherung eingeführt. Ziel war es, al-len Bürgerinnen und Bürgern für den Fall der Pflegebe-dürftigkeit eine Basisabsicherung zu gewährleisten. Manlegte sich damals ganz bewusst auf das Teilleistungs-prinzip fest, um überbordende Beitragskosten zu vermei-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. April 2014 2217
Heiko Schmelzle
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den, die eine vollständige Absicherung des Pflegebe-dürftigkeitsrisikos mit sich gebracht hätte.In der letzten Wahlperiode haben wir nun zum 1. Ja-nuar 2013 eine staatliche Förderung in Kraft gesetzt, diedie Eigenvorsorge im Rahmen einer privaten Pflegezu-satzversicherung unterstützt. Zum Beispiel erreichen aufdiese Weise junge Menschen im Alter zwischen 20 und40 Jahren mit einem Eigenbeitrag von 10 Euro monat-lich und einer staatlichen Förderung von 5 Euro monat-lich tendenziell deutlich mehr, als das Mindestsiche-rungsziel von 600 Euro in Pflegestufe III vorsieht. ImIdealfall sind dies bis zu 1 400 Euro über den Erstat-tungsbetrag hinaus, der bereits durch die gesetzlichePflegeversicherung gezahlt wird.Die Zahlen des Verbandes der Privaten Krankenversi-cherung sind eindeutig. Vor Einführung der staatlichenFörderung hatten circa 1,8 Millionen Menschen eine pri-vate Pflegezusatzversicherung. Seit deren Einführungsind bereits 500 000 neue Verträge abgeschlossen wor-den. Dies entspricht innerhalb kürzester Zeit einer Stei-gerung um 27 Prozent. Das heißt, der von uns bzw. vonder Politik gesetzte Anreiz hat insofern die gewünschteWirkung entfaltet, vielleicht nicht im gewünschtenMaße, aber die Richtung ist vorgegeben. Wenn aktuell1 600 Verträge pro Tag dazukommen, dann ist das dochein Erfolg.
Diese Zahlen werden durch die aktuelle repräsentativeAllensbach-Umfrage untermauert. In dieser wurden rund2 000 Menschen zum Thema Pflege befragt. 60 Prozentder Befragten hielten eine staatlich bezuschusste privatePflegezusatzversicherung für eine gute Sache.
Was können wir aus den erwähnten Zahlen schließen?Die Bürgerinnen und Bürger verstehen, dass man ergän-zend Eigenvorsorge betreiben muss. Vor diesem Hinter-grund muss man die Basisversorgung sehen.Die Fraktion Die Linke will mit ihrem Antrag diestaatliche Förderung der ergänzenden privaten Pflege-versicherung stoppen und wünscht eine Rückabwicklungder 500 000 bereits abgeschlossenen Verträge. Des Wei-teren fordern die Antragsteller langfristig einen Umbauder Pflegeversicherung zu einer „Vollkaskoversiche-rung“. Ich frage mich ernsthaft, wer das am Ende bezah-len soll.Die Linke verschließt in diesem Zusammenhang ausmeiner Sicht die Augen vor den anstehenden Herausfor-derungen, die sich uns aufgrund einer alternden Bevöl-kerung stellen. Besonders irritiert war ich, im Antrag derLinken Folgendes zu lesen – ich zitiere –:Die geförderten Tarife sind aufgrund des Kontra-hierungszwangs und der fehlenden risikobezogenenPrämienkalkulation teurer als vergleichbare nichtgeförderte Produkte.Jetzt kommt der springende Punkt:Das führt zu einer negativen Risikoselektion undweiteren Beitragssteigerungen.
Das sehe ich völlig anders. Ich sehe es gerade als die so-ziale Komponente der staatlichen Förderung der ergän-zenden privaten Pflegeversicherung an, dass auch Men-schen mit Vorerkrankungen noch aktiv etwas tunkönnen, um ihr persönliches Risiko einer Pflegebedürf-tigkeit finanziell abzusichern.
Die Linke möchte also gerade jenen die Möglichkeit derstaatlich geförderten Eigenvorsorge nehmen, denen diegeltende Regelung am meisten hilft.Ich möchte den Antragstellern abschließend ein Zitatvon Mahatma Gandhi mit auf den Weg geben. Es lautetwie folgt:Wir haben die Pflicht, stets die Folgen unsererHandlungen zu bedenken.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit bei mei-ner ersten Rede.
Kollege Schmelzle, Sie sagten es abschließend: Das
war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Auch Ih-
nen alles Gute für Ihre weitere Arbeit!
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/591 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Dienstag, den 8. April 2014, 11 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen gute
Erholung über das Wochenende.