Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alleherzlich zur ersten Plenarsitzung des Deutschen Bundes-tages nach unserer parlamentarischen Sommerpause. Ichhoffe, Sie haben sich alle gut erholt und sind gut gelauntund hoch motiviert für die beginnende Haushaltswochedes Deutschen Bundestages nach Berlin zurückgekehrt.
– Es gefällt mir gut, Frau Künast, dass Sie nicht nurüberhaupt offensichtlich viel schwimmen waren, son-dern sich dabei an die Empfehlung gehalten haben, nichtzu weit hinauszuschwimmen.
Für den Ablauf dieser Woche will ich nur der gutenOrdnung halber darauf hinweisen, dass wir morgen ausgegebenem Anlass um 10 Uhr mit den Plenarberatungenbeginnen, am Donnerstag und am Freitag wiederum um9 Uhr.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die Ta-gesordnung eintreten, bitte ich Sie, sich von den Plätzenzu erheben.Mit großer Bestürzung haben wir während der parla-mentarischen Sommerpause vom Tod unseres KollegenJürgen Herrmann erfahren, der am 11. August bei ei-ner Bergwanderung in Tirol im Alter von 49 Jahren anden Folgen eines Herzversagens verstorben ist.Nach Schule und Ausbildung war Jürgen Herrmannüber 20 Jahre im Polizeidienst des Landes Nordrhein-Westfalen tätig. Zehn Jahre lang, seit 2002, gehörteJürgen Herrmann dem Deutschen Bundestag an. Seinpolitisches Engagement begann sehr früh. Mit 20 Jahrenwar Jürgen Herrmann der CDU in seiner Heimatge-meinde Brakel beigetreten, wo er schon bald den Vorsitzder örtlichen Jungen Union übernahm. Später folgte einemehrjährige Mandatstätigkeit als Mitglied des Stadtratesvon Brakel, ein Amt, das er bis 1995 wahrnahm. EinJahr später wurde er der Vorsitzende des CDU-Stadtver-bandes Brakel und 1999 Vorsitzender des CDU-Kreis-verbandes Höxter.2002 wurde Jürgen Herrmann als Vertreter des Wahl-kreises Höxter-Lippe II in den Deutschen Bundestag ge-wählt, dem er ohne Unterbrechung bis zu seinem Todvor wenigen Wochen angehörte. Hier war er vom Okto-ber 2005 bis zum Oktober 2009 stellvertretender vertei-digungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestags-fraktion. Seit Beginn dieser Wahlperiode war JürgenHerrmann ordentliches Mitglied im Haushaltsausschussund ist dort wie als stellvertretendes Mitglied im Vertei-digungsausschuss ganz besonders den Aufgaben der in-neren wie der äußeren Sicherheit verbunden geblieben.Jürgen Herrmann war ein ruhiger und besonnenerPolitiker, der aufgrund seiner vielfältigen beruflichen Er-fahrungen als Polizist, als engagiertes Mitglied derGewerkschaft der Polizei und als langjähriger Kommu-nalpolitiker die Sorgen und Nöte der Menschen vor Ortgenauestens kannte. Jürgen Herrmann hat diese Erfah-rungen und Kenntnisse in seine Arbeit als Bundestagsab-geordneter eingebracht und nie die Interessen der Bürgerseiner westfälischen Heimatregion aus dem Blick verlo-ren, wie die eindrucksvolle Anteilnahme der Bürger-schaft am Tage seiner Beisetzung deutlich machte.Mit seinem frühen und tragischen Tod verliert derDeutsche Bundestag einen fachlich geschätzten und be-liebten Kollegen. Unser Mitgefühl gilt seinen Angehöri-gen, insbesondere seiner Ehefrau und seinen beiden Söh-nen.Wir werden Jürgen Herrmann und sein politischesund gesellschaftliches Engagement mit großer Dankbar-keit in Erinnerung behalten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Sommer-pause hat uns auch die Nachricht vom Tod zweier lang-jähriger ehemaliger Mitglieder und Vizepräsidenten desDeutschen Bundestages erreicht. Wir trauern umLiselotte Funcke, die am 1. August im Alter von94 Jahren verstorben ist, und um Georg Leber, der am21. August gestorben ist. Er wurde 91 Jahre alt.
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Liselotte Funcke und Georg Leber waren große Per-sönlichkeiten, die eng mit der Geschichte der Bundes-republik verbunden sind. Sie werden uns als herausra-gende Politiker in Erinnerung bleiben. Beide gehörteneiner Generation an, die unsere Demokratie nach demZweiten Weltkrieg entscheidend gestaltet hat.Am Ende des Ersten Weltkrieges bzw. kurz danachgeboren, erlebten sie ihre Kindheit in der Weimarer Re-publik, dem ersten, gescheiterten Versuch, in Deutsch-land eine Demokratie aufzubauen. Ihre Jugend prägtendie bitteren Erfahrungen von Diktatur und Krieg. Fürbeide war es deshalb keine Frage, nach dem Zusammen-bruch des Nationalsozialismus die Geschicke ihres Lan-des selbst in die Hand zu nehmen und beim Aufbau derjungen Bundesrepublik mit persönlichem Einsatz zu hel-fen.Schon 1946 schloss sich Liselotte Funcke der FDP an.Georg Leber trat im Jahr darauf in die SPD ein. ZehnJahre später, 1957, wurde der gelernte Maurer und über-zeugte Gewerkschafter Georg Leber zum ersten Mal inden Deutschen Bundestag gewählt, dem er sieben Legis-laturperioden lang von 1957 bis 1983 angehörte. Von1979 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundestag imJahr 1983 war Georg Leber Vizepräsident des Bundesta-ges. In dieses Amt brachte er seine große Fähigkeit zuAusgleich und zu Vermittlung ein, die auch nach seinemAusscheiden aus den politischen Ämtern von den Tarif-partnern oft und gerne in Anspruch genommen wurde.Nicht nur als Parlamentarier, sondern auch als Minis-ter hat Georg Leber sich Respekt und Anerkennung ver-dient. Das gilt nicht nur für seine Zeit als Bundesver-kehrsminister in der ersten Großen Koalition.Unvergessen ist er vor allem im Amt des Verteidigungs-ministers, in dem er hohes Ansehen genoss – insbeson-dere bei den Soldaten.Liselotte Funcke wurde 1961, nach elf Jahren imnordrhein-westfälischen Landtag, zum ersten Mal in denBundestag gewählt und machte sich einen Namen alsSteuer- und Finanzexpertin. Auch als Vizepräsidentinwurde sie von den Kolleginnen und Kollegen sehr ge-schätzt. Zehn Jahre amtierte sie, bewies dabei Umsicht,traf immer den richtigen Ton für ein gutes Miteinander.1979 kehrte sie noch einmal in die nordrhein-westfäli-sche Landespolitik zurück. Auf Wunsch ihrer Parteiwurde die „geborene Politikerin“, wie Walter Scheel sieeinmal genannt hat, Wirtschaftsministerin im Kabinettvon Ministerpräsident Johannes Rau.Auch nach ihrer Zeit als Parlamentarier und Ministerblieben Liselotte Funcke und Georg Leber der Politikverbunden. Georg Leber engagierte sich erfolgreich alsVermittler in schwierigen Tarifverhandlungen. LiselotteFuncke wurde von 1981 bis 1991 unter den KanzlernHelmut Schmidt und Helmut Kohl Ausländerbeauftragteder Bundesregierung und war ihrer Zeit politisch voraus.Sie sprach schon damals Themen an, die noch heute ak-tuell sind: So wies sie auf die Herausforderungen durchdie demografische Entwicklung hin und betonte dieChancen der Zuwanderung. Manche ihrer zunächst un-bequemen Empfehlungen sind inzwischen fast zum poli-tischen Gemeingut geworden.Lieselotte Funcke und Georg Leber haben sich inner-halb und außerhalb des Bundestages um unser Land ver-dient gemacht. Wir werden ihnen ein ehrendes Anden-ken bewahren. Ihren Angehörigen spreche ich imNamen des ganzen Hauses meine Anteilnahme aus.Sie haben sich zu Ehren der verstorbenen Kolleginund der verstorbenen Kollegen von Ihren Plätzen erho-ben. Ich danke Ihnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun unsereTagesordnungspunkte 1 a und b sowie den Tagesord-nungspunkt 2 auf:1 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2013
– Drucksache 17/10200 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungFinanzplan des Bundes 2012 bis 2016– Drucksache 17/10201 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss2 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Haushaltsbegleitge-setzes 2013
– Drucksache 17/10588 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und SozialesNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind imRahmen der Haushaltsberatungen für die heutige Aus-sprache im Anschluss an die einstündige Einbringungdes Haushalts sechs Stunden, für Mittwoch acht Stun-den, für Donnerstag neuneinhalb Stunden und fürFreitag dreieinhalb Stunden vorgesehen. Darf ich IhrEinverständnis zu dieser Vereinbarung feststellen? – Dasist der Fall.Dann erteile ich nun zur Einbringung des Haushaltsdas Wort dem Bundesminister der Finanzen, HerrnDr. Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die wirtschaftliche Lage, in die jede Haushalts-beratung eingebettet ist, wird auch in diesem Jahr über-schattet von der Vertrauenskrise, die man sich ange-wöhnt hat verkürzt Euro-Krise zu nennen. Sie ist nichtvorbei, auch wenn wir Kurs halten. Probleme aufgrundzu hoher Staatsverschuldung, Instabilitäten im Banken-sektor und als Folge Phasen der Unsicherheit auch in derRealwirtschaft werden Europa und die Welt leider auchin den nächsten Monaten noch beschäftigen.
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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Deutschland ist bisher gut durch die Krise gekom-men. Die hervorragende wirtschaftliche Entwicklung derletzten beiden Jahre schwächt sich allerdings etwas ab.Das ist zum guten Teil eine Normalisierung, die mit demAuslaufen eines extrem dynamischen wirtschaftlichenAufholens nach der Rezession 2009 notwendigerweiseverbunden ist. Man muss einfach daran erinnern: Wirhatten als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009einen bis dahin nicht gekannten und unvorstellbarenRückgang des Bruttoinlandsprodukts von 5,1 Prozent.Wir haben diesen schneller als alle anderen und schnel-ler als erwartet in den Jahren 2010 und 2011 mit Wachs-tumsraten von jährlich 3,7 und 3,0 Prozent wieder aufge-holt. Aber dieser Prozess verlangsamt sich jetzt, und dasist auch bei uns zu spüren.Auch das weltwirtschaftliche Umfeld ist nicht mehrso gut wie bisher. Im Übrigen blickt die ganze Welt aufuns in Europa. So stehen in den nächsten Wochen wich-tige Weichenstellungen bevor. Das ist der Rahmen, indem wir Finanzpolitik und damit den Bundeshaushalt2013 gestalten müssen. Wir müssen uns wieder und wie-der klarmachen, dass die Globalisierung ein Stadium er-reicht hat, in dem sich wirtschaftliche oder politischeEntwicklungen in allen Teilen der Welt unmittelbar aufuns in Europa und in Deutschland auswirken.Nach dem Zusammenbruch der Bank LehmanBrothers war die Finanz- und Wirtschaftskrise ja im We-sentlichen noch eine Krise der westlichen Industriestaa-ten, die zunächst einmal durch eine starke Dynamik inden Schwellenländern teilweise ausgeglichen wordenist. Jetzt hat sich aber auch die Dynamik in den Schwel-lenländern abgeschwächt, in China wie in Lateiname-rika. Gleichzeitig bleibt die Wachstumsdynamik derwestlichen Industrieländer – in Europa und jenseits desAtlantiks – geprägt von großen Unsicherheiten.Vor den Wahlen in den USA besteht eine große Unsi-cherheit über den künftigen Kurs der amerikanischenPolitik bei der Bewältigung der viel zu hohen amerikani-schen Staatsverschuldung. Daran muss man gelegentlicherinnern. Die Weltwirtschaft weiß das und ist dadurchbelastet.Natürlich belastet auch die Unsicherheit im Euro-Raum. Investoren halten sich zurück. Sie warten ab, ob-wohl es – auch das muss man sagen – gute Investitions-chancen in Europa gibt. Wir müssen uns darauf einstel-len; und wir sind gut darauf eingestellt – anders als vorzehn Jahren: Da galt Deutschland noch – man muss sichdaran erinnern; man glaubt es kaum – als der krankeMann in Europa.Dass wir heute besser dastehen, ist nicht nur daranfestzumachen, dass wir die niedrigste Arbeitslosigkeitseit zwei Jahrzehnten, seit der Wiedervereinigung inDeutschland haben, und daran, dass wir den höchstenBeschäftigungsstand aller Zeiten aufweisen. In Wahrheithat sich noch Grundlegenderes getan – das gibt uns allenauch für die kommende Entwicklung Zuversicht –:Deutschland ist ein ganzes Stück schockresistenter ge-worden. Unsere Widerstandskraft bei unvorhergesehe-nen Ereignissen ist größer geworden. Unternehmen, Ar-beitnehmer, die Politik, wir alle haben im vergangenenJahrzehnt die Globalisierung angenommen, und wir ha-ben uns besser darauf eingestellt.In diesen Tagen hat das World Economic ForumDeutschland für wettbewerbsfähiger als die VereinigtenStaaten von Amerika erklärt. Das ist vielleicht nur einenette Randnotiz, aber, verehrte Kolleginnen und Kolle-gen, der harte Kern, der solchen Meldungen zugrundeliegt, ist entscheidend. Die Unternehmen haben sich inteils schmerzhaften Prozessen grundlegend restruktu-riert; sie haben ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert undsich damit gestärkt. Wir haben in den zurückliegendenJahren außerdem schmerzhafte Reformen unseres Ar-beitsmarktes durchgeführt. Sie haben sich aber durchund durch bewährt. Und die Bundesregierung hatDeutschland gut durch die von außen kommende Krisegeführt. Sie hat mit ihrer Politik dazu beigetragen, dasses erstmals seit langer Zeit wieder zu echtem Wirt-schaftswachstum in Deutschland gekommen ist.
Wir haben übrigens auch Vorschlägen aus der Opposi-tion widerstanden, die auf eine Rückabwicklung der er-zielten Reformerfolge ausgerichtet gewesen sind.Wir werden auch die Herausforderungen der Energie-wende bewältigen, Schritt für Schritt.
Auch das ist eine Riesenaufgabe. Weil ich davon spre-che, dass unser Land in allen seinen Teilen gegenübernicht vorherzusehenden Krisen widerstandsfähiger ge-worden ist, erwähne ich auch die Energiewende. Nie-mand konnte mit der Katastrophe Anfang des vergange-nen Jahres rechnen. Dass sie Auswirkungen hatte, istaber auch klar. Die Energiewende trägt dazu bei, dasswir auch insoweit widerstandsfähiger werden, dass wirbezogen auf unvorhersehbare Entwicklungen besser vor-bereitet sind. Das ist Vorsorge für die Zukunft, und des-wegen werden wir diese Energiewende Schritt fürSchritt umsetzen. Auch daraus erwächst eine Stärkungunseres Landes.
Sie können schwerlich bestreiten – Sie haben in denzurückliegenden Jahren übrigens daran mitgewirkt, HerrKollege Poß, verehrte Kolleginnen und Kollegen vonder Opposition –,
dass unser Land insgesamt krisenresistenter gewordenist, und das ist in einer nicht einfachen Zeit eine guteBotschaft und eine gute Grundlage für unsere weitereArbeit. Das ist kein Grund, nachzulassen in den Anstren-gungen, aber es ist eine gute Grundlage.
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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Jedenfalls können wir aufgrund dessen, was wir inDeutschland in den zurückliegenden Jahren geschaffenhaben, zuversichtlich sein, dass selbst ein Nachlassender weltwirtschaftlichen Dynamik – das ist der entschei-dende Punkt – die deutschen Unternehmen und die deut-sche Wirtschaft weniger stark trifft, als das in früherenJahren der Fall gewesen wäre. Deswegen können wirselbst angesichts der eher pessimistischen Schätzungenwie etwa der jüngsten Schätzung der OECD in der ver-gangenen Woche, die einen Rückgang der wirtschaftli-chen Aktivitäten im dritten und vierten Quartal vorhersa-gen, davon ausgehen, dass es nicht zu einem starkenAnstieg der Arbeitslosigkeit kommen wird. Genau da-rauf hat der Präsident der Bundesagentur in diesen Tagenerneut hingewiesen. Auch das ist eine wichtige Grund-lage für Zuversicht und für weitere konsequente Politik.
Aber natürlich bleibt die Überwindung der Vertrau-enskrise im Euro-Raum von zentraler Bedeutung. DieBundesregierung bzw. die Bundeskanzlerin hat wiederund wieder betont, dass es den einen Befreiungsschlagnicht geben wird. Wir müssen die Fehler da korrigieren,wo sie entstanden sind, und wir müssen Schritt fürSchritt verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen.Die Ursachen liegen – auch das darf man nicht überse-hen, und man muss es wieder und wieder in Erinnerungrufen – in Fehlern der Finanz- und Wirtschaftspolitik derMitgliedsländer, und sie können nur dort korrigiert wer-den.
Daran führt kein bequemer Ausweg vorbei, weder inForm einer Vergemeinschaftung der Haftung noch durcheinen lockeren Umgang mit der Banknotenpresse. DieseEinsicht, dass daran kein Weg vorbeiführt, ist die Grund-lage aller Entscheidungen zu europäischen Rettungs-schirmen und auch der Europäischen Zentralbank.Die Europäische Zentralbank ist unabhängig.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir alle sind gut ge-fahren mit der Unabhängigkeit dieser vorrangig derGeldwertstabilität verpflichteten Institution. Deswegenmuss die Unabhängigkeit der EZB verteidigt und respek-tiert werden.
Man kann unterschiedlicher Meinung darüber sein, inwelchem Maße eine Zentralbank ihre Entscheidungenfür Märkte berechenbar machen sollte, weil mit Bere-chenbarkeit immer auch eine Einladung zu Spekulationverbunden sein könnte. Vor diesem Hintergrund kannman auch das Wort „unbegrenzt“ unterschiedlich inter-pretieren und darüber viel diskutieren. Nur, man mussdas zuvor Gesagte bedenken.Jedenfalls ist entscheidend, dass ohne konsequenteReformen, ausgehandelt mit den drei Institutionen Inter-nationaler Währungsfonds, Europäische Zentralbankund EU-Kommission und konsequent durch diese Insti-tutionen überwacht – das ist das, was man „Troika“nennt –, in den Mitgliedstaaten gar nichts geht. Dasnennt man Konditionalität. Diese Konditionalität ist un-abdingbare Voraussetzung für jedes europäische Hilfs-programm.
Das steht in den Verträgen, in der EFSF und auch imESM, wenn er denn demnächst in Kraft tritt. Daran än-dert sich für die Zukunft nichts.Übrigens weiß auch die Europäische Zentralbank,dass über Programme der EFSF oder zukünftig des ESMnur verhandelt werden kann, wenn zuvor der DeutscheBundestag der Aufnahme solcher Verhandlungen überein Anpassungsabkommen zugestimmt hat. Das ist be-kannt, und auch daran wird sich nichts ändern.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit dieser konse-quenten, von manchen als engstarrig angesehenen Hal-tung, dem Bestehen auf Konditionalität, darauf, dassjede Hilfe immer Hilfe zur Selbsthilfe sein muss undnicht daran vorbeiführen darf, dass die Ursachen derProbleme bekämpft werden, mit der Auffassung, dasswir Zeit kaufen können, aber dass wir nicht anstelle derLösung Zeit kaufen dürfen und die Probleme nicht aufdie lange Bank schieben dürfen, mit dieser Haltung alsosind wir in der Krise gut vorangekommen. In Portugalzeigen die makroökonomischen Kennziffern, dass dieReformen greifen. Irland ist bereits dabei, wieder Zu-gang zu den Finanzmärkten zu finden. Selbst Griechen-land hat beachtliche Schritte zur Reduzierung seinerHaushaltsdefizite unternommen.Der nächste Troika-Report wird ergeben, ob und in-wieweit die strukturellen Maßnahmen umgesetzt wordensind. Aber es ist klar: Alle Verpflichtungen aus dem erstzu Beginn dieses Jahres vereinbarten Programm müssenerfüllt werden. Wenn das nicht der Fall wäre, würdeerneut Vertrauen zerstört und erneut die Ansteckungs-gefahr für die gesamte Euro-Zone vergrößert werden.Deswegen kann es in dieser Frage keine neuen Verhand-lungen geben. Vielmehr muss das, was vereinbart wor-den ist, von allen Beteiligten umgesetzt und erfüllt wer-den.
Im Übrigen haben alle Länder der Euro-Zone, insbe-sondere die oft genannten Länder Spanien und Italien,beachtliche Fortschritte gemacht: in der Finanzpolitikdurch Reduzierung ihrer Defizite, durch strukturelle Re-formen zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit.Insgesamt sind wir in der Euro-Zone auf dem richtigenWeg.Die Mängel in der Architektur der Währungsunion,die wir bei ihrer Gründung in Kauf nehmen mussten– darüber gab es in den 90er-Jahren eine intensive De-batte – werden konsequent korrigiert. Wir sind in derhaushaltspolitischen Überwachung weit vorangekom-
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men. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat jetzt mehrBiss, und er kann nicht mehr so leicht ausgehebelt wer-den wie im Jahre 2003, als er unter den RegierungenChirac und Schröder erheblich beschädigt worden ist.Das ist für die Zukunft ausgeschlossen.
Im Fiskalvertrag haben sich 25 europäische Staaten– alle Mitgliedstaaten der Euro-Zone und acht der zehnweiteren Mitgliedsländer der Europäischen Union –dazu verpflichtet, in ihre nationale RechtsordnungSchuldenbremsen einzufügen, die der Schuldenbremsedes Grundgesetzes sehr ähnlich sind. Verehrte Kollegin-nen und Kollegen, wer vor zwei Jahren vorausgesagthätte, dass sich darauf 25 Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union verpflichten würden, der hätte im bestenFall ein mildes Lächeln geerntet. Dies zeigt, dass einEinstellungswandel in Europa Platz gegriffen hat: Wirlernen aus den Fehlern der Vergangenheit; die Kriseführt zu ihren Lösungen.
Wir sind übrigens auch bei der Finanzmarktregulie-rung gut vorangekommen. Das kann man länger ausfüh-ren, aber das will ich heute nicht tun. Auf eines will ichjedoch hinweisen: Finanzlehren zu ziehen aus dem Man-gel an Regulierung, der zu den Übertreibungen, zur Fi-nanz- und Wirtschaftskrise geführt hat, ist auch einwichtiges Ziel; denn dadurch wird dazu beigetragen, dieStaatsschuldenkrise zu überwinden. Wenn die Bankenmehr Eigenkapital halten müssen, wenn das Leveragingstärker begrenzt wird, wird man zwar bei den Rendite-erwartungen nicht mehr von einer Untergrenze von25 Prozent ausgehen können, aber die Ansteckungsge-fahren für Banken in Staatsschuldenkrisen werden redu-ziert. Auch das trägt dazu bei, dass wir weniger krisen-anfällig als in der Vergangenheit werden.Wir brauchen – auch das hat die Krise gezeigt – eineMindestvereinheitlichung im europäischen Bankenrecht.Ich will das ein wenig präziser darlegen, weil in der öf-fentlichen Debatte ein paar Dinge durcheinandergehen.Eine durchgreifende europäische Bankenaufsicht undklare Regeln zur Restrukturierung notleidender Banken,die von dieser europäischen Bankenaufsicht durchge-setzt werden können, sind notwendig. Deswegen habendie Staats- und Regierungschefs die Finanzminister mitder Konkretisierung einer solchen Aufsicht beauftragt,und sie haben die Kommission gebeten, Vorschläge dazuzu erarbeiten. Die Kommission wird morgen ihre erstenVorschläge dazu vorstellen, die bis zum Jahresende imRat beraten werden sollen.Erst wenn eine solche europäische Aufsicht unterEinbeziehung der Europäischen Zentralbank, also einwirksamer einheitlicher Aufsichtsmechanismus für Ban-ken des Euro-Währungsgebiets, eingerichtet worden ist,könnte der Stabilitätsmechanismus ESM gemäß der Ver-einbarung der Staats- und Regierungschefs vom 28. Juni2012 und vorbehaltlich jeweiliger parlamentarischer Zu-stimmungen die Möglichkeit bekommen, Banken zu re-kapitalisieren. Nur wer die Aufsichtskompetenzen hat– das war der Grund dieser Regelung – und auch Re-strukturierung durchsetzen kann, kann notfalls Kapitalzuschießen. Das darf man nicht voneinander trennen.Im Übrigen will ich darauf hinweisen: Auch wenn einsolcher Beschluss gefasst würde, der übrigens eine Än-derung der Leitlinien für den ESM voraussetzen würde,die wir wiederum zuvor im Bundestag beraten und ver-abschieden müssten, würde es dabei bleiben, dass mit ei-nem Mitgliedsland, das einen Antrag für eine solche di-rekte Bankenrekapitalisierung durch den ESM stellt,auch entsprechende Anpassungsmaßnahmen – Stichwort„Konditionalität“ – vereinbart würden. Daran wird sichnichts ändern, und daran darf sich nichts ändern.
Im Übrigen muss allen Beteiligten klar sein, dass derAufbau einer schlagkräftigen europäischen Bankenauf-sicht eine komplexe Aufgabe ist. Gründlichkeit geht vorSchnelligkeit. Übereilte Scheinlösungen werden uns da-bei nicht helfen.
Wir sollten uns deswegen zunächst auf diejenigen Ban-ken konzentrieren, die auf europäischer Ebene System-relevanz haben können.Mir scheint es unrealistisch zu sein, in sehr kurzer Zeiteine schlagkräftige europäische Aufsicht für 6 000 bis8 000 Institute aus dem Boden stampfen zu wollen. ImÜbrigen brauchen wir eine klare Trennung vom geldpoli-tischen Mandat der Europäischen Zentralbank, die sichzumindest in den Organisations- und Entscheidungs-strukturen niederschlagen muss. Nicht zuletzt brauchenwir in jedem europäischen Staat eigene funktionierendeEinlagensicherungssysteme und Rekapitalisierungsre-geln.
Hierzu liegen Regelungsvorschläge der Kommission inForm ausgearbeiteter Richtlinien vor. Wir setzen uns da-für ein, diese Rechtsetzungsverfahren zügig abzuschlie-ßen.Aber dies alles, verehrte Kolleginnen und Kollegen,muss von den Überlegungen, mit denen die vier Präsi-denten, die sogenannte Van-Rompuy-Gruppe, beauftragtsind, streng getrennt werden. Ihnen geht es darum,grundlegende institutionelle Veränderungen in Richtungauf eine wirkliche Fiskal- und Bankenunion voranzu-bringen. Das ist aber ein anderes Thema. Wir müssenuns auf das konzentrieren, was jetzt auf der Tagesord-nung steht, und dürfen das nicht mit anderen Punktenverwechseln. Man leistet den ernsthaften Bemühungenum eine schlagkräftige europäische Bankenaufsicht imÜbrigen einen Bärendienst, wenn man sie auf Fragen ge-meinsamer oder geeigneter Mittelaufbringung reduziert.Natürlich versteht mancher in Europa unter dem Stich-wort „Bankenunion“ viel mehr. In der kurzen Frist solltesich die Europäische Kommission allerdings auf den kon-kreten Auftrag konzentrieren, also auf das unmittelbarAnstehende und Machbare. Eine weitergehende Debatteüber eine Bankenunion als Teil einer echten europäischen
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Stabilitätsunion hat gewiss ihre Berechtigung. Aber einsolches Konzept gehört in den Gesamtkontext der not-wendigen institutionellen Vertiefung in Europa und in derEuro-Zone. Dafür werden die vier Präsidenten, VanRompuy als Ratspräsident zusammen mit den Präsiden-ten von Kommission, EZB und Euro-Gruppe, den Staats-und Regierungschefs im Laufe des Herbstes entspre-chende Vorschläge vorlegen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Vertrauenskriseim Euro-Raum hat – das habe ich eingangs erwähnt –natürlich Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage inEuropa und der ganzen Welt. Die Bundesregierung hatdas Wirtschaftswachstum mit real 0,7 Prozent in diesemJahr und 1,6 Prozent im nächsten Jahr – das waren dieZahlen der Frühjahrsprognose der Bundesregierung –von Anfang an vorsichtig geschätzt. Diese Schätzung ist,auch was die Entwicklung in diesem Jahr betrifft, mitBlick auf die aktuellen Zahlen nach unten gut abgesi-chert.Die aktuellen Konjunktureinflüsse machen deutlich:Ohne ein wettbewerbsfähiges Europa und ohne solideStaatsfinanzen, auch in anderen europäischen Ländern,wird es auch für uns in Deutschland keine nachhaltigeEntwicklung geben. Das gilt für die Wirtschaft wie fürdie öffentlichen Haushalte. Deshalb – ich wiederholedies – ist unser Engagement in Europa und für Europavor allem eine gute Investition in unsere eigene Zukunft.Wir leisten mit dem Haushalt 2013 einen wichtigenBeitrag auch zur Stabilisierung der Euro-Zone. Wir set-zen national unseren Weg der wachstumsfreundlichenKonsolidierung konsequent fort. Wir sind in dieser Le-gislaturperiode – daran muss man erinnern – mit einerim Haushaltsentwurf 2010 vorgesehenen Neuverschul-dung von rund 86 Milliarden Euro gestartet. Wir konn-ten die Neuverschuldung seither konsequent abbauen,auf 18,8 Milliarden Euro im vorliegenden Entwurf desBundeshaushalts 2013. Wir senken die Neuverschul-dung in diesem Regierungsentwurf auch gegenüber denim März veröffentlichten und festgelegten Eckwertenweiter ab. Im Vergleich zum Soll des Jahres 2012 – sowie es im Haushalt 2012 beschlossen worden ist, ein-schließlich des Nachtragshaushaltes – handelt es sich umeinen Rückgang der Neuverschuldung um 13,3 Milliar-den Euro.
Wir werden die Neuverschuldung auch im Haus-halt 2014, dessen Eckwerte wir im Frühjahr des nächstenJahres beschließen und vorstellen werden, weiter konse-quent zurückführen. Das ist ein wesentlicher Beitrag derBundesrepublik Deutschland, um die gesamtstaatlichenVerpflichtungen aus dem Europäischen Stabilitäts- undWachstumspakt und aus dem Fiskalvertrag zu erfüllen.Ich will hinzufügen: Diese Leistungen aus dem Bun-deshaushalt sind umso bemerkenswerter, als dass derBund den Ländern und Gemeinden in dieser Legislatur-periode in erheblichem Umfang zusätzliche Finanzmittelzur Verfügung gestellt hat, die dazu beigetragen haben,dass die Länder und Kommunen insgesamt gesehen be-reits einen nahezu ausgeglichenen Haushalt haben. Auchdas muss man sich gelegentlich in Erinnerung rufen.
Wir werden die Konsolidierungspolitik zur Reduzie-rung der Neuverschuldung in den weiteren Jahren desFinanzplanungszeitraums fortsetzen. Damit gelingt esuns nicht nur, die Vorgaben der Schuldenbremse imGrundgesetz einzuhalten, sondern wir übertreffen dieseVorgaben weit. Der Bund kann noch in dieser Legislatur-periode, also im nächsten Jahr, und damit drei Jahre frü-her als nach der Schuldenbremse des Grundgesetzes er-forderlich, die eigentlich ab 2016 geltende Obergrenzefür das strukturelle Defizit des Bundes von 0,35 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts einhalten und in den Folge-jahren deutlich unterschreiten. Das heißt, wir bleiben imkommenden Jahr um rund 24 Milliarden Euro unterhalbdes vom Grundgesetz erlaubten Defizits.Herr Kollege Schneider, Ihr Jahr für Jahr wiederholterund unredlicher Vorwurf, wir würden irgendwelchePolster ansparen, um am Ende der Legislaturperiode ausdem Vollen zu schöpfen, ist damit wohl endgültig wider-legt. Ich hoffe, Sie werden ihn heute erstmals nicht erhe-ben.
Wir senken die Neuverschuldung, indem wir das Aus-gabenwachstum strikt begrenzen. So haben wir dasschon im Koalitionsvertrag zu Beginn der Legislaturpe-riode festgelegt.Der Regierungsentwurf zum Haushalt 2013 und derFinanzplan bis 2016 sehen vor, dass die Ausgaben desBundes 2013 302,2 Milliarden Euro betragen sollen. Sieunterschreiten damit das Soll des Jahres 2012 um rund10 Milliarden Euro. 2014 sollen sich die Ausgaben nachdem Finanzplan auf 302,9 Milliarden Euro, 2015 auf303,3 Milliarden Euro und 2016 auf 309,9 MilliardenEuro belaufen. Wir führen unsere seit Beginn dieser Le-gislaturperiode eingeschlagene Linie einer fast vollstän-digen Konstanz des Ausgabevolumens bei veränderterPrioritätensetzung innerhalb des Plafonds also konse-quent fort.Die Begrenzung der Ausgabensteigerung auf einenWert weit unterhalb der Wachstumsrate des Brutto-inlandsprodukts ist ein Paradigmenwechsel. In vergan-genen Legislaturperioden sind die Ausgaben leider inder Regel stärker gewachsen als die Einnahmen oder dasBruttoinlandsprodukt. Als Folge daraus ist die Verschul-dung des Bundes weiter angestiegen, und die finanzpoli-tischen Gestaltungsmöglichkeiten haben abgenommen.Wir verringern die Verschuldung des Bundes im Verhält-nis zum Bruttoinlandsprodukt und erhöhen damit denGestaltungsspielraum künftiger Generationen.
Mit dem Haushalt 2013 beraten wir heute auch dasHaushaltsbegleitgesetz, das einige Maßnahmen im Be-reich der Sozialversicherungen enthält, die im Saldo zueiner Entlastung des Haushalts um rund 4,9 Milliarden
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Euro führen. Wir senken unter anderem den Bundeszu-schuss an den Gesundheitsfonds einmalig um 2 Milliar-den Euro, weil dieser Betrag zur Finanzierung des So-zialausgleichs wegen einer entsprechenden einmaligenErhöhung um 2 Milliarden Euro für Zusatzprämien nichtgebraucht wurde. Das ist eine positive Wirkung der gu-ten wirtschaftlichen Entwicklung der Beitragseinnahmenam Arbeitsmarkt und zeigt: Eine solide Finanz- undWirtschaftspolitik zahlt sich auch in Bezug auf die so-ziale Sicherheit aus.
Im Übrigen bleibt der Zuschuss zum Gesundheitsfondsunbeschadet der im Gesundheitswesen anfallendenÜberschüsse auf einem hohen Niveau.Es gibt übrigens Schlimmeres als Überschüsse in dengesetzlichen Sozialversicherungskassen, vor allem vordem Hintergrund unserer demografischen Entwicklung.Man meint ja gelegentlich, es gebe kein größeres Pro-blem als diese Überschüsse. Defizite sind jedenfalls einsehr viel größeres Problem.
– Ich wusste natürlich, dass Sie genau an dieser Stelleprotestieren. Überschüsse kennen Sie gar nicht. Sie hat-ten es immer nur mit Defiziten zu tun.
Es kommt zu einer Entflechtung zwischen dem Etatder Bundesagentur für Arbeit und dem Bundeshaushalt.Damit stärken wir die Eigenständigkeit der Bundesagen-tur weiter. Für den Wegfall der Beteiligung des Bundesan den Kosten der Arbeitsförderung braucht die Bundes-agentur im Gegenzug keinen Eingliederungsbeitragmehr für Langzeitarbeitslose an den Bundeshaushalt zuleisten.Die Sozialversicherungen erwirtschaften Überschüsse;ich habe es gerade gesagt. Ich wiederhole: Es gibtSchlimmeres. Für die gesetzliche Rentenversicherunghat das Bundeskabinett am vergangenen Mittwoch eineReduzierung des Beitragssatzes zum 1. Januar 2013 be-schlossen. Das ist im geltenden Regelwerk aufgrund dergesetzlichen Rentenformel so vorgesehen, wenn die Re-serven in der Rentenversicherung ein bestimmtes Niveauüberschreiten. Ich plädiere sehr dafür: Es ist ein Aus-druck von Berechenbarkeit und Verlässlichkeit, wenndas für die Rentenversicherung geltende Regelwerk imEinzelfall konkret angewandt und nicht je nach Kassen-lage manipuliert wird.
Wir stärken auf diese Weise das Versicherungsprinzipund vor allen Dingen Berechenbarkeit und Verlässlich-keit.Im Übrigen bedeutet unser Konsolidierungskurs ge-rade eben nicht, dass wir Zukunftsinvestitionen im Bun-deshaushalt zurückfahren.
– Nein.
Um für nachhaltiges Wachstum in Deutschland zu sor-gen, setzen wir weiter auf gezielte Investitionen in Infra-struktur, in Bildung und Forschung. Die klassischenInvestitionen, insbesondere im Verkehrsbereich, alsoStraße, Schiene, Wasserstraße und kombinierter Verkehr,werden bei einem Betrag in Höhe von rund 10 MillionenEuro stabilisiert.
– Entschuldigung, Milliarden! Vielen Dank. Aber Ver-sprecher kommen gelegentlich vor. Das ist nicht dererste, den ich heute in diesem Saal gehört habe.
Wir liegen mit diesen 10 Milliarden Euro deutlichoberhalb des Niveaus vor Beginn der konjunkturellenAusgleichsmaßnahmen im Jahre 2009 – das ist die ent-scheidende Größe –, also vor den Gegenmaßnahmen, diewir krisenbedingt beschlossen haben. Im Übrigen entfal-len rund 53 Prozent, also mehr als die Hälfte, der Ge-samtausgaben des Einzelplans des Verkehrsministeriumsauf Investitionsausgaben.Aber vor allem fließen in den nächsten Jahren erheb-liche Mittel in die Bereiche Bildung und Forschung unddamit in unabdingbare Investitionen in die Zukunftsfä-higkeit unseres Landes.
Der Einzelplan 30, also der Etat des Bundesministeriumsfür Bildung und Forschung, wächst 2013 um rund800 Millionen Euro auf nunmehr 13,7 Milliarden Euro.Der Bund unterstützt damit die Länder, die angesichtsder stark gestiegenen Zahl von Studienanfängern für dieSchaffung zusätzlicher Studienplätze originär zuständigsind.Bildung und Forschung sind die klar erkennbare Prio-rität dieser Bundesregierung. Zwischen 2006 und 2013ist der Anteil des Einzelplans 30 an den Gesamtausgabendes Bundeshaushalts um mehr als 50 Prozent gestiegen.2006 betrug der Anteil 3 Prozent; 2009 betrug er3,4 Prozent, und im Jahre 2013 liegt der Anteil bei4,6 Prozent. Die Bundesregierung meint es also ernst mitdem Motto „Vorfahrt für Bildung und Forschung“. Wirreden nicht nur davon, wie es andere Regierungen frühergetan haben.
Wir hatten zu Beginn dieser Legislaturperiode verein-bart und verkündet, dass wir die Mittel für Bildung undForschung trotz der notwendigen Konsolidierung insge-samt in der Legislaturperiode um 12 Milliarden Euroaufstocken werden. Wir haben in dieser Legislaturpe-riode mehr als Wort gehalten. Ich möchte in diesem Zu-sammenhang noch einmal besonders die Bundesmittelfür die erste Säule des Hochschulpakts 2020 erwähnen,
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die sich im kommenden Jahr auf rund 1,8 MilliardenEuro belaufen werden.Mit Investitionen in Bildung und Forschung und indie Ausbildung der Jugend, mit Investitionen auch in dieVereinbarkeit von Familie und Beruf setzt die Bundesre-gierung die richtigen Schwerpunkte, um Wirtschaft undGesellschaft auf den demografischen Wandel vorzube-reiten. Die Bundeskanzlerin hat wieder und wieder da-rauf hingewiesen – nicht um neue Ängste zu schüren,sondern um uns diesen stattfindenden demografischenWandel bewusst zu machen –, dass es ein Schwerpunktunserer Bemühungen insgesamt, also gesamtstaatlichund gesamtgesellschaftlich, sein muss, uns auf diesenWandel rechtzeitig vorzubereiten und Vorsorge zu tref-fen. Ich glaube, soweit wir haushalterisch unseren ent-sprechenden Beitrag leisten können, sind das die richti-gen Maßnahmen.Wir werden übrigens mit dem Haushalt 2013 auch un-serer globalen Verantwortung weiter gerecht. Der Bundhat seine direkten Aufwendungen für Entwicklungszu-sammenarbeit in den zurückliegenden Jahren erheblichgesteigert. Nach der OECD-Statistik hat Deutschland imJahr 2011 insgesamt rund 14,5 Milliarden US-Dollar anöffentlichen Mitteln für diesen Bereich aufgewandt. Wirwaren damit in absoluten Zahlen nach den USA derzweitgrößte Geber weltweit. Man muss das auch einmalsagen.
Das hohe Ausgabenniveau des Einzelplans des Bun-desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung, aus dem ein Großteil der Mittel für dieEntwicklungszusammenarbeit finanziert wird, wird2013 noch einmal auf dann rund 6,42 Milliarden Euroerhöht. Gegenüber dem bislang geltenden Finanzplanwerden damit zusätzliche Mittel in Höhe von rund670 Millionen Euro als öffentliche Entwicklungshilfe– ODA – bereitgestellt.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nun will ich vonder Ausgaben- zur Einnahmeseite des Haushalts und da-mit zur Steuerpolitik kommen.
– Das mag sein. Manche in der Opposition haben ja einfast schon eindimensionales Verständnis von Steuerpoli-tik, das offenbar nur in eine Richtung geht, nämlich im-mer mehr Steuererhöhungen. Das ist das Einzige, wasihnen einfällt. Dieses Verständnis teilt die Bundesregie-rung ausdrücklich nicht.
– Herr Kollege Oppermann, wenn man Ihren Zwischen-ruf „Steuersenkungen auf Pump!“ einen Moment hinter-fragt, dann erkennt man, dass das allein schon IhreGrundannahme zeigt: Sie gehen davon aus, dass eigent-lich alles, was die Bürger nicht an den Staat abführen, ir-gendetwas ist, das nicht in Ordnung ist. Deswegen sagenSie: „Steuersenkungen auf Pump!“ Nein, es geht darum:Wir erheben Steuern zu nichts anderem als zur Finanzie-rung staatlicher Aufgaben und Ausgaben.
Deswegen sind Steuersenkungen lediglich weniger Steu-ern, die wir einnehmen; sie können gar nicht auf Pumpfinanziert werden. Das ist in sich ein logischer Denk-schluss. Aber wenn man von dem Ansatz ausgeht, dasseigentlich alles dem Staat ist, der dann großzügigerweiseden Bürgern ein paar Euro übrig lässt, dann kann mannatürlich zu solchen Zwischenrufen kommen. Sie solltenin Zukunft solche Zwischenrufe besser nicht machen.
Im Übrigen sollten wir es einmal klar sagen: Deutsch-land hat wirklich kein Einnahmeproblem. Das Schwa-dronieren über eine angebliche Unterfinanzierung unse-res Staates mag in manchen Ländern berechtigt sein.Aber wir in Deutschland haben ein insgesamt auskömm-liches Einnahme- und Ausgabenniveau.
Deshalb, Frau Kollegin Hagedorn, machen wir genaudas andere: Wir schließen die Schere zwischen Einnah-men und Ausgaben nicht, indem wir immer die Steuernerhöhen, sondern wir schließen diese Schere – die Haus-halts- und Finanzpolitik zeigt es –, indem wir die Ausga-ben langsamer wachsen lassen als die Einnahmen, undzwar ohne Steuererhöhungen. Das ist nachhaltige Fi-nanz- und Steuerpolitik.
Eine moderate Begrenzung des Ausgabenwachstumsist die beste wachstumsfreundliche Politik. Dazu gehörtim Übrigen auch, dass der Staat nicht heimlich Infla-tionsgewinne einstreicht: durch verdeckte Steuerer-höhungen, die sogenannte kalte Progression, die schlei-chend immer größere Teile des Einkommens derBürgerinnen und Bürger betrifft.
Neben der Haushaltskonsolidierung und den Investi-tionen in Wachstumsbereichen gehört für uns zu einerwachstumsfreundlichen Finanzpolitik auch, durch ge-setzgeberische Maßnahmen zu Korrekturen zu kommen,wenn es inflationsbedingte Mehreinnahmen gibt.
Der Verzicht auf Einnahmen aus der kalten Progressionist übrigens auch ein klares Bekenntnis zu dauerhafterGeldwert- und Preisstabilität und zu größerer Steuerge-rechtigkeit.So hoffe ich, dass über unseren Gesetzentwurf imHerbst im Vermittlungsausschuss eine Einigung mit demBundesrat erzielt werden kann, damit das Gesetz zumAbbau der kalten Progression rechtzeitig im kommendenJahr in Kraft treten kann und die Bürgerinnen und Bür-ger nicht permanent zusätzlich belastet werden, wasohne einen Beschluss des Gesetzgebers der Fall wäre.
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Es geht dabei um mehr als um einen einmaligenSchritt. Es geht um die systematische Überprüfung desZusammenwirkens von Preissteigerungen und Steuer-progression. Dieses Zusammenwirken soll alle zweiJahre überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden,um einen grundlegenden Ausstieg aus heimlichen, sovom Gesetzgeber nicht beschlossenen Steuererhöhungensicherzustellen. Im Übrigen haben wir im Haushalt 2013und auch im Finanzplan die Auswirkungen dieses Geset-zes bereits vollständig berücksichtigt. Das zeigt, HerrKollege Oppermann, dass der Verzicht auf vom Gesetz-geber nicht beschlossene Steuereinnahmen finanz- undhaushaltspolitisch durchaus möglich ist, ohne dass wirdas Erreichen der Konsolidierungsziele gefährden.
Ich habe eben gesagt, dass manche in der Oppositionein etwas eindimensionales Verständnis von Steuerpoli-tik zu haben scheinen, das immer nur in Richtung höhe-rer Steuerbelastung geht. Das will ich ausdrücklich auchauf manche absurden Debatten in der Sommerpause übereine Besteuerung der Reichen beziehen, in denen sich ei-nige ziemlich vergaloppiert haben.In der Sache betrifft diese Debatte eher die Mittel-schicht und damit die mittelständischen deutschenUnternehmen. Ich will es noch einmal sagen: UnserSteuersystem weist keinen grundlegenden Mangel anGerechtigkeit auf, anders als es den Menschen gelegent-lich eingeredet wird. Das obere 1 Prozent in der Einkom-menspyramide trägt immerhin deutlich mehr als 20 Pro-zent zum gesamten Einkommensteueraufkommen bei.Die oberen 10 Prozent tragen mehr als die Hälfte zumgesamten Einkommensteueraufkommen bei. Die unteren50 Prozent in der Einkommensteuerstatistik tragen nurzu rund 5 Prozent zum Einkommensteueraufkommenbei. Das alles zeigt: Der soziale Ausgleich über die steu-erliche Progression funktioniert in unserem Land ganzgut, nicht mehr und nicht weniger.
Ich sage das gar nicht kritisch. Ich weise nur auf die Zu-sammenhänge hin, weil es gelegentlich in der Öffent-lichkeit völlig verzerrt dargestellt wird.Im Übrigen ist die Besteuerung von Vermögen ebennicht so trivial, wie Sie gelegentlich zu meinen scheinen.Es handelt sich bei jeder Art der Besteuerung von Ver-mögen um eine Steuer, die außergewöhnlich schwierigzu justieren ist. Deswegen hat das Bundesverfassungsge-richt sie schon vor Jahren für verfassungswidrig erklärt.
– Ja, doch. Ich werde es Ihnen gleich erklären. Wenn Siesich einmal beruflich mit Steuerrecht beschäftigt haben,dann wissen Sie, dass Bewertungsfragen außerordentlichkompliziert sind. Des Weiteren kommt die Volatilität inZeiten der Globalisierung hinzu.Zunächst zum Bewertungsproblem. Wenn Sie in ers-ter Linie Unternehmensvermögen besteuern wollen,dann müssen Sie aufpassen, wen Sie treffen. Es ist ebenschwierig, eine gerechte Bemessungsgrundlage für dasVermögen zu finden, das nicht nur auf dem Papier be-steht. Das ist das Problem jeder Bewertung. Wenn Siedann unternehmerische Aktivitäten behindern oder Un-ternehmer ins Ausland treiben, dann haben Sie am Endefür die Arbeitnehmer nichts gewonnen, im Gegenteil.Das ist das Problem jeder Besteuerung.Wenn Sie jede Form von Vermögen gemäß dem Ge-bot der Gleichheit gleich besteuern, dann haben Sie dasProblem der Bewertung, also das Problem, wie Vermö-genswerte bzw. eingesetztes Kapital im Vergleich zu an-deren Vermögen, zum Beispiel zu Geldvermögen, unterBerücksichtigung der Volatilität richtig zu bewertensind. Wenn Sie bedenken, wie sehr wir heute dem Druckdurch die Globalisierung ausgesetzt sind und dass Kapi-tal dort investiert wird und Arbeitsplätze dort geschaffenwerden, wo günstige Bedingungen herrschen, dann dür-fen Sie nicht so leicht daherschwadronieren, wie Sie esgelegentlich tun. Auch Sie haben eine Verantwortung fürWirtschaft und Vollbeschäftigung. Wir sind dieser Ver-antwortung mit unserer Politik gerecht geworden.
Ich bestreite nicht, dass wir die Ausgestaltung unseresSystems weiter verfeinern können und verfeinern müs-sen. Wenn aber uns und unseren Bürgern für das Jahr2012 das Bild einer düsteren Wirtschaftslage und einesGegensatzes von Arm und Reich gemalt wird, dann istdas eher ein Hirngespinst und das genaue Gegenteil derWirklichkeit, die die Menschen in unserem Land täglicherleben.
– Sie können den real existierenden Sozialismus immerwieder heraufbeschwören. Das Problem ist aber, dassSie auch noch versuchen, Ihre Hirngespinste zu realisie-ren. Die Wirklichkeit war damals so traurig, dass wir dasnicht noch einmal in Deutschland und in Europa erlebenwollen.
Ich muss in diesem Zusammenhang auch ein Wort zudem Steuerabkommen mit der Schweiz sagen. Ich hoffesehr, dass es uns gelingt, es noch zu ratifizieren. Wirsollten aufhören, in einer Weise in Europa aufzutreten,dass unsere kleineren Nachbarn das Gefühl haben, wirwürden bei ihnen andere Maßstäbe ansetzen.
– Bleiben Sie doch ganz ruhig.
Ich habe hinreichend Geduld,
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darauf zu warten, dass Sie in Ruhe den Hinweis akzep-tieren, dass es Deutschland nicht gut bekommt, wenn wirden Eindruck erwecken, wir würden gegenüber Nach-barn in Europa, insbesondere gegenüber kleineren, nichtdie Prinzipien respektieren, die wir selber für uns alsnotwendig, richtig und angemessen halten.
Ich glaube auch gar nicht, dass Sie mir da im Grundsatzwidersprechen.Deswegen will ich in aller Ruhe sagen: In Deutsch-land lehnen wir die rückwirkende Einführung von belas-tenden Gesetzen aus Verfassungsgründen ab. Das ist einPrinzip unseres Rechtsstaats. Das brauchen wir uns ge-genseitig gar nicht vorzuhalten. Das Verfassungsgerichtwürde im Übrigen auch jeden Verstoß dagegen rügen.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das inDeutschland so ist, dann sollte doch niemand auf dieIdee kommen, von einem Land wie der Schweiz, dieauch ein demokratischer Rechtsstaat ist – manche sagensogar, länger als wir –, etwas anderes zu verlangen. DieSchweiz wird ihre Gesetze genauso wenig rückwirkendaußer Kraft setzen können, wie wir das in Deutschlandtun. Das ist der entscheidende Punkt bei diesem Abkom-men. Darüber sollten wir uns nicht hinwegtäuschen.
– Herr Kollege Oppermann, das ist ein zentraler Punkt.Wir haben ein Abkommen, mit dem wir für die ZukunftAnlagen in der Schweiz genauso behandeln wie inDeutschland. Mehr kann man vernünftigerweise nichtwollen.Für die Zukunft gibt es keinen anderen Schutz fürSteuerpflichtige als den in Deutschland. Für die Vergan-genheit kann nicht rückwirkend gesetzlich Zugesagtesaufgehoben werden. Sie müssen zur Kenntnis nehmen,dass die Steueransprüche, übrigens auch strafrechtlicheVerfolgungsansprüche, in der Regel in zehn Jahren ver-fallen. Bei allen Vermögen, die schon länger als zehnJahre in der Schweiz sind, geht es nur um die Besteue-rung von Erträgen. Die Pauschalbesteuerung, die wir fürdiejenigen vereinbart haben, für die wir nicht die Regel-besteuerung durchführen konnten, ist höher als die Be-steuerung nur der Erträge in diesen zehn Jahren. Mehr istmit einer Regelung für die Vergangenheit, wenn mannicht die Rückwirkung von gesetzlichen Regelungen inder Schweiz fordern will, wirklich nicht zu erreichen.In aller Ruhe: Ich habe immer gesagt, dass auch dasOECD-Musterabkommen gilt. Am 18. Juli ist eine neueKommentierung des OECD-Musterabkommens auch zuden Gruppenanfragen in Kraft getreten. Wenn Sie sichdas genau anschauen, dann werden Sie sehen: Alle dieArgumente, die gegen das Abkommen vorgebracht wer-den, laufen, wenn man sie ernsthaft prüft, völlig insLeere. Wenn es kein Abkommen gibt, gibt es auch keineRegelung, die das Abschleichen aus der Schweiz verhin-dern wird. Auch das ist klar. Übrigens: Wenn es ein Ab-schleichen aus der Schweiz geben sollte, dann zeigt dasnur, dass das Abkommen für die Steuerpflichtigen offen-bar nicht so attraktiv ist, wie Sie es darstellen. Auch da-rin liegt ein gewisser Widerspruch. Ich sage mit großemErnst: Ich hoffe, dass wir in einer vernünftigen, ange-messenen und sachlichen Diskussion unserer Verantwor-tung gerecht werden.Dann will ich noch eine weitere Bemerkung machen.Ja, solange wir den Zustand haben, den wir durch dasAbkommen – und nur durch das Abkommen – ändernkönnen, solange wir den unbefriedigenden Zustand vonheute haben, haben wir uns in schwierigen, höchst um-strittenen Entscheidungen gelegentlich für den Ankaufvon Datensammlungen ausgesprochen. Aber, liebe Kol-leginnen und Kollegen, es kann ja wohl niemand imErnst die Auffassung vertreten, dass die Gesetzmäßig-keit des Vollzugs von Gesetzen als Prinzip, als Regelfallauf die Zusammenarbeit mit mehr oder weniger krimi-nellen Figuren gestützt werden soll. Als Ausnahme mages im Einzelfall gerechtfertigt sein; diese Entscheidunghaben wir miteinander getroffen. Darauf aber den Regel-vollzug der Besteuerung stützen zu wollen, ist die Per-version des Rechtsstaats.
Eine weitere Bemerkung. Wir sind in der Sommer-pause ja geradezu wie mit Sternschnuppen überschüttetworden mit immer neuen Meldungen von immer neuenDatensammlungen und Ermittlungsverfahren usw. Ichhabe mich immer wieder dringend erkundigt, auch beimBundesamt für Finanzen. Wir hatten vor Jahren eigentlicheine feste Verabredung zwischen den Steuerverwaltungenvon Bund und allen Ländern, wie in solchen Fällen, auchim Sinne gegenseitiger Unterrichtung, verfahren wird.Frau Bundeskanzlerin, ich muss Ihnen sagen: Ich habekeine Kenntnisse über neue Angebote oder neue Verein-barungen; ich weiß dazu nichts. Die anderen Bundeslän-der – ich habe herumgefragt – haben auch keine Kennt-nisse. Es gibt aus Nordrhein-Westfalen eine Fülle vonMeldungen, die allerdings bisher nicht in den vereinbar-ten Unterrichtungsmechanismen irgendeinem anderenLand mitgeteilt worden sind. Ob das alles stimmt odernicht, kann ich nicht überprüfen. Merkwürdig ist es einwenig.
Deswegen sage ich: Lassen Sie uns in allem Ernst zueiner vernünftigen, sachgerechten, verantwortlichen Lö-sung bei der Herstellung von Gerechtigkeit beim Vollzugunserer Steuergesetze und beim Umgang mit unserenNachbarn in Europa kommen.Gleiche Abkommen haben im Übrigen das VereinigteKönigreich und Österreich – ich glaube, der Bundes-kanzler in Österreich ist gar nicht Mitglied der Europäi-schen Volkspartei; er gehört, glaube ich, Ihrer sozialde-mokratischen Parteienfamilie an – abgeschlossen. Wiralle empfehlen einen entsprechenden Abschluss auchmit Griechenland. Es scheint wohl doch so zu sein, dassder Regelungsgehalt unseres Abkommens etwas ist, wasdie anderen in Europa genauso sehen. Vielleicht setzt
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sich die Vernunft doch gegenüber der etwas verzerrten,polemischen Darstellung durch.Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir habenvor der Sommerpause in einem breiten parlamentarischenKonsens dafür gesorgt – ich will dankbar daran erinnern,dass es gelungen ist –, Entscheidungen zur Bekämpfungder Euro-Schuldenkrise und auch zur innerstaatlichenUmsetzung des Fiskalvertrags zu treffen. Wir haben da-mals vereinbart, dass wir das Kapital für die EuropäischeInvestitionsbank, die sogenannte EIB, entsprechend auf-stocken. Darüber hinaus haben wir mit den Bundeslän-dern vereinbart, dass wir im kommenden Jahr zusätzlicheFinanzmittel für den raschen Ausbau der Kinderbetreu-ung in Höhe von 580,5 Millionen Euro zur Verfügungstellen.Wir wollen das möglichst schnell umsetzen. Deshalbhaben wir uns entschieden, für das laufende Haushalts-jahr einen zweiten Nachtragshaushaltsentwurf vorzule-gen, mit dem wir im Einzelnen unseren Verpflichtungenim Rahmen des europäischen Wachstumspakts und zurinnerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags nach-kommen wollen. Dieser Entwurf soll die Mittel zur Auf-stockung des Kapitals der EIB – das sind 1,6 MilliardenEuro – enthalten. Damit erreichen wir, dass die Hand-lungsfähigkeit der Europäischen Investitionsbank schonjetzt gestärkt wird – das ist dringend notwendig –, dasssie in kurzer Frist zusätzliche wachstumsfördernde In-vestitionen anregt und sich selbst günstig refinanzierenkann.Mit den den Ländern zugesagten zusätzlichen Mittelnfür den Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijäh-rige wollen wir, indem wir sie schon jetzt in den Fondszum Kindertagesstättenausbau einstellen, Länder undKommunen nachdrücklich ermuntern, die vorhandenenMittel möglichst schnell – ich sage für manche: schnellerals bisher – abzurufen, damit wir alle, Bund, Länder undGemeinden, das Inkrafttreten des Rechtsanspruchs imkommenden Jahr ermöglichen und eine ausreichendeZahl an Betreuungsplätzen zur Verfügung stellen.Es wird uns aufgrund der günstigen Entwicklung indiesem Jahr bei Einnahmen und Ausgaben gelingen, diegeplante Nettokreditaufnahme von 32,1 Milliarden Eurofür 2012 auch weiterhin, auch mit einem solchen Nach-tragshaushalt, einzuhalten und nicht zu überschreiten.Der weitere Haushaltsvollzug wird dann im Übrigen zei-gen, ob und inwieweit wir trotz dieses Nachtragshaus-halts am Jahresende im Ist erneut, wie in den vergange-nen Jahren, noch besser abschneiden als im Soll.Mit der vorzeitigen Einhaltung der von der Schulden-bremse erst für 2016 vorgesehenen Obergrenze für diestrukturelle Nettokreditaufnahme haben wir ein ambitio-niertes Ziel gesetzt. Jetzt gilt es, diesen Zielwert für dieNeuverschuldung einzuhalten. Das erfordert von uns al-len Ausgabedisziplin.
Wir müssen davon ausgehen, dass die unseren Haus-haltsplanungen zugrunde gelegte gesamtwirtschaftlicheProjektion der Bundesregierung für 2013 – 1,6 Prozent –im kommenden Jahr nicht übertroffen werden wird; esgibt zu viele Unsicherheiten, weltwirtschaftlich undauch in der europäischen Entwicklung. Das heißt, dasssich aus der wirtschaftlichen Lage – anders als in den zu-rückliegenden Jahren – mit einer hohen Wahrscheinlich-keit keine weiteren Spielräume für den Bundeshaushaltergeben werden. Also müssen wir davon ausgehen, dasssich die Steuereinnahmen nicht besser entwickeln wer-den, als bei der vorangegangenen Steuerschätzung pro-gnostiziert worden ist.Auch beim Arbeitsmarkt, wo die Lage gut ist, könnenwir nicht erwarten, dass sich die Situation gegenüber denPrognosen weiter verbessern wird.Aber umgekehrt sind unsere Schätzungen auch nachunten gut abgesichert, weil der Aufschwung bei denMenschen angekommen ist und weil der hohe Beschäfti-gungsstand wie die insgesamt gute Lohnentwicklung dieEinnahmen des Staates insgesamt nachhaltig stabilisie-ren.Wir sind, in aller Bescheidenheit, für viele europäi-sche Staaten ein Vorbild, und zwar nicht nur, was unserewirtschaftliche Stärke angeht, mit der wir 2009 und 2010aus der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Welt-krieg herausgekommen sind. Ich will doch noch einmaldaran erinnern: Zum Anfang der Legislaturperiode, FrauBundeskanzlerin, wurden Sie gefragt: Was ist denn IhrZiel? Sie haben damals gesagt: Na, wenn wir am Endeder Legislaturperiode da wären, wo wir vor der Krisewaren, dann wäre es toll oder wäre es schon ganz gut. –Wir sind Ende vergangenen Jahres da schon gewesen.Wir sind gut aus der Krise herausgekommen.
Wir haben mit unserer Politik in den vergangenenJahren wie in diesem Jahr gezeigt, dass Wachstum undKonsolidierung – das ist die eigentliche Debatte, auchinternational – sich nicht ausschließen, sondern beides,im Gegenteil, zusammengehört. Unser Ansatz wachs-tumsfreundlicher Konsolidierung hat sich in der Finanz-und Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschlandbewiesen. Es zeigt sich: Eine konsequente Selbstbin-dung an vernünftige Konsolidierung ist ein entscheiden-der Faktor, der zu nachhaltigem Wachstum positiv bei-trägt.
So bieten wir auf der europäischen Ebene eine ver-nünftige, bessere Alternative zu den vielen Wünschennach Vergemeinschaftung, Schuldenunion oder Euro-Bonds.
– Na ja, wir haben fest versprochen, dass wir solchenForderungen aus den Reihen der Opposition niemalsnachkommen werden.
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Wir vergemeinschaften die Schulden nicht. Sie habenlange genug die Forderung erhoben, die Haftung zu ver-gemeinschaften, ohne die Finanzpolitik zu vergemein-schaften, und Ähnliches mehr. Ich will es Ihnen wiedersagen: Wir bieten mit unserer Politik solider Finanzenund nachhaltigen Wirtschaftens eine bessere, seriöse Al-ternative.
Ich will ausdrücklich sagen: Jede Alternative, bei derversucht würde, mit einer weniger soliden Finanzpolitikdie Probleme kurzfristig zu überwinden, würde am Endenicht nur den Steuerzahler teuer zu stehen kommen, son-dern sie würde vor allen Dingen nachhaltiges Wachstumin Europa nicht möglich machen. Alle modernen wirt-schaftlichen Untersuchungen belegen, dass nachhaltigeswirtschaftliches Wachstum nur auf der Grundlage soli-der finanzpolitischer Entwicklung möglich ist und dasseine unsolide Finanzpolitik zwar kurzfristig Strohfeuer-effekte hat, aber kein nachhaltiges Wachstum generierenkann. Deswegen entscheidet sich die Bundesregierungerneut für den Kurs von nachhaltiger, solider, stabilerpolitischer Entwicklung.
Wir nehmen mit unserer Politik als Stabilitätsankerund Wachstumslokomotive in Europa eine Vorreiterrolleein. Wir haben als Konsequenz mit der Schuldenbremseim Grundgesetz die richtigen Weichen gestellt. Alle ma-chen uns das nach. Es ist ja nicht schlecht, wenn wir sa-gen können: Andere haben ein Stück weit aus unserenErfahrungen gelernt; wir haben ja auch selber genügendFehler gemacht. Unsere Finanzpolitik ist glaubwürdig,und deshalb genießen wir auch das Vertrauen der Anle-ger an den Märkten in einem Maße, wie es auf die Dauerschon gar nicht mehr wünschenswert sein kann.Im Übrigen steht noch etwas außer Zweifel; ich willnoch darauf hinweisen. Die EU-Kommission hat kürz-lich den Public Finances Report 2012 veröffentlicht. Da-rin steht, dass sich eine Konsolidierung der öffentlichenFinanzen auf lange Sicht positiv und signifikant in höhe-rem Wachstum wie in höherer Beschäftigung nieder-schlägt. Das ist die Grundlage unserer Politik.
Wir müssen Kurs halten. Wir müssen in schwierigenZeiten und in schwierigem Umfeld unsere Aufgabenweiterhin meistern. Wir müssen die Herausforderungendes demografischen Wandels und der Energiewendemeistern.Wir können in einer immer stärker vernetzten Welt, inZeiten der Globalisierung unsere Interessen nur wahr-nehmen und unserer Verantwortung nur gerecht werden,wenn wir Europäer dies gemeinsam tun. Ein starkes, eineiniges und ein handlungsfähiges Europa ist, wie es inder Präambel des Grundgesetzes steht, ein Beitrag zumFrieden in der Welt, aber es ist vor allem die beste Inves-tition in unser aller Zukunft.Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Joachim Poß für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Schäuble, mit Ihrer Rede haben Sie heuteeines bewiesen, nämlich wofür Sie stehen: Sie stehen fürsoziale, gesellschaftspolitische Ignoranz.
Sie ignorieren, dass wir es mit einer Gesellschaft, diedurch wachsende Ungleichheit geprägt ist, zu tun haben.Wer das ignoriert, der kann für unsere Bevölkerung nichtdie richtige Politik machen.
Sie haben auch bewiesen, dass Sie das falsch analy-sieren, indem Sie bei Arbeitslosen und sozial Schwachengekürzt und gespart und Vermögende sowie Spitzenver-diener geschont haben. Das war Ihre Politik.
Ich habe mich manchmal gefragt, warum ein Mensch mitIhrer Intelligenz und auch Frau Merkel meinen, eine sol-che Politik vertreten zu können. Sie haben mir heute dieErklärung geliefert: Sie leben offenbar in dem Weltbildeines badischen Konservativen, der zum Beispiel gegendie steuerliche Gleichstellung von gleichgeschlechtli-chen Lebenspartnerschaften ist, solange das Verfassungs-gericht das nicht festgestellt hat, und der nicht mehr aufder Höhe der Zeit ist. Ein moderner Sozialstaat brauchtaber einen Finanzminister, der auf der Höhe der Zeit ist.
Sie können so, wie Sie denken, den Aufgaben, die heutezu leisten sind, schlicht nicht gerecht werden, HerrMinister Schäuble. Sie haben sich als überfordert ge-zeigt.
Da, wo Sie nicht überfordert sind, verstecken Sie IhreAbsichten hinter einem dichten Vorhang von Worten. Siegeben ja manchmal den Finanzphilosophen, aber in derTradition der Aufklärung stehen Sie als Finanzphilosophnicht, Herr Schäuble. Ihre Philosophie ist vielmehr die
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Joachim Poß
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der taktischen Winkelzüge, mit denen Sie versuchen,Ihre politischen Freunde und Gegner bewusst auszu-tricksen. Das ist Ihre Methode.
Sie schmücken Ihre Haushalts- und Steuerpolitik – durch-aus geschickt – so, dass eine glänzende Außenfassadeentsteht. Damit wollen Sie die Grundlage für den Wahl-kampf im nächsten Jahr legen. Aber die Wirklichkeitsieht anders aus. Sie versuchen, eine Kontinuität in der Fi-nanzpolitik zu konstruieren, die in dieser miserablenschwarz-gelben Regierungskoalition nie Realität war.
Herr Bundesfinanzminister, auch wenn Sie sich alsGestalter sehen: Letztlich sind Sie, Herr Schäuble, einGetriebener und seit drei Jahren ein Erfüllungsgehilfevon Frau Merkel. Das ist Ihre Rolle in den letzten dreiJahren gewesen. Frau Merkel aber will und wollte niegestalten. Sie wollte auf dem schwankenden Grund ihrerKoalition immer nur überleben und ihre Macht verteidi-gen. Dem mussten Sie sich unterordnen, auch da, wo Siein der Europapolitik womöglich andere Wege gegangenwären.In der Haushaltspolitik zeichnen Sie ein Bild, dasschlicht falsch ist. Ich könnte jetzt lange Zitate der Deut-schen Bundesbank – nicht der deutschen Opposition –verlesen. Zum Beispiel im August-Monatsbericht derBundesbank wird festgestellt, dass die günstige Haus-haltsentwicklung weitgehend auf steuerlichen Mehrein-nahmen im Gefolge der robusten Entwicklung der deut-schen Wirtschaft
und auf deutlichen Entlastungen beim Schuldendienstberuht. Weiter stellt die Bundesbank fest, dass Sie sichvom Konsolidierungsprogramm aus dem Juni 2010 so-gar abgekehrt haben.Zu Ihrer mittelfristigen Finanzplanung, die Sie hier sogelobt und als realistisch dargestellt haben, stellt dieBundesbank fest, dass sie nur unter der Annahme anhal-tenden gesamtwirtschaftlichen Wachstums, sehr niedri-ger Zinsen und ausbleibender Belastungen aus Gewähr-leistungen im Rahmen der Schuldenkrise im Euro-Raumfunktionieren könne. So weit die Analyse der DeutschenBundesbank, auf die Sie, gerade Sie von der schwarz-gelben Koalition, doch so stolz sind. Eigentlich müsstenSie zu den Zitaten, die ich gebracht habe, jetzt klatschen!
Ihre Planung setzt also voraus, dass es mindestens bis2016 keinerlei Krisen und Abschwünge geben wird. Werkann so etwas glauben und annehmen? Es geht Ihnennicht um Wahrhaftigkeit, sondern um etwas anderes: Siebetreiben Schönfärberei mit Blick auf den kommendenBundestagswahlkampf.Sie haben das Sparpaket nur bei den sozial Schwa-chen umgesetzt. Sie haben die soziale Schieflage in un-serem Lande verstärkt. Sie haben die Klientelpolitik zumMarkenzeichen Ihrer Koalition gemacht.
Eine Ihrer steuerpolitischen Absichten im Koalitions-vertrag war die Bereinigung der Mehrwertsteuer. Nichtshaben Sie an Bereinigung zustande gebracht. Vielmehrhaben Sie einen Ausnahmetatbestand für die Hoteliershinzugefügt. Sie haben schon zu Beginn in dieser Koali-tion reiche Erben und einkommensstarke Hoteliers be-günstigt. Daran muss man immer wieder erinnern. Siehaben heute mit Ihrer Rede gezeigt, wo Sie gesell-schaftspolitisch stehen. Da müssen Sie auch gestellt wer-den.
Das von Ihnen so unzulänglich ausgehandelteDeutsch-Schweizer Steuerabkommen ist ein Beispiel fürdiese Klientelpolitik. Selbst in der nachverhandeltenForm bleiben die Steuerhinterzieher geschützt und imDunkel der Anonymität; sie können auch weiterhin inDeutschland nichtversteuerte Gelder in die Schweizbringen. Das, Herr Bundesfinanzminister, ist eine Provo-kation der ehrlichen Steuerzahler und nichts anderes.
Ihnen scheint – dies haben Sie auch in Ihrer Rede ge-zeigt – die persönliche Gesichtswahrung wichtiger zusein als die effektive Verfolgung der Steuerhinterzieherund ihrer Helfer.
Als Bundesfinanzminister sollten Sie auf der Seite derdeutschen Steuerfahnder stehen und nicht gegen sie ar-beiten oder sich gegen sie äußern.
Auch in der Euro-Zone sind Sie nicht frei von takti-schen, juristisch verbrämten Winkelzügen. Trotz Ihrerunbestrittenen europäischen Gesinnung, die ich durchausanerkenne, folgen Sie dabei der Bundeskanzlerin – diegerade in die Reihen des Plenums entschwindet –, derMeisterin der verschlungenen Wege.
Sie weisen, wie auch Frau Merkel, strikt und entrüstetdie Vergemeinschaftung von Schulden und eine Trans-fer- und Haftungsunion als großen Irrweg zurück. Dasist das, was Sie reden. Was Sie und Frau Merkel aber tat-sächlich tun, ist etwas anderes: Sie schieben die Verant-wortung zur Stabilisierung des Euro auf die EuropäischeZentralbank, weil Sie für die notwendigen Maßnahmenkeine Mehrheit in Ihrer schwarz-gelben Koalition in die-sem Parlament haben.
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Joachim Poß
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Sie lassen bewusst eine heimliche Vergemeinschaftungvon Schulden in der Euro-Zone durch die EZB ohne jeg-liche demokratische Legitimierung zu.
Hier rächt sich, Herr Schäuble, dass Sie – bei all Ihrensonstigen europapolitischen Verdiensten – und FrauMerkel in der eigenen Koalition und gegenüber der Öf-fentlichkeit nicht für Orientierung gesorgt haben und im-mer feige weggetaucht sind. Sie suchen immer den Aus-weg für Feiglinge,
anstatt sich zu stellen und in der Öffentlichkeit die not-wendige Debatte über die Konsequenzen zu führen, diewir zur Stabilisierung des Euro benötigen. Das ist einhistorisches Versagen.
Erhard Eppler schreibt Frau Merkel zu Recht insStammbuch, dass Deutschland nicht immer nur bremsen,sondern führen soll. Solidarität in Europa wird die Deut-schen am Ende weniger kosten als immer wieder neuvon Deutschland erzwungene Zugeständnisse. Epplersagt zu Recht: Wer ständig bremst, verliert.Die schwarz-gelbe Koalition mit Frau Merkel nimmtdie fortbestehende Unsicherheit in Europa und in derEuro-Zone und die daraus folgenden Mehrkosten ausparteipolitischen Gründen in Kauf. Warum? Um innen-politische Feindbilder zu pflegen. Das ist schamlos, dasist verantwortungslos.Entgegen all Ihrer Semantik stelle ich fest: Sie habenin Ihrer Funktion als Bundesfinanzminister versagt, HerrSchäuble.
Das Wort erhält nun der Kollege Norbert Barthle für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Lieber Herr Kollege Poß, ich willnicht lange auf Ihre Rede eingehen. Lassen Sie mich aberfeststellen: Eine Opposition, die hier mit so viel Schaumvor dem Mund auftritt und versucht, die gute Entwick-lung mit derart unsachlichen Vorwürfen schlechtzureden,diskreditiert sich selbst.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Sie sagen, es seikeinerlei Vorsorge für die Entwicklung der kommendenJahre getroffen worden. Schauen Sie sich doch einmaldie Finanzplanung bis 2016 an. Sie werden feststellen,dass wir entgegen Ihrer Aussage bis dorthin 10 Milliar-den Euro mehr Zinsausgaben vorgesehen haben.Dass Sie sich selbst diskreditieren, trifft eigentlich aufall das zu, was Sie vorgetragen haben. Im Übrigen weiseich die persönlichen Beleidigungen, die Sie hier gegen-über dem Finanzminister und der Bundeskanzlerin aus-gesprochen haben, mit Abscheu und Empörung zurück.
Lassen Sie mich, bevor ich auf den Haushaltsentwurfeingehe, in zwei, drei Sätzen aus parlamentarischer Sichtauf das aktuelle Thema EZB-Anleiheaufkäufe eingehen.Wir tun gut daran, festzuhalten, dass die Geldpolitiknicht die Versäumnisse der Finanz- und Wirtschaftspoli-tik ersetzen kann und darf. Denn erst die notwendigenstrukturellen Reformen schaffen die Basis für ein dauer-haft niedriges Zinsniveau; daran besteht kein Zweifel.
Als kurzfristiges Krisenreaktionsinstrument könnenAnleihekäufe in Ausnahmesituationen durchaus sinnvollsein, wenn die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte ge-fährdet ist. Insofern sehe ich die EZB-Entscheidung alsdurchaus hilfreich zur Bekämpfung der Krise an, vor al-lem vor dem Hintergrund, dass durch die Verknüpfungmit einem vollen bzw. einem vorsorglichen EFSF- oderESM-Programm die volle Konditionalität gewährleistetist. Das unterscheidet dieses Programm von dem erstenProgramm, das stattgefunden hat, fundamental. Ich be-tone: Wir vertrauen darauf, dass die EZB strikt im Rah-men ihres Mandats handelt und dass sich jedes Direkto-riumsmitglied der EZB dieser Verantwortung bewusstist.
Ansonsten will ich zu dem Thema Euro-Stabilisie-rung nichts hinzufügen. Dazu hat BundesfinanzministerDr. Wolfgang Schäuble nicht nur das Notwendige, son-dern vor allem auch das Richtige gesagt. Dem schließeich mich voll an.Ich will mich für den Haushaltsentwurf 2013 der Re-gierung, den der Finanzminister eben eingebracht hat, be-danken. Er zeigt, dass sich das Top-down-Verfahren, daswir anwenden, bewährt. Dieser Regierungsentwurf ist einguter Erfolg, ein Ausweis unserer erfolgreichen Politikund eine gute Grundlage für die anstehenden Beratungen.Denn er zeigt: Wir halten konsequent an der vereinbartenLinie der wachstumsorientierten Konsolidierung fest.Das ist und bleibt Generalaussage bei allen Haushaltsbe-ratungen. Das zeigt sich auch in der mittelfristigen Fi-nanzplanung, in der vorgesehen ist, dass sich die Neuver-schuldung in den kommenden Jahren stetig verringert: Indiesem Jahr liegt sie bei 32 Milliarden Euro, im nächstenJahr bei 18 Milliarden, dann bei 13 Milliarden, dann bei4 Milliarden und im Jahre 2016 bei 0 Milliarden. Für dasJahr 2016 ist sogar der Beginn der Schuldentilgung mitZuführung von 1 Milliarde Euro aus dem Bundeshaus-halt an den Schuldentilgungsfonds vorgesehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22875
Norbert Barthle
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Das ist der Beweis für unsere kontinuierliche und er-folgreiche Politik. Wenn Sie es nicht sagen, dann sageich es: Wir sind richtig gut!
Wenn Sie genau hinschauen, dann werden Sie fest-stellen, dass wir die Neuverschuldung gegenüber dembisherigen Finanzplan für die Jahre 2013 bis 2015 umüber 20 Milliarden Euro verringern. Was sagt die Oppo-sition dazu? Wir hören immer wieder, es müsse nochschneller und noch mehr gemacht werden. Liebe Kolle-gen von der Opposition, ich kann nur an Sie appellieren:Sorgen Sie dafür, dass Ihre Ministerpräsidenten dasSteuerabkommen mit der Schweiz nicht weiterhin blo-ckieren, sondern dass es endlich zustande kommt; denndann haben wir Steuermehreinnahmen. Die Expertensprechen von rund 10 Milliarden Euro, die wir soforteinnehmen könnten. Diese würden wir sofort zur Absen-kung der Nettokreditaufnahme nutzen. Also, handeln Siedort, wo Sie können, anstatt Luftblasen zu verbreiten.
Ein weiterer Punkt, an dem sich unser Erfolg ablesenlässt, ist die Tatsache, dass wir die Schuldenbremse kon-sequent einhalten und sogar vorzeitig erfüllen werden,und zwar nicht, wie vorgeschrieben, erst 2016, sondernaller Voraussicht nach bereits im kommenden Jahr. Dieshängt natürlich von der konjunkturellen Entwicklung ab,die ja die Konjunkturkomponente ausmacht. Aber wirliegen bei der maximal möglichen Nettokreditaufnahmewesentlich unter dem, was uns die Schuldenbremse vor-schreibt. Wir werden bereits im kommenden Haushalteinen Puffer in Höhe von 24 Milliarden Euro einhalten.In den Folgejahren werden es 20 Milliarden, 15 Milliar-den und 11 Milliarden sein. Nach dem Jahr 2016 brau-chen wir keinen Puffer mehr; denn dann sind wir beinull.Ein ganz wichtiger Grund für diese erfolgreiche Ent-wicklung ist, dass wir Disziplin wahren, und zwar beiden Ausgaben. Ich will nochmals darauf hinweisen: Wirhatten im Ist des Haushaltes 2010 Ausgaben von knapp304 Milliarden Euro. Wir werden im kommenden JahrAusgaben von 302 Milliarden Euro haben und im Jahr2014 Ausgaben von 303 Milliarden Euro.
Bei kontinuierlich steigenden Preisen und bei konti-nuierlich steigenden Einnahmen das Ausgabenniveau zusenken, das ist etwas, das bisher noch keine Vorgänger-regierung geschafft hat. Das schaffen wir. Die Koalitionaus CDU/CSU und FDP schafft es, bei steigenden Ein-nahmen weniger auszugeben. Das nennt man bei mir zuHause im Schwabenland „sparen“. Ich weiß nicht, wieSie „sparen“ definieren. Wer bei mehr Einnahmen weni-ger ausgibt, der spart. Wir können sparen, und wir tun es.
Genau mit dieser Strategie wird sich die Schere weiterschließen, hin zu einem ausgeglichenen Haushalt. Dassdies nicht ganz einfach ist, das wissen wir. Gerade in gu-ten Zeiten ist Konsolidierung besonders schwer. Erin-nern wir uns an die Anfangsjahre der rot-grünen Regie-rung. Damals wurde uns vor Augen geführt, wie schweres ist; denn es fand das Gegenteil statt.Eine weitere Anmerkung: Mit diesem Haushalt undder Strategie der wachstumsfreundlichen Konsolidie-rung halten wir auch internationale Verpflichtungen ein.Beim G-20-Treffen in Toronto – 2010 war das – habensich die Industrieländer dazu verpflichtet, die Staatsdefi-zite bis 2013 zu halbieren und die Staatsverschuldung inRelation zum BIP bis 2016 zu senken. Diese Zusage er-füllt Deutschland. Auch das ist im internationalen Kon-text wichtig. Denn gerade vor dem Hintergrund der sichweltweit auswirkenden Staatsschuldenkrise in Europa istes entscheidend, dass wir in diesem Punkt unsere Liniehalten und mit gutem Beispiel vorangehen.
Ich will dies nochmals mit Zahlen unterfüttern: ImJahre 2010 betrug das Staatsdefizit 3,3 Prozent gegen-über dem BIP. Im nächsten Jahr, also im Jahre 2013, wer-den wir bei 0,5 Prozent, bei einem halben Prozent, sein.Das ist eine hervorragende Entwicklung. Nur zur Erinne-rung: Unter Rot-Grün wurde in den Jahren 2002 bis 2004,drei Jahre hintereinander, dieses 3-Prozent-Ziel nicht ein-gehalten, sondern jedes Mal überschritten. Sprich: Wirhalten nicht nur die internationalen Verpflichtungen ein,sondern wir halten auch den europäischen Stabilitäts- undWachstumspakt und die Vorgaben des Fiskalpaktes ein.Bereits im vergangenen Jahr waren wir unterhalb des3-Prozent-Ziels. Deshalb wurde Deutschland in diesemJahr aus dem sogenannten Defizitverfahren entlassen.
Wir setzen damit unsere seriöse Haushaltspolitik fort.Lassen Sie mich nochmals zurückblicken auf das Jahr2010. Damals sagte mein Kollege, der haushaltspoliti-sche Sprecher der SPD, Carsten Schneider, bei den Bera-tungen:Wenn man sich den Haushalt 2011 ansieht, dannkann man zu einem ganz klaren Urteil kommen:Dieser Haushalt wird der Scheidepunkt sein, wasdie wirtschaftliche Entwicklung … in den nächstenJahren angeht.Kollege Poß – heute mit Kassandrarufen – hat damalsgemeint, diese Regierung sei für die wirtschaftliche Ent-wicklung unseres Landes eher eine Bedrohung als einPluspunkt.
Wahr ist genau das Gegenteil.
Schauen Sie sich die Zahlen der Jahre 2011 und 2012an: Wir hatten ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozent,die Erwerbslosenquote ging deutlich auf 7,1 Prozent zu-
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22876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Norbert Barthle
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rück. Mit über 41 Millionen Beschäftigten verzeichnenwir Rekordbeschäftigung. Diese Entwicklung setzt sichweiter fort. Deshalb sind die Kritikpunkte, die Sie hiervorgetragen haben, mühsam an den Haaren herbeigezo-gen, aber wenig ernst zu nehmen.
Im Haushaltsbegleitgesetz für das Jahr 2013 habenwir diese positive Entwicklung entsprechend abgebildet.Aufgrund dieser Entwicklung ist es uns möglich, denHaushalt um rund 5 Milliarden Euro zu entlasten. In denKonsolidierungsmaßnahmen enthalten sind die gerin-gere Beteiligung des Bundes an den Kosten der Arbeits-förderung, ebenso die einmalige Verminderung des Bun-deszuschusses an den Gesundheitsfonds im Jahr 2013um 2 Milliarden Euro – das sind die 2 Milliarden Euro,die wir wieder zurückholen – sowie die Kürzungen desBundes in der Rentenversicherung um rund 1 MilliardeEuro.Das ist alles andere als ein sozialer Kahlschlag, so wiees die Opposition, vor allem die Linke, immer wiederdarzustellen versucht. Die soziale Sicherung ist nach wievor ein Schwerpunkt in diesem Haushalt. Rund 145 Mil-liarden Euro geben wir für die soziale Sicherung aus; mitrund 48 Prozent der Gesamtausgaben ist dieser Bereichder größte Ausgabenblock im Bundeshaushalt. Das istein Beweis dafür, dass wir soziale Verantwortung wirk-lich ernst nehmen.Der Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt für 2013setzt die richtigen Schwerpunkte. Der Bundesfinanz-minister hat bereits darauf hingewiesen: Die Ausgabenfür Bildung und Forschung steigen im kommenden Jahrum weitere 800 Millionen Euro auf 13,7 Milliarden Euroan. Das bedeutet ein Plus von gut 6 Prozent gegenüberdem Vorjahr. Auch das hat bisher noch keine Vorgänger-regierung geschafft; das ist einmalig in der Geschichteder Bundesrepublik Deutschland. Auch darauf sind wirstolz.
Der Haushalt des BMI wird ebenfalls um knapp330 Millionen Euro ansteigen; das ist ein Plus von 6 Pro-zent. Hier bildet sich unser Bestreben ab, mehr für dieinnere Sicherheit zu tun. Das ist ein wichtiges Anliegender Bevölkerung. Hierzu gehört zum Beispiel auch derKampf gegen Rechtsextremismus.Die Verkehrsinvestitionen verstetigen wir auf rund10 Milliarden Euro. Wir halten das Niveau, auch wennvielleicht noch einzelne Umschichtungen vorgenommenwerden müssen.Die Ausgaben des Bundesministeriums für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung werdenebenfalls erneut erhöht, und zwar auf 6,42 MilliardenEuro. Gegenüber dem alten Finanzplan werden damitzusätzliche Mittel von rund 670 Millionen Euro bereit-gestellt. Damit werden wir internationalen Verpflichtun-gen gerecht.Das sind die richtigen Schwerpunkte im Haushalts-entwurf. Sie bilden eine sehr gute Basis für die anstehen-den Haushaltsberatungen, die noch bis zum Novemberandauern werden. Im Laufe der Haushaltsberatungenwerden wir sicherlich noch die eine oder andere Schwer-punktsetzung korrigieren oder Veränderungen vorneh-men.Dabei hoffe ich auf konstruktive Vorschläge seitensder Opposition, die wir gerne aufnehmen können, wennsie denn sinnvoll sind.
Ich bin davon überzeugt, dass wir nach dem Ende derBeratungen die Erkenntnis gewonnen haben werden,dass wir unsere Politik konsequent fortsetzen können. Esbleibt zu hoffen, dass die Opposition dort, wo sie Ein-fluss hat – nämlich beim Bundesrat –, darauf hinwirkt,dass sich auch der Bundesrat zu unserer Gesamtverant-wortung, der Konsolidierung unserer Haushalte, bekenntund nicht konterkariert.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Bartsch für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrSchäuble, Sie haben zu Recht von einer Vertrauenskrisegesprochen. Hierzu kann ich nur eines feststellen: IhreKoalition und die Regierung haben zu dieser Vertrau-enskrise einen erheblichen Beitrag geleistet.
Erinnern Sie sich an die Äußerungen, die in diesemSommer gefallen sind: Der Bundeswirtschaftsministersagt, die Vorstellung vom Austritt Griechenlands aus derEuro-Zone habe ihren Schrecken verloren. Der bayeri-sche Finanzminister sagt sogar, man müsse an Griechen-land ein Exempel statuieren. Was sind denn das für un-verantwortliche Aussagen? Da kann doch kein Vertrauenentstehen. Sie sind wesentlich mitverantwortlich dafür,dass es diese Vertrauenskrise in Deutschland und inEuropa gibt.
Sie sagen, Deutschland sei gut durch die Krise ge-kommen. Ja, dieser Haushaltsentwurf bringt zum Aus-druck, dass Sie versuchen, bis zum Wahltag im Jahr2013 zu kommen. Ich behaupte, dass niemand hier imHause überblicken kann, ob wir nicht vielleicht ganzschnell in eine große Krise geraten. Doch nichts vondem, was notwendig wäre, ist in diesem Haushaltsent-wurf abgebildet. Ja, es gibt eine sehr gute Botschaft imZusammenhang mit diesem Haushaltsentwurf, und dasist die Botschaft, dass dies der letzte Haushaltsentwurfdieser Regierung ist. Das ist die gute Botschaft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22877
Dr. Dietmar Bartsch
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Das ist Anlass, um eine kritische Bilanz zu ziehen.Ich will aus Ihrem Koalitionsvertrag zitieren, in demsteht: „Mit Mut zur Zukunft – Für unser Land.“ Wennman sich anschaut, was Sie gemacht haben, stellt manfest, dass das ganz knallharte Klientelpolitik war. Daranwar nichts mutig, daran ist nichts mutig. Da gibt es keineZukunftsorientierung. Sie rennen immer den Entwick-lungen in Europa hinterher. Das ist keine Politik für dieMehrheit der Menschen in diesem Lande, sondern das istkonsequente Klientelpolitik.
Ich will zum Kern des Haushaltsentwurfs kommen.Sie sprechen von soliden Staatsfinanzen, und Sie gerie-ren sich in Europa immer als Klassenprimus, aber inWahrheit wird viel Wasser gepredigt und Wein getrun-ken. Schauen wir uns die Zahlen an: Auch im nächstenJahr wollen Sie neue Schulden machen: 18,8 Milliar-den Euro. Wenn man sich die vier Jahre anschaut, stelltman fest, dass das insgesamt 112,2 Milliarden Euro neueSchulden sind. Wenn man angesichts dessen von Spar-samkeit spricht, Herr Barthle, ist das für mich wirklichnicht verständlich. Was hat es mit Sparen zu tun, wennman neue Schulden macht? Ich habe das Sinnbild vonder „schwäbischen Hausfrau“ immer so verstanden, dassman etwas zurücklegt. Das ist hier aber nicht der Fall.Sie haben in dieser Legislaturperiode über 100 Milliar-den Euro neue Schulden gemacht.Um einen Vergleich zu ziehen: In meinem Bundes-land, in Mecklenburg-Vorpommern, beträgt der Haushaltdes gesamten Landes für ein Jahr 7 Milliarden Euro.
Das sind die Relationen. Sie haben inzwischen in derBundesrepublik Deutschland auf der BundesebeneSchulden in Höhe von 1,2 Billionen Euro angehäuft. Umdas einmal zu veranschaulichen: Wenn wir jeden Monat1 Milliarde Euro zurückzahlen würden, dann wäre dieseSchuld in 168 Jahren noch nicht getilgt. Und dann sagenSie noch, wir hätten kein Einnahmeproblem. Das istdoch abstrus. Wir müssen bei den Einnahmen etwas tun.
Ich will etwas zu dem Punkt sagen, den Sie gelobt ha-ben, Herr Schäuble. Sie haben gesagt, dieser Haushalts-plan sei hinsichtlich der Investitionen vorbildlich. Ichkann nur feststellen: Ja, in der Krise sind Investitionen,die den Namen verdienen, also Zukunftsinvestitionen,die Arbeitsplätze bringen und vor allem die Binnennach-frage stärken, sehr dringend notwendig. Aber hier bleibtder Haushaltsentwurf hinter allen Erwartungen und allenAnforderungen zurück. Es gibt keine gestaltendeFinanzpolitik. Es wäre nicht einmal mutig, sondern ein-fach nur normal, im Bereich Investitionen mehr zu tun.Ich will nur die Themen Städtebauförderung undenergetische Gebäudesanierung aufrufen. Diesbezüglichbleiben Sie sogar hinter den Forderungen, die die CDU-Landesminister stellen, zurück.
Warum hören Sie denn nicht einmal auf die? Die CDU-Landesminister wollen auch mehr Investitionen, weil da-durch das Handwerk vor Ort und die Konjunktur geför-dert werden. In diesem Bereich sind Sie aber nicht nurzurückhaltend, sondern Sie kürzen sogar. Als weitereBeispiele nenne ich den Ausbau der Kitas, der dringendnotwendig wäre, und die Gemeinschaftsaufgabe „Ver-besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Überallbleiben Sie hinter den Anforderungen zurück. Kranken-häuser, Schienenwege, all das sind Bereiche, in denenmehr getan werden müsste.Sie sagen, die Energiewende sei Ihr Anliegen. Abge-sehen von der Tatsache, dass es diesbezüglich bisher of-fensichtlich nur Fehlstarts gab, frage ich mich: Warumkürzen Sie bei der Energieeffizienzforschung? Das istdoch völlig irre. Warum kürzen Sie in diesem Bereich,obwohl das ein Zukunftsthema ist? Das ist eine völligabsurde Investitionspolitik. Das machen Sie falsch. Siesetzen weiter auf den Export. Richtig wäre es, die Bin-nennachfrage zu stärken.
Die Zahlen zeigen, dass Sie bei den Investitionen kür-zen: 0,8 Prozent weniger. Es sind nur noch 26,1 Milliar-den Euro. In den Jahren 2014 bis 2016 wollen Sie nochweiter kürzen. Das ist keine zukunftsorientierte Politik,Herr Schäuble.
In Ihrem Haushaltsentwurf gibt es sehr viel Optimis-mus. Kollege Poß hat von Schönfärberei gesprochen. Ichglaube, da hat er recht. Alle Risiken wurden ausgeblen-det, beispielsweise die Schattenhaushalte und die Zins-entwicklung. Glauben Sie denn, dass das Zinsniveau fürDeutschland so bleiben wird? Das ist doch wirklich eineabsurde Annahme. Das kann sich ganz schnell auch füruns verändern.Ich glaube im Übrigen, dass hier endlich die Diktaturder Finanzmärkte gebrochen werden muss. Bei der Re-gulierung sind wir nicht vorangekommen. ElementareDinge, über die auch Sie geredet haben, sind nicht pas-siert. Der Schuldenschnitt Griechenlands kostet letztlichden Haushalt 10 Milliarden Euro. Das ist die Realität.Die Haftungsgrößenordnungen, die wir haben – über400 Milliarden Euro –, können ganz schnell zu einemgroßen Problem für die Haushalte werden.Dann sind da noch die vielen Baustellen in Ihrer Ko-alition. Das Betreuungsgeld könnte teuer werden. Ichhoffe im Übrigen, Herr Schäuble, dass Sie standhaftsind, wenn die FDP hier wieder Steuersenkungsvor-schläge macht. Es wäre ja noch absurder, jetzt über
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22878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Dr. Dietmar Bartsch
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Steuersenkungen nachzudenken. Viele andere Dingesind risikobehaftet. Deshalb ist diese Haushaltsplanungunsolide.
Jetzt will ich Sie einmal zitieren, Herr Schäuble. Esist zwar schon ein bisschen her, aber Sie haben einmalerklärt, aufgrund der Struktur des Bundeshaushaltesseien Einnahmeverbesserungen zur Haushaltskonsoli-dierung unvermeidlich. Heute haben Sie etwas ganz an-deres gesagt. Ich kann nur sagen: Natürlich haben wir inDeutschland ein Einnahmeproblem. Sie reden nur überdie Einkommensteuer. Darauf will ich mich jetzt nichteinlassen. Aber wir haben doch vor allen Dingen einProblem bei der Vermögensbesteuerung. Bei den vermö-gensbedingten Steuern ist Deutschland im Vergleich al-ler OECD-Staaten – bezogen auf das Bruttoinlandspro-dukt – im unteren Drittel. Daran muss man doch einmaletwas ändern.
Die Zahl der Vermögensmillionäre in Deutschlandsteigt jedes Jahr. Inzwischen haben wir 924 000. Warumist es denn so abstrus, über eine Millionärssteuer nachzu-denken? Es gäbe den Freibetrag für Vermögen bis zu1 Million Euro, und nur das private Vermögen wäre be-troffen. Wir würden nicht den Mittelstand gefährden,aber wirklich Einnahmen gerieren.Im Übrigen wäre es sinnvoll, diese Steuer europaweitdurchzusetzen, damit auch in Griechenland Millionärezur Kasse gebeten werden. Das wäre der richtige Ansatz,um über Einnahmen nachzudenken.
Selbst in den vergangenen Krisenjahren ist das privateGeldvermögen noch einmal angestiegen. Warum denkenwir nicht einmal über eine Veränderung bei der Erb-schaftsteuer nach? Bis 2020 werden 2,6 Billionen Eurovererbt.
– Die Länder, Herr Fricke; das ist mir bekannt. Aber esist doch sehr wichtig, dass es auch dort Konsolidierunggibt. Wir sind es, die die Gesetze dafür verändern. Wirmüssen das machen. Es ist notwendig, die Einnahmenüber die jetzigen 4,2 Milliarden Euro hinaus zu erhöhen.
Die Geldvermögen in Deutschland sind in den letztenJahren weiter gestiegen. Sie haben gesagt, wie viel dafürbezahlt wird. Aber man muss doch auch einmal feststel-len, dass die privaten Geldvermögen in Deutschland imletzten Jahr auf 4,7 Billionen Euro gestiegen sind. Dasist, bezogen auf die letzten 20 Jahre, eine Verdoppelung.Es ist doch etwas nicht in Ordnung, wenn es auf der ei-nen Seite diesen obszönen Reichtum gibt und wir auf deranderen Seite Rentnerinnen und Rentner haben, die inMülltonnen wühlen, weil sie ihre Rente aufpolierenmüssen. Da ist doch irgendetwas nicht in Ordnung.
In Deutschland besitzt 1 Prozent der Bevölkerung35,8 Prozent des Vermögens. Da ist doch etwas nicht inOrdnung. Warum haben Sie nicht den Mut, hier einmalwirklich anzugreifen, um irgendetwas bei denjenigen ab-zuholen?
Mit Ihrem Haushaltsentwurf öffnet sich die Scherezwischen Arm und Reich immer weiter. Das ist skanda-lös, das ist nicht akzeptabel. Im Übrigen ist Deutschlandauch hier im OECD-Vergleich unrühmlich an der Spitze.Reiche sind reicher geworden, und es gibt mehr Men-schen in Armut.
Sie haben jetzt umfassend von dem JobwunderDeutschland gesprochen. Erst einmal wird es auch vonder Opposition, von der Linken im Besonderen, begrüßt,wenn jemand in Arbeit kommt. Aber es muss gute Ar-beit sein. Das Problem in Deutschland ist doch die mas-senweise prekäre Beschäftigung. Ich will Ihnen nur sa-gen: Vergleichen Sie die Zahl der Arbeitsstunden, als es5 Millionen Arbeitslose waren, mit der heutigen Zahl.Interessanterweise ist die Zahl der Arbeitsstundengleichgeblieben. Das ist doch ein Ausweis dafür, dasswir viel Niedriglohn, viel prekäre Beschäftigung haben.Das müssen wir verändern. Es muss gute Arbeit entste-hen, damit nicht immer mehr Menschen in Altersarmutfallen.
Dankenswerterweise hat Frau von der Leyen diesesProblem ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt. Damuss man wirklich danke sagen. Die Linke spricht da-rüber schon lange. Aber in dem Fall waren wir mit unse-rer Öffentlichkeitsarbeit nicht ganz so erfolgreich. Daswird sich sicherlich verbessern.Eines will ich im Zusammenhang mit dem Haushalts-entwurf aber sagen: Wie können Sie in einer Situation, inder alle zum Thema Altersarmut reden, als Kabinett aufdie Idee kommen, die Rentenbeiträge zu senken? Warumsenken Sie in dieser Situation die Rentenbeiträge von19,6 auf 19 Prozent? – Nein, wir müssen mehr tun fürdie Rentnerinnen und Rentner. Das ist doch völlig unbe-stritten. Es geht um immerhin 71,5 Milliarden Euro. Dasist fast ein Viertel des Haushalts, wie wir alle wissen.
Gerade deshalb müssen wir hier ein anderes Konzeptfahren. Die Senkung ist wirklich ein absurder Vorschlag.
Im Übrigen will ich auf Folgendes verweisen: Alters-armut ist nicht nur ein Zukunftsproblem, sondern auchein aktuelles Problem. Es wird immer so getan, alswürde dies erst 2030 ein Problem werden und als ob nurdie sogenannten gebrochenen Erwerbsbiografien davon
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22879
Dr. Dietmar Bartsch
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betroffen wären. Jetzt wissen wir, dass auch Leute, dienormal beschäftigt sind, in Altersarmut fallen können.Schon heute gibt es 800 000 Empfänger von Grund-sicherung im Alter. Diese Zahl muss uns doch alle alar-mieren. In diesem Bereich müssen wir wirklich mehrtun. Natürlich ist ein Mindestlohn wichtig, aber vielmehr Maßnahmen sind notwendig. Ich kann sie jetztnicht alle darlegen; sicherlich werden Kollegen aus mei-ner Fraktion dies während der Haushaltsberatungen tun.Frau Bundeskanzlerin – sie ist nicht mehr da, aberegal –, Sie haben einmal zu Recht formuliert: „… Kranke,Kinder und … Ältere. Die Menschlichkeit unserer Ge-sellschaft entscheidet sich daran, wie wir mit ihnen um-gehen.“ Ja, das ist richtig. Ich kann Sie nur auffordern:Machen Sie das endlich, und reden Sie nicht nur darüber!Lassen Sie nicht zu, dass sich in Deutschland die Scherezwischen Arm und Reich weiter öffnet. Mit diesem Haus-haltsentwurf tun Sie das. In diesem Sinne ist es wirklichgut, dass es Ihr letzter ist.Danke schön.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Otto Fricke für
die FDP-Fraktion.
Geschätzter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kol-leginnen und Kollegen! Herr Kollege Bartsch, was istdie größte soziale Sicherheit in der BundesrepublikDeutschland? Stabile Haushalte.
In diesen stabilen Haushalten, Herr Kollege Bartsch, isteine für den Sozialstaat richtige Sozialquote notwendig.Da sind wir uns einig. Das ist das, was wir und auch Sieals Opposition den Bürgern sagen sollten. Diese Bundes-regierung gibt auch weiterhin nahezu 50 Prozent derAusgaben für den Sozialstaat aus. Zu sagen, dass das einAbholzen ist, dass die Schere auseinandergeht,
das ist an dieser Stelle schlichtweg der Versuch, mehrGeld zu bekommen. Man hat das genau gesehen. Dasklang auch bei der SPD an. Es ist der Wunsch der linkenSeite des Hauses, die Einnahmen zu erhöhen. Dafür istIhnen jedes Argument recht.
Jeder Bürger, der das hört, sagt: Ja, Mensch, es wäredoch toll, wenn der Staat mehr Einnahmen hat. Viel-leicht bekomme ich etwas davon.
Aber Sie sagen nicht – das ist das Unfaire dabei –, dassSie es sich beim Bürger holen werden. Die SPD hat unsdoch mit ihrer Mehrwertsteuererhöhung das typischeBeispiel geliefert. So kann man keine Haushalte sanie-ren.
Die rot-grüne Koalition und die Große Koalition habenes gezeigt. Was ist passiert? Es gab in der Vergangenheitimmer wieder wirtschaftlich gute Zeiten. Auch jetzt be-findet sich dieses Land in einer wirtschaftlich guten Zeit,während es für die Länder im Umfeld schwieriger ist.Was machen linke Regierungen in wirtschaftlich gutenZeiten? Sie erhöhen erstens die Steuern,
so wie Sie es gerade beschrieben haben, und zweitens– das ist das eigentliche Gift, das wir die ganze Zeit ausdem Haushalt herausbekommen wollen – sagen Sie je-des Mal, wenn Sie auch nur 1 Euro mehr einnehmenkönnen: Holla, wir müssen überlegen, wie wir 2 Euromehr ausgeben können. Das ist der Grund, warum IhreHaushalte nicht gut funktionieren und warum sich un-sere Haushalte immer weiter stabilisieren.
Schauen wir auf die Fakten. Es ist schon von allen ge-sagt worden, deswegen will ich mich kurzfassen. Wirhalten uns an alle rechtlichen Vorgaben auf nationalerund auf europäischer Ebene. Wenn Sie in das europäi-sche Ausland fahren, hören Sie von den Menschen dort:Wie schafft ihr das eigentlich? Wir hätten gerne eureZahlen. Hier aber geht die Opposition hin und redet allesschlecht, macht alles mies und verbreitet Angst; denn– so denkt wohl die Opposition – auf der Basis vonAngst kann man am besten Politik machen. Nein, es istunsere Aufgabe, auf der Basis von Solidität Politik zumachen. Nur so wird bei den Bürgern das Vertrauen er-zeugt, das wir als Politiker und Verantwortliche im Staatbenötigen.Ich finde es beachtlich, was diese Koalition geschaffthat. Schauen wir uns das einmal an.
Der Haushalt 2013 wird niedrigere Ausgaben haben alsder Haushalt 2010. Damit gelingt es dieser Koalition,dass wir zum ersten Mal seit 30 Jahren am Ende einerLegislatur weniger Ausgaben haben als am Anfang einerLegislatur. Das hört sich zuerst nicht toll an, aber wirwollen doch einmal sehen, wie die SPD das in der Gro-ßen Koalition mit ihrem Finanzminister gemacht hat.Kleine Zahlenkunde: 30 Milliarden Euro mehr Ausga-ben in Zeiten von Peer Steinbrück. In vier Jahren wurdendie Ausgaben um 30 Milliarden Euro erhöht.
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22880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Otto Fricke
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– Danke an Rot-Grün; auf die Reaktion habe ich gewar-tet.Was hat Rot-Grün in sieben Jahren gemacht? In sie-ben Jahren, liebe Freunde von den Grünen
– irgendwie scheint das zusammenzuhängen; man siehtja in Baden-Württemberg, dass Sie das dort wieder somachen wollen –, haben Sie die Ausgaben um 30 Mil-liarden Euro erhöht. Das ist ein schlimmes Gift. Zuerstwerden die Ausgaben erhöht, und dann wundert mansich über die Verschuldung.
Wir halten die Ausgaben stabil, weil wir weiterhin fürWachstum sorgen wollen. Außerdem sparen wir nichtdumm, sondern überprüfen genau, welche Investitionenwir tätigen.
Ich weiß, dass zum Beispiel der Verkehrsministergerne 1 Milliarde Euro mehr hätte. Man muss aber klarsagen: Auch in diesem Bereich muss man Grenzen set-zen. Hier einen Ausgleich hinzubekommen und zu sa-gen: „Wir haben Steuermehreinnahmen zu verzeichnen,weil die Wirtschaft wächst; allerdings wächst die Wirt-schaft auch deshalb, weil wir die Ausgaben nicht hoch-fahren“, ist eine Kunst. Das ist eine Kunst, die Sie nichtbeherrschen.
Meine Damen und Herren, ich will erwähnen, worindas größte Risiko für den Bundeshaushalt besteht.
Das größte Risiko für den Haushalt sitzt auf der Bundes-ratsbank.
Man kann auch heute wieder sehen: Es ist kein Vertreterdes Bundesrates da. Aber – jetzt appelliere ich an dieVerantwortung von SPD und Grünen – was wird passie-ren, wenn in den nächsten Wochen der Bundesrat zusam-menkommt? Dann wird es vonseiten des Bundesratesheißen: Es gibt in dem und dem Bereich ein Gesetz, daskostet uns zwar nichts; aber wir machen nur mit, wennes Mehrausgaben gibt. – Ist es denn wirklich die Auf-gabe des Bundesrates, den Bundeshaushalt, wo man nurkann, zu schröpfen?Sehen wir uns die Zahlen für das nächste Jahr an. DieBürger fragen uns: Warum schafft ihr es in guten Zeiteneigentlich nicht, auf eine schwarz-gelbe Null zu kom-men? Zu nennen sind zunächst einmal – ich glaube, dasind wir uns einig – die Sonderbelastungen durch denESM in Höhe von 8 Milliarden Euro. Außerdem mussman sich fragen: Welche Zusatzbelastungen für denHaushalt 2013 entstehen dadurch, dass wir Länder undKommunen entlasten müssen, obwohl sie mit ihrenHaushalten besser dastehen und mehr Steuereinnahmenzu verzeichnen haben als der Bund? Hier kommt manauf einen Betrag von 10 Milliarden Euro. Rechnet mandie durch den ESM bedingten Belastungen in Höhe von8 Milliarden Euro und die 10 Milliarden Euro für dieFreunde von der Ausgeberbank zusammen, kommt manauf einen Betrag von 18 Milliarden Euro. Auch die Neu-verschuldung des Bundes beträgt im nächsten Jahr etwa18 Milliarden Euro. Das heißt, der Kernhaushalt desBundes, mit dem er seine Aufgaben erfüllt, basiert schonheute auf einer schwarzen Null.
Das haben Sie in Ihrer Regierungszeit nie erreicht. Wennes nach Ihrer Politik geht, werden Sie das auch nie errei-chen.
Letzter Punkt. Meine Damen und Herren, nach mirspricht zunächst die Kollegin Hinz und dann der KollegeSchneider. Ich würde mich freuen, wenn insbesondereder Kollege Schneider für seine Fraktion erklären würde,dass von seinen Kolleginnen und Kollegen in den Ein-zelplandebatten keine weiteren Ausgaben gefordert wer-den.
Ich werde mir seine Rede genau anhören. Eben hat HerrPoß für die Sozialdemokratie geredet – er ist jetzt nichtda –
und gesagt, wir würden beim Haushalt nicht richtig han-deln und nicht genug sparen. Ich würde mich, wie ge-sagt, freuen, wenn die Sozialdemokraten sagen würden:Wir werden in den Fachdebatten keine neuen Ausgabenfordern. – Das werden Sie aber nicht tun. Sie werdenMilliardenforderungen aufstellen.
Sie sagen heute hü und morgen hott und wundern sich,dass Ihre Politik genauso wenig konsistent ist wie IhreAntwort auf die Frage, wer bei Ihnen Spitzenkandidatwird.Meine Damen und Herren, zur Zukunftsfestigkeit.Der Hauptvorwurf, der vom Kollegen Schneider wahr-scheinlich noch erhoben wird, lautet ja: Der Haushalt istnicht zukunftsfest. – Das ist sehr bemerkenswert; Herr
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22881
Otto Fricke
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Schäuble hat schon darauf hingewiesen. Einerseits wirdvon Ihnen behauptet, wir würden uns für den Wahlkampfein geheimes Polster zulegen. Ich wette mit Ihnen, dassSie gleich sagen werden, wir hätten uns kein Polster fürschlechte Zeiten zugelegt. Sie argumentieren, wie es Ih-nen gerade gefällt.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben Vorsorge getroffen.Die Polster in den Sozialversicherungssystemen sind ge-rade schon erwähnt worden. Der Unterschied ist: Wannimmer Sozialdemokraten an der Regierung waren, wa-ren die Puffer in den Sozialkassen gleich null, weil Sieimmer neue Ausgaben getätigt haben. Das ist übrigensauch der Grund, warum Sie keine Beitragssatzsenkungwollen. Sie wollen mehr Geld ausgeben. Wir hingegenstärken auf der einen Seite die Puffer in allen Sozialver-sicherungsbereichen und sorgen auf der anderen Seitedafür, dass wir vom Bürger nur das Geld nehmen, dasder Staat für die Erledigung seiner Aufgaben braucht.Dieser Haushalt ist nicht nur ein stabiler, sondern auchein zukunftsorientierter Haushalt, weil er dafür sorgt,dass selbst in schlechten Zeiten ausreichende Puffer vor-handen sind, um negative Entwicklungen, die möglicher-weise auf uns zukommen, denen diese Regierung aberentgegenwirkt, abzufangen. Stabile Haushalte sind näm-lich die Voraussetzung für weiterhin gutes Wachstum.Herzlichen Dank.
Priska Hinz ist die nächste Rednerin für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberKollege Otto Fricke, dieser Etatentwurf ist kein Doku-ment der grandiosen Politik dieser Bundesregierung,sondern schlicht und einfach ein Dokument des andau-ernden Versagens der Bundesregierung in der Haushalts-politik.
In der Zeit der Euro-Krise wären eine finanzielle Vor-sorge, eine Vorsorge für die Sozialpolitik und eine Vor-sorge für die Energiepolitik notwendig. Denn in diesendrei Bereichen stehen wir vor Herausforderungen. Hierhaben wir wichtige Entscheidungen zu treffen, für dieeine finanzielle Vorsorge notwendig ist.Zusätzlich zu dem Versagen dokumentiert der Etatauch noch die Widersprüchlichkeit zwischen dem Han-deln der Bundesregierung auf europäischer Ebene unddem Handeln zu Hause. Sie verlangen von anderen euro-päischen Staaten eine permanente Sparpolitik einseitigzuungunsten der sozialen Bereiche und der Menschen,die wenig Geld haben, während Sie hier noch nicht ein-mal die Mindestanforderungen dafür erfüllen, mit einemHaushaltsentwurf zu konsolidieren. Auf diesen Punktwill ich hinweisen. Das ist Ihr Versagen in dieser Politik.
In den Euro-Staaten frisst die Rezession inzwischendie Erfolge der Sparpolitik und der rigiden Haushalts-politik auf. Wir mussten Sie zu einem Investitionspro-gramm treiben, um nachhaltige Investitionen in den kri-sengeschüttelten Ländern voranzubringen. Wir musstenSie gegen die FDP dazu treiben, dass es eine Finanz-transaktionsteuer geben wird. Natürlich musste die EZBjetzt wieder eingreifen, weil Sie politisch versagen undes nicht schaffen, politisch kluge Entscheidungen zutreffen, um den Zinsdruck von den Ländern zu nehmen,die in einer Notlage sind, obwohl sie schon rigide Re-formprogramme in ihren Ländern durchführen. Das istIhr klassisches politisches Versagen, und das prangernwir an.
Die EZB macht das im Moment sehr klug. Sie spieltden Ball an die politischen Entscheidungsträger im Par-lament wieder zurück, indem sie sagt: Wir kaufen Staats-anleihen nur, wenn die Länder auch unter den Rettungs-schirm gehen. Das heißt, das deutsche Parlament mussdazu entscheiden. Das ist besser als das, was die EZBvorher gemacht hat, nämlich Staatsanleihen aufzukau-fen, ohne dass ein Parlament dazu entschieden hat.Trotzdem sagen wir: Eine andere Entscheidung wärewichtiger, nämlich die Entscheidung für einen Altschul-dentilgungsfonds. Dadurch gäbe es demokratische Ent-scheidungen in allen europäischen Staaten und einenSchuldenabbau auf der einen Seite verbunden mit einerVermögensbelastung auf der anderen Seite. Wir werdenSie so weit treiben, dass Sie auch hier noch den richtigenWeg gehen werden.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich ge-stehe Ihnen ja gerne zu, dass die Neuverschuldung aufden ersten Blick ganz gut aussieht. 18,8 Milliarden Euroneue Schulden sind immerhin 13,3 Milliarden Euro we-niger als im laufenden Jahr. Wenn doch eine Konsolidie-rungsleistung dahinterstecken würde! Aber was tun Sie?Sie streichen 2 Milliarden Euro beim Gesundheitsfonds,2 Milliarden Euro bei der Agentur für Arbeit und 1 Mil-liarde Euro bei der Rentenversicherung. Das ist aber dasGeld der Beitragszahler. Sie benehmen sich, als hättenSie ein Girokonto, von dem Sie Geld abbuchen können,um es in die andere Tasche zu stecken und auszugeben.Das ist aber doch keine Haushaltskonsolidierung.
Auch der Rest fällt Ihnen doch durch die äußerenUmstände in den Schoß: 7,5 Milliarden Euro höhere
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Priska Hinz
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Steuereinnahmen, 2,5 Milliarden Euro weniger Zinskos-ten und 1,4 Milliarden Euro weniger Ausgaben durchniedrigere Arbeitslosigkeit. Obwohl man schon jetztweiß, dass das nicht so bleiben wird und dass wir einenPuffer bräuchten, einen Vorsorgepuffer, unternehmen Siekeine eigenen Sparanstrengungen und machen nichts an-deres, als auf dieser Konjunkturwelle zu surfen.Der Kollege Barthle hat eben vorgetragen, in welchenEinzelplänen die Mittel überall noch erhöht werden.
– Ja, wunderbar. Sie sollten sich selber beim Wort neh-men, also einsparen
und das, was Sie anderen Staaten aufoktroyieren, hierdurchführen,
also strukturelle Reformen im Haushalt durchführen, da-mit wir auf Dauer insgesamt weniger Ausgaben haben,und auf stabile Einnahmen setzen. Das wäre Haushalts-konsolidierung.
Aufgrund der Entwicklung, die ich eben vorgetragenhabe, nimmt der Finanzminister 16 Milliarden Euro ein.Sie jedoch senken die Nettokreditaufnahme um nur13 Milliarden Euro. Das heißt, 3 Milliarden Euro werdenschon wieder verbraten, zum Beispiel für die Bundes-wehr, die zwar kleiner, aber um 1,3 Milliarden Euro teu-rer wird. Eigentlich sollten dort 8 Milliarden Euro – dashatten Sie einmal versprochen – eingespart werden.Aber nicht nur da geben Sie unnötig Geld aus. Sie set-zen dem Ganzen noch die Krone auf, indem Sie das Be-treuungsgeld einführen und Eltern Geld dafür geben,dass Kinder Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Wasist denn das für eine Absurdität von Haushaltspolitik?Das ist nicht nur inhaltlich und bildungspolitisch eineKatastrophe, sondern auch haushalterisch ein völligerIrrweg.
Der Haushalt verstärkt die soziale Ungerechtigkeit indiesem Land allein dadurch, dass Sie die Mittel für dieArbeitsmarktpolitik kürzen. Die Zahl der Arbeitslosenist dreimal in Folge wieder gewachsen, und zwar trotzFachkräftemangels. Wo senken Sie die Mittel? Wohernehmen Sie das Geld? Sie kürzen die Mittel für Maßnah-men zur Qualifizierung und Wiedereingliederung. Dasaber ist der falsche Weg. Wir wollen diese Menschendoch nicht auf Dauer alimentieren, sondern wir wollensie qualifizieren, damit sie am Arbeitsmarkt teilhabenkönnen und ein Einkommen haben. Das stärkt auch wie-der die Einnahmeseite des Bundes. Das ist die richtigePolitik, die man machen muss.
Auch bei der Energiewende liefert die Koalitionnicht. Nach Fukushima ging es gar nicht grün genug vo-ran. Was ist seitdem passiert? Aufgrund der völligenFehleinschätzung der Zertifikatepreise wurde der Ener-gie- und Klimafonds unterfinanziert, die Energiewendekonnte nicht ausfinanziert werden. Das verursachte ekla-tante Mängel, zum Beispiel beim MarktanreizprogrammErneuerbare Energien oder bei den Maßnahmen zur Ver-besserung der Energieeffizienz. Jetzt sind für 2013 dafürzwar höhere Mittel eingeplant, aber immer noch in ei-nem Schattenhaushalt.Wenn dieser Haushalt nicht funktioniert, dann wirddie Energiewende nicht finanziert werden können. Dannbricht uns eine Wachstumsbranche weg. Dann brechenuns Arbeitsplätze im Handwerk, im Mittelstand weg.Das sind aber die, die wir brauchen werden, wenn dieKonjunktur wieder stagniert oder lahmt oder am Endeeinbricht. Wir müssen auf die Energiewende setzen.Deswegen werden wir Grünen Ihnen zeigen, wie man ei-nen Klimaschutzhaushalt auf den Weg bringt, der dieEnergiewende ausfinanziert, ohne den Haushalt über Ge-bühr zu strapazieren.
Wir werden Ihnen zeigen, wie man den ökologischenUmbau der Wirtschaft mit einem konsequenten Konsoli-dierungskurs zusammenbringen kann, wie man ökolo-gisch schädliche Subventionen abbauen kann. Wir wer-den Ihnen aber auch aufzeigen, wie man ein gerechtesSteuersystem auf den Weg bringen kann; denn das brau-chen wir.Sparen ist die eine Seite der Medaille. Aber wir brau-chen auch ein gerechtes Steuersystem, weil wir für Maß-nahmen gegen Altersarmut Geld brauchen. Wir brau-chen Geld für den Ausbau der Kinderbetreuungsplätze.Wir brauchen Geld für die soziale Teilhabe. Die Men-schen im Lande haben auch verstanden, dass wir dafürGeld brauchen und dass die Steuersenkungsorgie derFDP kein Glück gebracht hat. Sie haben recht; denn dieLeute wissen, dass neben dem Sparen auch Einnahmennotwendig sind, um die soziale Infrastruktur in diesemLand zu erhalten.
Wir werden ein Konzept für den Schuldenabbau vor-legen, nämlich unser Konzept einer Vermögensabgabe.Wir sind der Meinung, dass man auch Vermögende be-teiligen kann.
– Ja, das sagen wir auch ganz deutlich. Da nehmen wirkein Blatt vor den Mund.
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Priska Hinz
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– Herr Fricke, wenn Sie die Länder beschimpfen nachdem Motto „Die Länder sind schuld daran, dass sie soviel Geld ausgeben müssen“,
dann sage ich Ihnen: Sie haben in der Koalition und vorallem in der FDP mit der Mövenpick-Steuer die Steuer-basis erodiert.
Deswegen haben die Länder nicht genug Geld für Kita-betreuungsplätze.
Nur weil man Sie in einer Landesregierung mit der Lupesuchen muss, meinen Sie auf einmal, Sie könnten dieLänderparlamente und die Landesregierungen beschimp-fen. Was ist denn das für ein Umgang miteinander vonVerfassungsorgan zu Verfassungsorgan?
Unsinnige Ausgaben streichen: Ja. Aber Schuldenab-bau durch Vermögensabgabe
und ein gerechtes Steuersystem: Das ist unsere grüneHaushaltspolitik. Wir sorgen vor: sozialökologisch undfinanziell. Das werden wir Ihnen in den Haushaltsbera-tungen bis zum November auch zeigen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Priska Hinz. – Nächster
Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Dr. Michael Meister. Bitte schön, Kollege Dr. Michael
Meister.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerEntwurf des Bundeshaushalts für 2013 ist ein Dokumentder Stabilität und Verlässlichkeit, und zwar der Stabilitätin Europa und der Stabilität und Verlässlichkeit inDeutschland. Wir geben nicht nur per Fiskalvertrag undMaastricht-Vertrag internationale europäische Regelnder Stabilität vor, sondern wir leben in Europa auch vor,dass wir die Absicht haben, diese Regeln selbst einzu-halten.
Ich glaube, das ist ein Unterschied zur RegierungGerhard Schröder, Hans Eichel und Joschka Fischer. Siehaben in Europa an dieser Stelle den größten Sündenfallbegangen, der vorstellbar war:
Sie haben als Deutsche bewusst europäisches Recht ge-brochen und uns damit mit in diese Krise des Euro hin-eingeführt.
Deshalb müssen wir jetzt beispielgebend sein, indemwir nicht nur Regeln einfordern, sondern sie auch selbstleben. Deshalb stehen wir in Europa für eine Stabilitäts-union, aber nicht für eine Union, die Transfers betreibtund die Haftung vergemeinschaftet.
Nein, Stabilität muss in der Euro-Debatte das Ziel sein.Frau Hinz, Sie haben eben noch einmal für die Haf-tungsgemeinschaft geworben. Sie haben gesagt: Bei denAltschulden, Euro-Bonds und Euro-Bills wollen Sie ge-meinsame Haftung. Was heißt das denn? Das heißt dochnicht, dass wir haften. Das heißt, dass der normale Ar-beitnehmer, der morgens aufsteht und abends heim-kommt, mit seinem Geld für Schulden haftet, die andereohne seinen Einfluss machen.
Das kann nicht sein. Wir müssen der Anwalt des deut-schen Steuerzahlers sein, meine Damen und Herren.
Deswegen wird es eine Transfergemeinschaft undeine Haftungsgemeinschaft mit uns nicht geben. Wirwerden den Euro stabilisieren, aber ohne dabei den deut-schen Steuerzahler Gefahren auszusetzen, auf die er mitseinem Wahlrecht keinen Einfluss hat.
Ich will auch klar und deutlich sagen, dass aus meinerSicht der Kauf von Staatsanleihen keine Antwort auf dievorliegenden Probleme in den Finanzmärkten, in denHaushalten der einzelnen Länder und in der Wettbe-werbsfähigkeit der einzelnen Volkswirtschaften ist. DieAntwort ist, dass Strukturreformen in den einzelnenLändern erfolgen und wir Wirtschafts- und Finanzpolitikin Europa zusammenbringen müssen. Das ist die Ant-wort, und nicht der Aufkauf von Staatsanleihen. Deshalbmüssen wir auch hier dafür werben, dass diese Struktur-
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Dr. Michael Meister
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reformen stattfinden, statt irgendwelche anderen Aus-wege zu suchen.
Jetzt komme ich zur Finanzmarktregulierung. DieKrise hat 2007 mit der IKB bei uns und später mitLehman Brothers begonnen. Ich erinnere daran, wanndas Ganze tatsächlich begonnen hat. Das war nicht 2007.Der Beginn war die Deregulierung der Finanzmärkteund die Tatsache, dass Rot-Grün Hedgefonds nachDeutschland geholt und die Regulierung aufgeweichthat.
Was wir heute beiseiteräumen müssen, ist die Folge des-sen, was Sie gemacht haben. Sie haben die Märkte dere-guliert und puren Kapitalismus nach Deutschland geholt.Wir müssen jetzt der Aufgabe nachgehen, hier wiedervernünftige Rahmenbedingungen zu setzen.
Nun zu Ihrer Monstranz, die Sie vor sich hertragen,zur Finanztransaktionsteuer. Ja, wir brauchen eine solcheSteuer, weil wir eine bessere Regulierung der Finanz-märkte brauchen. Aber Ihre Monstranz „Finanztransak-tionsteuer“ ist nicht der Ablass für die Sünden, die Sievon Rot-Grün in der Vergangenheit begangen haben.
Ich komme jetzt zu dem, was geschieht. Wir setzengerade die Vorgaben von Basel III um. Das bedeutetmehr Eigenkapital und Liquidität in den Finanzinstitu-ten. Dort wird tatsächlich etwas für mehr Stabilität imFinanzsektor getan. Das betreiben diese Koalition unddiese Bundesregierung.
Wir regeln die Bankenaufsicht nicht nur in Deutschland– gestern gab es eine entsprechende Anhörung imFinanzausschuss –, sondern auch in Europa neu. Wir er-warten die Vorschläge von Herrn Barroso. Wir müssenauch in Europa eine gemeinsame Bankenaufsicht zu-stande bekommen. Ich werbe allerdings dafür, dass dieseBankenaufsicht subsidiär erfolgt, dass wir unser Restruk-turierungsgesetz, das dazu dient, marktwirtschaftlichePrinzipien wieder durchzusetzen, von Deutschland ausauf ganz Europa ausdehnen und dass wir es ermöglichen,ein Finanzinstitut, das in Schieflage ist, umzubauen oderabzuwickeln. Darüber müssen wir diskutieren. Das mussvorangebracht werden, damit wir Marktwirtschaft in derEU haben und damit auch für den Finanzsektor markt-wirtschaftliche Prinzipien gelten.Die EZB soll dabei einbezogen werden. Die EZB istsicherlich eine tolle Einrichtung. Aber ich möchte, dassdabei die geldpolitische Unabhängigkeit der Zentralbankgewahrt bleibt. Wir werden nicht zulassen, dass diesegeldpolitische Unabhängigkeit infrage gestellt wird.Deshalb werden wir auch nicht an das Statut der EZBherangehen. Ich bin sehr gespannt, was uns Herr Barrosovorschlagen wird, um entlang der skizzierten Grundli-nien zu einer gemeinsamen, besseren Bankenaufsicht inEuropa zu kommen.Es wird aber nicht nur über eine gemeinsame Banken-aufsicht, sondern auch über eine Bankenunion diskutiert.Es besteht die Gefahr, dass hier durch die Hintertür nichtder deutsche Steuerzahler, wohl aber der deutsche Sparerin die Haftungsgemeinschaft einbezogen wird. Dazu willich deutlich sagen: Das ist kein Lösungsmodell, mit demwir vorankommen. Wir können den deutschen Sparernicht für Risiken in Haftung nehmen, die an andererStelle entstehen.
Wir haben uns die Ratingagenturen vorgenommen.Wir reden nicht nur darüber, sondern haben sie unterAufsicht gestellt. Das ist das eine. Das andere ist: Wirhaben Registrierungspflichten geschaffen. Das heißt, wirpacken auch an dieser Stelle an. So werden die entspre-chenden Informationen mit mehr Qualität ausgestattet.Wir haben einen „Beipackzettel“ für Anleger geschaf-fen; denn auch der Anleger auf dem Finanzmarkt mussbesser aufgestellt, besser gerüstet sein. Der Bundes-finanzminister bringt gerade die Themen „Begrenzungdes Hochfrequenzhandels“ und „Mehr Transparenz aufden Derivatemärkten“ voran. Ich glaube, dass das rich-tige und wichtige Schritte sind, die gegangen werdenmüssen, um die Risiken auf den Finanzmärkten und da-mit die Risiken für unsere gemeinsame Währung, denEuro, und für unsere Staatshaushalte zu verringern.Herr Poß, Sie haben gerade überwiegend über Sozial-politik gesprochen. Meine Auffassung ist: Sozial ist, wasden Menschen Arbeit und Perspektive gibt.
Hier hat diese Koalition mehr geleistet als jede Koalitionund jede Bundesregierung zuvor. Wir machen Sozial-politik für die Menschen, weil wir ihnen Perspektivenfür die Zukunft geben.
– Sie können so viele Zurufe machen, wie Sie wollen,das ändert nichts an der Tatsache: Sie möchten, dass dieMenschen in den Sozialsystemen bleiben und dort aufder Basis von hohen Steuern und Abgaben möglichst gutversorgt werden. Wir möchten die Menschen aus denSozialsystemen herausholen und sie in Arbeit bringen,damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Das ist ein ganz anderes Menschenbild. Darüber streitenwir gerne. Wir wollen niemanden versorgen und einsper-ren. Wir wollen den Menschen die Freiheit zurückgeben.
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Frau Hinz, Sie haben die Familienpolitik angespro-chen. Olaf Scholz hat uns damals als Generalsekretär derSPD verkündet, dass es um die Lufthoheit über den Kin-derbetten geht. Wir diskutieren gern über die Lufthoheitüber den Kinderbetten. Ich möchte aber, dass die Luftho-heit über den Kinderbetten bei den Eltern liegt. Das istder Punkt, um den es geht. Wir wollen, dass die Elternentscheiden, welches der beste Weg für ihre Kinder ist.
Wir wollen nicht, dass der Staat das entscheidet, sonderndie Eltern.
Weil die Eltern die Möglichkeit haben müssen, sich zuentscheiden, diskutieren wir mit den Kommunen überden Ausbau von U-3-Betreuungsplätzen. Wir geben vielGeld dorthin. Es gibt jetzt im Haushalt einen Nachschlagvon einer halben Milliarde Euro. Wir garantieren abergleichzeitig denen die Wahlfreiheit, die sich anders ent-scheiden, die ihre Kinder nicht in die Krippe geben wol-len, sondern die Betreuung selbst übernehmen.
Das ist richtig verstandene Wahlfreiheit der Eltern. Dasist das Gegenteil der Ideologie, die besagt, der Staatwisse am besten, was für die Kinder gut sei.Sie von den Sozialdemokraten fragen immer wieder,was man denn machen müsse: den Haushalt konsolidie-ren oder Wachstumspolitik betreiben. Ich bin der Mei-nung: Zwischen diesen beiden Zielen besteht kein Wi-derspruch.
Wir haben in dieser Wahlperiode mit einer wachstums-freundlichen Konsolidierungspolitik begonnen, die dasDefizit von 86 Milliarden Euro – das war die für 2010geplante Nettokreditaufnahme – auf unter 20 MilliardenEuro im Haushalt 2013, über den wir gerade debattieren,zurückführt. Das ist eine riesige Leistung im Hinblickauf die Konsolidierung.Gleichzeitig aber haben wir darauf geachtet, dass dieWachstumskräfte in unserem Land gestärkt worden sind.Wir haben die Investitionen und die Ausgaben für For-schung und Entwicklung auf einem hohen Niveau gehal-ten, und wir haben Strukturmaßnahmen beschlossen, umfür die Stärkung der Wachstumskräfte zu sorgen. Auchhierzu will ich Ihnen etwas sagen: Wer war es denn imDeutschen Bundestag, der zu Beginn dieser Wahlperiodegegen das Wachstumsbeschleunigungsgesetz gestimmthat? Es war doch die Opposition, die dagegen war,
die sich bei der Abstimmung hier in diesem Haus gegenWachstum gewandt hat. Deshalb: Kommen Sie uns dochjetzt nicht mit Ratschlägen und sagen, wir müsstenWachstum mit Konsolidierung verbinden. Wir tun dasseit Beginn dieser Wahlperiode, und wir empfehlen dasall unseren Freunden in Europa: Euro-Plus-Pakt und se-riöse Haushaltspolitik.
Im Gegensatz zu Ihnen konsolidieren wir den Haus-halt. Schauen Sie sich die Ausgabenkurve des Bundes-haushalts unter Hans Eichel an. Hans Eichel hat ver-sucht, zu konsolidieren, indem er versucht hat, seineEinnahmen zu steigern.
Der Kollege Steinbrück hat versucht, zu konsolidieren,indem er die Einnahmen gesteigert hat. Es wird niemalsfunktionieren, den Haushalt über Einnahmesteigerun-gen nachhaltig zu konsolidieren. Sie werden den Haus-halt nur über die Ausgabenseite nachhaltig konsolidie-ren.
Wenn Sie den Haushaltsentwurf und die Finanzpla-nung anschauen, dann sehen Sie ein nahezu konstantesAusgabenniveau. Über dieses nahezu konstante Ausga-benniveau werden wir es schaffen, den Haushalt nach-haltig zu konsolidieren. Das muss unser Ziel sein. DieKonsolidierung darf nicht nur kurzfristig auf dem Papiererscheinen, sondern es muss dauerhaft erreicht werden,dass wir keine neuen Schulden aufzunehmen brauchen.
Es ist toll, dass wir die Schuldenbremse im Grundge-setz haben. Der Bundesfinanzminister hat heute früh da-rauf hingewiesen, dass er bereits 2013 die eigentlicheFassung der Schuldenbremse – strukturelles Defizit ma-ximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – errei-chen wird. Das heißt, wir erreichen unser Ziel drei Jahrevor der vorgegebenen Frist, die wir gemeinsam verabre-det haben. Das ist aus meiner Sicht eine tolle Leistung.Diese Schuldenbremse gilt nicht nur für den Bundes-haushalt, sondern auch für die 16 Landeshaushalte. Ichwürde mich freuen, wenn wir nicht erst im Jahr 2019 be-ginnen, darüber zu diskutieren, wie wir ab 2020 dieNullverschuldung realisieren. Ich finde es abenteuerlich,was in Ihrem Heimatland, Herr Poß, geschieht. Dortwird in konjunkturell guten Zeiten, bei einer hoher Be-schäftigungsquote und extrem niedrigen Zinsen die Neu-verschuldung noch gesteigert.
Glauben Sie, dass die Steigerung der Nettokreditauf-nahme bei hoher Beschäftigungsquote, hohen Wachs-tumsraten und niedrigen Zinsen es erlauben wird, imJahr 2020 eine Verschuldung von null zu erreichen?
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Dr. Michael Meister
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Nein. Dort, wo Sie zu Hause sind, tun Sie das genaueGegenteil von dem, was Sie hier sagen. Halten Sie IhreReden vor Ihrer eigenen Landesregierung, damit siefinanzpolitisch vernünftig wird.
Wir müssen eines sehen: Wir haben natürlich einniedriges Zinsniveau. Das ist etwas, was mir Sorgenmacht. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich die Zeitungaufschlage und lese, dass Herr Schäuble eine Anleihebegeben hat, für die er angeblich sogar noch Geld be-kommt. Auf der anderen Seite macht mir das Sorgen;denn das ist kein Zeichen dafür, dass wir in einer norma-len Lage sind,
sondern das ist ein Zeichen dafür, dass wir eine künstlichgeschaffene Situation haben, sowohl für den Staat alsauch für viele private Marktteilnehmer. Ob es um die Al-tersvorsorge geht oder um Investitionen, das Zinsniveauist nicht natürlich.Wir müssen daran arbeiten, dass wir möglichstschnell aus der Euro-Krise herauskommen, damit wirwieder auf ein normales Niveau kommen. Sonst zahlenwir in einigen Jahren den Preis für die falschen Entwick-lungen beim Zinsniveau.Ich wünsche mir, dass in den Debatten im Haushalts-ausschuss nicht immer nur beschworen wird, den Haus-halt zu konsolidieren, obwohl gleichzeitig Anträge ge-stellt werden, in den einzelnen Fachbereichen noch mehrGeld auszugeben. Ich würde mich vielmehr freuen,wenn in den uns bevorstehenden Haushaltsberatungender eine oder andere Vorschlag gemacht würde, wo zu-sätzliche Einsparungen vorstellbar sind. In diesemGeiste sollten wir miteinander diskutieren. Ich freuemich auf die Diskussionsbeiträge.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Michael Meister. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten Kollege Carsten Schneider. Bitte schön,
Kollege Carsten Schneider.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Meister, wenn Sie denn einmal aufdie Vorschläge zugegriffen hätten, die wir in den vergan-genen Jahren gemacht haben, dann sähe es um Deutsch-land und die Finanzen des Bundes bedeutend besser aus.
Sie haben gerade auf die Erhöhung der Neuverschul-dung im Land NRW hingewiesen. Darf ich Sie einmal anIhrem eigenen Handeln messen? Für das Jahr 2012, alsodas Jahr, in dem wir uns befinden, haben Sie einenNachtragshaushalt verabschiedet: 32 Milliarden Euroneue Schulden – das hat Minister Schäuble eben nocheinmal gesagt – haben Sie hier beschlossen.
Kennen Sie noch die Zahl des Jahres 2011?
17 Milliarden Euro neue Schulden. Im Jahr 2012:32 Milliarden Euro neue Schulden. Das ist eine Erhö-hung, oder?
Die Steuereinnahmen sind explodiert, die Zinsausgabensind gesunken, und die Sozialausgaben haben Sie ge-kürzt. Ich frage mich, wo Sie konsolidieren wollen.
Wenn man sich die Situation sehr ernsthaft anschaut,stellt man fest: Wir haben in den letzten beiden Jahrenextrem profitiert: von der Euro-Krise, bei den Zinsen.Aber bei den Zinsen tickt eine Zeitbombe. Wir habenaußerdem von den Nachholeffekten aus der Konjunktur-delle – Herr Minister Schäuble ist vorhin darauf einge-gangen – enorm profitiert. Ihre Aufgabe wäre es gewe-sen, in der Zeit, in der die Konjunktur geboomt hat, dieVerschuldung stärker zu senken, damit wir, wenn es ein-mal schlechter läuft, Rücklagen haben, um aktiv handelnzu können. Diese Zeit haben Sie vergeudet. Nichts da-von ist passiert.
Betrachten wir nur einmal die Zinsausgaben: Es gibtnatürlich eine Friktion innerhalb der Euro-Zone. So wiedie Spanier zu viel Zinsen zahlen, so zahlen wir zu we-nig. Allein die Entlastung durch geringere Zinsausgabengegenüber der Finanzplanung, die Sie 2011 für diesesJahr aufgestellt haben, beträgt 10,7 Milliarden Euro. An-gesichts dessen erschließt sich, warum Ihre Ausgabeninsgesamt in etwa gleich bleiben, auch wenn sie in be-stimmten Ressorts steigen.Der entscheidende Punkt aber ist, dass Sie das Zins-änderungsrisiko – also das Risiko, dass die Zinsen wie-der einmal steigen, und das werden sie über kurz oderlang –
in Kauf nehmen und es versäumen, uns von den Finanz-märkten unabhängiger zu machen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22887
Carsten Schneider
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Im Gegenteil: Über die Bundesschatzbriefe konnteder Bürger ohne Banken, ohne Finanzsektor beim StaatGeld anlegen, ihm Kredite geben. Diesen direkten Zu-gang des Bürgers haben Sie, Herr Minister, durch eineEntscheidung, die Sie im Sommer getroffen haben, abEnde dieses Jahres zerstört. Das ist ein weiterer Teil derKlientelpolitik, die Sie für den Finanzsektor und gegendie Interessen der Bürger in Deutschland betreiben.
– Herr Kollege Barthle, die Zinsausgaben steigen vor al-len Dingen, weil Sie immer neue Schulden machen, dienatürlich auch finanziert werden müssen. Das sollten Siein Ihre Berechnung einbeziehen. Der Vorschlag der SPD,das, was wir als Alternative zu dem, was Sie heute hierpräsentiert haben, einbringen werden, ist ein konsequenterSubventionsabbau. Sie haben mit dem sogenanntenWachstumsbeschleunigungsgesetz, lieber Kollege Meister,doch neue Subventionen eingeführt. Denken Sie an dasHotelsteuerprivileg von 1 Milliarde Euro.
Davon wollen Sie zwar jetzt nichts mehr hören, aber esist geltendes Recht in Deutschland. Wir wären sofort da-bei, wenn es darum ginge, das zu ändern und diese Sub-vention abzubauen.Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel. Auch Sie habenvorhin gesagt: Gut ist alles, was Arbeit schafft. – Arbeitist generell gut. Sie gehört zum Leben dazu. Entschei-dend ist aber, dass anständige Löhne gezahlt werden.Dadurch, dass Sie verhindern, dass wir hier in Deutsch-land zumindest einen Mindestlohn haben – wer arbeitet,erhält zumindest so viel, dass er davon leben kann –, ent-stehen dem Staat Ausgaben von über 8 Milliarden Euro.Das ist eine der größten Einzelsubventionen, die wir imBundeshaushalt haben, die Sie nirgendwo ausgewiesenhaben. Das wollen wir ändern.
Sie haben keinerlei Vorsorge getroffen. Ich habe amAnfang Ihrer Konjunktureinschätzung zur Weltwirt-schaft ein bisschen zugehört, Herr Minister Schäuble.Dass sich das eintrübt, kann man sehen. Die OECD re-duziert ihre Prognose auf 0,8 Prozent. Wir werden dassehen. Wir haben das zumindest weltwirtschaftlich nichtin der Hand. Aber Sie hätten dafür Vorsorge treffen kön-nen, hätten früher und eindeutiger auch für eine gerechteBesteuerung in Deutschland sorgen können und müssen.Wir haben neben dem Haushalt noch zwei weitereFaktoren, die in den nächsten Jahren zu einer Belastungwerden. Der eine Faktor ist der Investitions- und Til-gungsfonds. Den haben wir damals in der Großen Koali-tion aufgelegt. Er kostete 20 Milliarden Euro, die überSchulden finanziert wurden. Davon haben Sie keinenCent getilgt, obwohl die Konjunktur brummt. Erst 2016wollen Sie das erste Mal tilgen. Ich hoffe, dass wir dannimmer noch Aufschwung haben. Aber wenn ich mir dieZyklen so angucke, habe ich ernsthafte Zweifel, dass eseinen dauerhaften Aufschwung über sechs oder siebenJahre gibt. Auch da machen Sie sich also schuldig, wennes um eine nachhaltige Finanzpolitik geht.Der zweite Faktor sind die Risiken, die wir durch dieEuro-Krise haben. Wir haben sehr direkte Ausgabendurch die Abwicklungsanstalten der Banken – HypoReal Estate, aber auch WestLB – und dort insbesondereden Schuldenschnitt für Griechenland; knapp 10 Milliar-den Euro. Da wird noch einiges hinzukommen. Wie vieldas insgesamt ist, wissen wir nicht. Sie haben verhindert,dass wir die notwendigen Einnahmen erzielen, um dieseRisiken und die damit verbundenen Ausgaben nicht indie Zukunft zu verschieben, sondern heute dafür zu be-zahlen. Die Risiken sind heute entstanden und haben denMenschen heute geholfen, vor allen Dingen denjenigen,die über hohe Vermögen verfügen; denn deren Einkom-men wurden gesichert. Das ist die Gerechtigkeitsfrage,vor der wir stehen, und auf die werden wir als Sozialde-mokraten mit einer klaren Vermögensbesteuerung aucheine Antwort geben.
Das will ich noch als Letztes sagen – Herr Minister,Sie sind lange auf die Schweiz eingegangen –: Keinerder Sozialdemokraten hier hat ein negatives Verhältniszur Schweiz; im Gegenteil: ein wunderschönes Land mitfleißigen Leuten.
Nur, eines ist auch klar, nämlich dass es kein Geschäfts-modell geben kann, bei dem Politik, Bankenunterstüt-zung und besonderer Geheimnisschutz gezielt dazu füh-ren, dass die Steuerbasis in einem Land erodiert, dasseinem Land gezielt Steuern der Vermögenden abgezogenwerden und einem anderen Land Erträge entstehen. Dasist unsozial. Das ist ungerecht. Deswegen wird es in dervorliegenden Form von uns keine Zustimmung geben.
Vielen Dank, Kollege Carsten Schneider. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Dr. Volker Wissing. Bitte schön,
Kollege Dr. Volker Wissing.
Besten Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Ausführungen von Herrn KollegenSchneider zeigen mal wieder das klassische Bild: Je bes-ser die Haushaltspolitik der Regierung ist, umso schwä-cher werden die Argumente der Opposition.
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22888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Dr. Volker Wissing
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Sie fordern in der Finanzpolitik, insbesondere in derSteuerpolitik, immer das Falsche und lehnen das Rich-tige ab. Der Finanzminister hat es Ihnen heute noch ein-mal eindringlich erklärt und Sie ermahnt, den Abbau derkalten Progression im Bundesrat nicht länger zu blockie-ren, weil das eine Frage von Steuergerechtigkeit für Be-zieher unterer und mittlerer Einkommen ist. Aus wahl-taktischen Überlegungen heraus den Beziehern untererund mittlerer Einkommen in Deutschland Steuergerech-tigkeit zu verweigern, das ist wirklich keine anständigePolitik; das ist wirklich schäbig.
Das ist auch für Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-kraten peinlich.Aber es gibt noch ein anderes Argument dafür, dassSie den Abbau der kalten Progression nicht blockierensollten: Der Abbau der kalten Progression ist ein aktiverBeitrag, ein aktives Bekenntnis zur Stabilitätspolitik, zurGeldwertstabilität, wie der Finanzminister ausgeführthat.
Deswegen: Beenden Sie die Blockade, stimmen Sie die-sem notwendigen, richtigen und wichtigen Gesetz zuund hören Sie auf, Ihre parteitaktischen Überlegungenüber die Interessen der Bevölkerung in Deutschland zustellen!
Sie fordern auch an anderer Stelle das Falsche; wirhaben das von den Grünen heute wieder gehört. Lauthalswird eine Vermögensabgabe gefordert. Konkret heißtdas für die Menschen: Sie sollen einen Teil ihrer Immo-bilien verkaufen, das Geld dem Staat überweisen.
Das heißt für die Unternehmen: Sie sollen weniger in-vestieren und einen Teil der Unternehmenssubstanz anden Staat übertragen, so als könnte irgendeiner von Ih-nen durch parlamentarische Entscheidungen die Kompe-tenz privater Investoren ersetzen. Das, was Sie machen,ist nichts anderes, als dem Land Wachstumschancen zunehmen, und das ist das Letzte, was wir in dieser Krisegebrauchen können.
Die Leistung der Koalition ist, den Haushalt Schrittfür Schritt zu konsolidieren. Damit erfüllen wir einWahlversprechen, und damit leisten wir einen Beitragfür solide Staatsfinanzen in ganz Europa.Das, was Sie mit Ihrer irrlichternden Politik wollen,die Sie ständig zur Euro-Krise äußern – mal wollen SieEuro-Bonds, mal wollen Sie, dass die Notenpresse ange-worfen wird, mal suchen Sie die Lösung, indem derStaat die Bürgerinnen und Bürger enteignet –, ist, einenWeg zu finden, wie der Staat an mehr Geld kommt.
Die Wahrheit ist: Nicht neues, billiges Geld ist die Lö-sung, sondern Strukturreformen sind der Weg aus dieserKrise. Die Wettbewerbsfähigkeit aller Länder der Euro-Zone muss wiederhergestellt werden, liebe Kolleginnenund Kollegen.
Deswegen gehen wir unseren Weg entschlossen weiter.Die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit geht ambesten mit stabilem Geld. Dafür muss die EuropäischeZentralbank sorgen; das ist ihre Aufgabe. Dafür hat sieein Mandat, und dafür hat sie die geldpolitische Macht.
Aber die Europäische Zentralbank muss unabhängigbleiben.
Deswegen ist uns bei der Umsetzung einer europäischenAufsichtsstruktur wichtig, die Unabhängigkeit der Euro-päischen Zentralbank streng im Auge zu haben.Wir haben auf nationaler Ebene eine Aufsichtsreformauf den Weg gebracht, die von Sachverständigen großenZuspruch erfährt.
Wir haben die Unabhängigkeit der nationalen Auf-sicht gegenüber der Wirtschaft gestärkt. Es war damalsein Fehler von Rot-Grün, die Wirtschaft in die Aufsichtselbst zu integrieren. Die Unabhängigkeit, die wir herge-stellt haben, ist ein richtiger und wichtiger Schritt. AberBankenaufsicht, Finanzaufsicht darf nicht unabhängigvom Staat sein. Sie darf vor allen Dingen nicht unabhän-gig von der Fiskalpolitik agieren. Deswegen gilt es jetzt,genau aufzupassen.Hinsichtlich der europäischen Aufsicht sind wir unseinig: Wir brauchen sie. Wenn wir, wie wir aus der Krisegelernt haben, gemeinsam Risiken tragen, dann mussauch gemeinsam beaufsichtigt werden. Wichtig ist, zuerkennen, dass die Bankenaufsicht ihre Risikobewertungnicht von der Fiskalpolitik losgelöst machen kann.Wenn etwa die EBA, wie wir es gegenwärtig erleben,den Investoren in Staatsanleihen sagt: „Ihr müsst einenRisikoabschlag machen, der nicht genau zu beziffern istund den wir präzisieren, wenn wir beim nächsten Mal ei-nen Stresstest durchführen“, dann hat das unmittelbareAuswirkungen auf die Investitionsbereitschaft bei euro-päischen Staatsanleihen.
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Dr. Volker Wissing
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Damit gibt es eine enge Verknüpfung zwischen Aufsichtund Fiskalpolitik. Ich bin der Meinung, dass das nochstrenger und noch enger verknüpft werden muss.Wenn man diese Auffassung teilt, darf eines nichtpassieren: Dann darf Aufsicht nicht eng mit Geldpolitikverknüpft sein.
Wenn Aufsicht und Fiskalpolitik einen engen Zusam-menhang darstellen – davon bin ich fest überzeugt; daskönnen wir in der Euro-Zone beobachten –, dann musseine ganz strenge Brandmauer, eine Schutzmauer zwi-schen Aufsicht und Geldpolitik vorhanden sein. Das istdas Entscheidende. Darauf kommt es an, wenn wir eineeuropäische Aufsicht schaffen.
Deswegen ist es klug, den Sachverstand und dieKompetenz der Europäischen Zentralbank – Sie habendas gesagt, Herr Minister – einzubeziehen. Das ist eineInstitution, die Vertrauen in Europa hat, die Vertrauengenießt und deren starke Stellung wir nicht schwächenwollen.Aber es ist eben auch wichtig, das Verhältnis zwi-schen Fiskalpolitik und Aufsicht auf der einen Seite undGeldpolitik auf der anderen Seite nicht aus dem Blick zuverlieren. Wir haben Vertrauen, dass Sie, Herr Minister,das im Blick haben. Wir unterstützen Sie dabei, den Weghin zu einer starken europäischen Aufsicht zu gehen.Das vervollständigt das, was wir als Koalition geleistetund noch vor uns haben: stabile Staatsfinanzen, wachs-tumsorientierte Steuerpolitik und strenge, effiziente Auf-sicht der Finanzmärkte. Das sind wir den Menschenschuldig. Da haben wir viel geleistet. Das, was noch voruns liegt, wollen wir in der gleichen soliden und gutenArbeit vollenden, wie wir es in der Vergangenheit getanhaben. Das haben wir den Menschen versprochen, unddas werden wir am Ende auch umsetzen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Kollege Dr. Wissing. – Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Bartholomäus Kalb. Bitte schön, Kollege
Barthel Kalb.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Der Regierungsentwurf für den Haushalt2013 und der Finanzplan bis 2016 sind Ausdruck erfolg-reicher Haushaltskonsolidierung und auf finanzpoliti-sche Stabilität ausgerichteter Politik. Die strukturelleNeuverschuldung können wir bereits früher zurückfüh-ren, als in 2010 festgelegt worden ist. Wir werden bereitsim nächsten Jahr die Vorgaben der Schuldenbremse imGrunde genommen erfüllen, also drei Jahre früher alsvorgesehen.Es ist wiederholt gesagt worden: Wir konsolidierenauf der Ausgabenseite. Das Haushaltsvolumen entwi-ckelt sich langsamer als das Bruttoinlandsprodukt. Wirkonsolidieren nicht auf der Einnahmeseite, weil das er-fahrungsgemäß immer schiefgeht, Herr Kollege CarstenSchneider.Es ist erstaunlich, wie Sie sich vorhin an Ihren Steuer-erhöhungsplänen, Ihren Steuerneufindungsplänen er-götzt haben. Ich habe hier noch einen Artikel von 2011,in dem Sie Ihre Konzepte vorgestellt haben: Ehegatten-splitting abschaffen, Vermögensteuer einführen, Erb-schaftsteuer heraufsetzen, Steuertarife nach oben fahren,und viele andere Dinge mehr bis hin zu Belastungenbeim Agrardiesel. So können Sie keine Haushaltskonso-lidierungspolitik machen.
Eine Politik der ständigen Mehrbelastung für Bürgerund Wirtschaft führt im Ergebnis zum Verlust von Wett-bewerbsfähigkeit und steigert sie nicht. FinanzministerSchäuble hat schon berichtet, dass Ergebnisse von Un-tersuchungen zeigen, dass wir heute in der Wettbewerbs-fähigkeit vor den Vereinigten Staaten von Amerika undvielen anderen Industrieländern liegen. Das hat auch da-mit etwas zu tun, dass wir in diesem Lande strukturelleReformen durchgeführt haben und dass wir sehr daraufachten, dem Bürger und der Wirtschaft nicht mehr Geldzu entziehen, als für die Finanzierung der Staatsaufga-ben unbedingt notwendig ist.Diese Politik ist gut für die Menschen. Das könnenwir an einigen wenigen Zahlen sehr deutlich ablesen:Die Zahl der Erwerbstätigen liegt heute bei 41,7 Millio-nen, der höchste Stand aller Zeiten. Die Arbeitslosigkeithat sich gegenüber 2005 fast halbiert; sie liegt bei unter3 Millionen. Wir haben einen Höchststand bei den versi-cherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen: Es gibtziemlich genau 3 Millionen mehr versicherungspflichtigBeschäftigte als im Jahr 2005. Angesichts dieser Zahlenmüssten doch auch Sie einsehen, dass unsere PolitikWachstumskräfte entfaltet und den Menschen Entfal-tungsmöglichkeiten bietet. Dann sind die Menschenauch bereit, sich zu engagieren. Den allermeisten Men-schen in diesem Lande ist es lieber, ihr Einkommen sel-ber zu erzielen, als auf Transfereinkommen angewiesenzu sein.
Die Kollegin Priska Hinz hat vorhin gesagt, wir wür-den Einsparungen vornehmen, indem wir dem Gesund-heitsfonds und der Rentenversicherung Beitragsgelderentziehen. Dem ist doch nicht so, ganz im Gegenteil: Esgab Jahre, in denen wir kurzfristig zusätzliche Steuerzu-schüsse, Staatszuschüsse an die Sozialkassen gebenmussten. Wenn die Lage jetzt Gott sei Dank so erfreulichist, dass es mehr Beitragszahler und damit mehr Einnah-men in den Sozialkassen gibt, dann ist es doch gerecht-fertigt, diese Notmaßnahmen, die wir ergreifen mussten,etwa beim Gesundheitsfonds, aber auch bei den Renten,bei der Arbeitsverwaltung entsprechend zu reduzieren.
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Herr Kollege Bartholomäus Kalb, es gibt Zwischen-
fragen, zumindest eine. Zwei Hände waren zu sehen,
aber es ist eine Zwischenfrage. Gestatten Sie die?
Gerne.
Dann nehmen wir jetzt diese Zwischenfrage. – Bitte,
Frau Kollegin.
Lieber Kollege Bartholomäus Kalb, da wir gerade
beim Thema „Griff in die Sozialversicherungssysteme“
sind – damit reden Sie Ihren Haushaltsentwurf 2013
schön –, möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen.
Meine erste Frage ist: Stimmen Sie mir zu, dass das
sogenannte Sparpaket für das Jahr 2013 mit einem Kon-
solidierungsbeitrag in Höhe von minus 6,5 Milliarden
Euro zu Buche schlägt, allein im Einzelplan der Ministe-
rin Frau von der Leyen mit 2 Milliarden Euro, bei der
Bundesagentur für Arbeit mit 3 Milliarden Euro, bei den
Fördermaßnahmen von Langzeitarbeitslosen zusätzlich
mit 1,5 Milliarden Euro, und das in einer Zeit des Fach-
kräftemangels – Frau Hinz hat glücklicherweise darauf
hingewiesen –, in der wir die Menschen doch qualifizie-
ren wollen? Sie nehmen dem Staat und der Bundesagen-
tur für Arbeit das Geld, mit dem Menschen in Arbeit ge-
bracht werden könnten.
Zweite Frage. Sie haben schon mit Ihrem sogenann-
ten Sparpaket mit jährlich zusätzlich 2,7 Milliarden Euro
in die Rentenkasse eingegriffen. Schon im letzten Jahr
haben Sie die Rentenbeiträge für die Langzeitarbeitslo-
sen gestrichen; das sind 1,8 Milliarden Euro pro Jahr. In
diesem Jahr greifen Sie erneut in die Rentenkasse und
nehmen 1 Milliarde Euro heraus. Im Finanzplan stehen
sogar 1,25 Milliarden Euro pro Jahr bis 2016. Das sind
nach Finanzplan minus 4,75 Milliarden Euro allein im
Bereich Rente. Wie wollen Sie das alles erwirtschaften?
Vermutlich ist es genau die Milliarde, die Sie durch die
Senkung der Rentenversicherungsbeiträge auf 19,0 Pro-
zent erwirtschaften wollen. Und was machen Sie, wenn
auch Ihre Ministerpräsidenten und Ihre Sozialminister
dieser Beitragssatzsenkung nicht zustimmen? Dann ha-
ben Sie ein Loch von 1 Milliarde Euro allein für das Jahr
2013. Was Sie hier machen, ist in höchstem Maße unso-
lide. Ihr sogenanntes Sparpaket, das ohnehin schon eine
soziale Schieflage hatte, weil es fast nur den Einzelplan
von Frau von der Leyen betrifft, haben Sie durch diese
Kürzungen noch verschlimmert, während all die Kür-
zungen, die Sie hier zulasten der Wirtschaft, aber auch
für sich selber postuliert haben, ausnahmslos nicht
durchgeführt worden sind.
Das waren – deshalb die zwei Hände – also die Fra-
gen. – Bitte schön, Kollege Bartholomäus Kalb.
Liebe Frau Kollegin Hagedorn, ich weiß nicht, ob ichso lange antworten kann, wie die Fragen waren.
Ich könnte es ausreizen, aber ich weiß nicht, ob ich mirdadurch die Sympathien der Kolleginnen und Kollegenverspiele.
Zu Ihren Fragen. Sie wissen ganz genau, dass wirjährlich zwischen 80 und 90 Milliarden Euro aus Steuer-mitteln in die Rentenkassen geben.
– Nein, nein. – Sie wissen ganz genau, dass wir in denGesundheitsfonds zusätzliche Mittel hineingegeben ha-ben. Früher gab es überhaupt keinen Bundeszuschuss andie Krankenkassen; den haben wir erst vor einigen Jah-ren eingeführt. Sie wissen, dass wir vom Bund aus vonder Bundesanstalt für Arbeit nicht mehr verlangen, dassdie Eingliederungshilfe an den Bund gegeben werdenmuss. Es ist aber richtig, dass wir die Steueranteile zu-rückfahren, die wir zunächst hineingegeben haben.Ich komme noch einmal darauf zurück, was ich vor-hin gesagt habe: Wenn Gott sei Dank die finanzielle Si-tuation aufgrund der guten Entwicklung unserer Sozial-versicherungen gut ist, dann ist es auch gerechtfertigt,dass wir die Zuschüsse wieder zurücknehmen. Dannkönnen wir andere Prioritäten setzen, die wir im Inte-resse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes dringend set-zen müssen. Wenn die Zahl der Langzeitarbeitslosensinkt, dann wäre es eigentlich paradox, wenn dort einMehraufwand und nicht eine Minderausgabe getätigtwürde. So viel dazu.
Ich bleibe bei dem, was ich immer und immer wiederhier und an anderer Stelle gesagt habe: Haushaltskonsoli-dierung heißt auf der einen Seite, sparsam und wirtschaft-lich mit dem vom Bürger anvertrauten Geld umzugehen,und es heißt auf der anderen Seite, die Wachstumskräftesich entfalten zu lassen und nicht abzuwürgen, weil nureine sparsame und wirtschaftliche Haushaltsführung aufder einen Seite und eine gute wirtschaftliche Entwick-lung auf der anderen Seite zu langfristigen positiven Ef-fekten führen. Vor allen Dingen muss man immer derVersuchung widerstehen, schöne Wohltaten zu verteilen,sich alles leisten zu wollen, was man sich nicht leistenkann. Das gilt sowohl für uns als auch für die Länder inbesonderer Weise. Wir sehen es im Wettbewerb der Län-der untereinander: Nordrhein-Westfalen kann noch soviele Schulden machen, es wird nicht auf einen grünenZweig kommen.In Bayern war es auch nicht angenehm, dass der da-malige Ministerpräsident Edmund Stoiber den ausgegli-
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Bartholomäus Kalb
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chenen Haushalt schon sehr früh durchgesetzt hat. In deraktuellen Ausgabe der WirtschaftsWoche steht: PrimusBayern – beste Jobchancen, geringste Arbeitslosigkeit,geringste Zahl an Hartz-IV-Empfängern, niedrigste Kri-minalität und die beste Finanzsituation.
Dies ist ein langer Weg. Das ist harte Arbeit und zumTeil sehr unpopulär. Aber die Ergebnisse bestätigen, dassdies der richtige Weg ist und nicht der, das Geld mit lo-ckerer Hand auszugeben.Ich komme noch einmal zum Kollegen CarstenSchneider zurück: Geben Sie und Ihre Kolleginnen undKollegen den Widerstand gegen das Gesetz für den Ab-bau der kalten Progression im Bundesrat auf! Warumgönnen Sie den arbeitenden Menschen nicht das Geld,das sie durch Tariferhöhungen bekommen, das sie abernicht erhalten, indem sie überproportional besteuert wer-den?
Geben Sie Ihren Widerstand auf! Vorhin wurde von Ih-nen groß die Energiewende angesprochen. Sie verhin-dern im Bundesrat die Zustimmung zur steuerlichen För-derung der energetischen Gebäudesanierung. Geben Siedoch diesen Widerstand auf! Das bringt am Ende – auchfür Sie – mehr und nicht weniger in die Kassen.
Geben Sie Ihren Widerstand – das ist heute schon mehr-fach genannt worden – beim Steuerabkommen mit derSchweiz auf! Denn dann kommt Geld in die Kassen. Wiralle könnten dann endgültig auf diese fragwürdigen unddubiosen Methoden, die fast an Hehlerei grenzen, ver-zichten, um an Informationen zu kommen. Der Bundes-finanzminister hat sehr deutlich und mit großer Ein-dringlichkeit gesagt: Gehen wir anständig mit unserenNachbarn und Partnern um!
Wir werden auf jeden Fall die anstehenden Haushalts-beratungen mit großer Ernsthaftigkeit führen. KollegeNorbert Barthle hat darauf hingewiesen: Große Spiel-räume haben wir nicht. Wir müssen damit rechnen, dassdie Konjunkturschwäche in Europa auch Rückwirkun-gen auf die Bundesrepublik Deutschland hat und damitauch auf unsere wirtschaftliche Situation, auf die Ein-nahmesituation beim Staat und bei den Sozialkassen.Deswegen müssen wir das Vorsichtsprinzip walten las-sen. Wir müssen auf der anderen Seite – auch dieseshabe ich wiederholte Male gesagt – das tun, was dieMenschen von uns erwarten, nämlich solide wirtschaf-ten, damit unsere Währung stabil bleibt. Wir haben keineandere Währung als den Euro. Deswegen ist es aller Mü-hen wert, dass wir uns für den Euro einsetzen. Das kön-nen wir am besten tun,
wenn wir solide arbeiten, wenn wir solide wirtschaftenund wenn wir die Enden zusammenhalten. Das liegt imInteresse der Menschen unseres Landes. Das liegt im In-teresse unseres Landes. Und das liegt im Interesse Euro-pas.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Bartholomäus Kalb. – Letzter
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten unser Kollege Lothar Binding. Bitte
schön, Kollege Lothar Binding.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrte Damen und Herren! Minister Schäuble hatvorhin einen Satz gesagt, der hieß: Die Bundeskanzlerinhat wieder und wieder erklärt, dass es den einen Befrei-ungsschlag nicht gibt.Wer hätte den erwartet? Wir alle wissen, dass es ihnnicht gibt. Die Frage ist jetzt: Wo hat sie eine hinrei-chend komplexe Lösung versteckt? Wir suchen immernoch nach einer Lösung, die die Kanzlerin präsentiert.Aber wir finden nichts. Wir merken auch, dass das dieMenschen im Land allmählich nervös macht; dennSchwarz-Gelb regiert jetzt schon drei Jahre.
Wir fragen uns: Was ist hinsichtlich einer echten Krisen-bewältigung passiert? Wir beobachten nicht viel, im Ge-genteil. Wir übernehmen große Verantwortung und ha-ben in Europa einen schlechten Ruf.
Ich will ein Wort zu Schulden und zum Sparen sagen.Wir haben eine einmalige Situation: einmalig niedrigeZinsen, fleißige Arbeitnehmer, gute Manager, verant-wortungsvolle Tarifpartner. Die Arbeitslosigkeit ist nied-rig. Die Sozialkassen haben Überschüsse. Es gibtWachstum.Die Frage ist: Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie dieNettoneuverschuldung überwinden? Selbst in diesen gu-ten Zeiten tun Sie es nicht. Sie kalkulieren für die nächs-ten Jahre bis 2016 1,5 Prozent Wachstum. Ich befürchte,das ist eine sehr optimistische Schätzung, vor allemwenn Ihre Politik demnächst auch in der Wirtschaft ihreWirkung entfalten wird. Möglicherweise wird die Lageschwieriger; dann wird auch die Nettoneuverschuldungnoch viel schwieriger abzubauen sein. Also warum nichtjetzt?
Bei den heutigen Haushaltsberatungen reden wir sehrviel über Geld. Man fragt sich: Warum streiten die dau-
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Lothar Binding
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ernd über Geld? – Die Antwort ist einfach: Uns geht esim Kern um Bildung, um gute Arbeit, um soziale Sicher-heit, um Infrastruktur etc. etc. Deshalb streiten wir mitIhnen über diesen Haushalt, was nicht ganz leicht ist,weil es immer wieder sehr unseriöse Aussagen gibt, diewir entkräften müssen.Ich nenne Ihnen einmal eine solche Aussage: DerKollege Meister hat gesagt: Rot-Grün hat Hedgefondsnach Deutschland geholt. Hierzu muss man wissen: Daswar im Jahr 2003. In den USA war der Hedgefonds einaltbekanntes Instrument, in England wurde gerade einHedgefondsgesetz gemacht, in Frankreich war eines inArbeit. In diesem Zusammenhang haben die deutschenBanken uns gesagt: Wegen Rot-Grün gehen 80 Milliar-den Euro an Deutschland vorbei.Daraufhin haben wir uns überlegt: Wenn ein deut-scher Kunde zu einer Bank kommt, wäre es klug, wenner nicht nur Englisch und Französisch können muss, son-dern auch einen deutschen Hedgefonds vorfindet. Denndann gelten unsere Prospektrichtlinie, alle Verbraucher-schutzmaßnahmen – wunderbar.Wir haben dann Hedgefonds eingeführt – das stimmt –,aber mit der Maßgabe, sie regulieren zu können. Jetzt,zehn Jahre später, schauen wir einmal, ob diese Regulie-rung funktioniert hat: Weltweit gibt es 9 000 Hedge-fonds. Wie viele gibt es in Deutschland? Etwa 20. Dasist kein sehr großer Anteil an den 9 000. Wie groß ist derAnteil der Hedgefonds in Deutschland an den 80 Mil-liarden Euro? Ich schaue den Minister an, er müsste ni-cken, wenn ich die richtige Antwort nenne,
nämlich weniger als 2 Milliarden Euro. Das ist relativwenig. Wir sehen, dass die Schutzmaßnahmen, die Rot-Grün mit Hedgefonds verknüpft hat, sehr gut funktio-niert haben. Das war eine zukunftsorientierte Regulie-rungspolitik.
Ich fand einen weiteren Satz, den wir hier sehr oft ge-hört haben. Den hat Herr Schäuble formuliert – er wirdwie eine Monstranz immer vor ihm hergetragen –: Maas-tricht sei 2003 beschädigt worden. Jetzt frage ich: Waswürden Sie heute eigentlich machen, wenn Sie auf das,was wir gemacht haben, nicht zurückgreifen könnten?Sie nutzen doch genau die Instrumente, die wir geschaf-fen haben.
Warum haben wir diese Instrumente geschaffen?Waigel hatte damals 3 Prozent Nettoneuverschuldung– 60 Prozent vom BIP – durchgesetzt. Kann jemanddiese Zahlen erklären? Natürlich nicht – 3,5 Prozentoder 50 Prozent oder 70 Prozent wären genauso schöngewesen. Diese Zahlen wurden damals so gewählt, weilman dachte, das Ganze könne Deutschland nicht berüh-ren. Deshalb hat man es in Europa durchgesetzt. DieZahlen sind aber egal. Vielmehr war das System falsch.Denn die Maastricht-Kriterien haben dazu geführt, dassein Land, das in einer richtig dicken Krise ist, verschär-fend prozyklisch in diese Krise hineinsparen muss. Es istverrückt, wenn man die Länder zu ihrem Schaden regu-liert.Deshalb war es klug, die Maastricht-Kriterien mit denneuen Möglichkeiten zu versehen, um eine zukunfts-orientierte Wachstumspolitik, eben auch für Deutsch-land, in schwieriger Lage zu ermöglichen.
Ich möchte auf einen weiteren Satz aus der Rede vonHerrn Schäuble zurückkommen, weil dieser Satz die Artseines Denkens zeigt. Es geht jetzt nicht um den Einzel-fall, hierüber ist bereits gesprochen worden. Sie habenetwas Richtiges gesagt und führen die Menschen trotz-dem in die Wüste. Sie haben gesagt: 10 Prozent der Ein-kommensbezieher zahlen 50 Prozent der Einkommen-steuer. – Und das stimmt; da stimme ich Ihnen zu.Übrigens sind wir dankbar, dass die das machen, selbst-verständlich.Aber muss man nicht auch danach fragen, wie sichErträge und Vermögen verteilen? Vielleicht gehören10 Prozent aller Menschen viel mehr als 50 Prozent derEinkommen und Erträge aus Vermögen; dann müsstensie eigentlich mehr bezahlen, und es wäre immer nochgerecht.
– Ich habe nur gesagt, dass Herr Schäuble vergessen hat,den zweiten Teil, der stets zur Wahrheit dazu gehört, zuerwähnen. Dieses Versäumnis wollte ich nachholen, umanzudeuten, wie er das gemeint hat.
Vorhin im Restaurant habe ich meine Kollegen ge-fragt: Worüber soll ich in meiner Rede eigentlich reden?Der Kollege Toncar saß an einem Nachbartisch und hatnach einer kleinen Weile lange Ohren bekommen, hatzugehört und sagte dann ironisch: „Aber auf hohem Ni-veau“, nachdem ich gesagt habe: Kommen Sie doch rü-ber! Auch Sie können mich beraten!
Dabei hatten wir gar nicht von „Gurkentruppe“ gere-det, aber wir hatten darüber geredet, wie Personalpolitikgemacht wird, zum Beispiel von Herrn Niebel zur Ver-sorgung seiner Parteikollegen im Ministerium.
Wir schauten auch nach Herrn Ramsauer. Und dann hat-ten wir das Thema: Was passiert mit den 40 zusätzlichenStellen, die jetzt Herr Altmaier bekommt? Das wäredann sozusagen die dritte parteiliche Komponente, die indiesem Haushaltsentwurf eine Rolle spielt.
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Lothar Binding
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Jetzt zeigt mir der Präsident an, dass ich aufhörenmuss. Weil ich das beherzigen möchte, bedanke ich michvielmals für Ihre Aufmerksamkeit.
– Bitte? Wenn Sie einen Zwischenruf so leise machen,dass man ihn nicht hört, warum machen Sie ihn dann?Das ist einfach ineffizient.Also, alles Gute und eine schöne Zeit! Wir hoffen auferfolgreiche Beratungen.
Vielen Dank, Kollege Lothar Binding.Wir haben keine weiteren Redner in dieser Ausspra-che.Beim Tagesordnungspunkt 2 wird interfraktionell dieÜberweisung des Haushaltsbegleitgesetzes 2013 aufDrucksache 17/10588 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Wir kommen nun zu dem Geschäftsbereich desBundesministeriums für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit, Einzelplan 16.Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Bun-desregierung Herr Bundesminister Peter Altmaier. Bitteschön, Kollege Bundesminister Peter Altmaier.
Peter Altmaier, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Haushalt des Bundesministeriums für Um-welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist einer derkleinsten und bescheidensten überhaupt. Das wird sichauch im neuen Haushaltsjahr nicht grundlegend ändern.Das Haushaltsvolumen steigt nur sehr moderat, um ins-gesamt 54,7 Millionen Euro; das sind 3,4 Prozent. DerLöwenanteil dieser Steigerung geht zurück auf Ausga-ben im Bereich der Vorbereitung der Rückholung radio-aktiver Abfälle aus der Asse – ein Ziel, das wir uns ge-meinsam gesetzt haben.Im Übrigen glaube ich fest, dass der Erfolg und dieBedeutung eines Ministeriums nicht an Haushaltszahlenfestgemacht werden können, weil wir alle uns dem Prin-zip der Nachhaltigkeit verpflichtet fühlen. Nachhaltig-keit ist im Bereich der Umweltpolitik erfunden worden.Nachhaltigkeit ist aber ein übergreifendes Prinzip, undes gilt auch für die Haushaltspolitik. Das wird deutlich,wenn Sie sich vor Augen führen, dass in den LändernSüdeuropas, in denen die Staatsschuldenkrise im Augen-blick am schwierigsten zu bewältigen ist, die Spielräumefür Umweltpolitik besonders klein sind, weil nicht vor-handene Haushaltsspielräume in allererster Linie und zu-erst zulasten der Umweltpolitik gehen. Aus diesemGrund haben wir alle ein Interesse daran, dass die Haus-haltskonsolidierung und das Einhalten der Schulden-bremse gelingen.Im Gegensatz zum bescheidenen Haushalt ist die Be-deutung der Umwelt- und Energiepolitik in den letztenMonaten gewachsen. Sie wird in den nächsten Monatenweiter zunehmen. Das hat etwas damit zu tun, dass vieleMenschen erkennen, dass Politik nicht alleine auf dieBewältigung von Banken- und Staatsschuldenkrisen re-duziert werden darf, sondern dass die Politik die Erhal-tung der natürlichen Lebensgrundlagen bei uns zuHause, aber auch anderswo in der Welt im Auge zu be-halten hat.Wenn wir von natürlichen Lebensgrundlagen reden,dann müssen wir uns auch darüber klar werden, dass vie-les, was in anderen Teilen der Welt geschieht, unmittel-bare Auswirkungen auf uns hat. Der europäische Anteilan den CO2-Emissionen ist mit 17 Prozent relativ gering.Wir haben unsere Reduktionsziele bislang erfüllt. Wirwerden sie auch in Zukunft erfüllen. Wir haben aber einelementares Interesse daran, dass Klimaschutzpolitikweltweit erfolgreich ist und weltweit dazu beiträgt, dassauch das Klima in Europa und in Deutschland in einemvertretbaren Rahmen geschützt wird.
In diesem Zusammenhang steht ein Thema, das einenGroßteil meiner Arbeitszeit in den letzten Wochen undMonaten beansprucht hat und weiter beanspruchen wird,die Energiewende. Die Energiewende ist das größte wirt-schaftspolitische Projekt seit dem Wiederaufbau Deutsch-lands, und es ist das größte umweltpolitische Projektüberhaupt. Diese Energiewende, die wir eingeleitet ha-ben, hat eine komplette Umgestaltung der Energieinfra-struktur in Deutschland zum Ziel. Sie hat einen Umbauder Energieversorgung zum Ziel, eben nicht nur denAusstieg aus der Kernenergie bis zum Jahre 2022, son-dern vor allen Dingen auch den Aufbau einer Energie-versorgung, die im Jahre 2050 insgesamt zu 80 Prozentaus erneuerbaren Energien besteht.Ich glaube, dass das Ziel richtig ist, weil die Import-preise für fossile Rohstoffe steigen werden und weil eineWeltbevölkerung von 8 Milliarden Menschen, die wiralle noch erleben werden, ihren wachsenden Energiebe-darf nicht ausschließlich aus fossilen Energien und Roh-stoffen beziehen kann. Aber, meine sehr verehrtenDamen und Herren, wenn wir das verhindern wollen,dann müssen wir dafür sorgen, dass die Energiewende inDeutschland zu einer Erfolgsgeschichte wird. Ob sieeine Erfolgsgeschichte wird, hängt nicht nur davon ab,wie viele Windräder, Biogasanlagen und Photovoltaik-dächer wir installieren. Es hängt auch davon ab, ob wires schaffen, die drittgrößte Industrienation der Welt öko-logisch mit einer Energieversorgung aus Erneuerbarenzu versehen und gleichzeitig den Standort Deutschland,die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zuerhalten und – ich füge hinzu – auszubauen. Das ist dieHerausforderung, vor der wir stehen.
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Bundesminister Peter Altmaier
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Wenn uns das gelingt, wenn wir zeigen können, dasswir mit einer neuen Energiepolitik weltwirtschaftlich er-folgreich sind, dann wird es international viele Ländergeben, die dies nachahmen, die dies bei sich umsetzen.Der Beitrag zum Klimaschutz wird dann weltweit größersein als der, der durch den Abschluss internationaler Ab-kommen jemals erreicht werden könnte; denn in vielenLändern dieser Welt würde der Einsatz erneuerbarerEnergien nicht dazu führen, dass Kernkraftwerke abge-schaltet werden – die gibt es dort zum Teil nämlich garnicht –, sondern dazu, dass fossile Energien – Öl, Kohleund Gas – durch umweltfreundliche, erneuerbare Ener-gien ersetzt werden.Wir müssen in dieser Diskussion ehrlich sein: Wenndie Energiewende funktionieren soll, dann muss sie imZusammenhang mit dem Ausbau der Netze und mit derEntwicklung von Speicherkapazitäten gesehen werden.Niemand kann ein Interesse daran haben, dass wir Wind-räder bauen und Solardächer installieren, der Strom aberanschließend abgeregelt werden muss und nicht genutztwerden kann, weil die entsprechenden Netze und Ver-teilmöglichkeiten fehlen. Da ist in der Vergangenheit ei-niges versäumt worden. Das müssen wir wieder zu einerguten Ordnung führen.Wir haben – ich darf das sagen – gemeinsam, alleFraktionen in diesem Haus und einstimmig im Bundes-rat, vor der Sommerpause die Photovoltaikförderungnach dem EEG neu geregelt. Sie wissen alle, dass dieAusbauzahlen zuletzt dreimal so hoch waren, wie im Er-neuerbare-Energien-Konzept der Bundesregierung vor-gesehen. Wir haben uns dann zu einer mutigen Reformentschlossen, von der niemand wusste, wie sie wirkt.Wir wissen es immer noch nicht. Aber ich habe jetzt dieZahlen: Nach einem Rekordausbau im Juni von1 800 Megawatt lagen die Zahlen im Juli bei 540 Mega-watt und im August bei 320 Megawatt. Das liegt unterdem viel zu hohen Ausbautempo des letzten Jahres. Daszeigt, dass unser gemeinsam beschlossenes Gesetz zuwirken beginnt, und das ist notwendig, damit Berechen-barkeit und Verlässlichkeit auch in der Energiewendeeine Rolle spielen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,dass wir auch über das Thema „Bürgerbeteiligung undGenehmigungsverfahren für die Trassen von Netzen“ re-den müssen. Wenn es richtig ist, dass wir erneuerbareEnergien dort bauen, wo der Wind weht und die Sonnescheint, dann müssen wir auch für die Transportkapazi-täten sorgen, zum Teil quer durch unser Land, die not-wendig sind, um die Energie dorthin zu bringen, wo siegebraucht wird.Ich glaube, dass wir uns jetzt nicht darüber unterhal-ten sollten, ob alle Genehmigungsverfahren und Natur-schutzregelungen, wie sie vor Jahren getroffen wordensind, glücklich sind, sondern wir sollten uns mit denBürgerinnen und Bürgern zusammensetzen und versu-chen, auf der Grundlage der bestehenden Gesetze einenKonsens darüber hinzubekommen, welche Netze biswann gebaut werden müssen. Ich bin davon überzeugt,dass dies möglich ist. Wir haben beim Thema Stutt-gart 21 gesehen, dass die Bürgerinnen und Bürger vielverantwortungsvoller sind, als es ihnen viele Politikerin-nen und Politiker zutrauen. Auch wenn das Ergebnisnicht allen hier im Hohen Haus gepasst hat, so zeigt esdoch, dass es sich lohnt, Bürgerinnen und Bürger früh-zeitig in Großprojekte einzubeziehen. Ich will mich da-für einsetzen, dass wir diese neuen Formen der Bürger-beteiligung ernst nehmen und nutzen.
Ich möchte ferner dazu beitragen, dass wir die inter-nationale und europäische Dimension der Energiewendeentwickeln. Es war unglücklich, dass wir aufgrund derUmstände, die zum Ausstieg aus der Kernenergie ge-führt haben – welchen ich für richtig halte –, nichtimstande waren, mit unseren europäischen und interna-tionalen Nachbarn und Freunden ausführlich über dieEnergiewende zu reden. Genau das müssen wir jetztnachholen. Wenn wir die Energiewende europäisch anle-gen, dann werden wir erreichen, dass die Energiewendefür unser Land preiswerter und bezahlbarer wird unddass die Stromversorgung sicherer wird. Wir können er-reichen, dass der Ausbau der erneuerbaren Energienauch international, in einem globalen Maßstab in Gangkommt. Ich habe mir vorgenommen, dass wir vonDeutschland aus einen Klub der Staaten gründen, diesich erneuerbaren Energien verpflichtet fühlen, weil ichmöchte, dass wir dazu beitragen, dass der Ausbau der er-neuerbaren Energien auch in Ländern, in denen dieSonne stärker scheint als in Deutschland und der Windebenso stark weht, vorankommt. Ich halte es für einenSkandal, dass einige der Inselstaaten, die am meisten un-ter dem Klimawandel leiden, immer noch gezwungensind, ihre komplette Energie aus veralteten Dieselgene-ratoren zu beziehen. Ich glaube, es lohnt sich, daran zuarbeiten. Das eröffnet dann auch unserer deutschen Wirt-schaft und Industrie neue Wachstumschancen.Im Rahmen der Energiewende gibt es einige Fragen,die wir klären müssen, um Risiken zu beseitigen undeine gute Entwicklung sicherzustellen. Aber es gibt auchgroße Chancen. Ich persönlich glaube, dass die Energie-wende für unsere Volkswirtschaft mit die größte Innova-tionschance in den letzten Jahrzehnten ist. Das ThemaEnergieeffizienz – sparsame Produktion und sparsameProdukte – ist lange Jahre unterschätzt worden; es trägtaber dazu bei, dass wir unsere Ingenieure und Entwick-ler zu Leistungen beflügeln, die dazu führen, dass wirnicht nur Strom sparen, sondern unsere Produkte auchwettbewerbsfähiger machen. Deshalb möchte ich, dasswir den alten und, wie ich meine, falschen Gegensatzvon Wirtschaft und Umwelt endlich überwinden.
Erfolgreiche Umweltpolitik kann nicht ohne gute Wirt-schaftspolitik funktionieren und umgekehrt.Es gibt für mich keine alten und keine neuen Indus-trien, keine braunen und keine grünen, sondern ichmöchte, dass wir insgesamt dazu beitragen, dass unsereWirtschaft die Potenziale, die mit der Green Economyverbunden sind, aufgreift und nutzt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22895
Bundesminister Peter Altmaier
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Wir sind Weltmarktführer im Bereich der umweltfreund-lichen Technologien. Wir können in den nächsten Jahren1 Million Arbeitsplätze in diesem Bereich schaffen. Ichlade Sie herzlich ein, sich daran zu beteiligen, damit alldies zum Erfolg wird.
Mein letzter Punkt. Es kommt nicht nur darauf an,dass die Energiewende am Ende des Tages gelingt, son-dern es kommt auch darauf an, wie sie gelingt. Ich kannmich erinnern: Vor etwa sechs oder sieben Jahren wurdedas neue Terminal im Flughafen Heathrow eingeweiht.In den ersten Tagen und Wochen gab es dort ein perma-nentes Chaos, weil der Umzug in das neue Terminalnicht glückte. In der englischen Presse, die ich ab und zulese, wurde auf ein Beispiel verwiesen, nämlich den Um-zug des Münchener Flughafens von Riem ins ErdingerMoos: Da klappte alles perfekt. Bei Heathrow klappt garnichts. Schaut einmal, was die Deutschen Tolles können. –Wenn Sie heute eine solche Diskussion hätten, würdeman sich nicht mehr auf den Flughafen im ErdingerMoos beziehen, sondern auf ganz andere Flughäfen undganz andere Probleme. Deshalb sage ich: Für das Imageunseres Landes und den Erfolg der Energiewende insge-samt ist es wichtig, dass sie dauerhaft ein Erfolgsprojektist, nicht nur am Ende, sondern auch jetzt, am Anfang,und zwischendurch.
Auf dem Weg in eine wettbewerbsfähige, ökologischsaubere und bezahlbare Energieversorgung müssen wirviele mitnehmen. Ich lade Sie herzlich ein. Wir brauchenin vielen Fragen einen Konsens, nicht nur wegen derMitwirkungsrechte des Bundesrates, sondern auch, weiles Grundsatzfragen gibt, die gemeinsam geklärt werdenmüssen, damit sie nicht bei jeder Wahl neu infrage ge-stellt werden. Dazu gehören die Endlagersuche in Gorle-ben und die Frage der Meilensteine für die Energie-wende.Ich werde mit Vorschlägen auf Sie zukommen, undich lade Sie herzlich ein, sich an dieser Diskussion zubeteiligen.
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Nächster Red-
ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unser Kollege Matthias Miersch. Bitte
schön, Kollege Miersch.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Minister Altmaier, dies ist der ersteUmwelthaushalt, den Sie zu verantworten haben, wahr-scheinlich ist es auch der letzte der schwarz-gelben Re-gierung. Insofern gestatten Sie mir vorweg ein paargrundsätzliche Bemerkungen.Ich glaube, die Umweltpolitik der schwarz-gelbenBundesregierung ist ein Zeugnis, wie man Politik nichtmachen darf. Jeder, der die Politik der letzten dreiein-halb Jahre verfolgt hat, hat erlebt, dass in einem für Ver-braucher und Wirtschaft zentralen Bereich 180-Grad-Wendungen erfolgt sind und alles andere als nachhaltiggehandelt worden ist, Herr Minister.
Ein bisschen entlarvend war es schon, dass Sie ebengesagt haben – ich habe es mir extra aufgeschrieben –:Die Bedeutung der Energie- und Umweltpolitik hat inden letzten Monaten zugenommen. – Liebe Kolleginnenund Kollegen, die Energiewende begann im Jahre 2001.Sie haben allerdings all die Jahre darauf hingearbeitet,eine Rolle rückwärts zu machen und die Atomtechnolo-gie wieder hoffähig zu machen. Das ist eine Katastrophe.Bei Ihnen spielte die Energiepolitik vielleicht erst in denletzten Monaten eine Rolle. Sie hätte bei Ihnen aberschon viele Jahre vorher eine Rolle spielen müssen.
Man sieht das nicht nur an der Laufzeitverlängerungund ihrer Rücknahme, sondern auch daran, dassSchwarz-Gelb in einem zentralen Politikbereich denMinister ausgewechselt hat. Wenn die Regierung einenMinister auswechselt, fragt man sich: Was für eine Hal-tung hat der neue Minister eigentlich zur Energiepolitik?Ich habe einmal recherchiert, welche Position Sie in denletzten Jahren vertreten haben. Sie haben sich als Parla-mentarischer Geschäftsführer zweimal zu diesem Themageäußert, und zwar angesichts der Laufzeitverlängerungvor gut zwei Jahren von diesem Pult aus. Da haben Siegesagt, das Gesetz zur Laufzeitverlängerung für Atom-kraftwerke sei das modernste, umweltfreundlichste Ge-setz zur Energiepolitik, das jemals in diesem Haus ver-abschiedet worden ist.
Ich glaube, jeder sollte die Möglichkeit haben, sich zurevidieren. Das ist auch Ihr gutes Recht. Aber, HerrMinister Altmaier: Ich habe in den letzten Monaten nochnicht gehört, wofür Sie stehen. Ich habe auch noch nichtgehört, welche Argumente Sie denjenigen in Ihren eige-nen Reihen entgegenhalten, die gerade wieder aus ihrenLöchern kriechen und hoffen, dass das Ganze gegen dieWand fährt. Ich glaube, Sie müssen mehr Überzeugungzeigen. Es reicht nicht, der nette Onkel mit der Wind-mühle zu sein. Sie müssen für diese Energiewende bren-nen, Herr Minister. Dazu fordere ich Sie auf.
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22896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Dr. Matthias Miersch
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, jedem, der sich mitdiesem Thema auskennt, empfehle ich, die Debatte, diewir ein Jahr nach Fukushima hier geführt haben, nachzu-lesen. Die Reden, die in dieser Debatte von manchenVertretern von Union und FDP gehalten worden sind,machen deutlich, dass schon damals versucht wurde, einRollback bzw. ein Hoffähigmachen der Atomtechnolo-gie einzuleiten, und das, obwohl Fukushima nicht einmalein Jahr her war. Das ist die Debatte, die wir führen.Herr Minister, da Sie von Nachhaltigkeit geredet ha-ben, sage ich Ihnen: All denen, die heute wieder versu-chen, Atom, Kohle, Gas etc. als billig darzustellen, müs-sen wir entgegenhalten, welche Kosten damit verbundensind und was sie für die heute lebende Generation undfür zukünftige Generationen real bedeuten. Nehmen wirendlich zur Kenntnis, dass Peak Oil erreicht ist! DieHälfte des gesamten auf der Welt verfügbaren Öls wurdebereits gefördert. Die Nachfrage wird steigen. Es gibt fürWirtschaft und Bürgerinnen und Bürger nur einen Aus-weg: das Zeitalter der erneuerbaren Energien.
Da ich heute in verschiedenen Tageszeitungen gele-sen habe, dass von manchen Truppen schon wieder mehrWettbewerb im Bereich der erneuerbaren Energien ge-fordert wird, frage ich Sie: Wie war das eigentlich beiKohle und Gas? Das ist der Kampf, den wir momentanführen, übrigens nicht nur in diesem Hause. Es gibt viergroße Konzerne, die um ihre Macht bangen und die et-was gegen die Dezentralität haben, die sich gerade über-all in diesem Land entwickelt. Herr Minister, hierzumüssen Sie als Umweltminister Position beziehen. Siemüssen die kommunalen Stadtwerke, die gerade ihre Re-naissance erleben, die Genossenschaften etc. fördern.Die Chance, dies in Ihrer Rede deutlich zu machen, hät-ten Sie hier und heute gehabt.Was machen Sie? Was den Haushalt betrifft, machenSie in Ihrem Ministerium etwas, das sehr bemerkenswertist. Sie richten 40 neue Planstellen ein und überschreibendiesen Vorgang mit dem Begriff „Energiewende“. IhrVorgänger, Herr Röttgen, ist leider nicht hier. Ich würdeihn allerdings gerne einmal fragen: Was ist im BMU ei-gentlich all die Jahre zuvor geschehen? Mich interessiertauch: Was sind das für Stellen? Wo wird umorganisiert?Was macht man mit den Leuten, die bisher in diesem Be-reich tätig gewesen sind? Welche Menschen kommenhinzu? Mein Kollege Lothar Binding hat eben die Fragegestellt – wir kennen Beispiele aus anderen Ministerien,Stichwort „Entwicklungshilfe“ –: Wer kommt dorthin?Sind das Versorgungsposten, oder geht es tatsächlich umden Aufbau einer Struktur, die in Ihrem Ministerium bisjetzt nicht vorhanden war?Ich sage Ihnen voraus: Auch wenn sie noch 100 Plan-stellen schaffen, gehen Sie nicht an die Wurzel desÜbels. In dieser Regierung gibt es eine organisierte Un-verantwortlichkeit. Bei der Energiewende stehen sichsechs Ministerien gegenüber, die sich gegenseitig blo-ckieren. Es bringt nichts, neue Planstellen unter derÜberschrift „Effizienz“ einzurichten, wenn sich HerrRösler in Brüssel durchsetzt und alles, was Sie an Effi-zienzstandards aufbauen, wieder kaputtmacht. Sie brau-chen keine Planstellen, sondern politische Durchset-zungskraft, Herr Minister.
Es reicht nicht, wenn Sie in diesem Haushalt bezogenauf die Stellen von der Umsetzung des Energiekonzeptssprechen, aber nach der Rücknahme der Laufzeitverlän-gerung nicht einmal Ihr Konzept angepasst haben. Ichbehaupte sogar, Sie haben gar keines. Wo ist der Master-plan, der mit den Bundesländern abgestimmt ist? Wo istdas Energiekonzept, das die einzelnen Schritte in dennächsten Jahren beschreibt? Soll das jetzt durch dieseStellen erarbeitet werden?Lieber Herr Minister, ich glaube, es bringt nichts, iso-liert zu denken. Die Energiewende werden wir nurbewerkstelligen können, wenn wir das schemenhafteDenken der Ressorts beenden. Wir brauchen eine koor-dinierte Energie- und Umweltpolitik. Sie tun bis jetzt dasGegenteil. Das zweite Mal, dass Sie sich als Parlamenta-rischer Geschäftsführer zu diesem Thema zu Wort ge-meldet haben, war, als wir hier beantragt haben, einenAusschuss für die Energiewende einzusetzen. Sie habendagegen gesprochen und für das Ressortprinzip plädiert.Wir sehen heute: Sie sind keinen Millimeter vorange-kommen. Wir brauchen eine koordinierte Energiepolitik.Dazu ist Schwarz-Gelb nicht in der Lage.
Es geht bei diesem Haushalt natürlich auch um dieEnergiepreise. Herr Minister, auch hier erwarte ich vonIhnen, dass Sie in den nächsten Wochen bzw. Monatensagen: Die Behauptung, dass Kohle, Gas und Atomener-gie billig gewesen sind, ist eine Mär. Jeder Verbrauchersieht schon an dem Ansteigen der Heizölpreise und derBenzinpreise, das sie tagtäglich erleben müssen, dass dieBehauptung nicht stimmt. Die Frage ist, ob der politi-sche Wille vorhanden ist, diese Energiewende sozialver-träglich und auch ökonomisch sinnvoll zu gestalten. Ichglaube, hierzu müssen wir in den Diskurs auch mit de-nen, die im Moment sagen, das sei unbezahlbar. AuchAtomenergie und die Energie aus Kohle wären unbe-zahlbar, wenn die tatsächlichen Kosten, also auch dieFolgekosten, eingepreist worden wären. Es liegt an derpolitischen Steuerung, ob die Folgekosten herausgehal-ten oder andere Zukunftstechnologien gefördert werden.Sie tun augenblicklich genau das Gegenteil, indemSie die Industrie mit der Gießkanne von der Zahlung derEEG-Umlage befreien. Das hat zur Folge, dass der Mit-telstand und die Verbraucherinnen und Verbraucher indie Bresche springen müssen. Nicht dass wir uns falschverstehen: Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Wirt-schaft wettbewerbsfähig bleibt. Aber dieses Gießkan-nenprinzip hat dazu geführt, dass sich die Zahl derUnternehmen, die von der Zahlung der Umlage ausge-schlossen sind, im letzten Jahr verdreifacht hat. Dasmüssen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen und lieberHerr Minister, hinterfragen.Auch dass die Großhandelspreise durch die erneuer-baren Energien gesunken sind, die Konzerne diese Preis-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22897
Dr. Matthias Miersch
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reduzierungen aber nicht an die Verbraucherinnen undVerbraucher weitergeben, ist ein Punkt, den Sie proble-matisieren und ansprechen müssen. Sie dürfen nicht ein-fach suggerieren, die Energiewende und die erneuerba-ren Energien seien unbezahlbar.Lieber Herr Minister, ich glaube, Sie müssen in vielenBereichen Anwalt der Zukunft sein und dürfen nicht de-nen auf den Leim gehen, die hier seit Jahren versuchen,altes Denken durchzusetzen.Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen. Ich habeIhre Staatssekretärin an dieser Stelle vor einigen Wochenetwas gefragt. Es ging um das Verhältnis zwischen Er-neuerbaren und Naturschutz. Herr Rösler erklärt seineeigene Untätigkeit und sein Versagen damit, dass es an-geblich zu hohe naturschutzrechtliche Anforderungengebe. Ich habe Frau Staatssekretärin Heinen-Esser hiergefragt, ob sie diese Auffassung teile. Sie hat mir aus-drücklich gesagt, wie auf Nachfrage im Übrigen auchdas Wirtschaftsministerium selbst, dass natürlich in Ein-zelfällen die gesetzlichen Grundlagen ein ausreichendesInstrumentarium bieten, um Abwägungen vorzunehmen.Ich hätte mir gewünscht, dass Sie diese Aussage vertei-digen. Was lese ich in den letzten 14 Tagen? Ich lese,dass auch Sie sagen, es sei zu prüfen, ob die gesetzlichenGrundlagen in diesem Bereich geändert werden müssen.Herr Minister, das ist genau das, was nicht passierendarf. Sie dürfen nicht die Werte und Güter gegeneinan-der ausspielen. Sie müssen für die Zukunft brennen,sonst fährt diese Energiewende tatsächlich an die Wand.Ich glaube, es ist gut, dass dies der letzte Haushalt dieserschwarz-gelben Regierung ist; sonst wird Zukunft ver-spielt, sonst wird Investitionsunsicherheit geschaffen,und das hat Deutschland nicht verdient. Insofern hoffenwir, dass all das im nächsten Jahr ein Ende hat und tat-sächlich an 2001 angeknüpft werden kann.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Matthias Miersch. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Stephan Thomae. Bitte schön, Kol-
lege Stephan Thomae.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen!Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Bun-desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit ist in dieser Legislaturperiode für eine der Herkules-aufgaben dieser Wahlperiode verantwortlich. Er istmitverantwortlich für die Zukunft der Energiepolitik, erist mitverantwortlich für die Zukunft der Energieversor-gung in unserem Land. Dem neuen Minister, Herrn PeterAltmaier, wünsche ich deswegen an dieser Stelle vielGlück und Erfolg, Durchhaltevermögen und Standhaf-tigkeit, da, wo es nötig ist, Anpassungsvermögen und da,wo es nötig ist, Beharrlichkeit. Den Mitarbeitern imMinisterium will ich Dank und Anerkennung dafür aus-sprechen, dass sie diese schwere Aufgabe in dieserWahlperiode schultern und diesen Haushaltsentwurf mitvorbereitet haben.
Umweltpolitik steht genauso wie der Naturschutz indiesen Tagen häufig etwas im Schatten der Energiedis-kussion und gerät manchmal auch zwischen die Mühl-steine der Ideologie. Deswegen will ich an dieser Stellegerne ein bisschen mehr zum Naturschutz sagen. Auschristlicher Sicht ist Naturschutz die Bewahrung derSchöpfung. Nachhaltigkeit – das darf nicht vergessenwerden – ist aber auch ein ökonomisches Prinzip. Dasheißt, mit knappen Ressourcen sparsam zu haushalten.Für manche Menschen ist Naturschutz bisweilen einromantisches Schwärmen von einer unberührten Natur.Aber unsere Landschaften sind durchweg Kulturland-schaften. Landwirte, die Kulturlandschaften pflegen, tundies, weil sie aus dieser Landschaft Nutzen ziehen kön-nen. Aus meiner eigenen Allgäuer Heimat weiß ich, dassdie Landwirte diese Kulturlandschaft pflegen und erhal-ten. Die Menschen sind grundsätzlich natur- und heimat-verbunden, und sie gehen grundsätzlich rücksichtsvollmit der Natur um. Aber in einer Urlaubsregion, die vonsolchen Landschaften geprägt ist, sind die Menschenauch darauf angewiesen, dass zum Beispiel touristischeEinrichtungen geschaffen, erhalten und bisweilen aucherweitert werden können. Kulturlandschaft ist eben keinHeimatmuseum, wo man nichts anfassen darf, sondernsie ist berührte Natur. Naturschutz ist oft ein Nebenei-nander von Nutzflächen und Schutzflächen, zum Bei-spiel dort, wo renaturierte Hochmoore an zum Teil inten-siv genutzte landwirtschaftliche Flächen angrenzen.Vor wenigen Wochen war ich mit der Präsidentin desBundesamtes für Naturschutz im Ostallgäu unterwegs,um dort die Allgäuer Moorallianz – Herr Minister, einesmeiner Lieblingsthemen – zu besuchen. Die Renaturie-rung von Hochmooren ist anfangs von den Landwirten,die die Grundstückseigentümer sind, sehr argwöhnischbeäugt worden. Aber die Mitarbeiter des Bundesamtesfür Naturschutz haben hier viel Überzeugungsarbeit ge-leistet, und die Grundstückseigentümer sind mit öffentli-chen Mitteln schadlos gestellt worden. Die Menschenhaben begriffen, dass die Renaturierung eine Aufwer-tung einer Urlaubsregion sein kann. Aber natürlichbraucht eine solche Region auch das Nebeneinander vonsolchen Flächen und einem breiten Freizeitangebot. Mankann mit kleinen Kindern nicht den ganzen Familienur-laub nur in Hochmooren verbringen. Deswegen werbeich hier für eine ideologiefreie Diskussion. Diejenigen,die früher den Naturschutz immer argwöhnisch beäugthaben, haben gelernt, dass es nicht um eine entschädi-gungslose Enteignung von Flächen und Vertreibung vonBetrieben geht. Aber auch diejenigen, die unter Natur-schutz früher die weiträumige Tilgung jeder Spur vonZivilisation verstanden haben, lernen dazu, dass Natur-schutz nicht gegen alle wirtschaftlichen Interessen statt-finden kann.
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22898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Stephan Thomae
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Dafür ist die Allgäuer Moorallianz ein gutes Beispiel.Deswegen werden wir dieses Projekt nach beendeterPlanungsphase jetzt in der Umsetzungsphase weiter för-dern.Dieses Nebeneinander verschiedener Annäherungs-winkel gibt es auch in der Energiepolitik, die das Haupt-thema dieses Haushalts darstellt. Manche sehen in demNebeneinander, auch konkurrierenden Nebeneinander,des Bundeswirtschaftsministeriums und des Bundesum-weltministeriums eine Gefahr für die Energiewende. Alsfreier Demokrat sehe ich in diesem Abstimmungsbedarfkeine Gefahr, sondern einen Garant dafür, dass unter-schiedliche Gesichtspunkte der Beteiligten wirksam indiese Diskussion einfließen können; denn man kann dieEnergiewende nicht einfach anordnen. Der Weg zu die-ser Art der Energieversorgung muss erst gefunden wer-den. Er liegt nicht einfach klar und geradlinig vor uns,sondern wir brauchen ein Findungsverfahren.Nun glauben manche: Wenn eine Planungsbehördelange genug über diese Wege diskutiert, dann kommtschon das Richtige dabei heraus, und dann ist das dasrichtige Findungsverfahren. Wenn man das Füllhornstaatlicher Fördergelder weit aufmacht, dann kommt au-tomatisch etwas Gutes und immer das Richtige dabei he-raus.
Wenn sich die Menschen über den Geldregen staatlicherSubventionen freuen, dann nennt man das Konsens. –Wir als Liberale haben unsere Zweifel, ob so etwas aufDauer gutgehen kann. Wir haben ein Grundvertrauen inein Entdeckungs- und Findungsverfahren, in dem sichim Wettbewerb der besten Ideen und Angebote das Bestedurchsetzen kann. In dem planwirtschaftlichen Fin-dungsverfahren sehen wir die große Gefahr, dass einineffizientes Verfahren mit Steuermitteln aus ideologi-schen Gründen durchgedrückt wird. In einem marktwirt-schaftlichen Verfahren besteht, wenn der Staat den Ord-nungsrahmen richtig setzt, eine erhöhte Chance, dasssich das effizienteste Verfahren durchsetzt. Deshalb soll-ten wir bei der Energiewende keine Angst haben, auchhier mehr Markt zu wagen.
Die Natur macht es uns eigentlich vor. Sie ist ein gutesBeispiel dafür, wie sich im Wettbewerb die chancen-reichsten Dinge durchsetzen. Denn die Natur lässt allesentstehen; aber was sich im Wettbewerb nicht bewährt,geht dort gnadenlos unter. Wenn wir also erfahren wol-len, welche Formen der erneuerbaren Energien und derEnergiespeicherung unter den hiesigen Bedingungen ameffizientesten sind, dann sollten wir ruhig mehr Mut undZutrauen in das Prinzip „mehr Markt“ haben und etwasweniger blindes Vertrauen in die hellseherischen Kräftevon Planungsbehörden.Diese Regierung will die Energiewende. Aber wirbrauchen das richtige Entdeckungsverfahren für den bes-ten Weg in die Energiezukunft. Diese Regierung kanndas, weil sie ohne Ideologie pragmatisch an das Themaherangeht.
Hierfür wünsche ich dem beteiligten Minister, HerrnAltmaier, viel Erfolg und alles Gute.
Vielen Dank, Kollege Stephan Thomae. – Nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin
Eva Bulling-Schröter. Bitte schön, Frau Kollegin Eva
Bulling-Schröter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Energiepreise sind politische Preise, und zwarerstens, weil Kohle- und Atomstrom direkt und indirektsubventioniert wurden und immer noch werden. DerFörderverein Ökologische Steuerreform hat dies sehrschön eine verdeckte Atom- und Kohleumlage genannt.Sie sind zweitens deshalb politische Preise, weil dieherrschende Politik es über Jahrzehnte zugelassen undbefördert hat – Sie wollten das –, dass riesige Energie-versorger entstehen konnten. Diese treiben mit ihremOligopol bis heute Preise und Profite nach oben.Sie sind drittens politische Preise, weil vielfach Men-schen in anderen Ländern die Zeche für jenen CO2-Aus-stoß zahlen, der hierzulande die Wirtschaft antreibt, vonden Zukunftskosten des Atommülls ganz zu schweigen.Erst dann kommen wir viertens zu jenem Bereich, derjetzt so gerne aufgeblasen wird, um die Energiewende inVerruf zu bringen, also zu den Steuern und Umlagen, dieauf dem Strom liegen. Da wird es wirklich spannend,wenn wir nicht nur auf die EEG-Umlage, die Strom-steuer und die Netzentgelte schauen, sondern auch da-rauf, welche Stromkunden durch die Politik von diesenKosten befreit werden. Wer wird eigentlich befreit? Diearmen Haushalte, die sowieso zu knapsen haben, Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger? Natürlichnicht! Nein, ausgerechnet die energieintensiven Unter-nehmen werden befreit, und zwar je größer, desto stär-ker. Die Mehrzahl dieser Unternehmen steht noch nichteinmal im Wettbewerb mit außereuropäischen Firmen;das habe ich schon einige Male gesagt. Diese Unterneh-men profitieren aber zugleich vom Einspeisevorrang derregenerativen Energien durch sinkende Großhandels-preise. Sie geben nämlich diesen Preisvorteil nicht wei-ter. Unter dem Strich verdienen viele große Stromver-braucher netto noch mehr aufgrund der regenerativenEnergien. Als Stichworte hatte ich bereits die Ökosteuerund das EEG genannt.Es wird immer behauptet, die Linken setzten Arbeits-plätze aufs Spiel. Das stimmt natürlich nicht. Das isteine Lüge, die über uns verbreitet wird. Aber wir wollen,dass die Beihilfen jetzt endlich genau durchleuchtet wer-den. Genau das will die Bundesregierung nicht. Sie hält
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22899
Eva Bulling-Schröter
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am bestehenden Subventionssystem fest. Sie baut es so-gar noch aus. Stellen Sie sich vor: Im Haushalt sind wei-tere 300 Millionen Euro als Zuschüsse vorgesehen, umdie Preiswirkung des Emissionshandels aufzuheben.Die politische Entscheidung heißt also hier: Werfenwir den großen, energieintensiven Unternehmen Geld inden Rachen, und verteuern wir die Energiewende für alleanderen! – Für Privatkunden oder kleinere Unternehmenund Handwerker ist natürlich nichts mehr da. Diese müs-sen das Ganze bezahlen. Genau deswegen ist es soheuchlerisch, wenn FDP, CDU und vor allem die CSUjetzt jammern und beklagen, dass der Strom so teuerwird, dass arme Menschen ihn nicht mehr bezahlen kön-nen, und gleichzeitig fordern, den Mittelstand zu unter-stützen. Wir sehen ja, wie sie das tun. Das genaue Ge-genteil ist der Fall. Ich halte das für einen Skandal.
Sie wollen den Ausbau der regenerativen Energien stop-pen, das EEG abschaffen und für mehr Wettbewerb sor-gen. Was dann herauskommt, wissen wir. Es wird dannnoch teurer. Das ist das Gegenteil eines sozial-ökologi-schen Umbaus.Was können wir machen? Es gibt den Vorschlag, eineAbwrackprämie für stromfressende Elektrogeräte einzu-führen. Das würde genau den Menschen helfen, die we-nig Geld in der Tasche haben, und zusätzlich Arbeits-plätze bei den Herstellern schaffen.
Aber es sind keine Mittel in den Haushalt eingestellt, umEnergiearmut zu verhindern. Mit einer solchen Ignoranz,liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungs-fraktionen, setzen Sie die Energiewende aufs Spiel. Ichrede da nicht nur von den Strompreisen. Die energeti-sche Gebäudesanierung kommt noch hinzu. Sie ist zwei-fellos notwendig und muss beschleunigt werden. Sonstkönnen wir unsere Klimaschutzziele vergessen. Aber daswird nicht billig, wie wir alle wissen. Die Warmmieten-neutralität von Sanierungen wird in vielen Fällen deut-lich verfehlt. Das heißt, die Mieten steigen. Hier müssenwir den Mieterinnen und Mietern aus sozialen Gründenunter die Arme greifen. Wenn die sogenannte zweiteMiete zu teuer wird, müssen viele Mieterinnen und Mie-ter ausziehen. Eine solche Verdrängung wollen wir nicht.Wir wollen, dass alle Mieter in ihren Wohnungen blei-ben können. Der dafür vorgesehene Ansatz im Haushaltist viel zu niedrig.Was die Energieberatung angeht: Es ist immer gut,wenn man berät. Aber eine solche Beratung kann ge-zielte Hilfe nicht ersetzen. Wir brauchen eine soziale Be-gleitung der Energiewende, und zwar mit Konzept. AberSie lassen ein solches Konzept leider vermissen. Sie re-den nur darüber. Es reicht aber nicht, nur neues Geld zu-zuschießen. Man muss auch schauen, was mit dem altenpassiert. Wie wir sehen, werden die Mittel des Energie-effizienzfonds kaum abgerufen, weil offensichtlich ent-sprechende Förderrichtlinien noch nicht vorhanden sind.Herr Altmaier, wir würden schon gern einmal hören, wasmit diesen Förderrichtlinien ist. Interessant wäre auch,zu erfahren, warum die Förderung für Klimaschutzpro-jekte in Kommunen über die Kommunalrichtlinie fastkomplett in den Westen geht. Nur 6,5 Prozent der Mittelfließen in die neuen Bundesländer.Noch ein Wort zur internationalen Verantwortung, zuder Sie, Herr Altmaier, auch gesprochen haben. Ich haltees nicht für zielführend und nicht für ein Zeichen inter-nationaler Verantwortung, wenn Geld für den Bau vonAKW auf internationaler Ebene bereitgestellt wird. Ichnenne als Stichwörter Angra 3 und Temelin, den Schrott-reaktor. Ich bin auch nicht dafür, dass Legebatterien inder Ukraine mit unseren Geldern finanziert werden. Dasist nicht nachhaltig, und das ist auch nicht ökologisch,im Gegenteil, das ist scheinheilig.Wir wollen eine nachhaltige Umweltpolitik. Sie ha-ben gerade das Erdinger Moos genannt. Ich habe dasnicht ganz verstanden. Wenn man im Erdinger Mooseine dritte Startbahn baut – vielleicht haben Sie das ge-meint –, dann ist das erst recht nicht nachhaltig.
Vielen Dank, Frau Kollegin Bulling-Schröter. – Nächs-ter Redner in unserer Aussprache ist für die FraktionBündnis 90/Die Grünen unser Kollege Sven-ChristianKindler. Bitte schön, Kollege Kindler.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Minister Altmaier, Sie sindjetzt genau 113 Tage Umweltminister. Es ist Zeit für eineerste Bilanz. Was haben Sie in der Zeit gemacht? Siesind viel durchs Land gereist, haben schöne Fotos ge-macht, Sie haben sich Windräder angeschaut, Sie habenneue Kohlekraftwerke eingeweiht, und Sie haben vielgetwittert. Bei Twitter las ich zum Beispiel am 21. Au-gust – ich zitiere –: „Habe gerade ein Erdkabel in denSand gesetzt! Energiewende kommt endlich voran!“Smiley. Tja, Herr Minister, Twitter und Smileys reicheneben alleine nicht. Diese Bundesregierung setzt geradedie Energiewende in den Sand, und da haben Sie alsUmweltminister bisher nicht geliefert.
Das zeigt sich ganz deutlich bei der aktuellen Debatteüber die Strompreise. Da hört man ganz viel Ideologieund ganz viel Propaganda, aber jetzt einmal zu den Zah-len und Fakten: Im Jahr 2000 lag der durchschnittlicheStrompreis bei 14 Cent pro Kilowattstunde. Das war vordem EEG. Heute, 2012, liegt er bei 26 Cent, also 12 Centmehr. Die EEG-Umlage liegt aber bei nur 3,5 Cent. Alsoist nur rund ein Viertel des Anstiegs der Strompreise aufdas Erneuerbare-Energien-Gesetz zurückzuführen. DerGroßteil der Steigerung resultiert daraus, dass die Preisefür Steinkohle und Gas in den letzten Jahren massiv ge-stiegen sind und die vier großen Stromkonzerne richtigabgezockt haben. Die Konsequenz daraus muss heißen:
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22900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Sven-Christian Kindler
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Weg von den fossilen Energien, weg vom Machtkartellder großen Konzerne. Das geht nur mit dem schnellenAusbau der erneuerbaren Energien.
Das Absurde ist, dass die Umlage für die erneuerba-ren Energien unnötig aufgebläht wird. Sie könnte vielgünstiger sein. Sie wird um mindestens 1 Cent aufge-bläht, weil Schwarz-Gelb riesige Ausnahmen für dieGroßindustrie geschaffen hat. Klar, es gibt Unterneh-men, die trotz effizienter Technik viel Energie verbrau-chen und stark im internationalen Wettbewerb stehen.Solche Unternehmen sollen – das wollen auch wir – einegeringere Umlage bezahlen. Das war übrigens auch un-ter Rot-Grün so. Damals waren aber von der EEG-Um-lage 23 Unternehmen befreit, heute sind es 750 Unter-nehmen. Nächstes Jahr könnten es mit den schwarz-gelben Änderungen schon 2 000 Unternehmen sein.Auch bei den Netzentgelten und der Ökosteuer gibt esSubventionen in Milliardenhöhe über die Ausnahmenfür die Industrie. Die Zeche müssen die Verbraucherin-nen und Verbraucher und Kleinunternehmen zahlen. Siebetreiben Lobbyismus, und die wahren Preistreiber sit-zen hier auf der Regierungsbank.
Was sagt Peter Altmaier zu dieser Debatte? PeterAltmaier hat heute hier im Plenum und in der FinancialTimes Deutschland gesagt, er möchte am liebsten denAusbau der erneuerbaren Energien bremsen. Der Um-weltminister möchte also den Ausbau der erneuerbarenEnergien bremsen. Da trifft er auf gute Freunde in derFDP. Der Minister für Planwirtschaft, Philipp Rösler,will das Erfolgsprojekt EEG abschaffen und ein staatlichfestgelegtes Quotenmodell einführen. Das funktioniertso, dass im Staatsrat von oben bestimmte Quoten für So-larenergie und Windenergie festgelegt werden. SeinChef, Rainer Brüderle, geht noch einen Schritt weiter. Erträumt nämlich von einem Moratorium für die Energie-wende. Auch dafür braucht er das Quotenmodell. In sei-nem Strategiepapier dazu heißt es – ich zitiere –: „Derweitere EE-Ausbau würde zunächst einmal komplett zu-sammenbrechen …“Das zeigt klar, in welche Richtung es geht. Der Erfolgder erneuerbaren Energien bedroht massiv die großenProfite der vier großen Stromkonzerne, und diese Bun-desregierung, Schwarz-Gelb, will in ihrem Auftrag jetztdie erneuerbaren Energien plattmachen. Energiewendebei Schwarz-Gelb, das heißt nämlich übersetzt: Das istdie Wende gegen die erneuerbaren Energien.
Das gleiche Trauerspiel gibt es auch bei Ihrem Schat-tenhaushalt, dem Energie- und Klimafonds. 780 Millio-nen Euro waren für dieses Jahr geplant. Im laufendenHaushaltsverfahren musste dieser Fonds massiv zusam-mengestrichen werden: 450 Millionen Euro gibt es jetztnur noch. Fast die Hälfte der Mittel wurde weggenom-men. Sie haben den Rotstift vor allen Dingen beimMarktanreizprogramm, bei Klimaschutzprogrammenoder beim Energieeffizienzfonds angesetzt.2013 wird es weiter so laufen. Sie haben eine unsolideBerechnungsbasis. Sie setzen weiterhin sehr hohe Zerti-fikatspreise für eine Tonne CO2 an – zunächst 10 Euround dann ansteigend –, obwohl der aktuelle Zertifikats-preis bei etwa 8 Euro liegt. Hildegard Müller vomBDEW hat ebenfalls noch einmal gesagt, dass das eineunsolide Berechnung ist und dass der Klimafonds sonicht funktionieren wird. Auf dem Papier präsentierenSie tolle Energie- und Klimaschutzprogramme; aber inder Realität wird der Finanzminister auch nächstes Jahrwieder ohne Beteiligung des Parlaments den Rotstift an-setzen und massiv kürzen. Das zeigt eben: Diese Bun-desregierung setzt bewusst, also mit voller Absicht, dieEnergiewende in den Sand. Selbst Sie, Herr Altmaier,können diese Offensive gegen die erneuerbaren Ener-gien nicht wegtwittern.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Kindler. – Nächster Redner in
unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Dr. Christian Ruck. Bitte schön, Kollege
Dr. Ruck.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich möchte versuchen, von der Legendenbil-dung meiner Vorredner zum Kern des Ganzen zu kom-men.
Ich glaube, dass Minister Peter Altmaier mit seinerEinbringungsrede eindrucksvoll dargelegt hat, dass dieEnergiewende die Umweltpolitik mehr denn je zu einemzentralen Gestaltungsfeld der Politik der Bundesregie-rung macht.
Ich möchte auch sagen, dass es bei der Energiewende,die wir natürlich nicht in den Sand setzen, nicht nur da-rum geht, wie schnell und in welcher Weise die erneuer-baren Energien ausgebaut werden, sondern um vielmehr: Es geht zum Beispiel um Energieeffizienz, es gehtum Netzausbau, es geht um eine fundamentale wirt-schaftliche Weichenstellung mit ökologischem Hinter-grund. Diese wirtschaftliche Weichenstellung wird auchdie Zukunft und den Wohlstand Deutschlands auf vieleJahre und Jahrzehnte sichern können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22901
Dr. Christian Ruck
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Nachdem Norbert Röttgen in Abwesenheit kritisiertwurde, möchte ich auch an dieser Stelle sagen, dass ichihm hohe Anerkennung zolle für den Mut und auch dieEntschlossenheit – ich kann mich an viele Redeschlach-ten hier erinnern –, mit der er ganz maßgeblich dieserEnergiewende ein Gesicht verliehen hat und sie vorange-bracht hat. Auch das sollte man an dieser Stelle einmalsagen.
– Ach, Herr Kelber, sind Sie auch da? Man hört Sie.Ich bin dem aktuellen und zukünftigen Minister PeterAltmaier sehr dankbar,
dass er noch einmal darauf hingewiesen hat, dass dieEnergiewende für Deutschland auch der Modernisie-rungs- und Wachstumsmotor für das 21. Jahrhundertsein kann. Auch wir als Umweltschützer sollten immereine Hoffnung vor Augen haben und diese Hoffnung tat-kräftig verfolgen: dass über unsere wirtschaftliche undtechnologische Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit eininternationaler Dominoeffekt erzielt werden kann, derauch unsere Mitbewerber und Mitwettbewerber, die sichklimapolitisch bisher mehr denn je zieren, mitreißt. Ge-nau vor diesem Hintergrund hängen auch wir Umwelt-politiker in der Union zu 100 Prozent an dem Gelingender Energiewende. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen,wir haben doch in Rio selber erlebt, wie die Welt auf dasschaut, was wir machen, wie die Welt ungläubig daraufschaut, mit welchem Mut und mit welchem Risiko wirvorgehen, und wie sie sagt – wenn Sie sich an das Zitatdes UNIDO-Chefs Yumkella erinnern –: Wenn es je-mand schafft in dieser Welt, dann sind es die Deutschenmit ihrer Technologie.Herr Miersch, Sie haben gesagt: Der Minister mussbrennen. – Der Minister brennt, aber er muss auch den-ken, und er darf nicht falschen Propheten auf den Leimgehen, Ihnen zum Beispiel. Wir müssen unsere Fähig-keiten schon in vollem Umfang einsetzen. Das bedeutetzum Beispiel, dass ich voll und ganz hinter dem Auf-wuchs an Personal, den 40 Stellen, stehe. Natürlich istmit der Energiewende auch eine personelle Herausforde-rung verbunden.
Ich weiß nicht, wie man da herumkritisieren kann, wennder Peter Altmaier etwas macht, was durchaus sinnvollund in seiner Zuständigkeit ist.
Aber es geht doch um viel mehr. Es geht nicht nur um40 Stellen; es geht darum, dass wir auch bei der Energie-wende das Dreigestirn „Bezahlbarkeit, Versorgungssi-cherheit und Umweltverträglichkeit“ haben. Da, glaubeich, gibt es einen fundamentalen Dissens zwischen unsund der Opposition. Wir glauben, dass zum Beispiel dieBezahlbarkeit darüber entscheidet, ob die Energiewendegelingt.
Niemand in dieser Welt – niemand! – wird eine Energie-wende à la Deutschland mitmachen, wenn uns die Preiseaus dem Ruder laufen.
Dasselbe gilt für die Versorgungssicherheit. Es istdoch auch der Opposition nicht verborgen geblieben,dass wir, seitdem Angela Merkel Bundeskanzlerin ist,also seit 2005, einen Aufwuchs beim Anteil der erneuer-baren Energien an der Stromproduktion von 10 Prozentauf 25 Prozent haben.
Da kann doch niemand ernsthaft behaupten, dass wir et-was gegen die erneuerbaren Energien hätten.Aber der Punkt ist, dass unser Erfolg, der übrigens aufein von der Union initiiertes Gesetz zurückgeht, nämlichdas Stromeinspeisungsgesetz – falls Sie sich doch nochdaran erinnern wollen –,
natürlich auch zu Problemen führt, Herr Kelber. DasEinzige, was ich von der Opposition verlange, ist, dassSie diese Probleme, die wir zum Beispiel in der Versor-gungssicherheit haben,
die sich bei den Ausbauplänen der Länder noch verstär-ken werden, adressieren.Unsere Antwort darauf ist, Frau Höhn: Wir dürfennicht an den Zielen wackeln. Die Ausbauziele bis 2050– ich bin dem Peter Altmaier dankbar, dass er das nocheinmal gesagt hat – sind für mich sakrosankt. Aber esgeht darum, dass wir die verschiedenen Instrumente stär-ker synchronisieren mit dem Netzausbau,
mit den Smart Grids, auch mit der Technologie. Wir ar-beiten daran.Aber Sie als Oppositionelle verhalten sich schäbig,Sie vor allem, Herr Miersch. Sie stellen sich hierher undverlangen vom Altmaier, er solle die Länder, Europa und
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Dr. Christian Ruck
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alles Mögliche, auch die Bundesregierung, koordinieren.Fangen Sie doch einmal damit an, sich mit den rot-grünregierten Ländern zu koordinieren!
Die sind wie ein Klotz am Bein, wenn es darum geht,sinnvolle Änderungen beim EEG durchzusetzen.Die Oberscheinheiligkeit ist Ihr Verhalten zur steuer-lich geförderten Gebäudesanierung.
Es ist doch der Oberwitz, dass Sie uns vorwerfen, wirseien die Preistreiber. Dabei treiben Sie selber die Preisedurch diese schäbige Blockadehaltung.
Wenn Sie etwas für die Energiewende tun wollen, danntun Sie es jetzt! Der Minister Schäuble ist den Ländernweit entgegengekommen. Er hat einen Vorschlag ge-macht, der fast alles kompensiert. Jetzt geben Sie sichendlich auch einen Ruck und stimmen Sie der steuerlichgeförderten Gebäudesanierung zu! Das sind auf einenSchlag 1,5 Milliarden Euro. Damit können wir viel Gu-tes tun.
Wir können uns viele fossile Back-up-Kraftwerke spa-ren, wenn wir dadurch die Energieeffizienz erhöhen.
In diesem Sinne stehen wir voll und ganz hinter PeterAltmaier, hinter seinem gewaltigen Arbeitspensum. Ichhabe überhaupt keine Bedenken hinsichtlich seinerDurchsetzungsfähigkeit. Viel Glück! Wir stehen hinterdir, Peter!
Vielen Dank, Kollege Dr. Ruck. – Nächste Rednerin
ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kolle-
gin Bärbel Kofler. Bitte schön, Kollegin Bärbel Kofler.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! In vielen Vorreden ist einiges dazu gesagtworden, wohin man mit der Energiewende möchte undwie man sie doch umsetzen oder voranbringen könnte.Mir ist sowohl beim Herrn Minister, der jetzt leider nichtmehr da ist,
– er ist doch hier – als auch beim Kollegen Ruck aufge-fallen, dass das Thema Energieeffizienz eine ganz ent-scheidende Rolle gespielt hat. Ich gehe jetzt gar nicht aufdas Thema Gebäudesanierung ein. Das, was Sie gesagthaben, Herr Ruck, war wirklich unehrlich; denn die Ab-senkung der Mittel für die Gebäudeeffizienz in unseremBundeshaushalt haben Sie vorangebracht und vorange-trieben. Dann den Ländern den Schwarzen Peter zuzu-schieben, ist wirklich eine schwache Leistung Ihrerseits.
Wenn man das Thema Energieeffizienz zu Recht inden Mittelpunkt stellen möchte, wie ich es in den Presse-mitteilungen des Herrn Ministers und auch von der FrauStaatssekretärin auf der BMU-Seite gelesen habe, dannist das in Ordnung. Energieeffizienz ist ein wesentlichesThema, und zwar ganz klar aus ökologischen Gründen,vor allem aber auch aus sozialen Gründen, weil diejeni-gen Leute, die für Energie nicht bezahlen müssen, weilsie sie nicht kaufen müssen, etwas davon haben. Dannwäre es aber gut, wenn man auch im Haushalt und in derallgemeinen Politik dem Thema Energieeffizienz die Be-deutung beimisst, die es verdient, und sich nicht so ver-hält, wie das bei diesem Bundeshaushalt von Ihnen ge-macht wird.
Nicht nur ich sage, dass Sie das Thema Energieeffi-zienz als Stiefkind betrachten, sondern das ist auch eineAussage der Deutschen Umwelthilfe, die ganz klar sagt,Energieeffizienz sei das Stiefkind bei der Energiewende.Man fragt sich, wie die Deutsche Umwelthilfe daraufkommt. Vielleicht haben sich die Mitarbeiter die Seitedes BMU angeschaut; das ist ja möglich. Wenn man vonder ersten Seite, auf der die eigenen Pressemitteilungenstehen, einmal absieht, dann kommt man darauf, dassdort „Fördermöglichkeiten“ steht. Bei „Energieeffizienz“zum Beispiel steht „Stand 2008“ und – der interessierteBürger und vielleicht auch der an Anlagemöglichkeiteninteressierte Investor kann sich dies herunterladen –„Neues Marktanreizprogramm für erneuerbare Energienim Wärmemarkt 2008“. Es ist für das Jahr 2013 einewirkliche Herausforderung, sich als Bürger, der in dieseTechnologieformen investieren möchte, auch wirklichaktuelle Informationen herunterzuladen. Da ist nochNacharbeiten angesagt, damit die Leute, die in Energie-effizienz investieren wollen – sowohl private Besitzervon Wohnungen, eventuell auch für Mieter, aber auch Fir-men, damit auch diese aktuell etwas machen können –, ak-tuelle Informationen erhalten. Hier muss noch weiterge-arbeitet werden.
Aber dazu braucht man eben Geld. Ich bin auch nochfür den Einzelplan für Entwicklungszusammenarbeit zu-ständig. Auch da gibt es im Haushalt keinen Mittelauf-wuchs, und deshalb wird gesagt: Eigentlich ist das Geldfür uns gar nicht so wichtig. Das brauchen wir gar nicht. –
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Dr. Bärbel Kofler
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Doch, wir brauchen das Geld, um die Programme fürmehr Energieeffizienz voranbringen zu können.Ich habe mich gefragt, warum Sie nichts über den ak-tuellen Stand schreiben. Vielleicht tun Sie das deshalb,weil im Jahr 2008 noch von 350 Millionen Euro für dasMarktanreizprogramm die Rede gewesen ist. Im letztenHaushalt, im Einzelplan für Umwelt, sind es nur noch250 Millionen Euro gewesen. Vielleicht schreiben Sie esdeshalb nicht mehr hinein.Ich habe mich gewundert, dass sich von der Regie-rungsseite niemand getraut hat, die eierlegende Woll-milchsau der Energiewende anzusprechen, nämlich dasThema Energie- und Klimafonds. Vor einem halben Jahrwäre jetzt sofort der Zwischenruf gekommen: „HabenSie das denn nicht gelesen? Im Energie- und Klimafondshaben wir für Marktanreizprogramme 100 MillionenEuro zusätzlich eingestellt! Das ist ein toller Mittelauf-wuchs!“ Ich kann mich an die Rede zu der Debatte, diewir hier zum Energie- und Klimafonds geführt haben– Herr Kindler, Sie nicken –, noch lebhaft erinnern.Was ist denn übrig geblieben? Es kam ein Brief ausdem Finanzministerium. Dann wurden die üblichen Bu-chungstricks gemacht: zuerst eine Absenkung bei denzukünftigen Ausgaben auf 60 Prozent. Dann hat mandiese auf nur noch 70 Prozent abgesenkt. In der Bilanzhat man das Ganze sogar noch als Zuwachs verkauft. Fürdas Marktanreizprogramm hat das schlicht und ergrei-fend eine Kürzung um 50 Millionen Euro bedeutet. Dasheißt, dass wir auch im letzten Haushalt unter dem Ni-veau waren, das 2008 laut dem Ausweis auf der BMU-Seite, laut Ihrer eigenen Homepage, für Marktanreizpro-gramme zur Verfügung gestanden hat.Warum brauchen wir diese Marktanreizprogramme?Das ist doch keine Spielerei oder etwas, was ohne Grundin die Welt gesetzt wird. Es geht um den vielbeschwore-nen Dreiklang aus Ökonomie, Ökologie und Sozialem.Man will den Menschen eine effiziente Technologie zurVerfügung stellen können und ihnen die Möglichkeit andie Hand geben, in diesen Bereich zu investieren. Da rei-chen keine Sonntagsreden; da braucht man Geld undButter bei die Fische.
Vor allem braucht man Verlässlichkeit, verlässlicheMittelzusagen. Damit sind wir wieder bei Ihrem Schat-tenhaushalt, dem Energie- und Klimafonds. In den nächs-ten Haushalt ist – es ist angesprochen worden – eine inte-ressante Zahl eingestellt worden. Im letzten Haushalt hatsich das bewahrheitet, wovor wir in den Haushaltsbera-tungen gewarnt haben, nämlich dass die Mittel nicht rei-chen werden. Damals hieß es von Ihrer Seite, nein, das seinicht so. Aber nun machen Sie mit Blick auf das Jahr2013 denselben Fehler wieder. Es wird von einem Zerti-fikatspreis – die Erlöse aus den CO2-Emissionszertifika-ten sind ja die einzige Quelle, aus der sich der Energie-und Klimafonds speist – von 10 Euro pro Tonne im Jah-resdurchschnitt ausgegangen. Wir wissen alle: DerDurchschnittspreis in diesem Jahr – da brauchen wir unsnur die Schreiben des Bundesfinanzministeriums anzu-schauen – liegt bei 7,50 Euro. Jetzt liegt er vielleicht bei8,24 Euro, man war aber auch schon bei 6,60 Euro; imSchnitt sind es 7,50 Euro. Ich habe das Bundesumweltmi-nisterium deshalb gefragt, wie es zu der Annahmekommt, dass der Preis im nächsten Jahr bei 10 Euro imSchnitt liegen könnte. Ich dachte, vielleicht gibt es da einehöhere Weisheit oder irgendein wissenschaftlich fundier-tes Berechnungsmodell, irgendetwas ganz Neues. Dannkam die Antwort vom Bundesumweltministerium – ichzitiere –:Konkrete Berechnungsmodelle liegen der Prognosezur Entwicklung der Zertifikatepreise aus demCO2-Emissionshandel nicht zugrunde; dennoch be-obachtet die Bundesregierung den CO2-Markt unddie einschlägigen Veröffentlichungen zu den Markt-erwartungen.Das nennen Sie seriöse Haushaltsplanung mit Blickauf die Maßnahmen, die zur Finanzierung der Energie-wende nötig sind? Sie beobachten den Markt? Nein, dasmachen Sie nicht. Der Markt weist auf ganz andere Zah-len hin. Sie müssen mindestens ein Drittel von dem, wasSie eingestellt haben, wieder abziehen. Dieser Schatten-haushalt besteht aus Luftbuchungen, sonst gar nichts.Und daraus soll die Energiewende finanziert werden?Ich glaube kaum.
In Ihrer Antwort heißt es weiter – da relativieren Siegleich und überlegen, in welche Richtung das Ganze ge-hen könnte oder wie Sie ein Hintertürchen finden, umaus der Argumentation mit den 10 Euro wieder heraus-zukommen –:Es muss aber auch gesehen werden, dass sowohl inden europäischen Räten als auch im EuropäischenParlament und der Europäischen Kommission übereine Veränderung der Rahmenbedingungen imEU-Emissionshandel intensiv diskutiert wird.Ja, das ist so. Aber genau das macht es doch noch un-wahrscheinlicher, dass die Preise, die Sie annehmen,eine reelle Grundlage sind. Ich verstehe ehrlich gesagtnicht, dass die Haushälter einen so grandios unterfinan-zierten Fonds in den Haushaltsberatungen unkommen-tiert lassen. Die umweltpolitische Konsequenz, wennman das nicht so stehen lassen wollte, wäre allerdings,dass man sich auf europäischer Ebene ganz massiv dafüreinsetzt, die Emissionsminderungsziele nach oben zuschrauben, und nicht bei dem lapidar festgeschriebenenZiel einer Minderung von 20 Prozent bis zum Jahre 2020bleibt, sondern eine 30-prozentige Minderung ins Augefasst. Das wäre eine dringend notwendige Maßnahme –von der Herausnahme von überschüssigen Zertifikateneinmal ganz abgesehen.
Die Annahmen über die Finanzmittel des Energie- undKlimafonds lassen eines vermissen: Planungssicherheitund verlässlichkeit für diejenigen, die in die Energie-wende investieren wollen. Mit dem, was Sie vorgelegt ha-ben, wird das nicht gehen. Das ist dramatisch; denn ohne
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Dr. Bärbel Kofler
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Geld kann man solche Aufgaben, wie sie vor uns liegen,nicht stemmen.Wir haben über das Marktanreizprogramm gespro-chen. Einige Kollegen haben auch den nationalen Kli-maschutz thematisiert und in diesem Zusammenhang be-sonders über die Rolle der Kommunen gesprochen unddarüber, welche positiven neuen Technologien und Maß-nahmen man dort voranbringen könnte. Das betont imÜbrigen auch das Bundesministerium für Umwelt. Aufder NKI-Evaluierungskonferenz sagten die Vertreter desBMU deutlich, dass das ein ganz wichtiges Programmist. Nur sagen sie auch ganz deutlich, das BMU habe da-für sehr wenig Geld und versuche, das Beste daraus zumachen. Also auch hier der deutliche Hinweis: Für dieNationale Klimaschutzinitiative brauchen wir wesentlichmehr Mittel.Jetzt blinkt die Anzeige für das Ende der Redezeit,aber einen Satz zum Thema „Internationale Klimafinan-zierung“ kann ich mir nicht verkneifen. Ich finde es rich-tig, dass, wie ich gerade in der Presse gelesen habe, mitden Philippinen ein Abkommen über Klimaschutzmaß-nahmen getroffen worden ist und man die Mittel für dortvorgesehene Klimaschutzprojekte mit Geldern aus demIKI-Programmtitel unseres Haushalts aufstockt. Die Be-gründung finde ich allerdings schon interessant: weil diePhilippinen aufgrund ihrer Politik wichtige Eckpfeilereingeschlagen hätten, nämlich ein Klimaschutzgesetzauf den Weg gebracht hätten, um die eigene Klima-schutzpolitik voranzutreiben.
Ich finde das spannend. Man könnte auch manchmal vonanderen Ländern lernen; denn als wir hier im Bundestagein solches Klimaschutzgesetz einbrachten, wurde esvon dieser Koalition leider abgelehnt.Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin. Bei einer unserer nächs-
ten gemeinsamen Begegnungen üben wir dann den Satz.
– Den letzten Satz üben wir dann.
Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Michael Kauch. Bitte schön, Kollege Michael
Kauch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte nicht mit der Energiepolitik beginnen, weil die-ses Ministerium tatsächlich auch noch ein paar andereAufgaben hat als nur, die Energiepolitik mitzugestalten;
das wird in der öffentlichen Debatte momentan immeretwas zu wenig belichtet.Ein wichtiger Punkt aus dem Zehn-Punkte-Programm,das Bundesumweltminister Altmaier vorgelegt hat, istdas klare Bekenntnis, noch in dieser Wahlperiode dieWertstofftonne einführen zu wollen, also eine haushalts-nahe Erfassung von Rohstoffen, damit mehr Rohstoffedem Recycling zugeführt werden. Wenn wir wirklich zueiner ressourceneffizienten Wirtschaft kommen wollen,also nicht nur energieeffizient, sondern auch rohstoffeffi-zient sein wollen, müssen wir, wie ich glaube, das Recy-cling verbessern, bürgerfreundlicher machen, indemmehrere unterschiedliche Reststoffe zusammen gesam-melt werden, die Leute nicht auf die Wertstoffhöfe ver-wiesen werden, sondern ihnen wirklich zu Hause über diegelbe Tonne hinaus eine Möglichkeit gegeben wird,Wertstoffe zu sammeln.Wichtig ist aber, dass dabei nicht die Gelegenheit ge-nutzt wird, die Grenzen zwischen kommunaler und pri-vater Entsorgung zu verschieben, weder in die eine nochin die andere Richtung, weil dieses gute Recyclingpro-jekt ansonsten im Lobbyismus endet. Es geht inzwischenvielen Marktteilnehmern erkennbar nicht um den Kampfgegen den Müll; vielmehr ist der Kampf um den Müllausgebrochen. Hier muss die Politik klar sagen: Wirwollen, dass mit der Wertstofftonne das Recycling ver-bessert wird, dass die Bürger ein besseres Angebot be-kommen, aber nicht, dass sich die Marktchancen der ei-nen oder anderen Firma verbessern.
Richten wir dann doch den Blick auf die Energiepoli-tik: Bundesumweltminister Altmaier hat die volle Unter-stützung der FDP-Bundestagsfraktion,
wenn er sich darum bemüht, die Kosten der Energie-wende im Griff zu behalten, und gleichzeitig mehrMarkt und Wettbewerb fordert. Wenn ich mir anschaue,was die SPD zu diesem Thema von sich gegeben hat,dann kann ich nur sagen: Das grenzt schon an Volksver-dummung.
Meine Damen und Herren, wenn Herr Miersch behaup-tet – Herr Kindler hat es, glaube ich, auch gemacht –,dass die Befreiung so vieler Unternehmen von der EEG-Umlage der eigentliche Grund dafür sei, dass die Ener-giekosten steigen, dann – das muss ich sagen – vernebelter die wirklichen Gründe.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22905
Michael Kauch
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Außerdem behaupten Sie, wir würden eine Befreiungnach dem Gießkannenprinzip vornehmen.
Man sollte sich einmal genau anschauen, was wir da ge-tan haben. Wir haben nicht etwa die Kriterien, die Siedamals unter Rot-Grün anscheinend für richtig gehaltenhaben, geändert, wann eine Firma als energieintensivgilt. Unsere Änderungen haben nur zum Ziel gehabt,dass nicht mehr allein die energieintensiven Großkon-zerne von der Umlage befreit sind, sondern auch der in-dustrielle Mittelstand mit diesen Großkonzernen gleich-gestellt wird. Ihr Tun hingegen ist entlarvend. Die SPDist, wie unter Schröder, doch nichts anderes als der Ge-nosse der Bosse. Wir kümmern uns um den Mittelstand,Sie um die Großkonzerne – das ist der Unterschied zwi-schen Ihnen und dieser Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, mein nächstes Thema istdie Energieeffizienz im Gebäudesektor. Sie reden vieldarüber, wie wichtig dieses Thema ist. Wir haben dieMittel für die Gebäudesanierung nicht auf drei Jahre be-fristet und auf 1,5 Milliarden Euro festgesetzt,
wie das die SPD-Minister getan haben. Nein, wir habenein dauerhaftes Programmvolumen von 1,5 MilliardenEuro sichergestellt und hier im Deutschen Bundestag zu-sätzlich ein Gesetz zur steuerlichen Förderung der Ge-bäudesanierung beschlossen. Das umfasst noch einmal1,5 Milliarden Euro. Genau diese steuerlich geförderteGebäudesanierung wird von SPD und Grünen im Bun-desrat blockiert, und zwar nicht etwa aus Gründen derGerechtigkeit. Die Bundesregierung hat ja den Bundes-ländern längst zugesagt, ihnen bei der Ausgestaltungentgegenzukommen. Der eigentliche Grund ist, dass dergrüne Umweltminister von Baden-Württemberg und dergrüne Umweltminister von Nordrhein-Westfalen nichteinen Euro eigenes Geld investieren wollen. Der Bundsoll alle Steuerausfälle übernehmen, auch die der Län-der.Das ist doch der eigentliche Punkt: Sie sind nur dannfür Umweltschutz, wenn Sie es nicht selber bezahlenmüssen. Wenn es Sie selber etwas kostet, ist Ihnen dieGebäudesanierung nichts mehr wert.
Die Lebenslüge, die hier verbreitet wird, lautet doch:Wir Grüne sind immer für den Umweltschutz. – Nein!Wenn es Ihre eigenen Haushalte betrifft, dann sind Siegegen den Umweltschutz.
Herr Kindler kann hier so viele angebliche Papiereder FDP-Fraktion zitieren, wie er will – es bleibt dabei:Es gibt noch keine Positionspapiere der FDP oder derFDP-Bundestagsfraktion zur Reform des EEG.
Wir sind die erste Partei, die sich konzeptionelle Gedan-ken macht. Voraussetzung ist dabei immer die Einhal-tung der Ausbauziele der erneuerbaren Energien. Aber– das haben Sie von den Grünen und den Roten immernoch nicht verstanden –: Wir sind in einer neuen Phasedes Ausbaus der erneuerbaren Energien.
Es kommt nicht mehr nur darauf an, möglichst viele An-reize für den Bau neuer Anlagen zu setzen, sondern esgeht auch darum, dass der Strom durch die Anlagendann eingespeist wird, wenn der Kunde ihn braucht,
damit nicht bei ihm die Lichter ausgehen. Sie müssenauch dort gebaut werden, wo bereits Netze vorhandensind, damit die Netzausbaukosten nicht horrend teuerwerden.
Der Punkt ist: Mit Ihrer alten Politik werden Sie nichtvorankommen. Deswegen müssen Sie bereit sein, neueWege zu gehen.
Kollege Kauch, Sie sind auch in eine neue Phase Ihrer
Redezeit eingetreten. Ich bitte, das zu beachten.
– Die SPD hat gerade mehr als eine 1 Minute überzo-
gen. – Wir arbeiten an nachfragegerechter Produktion,
damit Energie für die Konsumenten bezahlbar bleibt.
Vielen Dank.
Zur Erklärung für all diejenigen, die unseren Beratun-gen hier folgen: Es wird immer so sein – das ist so ver-abredet und guter Brauch in den Haushaltsberatungen –:Wenn ein Redner einer Fraktion die verabredete Rede-zeit überzieht, wird dem nächsten Redner dieser Frak-tion diese Überziehung auf seine Redezeit angerechnet,das heißt, er hat dann weniger Redezeit. Das gilt für dieOppositionsfraktionen ganz genauso wie für die Regie-rungsfraktionen. Damit sollte das klargestellt sein.
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Frak-tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Finden sich in diesem HaushaltsentwurfMittel zur Erforschung preiswerter Technologien zurAbwasseraufbereitung und zur Anpassung dieser Sys-teme an weniger Menschen? Nein. Werden Gelder be-reitgestellt, um Wege für das Medikamentenproblem imWasser zu finden? Nein. Gibt es ausreichend Bundespro-gramme, um Kommunen Investitionen in Abwassersys-teme zu ermöglichen, ohne dass die Kosten für Anwoh-nerinnen und Anwohner extrem steigen? Nein.Also werde ich am Beispiel Abwasser belegen, dassdieser Haushaltsentwurf auch außerhalb des Energiethe-mas mangelhaft ist.Milliarden wurden in Klärwerken und Abwasserkanä-len verbaut, finanziert aus öffentlichen Mitteln vergan-gener Haushalte und aus Gebühren. Der Zustand unsererFlüsse hat sich dadurch verbessert. Aber es gibt weitereund neue Probleme beim Wasser.Der Bevölkerungsschwund in weiten Gebieten desOstens, Teilen von Nordrhein-Westfalen, von Nordhes-sen und anderswo sorgt für deutlich weniger Abwasserin den Kanälen – mit fatalen Folgen. Fließt das Abwas-ser zu langsam durch die Kanalisation, weil diese zugroß ist, bilden sich Schwefelwasserstoffe, bekanntlichdie stinkenden Faulgase. Diese zerstören die Kanäle.Statt 80 Jahre zu halten, wie geplant, müssen erste Ka-näle nach 15 Jahren erneuert werden. Menschen und Fir-men in den Regionen mit Bevölkerungsverlust werdendoppelt bestraft. Die Kanäle gehen eher kaputt und getä-tigte Investitionen und Betriebskosten verteilen sich aufweniger Schultern.Wurde eine Kläranlage für 50 000 Einwohner gebautund die Einwohnerzahl sinkt um die Hälfte, auf 25 000,so müssen die Verbliebenen die hohen Investitionen unddie Betriebsausgaben komplett tragen. Die Kosten fürdie im Abwasserpreis enthaltenen Umlagen steigen dannvon 2,50 Euro je Kubikmeter auf 5 Euro je Kubikmeter.Unbezahlbar.Medikamente sind notwendig für uns Menschen, aberihre Reste schaden der Umwelt und müssen raus ausdem Wasser. Gedacht wird an neue Reinigungsstufen inden Klärwerken. Das würde viel kosten. Die Abwasser-und Entwässerungssysteme müssen mit mehr Starknie-derschlägen und größeren Niederschlagsmengen, einerFolge des Klimawandels, klarkommen. Die Anpassungkostet.Zu all diesen Punkten findet sich in Ihrem Haushalts-entwurf nichts. Für FDP und CDU scheint dies kein Pro-blem zu sein. Für die Bürgerinnen und Bürger in Thürin-gen ist es das schon. In anderen Bundesländern verhältes sich ebenfalls so. In Thüringen wehren sich die Bür-ger mit dem „Volksbegehren für gerechte und bezahlbareKommunalabgaben“ gegen diese Politik. Das unterstütztdie Linke.
Verbraucherinnen und Verbraucher müssen zahlen,Baukonzerne verdienen. Die Großkonzerne – Lieblings-klientel dieser Koalition – sind auch beim Wasser wiedereinmal nicht betroffen; denn für diese gibt es großzügigeAusnahmeregelungen – aus wirtschaftlichen Gründenwie bei Kali und Salz.Der Pharmaindustrie werden Forschungsmillionenzugesteckt. Aber fördert man auch Forschungen zur Be-kämpfung von Medikamentenresten im Abwasser? Dazuhabe ich im Haushalt nichts gefunden.Die Linke fordert eine kommunale Investitionspau-schale und eine unabhängige Medikamentenforschung,auch für eine echt soziale und ökologische Abwasser-wirtschaft.Nun ein anderer Punkt. Umweltpolitik erfordertGlaubwürdigkeit und Vertrauen. Mit der Glaubwürdig-keit hapert es. Das Atommüllendlager Gorleben ist einBeispiel für Wort und Tat dieser Regierung. Im Haus-haltsentwurf werden für 2013 und im Finanzplan ab2014 jedes Jahr 76 Millionen Euro für das Endlager inGorleben bereitgestellt. Für die Suche nach alternativenAtommülllagerorten werden jedoch nur 3,5 MillionenEuro veranschlagt. Zwar wirbt Herr Altmaier für eine er-gebnisoffene Lagersuche, aber die Zahlen beweisen: Siehaben sich längst auf Gorleben festgelegt. Die Linkesagt: Tauschen Sie die Zahlen! Geben Sie 3,5 MillionenEuro für die sichere Schließung von Gorleben aus, undinvestieren Sie 76 Millionen Euro in die Suche nach al-ternativen Lagerstätten!
Jetzt komme ich zu einem positiven Punkt des Haus-halts. Erstmals stellt diese Regierung explizit Mittel fürdie Stromspeicher- und Übertragungsnetzforschung be-reit; das fordert die Linke seit Jahren. Das ist ein wichti-ger Schritt, und wenn Sie jetzt noch unsere Forderungennach Last- und Stromerzeugungsmanagement überneh-men, dann könnten Sie die eine oder andere geplanteStromleitung weglassen – ein Baustein für eine preis-werte Energiewende.Für die Linke ist dieser Haushalt Stückwerk. Er bear-beitet partiell einige Umweltprobleme, aber es fehlt einGesamtkonzept. Die Linke arbeitet an ihrem Gesamt-konzept für eine soziale, ökologische und demokratischeGesellschaft. Unser Plan B für den sozialen, ökologi-schen und demokratischen Umbau ist eine Alternativezur jetzigen Planlosigkeit. Herr Minister, nehmen Sie dieAnregungen aus unserem Plan B auf. Menschen undUmwelt werden es Ihnen danken. Ein Exemplar werdenSie von mir erhalten.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22907
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Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Ulrich
Petzold.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Lenkert, wir würden ja an der einen oderanderen Stelle gerne etwas mehr ausgeben; aber bittedenken Sie daran: Allein in diesem Haushalt geben wirnoch 300 Millionen Euro aus, um die Altlasten desDDR-Bergbaus und der Wismut zu beheben. Was könnteman mit 300 Millionen Euro alles anfangen?
Ich habe allerdings den Eindruck, dass der vorherge-hende Redner über alles Mögliche gesprochen hat, nurnicht über den Haushalt. Erlauben Sie mir deshalb, dassich wieder etwas stärker auf den Haushalt zurück-komme.Ein Haushalt in einer finanzpolitisch unsicheren Si-tuation kann eigentlich nur ein Sparhaushalt sein. Umsobemerkenswerter ist es, wenn in dieser Situation derHaushalt eines Ressorts einen Aufwuchs erfährt.
Herr Bundesminister, Sie haben es geschafft: Ein Volu-men von 1,6 Milliarden Euro bedeutet einen Aufwuchsum 3,4 Prozent.Nun höre ich gleich wieder: Das geht ja nur in denVerwaltungshaushalt. Ja, gerade bei den Personalausga-ben habe ich seit Jahren eine Stabilisierung eingefordert;gerade darauf entfällt ein wesentlicher Anteil bei derSteigerung des Verwaltungshaushalts. Die kegelgerechteStelleneinsparung, die über Jahre hinweg einen undiffe-renzierten Personaladerlass in den Ministerien veranlassthat, wird für das Haushaltsjahr 2013 nicht mehr ange-wandt. Um sich ein Bild davon zu machen, was da inden vergangenen Jahren gelaufen ist, muss man sich ver-gegenwärtigen, dass zum Beispiel eine Behörde wie dasUmweltbundesamt mit etwas über 1 100 festen Stellenseit 2004 etwa 155 Stellen abgeben musste – und das beieiner deutlichen Ausweitung der Aufgaben.Es ist richtig, nicht immer mehr Aufgaben an externeEinrichtungen abzuschieben. Das war aber die Folge,wenn man die Personalausgaben senkt und den Pro-grammhaushalt ausweitet. Ministerien und Behördenmüssen ihre Kernkompetenzen behalten, um ihren Auf-gaben bei der Kontrolle und als Vordenker für Entwick-lungen gerecht werden zu können.Nun muss man jedoch auch fragen: Erfolgt dieserSchritt in einem Umfang und in einer Art und Weise, wiees uns Fachpolitikern gefällt, sodass wir ihn nur nochdurchzuwinken brauchten? Mit Sicherheit nicht. Es istabsolut richtig, dass im Zusammenhang mit der Energie-wende im Ministerium ein Zuwachs von mehr als40 neuen Planstellen erfolgt, sind doch mit der Energie-wende mehr als 120 Maßnahmen und ein umfassendesBerichtswesen verbunden. Liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Opposition, wer Kritik an fehlender Ab-stimmung zwischen Bund und Ländern übt,
der möge doch bitte schön auch sagen, wie das Ganzeohne neues Personal richtig funktionieren soll.Auch die 50 neuen Stellen für das Projekt „Asse“beim Bundesamt für Strahlenschutz sind sicherlich nichtzu beanstanden. Doch müssen wir noch einmal genauerhinsehen, ob hier alle Stellen gleichzeitig und mit glei-cher Dauer zu besetzen sind, zumal über die Art undWeise der Rückholung der in der Asse eingelagerten Ab-fälle noch keine Klarheit besteht und auch der Überblicküber tatsächlich eingelagerte Materialien und deren La-gerort noch aussteht.Was ich im Rahmen der Endlagerung sorgenvoll sehe,ist die Tatsache, dass der Betrieb und die Kontrolle derEndlager Asse und Morsleben in einer Hand liegen,nämlich in der Hand des BfS. Das ist beileibe kein Miss-trauensantrag gegen die Betriebsführung des BfS, aberaus leidvoller Erfahrung im Sozialismus, wo ich immerwieder erleben musste, was passiert, wenn der Staat sichselbst kontrolliert, finde ich, dass eine stärkere Trennungzwischen Betrieb und Aufsicht vollzogen werden sollte
oder aber zur Aufsicht und Kontrolle eine zweite Institu-tion herangezogen werden sollte.
Im Bundesumweltamt sind entsprechende Kompetenzenvorhanden, die dazu genutzt werden könnten.Dass die neuen Stellen im Bundesamt für Naturschutzganz überwiegend zur Beschäftigung mit Offshorewind-kraft und den dafür erforderlichen Netzausbau vorgese-hen sind, ist in Anbetracht der forcierten Energiewendenur logisch und zeigt an dieser Stelle deutlich, dass dieseKoalition mit dem Energieumbau Ernst macht.Leider setzt sich dies im Umweltbundesamt nicht fort.Von den 19 dafür beantragten Stellen wurde nicht eineeinzige bewilligt. So wird der Behörde zur Erfüllung ih-rer Aufgaben in diesem Bereich einmal mehr kaum et-was anderes übrig bleiben, als weitere Stellen über denAushilfskräftetitel oder über Ausgabenreste zu finanzieren.Diese Mittel wurden leider schon in der Vergangenheitsehr stark strapaziert. Wenn ich vorhin von 1 100 Stellenim Umweltbundesamt gesprochen habe, so war das nurdie halbe Wahrheit. Aktuell sind beim UBA etwa1 550 Mitarbeiter beschäftigt. Davon sind 470 mit einemZeitarbeitsvertrag ausgestattet und sitzen ständig auf ge-packten Koffern.
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Ulrich Petzold
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Dies bringt nicht nur ein Zweiklassenbeschäftigungssys-tem mit sich. Es bedarf auch nur wenig Phantasie, umsich vorzustellen, dass die Arbeitsmoral derer, die einensolchen Arbeitsplatz haben, der von einem Jahr auf dasandere verlängert wird, nicht so gut ist.
So ist es für mich ein wesentliches Ziel in den Haus-haltsberatungen, auch in diesem Jahr wieder, zumindestim finanzierten Bereich befristete Stellen in Dauerstellenumzuwandeln. Dies erfolgt haushaltsneutral. Es wird so-gar zu kostenneutralen Verbesserungen der Arbeit in denBehörden führen.
Damit würde auch ein Zeichen der Anerkennung der Ar-beit der Beschäftigten in diesen Behörden gesetzt, ge-nauso wie mit dem Neubau eines Verwaltungstraktsbeim UBA. Wenn hier ein aus Haushaltsresten finanzier-tes hochmodernes Bürogebäude im Plus-Energie-Stan-dard entsteht, sollten auch die darin beschäftigten Ar-beitnehmer diesem Standard entsprechende Arbeitsver-träge haben.
Vielleicht nun doch ein paar Worte zum Programm-haushalt. Auf den ersten Blick sieht es wirklich nichtschön aus, wenn hier ein Minus von 2,4 Prozent steht, dasetwa 19 Millionen Euro ausmacht. Doch allein 15 Millio-nen Euro der Kürzung entfallen auf den Titel „Investitio-nen zur Verminderung von Umweltbelastungen“. Damitsind Großprojekte wie die bei der Salzgitter FlachstahlGmbH oder der ArcelorMittal Eisenhüttenstadt GmbHgefördert worden. Bei dem letztgenannten Projekt muss-ten sogar 26 Millionen Euro von 2011 auf 2012 übertra-gen werden, weil es Terminverzögerungen gab. So ist esrichtig, dort, wo Mittel nicht abfließen, den Haushaltsan-satz zu kürzen. Wenn die in Vorbereitung befindlichenProjekte wie die Förderinitiative für die Abgasnachbe-handlung von Seeschiffen oder die Initiative zur Förde-rung umweltfreundlicher Schienengüterfahrzeuge denerforderlichen Zulassungsstand haben, kann es jedochsinnvoll sein, auch diesen Haushaltsansatz wieder zustärken.Kritisch sehe ich auch den Mittelabfluss im Bereichder Umweltforschung. Hier sehen wir jetzt eine Auswei-tung um 10 Prozent vor.Auch bei der Förderung von Partikelfiltern gerade fürleichte Nutzfahrzeuge haben wir gehandelt. Dass wir da-mit etwas für den Mittelstand tun, finde ich absolut rich-tig.
Ich glaube, dass dieser Haushaltsentwurf eine sehrgute Diskussionsgrundlage bietet. Herr Minister, ichglaube, wir werden sehr gute Haushaltsgespräche füh-ren. Ihr Entwurf ist sehr gut.Danke.
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir beraten heute den ersten Haushaltsentwurf, den derneue Minister nach Übernahme seines Amtes vorlegt.Daher ist es ganz logisch, dass wir uns anschauen, wasSie, Herr Altmaier, bisher gemacht haben, und direkt Bi-lanz ziehen.Sie haben eigentlich Glück gehabt. Ihr Vorgänger istzurückgetreten worden. Das gibt einen Sympathiebonusfür den Nachfolger. Wenn der gemütliche, kommunika-tive Herr Altmaier herbeikommt, dann denkt man auto-matisch: Das mit dem Amt, das muss gelingen.
Trotzdem gilt immer noch der alte Spruch des CDU-Kanzlers Kohl, der gesagt hat: Entscheidend ist, was hin-ten rauskommt.
Deshalb werden wir das, was Sie machen, genau unterdie Lupe nehmen.Die Frage, Herr Altmaier, ist: Reicht es, nett zu sein?Wir haben uns deshalb einmal – Herr Miersch hat ja da-rauf hingewiesen, dass wir von Ihnen als Umweltpoliti-ker in der Vergangenheit noch nicht so viel gehört haben –das Zehn-Punkte-Programm vorgenommen. Da habe ichmir einen Bereich angesehen, der für jeden Umweltmi-nister eigentlich das Herzstück ist, nämlich den Natur-schutz. Sie, Herr Minister, haben ja vorhin selbst gesagt,Ihnen liege der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagenbesonders am Herzen.Ich weiß, dass auch Sie, Herr Ruck, für den Natur-schutz brennen, wie es Herr Miersch gesagt hat. WennSie sich nun aber diese Passage anschauen, dann merktman, warum es notwendig ist, dass Sie, Herr Ruck, sichso demonstrativ hinter den Minister stellen. Im Zehn-Punkte-Programm steht nämlich: „Die Belange des Na-turschutzes haben für mich einen hohen Stellenwert“.Schön! Dann geht es aber einzig und allein um die Kom-pensationsverordnung. Diese hat übrigens Herr Röttgenschon auf den Weg gebracht. Was heißt das? Das heißtEingriffsregelung. Das heißt verstärkte Eingriffsbewälti-gung. Das heißt Rücksichtnahme – so steht das hierschön – auf die Landwirtschaft, Rücksichtnahme auf diePlanungserfordernisse der neuen Infrastruktur. Das heißtletzten Endes Naturzerstörung.Das Einzige, was Sie hier zum Naturschutz schreiben,ist: Wie bewältige ich die Naturzerstörung? Das Haupt-
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instrument, das Sie hier bringen, ist das Ersatzgeld. Siesehen die Kompensation für den Naturschutz einzig undallein als Ablass: Wir können zahlen, wenn wir die Naturzerstören. – Das, Herr Altmaier, was Sie hier geschrie-ben haben, ist ein Armutszeugnis.
Ich sage das auch deshalb, weil das aus meiner Sichtein Stück weit Ihr Problem ist, Herr Altmaier. Sie verste-hen sich heute immer noch als Parlamentarischer Ge-schäftsführer, nicht mehr und nicht weniger. Sie habenes bis heute nicht geschafft, Anwalt der Umwelt zu sein.Das zu sein, erwarten wir von Ihnen. Als Minister habenSie sich für die Umwelt einzusetzen und nicht wie einParlamentarischer Geschäftsführer nur die verschiede-nen Positionen zusammenzubringen. Bei der Art, wieSie jetzt Politik machen, kommt nämlich heraus, dassder Wirtschaftsminister sich durchsetzt, dass der Ver-kehrsminister sich durchsetzt, dass alle Kollegen sich amEnde durchsetzen, der Anwalt für die Umwelt aber alleinKommunikation macht. Das reicht nicht. Setzen Sie sichendlich einmal für Ihr Ressort ein!
Es ist schon ein Ding, wenn der Bundesumweltminis-ter sagt, wir wollen den Ausbau der erneuerbaren Ener-gien drosseln, wir wollen den Ausbau des Ökostromsbremsen, und sich hier stolz hinstellt und verkündet, dassdie Investitionen in Photovoltaik zurückgegangen sind.Für was wollen Sie das drosseln? Sie wollen am Endemehr Raum für Kohle und Atom. Vielleicht ist es nichtdas, was Sie wollen. Aber es ist die Folge von dem, wasSie tun.
Deshalb, Herr Altmaier, sage ich Ihnen: Setzen Sie sichein für den Ausbau der Erneuerbaren, und setzen Siesich nicht, wie Sie es momentan machen, für die Interes-sen von Kohle und Atom ein!
Ja, wir sind in einer neuen Phase. Die Einspeisevergü-tung für Strom aus Photovoltaikanlagen liegt in diesemJahr weit unter dem Preis, den wir für Strom bezahlenmüssen. Für Strom aus einer Dachanlage, die in diesemMonat auf das Dach gebaut wird, wird pro Kilowatt-stunde eine Vergütung von 17,5 oder 18,5 Cent gezahlt.Das liegt weit unter den 26,5 Cent, die an den Energie-versorger bezahlt werden müssen. Ihre Aufgabe wäre es,genau diese Initiativen zu stärken, jetzt zu sagen: „Ei-genstromverbrauch!“, jetzt zu sagen: „Photovoltaik aufdie Mietshäuser“, jetzt zu sagen: „Genossenschaften, diestärken wir“. Das wäre die Antwort auf den Vorstoß derFDP: Wir wollen Wettbewerb. Wir wollen nicht Ihr Quo-tenmodell, das am Ende nur den großen Energiekonzer-nen wieder mehr Gewinn bringt. Wir brauchen Wettbe-werb. Wir wollen die Kleinen stärken; denn derDurchmarsch ist jetzt möglich. Wir könnten genau diesePhase für die erneuerbaren Energien nutzen.
Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
Altmaier?
Na klar. Bitte, Herr Altmaier.
Frau Kollegin Höhn, ist Ihnen bekannt, dass die Än-
derungen des EEG, die zu dem Rückgang der überhöhten
Zubauquoten geführt haben, im Bundesrat und im Ver-
mittlungsausschuss mit allen Vertretern von Bündnis 90/
Die Grünen, unter anderem auch drei Umweltministern
von Bündnis 90/Die Grünen, verhandelt und beschlossen
worden sind,
weil wir alle der Auffassung waren, dass wir einen ver-
lässlichen Ausbaupfad brauchen, der in dem Rahmen
liegt, wie er im Energiekonzept der Bundesregierung für
erneuerbare Energien vorgesehen ist?
Herr Altmaier, ich war in dem Ministerium, als wirmit Ihnen zusammen genau diese Verhandlungen geführthaben. Deshalb habe ich mich auch für diese Regelungeingesetzt. Aber Ihre Aufgabe ist etwas ganz anderes.
Die Photovoltaik braucht momentan nicht Geld, son-dern die Photovoltaik braucht Rahmenbedingungen. Set-zen Sie sich endlich dafür ein, dass ein Mehrfamilien-hausbesitzer einfacher Strom an seine Mieter verkaufenkann! Hauen Sie die Blockaden weg! Stärken Sie dieEnergiegenossenschaften! Das bringt den Markt voran.Das erwarte ich von Ihnen, Herr Altmaier, und nicht,dass Sie sagen: Wir drosseln die Windkraft in Süd-deutschland oder die erneuerbaren Energien insgesamt. –Das ist nicht Ihr Job.
Sie haben dafür zu stehen, dass wir Arbeitsplätzeschaffen. Sie haben nicht für das zu stehen, was Ihr Ko-alitionspartner, die FDP, will. Die FDP will das EEG ab-würgen; das steht sogar in dem mir hier vorliegenden Pa-pier.
Das ist genau die Antwort. – Hier steht: „Der weitereEE-Ausbau würde zunächst einmal komplett zusammen-brechen …“
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Das ist das, was Ihr Koalitionspartner will: das Quoten-modell.Wir bieten Ihnen, Herr Altmaier, an: Lassen Sie unsdie Verhältnisse vor Ort verbessern. Sie brauchen denNetzausbau viel weniger, wenn Sie die Kräfte vor Ortstärken. Je mehr wir es schaffen, den Strom, der produ-ziert wird, vor Ort zu verbrauchen und gar nicht mehr insNetz einzuspeisen, desto weniger Ausbau der Netzebrauchen wir. Glauben Sie nicht den vielen früherenAussagen, dass der große Netzausbau an jedem Punktnotwendig ist. Wir Grüne wollen ihn, und zwar an wich-tigen Stellen, aber vor allen Dingen wollen wir den Aus-bau der erneuerbaren Energien in der Region. Das kön-nen wir jetzt schaffen. Das sollten Sie sich endlicheinmal auf Ihre Fahnen schreiben.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Bernhard
Schulte-Drüggelte das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Frau Höhn, wir wollen nichts weghauen. Unser
Ziel ist eine erfolgreiche Bewältigung der Energie-
wende. Daran sind selbstverständlich mehrere Ressorts
beteiligt; das ist doch völlig klar. Das gemeinsame Ziel
ist – Sie haben den Begriff gerade gebraucht –, Rahmen-
bedingungen zu schaffen, um in den nächsten zehn Jah-
ren den Ausstieg aus der Kernenergie und den Umbau zu
erneuerbaren Energien zu erreichen. Das ist das gemein-
same Ziel. Das bedeutet, dass wir die erneuerbaren Ener-
gien, vor allen Dingen die Windenergie, ausbauen müs-
sen; das ist klar. Aber das bedeutet auch die Integration
in das gesamte Energiesystem. Das verlangt ein fundier-
tes Monitoring. Das gehört zusammen.
Die Mehrheit der Deutschen – das muss man auf-
grund von Umfragen klar feststellen – ist für diese Ener-
giewende. Alle müssen daran mitarbeiten. Sie haben
dem Minister vorgehalten, immer noch wie ein Parla-
mentarischer Geschäftsführer zu handeln. Ich zitiere ihn
jetzt als Anwalt für die Umwelt. Er hat Folgendes ge-
sagt: Wir brauchen selbstverständlich einen Konsens,
aber nicht nur hier im Bundestag. Wir brauchen einen
Konsens, der von allen wesentlichen Akteuren mitgetra-
gen wird, vom Bund, von den Bundesländern, selbstver-
ständlich auch von den Parteien, von den Energieerzeu-
gern, von den Netzbetreibern, aber auch von den
Bürgerinnen und Bürgern.
Eigentlich ist das vollkommen klar, aber es gibt eine
Stelle in der Republik, wo man das vielleicht noch nicht
weiß. Ich möchte dieses Negativbeispiel noch einmal
nennen; es wurde hier bereits erwähnt. Es geht um die
Gebäudesanierung. Das Gesetz zur steuerlichen Förde-
rung der Gebäudesanierung hängt im Bundesrat. Die
Ziele sind Energieeinsparung und Energieeffizienz. Das
sind doch richtige Ziele. Frau Höhn, Sie haben doch Ein-
fluss in Nordrhein-Westfalen. Sie haben vorhin gesagt,
der Minister sei so nett. Ich weiß nicht, ob auch Sie so
nett sind. Aber seien Sie einmal nicht nett, setzen Sie
sich in Nordrhein-Westfalen durch, und beenden Sie die
Blockade im Bundesrat. Das wäre etwas, was Sie ma-
chen könnten.
Kollege Schulte-Drüggelte, gestatten Sie eine Frage
des Kollegen Kelber?
Von wem? – Ach, von Ihnen, Kollege Kelber.
Bitte, selbstverständlich.
Wir haben uns bisher immer gegenseitig die Fragen
gestattet. – Sie haben eben über Nordrhein-Westfalen im
Zusammenhang mit der Gebäudesanierung eine ähnliche
Behauptung aufgestellt wie vorhin der Kollege Kauch,
bei dessen Rede man leider aufgrund des Stakkatos der
Worte nicht dazu kam, eine Zwischenfrage zu stellen.
Ist Ihnen bekannt, dass Nordrhein-Westfalen die Mittel
für energetische Gebäudesanierung in Landesprogram-
men aufgestockt hat? Ist Ihnen als Haushälter der Unions-
fraktion auch bekannt, dass Sie hingegen die Mittel für
Gebäudesanierung im Bundeshaushalt von 2,5 Milliarden
Euro in 2009 auf irgendwo zwischen 500 und 900 Mil-
lionen Euro deutlich reduziert haben? Ist das vielleicht
einer der Gründe, warum die Länder nicht gern die Lü-
ckenbüßer für die Bundesregierung spielen wollen?
Ich möchte Ihnen wie folgt antworten: Ist Ihnen be-kannt, dass dem Bundesrat ein Paket von 1,5 Milliar-den Euro vorliegt?
– Nein. Sie dürfen auch Bemerkungen machen; Sie müs-sen nicht immer nur fragen. Das ist hier im Bundestagerlaubt.
Ist Ihnen also bekannt, dass dem Bundesrat ein Paket miteinem Volumen von 1,5 Milliarden Euro vorliegt, mitdem die Energieeffizienz in Gebäuden verbessert wer-den könnte
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und das dafür sorgen würde, dass viele Menschen Auf-träge bekommen? Meinen Sie nicht, dass es richtig wäre,die Blockade aufzugeben und auch im Bundesrat verant-wortlich zu handeln? Das ist meine Frage an Sie.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, keine andereNation der Welt hat sich so hohe Ziele gesetzt wieDeutschland. Das bedeutet natürlich auch eine große Ver-antwortung. Es ist natürlich völlig klar, dass Deutschlandein wettbewerbsfähiger Industriestandort bleiben muss.Die Kosten der Energiewende dürfen nicht außer Kon-trolle geraten; das ist ebenfalls völlig klar. Energie mussbezahlbar sein, auch für Menschen mit geringerem Ein-kommen – ganz selbstverständlich.Im Haushalt des Bundesministeriums – das wurde vor-hin schon angedeutet – sind richtigerweise Verstärkungenvorgenommen worden, im Sachbereich, aber auch im Per-sonalbereich. Aus dem Energie- und Klimafonds, dervorhin kritisiert wurde, fließen 521 Millionen Euro inden Einzelplan des Umweltministeriums; das ist absolutpositiv. Die 40 Stellen, die neu geschaffen werden, sindbereits erwähnt worden; auch das ist eine richtige Maß-nahme.Im nachgeordneten Bereich werden ebenfalls neueStellen geschaffen; auch hier kommt es also zu Verstär-kungen. Als Beispiel nenne ich das Bundesamt fürNaturschutz; Stephan Thomae hat gerade die besondereBedeutung des Naturschutzes angesprochen. Diese Maß-nahmen sind richtig, da das Bundesamt für Naturschutzin der Lage sein muss, die Begutachtung von Offshore-anlagen vernünftig durchzuführen. Man kann schließlichnicht einfach sagen: Wir bauen Offshoreanlagen, aberdie Naturschutzgesichtspunkte werden nicht ausreichendberücksichtigt. – Deshalb ist es richtig, dass zukünftigmehr Personal zur Verfügung steht, um diese Vorgängezu begleiten. Das ist auf jeden Fall zu unterstützen.
Das Volumen des Einzelplans 16 steigt auf insgesamt1,65 Milliarden Euro. Die Mittel werden um 54 Millio-nen Euro erhöht. Das entspricht einer Steigerung um3,4 Prozent; das ist schon angesprochen worden.Herr Miersch, Sie haben vorhin gesagt: Es bringtnichts, isoliert zu denken. – Es ist völlig klar, dass dasnichts bringt. Es bringt aber auch nichts, die Augen vorden Zusammenhängen zu verschließen.
– Ja, das ist völlig klar. – Umweltschutz ist eine Quer-schnittsaufgabe, die auch in anderen Ressorts ihren Nie-derschlag findet. Vor diesem Hintergrund möchte ichIhnen die wesentlichen Zahlen nennen: Im Gesamthaus-halt 2013 sind Ausgaben von rund 7,5 Milliarden Euroveranschlagt; dies betrifft natürlich nicht nur den Um-weltbereich. Hinzu kommt das Sondervermögen „Ener-gie- und Klimafonds“ mit weiteren 2,1 Milliarden Euro.Das zeigt die große Bedeutung, die der Umweltschutzfür diese Koalition hat. Das zeigt aber auch, dass derUmwelthaushalt im Einklang mit den haushaltspoliti-schen Zielvorgaben steht. Heute Morgen ist in der allge-meinen Debatte bereits deutlich gemacht worden: DasZiel ist eine wachstumsfreundliche Konsolidierung.
Auch die Investitionsausgaben werden steigen, undzwar von 704 auf 723 Millionen Euro. Dies betrifft auchden Umweltbereich: von Investitionen in erneuerbareEnergien bis hin zur Finanzierung von Demonstrations-projekten zur Vermeidung von Umweltbelastungen. Dasist sehr positiv zu beurteilen.
Nun zu den Ausgaben für Wissenschaft und For-schung. Es wird ja immer wieder ganz allgemein gesagt:Dieser Bereich ist im Augenblick der wichtigste Be-reich. – Auch hier steigen die Ausgaben, und zwar von189 auf 202 Millionen Euro. Hinzu kommen Mittel ausdem Bundesministerium für Bildung und Forschung,über dessen Etat gleich im Anschluss diskutiert wird. Sosind 952 Millionen Euro für die Grundlagenforschungzum Umweltschutz vorgesehen. All das sind positiveMaßnahmen. Sie machen deutlich, welch große Bedeu-tung dieser Bereich für die Koalition hat.
Diese Maßnahmen sollte man begrüßen und unterstüt-zen.Vielleicht gibt es ja im Hinblick auf die Öffentlich-keitsarbeit ein Lob von Ihnen.
Wenn ein Ministerium Öffentlichkeitsarbeit betreibt,sagt die Opposition normalerweise: Das ist etwas ganzSchlimmes. – Ich bin der Meinung, dass es richtig ist,über die einzelnen Maßnahmen zu informieren. Deshalbist es richtig, dass der Haushalt des Ministeriums4,3 Millionen Euro für Öffentlichkeitsarbeit enthält.Wenn man das einmal mit dem Vorjahr vergleicht, dannstellt man fest, dass es 600 000 Euro bzw. über 12 Pro-zent weniger sind – und das in einem Wahljahr. Ichwürde sagen, die Opposition müsste an dieser Stelle ein-mal klatschen.
Ein zentrales Förderinstrument ist das Marktanreiz-programm; Frau Kofler hat das vorhin angesprochen.Auch das bleibt ein zentrales Förderinstrument. Durchden Energie- und Klimafonds werden diese Mittel er-höht, sodass dafür im nächsten Jahr mehr Geld als imlaufenden Jahr zur Verfügung stehen wird.Ich will auch noch etwas zu den Stellen sagen, diehier schon angesprochen wurden: Nur in den Bereichen,die eine besonders große Bedeutung haben, gibt es neue
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Stellen. Das ist zum einen bei dem Bereich, der mit derEnergiewende zu tun hat – ein Kollege hat mir vorhingesagt, weshalb es neue Stellen gibt –, und zum anderenbei der Schachtanlage Asse der Fall. Deshalb will ichauch etwas zur Schachtanlage Asse sagen.Für die Bewältigung der Energiewende werden40 neue Stellen geschaffen, für die Schachtanlage Assesind es 50. Das zeigt eindeutig, dass die Absicht besteht,das Problem Asse, wie ich es nennen möchte, zu lösen.Dazu gehören eine Stabilisierung, eine Notfallvorsorge,eine beschleunigte Faktenerhebung und der Bau desneuen Schachtes 5.Dieser Problemschacht Asse wird 2013 einen Schwer-punkt bilden. Der Ansatz dafür wird um 42 MillionenEuro auf 142 Millionen Euro erhöht. Das ist aber nureine relativ geringe Summe. Die Gesamtsumme wirdsehr viel höher sein. Dieser Problemschacht Asse bildetdas eigentliche Risiko im Einzelplan 16.Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegenmir nicht vor.Wir kommen nun zu dem Geschäftsbereich desBundesministeriums für Bildung und Forschung,Einzelplan 30.Das Wort hat die Bundesministerin ProfessorDr. Annette Schavan.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Die wichtigste Grundhaltungin Zeiten der Unsicherheit ist die Fähigkeit, sich aufNeues und Unerwartetes einzustellen. Die beste Geldan-lage, die eine Gesellschaft in Zeiten des Wandels tätigenkann, sind Investitionen in das Wissen, das Können unddie Bildung ihrer Bürgerinnen und Bürger. Davon sindauch die Haushalte für das Jahr 2013 – der Gesamthaus-halt der Bundesregierung und ganz besonders auch derdes BMBF – geprägt.
Dass wir schon seit einer Reihe von Jahren konse-quent Schulden abbauen und konsequent mehr in Bil-dung und Forschung investieren, trägt Früchte. Dass dasnicht nur ein Anliegen des fachlich zuständigen Res-sorts, sondern auch der Bundesregierung insgesamt ist,ist heute Morgen aus der Rede des Bundesfinanzminis-ters sehr deutlich geworden. Die Früchte sind: deutlicheSteigerung und deutliche Stärkung der Innovationskraftin Deutschland, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit,deutlich höhere Attraktivität des Forschungsstandortesund vor allem weitere Stabilisierung der Zukunftschan-cen der jungen Generation. Zukunftschancen der jungenGeneration: Das ist unser großes Thema – gerade jetzt inEuropa.
Die Zahlen für Europa sind erschreckend. Ein Viertelder jungen Menschen im Alter bis zu 25 Jahren ist ohneberufliche Perspektive. In einzelnen Ländern, beispiels-weise in Spanien, sind es bis zu 50 Prozent. Die Jugend-arbeitslosigkeit in Deutschland ist im vergangenen Juniauf 7,9 Prozent zurückgegangen.
Der neue EU-Jugendbericht, den die EU-Kommissionam Montag veröffentlicht hat, bestätigt diese Entwick-lung. Er zeigt, dass es deutlich bessere Chancen für diejunge Generation als noch vor einigen Jahren gibt.
Dafür gibt es viele Gründe. Ein Grund ist der Teil un-seres Bildungssystems, der die berufliche Bildung be-trifft. Bei der dualen Ausbildung handelt es sich um einweit verzweigtes Feld an unterschiedlichen Möglichkei-ten und unterschiedlichen Bildungsgängen als Herzstückder beruflichen Bildung. Ich sage aus aktuellem Anlass,weil die OECD heute ihren Jahresbericht vorgelegt hat:Ich habe kein Verständnis dafür, dass die OECD auch indiesem Jahr wieder die Gleichwertigkeit der beruflichenBildung konterkariert, indem sie erklärt, dass Kinder vonAkademikereltern, die selbst nicht den Weg der akade-mischen Bildung gehen, sondern eine Ausbildung absol-vieren, in die Kategorie Abstiegsmobilität fallen. Das istabwegig und ganz und gar unverträglich mit der Tatsa-che, dass sich immer mehr Länder, übrigens auch inEuropa, für unsere duale Ausbildung stark interessieren.
Deshalb sage ich: Duale Berufsausbildung ist so et-was wie ein bildungspolitischer Anker in der Krise.Kollegen aus Spanien, Portugal, Italien, Finnland, dieDeutschland besuchen, sagen: Weiterentwicklung, Mo-dernisierung und Internationalisierung der Bildungssys-teme, das muss heißen, berufliche Bildung zu etablieren. –Große Unternehmen wie SEAT haben angekündigt, dasduale Ausbildungssystem zu übernehmen.Ganz wichtig ist: Beim Europäischen Qualifikations-rahmen, den wir in Deutschland zurzeit umsetzen, ist dieGleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bil-dung an wichtigen Stellen durchgesetzt. Deshalb könnenund werden wir nicht akzeptieren, dass der Weg hin zumOptiker, zum Zahntechniker, zum Schreiner, zum Me-chatroniker als Abstieg angesehen wird. Für die De-ckung des Fachkräftebedarfs, für die Schaffung stabilerberuflicher Perspektiven, für den Weg in die Selbststän-digkeit, für den Weg, ein Unternehmen zu gründen, einUnternehmen zu übernehmen, Arbeitsplätze zu schaffenund junge Menschen auszubilden, ist die berufliche Bil-dung der Königsweg für viele in Deutschland.
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– Auch wenn der Vater Professor ist, ist es kein Abstieg,wenn der Sohn Optiker wird.
– Nein, überhaupt nicht.
Wenn wir damit anfangen, dann können wir uns gleichauf eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit einstel-len. So einfach ist das.
Zwischen 2006 und 2011 hat sich der Anteil der Kin-der unter drei Jahren, die die Angebote der Kindertages-betreuung nutzen, von 14 auf 25 Prozent erhöht. 96 Pro-zent aller Vier- und Fünfjährigen nehmen Angebote derfrühkindlichen Bildung wahr. Damit liegen wir weit überdem OECD-Schnitt, der bei rund 80 Prozent liegt. Auchdas muss man einmal sagen – das ist heute Morgen soverkündet worden –: Der Schnitt liegt bei 80 Prozent,wir liegen bei 96 Prozent.Wir werden diesen Bereich weiter ausbauen, vor allenDingen die Qualität der frühkindlichen Bildung gemein-sam mit den Kommunen und den Ländern verbessern.Wir haben schon einen guten Stand erreicht, vor allenDingen in Bezug auf Kinder mit Migrationshintergrund.Der Anteil derer mit Hochschulreife in der Alters-gruppe der 30- bis 35-Jährigen ist heute doppelt so hochwie bei den 60- bis 65-Jährigen. „Aufstieg durch Bil-dung“ ist auch heute nicht nur möglich, sondern gelingtzunehmend.Wir hatten mit den Ländern vereinbart, den Anteil derJugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen,zu halbieren. Der Anteil ist von 8 Prozent auf 6,5 Pro-zent gesunken. Nach einer weiteren Abnahme um2,5 Prozentpunkte ist auch dieses Ziel erreicht.Ich stelle fest: deutlich mehr Bildungsaufsteiger, deut-lich weniger Bildungsabsteiger, ein großer Aufwuchs beiden Studierenden, endlich das Anerkennungsgesetz, end-lich ein Entwurf zum Wissenschaftsfreiheitsgesetz undweiterhin gute Bildungsfinanzierung. Was das BAföGangeht: Herr Hagemann, auch wenn es im Vorfeld wie-der zu Schlagzeilen gekommen ist, wissen Sie doch ge-nau, dass es einen gesetzlichen Anspruch gibt. Sie wis-sen genau, dass das BAföG nicht gekürzt wird.
– Was heißt, es gibt keine Erhöhung? Wir haben so vielerhöht wie schon lange nicht mehr.
Sie wissen auch, dass ich den Ländern ein Angebot ge-macht habe.
Kein Bereich ist von Rot-Grün so vernachlässigt wordenwie das BAföG.
Wir haben etwas gemacht, nachdem jahrelang nichtspassiert ist. Heute wird für das BAföG 25 Prozent mehrausgegeben als noch vor fünf Jahren.Sie wissen: Die Länder haben ein Angebot von mirerhalten.
Die Länder sind am Beraten. Sie müssen sich mit uns ei-nigen.
Was nicht läuft, ist, BAföG als gemeinsame Leistung ha-ben zu wollen, ohne auch etwas dazu beitragen zu wol-len. Die Länder sind jetzt in der Pflicht, zu sagen, wassie wollen.
Meine Damen und Herren, die große Quelle für künf-tigen Wohlstand ist der Forschungsstandort Deutschland.
Kein Land hat einen so großen Anteil an der Wertschöp-fung, der auf Forschung basiert. Deshalb ist es so wich-tig, dass wir konsequent – seit 2005 um 53 Prozent – dieInvestitionen für Forschung und Entwicklung erhöht ha-ben. Das heißt erstens: mehr Mittel für neue Strukturen.Das prominenteste Beispiel ist die Gesundheitsfor-schung. Die Deutschen Zentren der Gesundheitsfor-schung werden der Internationalisierung der Gesund-heitsforschung einen großen Schub geben.Das heißt zweitens – Herr Ruck hat es eben schon an-gesprochen –: mehr Mittel für Klima, Energie und Um-welt, mehr Mittel für die außeruniversitären Forschungs-einrichtungen und für die Hochschulen. Allein in demHaushalt 2013 sind 1,8 Milliarden Euro im Hochschul-pakt für neue Studienplätze vorgesehen. Hören Sie alsOpposition also auf, immer so zu tun, als würden wirRosinenpickerei betreiben! Wir machen Förderung inder Breite. Viele neue Studienplätze und viele zusätzli-che Bildungsaufsteiger: Da beginnt die Förderung derHochschulen, bevor es an die Forschung geht.
Um es mit einer Zahl zusammenzufassen: Allein zwi-schen 2007 und 2015, also in einem Zeitraum von sieben
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Jahren, wird es über 500 000 neue, zusätzliche Studien-plätze in Deutschland geben. Ja, es stimmt: Wir habeneinen Teil des Aufwuchses dafür investiert, und wir ha-ben uns entschieden, zugunsten der Studienplätze unddamit der Studierenden bei hohen Projektfördertiteln ander einen oder anderen Stelle etwas wegzunehmen. Dasist eine klare und bewusste Prioritätensetzung in diesemHaushalt.Der aktuelle Innovationsindikator der Telekom-Stif-tung und des BDI bescheinigt unserem Land eine konti-nuierliche Aufwärtsentwicklung, was die Innovations-kraft angeht. Innerhalb weniger Jahre hat Deutschlandsich aus dem Mittelfeld der 26 untersuchten Industriestaa-ten auf den vierten Platz vorgearbeitet. Was das 3-Pro-zent-Ziel angeht: Deutschland hat 2010 bereits 2,8 Pro-zent erreicht. Damit liegen wir prozentual gesehen undvor allen Dingen auch bei den absoluten Zahlen in derEU-Spitzengruppe.Dieser Haushalt ist ein gutes Fundament, um die lang-fristig angelegte Politik zugunsten der Zukunftschancender jungen Generation und der weiteren Internationali-sierung sowie der Stärkung der Attraktivität des For-schungsstandortes Deutschland weiterzuentwickeln.Vielen Dank.
Der Kollege Klaus Hagemann hat nun für die SPD-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Jede Medaille hat zwei Seiten. FrauMinisterin hat die schöne und gute Seite dargestellt. Vie-les davon unterschreibe ich auch.
– Was positiv ist, Kollege Neumann, muss herausgestelltwerden. Die 810 Millionen Euro zusätzlich sind positivzu bewerten. Das sieht auch meine Fraktion so.
Dieses Geld stellt schließlich nicht die CSU, sondern derSteuerzahler zur Verfügung.Aber, um jetzt zu der anderen Seite der Medaille zukommen: Ein Blick in die mittelfristige Finanzplanungzeigt, dass Ihr forschungs- und bildungspolitischer Ehr-geiz ziemlich nachlässt, Frau Ministerin. Denn für dieZeit nach der Wahl im Jahr 2013 ist kein Ehrgeiz erkenn-bar, mehr Mittel obendrauf zu packen. Da ist Stagnationund zum Teil sogar eine Abwärtskurve zu beobachten.
Also haben Sie hier einen Wahlkampfhaushalt vorgelegt.Das ist die erste Vorstellung,
und das müssen Sie sich auch sagen lassen. Von diesemMinisterium ist auch ein Konsolidierungsbeitrag gefor-dert worden. Man sollte daher darauf hinweisen, dassentsprechende Einsparungen vorgenommen werden.Aber, Frau Ministerin, ich muss Ihnen erneut vorhal-ten: Es krankt am Einsatz der vielen Mittel, die Ihnen zurVerfügung gestellt worden sind, und zwar sowohl bei derBildung als auch in der Forschung. Viele Ansätze blei-ben hinter den oft großartig inszenierten Ankündigungenzurück. Ich werde das noch an Beispielen deutlich ma-chen. Es werden zwar interessante Projekte ins Schau-fenster gestellt. Aber oft stellen sie sich als Mogelpa-ckungen heraus. Zu diesem Schluss kommt man, wennman etwas genauer hinschaut.In der mittelfristigen Finanzplanung von 2014 bis2016/17 ist kein nennenswerter Aufwuchs mehr zu be-obachten. Es muss aber auch nach der Bundestagswahlweitergehen. Es ist fraglich, ob die FDP 2013 noch inder Regierung sein wird. Wir werden auf jeden Fall – ge-nauso wie im vergangenen Jahr – einen Antrag einbrin-gen, der zum Ziel hat, dass für Forschung und Bildungjährlich 2 Milliarden Euro oben draufgesattelt werden,und zwar gegenfinanziert und über fünf Jahre. Leider ha-ben Sie unseren Antrag voriges Jahr abgelehnt. WennSie das nicht getan hätten, wären schon 4 MilliardenEuro mehr für Forschung und Bildung geflossen. Wirwerden auf jeden Fall wieder beantragen, dass 2 Milliar-den Euro draufgesattelt werden; denn es darf nach derBundestagswahl 2013 nicht zu einer Stagnation kom-men.
Lassen Sie mich meine Kernaussagen noch etwas be-legen. 80 Prozent der Projekte – man kann darüber strei-ten, ob es „nur“ 75 Prozent sind – wurden von der SPDinitiiert oder von ihr mitgetragen. Dazu gehören bei-spielsweise der Pakt für Forschung und Innovation, dieHightech-Strategie, die wir in der Zeit der Großen Koali-tion nach vorne gebracht haben, Frau Ministerin, die Ex-zellenzinitiative, der Hochschulpakt und der Qualitäts-pakt „Lehre“. Somit ist der größte Teil von der SPD mitinitiiert worden. Aber dann stellt sich die Frage, welchelupenreinen schwarz-gelben Projekte es überhaupt gibt.In diesem Zusammenhang fällt mit nur das Deutschland-stipendium ein. Aber hier läuft es nicht so toll. Es wirdnicht so angenommen, wie Sie es sich erhofft haben.Lieber Kollege Meinhardt, die steuerliche For-schungsförderung, die Sie mit großem Trara in den Ko-alitionsvertrag haben hineinschreiben lassen, wird nichtrealisiert. Das wurde herausgekegelt, genauso wie dasBildungssparen. Das Zukunftskonto „Bildung“ wurdegestrichen. „Wo hat sich die FDP in diesem Einzelplandurchgesetzt?“, frage ich mich.
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Klaus Hagemann
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– Das haben Sie verkündet, lieber Herr Kollege.Wo sind da Ihre Konzepte? Die Industrie fordert ver-stärkt entsprechende Konzepte. Ich habe in der Sommer-pause bei großen Betrieben – diese haben diesen Punktganz oben auf die Tagesordnung gesetzt – intensiv nach-gefragt und habe immer die Frage zu hören bekommen:Wo bleibt die steuerliche Forschungsförderung? –Hierzu fehlen Ihre Konzepte.Man hätte durchaus Geld bei Ihrem Lieblingsprojekt,Frau Ministerin, nämlich beim „Haus der Zukunft“, ein-sparen können. Hier stellen Sie allein für Baumaßnah-men 168 Millionen Euro zur Verfügung, und das für eineHalle, die man aufgrund der schwierigen Finanzsituationzurzeit nicht braucht. Dieses Geld hätte man eigentlichfür das BAföG einstellen sollen. Dann hätte man im ent-sprechenden Titel keine Kürzungen vornehmen müssen.Damit hätte man schon viel gewonnen.
Die Bürokratiekosten sind unter Schwarz-Gelb erheb-lich angestiegen. Diese Koalition war einst angetreten,die Bürokratiekosten zu senken. Wir beobachten abereine Steigerung von 88 Millionen Euro auf 168 Millio-nen Euro, also fast eine Verdoppelung. Hier zeigt sichder Einfluss eines Schattenministeriums in Gestalt derProjektträger.Frau Ministerin, Sie sind eine gute Verkäuferin undeine gute Ankündigungsministerin. Aber an der Umset-zung fehlt es. So wurde angekündigt, die Elektromobili-tät mit 1 Milliarde Euro zu fördern. Wie viel ist heraus-gekommen? – 650 Millionen Euro. Wie viel wurdeausgezahlt? – Bisher 54 Millionen Euro. Das ist alles,was umgesetzt wurde. Nun findet am 1. Oktober ein Kri-sengipfel bei der Bundeskanzlerin statt. Sie muss für einbisschen Ordnung in der Chaostruppe sorgen. Das istnotwendig. Ich hoffe, dass sich etwas tut.Ähnliches gilt für die Energie- bzw. die Photovoltaik-forschung. Immer wird mehr angekündigt, als umgesetztwird. Ankündigung und Realisierung klaffen weit ausei-nander.Ein Projekt möchte ich hier doch einmal erwähnen.Sie haben kürzlich mit zwei CDU-Ministerpräsidentenaus den neuen Bundesländern ein Forschungsprogrammfür den Aufbau Ost vorgestellt. Ich frage mich: Warumnur mit CDU-Ministerpräsidenten? Es gibt dort eineganze Reihe Große Koalitionen.
Sie haben ein Volumen von 500 Millionen Euro ange-kündigt. Ich habe einmal in den Haushaltsplan hineinge-schaut, weil mich das interessiert hat. Wissen Sie, wel-che Summe darin steht? Es sind 10 Millionen Euro fürdas Jahr 2013 vorgesehen. Große Ankündigung, kleineWirkung!
Weitere Beispiele sind zu nennen. Wo sind die ange-kündigten 1,2 Millionen Arbeitsplätze, die im Rahmender Hightech-Strategie entstehen sollten? Wann wird dieZahl der Schulabgänger, die die Hauptschule ohne Ab-schluss verlassen, halbiert? Da muss mehr geschehen.Das Ziel ist nicht voll realisiert worden. 2 MillionenMenschen haben leider keinen Berufsabschluss und kei-nen Hauptschulabschluss. Was wird dafür getan, dassdiese Menschen qualifiziert und ins Berufsleben einge-gliedert werden? Auch hier ist nichts geschehen. Das giltauch für das Projekt Berufsorientierung. Das haben wirin der Großen Koalition zusammen in die Welt gesetzt.Dies ist ein gutes Projekt, um Schüler schon in derHauptschule auf den Beruf vorzubereiten. Es wird sehrgut angenommen; aber leider sind zu wenig Mittel vor-gesehen, um alle Projekte finanzieren zu können. Statt-dessen fängt man ein neues Projekt mit dem Namen„Bildungsbündnisse“ an. Man verzettelt sich, anstatteine Maßnahme zu Ende zu führen.Ich nenne noch ein anderes Projekt: elektronische Be-werbungsverfahren für Studierende. Das ist dringendnotwendig. Was geschieht? Es gibt Gerüchte, es solle ge-cancelt werden. Bisher sind über Jahre hinweg 15 Mil-lionen Euro dafür zur Verfügung gestellt worden, abernichts ist geschehen.Ich möchte noch auf die mittelfristige Finanzplanungeingehen. Wir wissen, dass bis 2013 ausreichend Mittelzur Verfügung gestellt worden sind. Aber was bleibt vonder groß angekündigten Bildungsrepublik? Zwischen-zeitlich hört man den Ausdruck überhaupt nicht mehr,auch nicht mehr von der Bundeskanzlerin. Wie sind diegroßen Projekte, die wir zusammen entworfen haben,vorfinanziert? Das Projekt der Elektromobilität ist nichtausreichend finanziert, ebenso nicht die Energiefor-schung. 2016 läuft der Pakt für Forschung und Innova-tion aus. Die zweite Phase des Hochschulpakts geht bis2020. Hier ist noch eine Menge zu tun. Sie haben Mittelfür den Hochschulpakt vorgezogen; es wird nicht mehrGeld geben. Herr Hippler, Präsident der Hochschulrek-torenkonferenz, beispielsweise hat heftig kritisiert, dassnicht mehr Geld zusätzlich zur Verfügung gestellt wird.Hier müsste in der Planung entsprechend vorgesorgtwerden, aber das ist nicht ausreichend geschehen.
Deswegen werden wir erneut einen Antrag einbrin-gen. Diesen werden wir nicht nur dem Haushaltsaus-schuss, sondern auch dem Plenum vorlegen. Dann wer-den wir sehen, ob Sie ihn ablehnen. Unsere Vorschlägesind gegenfinanziert, beispielsweise durch einen höhe-ren Steuersatz.
Auch für die Länder sind Einnahmen vorgesehen. – HerrMeinhardt, warum wollen Sie nicht mehr für die Bildungtun? In der Zukunft müssen dafür genügend Mittel zurVerfügung stehen. Dies kommt doch auch denen, die viel
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Klaus Hagemann
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verdienen, zugute. Mein lieber Herr Meinhardt, verges-sen Sie nicht, dass man auch die heranziehen muss.
Wir wollen mehr Mittel für die Kleinkinderbetreuung.Sie haben Mittel für Krippen jahrelang abgelehnt. Esfreut mich, dass Sie, Frau Ministerin, es jetzt für gut hal-ten, dass wir die Zukunft sichern. Ich nenne als weiteresProjekt das Ganztagsschulprogramm. Die Eltern wün-schen – das hat dieser Tage eine Umfrage deutlich ge-macht – mehr Mittel zum Ausbau der Ganztagsschule.Was haben wir miteinander gekämpft, damit dieses Pro-gramm zustande kam! Hierfür müssen mehr Mittel zurVerfügung gestellt werden.Ich denke weiterhin an den Bereich der Studierenden;dazu habe ich Beispiele genannt.
Kollege Hagemann.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
All das wird in den Antrag aufgenommen, und es
werden Finanzierungsvorschläge gemacht. Das betrifft
nicht nur den Einzelplan 30, sondern alle Bereiche, die
mit Bildung zu tun haben; denn uns liegt die Bildungsre-
publik wirklich am Herzen.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Heinz-Peter Haustein für
die FDP-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! „Geld ist rund und rollt weg. Bil-dung bleibt.“ Dieser Satz stammt von Heinrich Heineaus dem Jahr 1830 und hat auch heute volle Bedeutung –außer im Hinblick auf Papiergeld; das fliegt halt weg.Diese Regierung hat erkannt, dass in Forschung und Bil-dung der Schwerpunkt gesetzt werden muss. So verwun-dert mich schon, lieber Klaus Hagemann, was hier anZahlen, Daten, Fakten verdreht wird. Es ist einfach er-staunlich, dass jemand, der diesen Haushalt anschaut,sagt, diese Regierung tue in diesem Bereich zu wenig.Es ist ganz gut, auch einmal zurückzuschauen. 1998hat Rot-Grün mit 7,6 Milliarden Euro in diesem Bereichbegonnen.
Es hat in sieben Jahren einen Aufwuchs von 908 Millio-nen Euro – das sind durchschnittlich 1,7 Prozent Auf-wuchs pro Jahr – nicht geschafft.
Das ist der Unterschied zwischen Rot-Grün und einerchristlich-liberalen Regierung. Wir haben in den vergan-genen drei Jahren insgesamt 12 Milliarden Euro inves-tiert, und im Haushalt bildet sich ein Anstieg von10,2 Milliarden Euro auf 13,7 Milliarden Euro ab.811 Millionen Euro werden in diesem Jahr mehr für For-schung und Bildung zur Verfügung gestellt, und das istauch richtig so. Denn bei der gesamten Euro-Krise ver-gisst man manchmal die anderen Herausforderungen, dieunsere Gesellschaft zu bewältigen hat.Wir hatten heute einen traurigen Anlass: Unser lieberFreund, Kollege und auch Fußballspieler JürgenHerrmann ist verstorben. Wie schön wäre es, wir schaff-ten es durch Forschung, eine Impfung gegen Herzinfarktoder gegen Krebs zu entwickeln. Wir müssen forschen.Oder denkt ihr, wir bekommen die Energiewende oderdie Elektromobilität ohne Forschung in dem BereichEnergiespeicher zustande?Als Haushälter – man ist ja praktisch der Controllerder Regierung – möchte ich noch ein paar Zahlen nen-nen. Wir geben in dem Bereich „Leistungsfähigkeit desBildungswesens, Nachwuchsförderung“ 3,25 Milliar-den Euro aus. Davon entfallen auf den Studenten- undWissenschaftleraustausch 135 Millionen Euro. Die Be-gabtenförderung erhält 295 Millionen Euro. Das bedeu-tet ein Plus von 11,7 Prozent. Die Zuschüsse an Begab-tenförderungswerke umfassen 198 Millionen Euro. Dasbedeutet ein Plus von 12,5 Prozent. In Maßnahmen zurVerbesserung der Berufsorientierung fließen 65 Millio-nen Euro.Schauen wir in den nächsten großen Ausgabenblock,in Kap. 3003: Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschafts-und Innovationssystems. Dort stehen sage und schreibe5,64 Milliarden Euro zur Verfügung. Das bedeutet einPlus von 16,9 Prozent. Ich möchte in diesem Zusammen-hang den Hochschulpakt nennen; er ist bis 2020 konzi-piert. Für ihn werden 2,17 Milliarden Euro bereitgestellt.Das entspricht einem Plus von 48,7 Prozent. Das kannsich wohl sehen lassen.
– Danke schön. – Auch der Qualitätspakt Lehre – wirbrauchen Facharbeiter, wir brauchen Handwerker – er-hält 200 Millionen Euro. Das bedeutet ein Plus von14 Prozent. In die Weiterentwicklung des Bologna-Pro-zesses fließen 48,5 Millionen Euro. Das entspricht ei-nem Plus von 11,7 Prozent.Schauen wir auf den nächsten großen Ausgabeblock:Forschung für Innovationen, Hightech-Strategie. Hierfürwerden 4,99 Milliarden Euro bereitgestellt. Das sind3,11 Prozent mehr. Darin enthalten ist Forschung aufdem Gebiet Klima, Energie und Umwelt. Hierfür stehen458 Millionen Euro zur Verfügung. Das bedeutet ein
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22917
Heinz-Peter Haustein
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Plus von rund 10 Prozent. Erwähnen möchte ich auchden Titel „Klimaforschung und Lebensraum Erde“ so-wie den Bereich der Energie. Der Haushalt sieht dafüretwa 93 Millionen Euro vor.Sie sehen also, liebe Freunde: Diese Regierung ist derGarant dafür, dass Bildung und Forschung als Grundlageunseres Wohlstandes forciert werden, dass es in diesemLand aufwärtsgeht.Ich möchte schließen mit einem Satz von BenjaminFranklin: „Eine Investition in Wissen bringt noch immerdie besten Zinsen.“
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erz-gebirge!
Der Kollege Michael Leutert hat nun für die Fraktion
Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Kollege Hagemann hat hier schon zu Recht einengroßen Rundumschlag gemacht. Ich möchte mich auf ei-nen eher kleinen, aber meines Erachtens sehr wichtigenBereich beschränken, einen Bereich, in dem einigesnicht so ist, wie es von Ihnen in der Öffentlichkeit darzu-stellen versucht wird. Mir geht es um das Forschungs-programm für zivile Sicherheit, welches bekanntlich einSchwerpunkt der Hightech-Strategie ist.Ich bin etwas ratlos in der Frage, was Sie und IhrHaus unter „zivile Sicherheitsforschung“ verstehen. Indem Programm trifft man nämlich immer wieder aufnamhafte Rüstungskonzerne und auch Bundeswehrein-richtungen. Um es kurz zu machen: Für uns ist ganz klar:Rüstungsfirmen und Bundeswehreinrichtungen haben inIhrem Haushalt nichts zu suchen.
Militärische Forschung gehört nicht in den Haushalt desBildungs- und Forschungsministeriums; dafür gibt esdas Verteidigungsministerium, und dort gehört sie auchhin. Im Übrigen wird solche Forschung nicht ziviler,wenn man sie in einem Programm versteckt, welchessich „zivil“ nennt.Damit wir uns hier nicht falsch verstehen: Ich denke,es gibt niemanden hier im Hause, der die Forschung zurzivilen Sicherheit ernsthaft ablehnt. Es ist sinnvoll, da-rüber nachzudenken, wie Menschen und Güter vor Na-turkatastrophen geschützt werden können. Es ist ebensosinnvoll, darüber nachzudenken, wie man Gefahren,zum Beispiel Massenpanik, eindämmen oder vielleichtauch verhindern kann. Ich glaube, dass sich jeder da-rüber im Klaren ist, dass sich Forschungsergebnisse fastimmer sowohl für zivile als auch für militärische Interes-sen verwenden lassen – das ist nun einmal so –; dieFrage ist jedoch, wie man damit umgeht und in welcheRichtung man steuert.In Ihrem Haus, Frau Schavan, ist die Richtung ganzklar, zumindest in diesem Bereich. Am 4. Juli 2006 ha-ben Sie in Karlsruhe eine programmatische Rede zur zi-vilen Sicherheitsforschung gehalten. Darin haben Sieganz eindeutig gesagt – ich zitiere –:Die Sicherheitsforschung profitiert von der Wehr-forschung. … Umgekehrt wissen wir auch, dassheute nicht mehr die wehrtechnische, sondern diezivile Forschung führend bei der Erschließungneuer Technologie ist. Ein Wissenstransfer alleinvon der Wehrtechnik in die Sicherheitstechnikmacht daher keinen Sinn.Diesen Worten folgten dann natürlich auch Taten. ImJanuar 2007 wurde das Forschungsprogramm für die zi-vile Sicherheit beschlossen, und Anfang dieses Jahreswurde es bis zum Jahr 2017 verlängert. Das kostet denSteuerzahler jährlich 57 Millionen Euro.Schaut man sich an, wer die Finanzmittel bekommt,findet man unter anderem die Rüstungssparten vonEADS, Rheinmetall oder Diehl. Wie ich schon sagte:Dies alles sind bekannte Größen der Rüstungsindustrie.Daneben sind noch Einrichtungen der Bundeswehr zufinden, zum Beispiel das Wehrwissenschaftliche Institut.An einem Beispiel möchte ich das kurz verdeutlichen.Für die Erforschung besserer Schutzkleidung für Ret-tungs- und Sicherheitskräfte werden circa 8 MillionenEuro zur Verfügung gestellt. Dabei geht es darum, dassdie Anzüge Extremsituationen standhalten, zum Beispielgroßer Hitze, aber trotz dieser Beanspruchung einen ho-hen Tragekomfort und eine lange Lebensdauer haben.Ziel ist unter anderem, dass Sensoren in die Kleidung in-tegriert werden, die eine Ortsbestimmung der Person zu-lassen oder auch medizinische Parameter übermittelnkönnen.Das alles sind sicherlich sinnvolle Sachen, wenn manan die Feuerwehr und das Technische Hilfswerk denkt.Aber warum, wenn es rein zivile Forschung ist, bekom-men aus diesem Topf ausgerechnet die Bundeswehr-Universität in Hamburg knapp eine halbe Million Euround das Wehrwissenschaftliche Institut für Schutztech-nologien knapp 200 000 Euro für Grundlagenforschunggenau in diesem Bereich?
Weil natürlich auch die Bundeswehr an den Erkenntnis-sen zu neuer Schutzkleidung interessiert ist. Das ist völ-lig verständlich. Allerdings, Frau Ministerin, ist das be-wusste Förderung im militärischen Interessenbereichund bewusste Förderung des Transfers von Forschungs-ergebnissen in den militärischen Anwendungsbereich.Genau das aber ist nicht die Aufgabe des Bundesministe-riums für Bildung und Forschung.
Da nützt es, wie gesagt, auch nichts, das als „zivil“ zudeklarieren.
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Michael Leutert
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Wenn es Forschung zur zivilen Sicherheit geben soll,liebe Kolleginnen und Kollegen, dann dürfen wederBundeswehreinrichtungen noch Rüstungskonzerne da-von profitieren. Das muss ein wichtiges Kriterium für zi-vile Sicherheitsforschung sein.Die Rüstungskonzerne, die bis jetzt Gelder bekom-men haben, müssen auch ihre Verwertungspläne veröf-fentlichen. Es nützt überhaupt nichts, wenn das Ministe-rium diese Verwertungspläne kennt. Wenn es zivileForschung ist, dann kann es auch kein Geheimnis sein,was mit den Forschungsergebnissen später noch passiert.Bis jetzt allerdings weigern sich die Firmen, zu sagen,was sie mit den Erkenntnissen später noch anfangenwollen.Die Linke hat im Juni dieses Jahres einen Antrag zudiesem Thema eingebracht. Darin fordern wir unter an-derem Zivilklauseln für die Universitäten und Hoch-schulen, weil sie in diese Forschung mit eingebundensind. Was wir derzeit sofort brauchen, ist eine Zivilklau-sel für das Bundesministerium für Bildung und For-schung. Dies werden wir auch beantragen.
Frau Ministerin, Sie haben vorhin über unser Bil-dungssystem gesprochen. Wenn Sie sprechen, habe ichimmer das Gefühl: Wir leben in unterschiedlichen Wel-ten.
– Das sollten Sie einmal mit den Bürgerinnen und Bür-gern abklären. Dann wüssten wir nämlich, wer in derrichtigen Welt lebt. – Ich kann Ihnen nur sagen: Wennunsere Schulen und Universitäten annähernd so gut or-ganisiert wären wie dieses quasimilitärische Forschungs-programm, wenn Ihr Haus vom Prinzip her die Aufga-ben machen würde, die es eigentlich hat, dann würdeunser Bildungssystem besser dastehen und dann wärendie Schülerinnen und Schüler sowie die Eltern in unse-rem Land wesentlich zufriedener.Danke.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Kai Gehring das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem 12-Milliarden-Programm sind in den letztenJahren tatsächlich viele zusätzliche Bundesgelder in denEinzelplan 30 geflossen. Die Koalition nutzt aber auch2013 die gute konjunkturelle Lage nicht, um bei Bildungund Forschung auf Zukunft umzusteuern. Bildungsmil-liarden helfen wenig, wenn sie in völlig falsche Prioritä-ten fließen wie das bildungsfeindliche Betreuungsgeldoder die Nuklearforschung, mit der Sie die Energie-wende quasi konterkarieren. Das sind schwarz-gelbeSackgassen.
Die zusätzlichen Mittel drohen zudem zu verpuffen,weil es keine Nachhaltigkeit in der Finanzierung gibt.Laut Ihrer Finanzplanung endet der Mittelaufwuchs ab-rupt im Wahljahr 2013. 2014, 2015 und 2016 sind Kür-zungen zwischen 170 und 235 Millionen Euro vorgese-hen, und das bei strukturellen Kostensteigerungen undeiner globalen Minderausgabe, die bis 2016 auf 300 Mil-lionen Euro ansteigt. Hier agiert ganz offensichtlich eineBundesbildungsministerin, die sich für die Finanzierungder nächsten Legislaturperiode nicht interessiert undauch nicht mehr verantwortlich fühlt.
Der schwarz-gelbe Bildungshaushalt gibt auf zweizentrale Herausforderungen keine Antwort:Erstens. Er gibt keine Antwort auf die nach wie voreklatante Bildungsarmut. Schwarz-Gelb ist zu einerPolitik für Chancengleichheit nicht in der Lage.Zweitens. Er gibt keine Antwort auf den verschärftenFachkräftemangel. Schwarz-Gelb sorgt gegen diese dro-hende Innovations- und Wachstumsbremse Nummer einsnicht vor.Fakt ist: Die Zahl der Bildungsgewinner steigt, dieZahl der Bildungsverlierer bleibt aber konstant. Wir ha-ben mehr Studierende. Die OECD spricht heute vonmoderaten Fortschritten. Das ist erfreulich. Die Studier-bereitschaft junger Menschen mit Hochschulreife ausbildungsfernen Schichten ist aber deutlich gesunken, wieeine Studie von gestern besagt. Das muss uns allen sehrzu denken geben. Auch weitere Zahlen, die der 7,5 Mil-lionen funktionalen Analphabeten, der jährlich Zehntau-senden Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher sowieder 1,5 Millionen jungen Erwachsenen ohne Berufsab-schluss, sinken kaum bis gar nicht. Das ist skandalös undbeschämend.
Damit bleibt unser Bildungssystem sozial tief gespalten.Eine solche Diagnose müsste einer Bundesbildungsmi-nisterin eigentlich schlaflose Nächte bereiten. Sie mussin ihrer Politik gegen diese Spaltung vorgehen. Herkunftdarf nicht länger über Zukunft entscheiden.
Was Ihnen fehlt, Frau Schavan, ist eine bildungspoli-tische Vision. Unsere grüne Vision ist, dass Deutschlandzum Bildungsaufsteigerland wird, zu einem Land, dasniemanden zurücklässt, sondern alle ermutigt und indivi-duell fördert, einem Land, das eine neue Bildungsexpan-
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Kai Gehring
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sion anpackt, die Teilhabe für alle ermöglicht, statt Jahrfür Jahr Bildungsverlierer zu produzieren. Nur wenn esgelingt, Bildungsblockaden wegzuräumen und das Auf-stiegsversprechen nicht nur zu erneuern, sondern aucheinzulösen, kann eine Bildungsrepublik entstehen.Die Botschaft an Kinder, Jugendliche und Erwach-sene gerade aus Arbeitslosen- und Arbeiterfamilien – obmit oder ohne Einwanderungsgeschichte, mit oder ohneHandicap – muss sein: Ihr alle werdet wertgeschätzt, ihrwerdet gebraucht. Wir in der Politik garantieren euchgleiche Rechte. – Aber dazu ist Schwarz-Gelb nicht inder Lage.
Eine echte Bildungsrepublik braucht zudem eine Ver-antwortungspartnerschaft von Bund, Ländern und Ge-meinden für eine bessere Bildung und Wissenschaft.Wer es nicht wagt, das Kooperationsverbot in der Bil-dung zu überwinden, ist als Bundesbildungsministeringescheitert.
Ohne die Bildungsbremse Kooperationsverbot wäre derWeg frei für gesamtstaatliche Kooperation, zum Beispielfür ein dringend benötigtes neues Ganztagsschulpro-gramm und die Verwirklichung inklusiver Bildung ge-mäß der UN-Behindertenrechtskonvention vor Ort. Waswir dagegen nicht benötigen, ist ein Bürokratiemons-trum wie das Bildungs- und Teilhabepaket, das zwar gutgemeint, aber schlecht gemacht ist und an vielen bedürf-tigen Jugendlichen vorbeigeht.
Frau Schavan, Sie müssen endlich mehr Kooperationwagen. Noch immer warten wir auf Ihre Einladung zueinem Reformkonvent, um endlich über eine Grundge-setzänderung zu verhandeln
und einen Konsens im Bildungs- und Wissenschaftsbe-reich zu erzielen. Die Signale aus dem Bundesrat stim-men hoffnungsvoll. CDU/CSU und FDP im Bundestagmüssen sich bewegen; denn – um Sie als Ministerin zuzitieren – Kindeswohl muss vor Kooperationsverbot ge-hen.
Auch unsere Hochschulen und Studienberechtigtenbrauchen eine Verantwortungspartnerschaft. Doch wäh-rend die Bundesregierung über Fachkräftemangel la-mentiert, hat sie keine verlässliche Vorsorge getroffen,um die Mittel für den Hochschulpakt deutlich aufzusto-cken und den dringenden Studienplatzausbau auszu-finanzieren.
Ganz im Gegenteil ziehen Sie stattdessen Gelder vor, diefür 2015 und für 2016 vorgesehen waren. Mit solchenManövern für das Wahljahr 2013 nach dem Motto „Wasgehen mich die künftigen Studierenden und Regierendenan?“ riskieren Sie die Bildungschancen künftiger Stu-dienberechtigter.
Ich komme zum BAföG. Für das BAföG – als wich-tigstes Studienfinanzierungsinstrument für den Bildungs-aufstieg – setzt Schwarz-Gelb die Haushaltsmittel um258 Millionen Euro geringer an. Mit fragwürdigen Pro-gnosen wird die Empfängerzahl kleingerechnet. Einernotwendigen BAföG-Erhöhung hat Frau Schavan mitdiesem Haushalt ganz offensichtlich endgültig eine Ab-sage erteilt. Das halten wir Grünen für falsch.
Die Koalition klammert sich lieber an ihr Prestigepro-jekt „Deutschlandstipendium“, das nur 0,25 Prozent al-ler Studierenden erreicht. Gemessen an eigenen Ankün-digungen ist Ihr Stipendienprogramm ein fulminanterFlop und Symbol Ihrer verfehlten Hochschulpolitik.
Wir fordern, beim BAföG die Fördersätze für Studie-rende und die Freibeträge für die Eltern um je 5 Prozentanzuheben. Mittelfristig wollen wir ein Zwei-Säulen-Modell einführen – mit einem Sockel für alle und einemBedarfszuschuss für Bedürftige. So sieht eine gerechte,moderne, zielgerichtete Studienfinanzierung aus.
Der Kampf gegen Bildungsbenachteiligung und Fach-kräftemangel ist auch in der beruflichen Bildung das Ge-bot der Stunde. Aber nach dem Motto „Mangel ver-walten statt Lösungen gestalten“ hat die Koalition denÜbergangssektor und den Maßnahmendschungel nichtreformiert. Die Folge: Rund 300 000 Jugendliche drehenweiterhin Warteschleifen, statt endlich echte Perspekti-ven zu bekommen. Schwarz-gelbe Ausbildungspolitik inden letzten drei Jahren glänzt durch Nichtstun. Das musssich ändern.
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Kai Gehring
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Dramatisches hören wir im Zusammenhang mit derZusammenarbeit in Europa über die europäischen So-zialfonds. Die Bundesregierung muss sich aktiv dafüreinsetzen, dass die Mittel europäischer Solidarität nichtwie geplant zusammengestrichen werden.
Die jetzigen ESF-Kürzungspläne würden zum Beispieldazu führen, dass Griechenland 40 Prozent der Solidar-mittel zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ver-liert. Das wäre absolut kontraproduktiv. Dem muss sichdie Bundesregierung in Brüssel klar entgegenstemmen.
Im Wissenschaftsbereich hat Ministerin Schavan dieArbeit bereits eingestellt. Zur Überwindung überkom-mener Personalstrukturen an Hochschulen und unsiche-rer Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchsgibt es null Konzepte und im Haushalt keine Ansätze.Wir haben einen Pakt für wissenschaftlichen Nachwuchsvorgeschlagen; auf Ihre Vorschläge bezüglich einesneuen Juniorprofessurenprogramms, das ausfinanziertist, warten wir vergeblich. Legen Sie endlich etwas vor,um Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchszu eröffnen!
Zur Gleichstellung von Frauen in der Wissenschaftreicht es nicht aus, das Professorinnenprogramm fortzu-führen. Vielmehr bedarf es neuer Impulse wie des Kas-kadenmodells. Das haben die Anhörungen ganz deutlichergeben. Packen Sie es endlich an. Die Oppositionwürde Ihnen applaudieren.
Forschungsprogramme sollten auf große Herausforde-rungen und auf Zukunft ausgerichtet sein. Nachhaltigkeit,Energiewende, Dienstleistungsgesellschaft, Digitalisie-rung: Die dauernde Erwähnung dieser vier Zukunftsthe-men durch die Regierung erweist sich mit Blick auf denHaushalt als reine Nebelkerze. Entweder werden ent-sprechende Forschungstitel gekürzt, oder es gibt sie erstgar nicht. Abermillionen für die völlig rückwärtsge-wandte Nuklearforschung, Kürzungen bei der Umwelt-technologie: Das ist unverantwortliche Politik für Dino-saurier und von Dinosauriern, aber eben nicht für dieZukunftsgestaltung in unserem Land. Ein Umbau zu ei-ner zukunftsfähigen Green Economy wird mit ihren For-schungsschwerpunkten jedenfalls nicht gelingen.
In ihrem Koalitionsvertrag hatten Union und FDP diesteuerliche Forschungsförderung versprochen; die Bun-desregierung hat sie beerdigt. Dabei wäre sie machbarund finanzierbar, wenn sie auf kleine und mittlere Unter-nehmen konzentriert wird, also auf jene, die die bishe-rige Projektförderung kaum erreicht und die erheblicheInnovationspotenziale aufweisen. Wir haben hierzu Vor-schläge gemacht; Sie haben nichts geliefert.Auch bei der Weiterbildung bleiben Sie ohne Initia-tive. Im Sommer 2010 gab es noch einen Wettstreit zwi-schen dem damaligen Wirtschaftsminister Brüderle undden Ministerinnen Schavan und von der Leyen um dasAnkündigen von Maßnahmen. Nichts Sinnvolles ist seit-dem passiert. Der Kreis der Empfänger der Bildungs-prämie wurde verkleinert, das Meister-BAföG nicht wei-terentwickelt, die Bildungsberatung nicht gestärkt. Sodeckeln Sie letztlich die Weiterbildungsbeteiligung vonFrauen, Geringqualifizierten und Migranten. Das kannso nicht weitergehen. Wenn man Bildungsaufstieg undlebenslanges Lernen ernst nimmt, dann muss mangerade bei diesen Gruppen ansetzen, auch um dem Fach-kräftemangel entgegenzutreten. Wir haben ein Erwach-senen-BAföG vorgeschlagen; Sie haben bei der Weiter-bildung nichts geliefert.
Diese Regierung hinterlässt viele bildungspolitischeBaustellen, ist als Kooperationspartner nicht glaubwür-dig und hat die Zukunftsgestaltung offenkundig schoneingestellt. Wir appellieren an Sie: Erfüllen Sie weiterIhren Amtseid, nutzen Sie Ihr letztes schwarz-gelbes Re-gierungsjahr zum Handeln,
für mehr Bildungsgerechtigkeit und gegen Fachkräfte-mangel.Vielen Dank.
Der Kollege Albert Rupprecht hat für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Wir diskutieren heute nicht im luftlee-ren Raum, sondern im Jahr 2012, in einer Zeit, in der wirauf der einen Seite erleben, wie Länder um uns herum inArbeitslosigkeit und Verschuldung versinken, und aufder anderen Seite, dass Deutschland die niedrigste Ar-beitslosigkeit seit 20 Jahren hat, es mehr Lehrstellen alsBewerber gibt und das Land so stark dasteht wie seltenzuvor.
Das alles fällt ja nicht vom Himmel, sondern ist poli-tisch erarbeitet, ist erarbeitet von fleißigen Menschen indiesem Lande. Natürlich gibt es viele Ursachen für diesepositive Entwicklung in Deutschland. Aber es ist docheine Selbstverständlichkeit, dass die Innovationskraft,der Forschergeist und die Entwicklungskraft, die wir inunserem Lande haben, zu den wesentlichen, zentralenUrsachen zählen. Auch das fällt nicht vom Himmel, son-
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Albert Rupprecht
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dern ist politisch erkämpft, erarbeitet; es ist das Ergebniseiner klaren, stringenten Prioritätensetzung.Ich sage das an dieser Stelle auch mit einem ganzenStück Stolz. Denn ich kann mich gut daran erinnern,dass Sie, Herr Kollege Rossmann, in einer Debatte zuBeginn der Legislatur, als wir sagten, wir würden in die-ser Legislatur 12 Milliarden Euro mehr in Forschungund Bildung investieren, zu Recht erwidert haben: Ichhöre es gerne, nur mir fehlt der Glaube daran. – Wir erle-ben heute, da wir hier den Haushaltsentwurf für 2013,den letzten Haushalt in dieser Legislatur, einbringen,dass wir Wort gehalten haben: Wir werden nicht nur denBetrag von 12 Milliarden Euro erreichen, sondern diesenBetrag sogar noch toppen. Sehr geehrte Damen und Her-ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir, die beidenFraktionen, die die Regierung tragen, haben Wort gehal-ten.
Die Entwicklung des Haushalts des Bundesministe-riums für Bildung und Forschung ist in der Tat eine Ent-wicklung der Superlative. Seit Beginn der Amtszeit vonKanzlerin Merkel im Jahr 2005 gab es eine dramatischpositive Steigerung der Mittel des Forschungs- und Bil-dungshaushalts um sage und schreibe 82 Prozent.
Kollege Rupprecht, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Alpers?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Rupprecht, es
ist immer wieder erstaunlich. Ich freue mich jedes Mal,
wenn Sie sagen: Wir haben im Bereich Ausbildung
deutschlandweit weniger Bewerber und Bewerberinnen
als Plätze.
Es gibt 7,4 Millionen Menschen bis 35 Jahre, die sich in
prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden. Wir beide
wissen doch, dass es über 2,2 Millionen junge Menschen
gibt, denen wir sofort einen Ausbildungsplatz geben
müssten, um Perspektiven für die Zukunft zu schaffen.
Wir wissen beide, dass in der BA-Statistik über
100 000 Menschen als vermittelt ausgewiesen sind, ob-
wohl diese nicht vermittelt wurden, sondern lediglich
der Verbleib nicht geklärt ist. Wir wissen beide, dass sich
2010 über 300 000 junge Menschen im Übergangssys-
tem befanden. Diese Zahl sinkt allerdings, was mich ge-
nauso freut wie Sie. Millionen von Menschen haben
keine Ausbildung. Erklären Sie mir bitte, warum all
diese Millionen von Menschen plötzlich kein Interesse
mehr an einer Ausbildung haben. Ihre Behauptung, dass
wir mehr Stellen als Bewerber haben, ist sachlich falsch.
Liebe Kollegin, diese Aussage ist statistisch korrekt.Ich gestehe durchaus zu, dass wir noch mit Problemenaus der Vergangenheit zu tun haben. Es ist richtig, dasssich Jugendliche noch in Warteschleifen befinden, aberwir erleben einen dramatisch positiven Wandel. Die Si-tuation hat sich im Vergleich zu vor fünf oder zehn Jah-ren substanziell und fundamental verändert. Das ist dasErgebnis auch unserer Arbeit.
Gegenüber dem Jahr 2005 haben wir einen Anstiegvon 82 Prozent zu verzeichnen. Im internationalen Ver-gleich gibt es kein anderes westliches Industrieland, dasVergleichbares vorweisen kann. Die Ausnahme bildetder asiatische Raum, wo wir ähnliche Dynamiken zuverzeichnen haben. Auch das Budget des Einzelplans 30des Jahres 2013 wächst um rund 6 Prozent auf 13,7 Milliar-den Euro an, und das, obwohl der Gesamthaushalt einSparhaushalt ist, weil wir aufgrund der richtigerweisebeschlossenen Schuldenbremse insgesamt sparen müs-sen.Die Erfolge sind messbar. Wir stellen fest, dass wir iminternationalen Vergleich bei wichtigen Indikatoren, bei-spielsweise bei den Patenten, zulegen. Es freut mich– und das kann uns alle ein Stück weit stolz machen –,dass wir inzwischen doppelt so viele marktrelevante Pa-tente pro Einwohner haben als die USA. Ein anderesBeispiel: Die Zahl der Beschäftigten, die im BereichForschung und Entwicklung in Deutschland tätig sind,ist inzwischen erstmals auf über eine halbe Million ge-stiegen; das sind 72 000 Beschäftigte mehr als 2005. Dasist ein Riesenerfolg.
Auch im Hochschulbereich erleben wir eine Bildungs-expansion sondergleichen. Wir hatten 2005 1,9 MillionenStudierende. Heute, im Jahr 2012, haben wir 2,4 Millio-nen Studierende, das heißt, eine halbe Million mehr als2005 oder, anders berechnet, einen Zuwachs in Höhevon 26 Prozent in sieben Jahren. Auch das ist eineenorme Entwicklung.Natürlich gibt es bei derartigen Zuwächsen auch Rei-bungen, das ist doch vollkommen klar, aber nichtsdesto-trotz ist das Horrorbild, das die Linken hier zuweilenmalen – es gäbe nur miese Studienbedingungen und pre-käre Beschäftigungsverhältnisse –, schlichtweg ein Zerr-bild. Die Wahrheit ist eine ganz andere. Die Wahrheit ist,dass die Gemeinschaft der Steuerzahler in Deutschlandes immer mehr jungen Menschen in Deutschland ermög-licht, eine sehr gute Hochschulausbildung zu bekom-men. Diese Bildungsexpansion ist ein großartiges Ge-schenk an die jungen Menschen in unserem Land.
Diese Expansion, wenngleich sie überwiegend im Zu-ständigkeitsbereich der Länder liegt, wurde vonseitendes Bundes mit massivem Mitteleinsatz unterstützt. Wirgeben für den Bereich Hochschulen und Studierende,obwohl wir nach der Verfassung für viele Bereiche garnicht zuständig sind, 2013 mehr als 3,8 Milliarden Euro
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Albert Rupprecht
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aus. Das heißt, fast 30 Prozent des gesamten Budgets,das uns auf Bundesebene zur Verfügung steht, geben wirfür die Bereiche Hochschulpakt, Hochschulbau, Quali-tätspakt Lehre und natürlich auch BAföG und Stipendienaus, obwohl wir für sie nicht originär zuständig sind.Herr Hagemann, um es noch einmal klarzustellen:Die Aussage, wir würden das BAföG reduzieren, istvollkommener Unsinn. Sie wissen das.
Es gibt einen Rechtsanspruch. Jede Studentin und jederStudent hat diesen Anspruch. Die Tatsache, dass wir imHaushalt weniger eingestellt haben, ist ausschließlichdarin begründet, dass die Zinsen niedrig sind und deswe-gen Geld zur Verfügung steht.
Was machen wir mit den freien Mitteln? Die freienMittel kommen sehr wohl den Studierenden zugute, in-dem wir sie im Hochschulpakt mit einstellen. Also:Geld, das frei wird, wird den Studierenden zur Verfü-gung gestellt. Wenn wir niedrige Zinsen haben, dannsind wir doch alle froh darüber.
Sie verunsichern die jungen Menschen in diesemLand. Das ist inakzeptabel, Herr Hagemann. Ihre Kam-pagnen sind jedes Mal wieder Rohrkrepierer. Sie be-haupten, der Mittelabfluss funktioniere nicht. Wir habeneinen Mittelabfluss in Höhe von 99,4 Prozent. Es ist derbeste, den wir im Bundeshaushalt überhaupt haben. Siekündigen Kampagnen an und veröffentlichen sie. AmEnde sind sie schlichtweg ohne Substanz.
Auch im Bereich der Forschung an Hochschulen ha-ben wir massiv Gas gegeben.
Herr Rupprecht, gestatten Sie eine weitere Frage der
Kollegin Sager?
Ja, gerne.
Herr Kollege Rupprecht, ich möchte noch einmal auf
Ihre Ausführungen über die Entwicklung des BAföG zu-
rückkommen. Würden Sie mir in folgender Betrachtung
recht geben und, wenn nein, warum nicht: Bei den Tarif-
verhandlungen werden die reale Kostenentwicklung und
die reale Inflationsentwicklung berücksichtigt, das heißt,
sie werden als Steigerung in die Gehälter und Löhne ein-
gepreist, natürlich auch in die der Eltern von studieren-
den Kindern. Diese Einkommensentwicklung führt aber
nicht dazu, dass die Politik die Einkommensgrenze für
das Beziehen von BAföG erhöht; sie bleibt konstant.
Studierende aus Elternhäusern mit relativ bescheidenem
Einkommen verlieren daher zunehmend die Chance auf
das Beziehen von BAföG. Das Nichtanpassen der Ein-
kommensgrenzen führt dann dazu, dass sich die Chan-
cen auf das Beziehen von BAföG für Kinder aus diesen
Elternhäusern verschlechtern. Die Politik hält sich hier
zwar an Gesetze, das BAföG wird aber zunehmend zu
einer Sparmaßnahme.
Liebe Kollegin Sager, ich stimme Ihnen in der Sachezu.
Nur, wir haben politisch etwas anderes beschlossen. Ichsage Ihnen einmal etwas aus dem Innenverhältnis. Beider letzten BAföG-Erhöhung gab es als Grundlage – ichfinde zu Recht – einen objektiven Bericht. Dieser Be-richt hat genau ermittelt, wie die Preise und die Einkom-men in dieser Zeit gestiegen sind. Es ist vollkommenklar, dass die Studierenden an der Steigerung der Infla-tionsrate, der Preisentwicklung und der Einkommensent-wicklung entsprechend partizipieren sollen. Die Erhö-hung des BAföG ging über den durch den Berichtermittelten Preissteigerungs- und Einkommenssteige-rungsprozentsatz hinaus. Im Innenverhältnis gab es so-gar die Diskussion, ob wir die Dimension brauchen.Ministerin Schavan wollte diese unbedingt. Ich sage Ih-nen ehrlich: Man sollte sich die Preissteigerung und dieEinkommensentwicklung genau anschauen und solltedas BAföG exakt gleich erhöhen. Ministerin Schavanwollte – nicht unbedingt zu meiner Freude – unbedingtmehr drauflegen. Das heißt, ich stimme Ihnen zu. Wirhaben die Anpassung gemacht. Wir haben sie überpro-portional gemacht.
Deswegen geht es den Studierenden während unsererRegierungszeit besser als unter Rot-Grün.
Bei der Hochschulforschung gibt es eine absolut er-freuliche Entwicklung. Der DFG beispielsweise, eine in-ternational anerkannte und sehr geschätzte Institution,haben wir einen Aufwuchs in Höhe von 5 Prozent zuge-sagt. Die bekommt sie auch. Wir sind verlässlich. Sie er-hält erstmals seit ihrem Bestehen mehr als 1 MilliardeEuro vom Bund.Noch nie in der Geschichte Deutschlands gab es mehrStudienanfänger, mehr Studierende, mehr Erstabsolven-ten, mehr Promovierende, mehr Beschäftigte und mehrProfessoren als heute. Das ist die Wahrheit – von wegenwir tun nichts für die Hochschulen.Zentral für die Weiterentwicklung der Hochschulen ist,dass die Pakte auf verlässliche solide und langfristigeGrundlagen gelegt werden. Entscheidend ist auch, dassuniversitäres und außeruniversitäres Forschen stärker ver-zahnt werden. Deswegen brauchen wir die Änderung desArt. 91 b des Grundgesetzes. Alle relevanten Akteure inder Wissenschaftscommunity – Hochschulen, HRK, au-ßeruniversitäre Forschungseinrichtungen, Wissenschafts-
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Albert Rupprecht
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rat – wollen diese Änderungen und unterstützen uns. NurSPD, Grüne und Linke wollen sie verhindern. Sie ver-hindern damit die wichtigste Weiterentwicklung desdeutschen Wissenschaftssystems, sehr geehrte Damenund Herren der Opposition.
Lassen Sie mich angesichts der Zeit nur noch einigewenige Punkte ansprechen. Ich möchte kurz auf den Kri-tikpunkt „mittelfristige Finanzplanung“ eingehen. Um eseinmal klarzustellen: Mich als Parlamentarier, als freigewählten Abgeordneten im Deutschen Bundestag, inte-ressiert es herzlich wenig, was – mit Verlaub gesagt – ir-gendwelche Mitarbeiter im Finanzministerium in ihrenExcel-Tabellen für die mittelfristige Finanzplanung vor-sehen.
Das Haushaltsrecht ist das Recht des Parlaments.
In den letzten Jahren haben die Mitarbeiter des Bun-desfinanzministeriums, die natürlich nur Jahresentwick-lungen fortschreiben können, weil sie keine politischeKompetenz haben, ihre Excel-Tabellen fortentwickeltund entsprechende Pläne gemacht. Wir haben jedoch ge-sagt: Schön, dass ihr die Pläne gemacht habt, aber wirhaben beschlossen, den Haushalt um 12 Milliarden Euroaufzustocken, weil wir den politischen Willen dazu ha-ben.Wer auch immer für die nächste Legislaturperiode dieZustimmung der Bevölkerung zur Regierungsbildung er-hält, wird sich der Frage stellen müssen: Welche Krafthabt ihr, den Bereichen Forschung und Bildung entspre-chende Priorität einzuräumen?Ich sage an dieser Stelle abschließend: Ich bin stolzauf meine Fraktion – das sage ich auch als Sprecher derUnionsfraktion für Forschung und Bildung –; denn eswar kein einfacher Weg, zunächst diese Ankündigung zumachen und dann vier Jahre lang nicht nur durchzuhal-ten, sondern überzuerfüllen. Das gilt besonders ange-sichts der dramatischen weltweiten Situation mit ihreninternationalen Krisen.Wir haben Wort gehalten. Das ist ein Beweis für un-sere Glaubwürdigkeit in diesem Bereich. Wir könnenstolz sein; denn diese Regierungszeit wird im BereichForschung und Bildung in der historischen Betrachtungals herausragend in die Geschichtsbücher eingehen.
Danke schön.
Die Kollegin Dagmar Ziegler hat nun für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Rupprecht, die Antwort darauf, in welcherRichtung diese Regierungszeit herausragend war, wer-den wir noch finden müssen.
Es stimmt, Sie stellen in Ihrem Haushalt mehr Geldfür Bildung ein. Das haben Sie jetzt ausführlich gewür-digt. Damit haben die guten Nachrichten aber schon einEnde, zumal Sie auch Geld für 2014 und 2015 verbratenwollen und so Ihren Nachlassverwaltern oder Nachlass-verwalterinnen große Haushaltslöcher hinterlassen wer-den.Sie sagen: Was schert uns die Zukunft im Hinblickauf die Finanzplanung? Das müssen Sie einmal öffent-lich von Herrn Schäuble wiederholen lassen.
Darüber wird sich die Öffentlichkeit sehr wundern.Heute wurde schon einmal Ihr Altbundeskanzler zitiert.Ich werde das auch tun, vielleicht hilft es ja. Er hat ge-sagt: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. – MehrGeld alleine reicht nicht aus. Deutschland ist heute vonder Bildungsrepublik, die Kanzlerin Merkel versprochenhat, genauso weit entfernt wie 2009.Im Grunde ist es noch schlimmer: Mit der Einführungdes Betreuungsgeldes verschlechtern Sie nämlich ganzbewusst und wissentlich die Chancen vor allem für be-nachteiligte Kinder. Das sagen nicht nur wir, sondern dassagen auch Ihre ehemaligen Ministerinnen Frau Profes-sor Rita Süssmuth und Frau Professor Ursula Lehr, sovor zwei Wochen in der Zeit.Selten hat es so großen Widerstand gegen ein politi-sches Projekt gegeben wie gegen das Betreuungsgeld,und trotzdem will die Bundeskanzlerin die Bildungsfern-halteprämie einführen.
– Ich weiß, bei Ihnen hat Haushalt und Politik offen-sichtlich wenig miteinander zu tun, oder das ist der Wi-derspruch in sich. Ich weiß es nicht.
Mit diesem Betreuungsgeld, das Kinder von benach-teiligten Familien oftmals von der Bildung fernhält, ent-larvt sich Ihr Gerede von einer Bildungsrepublik endgül-tig als das, was es von Anfang an war: als heiße Luft.Für viele ist es nur ein Marketinggag oder einfach einleeres Versprechen.Was ist denn das zentrale Problem unseres Bildungs-systems? Das zentrale Problem ist, dass für Kinder undJugendliche ihre Herkunft zum Schicksal wird, dem siekaum entrinnen können. Bildungschancen werden in
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Dagmar Ziegler
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Deutschland vererbt, schreibt uns die OECD wieder insStammbuch, und sie hat leider recht.
Was wir deshalb brauchen, ist eine gute und frühe Förde-rung für alle Kinder in Kitas und Ganztagsschulen, so-dass Bildungschancen und Elternhaus entkoppelt werdenkönnen.
Wir brauchen ein Bildungssystem, das den Zugang zumAbitur und zur Hochschule ermöglicht, wenn die Leis-tung stimmt, und nicht nur, wenn der Geldbeutel der El-tern stimmt. Wir brauchen ein Bildungssystem, das auchdiejenigen mitnimmt, die einmal straucheln oder stol-pern, ein System, das zweite, dritte und wenn nötig auchvierte Chancen einräumt.
Bildungsrepublik à la Merkel bedeutet stattdessen,dass die Bundesregierung beim Kitaausbau über Jahreauf stur geschaltet hat. Dass Kommunen und Länderndas Wasser bis zum Hals steht, schert Sie nicht, dass fürKinder und Eltern der Rechtsanspruch auf der Kippesteht, lässt Sie kalt. Frau Professor Schavan, es waren al-lein die Länder, die in den Verhandlungen zum Fiskal-pakt beim Thema Kitaausbau für Bewegung gesorgt ha-ben.
Unsere Anträge, die wir dazu im Rahmen der Haushalts-beratungen im letzten Jahr eingebracht haben, haben Sierundweg abgelehnt. Jetzt muss der Bund zahlen, und dasist gut so.Bildungsrepublik à la Merkel bedeutet auch, jede Ini-tiative zum weiteren Ausbau von Ganztagsschulenschuldig zu bleiben. Dabei wissen wir alle: Ganztags-schulen sind der Schlüssel, um Kinder mit besserenChancen auszustatten. 70 Prozent der Eltern wünschensich deshalb für ihre Kinder einen Platz in der Ganztags-schule.Bildungsrepublik à la Merkel heißt: Fast 2 Millionenjunge Menschen stehen in Deutschland mit leeren Hän-den da. Sie starten ohne das nötige Rüstzeug in das Le-ben als Erwachsene. Sie haben keinen Berufsabschlussund befinden sich auch in keiner berufsqualifizierendenMaßnahme. Auch hier bleibt die Regierung ein Konzeptschuldig. Kein Ansatz, keine Idee. Die Konsequenz ist,dass aus den Benachteiligten auf Dauer Ausgeschlossenewerden.Eine Zahl hat uns alle im letzten Jahr aufgeschreckt:7,5 Millionen funktionale Analphabeten leben in Deutsch-land. Jeder siebente Erwachsene im erwerbsfähigen Alterkann nicht richtig lesen und schreiben. Berufliche und ge-sellschaftliche Teilhabe sind damit erschwert, oft unmög-lich. Auch hier ist die Bundesregierung nicht in der Lage,ein umfassendes und überzeugendes Konzept zu entwi-ckeln und umzusetzen.Ihre Untätigkeit in all diesen wichtigen Fragen be-gründen Sie oft und gerne mit dem Kooperationsverbot.Ja, tatsächlich stehen wir in der Bildungspolitik vor die-sem Dilemma. Die Länder haben die Kompetenz, derBund das Geld. Damit der Bund sich an der Schaffungeines gerechten und zukunftsfähigen Bildungssystemsbeteiligen kann, wollen wir Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten das Kooperationsverbot zu Fall brin-gen.
– Wir gemeinsam, das muss man der Ehrlichkeit halberschon sagen. Wir alle gemeinsam wissen auch, dass dasein grundlegender Fehler war. Nur, wir wollen es ab-schaffen, Sie leider nicht.
Auch die Bundesregierung hat einen Vorschlag zumKooperationsverbot unterbreitet. Sie wollen aber eineGrundgesetzänderung – Herr Rupprecht hat das noch ein-mal hervorgehoben –, die es dem Bund lediglich ermög-licht, exzellente Forschungseinrichtungen zu fördern. Siemachen aber keinen Vorschlag, wie Schulen finanziert,die Inklusion verbessert, der Bereich der frühkindlichenBildung ausgebaut oder Fortschritte im Kampf gegen An-alphabetismus gemacht werden können. All das geht mitIhrem Vorschlag nicht, und deshalb geht Ihr Vorschlagmit uns nicht. Für eine solche Grundgesetzänderung stehtdie SPD nicht zur Verfügung. Wir wollen echte und spür-bare Verbesserungen – für Bildung im ganzen Land.
Eine Bildungsrepublik hat Kanzlerin Merkel ausgeru-fen. Aber der Ruf verhallt wie so vieles in der Wüste die-ser „Regierungskollision“.
Es wird höchste Zeit für mehr Verantwortung und Ge-staltungswillen für eine neue Regierung, die bessereHaushaltszahlen mit besserem Inhalt vorlegt.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Meinhardt
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Was haben wir unter großen Kraftanstrengun-gen in den letzten Jahren in der Bildungs- und For-schungspolitik in unserem Land alles erreicht? DieMenschen sind motivierter, sie trauen sich etwas zu, in-vestieren mehr in Weiterbildung, Türen öffnen sich,Aufstiegschancen werden genutzt, Lehrer und Erzieher
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Patrick Meinhardt
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wollen zeigen, was in ihnen steckt, Forscher wollen un-ser Land an die Spitze bringen, junge Menschen wollengefördert werden. Allen Unkenrufen zum Trotz tut sichin diesem Land richtig viel. Wissen Sie, was? Daraufkönnen wir in diesem Land stolz sein.
Liebe Frau Ziegler, lieber Herr Hagemann, ich bringeIhnen jetzt als Übergang einmal ein Zitat:Das Bildungsniveau ist weiter angestiegen. DieZahl der Abiturienten nimmt zu, die Zahl derSchulabbrecher geht weiter zurück.Diese Einschätzung zur Gesamtsituation in der Bun-desrepublik Deutschland stammt, auch wenn ich sieteile, nicht von mir, sondern vom sozialdemokratischenSchulsenator der Freien und Hansestadt Hamburg, HerrnRabe. Ich möchte Ihnen damit einfach nur helfen, IhreHemmschwelle für positive Sätze hier im DeutschenBundestag abzubauen.
Vier Fakten sollte man am Anfang einer Haushaltsde-batte immer und immer wieder klarstellen.Erstens. Der nationale Bildungsbericht enthält einewichtige Zahl für uns. Seit Jahren fordern alle in diesemHohen Haus, dass wir 7 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts in Bildung investieren. Der nationale Bildungsbe-richt hat es uns attestiert: Wir haben das erstmals er-reicht. Dies ist die erste gute Botschaft.
Zum Zweiten. Mit 2,8 Prozent im Jahr 2010 und steti-gen Verbesserungen im letzten und in diesem Jahr sindwir schon ganz nahe am innovationspolitischen Ziel,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung undEntwicklung zu investieren. Das ist ein unglaublicherFortschritt von Wirtschaft, Bund, Ländern und den For-schungseinrichtungen. Auch dies ist hier festzustellen.
Zum Dritten. Diese Bundesregierung arbeitet in einerKrise gegen den Trend so vieler anderer Länder und in-vestiert bewusst 12 Milliarden Euro mehr in Bildungund Forschung. Diese gewaltige Investition, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ist die beste Krisenprävention. Daszeigt sich hier und heute.
Zum Vierten. Mit 13,8 Milliarden Euro legen wir Ih-nen einen Rekordhaushalt, den eigentlichen Megahaus-halt für Bildung und Forschung vor, um gerade in derjetzigen Situation einen weiteren Schub für die Bil-dungsrepublik Deutschland zu erreichen. Das muss indiesem Hohen Haus auch ganz klar artikuliert werden.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Zahl derStudierenden ist mit 2,38 Millionen so hoch wie nochnie. Wir haben 667 Millionen Euro zusätzlich investiert,um im Hochschulpakt eine neue Dynamik entstehen las-sen zu können. Genau das ist die richtige Antwort einerBundesregierung. Sie sieht die Situation und greift siemutig an. Sie packt es an und nimmt weitere 700 Millio-nen Euro in die Hand. Dies ist ein Zeichen dafür, dassdie Finanzpolitik und eine damit Hand in Hand gehendeVorsorge für eine Bildungsrepublik gut bei dieser Bun-desregierung aufgehoben sind.
Kollege Meinhardt, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Gehring?
Nein. – Meine sehr geehrten Damen und Herren,wenn wir uns den gesamten Bereich der Studien- undBildungsfinanzierung anschauen, dann ist festzustellen– das ist enorm wichtig –: Wir haben klare Akzente imBereich des BAföG gesetzt. Das ist und bleibt für dieseBundesregierung ein zentraler Anker der Studienfinan-zierung. Allein der BAföG-Bericht dieses Jahres weistaus, dass die Zahl der geförderten Studierenden mit16 Prozent deutlich stärker gestiegen ist als die Zahl derStudierenden mit 9 Prozent. Zum anderen konnte – umhier einmal mit einem immer wieder aufgeworfenen Vor-urteil aufzuräumen – durch die Erhöhung der Bedarfssätzeder durchschnittliche Förderbetrag um 10 Prozent erhöhtwerden. Damit sind die Steigerung der Lebenshaltungs-kosten und der Inflationsausgleich in vollem Umfang be-rücksichtigt. Das sind klare Zeichen dafür, wo dieseBundesregierung ihre Schwerpunkte setzt. Das BAföGist ein fester Anker für eine gute, verlässliche Studien-finanzierung.
Was die Stipendienkultur in der BundesrepublikDeutschland angeht, so kann ich, wenn ich mir das an-schaue, was hier in diesem Land stattgefunden hat, nursagen: Das war bis vor einiger Zeit eine richtige Wüste.Wir hatten die rote Laterne in der Stipendienkultur. Dahat sich nun enorm viel getan. 16 000 Studierende habenin diesem Land ein Stipendium bekommen. Die Zahlwurde von der rot-grünen Regierung im Jahre 2005 wei-tergegeben. Heutzutage sind wir bei 37 000.Wir haben jetzt zusätzlich noch das Deutschlandsti-pendium. Wir haben damit etwas erreicht, was ich fürenorm wichtig halte. Bei den Begabtenförderungswer-ken gibt es gerade einmal 8 bis 9 Prozent Studierende,die aus den Fachhochschulen kommen. Diese Studieren-den haben einen enormen Bildungsaufstieg hinter sichgebracht, sind von der Realschule in den Bereich der be-ruflichen Schule, Fachhochschule hineingegangen. BeimDeutschlandstipendium werden nach nur einem Jahr30 Prozent der Stipendien an Fachhochschulen vergeben
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Patrick Meinhardt
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werden. Wir schaffen es also bis Ende dieses Jahres, dieZahl der Fachhochschüler in diesem Land, die ein Sti-pendium haben, zu vervierfachen. Das ist eine Leistung,die nun wirklich grandioser Natur ist.
Den Wissenschaftsstandort Deutschland, die Exzel-lenzinitiative voranbringen, der Qualitätspakt Lehre, derWettbewerb „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschu-len“, der Pakt für Forschung und Innovation, all das sindwichtige Elemente. Gerade wenn wir im Blick haben,dass die Exzellenzinitiative 2017 ausläuft – wir investie-ren da jetzt noch einmal 2,7 Milliarden Euro –, ist es fürmich umso unverständlicher, dass die Veränderung, diewir auf Antrag und mit Unterstützung des BundeslandesBayern vornehmen wollen, nämlich über Art. 91 b GGkünftig bei überregionaler Bedeutung auch Einrichtun-gen im Bereich der Wissenschaft und Forschung anHochschulen zu fördern, im Bundesrat blockiert wird.Man muss an dieser Stelle eines sehr klar sagen: Werdiese Änderung des Art. 91 b des Grundgesetzes blockiert,der muss den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern,den Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern, denRektorinnen und Rektoren und den Studierenden in dieAugen sehen und ihnen sagen: Wir wollen nicht, dass ihrdas Geld bekommt, das die Bundesregierung euch gebenmöchte.
Förderung der wirtschaftspolitischen Innovationenund Technikförderung, der zentralen Bereiche Hightech,Validierungsprogramm, Spitzenclusterwettbewerb – diessind nur einige Stichworte. Die FuE-Projektförderungwird einen Aufwuchs von 16,4 Prozent, das heißt884 Millionen Euro, haben. Die Nationale Forschungs-strategie BioÖkonomie wird über sechs Jahre mit2,4 Milliarden Euro ausgestattet; der Aktionsplan Nano-technologie wird ebenfalls von dem Aufwuchs profitie-ren. Das alles macht eines deutlich: Diese Bundesregie-rung setzt darauf, dass die Bundesrepublik Deutschlandein in sich starker Forschungsstandort wird. Wir werdenweiterhin die Akzente so setzen, wie wir es für richtigund notwendig halten.In diesem Zusammenhang ist es wichtig, der berufli-chen Bildung die Aufmerksamkeit zu schenken, die dieMinisterin ihr geschenkt hat. Eines ist ganz klar: Wir ha-ben ein hervorragendes System der beruflichen Bildung.Wir investieren in die Bildungsketten. Wir haben im Be-rufsorientierungsprogramm mächtige Investitionen. Dieberufliche Bildung ist das Flaggschiff. Die duale Ausbil-dung ist der beste bildungspolitische Rettungsschirm,den dieses Land überhaupt hat.
Was würde in diesem Land fehlen, wenn es nicht dieInitiative für das Wissenschaftsfreiheitsgesetz gäbe? Esist enorm wichtig, um Autonomie, Eigenverantwortungund Transparenz voranzubringen, um flexible Hand-lungsspielräume im Haushalt, bezüglich Personal, Betei-ligungsvorhaben und Bauvorhaben, zu schaffen. Miteinem Wissenschaftsfreiheitsgesetz werden wir es schaf-fen, den Standort voranzubringen und damit einen zen-tralen Motor für die Wissenschafts- und Wirtschaftsna-tion Bundesrepublik Deutschland zu schaffen.
Zum Schluss möchte ich sehr deutlich machen: Die-sen Motor für Wissenschaftsfreiheit wollen wir auch inden Bereichen Hochschule und Schule. Deswegenschließe ich meine Rede mit einem Zitat:Schaffen wir ein Bildungswesen, das Leistung för-dert, keinen ausschließt, Freude am Lernen vermit-telt und selbst als lernendes System kreativ und ent-wicklungsfähig ist. Setzen wir neue Kräfte frei,indem wir bürokratische Fesseln sprengen. Entlas-sen wir das Bildungssystem in die Freiheit.Recht hatte er, Roman Herzog.Vielen herzlichen Dank.
Die Kollegin Dr. Rosemarie Hein hat nun für die
Fraktion Die Linke das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Herr Rupprecht hat vorhin das 12-Milliarden-Euro-Ziel verteidigt und sich dafür auf die Schulter ge-klopft, dass die Koalition das hinbekommt. Es ist wahr:Wenn man es zusammenrechnet, kommt man auf dieseSumme. Aber lassen Sie uns einmal genauer schauen,was darunter zu verstehen ist, und lassen Sie uns das Er-gebnis hinterfragen.Ich möchte mit der Frage, ob die Mittel überhauptauskömmlich sind, anfangen. Je nachdem, welchen Er-hebungen man folgt, müssten in die Bildung bundesweitjährlich zwischen 20 und 40 Milliarden Euro mehr in-vestiert werden. Das 12-Milliarden-Euro-Paket erstrecktsich aber über vier Jahre; die 12 Milliarden Euro sind dieSumme der Investitionen. Das heißt, pro Jahr fließen,wenn man den Durchschnitt nimmt, gerade einmal3 Milliarden Euro mehr in die Bildung. Das ist nicht ein-mal ein Zehntel der erforderlichen Summe.
In einer heute veröffentlichten OECD-Studie „Bil-dung auf einen Blick“ wird demzufolge – dies passiertimmer wieder – der Bundesrepublik Deutschland eineunterdurchschnittliche Bildungsfinanzierung beschei-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22927
Dr. Rosemarie Hein
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nigt. Nur 5,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wendenwir für Bildung auf. Der OECD-Durchschnitt liegt in-zwischen bei 6,3 Prozent.Noch schlimmer ist aber, dass diese 12 MilliardenEuro sozusagen nicht verstetigt werden, also nicht ein-mal die 3 Milliarden Euro jährlich werden uns erhaltenbleiben. Herr Rupprecht, ich glaube nicht, dass Sie dasbeeinflussen und dafür sorgen können, dass diese 3 Mil-liarden Euro in den nächsten Jahren immer oben drauf-kommen. Wie gesagt, wir bräuchten viel mehr. Insofernist es schon schwierig, wenn diese Mittel sozusagen nurein kleiner Geldregenschauer waren, man sie aber nichtkontinuierlich in die Bildung stecken kann.
Schon jetzt gibt es im Bildungsbereich nicht nur Auf-wüchse, sondern auch Kürzungen. Beim BAföG zumBeispiel kommt es zu Kürzungen, und das Ausbildungs-platzprogramm Ost läuft aus. Man hätte dieses Geld gutund gerne umwidmen und in ein Programm zur Förde-rung der Ausbildung in strukturschwachen Regionen ste-cken können. Das haben Sie aber nicht getan.
Es wäre auch besser, wenn im Bereich der Weiterbil-dung, in dem stark gekürzt werden soll, nicht gekürztwürde. Sie selbst haben schließlich im Rahmen desDresdner Bildungsgipfels das Ziel formuliert, die Wei-terbildungsquote auf 50 Prozent zu erhöhen. Das ist mitKürzungen nicht möglich.
Frau Kollegin Hein, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kretschmer?
Aber gern.
Frau Kollegin, Sie haben die OECD zitiert, verbun-
den mit dem Hinweis, dass in Deutschland mehr Geld
für Bildung und Wissenschaft ausgegeben werden soll.
Wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass die OECD vor al-
len Dingen im Bereich der privaten Mittel einen Nach-
holbedarf sieht und dass sich auch der bekannte Bil-
dungsforscher Schleicher sehr für Studiengebühren
ausspricht?
Würden Sie das zur Kenntnis nehmen, und könnten Sie
uns dazu vielleicht Ihre Meinung sagen?
Wissen Sie, verehrter Herr Kollege: Auch was die öf-
fentliche Bildungsfinanzierung betrifft, liegt die Bundes-
republik Deutschland unterhalb des OECD-Durch-
schnitts.
Ich denke, diesen Umstand sollten wir uns als Erstes an-
schauen. Wir dürfen uns die Zahlen nicht schönrechnen,
so wie wir sie gerne hätten.
Dass wir eine Steigerung der privaten Bildungsausgaben
nicht forcieren wollen, können Sie sich vorstellen. Dafür
stehen wir nicht zur Verfügung. Wir wollen mehr öffent-
liche Mittel für die Bildung. So wie die Finanzierung
momentan abläuft, ist das aber nicht möglich.
Frau Kollegin Hein, auch der Kollege Rossmann
würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte schön.
Frau Kollegin, können Sie dem Haus in Anbetracht
der Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer, des Gene-
ralsekretärs des CDU-Landesverbandes Sachsen, viel-
leicht erklären, wie die Haltung der Sächsischen Staats-
regierung in Bezug auf Studiengebühren ist, ob in
Sachsen Studiengebühren eingeführt werden, ob sich der
dortige Ministerpräsident Tillich vehement für die Ein-
führung von Studiengebühren in Sachsen einsetzt und ob
es eben beim Kollegen Kretschmer gegebenenfalls eine
gewisse Bewusstseinstrübung in Bezug auf seine Her-
kunft aus Sachsen und seinen Verweis auf die OECD ge-
geben haben könnte?
Verehrter Herr Kollege Rossmann, von der Einfüh-rung von Studiengebühren ist in vielen Ländern – ichglaube, in den allermeisten – nicht auszugehen. Auch inSachsen-Anhalt, dem Bundesland, aus dem ich komme,ist das bislang nicht der Fall. Das finde ich völlig richtig.Dabei sollte es auch bleiben. Denn der Weg über die pri-vate Bildungsfinanzierung führt dazu, dass immer mehrvor allem junge Menschen, die es nicht so leicht haben,Bildung zu finanzieren, von Bildung ausgeschlossenbleiben. Insofern sind Studiengebühren kontraproduk-tiv. Insbesondere die Ereignisse der letzten Monate inSachsen zeigen ja, dass in der sächsischen Bildungspoli-tik bei weitem nicht alles in Ordnung ist.
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22928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Dr. Rosemarie Hein
(C)
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Dennoch: 12 Milliarden Euro sind mehr als nichts;das will ich Ihnen gerne zugestehen.
Ich möchte gerne etwas zur Effizienz der eingesetztenMittel sagen. Schauen wir uns einmal das Bildungs- undTeilhabepaket an. Die Mittel dafür sind im Haushalt desSozialministeriums versteckt, bei den Kosten der Unter-kunft. Die Gewährung der Mittel für die Teilhabe anKultur- und Sportangeboten zum Beispiel hat vor Ortmitunter dazu geführt, dass für bislang kostenfreie An-gebote für Benachteiligte nun Beiträge erhoben werden,die dann aus dem Teilhabepaket finanziert werden. Auchbei der Schulsozialarbeit haben manche Kommunen ihreigenes Engagement durch Inanspruchnahme der Bun-desmittel ersetzt. Das sind dann aber keine zusätzlichenMittel mehr.Oder: Die Lernförderung wird von nur 5 Prozent derLeistungsberechtigten überhaupt nachgefragt. Aber esgibt 53 000 Schülerinnen und Schüler, die die Schuleohne Abschluss verlassen. Die Zahl derer, die eine Lern-förderung bräuchten, ist noch viel höher.Warum eigentlich können wir die Schulen nicht soausstatten, dass eine ausreichende und umfassende indi-viduelle Lernförderung möglich ist? Warum müssenSchulen erst Bankrotterklärungen abgeben, damit dieLernenden an die Bundesknete kommen? Warum sindwir immer wieder genötigt, bei der Bildungsfinanzie-rung Umwege zu gehen? Ich weiß: Es gibt das Koopera-tionsverbot in der Bildung. Aber: Schaffen wir es docheinfach ab!
Zu den wenigen Aufwüchsen im Bildungshaushaltgehört das mit zunächst 30 Millionen Euro angesetzteProgramm „Kultur macht stark“. Ich habe auf meinerSommertour bei den Vereinen einmal nachgefragt, wasbei ihnen ankommt. Die meisten kannten es noch nicht.Die Vereine vor Ort, die sehr viel für benachteiligte Ju-gendliche tun, kommen an diese Mittel überhaupt nichtheran. Ich finde, hier ist eine Nachbesserung angesagt.Man könnte diese Aufzählung fortsetzen. 12 Milliar-den Euro hören sich eben nur in der Summe gut an. Ichhabe leider nicht genug Redezeit, um noch mehr dieserUnmöglichkeiten aufzulisten, aber es gibt sie. Wir kön-nen es zum Beispiel überhaupt nicht akzeptieren, dassvon diesen 12 Milliarden Euro 192 Millionen Euro alleinin die Rüstungsforschung fließen, während für die Um-setzung von Inklusion nicht ein Cent vorgesehen ist. Dasist nicht hinnehmbar.
Die Bundesbildungspolitik ist über weite Streckennicht mehr als ein Reparaturversuch an einem untaugli-chen System. Dort, wo es durchaus nützliche Pro-gramme gibt, bleibt sie Stückwerk. Es gibt ein Auf undAb in den Programmen. Das ist alles andere als Konti-nuität.Wir kämen ein gutes Stück weiter, gelänge es, die Zu-sammenarbeit von Bund und Ländern in der Bildung aufeine neue Grundlage zu stellen. Dann könnten wir ausdem Bildungshaushalt tatsächlich einen Bildungshaus-halt machen und nicht das, was er jetzt ist, nämlich einStückwerk mit Rumpfcharakter.Ich danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anette Hübinger von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute de-battieren wir in der ersten Runde über den Haushalt fürBildung und Forschung für das Haushaltsjahr 2013. HerrHagemann, das ist kein Wahlkampfhaushalt, sondern einHaushalt des Versprechen-Einhaltens und der Verläss-lichkeit.
Für den Haushalt im Allgemeinen galt und gilt auchweiterhin: Die Haushaltskonsolidierung wird vorange-trieben. Angesichts der Euro-Krise ist das keine einfacheAufgabe.Dank einer guten Wirtschaftslage und einer guten Be-schäftigungslage sprudeln in Deutschland zurzeit zwardie Steuereinnahmen, doch für Begehrlichkeiten ist keinRaum. Vielmehr ist verstärkt Vorsorge für die Zukunftund den politischen Handlungsspielraum der nachfol-genden Generationen zu treffen.Wir als christlich-liberale Koalition hatten uns vorge-nommen, in dieser Legislaturperiode 12 Milliarden Euromehr in den Bereich Bildung und Forschung zu investie-ren. Das wurde heute schon mehrfach erwähnt. DiesesVersprechen halten wir. Ich gehe davon aus, dass wir,wenn wir nachher einen Strich darunter ziehen, sehenwerden, dass wir sogar noch darüber liegen.
Wir erhöhen die Mittel im Einzelplan 30 in diesemHaushaltsjahr 2013 um 800 Millionen Euro. Das ist eineSteigerung um 6 Prozent und bedeutet ein Rekord-niveau. Auf dem war ein Haushalt für Bildung und For-schung noch nie. 13,7 Milliarden Euro für Bildung undForschung: Das ist etwas, was die Zukunft Deutschlands
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22929
Anette Hübinger
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voranbringt, was für uns von einer immensen Bedeutungist.Wir haben deshalb die Bildungsförderung – es gehteben um Bildung und Forschung – breit aufgestellt; dieMinisterin hat es schon erwähnt. Von Kleinkindern bishin zu Erwachsenen – Stichwort „Weiterbildung“ –: Je-der muss den Zugang zu guten Bildungschancen und da-mit einhergehend auch zu guten Berufschancen haben.Wir machen unser Berufsausbildungssystem – das giltinsbesondere für die duale Berufsausbildung, um die unsmittlerweile nicht nur Europa, sondern die ganze Weltbeneidet; als Entwicklungspolitikerin habe ich das schonvor Jahren gehört – fit für die Zukunft. Wir stecken indiesen Bereich nämlich mehr Mittel und stocken sie von185 Millionen Euro auf 204 Millionen Euro auf.Auch wenn die OECD ihre Aussage heute wieder et-was differenziert hat, hat auch sie mittlerweile erkannt,dass das System der dualen Ausbildung beispielgebendist, insbesondere auch für eine niedrige Jugendarbeitslo-sigkeit. Deshalb gibt sie den Hinweis, man solle sich da-ran orientieren.Spanien hat mittlerweile eine Kooperation mitDeutschland für diesen Bereich getroffen. Die FirmaSEAT hat die duale Ausbildung eingeführt. Die spani-sche Regierung trifft im Moment gerade die ersten Vor-kehrungen dafür, um dies umzusetzen; denn es zeigtsich, dass die Verzahnung von Theorie und Praxis einengroßen Vorteil gegenüber einer rein akademischen oderrein theoretischen Ausbildung bietet.Herr Kollege Hagemann, Sie sagen, in Bildungsket-ten würde nicht mehr investiert, um auch Jugendlichen,die etwas mehr Unterstützung und Begleitung brauchen,zu helfen. Wir haben dieses Programm auf eine solideBasis gestellt. Wir haben das im Sozialhaushalt mit einer50-prozentigen Beteiligung der Länder abgebildet. Damüssen eben die Länder ihre Hausaufgaben machen.Also, wir sind hier auf dem richtigen Weg. Dem Bundkann man hier keine Vorwürfe machen.
Die akademische Bildung haben wir durch den Hoch-schulpakt mit den Ländern solide finanziert. Das ist auchnotwendig, weil sich mittlerweile über 50 Prozent einesJahrganges für eine akademische Ausbildung entschei-den. Um der weiteren positiven Entwicklung bei denStudierendenzahlen gerecht zu werden, stocken wir dieMittel für den Hochschulpakt im kommenden Jahr maß-geblich auf. Bereits 2012 investierte der Bund in diesenBereich, in die erste Säule, 1,1 Milliarden Euro – Kol-lege Rupprecht hat es erwähnt –, und zwar ohne dafürdie originäre Zuständigkeit zu haben. In 2013 werdenwir diese Summe auf 1,8 Milliarden Euro aufstocken.Das ist eine Herausforderung für jeden Haushalt, aberich denke, es ist im Interesse der Studierenden unum-gänglich.
Wenn es mehr Studierende gibt, wächst auch dieNachfrage nach Stipendien und nach Begabtenförde-rung. Deshalb ist es folgerichtig, dass die Zuschüsse fürdie Begabtenförderungswerke von knapp 176 auf circa198 Millionen Euro aufgestockt werden. Wo mehr jungeMenschen studieren, muss zugleich auch in die Entwick-lung des Hochschul- und Wissenschaftssystems inves-tiert werden. Dieser Haushaltstitel wird daher um knapp13 Prozent von 235 auf 265 Millionen Euro erhöht. Vondieser Erhöhung profitieren insbesondere der Qualitäts-pakt Lehre und die Weiterentwicklung des Bologna-Pro-zesses. Ich denke, das ist ein sehr gutes Signal an dieStudierenden.Auch die Forschung haben wir als christlich-liberaleKoalition auf eine solide finanzielle Grundlage gestelltund den Fokus auf die Herausforderungen unserer Zeit,wie Klima, Energie, Mobilität und Gesundheit, um nureinige zu nennen, gerichtet. Damit haben wir die richti-gen Voraussetzungen geschaffen, um der Marke „Madein Germany“ den guten Ruf zu erhalten. Hier, HerrHagemann, möchte ich auch das „Haus der Zukunft“ an-siedeln. Millionen kommen zu uns nach Deutschlandund sehen sich die Kulturstätten an. Was ist besser, als zuzeigen, in welchen Dingen wir Fortschritte machen undwohin wir in der Zukunft wollen?
Ich denke, dass sich viele Touristen für so etwas inte-ressieren werden; denn das kleine Quäntchen mehr inder Forschung macht es aus, dass die Wirtschaft inDeutschland weiterhin prosperiert, Arbeitsplätze gesi-chert werden und damit auch die Steuereinnahmen spru-deln.Gerade die jährliche Steigerung des Budgets unsereraußeruniversitären Forschungseinrichtungen um 5 Pro-zent – ich nenne hier Helmholtz-Gemeinschaft und Max-Planck-Gesellschaft als Beispiele – findet national wieinternational eine große Beachtung,
und das ausgesandte Signal ist eindeutig: Forschung istDeutschland viel wert.Diese positive Außenwirkung ist in Zeiten zunehmen-der Internationalisierung von Wissen und Forschungdringend notwendig, um sich im internationalen Wettbe-werb klar zu positionieren und als attraktiver Koopera-tionspartner wahrgenommen zu werden.
Auch wird die zuverlässige Finanzierung unserer For-schungsinstitute von im Ausland lebenden und forschen-den Deutschen, die diese Woche gerade auf der GAIN-Konferenz waren, mit Sicherheit zur Kenntnis genom-men; denn es wirkt auf diese jungen Menschen motivie-rend, sich mit dem Forschungsstandort Deutschland wie-der auseinanderzusetzen und hier ihre Zukunft zu sehen.Das ist in Zeiten des demografischen Wandels und imWettbewerb um die besten Köpfe die richtige Entwick-lung.
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Anette Hübinger
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, neh-men Sie zur Kenntnis: Dieser Haushalt schlägt die rich-tige Richtung ein. Wir müssen nun versuchen, dies auchin die Zukunft hineinzutragen.
– Mifrifi. – Das ist angesichts der Euro-Krise und derProbleme, die voraussichtlich auf uns zukommen oderschon auf uns zugekommen sind, eine Herausforderung.Ich danke dem Ministerium, insbesondere FrauMinisterin Schavan und Herrn Parlamentarischen Staats-sekretär Helge Braun, für die Aufstellung dieses Haus-halts und freue mich in der einen oder anderen De-tailfrage auf eine konstruktive Zusammenarbeit bis zurnächsten Haushaltsrunde.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ernst Dieter
Rossmann von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Um versöhnlich anzufangen: Frau Ministerin,Sie haben von der europäischen Verantwortung im Be-reich berufliche Bildung gesprochen, die wir auch fürdie Bildungsentwicklung in den südeuropäischen Län-dern haben. Weil Sie heute in der Frankfurter Allgemei-nen Zeitung einen Artikel mit dem Titel „Zukunft durchForschungsförderung“ veröffentlicht haben, will ich be-wusst hinzufügen: Wir haben diese europäische Verant-wortung auch in Bezug auf die Forschungsförderung.Um das anschaulich zu machen: Müssen wir nur Pro-jektbonds in Bezug auf das Verkehrsprojekt der Unter-tunnelung der Meerenge von Messina entwickeln, oderkann es auch Projektbonds in Bezug auf die Forschungs-förderung bzw. Forschungsinfrastruktur in südeuropäi-schen Ländern geben? Denn die Einheit von Forschungund Bildung ist auch hier das Entscheidende, was wirimmer zusammenhalten müssen.Aber es kann nicht nur versöhnlich sein. Die Einheitvon Forschung und Bildung bezieht sich auch auf dasThema in Ihrer heutigen FAZ-Darlegung. Es geht umKooperation. Es geht nicht nur um die Kooperation derkleinen und größeren Unternehmen mit der Wissen-schaft und die Kooperation der Hochschulen mit den au-ßeruniversitären Forschungseinrichtungen, sondern auchum die Kooperation von Bund und Ländern in Bezug aufBildung und Forschung. An der Stelle verweigern Sie.
Das ist ein fundamentaler Unterschied zu uns. Dennwir sagen: Diese Bildungs- und ForschungsrepublikDeutschland braucht das Engagement und die Kraft aufallen Ebenen, die daran mitwirken können. Es wurdeeben angesprochen, dass die vereinigte Wissenschaftmeint, diese Grundgesetzänderung würde ihnen helfen.Die vereinte Wissenschaft ist aber klug genug, Haus-haltspläne zu lesen und zu erkennen: Die Ministerin istblank. Wenn sie jetzt für die mittelfristige Finanzplanungeinen Haushalt vorlegen muss, der ein Minus aufweist,kann sie in Bezug auf die Zukunft ab 2014 nichts anbie-ten.
Sie sind blank. Deshalb funktioniert Ihre Politik für dieZukunft auch nicht mehr, wenn Sie nicht realisieren, wasvon der OECD bis hin zur Wissenschaft in Deutschlandmit eingefordert wird, nämlich für Bildung und For-schung in der mittelfristigen Entwicklung zusätzlicheMittel zu mobilisieren. Dazu gibt es von unserer Seite ein20-Milliarden-Angebot zusätzlich für Bildung. Auf IhrAngebot warten die Menschen noch. Wenn man zurück-verfolgt, wie wir seit den legendär schlechten Tagen vonHerrn Kohl und Herrn Rüttgers für Bildung und For-schung bis 1998 in den verschiedenen Legislaturperiodenzusätzliche Mittel mobilisieren konnten, zeigt sich, dasses immer Umschichtungen und auch besondere Effektegab. Unter der Regierung Schröder/Bulmahn gab es unteranderem die UMTS-Lizenzen, die einen Schub gebrachthaben. In der zweiten Regierungsperiode von SPD undBündnis 90/Die Grünen gab es dann das Bemühen, diedurch den Wegfall der Eigenheimzulage eingespartenMittel – es ging um 7,6 Milliarden Euro – forschungsre-levant werden zu lassen. Wegen Ihrer Blockade konntenwir das dann erst in der Großen Koalition realisieren. Bei-des zusammen hat einen gewaltigen Aufschwung für dieBildungs- und Forschungsfinanzierung gegeben.Bei Ihnen unter Schwarz-Gelb gab es schließlich et-was, das man durchaus ambivalent betrachten darf: Die12 Milliarden Euro werden anerkannt, aber die deutli-chen Kürzungen bei der Finanzierungsbasis im Bereichder aktiven Arbeitsmarktförderung, aber auch in anderensozialen Bereichen entsprechen nicht unserem Modell.Sie müssen jetzt aufgrund der Ansage, dass es in derschwarz-gelben Regierungsplanung 2014 zu einem Mi-nus für Bildung und Forschung kommt, die Frage beant-worten, wie Sie die eigentlich positive Entwicklung ver-längern wollen. Das geht nur, wenn Bund, Länder undKommunen zusammen beschließen, dass wir angesichtsvon Schuldenbremsen, die die Länder vehement treffenwürden, für jede dieser Ebenen mehr Geld mobilisieren,und zwar auch im Sinne rentierlicher Steuereinnahmen.Alles das, was wir an zusätzlichen Steuereinnahmen ausder Erbschaftsteuer, Vermögensteuer und vielleicht auchaus den Spitzensteuerbereichen gewinnen können, ren-tiert sich, wenn wir es in Bildung und Forschung inves-tieren.
Es rentiert sich bei den Ländern. Denn die Ländersind immer noch die Hauptträger von Bildung und Wis-senschaft. Es rentiert sich auch über den Bund.
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
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An der Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass esein großer Fehler war, dass die Bundeskanzlerin, wie esmanchmal bei ihr der Fall ist – sie ist ein Chamäleon derPolitik –, erst in Richtung Bildungsrepublik gelaufen istund dann, nachdem sie den kooperativen Ton mit denLändern nicht getroffen hat, eingeknickt ist. Seit 2009 ankeiner Stelle mehr von Bildungsrepublik, Bund-Länder-Kooperation und anderem zu sprechen, war ein großerFehler der Bundeskanzlerin. Wir dürfen und wir werdendiesen Fehler von Frau Merkel nicht wiederholen.Kollege Meinhardt, wir sind nicht so blind und so ein-seitig wie die Linke, die so tut, als ob alles ständigschlechter würde. Ich gestehe gerne zu, dass es auch Gu-tes gibt. Aber es wird nicht allein durch den Bund, son-dern auch durch das massive Engagement der Kommu-nen, der Wirtschaft und der Länder besser. Sie von derFDP sollten nicht so tun, als gingen alle Verbesserungenauf Sie zurück.
Wenn wir uns den Haushalt genau anschauen, stellenwir fest, dass die großen Positionen wie die für denHochschulpakt, den Pakt für Forschung und Innovation,die Exzellenzinitiative bis hin zu den ebenfalls bildungs-relevanten Posten für Kurzarbeitergeld und Konjunktur-programme Ergebnisse der Großen Koalition sind. Allediese Posten haben diesen Haushalt nicht zementiert – sowürden Sie es wohl ausdrücken –, wohl aber entschei-dend vorgeprägt. Daran waren die Sozialdemokraten be-teiligt.Ich will schließlich perspektivisch eines feststellen:Wenn man sich die inhaltlichen Schwerpunkte vor Augenführt, dann ist klar, dass es eine große Übereinstimmungzwischen SPD und Grünen in Bezug auf die Förderungdes Fundaments von Bildung gibt. Das kulminiert inForderungen nach Ganztagsschulen – diese sind für vie-les gut –, einer Ausbildungsgarantie – wir dürfen nichtakzeptieren, dass es 1,5 Millionen junge Menschen ohneBerufsabschluss gibt –, und einer Grundbildung, die zueiner stärkeren Alphabetisierung führt, sowie einem bes-seren Weiterbildungssystem in unserer Bildungsrepu-blik. Hochschulen müssen außerdem eine gesicherteGrundfinanzierung bekommen. Das alles bildet trotz al-ler Unterschiede in Nuancen das Fundament von Rotund Grün in der Bildungspolitik und stellt eine Alterna-tive zu dem von Ihnen zu verantwortenden Minus imJahr 2014 dar. Damit müssen Sie leben, wenn Sie keineandere Antwort finden. Wir wollen 20 Milliarden Eurozusätzlich mobilisieren. Sie sind der Meinung, dass einMinus von 1,7 Prozent für Bildung und Forschung be-reits im Jahr 2014 akzeptabel ist.Ich komme zum Schluss. Frau Ministerin, da Sie derLiteratur und den Geisteswissenschaften zugetan sind,folgende Assoziation: Mir kommt es manchmal so vor,als ob Sie frei nach Theodor Fontane ein weiblicher JohnMaynard sind, der über den Eriesee fährt und das bren-nende Schiff an das rettende Ufer bringt. Das meine ichdurchaus anerkennend. Aber wie Sie wissen, nimmtdiese Ballade ein trauriges Ende. Sie werden in Ehrengehen, aber Sie müssen dann auch gehen. Denn es müs-sen neue Kräfte kommen, die Forschung und Bildung inDeutschland – wie gesagt, Sie wollen die Verantwortungfür ein eingeplantes Minus von 1,7 Prozent im Bundes-haushalt für Bildung und Forschung ab 2014 – dann wie-der nach vorne führen.Danke schön.
Als letzter Redner zu diesem Haushalt hat das Wort
der Kollege Eckhardt Rehberg von der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeord-neten! Herr Rossmann, es ist richtig: Wir brauchen mehrVerbindlichkeit. Das bedeutet aber auch mehr Verbind-lichkeit in ganz Europa. Alle europäischen Staaten müs-sen 3 Prozent des Bruttosozialprodukts für Forschungaufwenden. Mehr Verbindlichkeit bedeutet auch, dassdie Länder dafür sorgen müssen, dass beispielsweise diefast 5 Milliarden Euro, um die wir die Kommunen beider Grundsicherung ab 2014 entlasten, auch wirklich beiden Kommunen ankommen. Die Länder dürfen nichtklebrige Finger haben und einen Großteil dieser Gelderin den Landeshaushalten verschwinden lassen.
Ich könnte aus den Gesetzen über den kommunalen Fi-nanzausgleich zitieren. Da spielt die Parteifarbe über-haupt keine Rolle mehr.Ein weiteres Beispiel. Wo sind die 1,8 MilliardenEuro zur Deckung der Betriebskosten und zur Verbesse-rung der Qualität in den Kindergärten geblieben, die imRahmen der Mehrwertsteuer an die Länder geflossensind? Ich kenne kein einziges Land – ich lasse michgerne vom Gegenteil überzeugen –, in dem dieses Geldbei den Kommunen oder den freien Trägern angekom-men ist. Bevor wir, der Bund, überhaupt daran denkenkönnen, das Kooperationsverbot aufzuheben, müssen dieLänder erst einmal dafür sorgen, dass die Gelder, die derBund an die Kommunen weiterreichen will, auch tat-sächlich ankommen und nicht in den Länderhaushaltenversickern.
Lassen Sie mich auch etwas zum Thema BAföG sa-gen. Wie war es denn 2011 und 2012, als die Länder dieDaumenschrauben ansetzen und eine günstigere Vertei-lung zu ihren Gunsten erreichen wollten? Ich bin erstdann wieder bereit, über BAföG zu reden – das ist meineganz persönliche Meinung –, wenn die Länder vorher er-klären, was mitzumachen sie bereit sind. Es geht nichtan, dass der Bund einen Vorschlag macht und dann imBundesrat Erpressungsversuche gemacht werden. Wiralle miteinander haben auszubaden, wenn Pakete zulas-ten des Bundes geschnürt werden.
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22932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Eckhardt Rehberg
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Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD,den Grünen und den Linken, wir sind hier nicht in einemLandtag, sondern wir sind im Deutschen Bundestag undhaben eine bundespolitische Verantwortung.
– Ja, Herr Kollege Hagemann, das ist ein Bundesgesetz.Nur, die Vereinbarung ist: zwei Drittel, ein Drittel. Dasist seit Jahrzehnten so. – Ich glaube, es kann nicht soweitergehen, dass dann, wenn der Bund etwas Gutes fürStudierende tun will, Länder eine Verhandlungspositioneinnehmen, die zulasten der Studierenden und des Bun-des geht. Auch hierzu sollten wir über Parteigrenzen hin-weg einer Meinung sein.
Noch ein Satz zum BAföG. Das BAföG ist nicht ge-kürzt worden. Es gibt einen Einmaleffekt in Höhe von114 Millionen Euro – Stichwort „behinderte Kinder“ –wegen eines höchstrichterlichen Urteils. Es gibt auf-grund der demografischen Entwicklung einen Rückgangder Schülerzahlen, was sich auf das Schüler-BAföG aus-wirkt. Weiterhin ist an die 77 Millionen Euro wegen dergünstigen Zinsentwicklung auf den Kapitalmärkten zuerinnern.Weil Rot und Grün offenbar an kollektiver Amnesieleiden, will ich in Erinnerung rufen, wie Sie es geschaffthaben, in sieben Jahren das BAföG zu erhöhen. BeimSchüler-BAföG gab es eine Steigerung um 28 Euro – insieben Jahren –, beim Studierenden-BAföG um 34 Euro.Dagegen betrug die Steigerung der Höchstsätze in sechsJahren unter Bundesministerin Schavan beim Schüler-BAföG 190 Euro, beim Studierenden-BAföG 204 Euro.
Wir brauchen uns auch nicht ansatzweise vorhalten zulassen, dass wir, was die soziale Frage betrifft, auf einemAuge blind seien. Ganz im Gegenteil: Sie von Rot-Grünhaben sich in Ihrer Regierungszeit als Bildungspolitikernicht gegen den Finanzminister durchsetzen können.Frau Schavan hat das hingegen gegenüber HerrnSteinbrück und auch gegenüber Herrn Schäuble in einersehr kooperativen Art und Weise gemacht.
Herr Kollege Rehberg, würden Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr. Rossmann zulassen?
Aber gerne.
Bitte schön, Herr Dr. Rossmann.
Herr Rehberg, ich hoffe, dass Sie so fair sind, die
ganze Entwicklung nachzuzeichnen. Nach der ersten
großen BAföG-Verbesserung unter Edelgard Bulmahn
hat ein zweiter Aufschwung beim BAföG dann in der
Großen Koalition stattgefunden. Sind Sie so fair, zuzu-
geben, dass es einen Fraktionsvorsitzenden der SPD,
Herrn Struck, gab, der dem SPD-Finanzminister gesagt
hat: „Das ist so verdammt wichtig, dass du bestimmte
Prinzipien zurückstellen musst“? – Dadurch hat es einen
gewaltigen Unterstützungsschub für Frau Schavan gege-
ben, die das alleine nicht geschafft hätte. Das ist nicht
das schlechteste Beispiel dafür, dass Parlamentarier
manchmal sehr viel gegen eine kurzfristig denkende, fis-
kalpolitisch agierende Regierung durchsetzen können.
Lieber Kollege Rossmann, in einer anderen Funktionhabe ich vor über 15 Jahren gesagt: Die Regierungsfrak-tionen sind der Arbeitgeber der jeweiligen Regierung.
– Dazu stehe ich ohne Wenn und Aber. Sie haben ver-gessen, einen zu nennen, ohne den das nicht möglich ge-wesen wäre. Peter Struck alleine hat in der Großen Ko-alition wenig erreicht. Volker Kauder gehörte immerdazu.
Wir haben geliefert, und zwar das, was wir 2009 ange-kündigt haben. Wir haben mehr als 12 Milliarden Eurogeliefert. Das ist nicht nur eine imaginäre Zahl, sondern,Frau Kollegin Ziegler, wir haben in dieser Zeit dafür ge-sorgt, dass deutliche, qualitative Verbesserungen im Bil-dungsbereich eingetreten sind. Die Zahl der Schulabbre-cher ist in den letzten fünf Jahren von 8 Prozent auf6,5 Prozent gesunken, die Zahl der Studienberechtigtenist in den letzten zehn Jahren von 37 Prozent auf 49 Pro-zent gestiegen, und wir haben heute eine Studienanfän-gerquote von 45 Prozent. Das ist die höchste Quote, die esje in Deutschland gegeben hat. Heute haben wir doppeltso viele Hochschulabsolventen wie 1995. 86 Prozent derjungen Deutschen haben Abitur oder eine abgeschlosseneBerufsausbildung.Meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich könntedies darüber hinaus zum Beispiel an einem Bereich er-läutern, in dem wir eine ganze Menge gemacht haben: inder beruflichen Bildung. Wir haben mittlerweile, FrauHein, nicht über 300 000 Altbewerber, sondern wenigerals 300 000 Altbewerber. Wir haben es in diesem Jahrgeschafft, die Zahl der Altbewerber noch einmal umüber 10 000 und die Zahl derer, die in Übergangsmaß-nahmen sind, um über 25 000 zu reduzieren. Das heißt,das, was wir in den Übergang zwischen Schule und Be-rufsausbildung investiert haben, ist gut angelegtes Geld.Bildungsketten, Berufsorientierung, Potenzialanalysen,all dies wirkt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22933
Eckhardt Rehberg
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Frau Kollegin Hein, wir haben mittlerweile in denneuen Ländern ein ganz anderes Problem. Wir werden inMecklenburg-Vorpommern Ende September nach mei-ner Rechnung zwischen 1 500 und 2 000 Ausbildungs-plätze nicht besetzen können. Das sind nicht nur Ausbil-dungsplätze für die Berufe Koch oder Kellner – da hältsich mein Mitleid mit manchem Hotelier und Gastronomaus unterschiedlichen Gründen wirklich in Grenzen –,sondern auch für die Berufe Steuerfachgehilfin, Kran-kenschwester, in der Pflege, auch im gewerblichen Be-reich. Das heißt, es besteht nicht die Herausforderung,Ausbildungsplätze noch zu subventionieren. Die He-rausforderung besteht vielmehr darin, diejenigen Altbe-werber, die in den Übergangssystemen sind und keinenSchulabschluss haben, in berufsvorbereitende Maßnah-men zu bringen, damit sie eine duale Berufsausbildungantreten können, damit sie ihr Glück selber schmiedenkönnen, damit sie ihr Leben in Freiheit gestalten können.Es ist viel wichtiger, in diesem Segment Anreize zu ge-ben, als dafür zu sorgen, dass Leute in diesen Systemenverharren.Wir haben vorgestern erfahren, dass Deutschlandnach einem Report des Weltwirtschaftsforums im ge-samten Bereich „Innovationsförderung, Forschung, Ko-operation von Wirtschaft und Wissenschaft, duale Be-rufsausbildung“ auf Platz vier in der Welt steht.Angesichts dessen hat sich diese Investition in den letz-ten vier Jahren gelohnt. Diese 12 Milliarden Euro warengut angelegtes Geld.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
nicht vor.
Wir kommen deshalb zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Gesundheit, Einzelplan 15.
Als erster Redner hat das Wort der Bundesgesundheits-
minister Daniel Bahr.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren Abgeordnete! Der Einzelplan des Bundesgesund-heitsministeriums wird in diesem Haushaltsentwurf um2 Milliarden Euro gekürzt. Das ist der größte Kürzungs-beitrag und auch der größte Sparbeitrag, den ein Einzel-etat in diesem Bundeshaushalt leistet. Das hört sich anwie eine schlechte Nachricht, ist es aber nicht; es ist einegute Nachricht. Denn als vor zwei Jahren im Haushalt2 Milliarden Euro zusätzlich für den Einzelplan desBundesgesundheitsministeriums zur Verfügung gestelltworden sind, war das gedacht für einen Sozialausgleichfür aufwachsende Zusatzbeiträge, auch um ein drohen-des Defizit in Deutschland zu bewältigen. Heute könnenwir festhalten: Diese Regierung hat in den letzten Jahreneine gute Arbeit geleistet.
Sie hat dazu beigetragen, dass das größte Defizit, das dergesetzlichen Krankenversicherung in Deutschlanddrohte und zu Kaskadeneffekten bei den Krankenkassen,zu Kasseninsolvenzen geführt hätte, verhindert werdenkonnte. Ja, die Arbeit dieser Bundesregierung war so er-folgreich, dass wir uns heute über die Verteilung undVerwendung von Überschüssen streiten und nicht mehrdarüber, wie wir Defizite bewältigen. Das ist ein Erfolgder christlich-liberalen Koalition.
Dazu hat sicherlich die gute Konjunktur, zu der jaauch die Bundesregierung beigetragen hat, einen Beitraggeleistet. Vor allem hat die Gesundheitspolitik einen An-teil daran.Wir haben in unruhigen Zeiten den Bürgerinnen undBürgern Verlässlichkeit versprochen und bewiesen. Wirhaben dafür gesorgt, dass die Zuwächse für Krankenhäu-ser, für Ärzte und für andere Gruppen begrenzt wordensind. Wir haben nicht mit der Gießkanne ein bisschenGeld an alle ausgeschüttet, sondern gezielt dort Geldausgegeben, wo wir es dringend für die Versorgung derMenschen brauchen.Wir haben einen Paradigmenwechsel vollzogen:Nicht mehr der Pharmahersteller, nicht mehr das Arznei-mittelunternehmen entscheidet selbst über den Preis, unddie Beitragszahler, die Krankenkassen müssen ihn zah-len; nein, wir haben dafür gesorgt, dass jedes neue Arz-neimittel sich einer frühen Nutzenbewertung unterziehenmuss und der Preis zwischen Krankenkassen und Her-stellern ausgehandelt wird. Das hat dazu geführt, dasswir enorm sinkende Ausgaben für Arzneimittel haben.Das Geld kommt den Patienten in Deutschland zugute,meine Damen und Herren.
Unter den elf Jahren roter und grüner Führung imBundesgesundheitsministerium wurde in Deutschlandmehr Geld für Arzneimittel ausgegeben als für die am-bulante Versorgung der Patienten. Erst ein FDP-Ministerim Gesundheitsministerium in einer christlich-liberalenKoalition hat hier den Richtungswechsel eingeleitet.Heute können wir feststellen: Es wird wieder mehr Geldfür die ambulante Versorgung der Patientinnen und Pa-tienten in Deutschland ausgegeben als für Arzneimittel.Das ist die richtige politische Prioritätensetzung, die wirhier vornehmen.
An diesem Gesetz wird nicht gerüttelt. Das Arzneimit-telmarktneuordnungsgesetz ist ein gutes und erfolgrei-ches Gesetz. International wird mit großem Interesseverfolgt, wie es uns gelingt, die Arzneimittelausgaben inden Griff zu bekommen.Wir haben in dieser Legislaturperiode auch durchweitere Gesetze Prioritäten gesetzt. Wir geben das Geldnicht mit der Gießkanne an Ärztinnen und Ärzte, anKrankenhäuser, sondern wir sagen: Wir müssen Prioritä-ten setzen. Natürlich haben wir in den Ballungsräumen
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22934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Bundesminister Daniel Bahr
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eine gute Versorgung. Es macht mir keine Sorgen, wiedie Versorgungssituation in den kommenden Jahren inBerlin, in Köln, in Hamburg sein wird – da werden wiraller Voraussicht nach noch genügend Ärztinnen undÄrzte haben –, aber was mir zunehmend Sorgen macht,ist: Wie stellen wir die Versorgung in der Fläche sicher?Diese Koalition war es, die mit dem Versorgungs-strukturgesetz endlich eine Debatte in Deutschland da-rüber begonnen und erste Lösungen auf den Weg ge-bracht hat, die gegen den drohenden Ärztemangelarbeiten. Als noch die SPD die Führung im Gesundheits-ministerium hatte, wurde von Regierungsseite geleugnet,dass uns ein Ärztemangel droht.
Da haben Sie gesagt: Es gibt genügend Ärzte; die müs-sen nur zwangsweise besser auf dem Land verteilt wer-den. – Wir setzen die richtigen Anreize, damit junge Me-diziner motiviert sind und Lust haben, in der Fläche fürdie Patientinnen und Patienten da zu sein. Das hat dieseKoalition auf den Weg gebracht, meine Damen und Her-ren.
Für uns ist die freie Arztwahl ein hohes Gut. Wir wol-len, dass die Menschen sich darauf verlassen können,dass sie die Ärztin oder den Arzt ihres Vertrauens vorOrt wählen können. In anderen Ländern, die solche Mo-delle haben, wie Sie sie in der Gesundheitsversorgungwollen – staatliche Einheitskassensysteme, in denen derPatient zum Bittsteller wird –, erleben die Menschen dieschlechte medizinische Versorgung. Wir wollen, dass diedeutsche Gesundheitsversorgung mit der Wahlfreiheit,der freien Wahl des Arztes und der Krankenversiche-rung, erhalten bleibt, und dafür haben wir in diesen Jah-ren die Voraussetzungen geschaffen, meine Damen undHerren.
Wir wollen, dass die Menschen, die im Gesundheits-wesen arbeiten, dies mit Freude und Motivation tun.Leistungsgerechtigkeit gehört auch ins Gesundheitswe-sen: durch Vielfalt, durch eine leistungsgerechte Vergü-tung, durch Abbau von Bürokratie. Bei den letzten Ge-setzgebungsverfahren haben wir unseren Beitrag dazugeleistet.Aber es geht nicht nur um Gesundheit in meinem Ge-schäftsbereich, sondern es geht auch um Pflege. Das be-trifft die demografische Herausforderung einer alterndenBevölkerung und den Zusammenhang, den zunehmendmehr Familien erleben. Sie sehen, dass Familie nicht nurfür die guten Zeiten da ist, sondern auch für die Zeit,wenn ein Familienmitglied die Hilfe der anderenbraucht. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Mutteroder Vater, Großmutter oder Großvater pflegebedürftigwerden.Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz haben wirdafür gesorgt, dass die Demenz bei der Pflegebedürftig-keit endlich so berücksichtigt wird,
dass Menschen, die bisher keine oder kaum Leistungenaus der Pflegeversicherung bekommen haben, nun eineLeistung für den besonderen Betreuungsbedarf bei De-menz erhalten und selbst entscheiden können, welcheBetreuung sie in Anspruch nehmen.
Wir haben die Angehörigen gestärkt, weil die Ange-hörigen, die Familien es sind, die die Hauptlast derPflege zu Hause tragen. Die müssen wir unterstützen.Wir haben die Wahlfreiheit gestärkt, sodass selbst ent-schieden werden kann, welche Leistung man in An-spruch nimmt. Wir haben als erste Schritte Bürokratie inder Pflege abgebaut. Wir bauen in Deutschland erstmalseine private Säule in der Pflege auf, die private Pflege-versicherung. Sie sehen: Auch in der Pflege leisten wirunseren Beitrag, um dieses System zukunftssicher zumachen,
damit sich die Menschen auch in den kommenden Jahrendarauf verlassen können: Pflege – darum kümmern wiruns; Pflege – das ist etwas, was auch in den kommendenJahren den kommenden Generationen noch zur Verfü-gung steht, meine Damen und Herren.
Ich möchte konkret etwas sagen zu dem Haushalt unddem, was uns in den letzten Jahren beschäftigt hat.
– Es scheint Sie ja zu treffen, dass wir mittlerweile eineso gute Bilanz vorweisen können, was Dinge angeht, diewir auf den Weg gebracht haben, und was die Finanzlageangeht, die sich nämlich solide darstellt. Wir achten wei-ter mit Augenmaß darauf. Wir geben die Überschüssenicht mir nichts, dir nichts, leichtfertig, aus kurzfristigerSicht aus, sondern wir bleiben dabei, die Ausgaben mitAugenmaß im Blick zu haben und trotzdem die richtigenPrioritäten zu setzen.
Die Leistungen der Krankenversicherung sind heuteweitgehender und umfassender als zu Beginn der Legis-laturperiode. Krankenkassen erstatten mittlerweile wie-der OTC-Präparate, die nicht rezeptpflichtigen Arznei-mittel, die Sie aus der Erstattungsfähigkeit gestrichenhaben. Das, was Krankenkassen heute an Leistung brin-gen, ist mehr als das, was wir vorgefunden haben, als wirdie Verantwortung übernommen haben. Das ist doch dieBilanz der christlich-liberalen Koalition in diesem Jahr.Wir leisten einen Beitrag dazu, auch andere wichtigegesellschaftliche Themen auf den Weg zu bringen. Indiesem Haus ist parteiübergreifend ein Beschluss gefasstworden, der, so finde ich, ein starkes Signal an die Be-
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Bundesminister Daniel Bahr
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völkerung war und weiterhin ist. 12 000 Menschen inDeutschland warten auf Wartelisten dringend auf ein Or-gan. 12 000 Menschen in Deutschland sind krank undbrauchen dringend Hilfe. Sie brauchen die zweiteChance zu einem Leben. Wir waren uns parteiübergrei-fend einig, dass wir dieses Thema voranbringen wollen,weil wir davon überzeugt sind, dass sich die Menschendurch richtige Aufklärung und richtige Information ent-scheiden können – entweder für oder gegen die Organ-spende. Schon damals hatten wir in einigen Bereichenheftige Diskussionen, weil sich zeigte, dass der eine oderandere grundsätzlich der Organspende gegenüber skep-tisch ist.Ich sage Ihnen ganz offen: Ich hätte nicht gedacht,dass ein einzelner Arzt in der Lage ist, zu manipulierenund damit das Vertrauen in das gesamte System infragezu stellen. Deswegen ist die richtige Konsequenz, diewir aus diesen Vorfällen ziehen, dass wir das Vertrauenin die Organspende wieder stärken, dass wir eine bessereKontrolle, eine bessere Aufsicht schaffen, auch durchstaatliche Institutionen, und dass wir vor allem bei den-jenigen, die sich nicht an Recht, Gesetz und Regeln ge-halten haben, die richtigen Konsequenzen ziehen. Diemüssen die Konsequenzen spüren, auch damit es andereabschreckt.
Wir starten eine Kampagne zur besseren Aufklärung.In diesem Haushaltsentwurf stehen 9 Millionen Euro füreine Kampagne zur Aufklärung über die Organspendezur Verfügung; das sind 6,5 Millionen Euro mehr. Wirsagen: Wir wollen uns aufgrund der Vorfälle nicht vonunserem Werben für die Organspende abbringen lassen.Wir sagen: Nein, jetzt erst recht wollen wir die Gelegen-heit nutzen, für die Organspende zu werben.
Alle Bürgerinnen und Bürger werden, beginnend noch indiesem Jahr, angeschrieben, informiert und aufgeklärt,um sich bei der Organspende entscheiden zu können.Ich sage an die Linken und die Grünen eines klippund klar: Wer bei diesem Thema Transparenz einfordert– wir sorgen wie keine Regierung vorher dafür, dass esdiese Transparenz gibt –, der muss auch die Verantwor-tung zeigen, damit umzugehen.
Das, was Sie machen, ist verantwortungslos gegenüberden 12 000 Menschen, die schwer krank sind und imMoment enorm verunsichert sind, weil sie Angst haben,ob sie ein Organ gespendet bekommen. Das, was Sie mitden Vorhaltungen und Verdächtigungen machen, ist eineVerunsicherung der Bevölkerung, die verantwortungs-los ist gegenüber den Menschen, die dringend unsereHilfe brauchen.
Wenn Sie hier mit Zahlen arbeiten, die ein Abgeord-neter in seinem Hinterzimmer mal eben mit dem Bleistiftausgerechnet hat, dann würden Sie, Herr Kollege Terpe,beim Statistikschein an der Universität, den Sie als Me-diziner gemacht haben und den ich als Volkswirt ge-macht habe, glatt durchfallen; denn Sie haben die Trans-plantationen des Jahres 2011 mit der Warteliste für dasJahr 2012 verglichen und einen perfiden Verdacht in dieÖffentlichkeit gebracht, dass privat Versicherte bevor-zugt werden.
Die Zahlen geben das nicht her. Sie verunsichern die Be-völkerung und tragen mit dazu bei, dass wir bei der Or-ganspende nicht weiterkommen.
Die Zahlen legen das jetzt erwiesenermaßen dar.Deswegen: Hören Sie auf damit, bei einem so hoch-sensiblen Thema Ihr parteipolitisches Süppchen zu ko-chen, sondern setzen Sie sich mit uns an den Tisch, umgemeinsam die richtigen Konsequenzen aus den Vorfäl-len zu ziehen, und verunsichern Sie die Menschen nichtweiter! Dann kommen wir in der Gesundheitspolitik vo-ran.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Ewald Schurer von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Haushälterbleibt mir erst einmal nur, dem Herrn Minister und demMinisterium für das rechtzeitige Bereitstellen der um-fänglichen Unterlagen und für die Beratungen zu dan-ken. Dafür ganz herzlichen Dank! Das ist nicht nur Rou-tine, sondern mit viel Arbeit verbunden.Herr Minister, jetzt alles messen zu wollen, was Siegemacht haben, ist schwierig. Sie haben mich mit denDuftwolken des Eigenlobs, die Sie hier ausgeströmt ha-ben, ein bisschen betört.
Es ist schon so: Für zwei Sekunden haben Sie mich daetwas irritiert.Aber kommen wir zurück zu den Fakten. Sie habenEntwicklungen, die unzweifelhaft mit der guten Kon-junktur verbunden sind, gelobt, zum Beispiel den Sozial-ausgleich. Ich möchte einige Fakten nennen, die das et-was relativieren. In der Zeit, in der Sie regieren, hat sichdie mangelnde Versorgung mit Ärzten in ländlichen Ge-bieten nicht verbessert. Wir können über Absichten,müssen dann aber auch über die Realität reden. Die Rea-lität zeigt, dass ländliche Gebiete in vielen Bundeslän-dern große Schwierigkeiten haben, eine ärztliche Min-destversorgung aufrechtzuerhalten.
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Ewald Schurer
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Das ist in den Jahren, seit Sie Verantwortung tragen– erst als Staatssekretär, dann als Minister –, nicht bessergeworden. Durch die steigenden Kosten in Kliniken undKrankenhäusern ist ferner ein Kostendruck entstanden,den Sie nicht unter Kontrolle gebracht haben.
Ein Stück weit komme ich Ihnen bei dem sehr sensi-blen Thema der Organspende entgegen. Zu diesemThema möchte ich keine politischen Angriffe formulie-ren. Ich bin mir aber nicht sicher, wie das in dem umge-kehrten Fall, dass die Sozialdemokraten an der Regie-rung wären, gewesen wäre. Ich glaube, dass man diesesehr schlimmen Skandale und Manipulationen gegeneine SPD-Ministerin verwendet hätte. Ich bin mir daaber nicht ganz sicher. Ich will es nicht tun, weil ichweiß: Da geht es um Tausende von Menschen; da geht esum Leben und Tod. Schließlich geht es darum, dass wiraus den Skandalen lernen und versuchen, künftig Ord-nung in diesen Bereich hineinzubekommen. Von alleinewird das – das wissen Sie, Herr Minister – nicht gesche-hen. Da muss von politischer Seite nachhaltig insistiertund für Regelungen gesorgt werden.Haushaltsdebatten bieten immer die Gelegenheit, In-halte und Haushaltszahlen in Verbindung zu bringen.Nach § 221 SGB V erhält der Gesundheitsfonds jährlichmaximal 14 Milliarden Euro einschließlich der 2 Mil-liarden Euro Sozialausgleich. Die Struktur des Haushal-tes wäre – Sie haben es angesprochen – eigentlich unver-ändert, wenn nicht Minister Schäuble – alleine, so meinEindruck – entschieden hätte, die 2 Milliarden Euro ein-malig als Rendite einzubehalten.
In der mittelfristigen Finanzplanung für die Jahre ab2014, werter Kollege, werden wieder 14 Milliarden Euroausgebracht. Trotzdem werden den Kassen die 14 Mil-liarden Euro ausgereicht. Die Einsparung der 2 Milliar-den Euro ist sicherlich auch Folge einer guten ökonomi-schen Entwicklung gerade in den letzten beiden Jahren,in denen wir gemeinsam feststellen konnten: Reformenin unserem Land, Reformen, die auch in den Jahren so-zialdemokratischer Regierung entstanden sind, habenWirkung gezeigt.Meine Damen und Herren, trotzdem ist es schwierig,wenn die Kassen und der Fonds derzeit, Stand August,22 Milliarden Euro Überschüsse haben und kaum in derLage sind, diese unter den obliegenden Verhältnissenund unter Sicherheitserwägungen wirtschaftlich gut an-zulegen. Das ist ein bisschen problematisch. Ich erlebein vielen Gesprächen, dass die Versicherten das nur einStück weit oder gar nicht verstehen. Sie erleben sehrharte wirtschaftliche Entscheidungen der Kassen. Sie er-leben, dass Mutter/Vater-Kind-Kuren im ersten Zugeübermäßig stark abgelehnt werden. Sie erleben auch beichronischer Krankheit und trotz Prozentregelung mar-kige Zuzahlungen für Medikamente und erfahren dannaus den Medien von einem Überschuss in Höhe von22 Milliarden Euro, der sich bis zum Jahresende, so diePrognosen, sogar bis auf 27 Milliarden Euro hinauf-schrauben kann. Da wären politische Führung und Re-aktion von Ihrer Seite nötig.Sie haben sehr vorsichtig gesagt, Sie könnten sich an-gesichts der 22 Milliarden Euro vorstellen, dass die Pra-xisgebühr abgeschafft wird, was wir Sozialdemokratin-nen und Sozialdemokraten ebenfalls wollen.
Aber im Kanzleramt konnten Sie sich nicht durchsetzen.Vielleicht sind Sie da auch nicht richtig gehört worden.Da war Ihre Durchschlagskraft oder Ihre Eloquenz, HerrMinister, mit Verlaub, nicht sehr stark.Auch an die Zusatzbeiträge haben Sie sich nicht her-angewagt. Ich würde mir einen Minister wünschen, derdieses Thema deutlich und öffentlich wahrnehmbar an-spricht,
auch um den Versicherten angesichts der Überschüsse inHöhe von 22 Milliarden Euro, die von den Kassen imAugenblick wirtschaftlich gar nicht gut genutzt werdenkönnen, das Gefühl zu geben, dass etwas geschieht.Zum Haushalt selbst in aller Kürze. Der materielleKern des Haushalts – das wissen wir alle – umfasst nichteinmal 4 Prozent des Gesamthaushalts, also rund490 Millionen Euro, für Personal, Programme, Logistik.Positiv – Sie haben es erwähnt – ist die Erhöhung derMittel für die Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-klärung in Köln, BZgA, um 6 Millionen Euro im Zusam-menhang mit der Umsetzung des Transplantationsgeset-zes.Negativ ist – das muss man hier deutlich sagen –: Al-les, was Programmcharakter hat, in wichtigen Bereichenwie Sucht und Drogenmissbrauch oder HIV/Aids, wirdvon Ihnen weiterhin millionenschwer zusammenkürzt,zum Teil sogar aufgelöst. Das verstehe ich nicht. Da istkein Gedanke, keine Linie zu erkennen, es sei denn, Siesagen – das ist schon ein bisschen à la FDP –: Wenn sichjeder selbst hilft, dann ist allen geholfen.
So kann man aber nicht wirklich eine nachhaltige, guteGesundheits- und Pflegepolitik machen; das muss ich Ih-nen schon einmal ganz deutlich sagen.
Ich finde es schon skandalös – die Kollegin wird nochdarauf eingehen –, dass Sie den kleinen Titel „Förderungder Kindergesundheit“ ersatzlos streichen. Das versteheich nicht. Kindergesundheit ist auch vor dem Hinter-grund der schwierigen sozialen Entwicklungen in dieserGesellschaft ein riesiges Thema. Hier sind Sie völlig un-sensibel. Sie sind im Bereich „Prävention und Pro-gramme“ wiederum sehr schwach aufgestellt.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, letzten Samstag habe ich eine Pflegeeinrich-tung in meiner Region, in Oberbayern, besucht. Natür-lich ging es – das besagt schon das Thema – um einen
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Dialog mit der Hausleitung und mit den Pflegefachkräf-ten. Da war man zunächst einmal überrascht, dass Sie,Herr Minister Bahr, das Thema „Zunahme der Demenzals schwierige Entwicklung in unserer Pflegelandschaft“überhaupt aufgegriffen haben. Das hat man positiv ver-merkt: Der Minister Bahr hat das Thema Demenz alsschwierige Entwicklung im Bereich der Pflege wahrge-nommen und andiskutiert. Aber man sagt zur gleichenZeit: Das, was Sie da in Angriff genommen haben, istnicht mehr als eine symbolische Maßnahme, die vor al-len Dingen der privaten Assekuranz, der Versicherungs-wirtschaft, zugutekommt; diese Rechenmodelle helfennatürlich in keiner Weise den bedürftigen Menschen. In-sofern kann ich sagen: Draußen in meinen vielen Ge-sprächen mit Menschen in der Fachpflege, ob ambulantoder in Pflegeeinrichtungen, kommt der Pflege-Bahr sovor: Man sagt, das sei eine gute Symbolik – immerhinwurde das Thema erkannt –, aber Sie kämen demWunsch nach einer Umsetzung in Richtung eines Aus-baus der nachhaltigen Pflege nicht nach.Insofern kann ich sagen: Ihre Duftwolken waren hierzwar zu Beginn rosig und wohlriechend; aber ich kanndas Schönzeichnen des Zustandes Ihres Ministeriumsnicht nachvollziehen. Ich glaube, Sie haben so ein biss-chen versucht, sich durchzuwurschteln; richtig großePerspektiven haben Sie in diesen Jahren nicht aufge-zeigt. Da wird wohl eine neue Bundesregierung kommenmüssen, unter sozialdemokratischer Führung,
um neue Perspektiven in Gesundheit und Pflege zu er-öffnen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Harald Terpe, der ja zuvor persönlich ange-
sprochen worden ist.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Bahr,
ich möchte entschieden den Vorwurf zurückweisen, hier
ein parteipolitisches Süppchen zu kochen; das war Ihr
Vorwurf. Sie haben auch gesagt, dass ich mich hinge-
stellt und gesagt hätte, dass das statistisch valide Zahlen
sind, und haben auf die statistische Ausbildung von uns
beiden hingewiesen.
Ich glaube, das Problem liegt eher woanders: Wir ha-
ben eine unterschiedliche Auffassung davon, ob dem
Transplantationssystem in Deutschland eher damit ge-
holfen ist, dass man im Hinblick auf die Transparenz
eine bleierne Decke darüberlegt,
oder eher damit, dass man eine transparente Politik be-
treibt. Die Zahlen stimmen insofern,
als dass der Vergleich der Zahlen der Warteliste von
2011 mit den Transplantationszahlen von 2011 sogar
noch ungünstiger aussieht; ich habe die Zahlen hier lie-
gen.
– Nein, das ist kein neuer Vorwurf. Ich habe nicht ge-
sagt, dass das statistisch valide Zahlen sind. Das ist der
Vorwurf, den Sie immer machen.
Der Unterschied – das habe ich ausgeführt – liegt eher
darin, dass Sie mit der Situation so umgehen, dass Sie ei-
ner Transparenz und einer besseren Kontrolle bisher
nicht das Wort geredet haben. Sie haben hier heute in der
Rede gesagt, dass Sie etwas unternommen haben. Ich
sage dazu nur: Sie sind da ein Getriebener gewesen und
haben nicht proaktiv selbst die Initiative ergriffen, ob-
wohl Sie im Frühjahr die Möglichkeit gehabt hätten.
Denn wir haben eigentlich gute interfraktionelle Gesprä-
che geführt. Da ist das Thema auf den Tisch gelegt wor-
den, und an der Stelle ist nichts erfolgt. Nur getrieben
durch die Ereignisse machen Sie jetzt Konzessionen.
Von uns kam ein Vorschlag, wie man das besser machen
kann. Ich bin gespannt, wie wir die Gespräche in Zu-
kunft weiterführen werden; denn es gibt gute Gründe, an
diesem System, was Kontrolle und Transparenz betrifft,
etwas zu verbessern.
Zur Erwiderung, Herr Bundesgesundheitsminister.
Lieber Kollege Harald Terpe, Fakt ist, dass das, wasSie an Zahlen mit einem politischen Vorwurf verbundenhaben, nämlich dass Privatversicherte bei der Organ-spende bevorzugt werden, nicht zutrifft.
Die Zahlen, die Sie verwendet haben, geben das nichther. Erstens. Wenn Sie die Zahl der Transplantationenmit der Zahl der Patienten auf der Warteliste verglei-chen, dann müssen Sie dasselbe Jahr heranziehen. Dashaben Sie nicht gemacht. Sie haben zwei verschiedeneJahre miteinander verglichen.
Zweitens. Sie können nicht einfach nur die Anzahl derVersicherten auf der Warteliste heranziehen; denn geradedie Vorfälle in Göttingen und Regensburg zeigen, dass
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die Position auf der Warteliste das Entscheidende ist.Das wird deutlich, wenn man sich mit den Zahlen be-schäftigt; nichts anderes will ich sagen.Auch ich kann leicht mal eben mit dem Bleistift rech-nen und dann eine politische Forderung aufstellen. Aberbei einem so hochsensiblen Bereich rate ich uns allen, sonicht vorzugehen. Hinter der Debatte steckt eine politi-sche Geisteshaltung. Seit Wochen versuchen die Grünenimmer wieder, das System der Organspende in Deutsch-land zu diskreditieren.
Sie verbinden das mit dem Vorwurf, dass privat und ge-setzlich Versicherte unterschiedlich behandelt werden.Genau das steckt bei Ihnen dahinter. Die Zahlen gebendas aber nicht her; vielmehr wurde festgestellt, dass un-ter den Privatversicherten auf der Warteliste eine höhereSterblichkeit zu verzeichnen ist als bei den gesetzlichVersicherten.Sie stellen einen Unterschied von 3 Prozent fest. Dasist nicht viel. In Deutschland werden jährlich 700, 800oder 900 Lebertransplantationen vorgenommen. 3 Pro-zent Unterschied zum Anlass zu nehmen,
einen solch generellen Vorwurf zu erheben, halte ich fürverantwortungslos, für bösartig, für schäbig, erst rechtden Patienten gegenüber, die dringend auf ein Spender-organ warten. Davon werden Sie mich nicht abbringen.
Das Interessante ist doch: Die Vorfälle von Göttingenund Regensburg beschäftigen uns in Bezug auf dieTransplantation. Die Grünen beschäftigen sich in allenDebatten nicht mit der Transplantation eines Organs,sondern mit der Organspende, mit der DSO. Die DSOals Institution hat aber mit den Fällen in Göttingen undRegensburg überhaupt nichts zu tun; das heißt, Sie füh-ren eine andere Diskussion.Ich habe von Anfang an gesagt – das können Sie denPresseveröffentlichungen des Sommers entnehmen –,dass sich auch die DSO einer kritischen Überprüfungstellen muss. Wir haben Konsequenzen gezogen. ImStiftungsrat werden künftig staatliche Vertreter sitzen,nämlich des Bundesgesundheitsministeriums und derLänder.
Das ist eine wesentliche Änderung in den Strukturen derDSO. Die Personalentscheidung bei der DSO steht nochaus, aber klar ist, dass die Strukturen der DSO überarbei-tet werden. Wir werden das System der Organspendeund der Verteilung von Organen weiter organisieren undKonsequenzen ziehen. Wir werden uns gemeinsam mitden Ländern die Frage stellen, ob strafrechtliche Verän-derungen im Gesetz vorgesehen werden müssen. Daskönnen wir derzeit noch nicht beurteilen. Wir werden dieKontrollen verbessern, indem wir beispielsweise unan-gemeldete Kontrollen durchführen werden und anderesmehr.Wir können das Vertrauen nur zurückgewinnen, in-dem wir die richtigen Konsequenzen ziehen und dierichtigen Antworten auf die Vorfälle finden, und nicht,indem wir Verdächtigungen und Verunsicherung in dieÖffentlichkeit bringen. Damit tragen wir nicht zum Ver-trauen in das System Organspende bei. Ich fordere Sieauf: Kommen Sie mit uns an den Tisch! Ich habe alle zuGesprächen eingeladen.
Herr Minister, die Zeit ist abgelaufen.
Führen Sie diese Debatte in Gesprächen mit uns am
Tisch und nicht in der Bild-Zeitung oder anderen Zeitun-
gen! Das ist mein Thema. Wir dürfen die Verunsiche-
rung in der Bevölkerung nicht noch weiter befeuern,
sondern wir müssen der Bevölkerung wieder Vertrauen
geben. Das ist es, was die Menschen brauchen.
Bitte schön, Frau Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Bahr,
ich möchte die Gelegenheit nutzen, deutlich zu machen,
dass ich es inakzeptabel finde, dass Sie in Ihrer Antwort
auf die Kurzintervention meinen Kollegen Harald Terpe
und sein Verhalten als bösartig bezeichnen. Das ist inak-
zeptabel und unangemessen. Man kann in der Sache
streiten, man kann in der Sache hart sein, aber ich finde
es anmaßend, dass Sie als Minister meinen Kollegen und
sein Verhalten als bösartig bezeichnen.
Darf ich fragen, ob einer der anderen Geschäftsführerdarauf erwidern möchte? – Wenn nicht, dann setzen wirdie Debatte in der vorgeschlagenen Reihenfolge fort.Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer vonder CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Kommen wir wieder zum Hauptpunkt der heutigenDebatte zurück: Noch nie in der Geschichte der Bundes-republik Deutschland waren die Finanzen der gesetzli-chen Krankenversicherung so geordnet, so nachhaltigund so sicher wie jetzt, im September 2012. Unabhängigdavon, ob am Ende des Jahres im Gesundheitsfonds undbei den Krankenkassen 20, 22 oder gar 25 MilliardenEuro angehäuft worden sind: Die rund 70 MillionenMenschen, die in der gesetzlichen Krankenversicherungversichert sind, wissen, dass eine einmalig hohe ReserveSicherheit und Vertrauen schafft. Das ist alles andere alsselbstverständlich, und zwar deswegen nicht, weil in derGeschichte der gesetzlichen Krankenversicherung au-ßerordentliche Schwankungen sowie die Defizitbekämp-fung eher die Regel waren.Wenn wir in das eine oder andere Nachbarlandschauen, dann erkennen wir, dass wir in Deutschlandeine Insel der Stabilität in der Krankenversicherung vor-finden.
Einige Beispiele: Das neue Ärzteblatt berichtet, dass sichFrankreich in diesen Tagen nicht die Frage stellt: Wastun mit den Überschüssen?, sondern: Wie kann man einDefizit der staatlichen Krankenversicherung von sageund schreibe 8,6 Milliarden Euro in den Griff bekom-men? Das Gesundheitswesen, früher ein Stolz derGrande Nation, entpuppt sich als finanzielles Sorgen-kind. – Die Krankenversicherten in Spanien plagen sichmit einem Schuldenberg, welcher die astronomischeHöhe von 16 Milliarden Euro erreicht hat. – Die Men-schen in Griechenland sind vielfach in höchster Not. Pa-tienten erhalten Arzneimittel und ärztliche Behandlungnur noch gegen Barzahlung, weil die Krankenkassennicht mehr genügend solvent sind. Einer der großenPartner im griechischen Gesundheitswesen klagte vorkurzem: Das Gesundheitssystem bricht zusammen.Wir, die christlich-liberale Koalition, waren in denvergangenen Jahren mit der Unterstützung vieler Gut-williger und Leistungsfähiger so erfolgreich, dass wireine komfortable, ich würde fast sagen: Luxusdiskussionführen können, wie wir mit den Überschüssen richtigumgehen. Davon hätte Rot-Grün nur träumen können.Wir tun es.
Dabei müssen wir sorgfältig und klug vorgehen.Die krisenhaften Verschlechterungen bei einer Reihevon europäischen Nachbarn mahnen uns und raten zurVorsicht. Wir sollten die einmalige historische Chanceauf Nachhaltigkeit nutzen. Das heißt: Es darf keine Rollerückwärts bei den Ausgaben geben. Wir dürfen nicht alleHähne wieder aufdrehen. Das Geld der Versicherten istzu kostbar, als dass es plötzlich wieder mit vollen Hän-den ausgegeben werden darf. Wir wollen keinen Wett-lauf beim Geldausgeben.Wir anerkennen, dass die Partner im Gesundheitswe-sen zum Teil einschneidende harte Sparmaßnahmenhaben hinnehmen müssen, zum Beispiel die Pharma-industrie mit Zwangsrabatten; aber auch Ärzte, Kran-kenhäuser und Apotheker haben ihren Anteil erbracht.Diese einschneidenden Sparmaßnahmen können nichtunbegrenzt fortgesetzt werden, etwa in den Krankenhäu-sern, weil dort der größte Anteil der Ausgaben Personal-kosten sind. Sie betragen etwa 60 Prozent. Die Beschäf-tigten in den Krankenhäusern haben ein Anrecht aufausreichende, adäquate Entlohnung ihrer großartigenArbeit.
Natürlich tun wir etwas, vorsichtig, überlegt, aber kon-zentriert.Selbstverständlich gibt es noch Herausforderungen.Die größte Herausforderung ist sicherlich, die Gesund-heitsstruktur in den ländlichen Räumen zu erhalten. Ichnehme an, wir alle im Plenum sind für Strukturpolitik.Aber Strukturpolitik gelingt niemals ohne eine adäquateGesundheitsversorgung sowohl in den Ballungsräumenals auch in den ländlichen Regionen. Es nützt nichts, diebeste Autobahn zu bauen und die schnellste Internetver-bindung bereitzustellen, wenn der Arzt, die Apothekeoder das Krankenhaus erst nach eineinhalb StundenFahrzeit mit dem Auto erreichbar sind. Deshalb wird diestrukturpolitische Absicherung der Gesundheitsversor-gung ein ganz zentrales Element der Politik der nächstenMonate sein.Um einmal ganz konkret zu sagen, was damit gemeintist: Wenn wir jetzt beispielsweise den Festzuschlag derApotheker für Arzneimittel – der immerhin seit 2004,also seit über acht Jahren, unverändert ist – erhöhen,dann müssen wir uns auch Gedanken machen über einenAusgleich für Apotheken, die Not- und Feiertagsdienstin den ländlichen Regionen leisten. In den Ballungsräu-men, zum Beispiel in der Nähe eines großstädtischenBahnhofs, ist der Sonn- und Feiertagsdienst für Apothe-ken keine unattraktive Sache. Im Gegenteil: MancheApotheken haben sowohl tagsüber als auch nachts einengroßen Kundenzustrom. Für die Apotheke in einer länd-lichen Region jedoch, die im Rahmen eines solchen Not-dienstes in 24 Stunden oft nur einmal besucht wird, musses einen Ausgleich geben, wenn wir die bestehenden Ge-sundheitsstrukturen erhalten wollen.
Dieser Linie entspricht im Übrigen auch die Entschei-dung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichts-höfe, der sich erst vor kurzem zur Frage „Versandhandeloder Bewahrung der ortsnahen Versorgung“ ganz klarfür letztere Option ausgesprochen hat.Wir werden auch darauf achten, dass Krankenhäusermit nur geringen Bettenzahlen in den ländlichen Regio-nen nicht dadurch in eine Schräglage geraten, dassPatienten die Krankenhäuser in den Ballungsräumenaufsuchen und dadurch dort die Bettenzahlen steigen,wohingegen die Bettenzahlen bei den regionalen Kran-kenhäusern sinken und diese am Ende mangels finan-
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zieller Leistungsfähigkeit geschlossen werden müssen.Das würde wiederum bedeuten, dass eine Abwanderungeinsetzt, die wir nicht wollen. Wir wollen eine gleichmä-ßige Versorgung erhalten. Darum haben wir das Versor-gungsstrukturgesetz auf den Weg gebracht und uns ins-besondere der ländlichen Versorgung im Hinblick aufausreichende ärztliche Leistung angenommen.Ein weiteres wichtiges Thema für den Rest der Legis-laturperiode ist die Prävention, und zwar nicht, weil diesimmer gerne zum Ende einer Legislaturperiode in denpolitischen Schaufensterkasten gestellt wird, sondernweil es notwendig ist.
Nach meiner festen Überzeugung wird unser derzeit ge-festigtes Gesundheitssystem ohne einen Quantensprungim Bereich der Prävention die nächsten 10 oder 20 Jah-ren nicht überleben können. Wenn beispielsweise dieKarrieren im Adipositasbereich bei einer beängstigendwachsenden Zahl von jungen Menschen sehr früh gestar-tet werden, dann führt das nicht nur zu einem persönli-chen Unwohlsein, sondern auch zu einer Belastung dergesetzlichen Krankenkassen, die wir bei dem explo-sionsartigen Anstieg dieser Zahlen dauerhaft nicht be-wältigen können. Deshalb ist Prävention notwendig, unddeshalb haben wir als Union vor wenigen Wochen, amEnde der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause,ein entsprechendes Grundsatzpapier vorgestellt. Darinhaben wir konkrete Vorschläge gemacht. Ich sage Ihnen:Auch Prävention gibt es nicht zum Nulltarif. Auch hierwerden wir im Sinne einer nachhaltigen Politik handelnmüssen, die sich aber lohnt, die Gewinn bringt und diedie Menschen gesund erhält.Bei all diesen Herausforderungen, die wir noch be-wältigen werden, brauchen wir immer ein hinreichendgroßes Polster, sodass wir in der gesetzlichen Kranken-versicherung auf alle wie auch immer gearteten unvor-hergesehenen Ereignisse reagieren können und entspre-chend vorbereitet sind. Selbstverständlich gilt: Diegesetzliche Krankenkasse soll keine Sparkasse sein. Daseingezahlte Geld ist für die Versorgung da, und deshalbmüssen wir immer bedenken, dass es den Versichertenzusteht. Daher ist es völlig legitim, darüber nachzuden-ken, wie wir mit dem Geld, das dauerhaft nicht benötigtwird, umgehen.Fest steht: Es gibt derzeit nicht einmal im Ansatz einFinanzproblem in der gesetzlichen Krankenversiche-rung. Die Versicherten in Deutschland können ohneSorge sein. Denen, die in dieser Phase herummäkeln, dasGanze schlechtreden und versuchen, ein Haar in derSuppe zu finden, sage ich: Sie sollten mit diesemkrampfhaften Versuch, die Realitäten umzudeuten, jetztbitte schön endlich aufhören und anerkennen, dass es gutgelaufen ist, dass es in Ordnung ist. Das ist ein Grund,sich zu freuen, und das sollten wir gemeinsam tun.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege
Harald Weinberg das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Zunächst ein-mal muss ich ganz kurz auf das Thema Organspende zu-rückkommen, weil auch meine Fraktion angesprochenworden ist. Ich muss den Vorwurf, dass wir in irgendei-ner Form ein parteiliches Süppchen daraus gekocht hät-ten, deutlich zurückweisen.
Es sind die Vorfälle bei der Organspende selbst, die fürVerunsicherung gesorgt haben – das müssen Sie erst ein-mal anerkennen –, und nicht die Forderungen nach Auf-klärung, Transparenz und Kontrolle.
Bei dem Thema Aufklärung, Transparenz und Kontrollesind wir gefordert. Hierzu hatten wir einen Entschlie-ßungsantrag vorgelegt, der sang- und klanglos von derKoalitionsmehrheit abgelehnt worden ist.
Er hätte die Möglichkeit geboten, genauer hinzuschauen.Am meisten freut mich, dass dies der letzte Haushaltist, der von dieser schwarz-gelben Bundesregierung ein-gebracht wird;
denn die Gesundheitspolitik dieser Regierung bestehtaus einer seltsamen Mischung aus sozialpolitischer Igno-ranz und der Unfähigkeit, zu den eigenen Positionen inder Öffentlichkeit zu stehen.
Das will ich begründen und blicke deshalb auf daswichtigste gesundheitspolitische Projekt der Regierungzurück, die Durchsetzung von Kopfpauschalen. MeineDamen und Herren, Sie wissen: Kopfpauschalen sindKrankenkassenbeiträge, an denen sich kein Arbeitgeberbeteiligt und die der Tellerwäscher in gleicher Höhe zah-len muss wie der Millionär. Ihr einziger Zweck bestehtdarin, Arbeitgeber aus der Verantwortung zu entlassenund Gutverdiener auf Kosten der Geringverdiener bes-serzustellen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012 22941
Harald Weinberg
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Das haben die Menschen im Land allerdings bemerkt.Deswegen hat die Regierung versucht, dem Ganzen ei-nen netteren Namen zu geben, nämlich Gesundheitsprä-mie. Aber auch das haben die Menschen bemerkt. Selbst80 Prozent der Anhänger von Schwarz-Gelb waren ge-gen diese Gesundheitsprämie. Nun bekamen viele in derUnion kalte Füße; an die Diskussion erinnern wir unsnoch. Die FDP-Umfragewerte gingen gleich in denfreien Fall über. Die Regierung konnte aber ohne Ge-sichtsverlust keinen Rückzieher mehr machen. Alsoblieb nur Trickserei: Rösler, Bahr und Co. schriebenKopfpauschalen ins Gesetz, versahen sie aber mit einemZeitzünder. Die Versicherten werden erst dann ge-schröpft, wenn die Konten der Krankenkassen leer sind,und das sind sie derzeit bekanntlich nicht,
weil gleichzeitig der Beitragssatz erhöht worden ist, so-dass die Kassen vermutlich bis zur Bundestagswahl ineinem Jahr genug Geld haben.
Ließe man das Gesetz nach der Wahl so, wie Sie esgeschaffen haben, dann würden die KopfpauschalenRealität. Bis dahin haben wir mit Sicherheit einen ver-schärften Wettbewerb um die Vermeidung von Kopfpau-schalen zwischen den Krankenkassen. Einen solchenWettbewerb haben wir ja bereits erlebt. Sie haben mitdiesem Vorhaben zunächst einmal Ihre sozialpolitischeIgnoranz bewiesen. Sie haben sich am Ende aber nichtgetraut, den Wählerinnen und Wählern reinen Wein ein-zuschenken.In der ambulanten Versorgung verkommt ein wichti-ges Thema leider immer mehr zu einer Schmierenkomö-die. Ich meine die Praxisgebühr. Die Linke hat diesenUnsinn stets abgelehnt und will ihn seit Einführung wie-der abschaffen. Nachdem die FDP schon 2011 einen An-trag von uns zur Abschaffung der Praxisgebühr abge-lehnt hat und das Thema von der Koalition zwei Jahrelang nicht angesprochen wurde, polterte die FDP aufeinmal los und stilisierte sich zur großen Gegnerin derPraxisgebühr. Daraufhin stellten wir im März erneut ei-nen Antrag im Bundestag, die Praxisgebühr abzuschaf-fen. In diesem Antrag stand nichts anderes als die Ab-schaffung der Praxisgebühr. Er enthielt nicht einmal denHauch einer Bürgerversicherung. Die FDP hätte nun be-weisen können, dass sie nicht nur redet, sondern auchhandelt, und hätte gemeinsam mit SPD und Grünen un-serem Antrag zustimmen können. Das tat sie aber nicht.Stattdessen blockiert sie den Antrag seit März im Ge-sundheitsausschuss und verhindert, dass er hier im Ple-num weiter beraten werden kann. Gleichzeitig sammeltdie FDP, wo sie nur kann, Unterschriften gegen die Pra-xisgebühr, macht also Opposition gegen die eigeneRegierung und gegen die eigene Bundestagsfraktion. Ichfrage Sie von der FDP: Wundern Sie sich, dass ein sol-ches Verhalten draußen niemand mehr versteht? Diegesetzlich Versicherten zahlen weiterhin Quartal fürQuartal Praxisgebühr, während die Regierung erst zwei-einhalb Jahre schweigt, dann seit einem halben Jahr dis-kutiert und dann unfähig ist, diese einfache Frage zu klä-ren. Ich fordere Sie auf: Springen Sie endlich über IhrenSchatten! Geben Sie Ihren Widerstand auf! Lassen Sieuns gemeinsam die Praxisgebühr abschaffen!
Meine Damen und Herren, zum Haushalt selbst. Beieinigen sinnvollen Haushaltstiteln – darauf ist ja bereitshingewiesen worden – wollen Sie kürzen, wie bei Prä-ventionsprogrammen gegen Drogensucht und gegen se-xuell übertragbare Krankheiten. Dies und anderes wer-den wir in der Haushaltsdebatte noch näher beleuchtenmüssen. Wir werden auch selber noch Änderungsanträgezum Haushalt stellen.Der größte Punkt im Haushalt ist die Kürzung desBundeszuschusses, die damit begründet wird, dass derSozialausgleich nicht notwendig sei. 2 Milliarden Eurozahlt der Bund weniger an den Gesundheitsfonds. Ichselber – das weiß man allgemein – bin kein Fan vonsteuerfinanzierten Gesundheitssystemen. Ich halte dieBeitragsfinanzierung nach wie vor für zielführender.Aber ich bin auch der Meinung, dass wir nicht zulassendürfen, dass sozusagen einmal Geld da ist und einmalGeld nicht, dass es keine verlässlichen Finanzströmegibt.
Im Übrigen, am Schluss: Die Abschaffung der Praxis-gebühr würde zu Mindereinnahmen von etwa 1,2 Mil-liarden Euro für die Kassen führen.
– Nein, das stimmt nicht; denn durch die Überforde-rungsklausel, durch die Tatsache, dass es andere Zuzah-lungen gibt, würden die Mindereinnahmen geringer aus-fallen. Da müssten Sie einmal genauer nachschauen. Dasist im Übrigen ein Papier, das die Koalition selber ange-fordert hat. – Mit den 2 Milliarden, die Herr Schäublenun wieder einkassiert, hätte man also etwa sieben pra-xisgebührenfreie Quartale finanzieren können – von den22 Milliarden Euro Rücklagen im System, die wir der-zeit haben, ganz zu schweigen. Aber die Bundesregie-rung zieht es vor, weiter die Praxisgebühr zu erheben,und entlastet damit den Bundeshaushalt. Dafür stehenwir, die Linke, nicht zur Verfügung.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrter Herr Minister, das war ja schon ein trauriger Auf-tritt, den Sie hier heute hingelegt haben. Was haben wirgehört? Sie loben sich für ein längst verabschiedetes Ge-setz.
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22942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Birgitt Bender
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Sie loben sich dafür, dass einige Krankenkassen so vielGeld haben, dass sie zusätzliche Leistungen bezahlenkönnen. Sie packen den Evergreen „freie Arztwahl“ aus,und dann polemisieren Sie gegen die Opposition wegender Forderung nach Transparenz beim Thema Organ-spende.
– Was? Das Thema Organspende werde ich jetzt nichtweiter behandeln. Das machen wir am Freitag im Aus-schuss.Das AMNOG läuft. Dazu gibt es im Moment auchnichts zu sagen.Reden wir einmal über „freie Arztwahl“. Sagen Siemir einmal, Herr Minister, was eigentlich frei ist an derArztwahl, wenn in Baden-Württemberg ein GKV-Patientin Facharztpraxen hört, dass keine Patienten mehr ange-nommen werden, und wenig später ein PKV-Patient in-nerhalb von vier Tagen einen Termin bekommt.
Was sagen Sie dazu, dass Patienten in Baden-Württem-berg im Schnitt 16 Tage länger auf einen Termin beimFacharzt warten, wenn sie keine Privatpatienten, sondernGKV-versichert sind? Ich sage Ihnen: Das ist keine freieArztwahl, sondern eine ziemlich unfreie Zweiklassen-versorgung.
Das Thema ist nicht „böse Ärzte“. Das Thema ist „fal-sche Anreize“, weil die Ärzte mit der Versorgung vonPKV-Patienten viel mehr verdienen. Diese Anreizemüsste man beseitigen. Es muss eine einheitliche Hono-rierung für PKV- und GKV-Patienten geben; aber das istIhr Thema nicht.
Das wäre auch der Weg zur Bürgerversicherung; aberdas kratzt Sie ja nicht.So, jetzt reden wir einmal über das Geld der Kassen,das sie zu viel haben. Da sind wir uns einig:
Die Überschüsse gehören in die Hand der Versicherten.
Aber jetzt müssen wir einmal darüber reden, wie die da-hin kommen. Der Minister hat ja heute tunlichst vermie-den, zu sagen, was er an anderer Stelle äußert, zum Bei-spiel über die Bild-Zeitung. Da sagt er: Die Kassensollen Prämien auszahlen. – Das würde so ablaufen: Ersterhebt der Arbeitgeber den Krankenkassenbeitrag beider Arbeitnehmerin,
über diverse Stellen landet das Geld schließlich beimGesundheitsfonds und als Einheitsbeitrag bei den Kas-sen. Dann stellen die Kassen fest, dass viel Geld da ist,zu viel Geld. Sie schreiben dann die Versicherten an:Lieber Versicherter, gib uns doch einmal deine Konto-nummer. Wenn wir diese haben, dann überweisen wir dirGeld zurück. – Dazu kann ich nur sagen: Bürokratie,dein Name ist FDP. Ein geniales System!
Dabei ginge es viel einfacher. In dem System, das Sieaufbauend auf den Vorarbeiten der Großen Koalition ge-schaffen haben, Herr Minister, gibt es einen zentralisti-schen Einheitsbeitrag und gegebenenfalls einen Zusatz-beitrag. Diesen Einheitsbeitrag könnten Sie ja senken.
Das wäre eigentlich kein Problem. Aber es gibt dabei einProblem: Sie wissen ganz genau, dass es einige Kassengibt, die dann wieder in den Mechanismus Zusatzbeitraggeraten.
Vor dem, was Sie als Einstieg in die Kopfpauschale poli-tisch gewollt haben, haben Sie jetzt so viel Angst, dassSie sich nicht trauen, genau diesen Mechanismus herbei-zuführen.
Sie sind vielleicht mutige Politiker. Sie trauen sich nichteinmal, sich den Versicherten zu stellen und für die Kon-sequenzen einzustehen, die Sie selber politisch auf dieSchiene gesetzt haben.Der wesentlich einfachere und richtigere Weg wäreder Weg weg von diesem Einheitsbeitrag, weg von demMechanismus Zusatzbeitrag und hin dazu, dass die Kas-sen wieder selber entscheiden können, welchen Beitragsie für ihre Arbeit benötigen. Beitragssatzautonomie derKassen, das brauchen wir wieder.
Dann würden etliche Kassen ihren Beitrag senken, dasheißt, die Arbeitgeber müssten ihn gar nicht erst erhe-ben, die Versicherten hätten das Geld weiterhin im Geld-beutel, und mit einem ordnungsgemäßen solidarischenWettbewerb würde das System wieder funktionieren.Aber genau das wollen Sie nicht. Stattdessen schiebenSie den Schwarzen Peter den Kassen zu; sie sollen dieSuppe auslöffeln, die Sie ihnen eingebrockt haben. Dasist garantiert der falsche Weg, Herr Minister.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke von der
FDP-Fraktion.
Geschätzter Herr Vizepräsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich finde etwas bemerkenswert unddarf das in meiner Funktion als Hauptberichterstatter desEinzelplans hier darlegen. Ich gebe unumwunden zu,dass ich zu Beginn der Legislaturperiode, als ich auf denGesundheitsetat geschaut habe, das Gefühl hatte: Oh,das wird eine schwierige Kiste. Das wird für einen Haus-hälter, ähnlich wie beim Sozialhaushalt, sehr problema-tisch. – Das Komische ist: Ich habe heute in der Debattedie ganze Zeit darauf gehofft, dass jemand sagt, dass wirzu wenig Geld haben, dass mehr Geld in den Gesund-heitsbereich fließen muss. Stattdessen habe ich gehört,dass selbst die SPD damit einverstanden ist, dass manden Zuschuss einmalig um 2 Milliarden Euro absenkt.Es ist doch richtig, werte Sozialdemokraten, dass mandamit einverstanden ist? Falls nicht, bitte ich meineNachrednerin, dies zu korrigieren.Ich stelle fest: Wir haben im Bereich Gesundheit eineDiskussion, die so weit geht, dass niemand mehr bereitist, auch nur im Ansatz zu sagen: Wir haben finanzielleProbleme. Das heißt, das, was wir Haushälter manchmal– Entschuldigung! – „die Ullaritis“ genannt haben, näm-lich zu sagen, dass man hier und da noch 1 MilliardeEuro braucht, ist weggefallen. Wenn es eines letzten Be-weises für die Bevölkerung bedurft hätte, dass der Ge-sundheitshaushalt unter FDP-Führung gut geworden ist,dann ist dies schlicht die Tatsache, dass der gesundheits-politische Sprecher Heiner Lauterbach nicht an dieserDebatte teilnimmt; denn er weiß, wie gut die Zahlen indiesem Haushalt sind. Dafür danke ich ihm ausdrück-lich.
– Für mich ist das der Heiner Lauterbach.
Keine Angst, Frau Kollegin, ich finde sehr gut, dass Siedas erkannt haben. Wenn ich die Wortbeiträge des Kolle-gen Karl Lauterbach an der Stelle höre, dann muss ichsagen, dass das nicht mehr viel mit Gesundheitspolitikzu tun hat.Nichtsdestotrotz gab es Kritik aus der Opposition;auch das ist interessant. Kollegin Bender hat schon wie-der etwas hilflos versucht, zu sagen: Wenn die FDP dasGesundheitsministerium führt, ist sie der Totengräberder GKV. Meine liebe Kollegin, Totengräber sind die,die die gesetzlichen Krankenkassen immer an den Randdes Ruins treiben.
Wir haben als Koalition dafür gesorgt, dass es Reservenbei den gesetzlichen Krankenkassen gibt.
– Nein. Frau Kollegin Bender, mir ist es sehr angenehm,dass die Krankenkassen einen Puffer haben. Für die Ko-alition bedeutet er nämlich eine gewisse Vorsorge. Da-durch ist gewährleistet, dass auch für schlechte Zeitender Puffer, von dem Ihre Haushälterkollegen immersprechen, vorhanden ist. Dieser Puffer wird genau soausgestaltet, dass er sicherstellt, dass sich die GKV-Patienten keine Sorgen machen müssen.
Das ist der Unterschied: Bei Ihnen hatten die Versicher-ten stets Angst, weil sie nicht wussten, ob die Versiche-rung funktioniert. Bei uns hingegen können sie sich si-cher sein, dass stets ausreichende Finanzmittel vor-handen sind.
Das ist für mich als Haushälter und Politiker die besteNachricht, die ich einem Versicherten mitteilen kann.Zum Schluss meiner Rede will ich noch auf zwei, dreiAspekte eingehen, die im Zusammenhang mit den Pro-grammen erwähnt worden sind. Mein Berichterstatter-kollege von der SPD hat gesagt, wir würden das Pro-gramm zur Förderung der Kindergesundheit einstellen.Herr Kollege, könnte es vielleicht sein, dass dieses Pro-gramm einmal von Ulla Schmidt aufgelegt und mit Zu-stimmung der SPD bewusst befristet worden ist? Könntees sein, dass Sie sich hier hinstellen und behaupten, wirwürden etwas tun, für das Ulla Schmidt und die damalshandelnden Gesundheitspolitiker um Herrn Lauterbachverantwortlich sind? Kann das sein?
Ich glaube, ja.
Deswegen: Bevor Sie Äußerungen dazu machen, welcheProgramme wir angeblich einstellen, sollten Sie erst ein-mal überprüfen, wofür Sie selbst verantwortlich sind.Ein allerletzter Punkt – dafür habe ich gerade nochgenug Zeit –:
Beim Thema Organspende müssen wir eines vermeiden,nämlich den Versuch, nach Vorurteilen zu handeln. Wirmüssen im Hinblick auf das Thema Organspende allesdafür tun – das will ich ausdrücklich versöhnend inRichtung der Opposition sagen –, dass auch von diesemHaushalt folgende Botschaften ausgehen: a) Wir sorgendafür, dass, was immer möglich ist, getan wird, umStraftaten zu vermeiden. Wir alle wissen allerdings, dass
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Otto Fricke
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man keine hundertprozentige Sicherheit gewährleistenkann. b) Wir sind deswegen bereit – das sage ich aus-drücklich, weil wir die entsprechenden Vereinbarungenschon getroffen haben –, an dieser Stelle auch personelletwas zu tun. Aber wir sollten c) auch mit Blick auf dieKrankenkassen aktiv werden und sie auffordern: Sorgtbitte mit dafür, dass durch Aufklärung bei den Bürgerndie Bereitschaft geschaffen wird, für seinen Nächsten et-was Gutes zu tun. Das muss, neben allen Wünschen, diewir in Bezug auf unsere Gesundheit haben und die wiran den Staat, an die gesetzliche Krankenversicherungusw. richten, unsere erste Aufgabe sein. Wir müssen je-dem Bürger sagen, dass er, wenn es um die Gesundheitgeht, etwas für seine Mitbürger tun kann. Dazu lade ichSie ein.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Bärbel
Bas das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Fricke, Sie haben ge-rade selbst das beste Beispiel dafür geliefert, wie kon-zeptlos Ihre Politik ist.
Alte Programme laufen aus, und Ihnen fällt nichts Neuesein. Das ist das, was Sie gerade dargestellt haben.
Zur Kindergesundheit. Es ist schlimm genug, dass SieGelder im Bereich der Prävention plan- und kopflos ver-geuden; das hat der Kollege Schurer gerade angespro-chen. Aber Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter:Sie streichen die Mittel dort, wo sie eigentlich dringendgebraucht werden, zum Beispiel bei der Förderung derKindergesundheit.
– Ja. Aber Ihnen ist nichts Neues eingefallen. Vielleichtsollten Sie darüber einmal nachdenken. Das wäre viel-leicht nicht schlecht.
Bereits 2012 haben Sie die Mittel für die Modellvor-haben, die es damals gegeben hat, auf 650 000 Euro her-untergefahren. Diesen Haushaltstitel haben Sie im jetztvorliegenden Entwurf komplett gestrichen. Das ist Ihreeinzige politische Aussage zum Thema Kindergesund-heit. Diese Kürzungen zeigen, wie Sie Politik betreiben:Erst kündigten Sie, Herr Bahr, im Sommer dieses Jahresin einer sehr großen Boulevardzeitung medienwirksaman – das ist ja der neue Stil Ihrer Politikankündigungen –,dem Übergewicht bei Kindern den Kampf anzusagen.Wunderbar! Das taten Sie allerdings, ohne dabei zu er-wähnen, dass Sie den Aktionsplan „Gesunde Ernährungund Bewegung“ bereits im Haushaltsplan 2012 gestri-chen haben, ohne ein anderes Konzept dafür vorzulegen.
Ein anderes Beispiel war Ihr Versuch, das Sommerlochzu nutzen, indem Sie den Vorschlag machten, Vorbeuge-untersuchungen an Schulen flächendeckend auszubauen.Sie haben den Kommunen allerdings nicht gesagt, wieSie das finanzieren wollen. Wahrscheinlich ist der Vor-schlag deshalb schon wieder vom Tisch, weil Ihnen dazunichts eingefallen ist.Deutlich werden der Mangel an Gemeinsamkeiten inIhrer Koalition, Ihre ständigen Streitigkeiten und Ihr per-manentes Verzögern und Vertagen beim Thema Präven-tion. Seit drei Jahren erzählen Sie uns, dass Sie eine Prä-ventionsstrategie vorlegen werden, in der alle relevantenPunkte aufgegriffen werden.
Kein Mensch glaubt noch daran. Ich bin einmal ge-spannt, was dazu noch kommen wird. In Ihrem Haus-haltsplan für 2013 kann man jedenfalls nichts dazu er-kennen, wie Sie Ihren Ankündigungen Projekte folgenlassen wollen.Ich will beispielsweise noch einmal das Programmfür Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern und dasProgramm zur Gesundheitsbildung erwähnen. Beson-ders hart treffen hier die Sparmaßnahmen Kinder mitpsychischen Störungen. Diesen Kindern lasten Sie fastdie Hälfte Ihrer Kürzungen im Bereich der Kinderge-sundheit auf.Ich habe die Bundesregierung in der letzten Wocheschriftlich gefragt, wie sie zu den Auswirkungen dieserKürzung steht. Es wird Sie nicht überraschen, dass dieBundesregierung in Person der StaatssekretärinWidmann-Mauz erklärt hat, dass keine Auswirkungenbefürchtet werden. Wir sehen, dass die Zahl der psychi-schen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen stän-dig steigt. Deshalb kann ich das wirklich nur noch alsblanken Hohn bezeichnen.
Als Ersatz für diese auslaufenden Projekte haben Siehauptsächlich verschiedene Forschungsprogramme an-gekündigt. Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen,nur scheinen Sie wenig Vorstellung davon zu haben, inwelchen Bereichen Sie überhaupt forschen wollen. Wirbrauchen nämlich konkrete Projekte, um vor allem Kin-dern aus sozial schwachen Familien ein gesundes Auf-wachsen zu ermöglichen.
Deshalb brauchen wir kluge und kreative Nachfolgepro-gramme, die man mit einer entsprechenden Begleitfor-
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Bärbel Bas
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schung nachhaltig gestalten kann, wodurch eine Versor-gung in die Fläche ermöglicht wird; denn gerade Kinderaus einkommensschwachen Familien weisen oft eineschlechtere Gesundheit auf. Genau diesen Familien kür-zen Sie jetzt diese Mittel.Wir Sozialdemokraten sind davon überzeugt, dass wirviel mehr Wert auf die Kinder- und Jugendgesundheit le-gen müssen. Dazu gehört für uns insbesondere auch dieStärkung der Position der Kinderärztinnen und Kinder-ärzte, die Erstversorger im Kinder- und Jugendbereichsind. Wir brauchen aber auch einen Wandel des Krank-heitsspektrums und eine entsprechende Anpassung undAusweitung der Disease-Management-Programme. Auchhier kommt von Ihnen keine Idee dazu, wie man Ent-wicklungs- und Verhaltensstörungen in solchen Pro-grammen berücksichtigen kann.
Niedrigschwellige präventive Angebote im Setting,ziel- und zielgruppenorientierte Ansprache: Fehlanzeigein Ihrem Konzept! Es fehlen Vorschläge dafür, wie Siefür eine verbesserte Lebensraumgestaltung in Kitas undin Schulen sorgen wollen. Nichts dazu findet sich in ir-gendwelchen Maßnahmen wieder, geschweige denn inIhrem Haushalt.Sie sollten die Kindergesundheitspolitik endlich alseine nationale Aufgabe begreifen. Bund und Ländermüssen hier – das sage ich auch ganz deutlich – schnitt-stellenübergreifend zusammenarbeiten, um die Versor-gung von Kindern und Jugendlichen mit präventiven,kurativen und auch rehabilitativen Angeboten flächende-ckend und nachhaltig zu sichern. Hierzu – davon bin ichfest überzeugt – müssen nach unserer Auffassung in ei-nem Titel „Förderung der Kindergesundheit“ ausrei-chend Mittel im Haushalt stehen, damit wir die medizi-nische Versorgung von Kindern und Jugendlichen auchlangfristig sichern können.
Frau Kollegin Bas, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Fricke?
Ach ja.
Bitte schön, Herr Fricke.
Ach danke.
Bitte.
Frau Kollegin Bas, ich bin an der Stelle, dass Sie sa-
gen: Ja, hier gibt es Probleme, es muss etwas getan wer-
den, durchaus offen und sage: Ja, gerne. Sie sagen jetzt:
Wir müssen hier etwas tun, hier müsste es eine Haus-
haltsstelle geben. – Das ist wohlfeil und nett. Dazu
würde ich gerne eines wissen: Darf ich fragen, wie viel
Finanzmittel nach Ihrer Meinung hier fehlen, damit ich
schon konkret weiß, mit welchen Änderungsanträgen
von Ihrer Fraktion ich im Haushaltsverfahren rechnen
kann? Man muss ja auch einmal gucken, ob man so et-
was machen kann, wenn es einen entsprechenden Grund
gibt.
Das ist sehr gut. – Sie haben ja gerade die 2 Milliar-
den Euro angesprochen, die Herr Schäuble jetzt gekürzt
hat. Die hätten wir zum Beispiel ganz gut dafür benutzen
können.
– Bitte.
– Dass man die vollen 2 Milliarden Euro dafür benutzt,
würde ich mir wünschen, aber ich halte das für unrealis-
tisch. Ich wurde aber nach den Mitteln gefragt, die ich
mir vorstellen könnte. Herr Fricke hat das vorhin ja an-
gesprochen.
Wir haben vorhin auch schon die Kürzungen im Ge-
sundheitsfonds angesprochen. Die Kollegin Bender hat
deutlich erklärt, wie es zu den Überschüssen in der
Krankenversicherung gekommen ist. Erst hat man näm-
lich die Beiträge für alle erhöht, dann hat man 14 Mil-
liarden Euro in den Pott gepackt, dann fing man mit Dis-
kussionen über Prämienauszahlungen an, und als FDP
sträubt man sich nun, die Praxisgebühr abzuschaffen,
was den Patienten, insbesondere den chronisch kranken,
zugute kommen würde.
All das versuchen Sie jetzt kleinzureden, indem Sie
sagen: Diese 2 Milliarden Euro werden gar nicht ge-
braucht. – Ich habe Ihnen gerade im Rahmen der Präven-
tion viele Projekte aufgelistet, wo man das Geld durch-
aus hätte gebrauchen können.
Das Ganze endete dann in einem Schmierentheater,
als Schäuble gesagt hat: Ich nehme die 2 Milliarden
Euro aus dem Gesundheitsfonds heraus, das ist gut für
die Haushaltskonsolidierung. – Insofern war er der la-
chende Dritte in der ganzen Diskussion. Der Verlierer
Ihrer Politik allerdings ist an dieser Stelle ganz deutlich
der Versicherte. Das muss aufhören.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jens Spahn von derCDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe mir vorhin auf dem Weg ins Plenum die Frage ge-stellt: Wenn du Oppositionspolitiker wärst,
was würdest du in dieser Debatte eigentlich sagen? Waskönntest du angesichts einer Bilanz in der Gesundheits-politik eigentlich kritisieren, über die man, kurz zusam-mengefasst, sagen kann: „Wir stehen blendend da“?
Sie müssen die Dinge einfach einmal so sehen, wiesie sind. Ich mache jetzt seit zehn Jahren Gesundheitspo-litik, einige Kollegen hier schon deutlich länger. Wir ha-ben in den letzten 30 Jahren noch keine derart stabileund gute finanzielle Basis für die gesetzliche Kranken-versicherung wie im Moment gehabt. Dass wir mittler-weile fast im Wochenrhythmus medial wie im Parlamentdarüber reden, was wir mit Überschüssen und Rücklagentun wollen, anstatt darüber – das mussten wir in der Gro-ßen Koalition noch tun –, wie wir mit Defiziten umge-hen könnten, sollten, müssten, wo wir möglicherweiseLeistungen streichen müssten, wie wir das in der GroßenKoalition leider tun mussten, das macht doch deutlich,dass unser Mix aus wirtschaftlicher Erholung, vor allemaber auch aus Sparsamkeit in allen Bereichen in den Jah-ren 2011 und 2012 gewirkt hat und dass die gesetzlicheKrankenversicherung heute in einem extrem guten Zu-stand ist und extrem gut dasteht.Sie haben gefragt: Was ist gut für die Versicherten?Vor allem für die Versicherten ist wichtig: Sie könnenauch in der Zukunft, in drei, vier, fünf oder sechs Jahren,angesichts dieser Rücklagen damit rechnen, dass sie einegute Versorgung bezahlen können.
Es macht mich schon etwas wuschig, wenn ich höre,was Sie schon wieder alles fordern. Wir können damitrechnen, dass Sie im Rahmen der Beratungen in dennächsten Wochen wieder sagen werden: Gebt doch1 Milliarde für Investitionen in Krankenhäuser! Gebtdoch 1 Milliarde mehr für Prävention aus!
Schafft doch die Praxisgebühr ab, was bis zu 2 Milliar-den Euro kostet!Ich will nur darauf hinweisen – mit den Milliardenwird im Moment sehr munter herumgespielt –: 1 Mil-liarde Euro ist immer noch eine Menge Geld. Wir habenim Gesundheitsfonds im Moment eine Rücklage von gut9 Milliarden Euro. Davon fließen 2 Milliarden Euro zu-rück in den Bundeshaushalt. Übrigens ist das in der Sa-che richtig, weil es Steuermilliarden für einen Sozialaus-gleich waren, den wir nicht brauchen,
weil die Entwicklung so gut ist, wie sie ist.Wir brauchen eine Mindestrücklage von gut 3 Mil-liarden Euro. Das heißt, wir haben sozusagen eine freieSpitze von etwa 3,5 Milliarden. Das reicht angesichts ei-nes Gesamtvolumens von 180 Milliarden Euro im Jahrfür die gesetzliche Krankenversicherung für wenigeTage. Niemand von Ihnen würde im privaten Haushalt,wenn er wüsste, er käme mit seinem gesparten Geld imNotfall nur ein paar Tage aus, sagen: Ich habe jetzt sogroße Rücklagen, dass ich allen alles versprechen kann. –Deswegen gehen wir solide mit den Finanzen der gesetz-lichen Krankenversicherung um.
Das ist manchmal nicht so populistisch und populär, wieSie es machen, aber es ist verantwortungsvoll im Sinnevon auf Dauer gesicherten Finanzen für die gesetzlichVersicherten.
Das Gleiche gilt im Übrigen neben der Finanzierungfür die Bilanz bei der Versorgung der Menschen. DieFrage ist: Was erleben sie im Alltag tatsächlich im Ge-sundheitswesen? Wir haben – das ist über Jahre geleug-net worden, wir haben es bei unserem KoalitionspartnerSPD in der letzten Legislaturperiode selbst erlebt – dieProbleme und Defizite für eine flächendeckende Versor-gung, gerade im ländlichen Raum, in den Fokus gerückt.Aber – auch das gehört dazu – auch in manchen groß-städtischen Ballungsräumen, in manchen Stadtviertelnwird es mittlerweile mit der medizinischen Versorgungschwer.Wir haben gesagt: Darauf legen wir bewusst den Fo-kus und stellen dafür zusätzliche Mittel zur Verfügung.Das wurde uns zum Teil zum Vorwurf gemacht. DerGrund ist, dass wir eine flächendeckende Versorgung si-cherstellen wollen. Das werden wir mit den Ärztinnenund Ärzten und vor allem mit den Patientinnen und Pa-tienten erreichen. Unserer Meinung nach ist eine guteVersorgung der Menschen nur mit den Ärzten, mit denApothekern, mit den Pflegekräften möglich. Gegen IhrenWillen werden wir mehr Geld für die ländlichen Regio-nen zur Verfügung stellen. Das kommt aktiv bei denMenschen an. Das hilft den unterversorgten Gebieten.Auch da können wir also sagen: Mission geglückt, liebeKolleginnen und Kollegen.
Sie haben Baden-Württemberg angesprochen. Baden-Württemberg als Beispiel für die Wartezeiten zu neh-men, ist das denkbar schlechteste, weil es dort zwischenHaus- und Fachärzten Vereinbarungen gibt, die sogar ga-rantieren, dass es innerhalb bestimmter Fristen Folgeter-mine bei entsprechenden Fachärzten gibt. Aber auch die-ses Thema haben wir mit in den Fokus gerückt, weil wirgesagt haben: Ja, das ist erlebte Versorgungsrealität inDeutschland. Menschen erleben tagtäglich, dass sie ge-gebenenfalls später einen Termin kriegen, als sie ihnvielleicht als Privatversicherte bekommen würden, oderdass sie sehr weit fahren müssen, weil es in bestimmten
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Jens Spahn
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Regionen beispielsweise gar keinen Neurologen oderZahnarzt mehr gibt.Das können Sie nicht mit einer Maßnahme oder durchdie Änderung einer Zeile im Gesetz ändern, sondern da-durch, dass Sie die Arbeitsbedingungen gerade im länd-lichen Raum und die finanziellen Anreize für eine Ver-sorgung gerade auch gesetzlich Versicherter in dieserRegion verbessern. Deswegen haben wir zu genau die-sen Maßnahmen gegriffen. Sie wirken – damit haben Sierecht – nicht von heute auf morgen.
Aber wenn man nicht irgendwann anfängt, solche Maß-nahmen umzusetzen, dann kann es auch nicht besserwerden. Deswegen schieben wir hier keine Wolken, son-dern wir arbeiten konkret an einer besseren Versorgungder Menschen in Deutschland gerade im ländlichenRaum.
Das bringt mich im Übrigen zu einem weiteren Punktin der Versorgungsfrage. Denn neben dem umfassendenZugang zur medizinischen Versorgung für jedermann inDeutschland – ich weise darauf hin, dass das ein hohesGut ist, das bei weitem nicht in allen Ländern Europasund schon gar nicht in den USA sichergestellt ist –
haben wir eine gute Versorgung mit zwei Qualitätsmerk-malen. Das Erste ist die flächendeckende Versorgung ge-rade auch im ländlichen Raum. Das Zweite ist derschnelle Zugang zu Innovationen.Wir haben gerade bei den Arzneimitteln dafür ge-sorgt, dass wir das Preismonopol der Pharmaindustriebrechen und für neue Medikamente nur so viel mehrzahlen, wie sie tatsächlich besser sind als das, was schonauf dem Markt ist. Aber gleichzeitig haben wir durch un-seren Mechanismus sichergestellt, dass Patienten vonInnovationen und neuen Medikamenten profitieren kön-nen, weil viele Menschen etwa auf neue Krebsmedika-mente warten und sich von ihnen Leidminderung odergar Heilung erhoffen.Diesen Spagat zu schaffen, das Preismonopol zu bre-chen und keine einseitig festgelegten Preise zu zahlen,aber gleichzeitig den Zugang zu Innovationen sicherzu-stellen, war nicht leicht. Das hat viele Diskussionen ge-kostet. Aber wir haben nicht wie Sie vorher jahrzehnte-lang darüber geredet. Wir haben es umgesetzt. Wirhaben es gemacht, und das System funktioniert – daszeigen die ersten Ergebnisse – im Interesse der Versi-cherten, aber vor allem im Interesse der Patienten.
Abschließend will ich, weil das in den letzten Wochengerade auch hier eine große Rolle gespielt hat, gerne et-was zum Thema Organspende sagen. Es war und istohne Zweifel für jeden von uns bitter. Viele Kollegenwaren aktiv mit dabei und haben über Wochen und Mo-nate miteinander verhandelt und darum gerungen, wel-che Fortentwicklung des Transplantationsgesetzes rich-tig ist, wie wir die Abläufe in den Krankenhäusernverbessern können, um dort zu einer besseren Aufklä-rung und mehr Organspenden kommen, und vor allem– das soll im November beginnen –, wie wir die Bevöl-kerung besser aufklären können, indem sie angeschrie-ben wird und sich jeder zu Hause mit dem Thema be-schäftigt und überlegt, ob er zur Organspende bereit ist.Wir haben also bewusst viel Zeit und Mühe daraufverwendet. Es war für jeden, der daran beteiligt war, bit-ter, zu erleben, was dann in der Sommerpause passiertist, nämlich dass Menschen, man muss fast sagen, Teamsbzw. Strukturen mit krimineller Energie – ein Einzelnerkann das in einem solchen Krankenhaus nicht –, egal obes um Geld oder um Ansehen ging, das man vielleichtdurch möglichst viele Operationen generieren wollte,mit fast der sensibelsten Frage, die es im Gesundheits-wesen geben kann, gespielt haben. Es geht immer umVerteilungsgerechtigkeit. Aber dass bei Organspendenund der Frage, nach welchen Kriterien wir das rare Gutan Organen vergeben – 12 000 Menschen warten, undjeden Tag müssen drei Menschen sterben, weil wir leiderzu wenig Organspenden in Deutschland haben; das isteine der sensibelsten Fragen, die denkbar sind –, ein sol-ches Schindluder getrieben worden ist – so muss man esja nennen –, wie es unter anderem in Göttingen und Re-gensburg der Fall gewesen ist, ist eine bittere Enttäu-schung für jeden von uns. Wir sind uns sehr schnell darineinig, dass es mehr Transparenz, Kontrolle und vor al-lem schärfere Sanktionen braucht, damit wir auch für dieZukunft solche Dinge vermeiden helfen.
Zu den schärferen Sanktionen muss übrigens unbe-dingt, finde ich jedenfalls, auch der Entzug von Appro-bationen von Ärzten gehören.
Es kann nicht damit getan sein, dass irgendwann einmaljemand versetzt wird. Wer so etwas tut – das ist nachmeinem Dafürhalten mit der ärztlichen Ethik grundsätz-lich nicht vereinbar –, dem muss die Approbation entzo-gen und damit ein Berufsverbot erteilt werden.
Lieber Harald Terpe, liebe Frau Kollegin Vogler, wirsind uns einig, dass wir Missstände aufdecken müssen.Niemand will einen Schleier über irgendetwas legen.Aber ich will darauf hinweisen, dass es schon vor vierJahren eine ähnliche Debatte gab und festgestellt wurde,dass die Behauptung, Privatversicherte würden bei derOrganspende bevorzugt, nicht richtig ist. Damals hatteein Kollege einen ähnlichen Vorwurf erhoben und sichdabei ziemlich verrannt. Das hat eine gefährliche Kom-ponente. Wenn man solche Vorwürfe erhebt, sollte mandas aufgrund einer guten Erkenntnislage tun. Das kannim Worst Case lebensgefährlich sein; denn jedes Organ,das aufgrund der Verunsicherung der Bevölkerung, dieentsteht, wenn es auf Seite 1 einer großen Zeitung heißt,es gäbe den Verdacht, Privatversicherte würden bevor-
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zugt, nicht gespendet wird, fehlt für jemanden, dessenName auf der Warteliste für eine Organspende steht. Daskann für den Betreffenden im wahrsten Sinne des Wortestödlich sein. Deswegen haben wir die große Verantwor-tung, mit diesem Thema sehr sensibel umzugehen. Wirmüssen sehen, welche Schlussfolgerungen die Zahlentatsächlich zulassen. Der Minister hat bereits darauf hin-gewiesen: Das, was unterstellt wird, lässt sich aus denZahlen nicht ableiten. Der Vorwurf bedient auch einweitverbreitetes Klischee. Deswegen ist es so „dankbar“,das auf Seite 1 zu veröffentlichen. Ich sage ganz persön-lich, Harald: Wir kennen uns lange und gut und schätzendie Arbeit des jeweils anderen. Aber es wäre richtig ge-wesen, zu sagen: Sorry, da habe ich mich verrannt; daswar falsch. Dafür entschuldige ich mich. – Denn geradedieses Thema ist höchst sensibel.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kathrin Senger-
Schäfer von der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Der Gesundheitsetat ist im Bundes-haushalt einer der größten Posten. Er beträgt sagenhafte12,5 Milliarden Euro. Auch wenn der Zuschuss zum Ge-sundheitsfonds mit 12 Milliarden Euro hier den größtenAnteil ausmacht, bleiben immer noch rund 489 Millio-nen Euro, mit denen sich weitere Schwerpunkte setzenließen. Bei der Schwerpunktsetzung wird die Pflege al-lerdings stiefmütterlich behandelt. Dabei ist das ThemaPflege eines der wichtigsten Themen dieser Gesell-schaft. Herr Spahn, da Sie sagen: „Wir stehen blendendda“, rate ich Ihnen, einmal die Millionen Pflegebedürfti-gen zu fragen, um zu erfahren, was diese dazu sagen.
Der einzige Posten, den das Gesundheitsministeriumzur Pflege für 2013 ausweist, sind die Modellmaßnah-men zur Verbesserung der Versorgung Pflegebedürftiger,veranschlagt mit insgesamt 900 000 Euro. Für die Pflegesind das läppische 0,18 Prozent des Etats, wohlgemerktohne die 12 Milliarden Euro für den Gesundheitsfonds.Ich muss schon sagen: Das ist lächerlich.
Also nicht einmal 1 Prozent des Gesundheitsetats wirdfür die Weiterentwicklung der pflegerischen Versorgungausgegeben. Das empfinde ich als bemerkenswert, wennnicht gar als beschämend.
Schauen wir uns diesen Posten im Gesundheitsetatgenauer an. Da sind wichtige und innovative For-schungsvorhaben dabei. Es fällt mir nicht schwer, Ihnenzuzugestehen, dass hier auch Brauchbares finanziertwird. Aber was ist das für ein Projekt mit dem Titel „Bü-rokratieabbau bei der Pflegedokumentation“, und wer istdie Trägerin Elisabeth Beikirch? Das ist die Ombudsfraufür die Entbürokratisierung in der Pflege, von Bundesge-sundheitsminister Bahr am 27. Juni 2011 berufen.
Natürlich wird die Bürokratie von den Pflegekräften alsüberbordend empfunden. Hier sind Verbesserungen nö-tig. Dennoch habe ich von dem Projekt, zu dem FrauBeikirch offenbar forscht, nichts gehört außer Worthül-sen.
Dann frage ich mich, was Frau Beikirch für 65 000 Euroim Jahr 2012 gemacht hat und für 97 000 Euro im Jahr2013 konkret machen wird. Ob auch nur ein pflegebe-dürftiger Mensch von der Arbeit der Ombudsfrau bisherprofitieren konnte, ist auch nicht überliefert.
Fakt ist: Im Jahr der Pflege 2011 wurde mit Pflegedialo-gen, Presseerklärungen, Interviews und Fototerminenhektische Aktivität entfaltet, um dann zu verkünden: Re-formen gibt es erst später.
Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, welches dannendlich im Juni 2012 durch das Parlament gepeitschtwurde, hat den Titel „Reform“ nun wirklich nicht ver-dient. Nicht einmal ein Reförmchen ist es geworden. Ichmuss schon sagen: Herr Bahr, Sie haben hier reichlichWeihrauch versprüht.
Sicher ist auch, dass Frau Beikirch für ihre Aktivitätenbesser bezahlt wird als jede Pflegefachkraft hier imLand. Für ein pflegepolitisches Placebo – und das ist es,was Sie hier machen – ist mir das doch zu viel Geld.
Während schlecht bezahlte Pflegekräfte – hören Sieeinmal zu! – und damit auch Pflegebedürftige schonheute den Mangel ausbaden, werden sie zunehmendauch mit dem Thema Altersarmut konfrontiert sein, diedazu führen wird, dass man weniger auf professionellePflege zurückgreifen kann. Daran zeigt sich, dass esnicht angehen kann, dass das Thema Altersarmut ohnedas Thema Pflegearmut diskutiert wird.
Offenbar ist bei einigen immer noch nicht angekom-men, dass unter den Menschen, denen aufgrund prekärerBeschäftigung Altersarmut droht, auch diejenigen sind,die nicht nur häufiger krank, sondern infolge von Krank-heit auch früher von Pflegebedürftigkeit betroffen sind.Mit der fortwährenden Privatisierung von sozialen Risi-
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Kathrin Senger-Schäfer
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ken, für die Ihre Politik verantwortlich ist, werden dieMenschen gleich mehrfach in die Armut getrieben. Dasist nicht nur abgrundtief ungerecht, es birgt auch enor-men gesellschaftlichen Sprengstoff.
Mit der Riester-Rente, dem Pflege-Bahr und nachdem Willen der Sozialministerin mit der Zuschussrentelegen Sie immer noch eine Stange Dynamit oben drauf.Niemand hat etwas davon, außer die Versicherungsin-dustrie. Das ist für uns nicht hinnehmbar.
Unternehmen Sie stattdessen konkrete Schritte, umdie wirklichen Probleme zu lösen! Das Grundübel derPflegeversicherung liegt in der unsolidarischen und Teil-kostenfinanzierung der Pflegeversicherung. Die Antwor-ten auf dieses Grundproblem lauten, erstens, solidarischeBürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege,zweitens, Leistungsausweitung in der Pflegeversiche-rung und, drittens, Überwindung des Teilkaskoprinzipsder Pflegeversicherung. Und – wie Sie, Herr Bahr, nichtmüde werden, zu betonen –: Es ist die Linke, die dasTeilkaskoprinzip infrage stellt. Wir stören Ihre Lethargiebewusst im Interesse der Pflegebedürftigen, ihrer Ange-hörigen und der Beschäftigten in der Pflege.
Jetzt hat das Wort die Kollegin ElisabethScharfenberg vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir haben es gerade von der Kollegin Senger-Schäfer gehört: Am 29. Juni wurde die Pflegereform be-schlossen. Das ist, wenn wir ehrlich sind, langsam schonin Vergessenheit geraten. Oder sagen wir es besser unddeutlicher: Die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionverdrängen das. Dieses Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzwar und ist wirklich peinlich.
Sie, Herr Spahn, haben in Ihrer zehnminütigen Rededie Pflege, die Pflegebedürftigen oder die Pflegereformnicht einmal erwähnt. Das geht eigentlich überhauptnicht, wenn man gesundheitspolitischer Sprecher ist.Alle anderen vergessen es allmählich, weil man sich aneinen Hauch von nichts eben nur schwer erinnern kann.Wenn Sie sich selbst gegenüber ganz ehrlich sind, dannmüssen Sie zugeben: Der große Wurf war es einfachnicht.Die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, eine so-lide, eine gerechte, eine nachhaltige Finanzierung derPflegeversicherung, gute Unterstützungsleistung fürpflegende Angehörige, wirksame Maßnahmen gegenden Fachkräftemangel in der Pflege, dazu braucht eseine umfassende Pflegereform. All das haben Sie, all dashat Schwarz-Gelb nicht ansatzweise geschafft. Diese Re-form – ich muss es ganz deutlich sagen – grenzte eigent-lich an Arbeitsverweigerung. Sie ist ein Totalausfall.
Was am Ende übrig bleibt, ist eigentlich nur derPflege-Bahr, dieses peinliche, dieses bürokratische, die-ses unnütze, dieses unsoziale Förderprogramm für dieprivate Versicherungsindustrie, der Pflege-Bahr, der denMenschen am wenigsten nützt, die es am nötigsten brau-chen, nämlich die Geringverdienerinnen und Geringver-diener und natürlich auch die Älteren. Der Pflege-Bahrhat nur einen Zweck: Er ist der Einstieg in die Privatisie-rung des Pflegerisikos. Der Pflege-Bahr ist der Ausstiegaus der Solidarität.
Wir befinden uns in den Haushaltsberatungen. Wennwir uns die Unterlagen für das Gesundheitsministeriumnäher anschauen, sehen wir: Da steht, dass die Pflegere-form, die nächstes Jahr in Kraft treten soll, den Schwer-punkt der Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums bildensoll. Das heißt, einige Millionen Steuergelder sollen indie Werbung für eine Reform fließen, die man eigentlichvergessen kann.
Es ist offensichtlich: Sie wollen im Wahljahr 2013jede Kleinigkeit, die Sie mit der Reform geschaffen ha-ben, so aufblasen, als wäre es eine pflegepolitischeGroßtat.
Der Pflege-Bahr wird dabei wahrscheinlich eine ganzzentrale Rolle spielen,
und sie werden die mickrigen 5 Euro pro Monat, mit de-nen der Pflege-Bahr gefördert wird, anbieten wie sauerBier. Am Ende dieser Werbekampagne wird das wahr-scheinlich mehr kosten als der Pflege-Bahr selbst. Die-ses Angebot kann kaum jemand brauchen, und kaum je-mand kann es bezahlen. Der Pflege-Bahr ist und bleibtunnütz und unsozial.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rechnung, dieSie da aufmachen, wird nicht aufgehen. Sie können IhrVersagen in der Pflegepolitik nicht schönreden, auchnicht mit romantischen Hochglanzbildern von unrealisti-schen Pflegesituationen. Aber vielleicht hat Ihr geplanterWerbefeldzug doch etwas Gutes. Diese Koalition wird
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Elisabeth Scharfenberg
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damit selbst dafür sorgen, dass wir dieses Versagen, IhrVersagen, nicht vergessen und auch nicht verdrängen.Sie selbst werden die Menschen daran erinnern, dass Siean den großen pflegepolitischen Herausforderungengrandios gescheitert sind. Die Realität in der Pflege, dieSie ausblenden, heißt: Pflege bis zur Erschöpfung, privatund professionell. Und Sie lassen alle im Regen stehen:die Pflegebedürftigen, die Angehörigen und die profes-sionell Pflegenden. Blicken Sie der Realität doch endlichins Auge!
Es ist gut, dass Sie sich selbst darum kümmern, dassjeder und jede von Ihrem Scheitern erfährt. Vielen Dankdafür!
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Koschorrek
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Wir haben heute einerfolgreiches Jahr zu feiern: Wir haben es vor dem Hin-tergrund einer sehr soliden Finanzierung im Gesund-heitswesen geschafft, den Fokus wirklich auf die zu rich-ten, um die es im Gesundheitswesen geht, nämlich umdie Patienten. Wir haben den Patienten deutlich in denFokus unserer politischen Bemühungen rücken können,weil wir eben nicht im Tagesgeschäft von morgens bisabends damit befasst waren, Lücken in der Finanzierungzu schließen und ähnliche Dinge wie in den letzten Jah-ren zu machen. Wir haben endlich ein Patientenrechtege-setz – seit 15 Jahren angekündigt, nie umgesetzt – aufden Weg gebracht. Wir haben im Bereich des Infektions-schutzes Erhebliches für die Patienten geleistet. FrauScharfenberg, ich muss Ihnen sagen: Außerdem habenwir im Bereich der Pflege vieles neu geregelt.
Pflege ist und bleibt selbstverständlich ein privates Ri-siko. Natürlich ist jeder in erster Linie für sich selbst ver-antwortlich. Die Pflegeversicherung, so wie sie in dieserRepublik etabliert ist, ist Hilfe zur Selbsthilfe, und dieseHilfe haben wir ertüchtigt. Wir haben vieles für die Stär-kung der pflegenden Angehörigen gemacht. Wir habenim Bereich der Demenzkranken vieles geregelt. Außer-dem haben wir durch das, was Sie eben eher verlächerli-chend „Pflege-Bahr“ genannt haben, den Versicherten dieMöglichkeit gegeben, privat – sicherlich in überschauba-rem Umfang, aber immerhin – dafür Vorsorge zu treffen,dass sie im Fall des Eintritts einer Pflegebedürftigkeit ent-sprechend versorgt werden können und dass ihnen gehol-fen wird.
Unsere christlich-liberale Koalition steht eben füreine zielgerichtete, nachhaltige, konsequente Gesund-heitspolitik, die weit über den Tag hinausdenkt. Wir stel-len die Weichen dafür, dass wir auch angesichts der de-mografischen Entwicklung in Deutschland über einhochwertiges und flächendeckend sehr gutes Gesund-heitswesen verfügen und in Zukunft verfügen werden.Neben einer nachhaltigen tragfähigen Finanzierung– dazu ist heute schon genug gesagt worden – brauchenwir in der medizinischen Versorgung vermehrt neueTechnologien und innovative Methoden. Wir braucheneine bessere Vernetzung zwischen den jeweiligen Ver-sorgungsbereichen, zwischen ambulanter und stationärerVersorgung, zwischen Pflege – das schließt auch Präven-tionsmechanismen ein – und auch der Rehabilitation.Wir müssen die Leitung der Patienten durch die Systemeerheblich verbessern. Auch dem haben wir uns ver-schrieben.Wir haben dazu einige Dinge auf den Weg gebracht.Sie tragen dazu bei, die bestmögliche Versorgung zu bie-ten und medizinisch effiziente und perspektivisch kos-tensparende Methoden für die Diagnostik und die Thera-pie zu etablieren. Ein gutes Beispiel dafür ist das, waswir im Bereich der Telemedizin ermöglicht haben. Da-durch können wir vor allem bei chronischen Erkrankun-gen, zum Beispiel solchen des Herz-Kreislauf-Systems,die Lebensqualität des Patienten deutlich verbessern,Klinikaufenthalte verkürzen oder sogar vermeiden. Alldas haben wir durch Erprobungen in verschiedenen Tei-len unseres Landes eindeutig belegt. Wir haben nun da-für gesorgt, dass diese Verbesserungen auch Eingang inden Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversiche-rung gefunden haben und nunmehr flächendeckend Be-standteil unserer Versorgung geworden sind.Darüber hinaus haben wir dafür gesorgt, dass neuenichtmedikamentöse Untersuchungs- und Behandlungs-methoden, die bisher allein in Krankenhäusern zur An-wendung kommen durften, jetzt auch in der ambulantenVersorgung genutzt werden können. Unter Aufsicht desGemeinsamen Bundesausschusses, der ja für den Leis-tungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu-ständig ist, können solche Innovationen, deren besonde-rer Nutzen noch nicht mit ausreichender Evidenz belegtist, zeitlich begrenzt und unter strukturierten Bedingun-gen bei Kostenübernahme durch Kassen auch ambulanterprobt werden. Das wird den betroffenen Patienten sehrschnell und sehr nachhaltig zugutekommen.
Wir müssen mehr technische Hilfen einsetzen und inZukunft noch vermehrt dafür sorgen, dass technischeHilfsmittel bis hin zu roboterähnlichen Konstruktionenim Bereich der Pflege und im Bereich der Medikamen-tenversorgung und Therapie der Patienten in der Versor-gungswirklichkeit etabliert werden.
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Dr. Rolf Koschorrek
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Auch dazu haben wir in dieser Legislaturperiode einigesauf den Weg gebracht und werden dafür sorgen, dass siein Zukunft zu einer besseren Versorgung der Patientenmit ihren Bedürfnissen beitragen.Wir können davon ausgehen, dass der medizinische,pharmazeutische und technische Fortschritt sowohl inder Gesundheitsversorgung als auch im Pflegebereichkontinuierlich zu Veränderungen und Weiterentwicklun-gen führt. Allerdings können wir nicht präzise vorherse-hen – das geht sicherlich uns allen so –, welche Innova-tionen zur Verfügung stehen werden und welche zuwelchem Zeitpunkt erforderlich sein werden. Dafür ha-ben wir die Selbstverwaltung ertüchtigt.Wir haben im Gemeinsamen Bundesausschuss undum ihn herum Strukturen geschaffen, damit neue Verfah-ren, neue Möglichkeiten evaluiert werden
und auch sehr schnell, sehr zielgerichtet in die Versor-gungswirklichkeit hineinkommen können. Ich glaube,das ist ein Weg, den wir in Zukunft noch häufiger be-schreiten müssen; denn der demografische Wandel in derBevölkerung und vor allem der Wandel im Bereich derPatienten – hier geht die Entwicklung weg vom Patien-ten mit singulären Erkrankungen hin zu multimorbidenPatienten – gebieten uns, dass wir uns auf die Zukunftausrichten und in der Vernetzung, in der Versorgung mitInnovationen schneller und besser werden. Auch demhat sich diese Koalition gestellt. Wir sind einen gewalti-gen Schritt vorangekommen und werden diesen Weg vordem Hintergrund gesicherter Finanzen auch in dennächsten Jahren fortsetzen.Herzlichen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Edgar Franke von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich bin der Vorletzte in der 90-minütigen Dis-kussion zum Gesundheitshaushalt. Das hat natürlich ei-nen großen Vorteil: Es kann mir kaum einer widerspre-chen.
Der sehr verehrte Herr Karl ist der Einzige, der mir nochwidersprechen kann. Deswegen ist es für mich eine be-sondere Freude, heute als Vorletzter zum Gesundheits-haushalt zu reden.Zur Sache ist schon viel gesagt worden. Der ge-schätzte Kollege Schurer hat zu den einzelnen Haus-haltstiteln fast alles gesagt. Frau Bas hat noch zum Be-reich Prävention ergänzt.Herr Fricke, ich darf aber doch noch eine kleine er-gänzende Anmerkung machen: Ich habe jahrelang in derBerufsgenossenschaft, der gesetzlichen Unfallversiche-rung, im Bereich Prävention gearbeitet. Ich kann Ihnensagen: Investitionen in Prävention, wenn man sie gutmacht, wenn man sie mit Konzept macht, bringen wirk-lich etwas.
Langfristig – auch Sie sind Haushälter – führen diese In-vestitionen sogar dazu, dass man Geld einsparen kann.Ich glaube, das muss man hier im Rahmen der Gesund-heitsdiskussion schon einmal sagen.
– Wenn Sie mir zustimmen, Herr Zöller, freue ich michumso mehr.Ich möchte noch zwei, drei politische Themen anspre-chen; die anderen Sachen haben wir ja ausführlich disku-tiert.Ich glaube, man sollte doch noch eine generelle An-merkung zu den Überschüssen der Krankenkassen ma-chen. Frau Bender hat dieses Thema meiner Ansichtnach zu Recht angesprochen. Darüber, dass wir im Be-reich der Krankenversicherung Überschüsse haben, sindwir alle froh. Auch der Minister ist darüber froh. Das istin Ordnung. Aber die Frage ist doch, wie wir politischdamit umgehen, wenn wir im Gesundheitssystem Über-schüsse von insgesamt 22 Milliarden Euro haben.
Zu fragen wäre doch, ob der Einheitssatz für die Kran-kenversicherungsbeiträge zu hoch festgelegt ist. HerrMinister, gerade wenn man Wettbewerb will, muss mansich allerdings zuerst einmal fragen: Wie kann dieser miteinem Einheitssatz möglich sein? Und grundsätzlich ent-ziehen wir ja mit einem zu hohen Einheitssatz den Men-schen Kaufkraft in diesem Land. Herr Fricke, Ihr Mottowar ja immer: mehr Netto vom Brutto. – Aber das ist ge-rade das Gegenteil davon. Wenn wir zu hohe Beiträgehaben, dann kann und muss man da schon politisch ran-gehen.
– Wir diskutieren heute nicht über die Rente, Herr Fricke.
Wir befinden uns im Gesundheitshaushalt, mein sehrverehrter Herr Fricke.
Insofern frage ich Sie: Warum hält eine Partei wie dieFDP, die immer von Wettbewerb redet, am Einheitssatzin der Krankenversicherung fest? Das frage ich Sie. Mirfällt kein Grund ein, wenn man so hohe Rücklagen hat.
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Dr. Edgar Franke
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Frau Bender hat richtigerweise gesagt: Beitragsauto-nomie ist richtig. Aber wenn man Beitragsautonomieeinführt, haben die Krankenkassen ein Problem, weil sie– auch das hat Frau Bender gesagt – Angst vor Zusatz-beiträgen haben. Denn was passiert, wenn man Zusatz-beiträge erhebt? Diese muss der Versicherte allein be-zahlen, und da hat natürlich jede Krankenkasse Angst,dass ihr dann die Versicherten abhauen. Insofern mussman nicht nur Beitragsautonomie wiederherstellen, son-dern auch Zusatzbeiträge abschaffen.
Die ärztliche Versorgung auf dem Land wurde mehr-mals angesprochen, sowohl vom Minister als auch vonHerrn Spahn. Ich glaube, einmalige Lockprämien brin-gen nichts. Das Problem muss man, Herr Minister, viel-mehr strukturell angehen.
Es wird immer von der Mär des Ärztemangels ge-sprochen. Zu Recht wird gesagt: Wir haben – ein Spie-gelbild unserer Gesellschaft – relativ viele Ärzte miteiner gewissen Lebenserfahrung, mit einem hohen Le-bensalter. Aber man muss auch ganz klar sagen: Wir hat-ten noch nie so viele Ärzte in Deutschland wie jetzt. Wirhaben 350 000 Ärzte, davon 150 000 niedergelasseneÄrzte. So viele Ärzte gab es noch nie. Dabei haben wirschon 1990 von einer Ärzteschwemme gesprochen, aberjetzt haben wir insgesamt 50 000 Ärzte mehr.
Ein bisschen Ehrlichkeit braucht man auch in dieser Dis-kussion, um die Dinge zu hinterfragen.Vor diesem Hintergrund ist es richtig und wichtig,wenn wir Überversorgung tatsächlich abschaffen. InBallungszentren – dies wissen wir alle – gibt es eineÜberversorgung. Diese Strukturprobleme müssen wirangehen. Wir müssen den Kassenärztlichen Vereinigun-gen gesetzliche Vorgaben machen, durch die sie gezwun-gen werden, Überversorgung abzubauen; denn sonst tutsich nämlich gar nichts.
Herr Kollege Franke, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr. Lotter?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Verehrter Herr Kollege Franke, vor 200 Jahren haben
die Leute einen Aderlass bekommen und sich gut behan-
delt gefühlt. Heute sind wir in der Lage, Organe zu trans-
plantieren. Würden Sie mir zustimmen, dass die Medizin
einen gewissen Fortschritt gemacht hat, dass damit der
Versorgungsbedarf und die Versorgungsmöglichkeiten
gestiegen sind und dass wir eine höhere Anzahl an älte-
ren Menschen haben, sodass wir auch mehr Ärzte benö-
tigen?
Wir haben in Deutschland auf jeden Fall hochqualifi-
zierte und engagierte Ärzte;
auch Sie sind ja einer. Aber auch Sie kennen die Diskus-
sion von 1990. Damals haben wir von einer Ärzte-
schwemme gesprochen. Wenn wir jetzt 50 000 Ärzte
mehr haben und trotzdem überall von Ärztemangel gere-
det wird, dann ist doch nachvollziehbar, wenn ich davon
ausgehe, dass eine gewisse Strategie dahintersteckt.
Wir wollen, geschätzter Kollege, die Ärzte sicherlich
nicht aufs Land prügeln; das bringt nichts.
Richtige Ansätze gibt es ja, auch im Versorgungsstruk-
turgesetz. Nur – bitte lassen Sie mich das noch sagen,
Herr Präsident –: Arztsitze bzw. Kassenarztzulassungen
können momentan rechtmäßig vererbt oder verkauft
werden. Durch diese Möglichkeiten wird die Überver-
sorgung in Ballungszentren, zum Beispiel in München
– Sie kommen ja aus Bayern –, nie geringer werden. Vor
diesem Hintergrund muss man die Strukturprobleme
schon grundlegender angehen.
Herr Präsident, ich glaube, ich habe noch 1 Minute
und 36 Sekunden.
Sie müssen die Zeit nicht ausschöpfen.
Es ist ehrenvoll, vorzeitig abzudanken.
Ich darf vielleicht noch zwei Sätze sagen. – Um dieärztliche Versorgung im ländlichen Bereich zu stärken,ist es vor allen Dingen wichtig, dass die Hausärzte ge-stärkt werden. Das kann geschehen, indem man diehausarztzentrierte Versorgung stärkt. Das gelingt abernicht dadurch, dass man, wie die FDP es gemacht hat, ei-nen durchschnittlichen Fallwert ansetzt, wodurch sichdie hausarztzentrierte Versorgung nicht mehr lohnt. Manmuss ein politisches Signal für die Hausärzte setzen. Daswürde wesentlich mehr für die ärztliche Versorgung imländlichen Bereich bringen.
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Dr. Edgar Franke
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Ich habe noch 45 Sekunden, und ich könnte, zumalich gleich mit den geschätzten Herren Spahn undMontgomery über Ärztehonorare diskutiere, noch eini-ges dazu sagen; aber dann würde ich sicherlich noch einpaar Kurzinterventionen provozieren.
Ich bedanke mich ganz herzlich für das freundlicheZuhören und wünsche euch allen noch einen schönenAbend.Ich danke euch.
Als letzter Redner zu diesem Einzelplan hat jetzt der
Kollege Alois Karl das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Der Kollege Franke, der vor mir gesprochen hat, hatsich als vorletzter Redner schon in Sicherheit gewähnt.Ich kann Sie, Kollege Franke, in der Tat beruhigen: Eswar nicht viel Verkehrtes in Ihrer Rede und auch nichtviel Angreifbares.
Aus diesem Grunde gehe ich auf Ihre Rede nicht weiterein.Frau Scharfenberg, bei Ihnen war das etwas anders.Sie haben einen in der Tat heiklen Punkt angesprochen,nämlich die Neuausrichtung der Pflege, die in diesenMonaten über die Bühne gebracht worden ist. Ich weißnicht, ob Sie den Bundesgesundheitsminister gesehenhaben, als Sie gesprochen haben. Herr Bahr hat sich inden Abendsonnenstrahlen gesonnt, ganz entspannt dage-sessen und fast glücklich ausgeschaut.
– Er hat es verdient. Er hat in den Sommermonaten ar-beiten müssen,
und jetzt genießt er natürlich seinen Haushalt, der außer-ordentlich gut dasteht. Darauf komme ich noch.Sie haben gesagt, Frau Scharfenberg, dass das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz geradezu peinlich sei und dassder Minister geradezu Arbeitsverweigerung betriebenhabe. Das stößt einem ungut auf. Schauen Sie einmal indie jüngere Geschichte zurück: 1994 hat die damaligechristlich-liberale Koalition unter Minister NorbertBlüm und Staatssekretär Rudolf Kraus die Pflegeversi-cherung auf den Weg gebracht. 1995 ist das entspre-chende Gesetz in Kraft getreten. Die fünfte Säule der So-zialversicherung, die seinerzeit gegründet wurde, warein hervorragender Meilenstein, ein Quantensprung inder Sozialversorgung unseres Landes.
Das entsprechende Gesetz war gut, aber hatte einenNachteil: 13 Jahre lang sind die Pflegeleistungen nichtdynamisiert, nicht angehoben worden. Erst im Jahre2008, wieder unter einer CDU/CSU-Regierung, diesmalzusammen mit der SPD, wurde das geändert, hat man dieLeistungen erhöht und den Geltungsbereich auf De-menzkranke ausgedehnt. Zuvor hatte man 13 Jahre langnichts geändert.
In diesen 13 Jahren waren Sie von den Grünen siebenJahre lang mit an der Regierung und hätten etwas Positi-ves machen können. All das haben Sie nicht gemacht.Sie haben nichts dazu beigetragen, die Pflegeversiche-rung einigermaßen zu verbessern, auf gesündere Beinezu stellen. Ich bitte Sie ausdrücklich darum, dass Sie,liebe Frau Scharfenberg, und Ihre Kollegen von denGrünen dann auch sagen: Wir waren untätig, und wirschweigen jetzt.
In der Tat sind erst wir diese Problematik angegangen.Manches ist gesagt worden; ich brauche das nicht zuwiederholen.Konzentrieren wir uns also ein wenig auf den Haus-halt. Dazu muss ich sagen, dass der Bundesfinanzminis-ter die mittelfristige Finanzplanung auf großartige Weisedurchzieht: Heuer kann er die Ausgaben im Bundeshaus-halt senken – von 312 Milliarden Euro auf gut 300 Mil-liarden Euro –, ebenso die Neuverschuldung. Wir habeneine finanzielle Solidität erreicht. Vor wenigen Jahrenhaben wir nicht gedacht, dass uns das so gut gelingt.Der Haushalt des Bundesgesundheitsministers, lieberHerr Bahr, trägt das Seinige dazu bei, dass der Bundes-haushalt konsolidiert wird, das heißt, in wenigen Jahrenneuverschuldungsfrei sein kann. Wir tragen heuer 2 Mil-liarden Euro zu den Einsparungen im Haushalt des Bun-desfinanzministers bei; der Beitrag, der an den Gesund-heitsfonds zu zahlen ist, schrumpft um 2 MilliardenEuro; er beträgt nicht, wie vorgesehen, 14 MilliardenEuro, sondern 12 Milliarden Euro. Man kann in der Tatfast davon sprechen, dass es sich bei den zusätzlichenEinzahlungen, die der Bundesfinanzminister 2011 in dendamals finanziell kränkelnden Gesundheitsfonds leistenmusste, um ein Darlehen gehandelt hat, das er sich jetztzurückholt – ohne Zinsen; das normale Gebaren bei Dar-lehen ist natürlich anders.Ich meine, es müsste doch selbst Sie mit einer gewis-sen Freude erfüllen, dass der Gesundheitsfonds heute sosuper dasteht, dass wir heute Rücklagen in Höhe von9 Milliarden Euro im Gesundheitsfonds haben, dass diegesetzlichen Krankenkassen heute etwa 13 MilliardenEuro Rücklagen haben,
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22954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 11. September 2012
Alois Karl
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sich also der Gesundheitsfonds und die Gesundheitspoli-tik heute in einer finanziell gesunden Situation befinden.Das ist ganz anders als zu Ihrer Regierungszeit. Ich per-sönlich und meine Freunde von der CDU/CSU und derFDP freuen uns jedenfalls darüber; das ist der positiveAusdruck dieses Nachmittags.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, natürlichprofitieren auch die gesetzlichen Krankenkassen davon,dass wir eine ganz hohe Rate an Arbeitskräften haben.Noch nie zuvor hatten 42 Millionen Menschen in unse-rem Lande eine feste Arbeitsstelle und waren immerhinüber 29 Millionen Menschen in unserem Lande sozial-versicherungspflichtig beschäftigt. Das alles hat dazubeigetragen, dass die Sozialkassen in solch einer Situa-tion sind; andere Generationen und andere Regierungenvor uns konnten doch nur davon träumen, in diese Rich-tung zu kommen.
Der Gesundheitsminister trägt jetzt seinen Anteildazu bei, dass wir die Konsolidierung hinbekommen.Wir werden es 2016 erleben, dass es einen neuverschul-dungsfreien Haushalt gibt, vielleicht schon 2015.
– Lieber Herr Schurer, weil Sie jetzt dazwischenredenund sich als einer der Mittelalterlichen vielleicht nochein bisschen daran erinnern können: Es wird dann46 oder 47 Jahre her sein, dass der Bund das letzte Malmit dem Geld ausgekommen ist, das er eingenommenhat.Seit 1969 – in diesem Jahr ist Willy Brandt Bundes-kanzler geworden –, ein Zeitpunkt, an dem die Sozialde-mokraten sich den Wohlstandsstaat sozusagen als dasMaximum auf die Fahne geschrieben haben, kommt derStaat mit dem Geld, das er einnimmt, nicht mehr aus.
Das war bei den Bundeskanzlern der Nachfolgezeit ge-nauso.
Wir werden einen glücklichen Tag erleben, wenn wir2016 oder sogar schon 2015 sagen können: Endlich istdas Werk ist geschafft; der Bund kommt mit seinemGeld aus. Bis dahin werden wir hart arbeiten, und auchder Haushalt des Bundesgesundheitsministers wird bisdahin seinen Beitrag leisten.
In der Tat werden wir im nächsten Jahr viel Aufklä-rungsarbeit betreiben. Die Bundeszentrale für gesund-heitliche Aufklärung wird viel zu tun haben. Gerade imBereich Aidsprävention und Drogenaufklärung werdendie Haushaltsansätze – anders, als Sie es gesagt haben –deutlich angehoben;
Im Zuge des Transplantationsgesetzes werden einigeAusgaben auf uns zukommen. Wir sollten es unserenKrankenkassen – insbesondere der AOK oder der Sie-mens-Betriebskrankenkasse – nicht durchgehen lassen,dass sie jetzt die Benachrichtigungen zum Thema Or-ganspende nicht verschicken. Das geht zulasten der Pa-tienten, vor allem jener, die auf Transplantationen ammeisten angewiesen sind. Sie haben darauf hingewiesen:1 000 Patienten sterben jedes Jahr, weil ihnen kein Spen-derorgan zur Verfügung steht. Herr Bundesminister, wirwerden den von uns postulierten gesetzlichen Auftragdurchziehen, auch gegenüber den Krankenkassen, diesich widerspenstig zeigen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich kommezum Schluss. Wir werden in den jetzt anstehenden Haus-haltsberatungen gewiss viele Details diskutieren. DerHaushalt wird dann in einer anderen Form verabschie-det, als er uns heute vorliegt. Eines steht aber fest: Ander Konsolidierung des Bundeshaushaltes führt keinWeg vorbei; daran halten wir fest; dazu leisten wir unse-ren Beitrag. Wir zahlen dieses Jahr sozusagen 2 Milliar-den Euro zurück. Wir zahlen nicht gerne, aber wir zahlenbar, Herr Bundesgesundheitsminister.
Ich danke herzlich und wünsche noch einen schönenAbend.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
nicht vor.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Mittwoch, den 12. September,
10 Uhr – wohlgemerkt 10 Uhr, nicht 9 Uhr! –, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.