Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, heute feiert der Abgeordnete Jahn seinen 60. Geburtstag. Ich darf ihm die besten Wünsche des Hauses übermitteln
und auch einmal den Dank für langjährige Tätigkeit als parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion aussprechen.
Wir setzen die Aussprache über den einzigen Punkt der Tagesordnung fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1988
— Drucksache 11/700 —Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1987 bis 1991
— Drucksache 11/701 —Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß
Die Aussprache soll heute etwa gegen 20 Uhr beendet werden. Eine Mittagspause ist von 13 bis 14 Uhr vorgesehen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man das Mikrophon anstellt, bin ich noch besser zu hören.
Wir haben gerade die entsprechende Weisung gegeben. Es tut mir leid.
Sehr liebenswürdig. Können wir eine Sprechprobe veranstalten, Herr Präsident?
Es funktioniert schon, Herr Abgeordneter.
Danke sehr. Herr Präsident, noch nicht einmal das funktioniert bei der Koalition.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Haushaltsdebatte dieser Woche ist die erste seit Beginn der neuen Legislaturperiode. Sie gibt deshalb nach altem parlamentarischen Brauch Anlaß, über den Haushaltsentwurf hinaus eine erste Zwischenbilanz Ihrer Regierungstätigkeit in dieser Periode zu ziehen, die Lage zu würdigen, in der sich unser Gemeinwesen befindet, und darüber zu diskutieren, ob Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Koalition ihrer Verantwortung gerecht werden.Die Äußerungen darüber, insbesondere die Äußerungen über das Erscheinungsbild und die Leistungen der Bundesregierung, sind in den letzten Monaten immer drastischer und immer negativer geworden. Dabei beziehe ich mich gar nicht auf die Stimmen der politischen Gegner; ich beziehe mich vielmehr ausschließlich auf Stimmen aus Ihrem eigenen Lager. Da spricht die CSU von dem jämmerlichen Gesamtbild, das die Regierung Kohl biete, und da bezweifelt Herr Strauß, offenbar unter dem Eindruck des fünfstündigen Gesprächs, das der Bundeskanzler in der letzten Woche mit ihm in seiner Wohnung geführt hat, sogar, daß die Bonner Vorgänge, also wohl vor allem die Politik des Bundeskanzlers, die ja wohl zu den Bonner Vorgängen gehört, was immer damit gemeint ist, „als Ergebnis logischer Überlegungen und systematischer Handlungsweise bewertet werden können".
Das sind harte Urteile. Aber Herr Strauß und die Kolleginnen und Kollegen der CSU müssen es ja schließlich wissen. Sie sind bei all dem, was Herr Strauß „Bonner Vorgänge " nennt, ununterbrochen dabei. Es sei denn, Herr Waigel, Sie werden von Herrn Kohl und Herrn Dregger im Einzelfall übergangen und müssen dann mit flexible response, mit flexibler Vergeltung, drohen.
Wir stimmen, wie, glaube ich, in der Bundesrepublik bekannt ist, mit Herrn Strauß und der CSU nur ganz selten überein, aber in diesem Fall kommen wir
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Dr. Vogelvon ganz anderen Ausgangspunkten zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Darum sage ich: Diese Bundesregierung ist ihren Aufgaben immer weniger gewachsen. Und ihre Handlungsfähigkeit nimmt in dem gleichen Maße ab, in dem ihre inneren Widersprüche zunehmen. Die Diskrepanz zwischen dem, was notwendig wäre, und dem, was geschieht, wird immer offenkundiger. Schein und Realität stoßen immer stärker aufeinander. Selbst Ihre eifrigsten publizistischen Helfer, deren Zahl ja nicht gerade gering ist, können es kaum noch verdecken; denn aus Ihren eigenen Reihen werden die Stimmen immer lauter, die die Orientierungslosigkeit nach innen und außen, den Zickzackkurs der täglichen Zufälligkeiten und Opportunitäten und den Verlust an geistig-moralischer Substanz beklagen. Wie sagte erst kürzlich, Herr Bundeskanzler, der Bundesvorsitzende der Jungen Union, den Sie übrigens vor kurzem als die intakteste Klammer zwischen den sogenannten Schwesterparteien gerühmt haben? Herr Böhr sagte wörtlich: „Die CDU ist konzeptionell ausgelaugt. "Er muß wissen, wovon er spricht. Die Union, so sagte er weiter, laufe Gefahr, in einen Zustand der programmatischen Lähmung zu verfallen.
Und dann ein besonders bemerkenswerter Satz: „Die CDU ist in der Gefahr, den Eiertanz als Lebensform zu entdecken. " Herr Bundeskanzler, Sie als Eiertänzer: Das ist ein neues Bild.
Sie sagen Ihren innerparteilichen Kritikern, Sie sagen Herrn Strauß, Sie sagen der CSU, Sie sagen der Jungen Union, das sei alles ungerecht. Sie sagen, Ihre Regierung sei in Wahrheit die erfolgreichste Europas.
— Der Beifall ist aber sehr dünn, meine Herrschaften.
Und Sie sagen, uns gehe es so gut wie nie zuvor. Finden Sie nicht eigentlich selber, Herr Bundeskanzler, daß Sie da ein bißchen dick auftragen?
Gewiß, das Bruttosozialprodukt ist in der Zeit von 1982 bis 1986 um über 350 Milliarden DM gestiegen, und in einzelnen Branchen, etwa bei den Banken und in der chemischen Industrie, sind die Gewinne geradezu explodiert. Einige Bankenvorstände haben ja bei den Bilanzpressekonferenzen jetzt eher das Problem, die Höhe der Erträge und der Gewinne etwas zu vernebeln.
— Ach, Herr Bundeskanzler, wenn Sie wirklich garnichts anderes mehr wissen, als immer von Neid zureden, dann sagt das eher etwas über Sie aus als über uns!
Wir empfinden überhaupt keinen Neid. Im Gegenteil. Diese Zahl, die ich nannte,
ein Zuwachs um 350 Milliarden DM im Bruttosozialprodukt seit 1982, zeigt, welche Kraft in unserem Volk und in unserer Volkswirtschaft steckt
und mit welchem Fleiß und welchem Können unsere männlichen und weiblichen Facharbeiter, Techniker, Ingenieure und Kaufleute, unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insgesamt und auch die Männer und Frauen in den Unternehmensleitungen tätig sind. Ich danke ihnen für diese Anstrengung und für dieses Engagement.
Denn ihrer aller Anstrengung ist das volkswirtschaftliche Ergebnis in erster Linie zu verdanken.Daneben haben natürlich auch günstige Außenbedingungen, etwa die gesunkenen Öl- und Rohstoffpreise, eine Rolle gespielt. Das heißt übrigens auch — und das sage ich nachdenklich —, daß ein nicht unerheblicher Teil unseres Wohlstands aus Einbußen der Dritten Welt und der Entwicklungsländer stammt.
Das zu sagen ist nicht populär und würde beim Herrn Bundeskanzler wahrscheinlich wieder das Stichwort Neid auslösen. Aber es ist die Wahrheit, und darum spreche ich es an dieser Stelle aus.
Ich will heute nicht auf die Frage eingehen, ob diese Entwicklung auf einem festen Fundament ruht und ob alle Faktoren des Bruttosozialprodukts auch dem sozialen Nutzen dienen. Bis in Ihre Reihen, meine Damen und Herren, hat sich ja inzwischen herumgesprochen, daß wir für Teile dieses quantitativen Wachstums einen unverantwortlich hohen Preis an Qualität der Umwelt und an Qualität des Lebens zahlen.
Ich lasse auch die Frage dahingestellt, wie lange diese Konjunktur so noch andauern wird. Immerhin gibt es nach Meinung unabhängiger Institute genug Warnzeichen, die ein Ende, jedenfalls aber eine Verlangsamung der gegenwärtigen Konjunktur als möglich, wenn nicht sogar als wahrscheinlich erscheinen lassen.
Ich konzentriere mich vielmehr auf die Fragen: Wem ist diese gemeinsame Anstrengung, wem ist insbesondere dieser Zuwachs eigentlich zugute gekommen? Wohin ist der Zuwachs eigentlich geflossen? Und wozu — das ist die Frage an die Regierung — haben Sie unsere wirtschaftliche Stärke, die aus die-
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Dr. Vogelsen Zahlen spricht, eigentlich genutzt? Ist sie genutzt worden, um die Arbeitslosigkeit abzubauen, um Strukturkrisen zu überwinden, um Vorsorge für die Zukunft zu treffen? Die Antwort ist leider ein klares Nein. In Wahrheit hat unter Ihrer Verantwortung, meine Damen und Herren der Bundesregierung, die größte Umverteilung in der Geschichte der Bundesrepublik stattgefunden, und zwar eine Umverteilung ausschließlich von unten nach oben.
Noch nie zuvor sind die breiten Schichten so geschröpft und die Reichen so begünstigt worden wie seit Ihrem Regierungsantritt — noch nie zuvor!
Das können Sie, Herr Stoltenberg, und Sie, Herr Bundeskanzler, noch so empört abstreiten: Die Tatsachen, d. h. die Zahlen des Statistischen Bundesamtes und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sind eindeutig und überführen Sie. Wenn Sie Bedürfnis danach haben, stelle ich Ihnen Exemplare der Berichte des Statistischen Bundesamtes gerne zur Verfügung, und zwar für alle Mitglieder dieser Koalition.Von 1982 bis 1986 ist das Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer um 137 Milliarden DM, das Bruttoeinkommen aus Unternehmenstätigkeit und Vermögensbesitz hingegen um 154 Milliarden DM gewachsen. Das ist schon an und für sich ein Mißverhältnis, das Ihre Heiterkeit dämpfen sollte. Aber nach Abzug der Steuern und Abgaben blieben den 22,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von dem Zuwachs netto 52,7 Milliarden DM, den Unternehmenseignem und Vermögensbesitzern aber netto 142,4 Milliarden DM, d. h. das Dreifache.
Das ist nicht Fortschritt; da hat sich nicht, wie Sie immer wieder sagen, Leistung wieder gelohnt. Im Gegenteil: Leistungsloses Einkommen hat sich hier gelohnt wie nie zuvor.
Hier findet schlicht und einfach die Privilegierung weniger zu Lasten der vielen statt, eine Umverteilung, die sich auch daraus erklärt, daß noch kein Bundeskanzler vor Herrn Kohl die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer mit einer derart hohen Steuer- und Abgabenquote belastet hat, nämlich mit der Rekordquote von 45,8 %.
Das sind doch die Lohnnebenkosten, über die sich Herr Stoltenberg gestern so lautstark beklagt hat. Dort stecken sie doch!
Aber das ist nur ein Aspekt. Der zweite ist noch viel gravierender: 1982 betrug der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am gesamten Nettoeinkommen unseres Volkes 66,3 %. 1986, also im fünften Jahr Ihrer Regierung, sind es noch 58,4 %. Gleichzeitig ist der Anteil der Unternehmens- und Vermögensbesitzer am Gesamtnettoeinkommen von 33,7 % auf 41,6 % gestiegen. Das zeigt, wohin Sie die Ergebnisse der gemeinsamen Anstrengung gelenkt, in welche Körbe Sie die Früchte unserer gemeinsamen Anstrengung gelegt haben.
Das ist eigentlich ein noch größeres soziales Ärgernis, ein Ärgernis, nein, ein Unrecht, das Sie sorgfältig zu verbergen trachten.Dies alles wäre noch eher hinzunehmen, wenn die Arbeitslosigkeit gesunken wäre, wenn unser Land krisenfester geworden wäre, wenn weniger Menschen um ihren Arbeitsplatz bangen müßten, wenn es weniger Armut gäbe, wenn dieser starke Zuwachs auch bei den Unternehmenseignern und Vermögensbesitzern dorthin gelenkt worden wäre. Aber davon kann doch keine Rede sein. In Wahrheit nehmen in wichtigen Teilbereichen — ich sage: in Teilbereichen — krisenhafte Erscheinungen zu. Heute, fast fünf Jahre nach Ihrem Regierungsantritt und nach fünf Jahren einer günstigen Weltwirtschaftskonjunktur — Herr Stoltenberg, die Vergleiche mit den letzten Jahren der Regierung Schmidt sind doch deswegen — und das wissen Sie — unredlich, weil wir damals auf dem Tiefpunkt einer Weltwirtschaftskrise waren, während wir jetzt eine Weltwirtschaftskonjunktur haben —,
hat es unser Land mit einer Werftenkrise, einer Stahlkrise, einer Kohlekrise, einer Agrarkrise
und einer Massenarbeitslosigkeit zu tun, die von neuem steigt, auch mit einer teils offenen, teils verschämten Armut, die weiter um sich greift, und zudem noch mit einer heraufziehenden Krise der öffentlichen Finanzen. Wollen Sie denn das einfach alles leugnen? Wollen Sie, Herr Bundeskanzler, leugnen, daß inmitten wachsenden Reichtums — ein Plus von 350 Milliarden DM bedeutet gewachsenen Reichtum — immer mehr Menschen ausgegrenzt und ihrem Schicksal überlassen werden?
Von der Krise der Werften sind rund 5 000, von der Stahlkrise 20 000 bis 30 000, von der sich immer deutlicher abzeichnenden Kohlenkrise nach Schätzung der IG Bergbau und Energie, auf die Sie sich immer wieder beziehen, rund 62 000 Arbeitnehmer ummittelbar bedroht.
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Dr. VogelSie wissen, daß diese Krisen ganze Städte und Regionen in Schleswig-Holstein, in Niedersachsen, an der Ruhr und im Aachener Revier, im Saarland und in der nördlichen Oberpfalz — ich denke an Sulzbach-Rosenberg — mit dem wirtschaftlichen Tod bedrohen. Was geschieht eigentlich auf dem Hintergrund der finanziellen Möglichkeiten, die ich erwähnt habe, um das abzuwenden, um den Menschen wieder Hoffnung zu geben? Was geschieht, Herr Bundeskanzler, damit Sie dem Verfassungsgebot Genüge tun, das Ihnen die Schaffung und Erhaltung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Teilen der Bundesrepublik zur Pflicht macht?
Die Agrarkrise bedroht nach Angaben Ihres Parteifreundes Heereman — auf ihn beziehe ich mich — die Existenz von annähernd 200 000 bäuerlichen Familienbetrieben. Diese Krise hat die Betroffenen so verbittert, daß sie ihrem Unmut auf jede nur denkbare Weise öffentlich Ausdruck geben. Diese Krise hat sie so verbittert, daß Ihre Parteifreunde Heereman und Eigen, die hier zu uns im Parlament gehören, Ihren Landwirtschaftsminister Kiechle beim Verbandstag des Deutschen Bauernverbandes in Aachen ostentativ ausgeladen, also des Saales verwiesen haben. Das ist übrigens ein Vorgang, der an innerer Unwahrhaftigkeit kaum zu überbieten ist. Denn die Herren Heereman und Eigen, die da als Ankläger des Herrn Kiechle aufgetreten sind, haben doch hier im Bundestag noch kein Wort der Kritik an Herrn Kiechle geäußert.
Im Gegenteil: Die Herren Heereman und Eigen, die Herrn Kiechle des Saales verweisen, haben hier allen Anträgen des Herrn Kiechle zugestimmt und ihm sogar Dank und Anerkennung ausgesprochen. Die Herren Heereman und Eigen hätten sich eigentlich bei dieser Veranstaltung selber des Saales verweisen müssen.
Herr Bundeskanzler, was antworten Sie eigentlich den Bauern auf ihre Fragen? Reden Sie da auch von Neid? Sie glauben doch wohl selbst nicht, daß Sie die Misere und die Krise der deutschen bäuerlichen Familienbetriebe weiterhin auf Brüssel und die Kommission abschieben können. Das hat eine Zeitlang mit Mühe funktioniert; inzwischen glauben es Ihnen die Bauern selbst nicht mehr, daß alles nur an Brüssel liege. Die Bauern erkennen immer deutlicher, daß die Ursache auch hier in dieser Regierung und in dieser Koalition liegt.
Zur Massenarbeitslosigkeit hat Herr Franke, Ihr Parteifreund, Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, in den letzten Wochen alles Erforderliche gesagt. Trotzdem unser Bruttosozialprodukt um 350 Milliarden DM zugenommen hat — —
— Sie sind der bessere Oberlehrer, wenn Sie mir hier zurufen: Das heißt „obwohl". Ich gebe meinen Titel an Sie weiter, mein Herr.
— Legen Sie sich nicht mit allen an. Wenn Sie Kohl flexible response androhen, ist das schon gut. Jetzt fangen Sie nicht auch mit mir noch Krach an, Herr Waigel.
— Das wird Ihnen Ihr Herr und Meister ankreiden, daß Sie sagen, Sie hätten vor Herrn Kohl Angst. Das hört der Strauß nicht gern; solche Leute mag er nicht in Bonn.
Die Zahl der Arbeitslosen wird in diesem Jahr — so sagt Herr Franke — im Durchschnitt bei 2,2 Millionen liegen und in den nächsten Jahren noch steigen. Sie wächst ja, wie wir den letzten Zahlen von Ende August entnommen haben, zur Zeit leider schon wieder gegenüber den Vorjahresmonaten.Die Zahl der Langzeitarbeitslosen, d. h. derer, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, hat inzwischen 750 000 erreicht. Das sind nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung rund 360 000 Langzeitarbeitslose mehr als im Durchschnitt des letzten Amtsjahres von Helmut Schmidt, also am Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise. Wissen Sie denn nicht mehr, Herr Bundeskanzler, daß Sie damals noch als Sprecher der Opposition angekündigt haben, Sie würden die Zahl der Arbeitslosen, wenn Sie die Regierung übernähmen, alsbald um eine Million senken? Wenn Sie sich für diese Äußerung schon nicht bei uns entschuldigen, wollen Sie nicht wenigstens die Betroffenen um Entschuldigung bitten, die Sie derart enttäuscht haben?
Wollen Sie eigentlich auch dem Papst widersprechen,
der bei seinem letzten Besuch in Bottrop sagte, Massenarbeitslosigkeit werde zu einem gesellschaftlichen „Skandal" — ich zitiere wörtlich; das Wort „Skandal" stammt aus dieser Rede — , wenn die zur Verfügung stehende Arbeit nicht gerecht verteilt — und nun kommt der entscheidende Satz — und der Ertrag der Arbeit — diese 350 Milliarden DM sind doch der Ertrag der allgemeinen Arbeit — nicht auch dazu verwandt wird, neue Arbeit für möglichst alle zu schaff en?
Herr Bundeskanzler, eben dies, was der Papst als Skandal bezeichnet, geschieht. Sie widersetzen sich der Arbeitszeitverkürzung, also einer gerechteren Verteilung der Arbeit. Wohin der Ertrag der gemeinsamen Arbeit fließt, das habe ich bereits mit konkreten Zahlen vorgetragen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1567
Dr. VogelDas Wort von der neuen Armut hören Sie nicht gerne, obwohl es doch Ihr eigener Generalsekretär — allerdings in Oppositionszeiten — erfunden hat. Er hat lange Zeit auch immer das Urheberrecht in Anspruch genommen; jetzt will er nichts mehr davon wissen. Aber die Armut gibt es doch.Als Sie Bundeskanzler wurden, haben etwa 900 000 Haushalte Sozialhilfe zum Lebensunterhalt bezogen und waren zur Beseitigung der bittersten Not 16,3 Milliarden DM erforderlich; das war am Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise. 1985, nach fünf Jahren eines — wie Sie sagen — ununterbrochenen Aufschwungs und einer guten Weltkonjunktur — wie wir sagen — , waren es, obwohl 350 Milliarden DM jährlich mehr zur Verfügung stehen, 1 170 000 Haushalte — das sind rund 3,5 Millionen Menschen — und 20,8 Milliarden DM. 1986 waren es schätzungsweise bereits 24 Milliarden DM. Das sind mehr als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Wie erklären Sie das eigentlich? Warum schweigen Sie dazu? Wo, Herr Bundeskanzler, beginnt eigentlich die Sensibilität des Vorsitzenden einer Partei, die sich christlich nennt?
Die katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten haben in einem Dokument, das eigentlich jeder Politiker, gleich welcher Partei, auch bei uns lesen sollte, geschrieben: Bittere Armut plagt unser Land — die Vereinigten Staaten — trotz seines großen Reichtums. Daß so viele Menschen in einem so reichen Land wie dem unseren arm sind — wieder wörtliches Zitat —, ist ein sozialer und moralischer Skandal, den wir nicht ignorieren können.Sie, meine Damen und Herren, können das offenbar; Ihnen bereitet es keine Mühe. Denn bei uns ist es doch um kein Haar anders als in den Vereinigten Staaten. Der Reichtum wächst, und auch die Armut wächst.
Meine Kritik reicht weiter. Sie ignorieren dies nicht nur; Sie tun mit Ihren Medienhelfern alles, Herr Bundeskanzler, um über diese Vorgänge den Mantel des Schweigens zu breiten.Zu all diesen Krisen kommt immer deutlicher eine krisenhafte Entwicklung der öffentlichen Finanzen hinzu. Die Fakten und Zahlen, die mein Kollege Apel dazu gestern vorgetragen hat, sind von Herrn Stoltenberg mit keinem Wort widerlegt, ja zum Teil sogar bestätigt worden. Er hat doch Herrn Späth mit seiner Vorausschätzung nicht widersprochen; er hat doch die Zahlen, auf die es ankommt, nicht in Zweifel gezogen.Danach steht fest: Erstens. Der Entwurf des Haushalts 1988 enthält ungedeckte Risiken in Milliardenhöhe. Bei einer realistischeren Annahme des voraussichtlichen Wachstums erhöht sich das Risiko noch.Zweitens. Das Defizit von Bund, Ländern und Gemeinden wird 1990 je nach Konjunkturverlauf nicht, wie bisher geschätzt, bei 24,5 Milliarden, sondern zwischen 64,5 Milliarden und 105 Milliarden DM liegen. Die Neuverschuldung der öffentlichen Hände wird sich in diesem Jahr gegenüber Ihrer bisherigenPlanung sogar verzehnfachen. Wenn sich Herr Lambsdorff vielleicht an die Zeit erinnert, in der wir noch gemeinsam dem Kabinett angehört haben: Können Sie sich vorstellen, was für ein Tanz hier aufgeführt worden wäre, wenn ein Finanzminister unserer Koalition eine Verzehnfachung der Schuldenaufnahme gegenüber der Planung hätte mitteilen müssen?
Drittens. Die Kommunen werden — das sind Zahlen von Herrn Rommel; ich zitiere ja heute fast nur Leute aus Ihrem eigenen Lager — 1990 einen Einnahmeausfall von über 10 Milliarden erleiden und mit ihrer Investitionskraft auf das Niveau der 50er Jahre absinken.Viertens. Sie, Herr Stoltenberg — und natürlich auch Herr Kohl —, der Sie die Schuldenaufnahme der Regierung Schmidt und die Einstellung der Bundesbankgewinne in den Haushalt seinerzeit unablässig getadelt haben — Zitat Stoltenberg: es sei der Gipfel der Unsolidität, die Bundesbankgewinne als Einnahme und Deckung in den Haushalt einzustellen —,
Sie, die Sie das unablässig getadelt haben, werden, wenn man die Bundesbankgewinne vor und nach 1982 außer Betracht läßt — ich mache nicht Ihren Kunstgriff, mit dem Sie die Sonderhaushalte bei sich für die Investitionen dazugeschlagen, bei uns aber weggelassen haben —, bis 1990, also innerhalb von acht Jahren, nach Ihren eigenen Zahlen eine höhere Finanzierungslücke zu verantworten haben als die Regierungen Brandt und Schmidt zuvor in 13 Jahren. Das ist die Wahrheit.
Gleichzeitig werden — das ist eine Schere, die uns mit großer Sorge erfüllen muß — bis zum Ende der jetzt gültigen mittelfristigen Finanzplanung die Investitionen des Bundeshaushalts mit 11,2 % auf den tiefsten Stand seit 1949 sinken. Herr Stoltenberg, Sie sind gestern hier ans Pult getreten und haben gesagt, auch bei uns hätte es Jahre mit sinkender Investitionstendenz gegeben. Das ist leider richtig. Dazu bekenne ich mich. Aber bekennen Sie sich dazu, daß Sie die niedrigste Investitionsquote in der Geschichte der Bundesrepublik vorschlagen und zu verantworten haben,
und zwar — ich komme immer wieder darauf zurück — doch nicht in einer Zeit sinkenden Bruttosozialprodukts, sondern in einer Zeit, in der infolge gemeinsamer Anstrengungen das Bruttosozialprodukt um 350 Milliarden im Jahr gestiegen ist.Herr Stoltenberg, wie rechtfertigen Sie das alles eigentlich? Ist es Ihnen eigentlich — jedenfalls wenn Sie zu Hause sind — nicht selbst gelegentlich peinlich, wie voll Sie den Mund gerade auf diesem Gebiet jahrelang genommen haben?Selbst Ihre konservativen Freunde halten Ihnen das ja jetzt gelegentlich vor.Aber ungeachtet dieser Warnungen versprechen Sie weiterhin auch — ich sage nicht „nur", aber
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Dr. Vogel„auch" — die Senkung des Spitzensteuersatzes für das Jahr 1990. Sie versprechen das, was Herr Blüm, der ja ein Freund anschaulicher und deswegen leicht zitterbarer Formulierungen ist, den „Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmer" genannt hat — wieder ein Zitat aus Ihren Reihen.
— Freilich macht Blüm selbst immer mit. Ja, er macht immer mit.
Gleichzeitig verweigern Sie — nach gestern ist das noch klarer — die Antwort auf die Frage, wie Sie die Einnahmeausfälle in Höhe von rund 20 Milliarden eigentlich finanzieren wollen. Warum um alles in der Welt sagen Sie eigentlich nicht — Ihre Parteifreunde bedrängen Sie ja inzwischen fast genauso wie wir — den Wählerinnen und Wählern in Ihrem eigenen Heimatland und auch in Bremen endlich, was Sache ist, und zwar noch vor dem Wahltag?
Herr Stoltenberg, sogar für den Betrieb eines öffentlichen Münzfernsprechers gilt ja: erst zahlen, dann wählen. Sie drehen das um und sagen: erst wählen, und danach sagen Sie den Leuten, was sie zu zahlen haben.
— Das ist ein gutes Zitat. Es stammt von Herrn Meyer, dem Abgeordneten des Südschleswigschen Wählerverbands in Flensburg. Der kennt Sie scheinbar auch ziemlich genau. Ein gutes Zitat; ich muß sagen: Respekt vor Herrn Meyer.Wie hat es Herr Böhr formuliert: Eiertanz als Lebensform der CDU. Das, was Sie gestern hier gemacht haben, war doch auch wieder ein Eiertanz. Warum sagen Sie nicht klipp und klar, daß Sie weder die Mehrwertsteuer noch andere Verbrauchsteuern erhöhen? Und warum sagen Sie nicht klipp und klar und nicht nur mit so einer verschwommenen Berufung auf ein Verfassungsgerichtsurteil, das Sie befolgen wollten, daß die Lohnsteuerbelastung der Arbeitnehmer an keinem Punkt erhöht wird? Das können Sie doch hier in einer einzigen Minute erledigen, indem Sie es zu Protokoll geben. Selbst Ihren Wahlkämpfern in Schleswig-Holstein fiele ein Stein vom Herzen, wenn Sie endlich diese klaren Antworten gäben.Was Sie gestern dazu gesagt haben, Herr Stoltenberg, waren wiederum doch nur Ausflüchte. Sie haben nämlich im Grunde gesagt, daß Sie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beachten wollen. Das halte ich eigentlich für eine Selbstverständlichkeit. Ich hoffe, es ist auch für Sie eine Selbstverständlichkeit.
Deshalb fordern wir Sie erneut auf — die Debatte dauert ja noch — : Sagen Sie endlich, was Sache ist! Geben Sie endlich Auskunft! Solange Sie das nicht tun, werden wir wahrheitsgemäß behaupten, daß die Mehrheit des Volkes nach der Verwirklichung Ihrerfamosen Steuerpläne nicht besser, sondern schlechter dastehen wird als heute.
Sagen Sie nicht, wir betrieben eine Kampagne, sondern sagen Sie doch, was Sache ist. Dann weiß jeder, was los ist.Eines muß ich Ihnen allerdings in allem Ernst zu bedenken geben. Sie haben gestern gesagt, daß wir Sie so fragen, das sei volksdemokratisch. Lieber Herr Stoltenberg, in allem Ernst: Daß wir Fragen stellen, ist unser Recht und unsere Pflicht als Abgeordnete; das ist nicht volksdemokratisch.
Ein Minister der Bundesrepublik Deutschland steht unter dem Verfassungsgebot, daß er diesem Parlament und den Abgeordneten Rede und Antwort schuldig ist und daß er Fragen zu beantworten hat.
Wenn Sie hier von „volksdemokratisch" reden, dann ist das eine verächtliche Behandlung dieses Parlaments, und das stelle ich fest.
Wir lassen es nicht bei diesen Feststellungen bewenden. Wir begnügen uns auch nicht mit dem Nachweis, daß Sie selber von Jahr zu Jahr mehr genau das tun, was Sie uns damals zu Unrecht vorgeworfen haben, und das Gegenteil dessen, was Sie vorher versprochen haben. Nein, wir kritisieren nicht nur; wir setzen Ihren Fehlschlägen und auch Ihrem Versagen unsere Konzepte entgegen,
Konzepte, die das Gemeinwohl im Auge haben, die sich am Prinzip der sozialen Gerechtigkeit orientieren,
die mit den Geboten der Solidarität und der Nächstenliebe Ernst machen;
Konzepte auch, die den Mut haben, Strukturen zu ändern, wo die einfache Fortschreibung des Bestehenden, wo Ihr „Weiter so! " immer mehr Menschen ausgrenzt und schließlich unser ganzes Gemeinwesen in Gefahr bringen kann.
Wir wissen, daß es sich bei der Werften-, der Stahl- und der Kohlekrise um Strukturkrisen handelt. Wir wissen, daß man auf Dauer nicht mehr produzieren kann, als der Markt aufnimmt, und zwar ganz gleich, wer Eigentümer dieser Betriebe ist. Auch ein verstaatlichtes Unternehmen könnte nicht mehr produzieren, als der Markt aufnimmt.
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Dr. VogelAber die notwendigen Umstellungen dürfen doch nicht mit Massenentlassungen und dem Ruin ganzer Regionen einhergehen. Deshalb muß der Bund in diesen Fällen genauso helfen, wie er das beim Airbus oder bei der Landwirtschaft mit weit höheren Beträgen in Tagesfrist tut.
Wenn der Airbus etwas braucht, dann genügt ein Brief von Herrn Strauß an den Bundeskanzler. Ich würde mir wünschen, daß dieses Verfahren auch für die Bergarbeiter und die Stahlarbeiter Anwendung findet.
Der Bund muß sich auch bei der Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen stärker engagieren. Darauf haben die Regionen, die einen entscheidenden Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg der Bundesrepublik geleistet haben, haben die Regionen, denen wir alle seinerzeit für jede Tonne Stahl, für jede Tonne Kohle dankbar waren, die zusätzlich gefördert wurden, und für jedes Schiff, das zusätzlich vom Stapel lief, auch einen moralischen Anspruch. Wenn Sie ihn nicht erfüllen, werden die Betroffenen die Erfüllung ihres Anspruchs auf ihre Weise einfordern, so wie das heute auf dem Bonner Münsterplatz viele Tausende von Eisenbahnern tun, denen ich von dieser Stelle aus unsere Solidarität bekunde.
Wenn die Betroffenen ihre moralischen Ansprüche selbst einfordern müssen, wird das sozial, aber auch ökonomisch teurer werden, als wenn den Betroffenen geholfen wird. Außerdem — und ich dachte, darin stimmen wir überein — erfordern unsere nationalen Interessen ein ausreichendes Maß an Produktionskapazität beim Stahl und bei den Werften, und sie erfordern auch die Erhaltung einer entsprechenden Förderkapazität bei der Kohle. Das ist gar kein Geschenk an die Betreffenden, das ist in unser aller nationalem Interesse.
In der Agrarpolitik muß den Bauern endlich die Wahrheit gesagt werden. Das ist überhaupt der Beginn der Kurskorrektur: endlich die Wahrheit. Und die Wahrheit ist, daß das System der produktionssteigernden, mengenorientierten Subventionen bereits zusammengebrochen ist, daß es nicht mehr zu finanzieren ist, daß es trotz steigender Aufwendungen die Bauern immer ärmer werden läßt.
— Aber ich bitte Sie! Ihr eigener Minister Kiechle hat noch 1982 dem verdienstvollen Josef Ertl, als er solche Gedanken aussprach, entgegengehalten — lesen Sie das Zitat vom März 1982 — , er verstehe die Aufregung nicht; wenn einmal eine gute Ernte gewesen sei, dann könne man doch nicht von Überschußproduktion reden. Seien Sie da sehr vorsichtig!Wer den bäuerlichen Familienbetrieb retten will— und wir wollen das, weil unsere Gesellschaft ohnediese bäuerliche Lebensform ärmer wäre, und wir wollen nicht, daß unsere Gesellschaft verarmt —,
wer den bäuerlichen Familienbetrieb auf Dauer sichern will, der muß endlich zu einem System der flächenorientierten Einkommensübertragungen übergehen und damit die Bauern in erster Linie für das entlohnen, was nur sie zu leisten vermögen — nämlich — : die Erhaltung und Pflege unserer Kulturlandschaft. Wird so die finanzielle Grundausstattung der Familienbetriebe gesichert — auf die Unterstützung der Agrarfabriken können wir getrost verzichten; jede Mark Subvention für die Agrarfabriken ist verschleudertes Geld; vielleicht können wir uns wenigstens darüber einigen —,
könnten für die Produktion auch wieder in viel stärkerem Maße die Marktregeln in Kraft gesetzt werden. Dann findet auch die widersinnige Anhäufung von Überschüssen ein Ende — es ist ja schon merkwürdig, daß wir Ihnen hier die Marktregeln auf diesem Gebiet predigen müssen —; von dieser Anhäufung — und das wissen wir doch alle, da könnten wir doch übereinstimmen — profitieren doch nur die Lagerhalter und der Handel, in keinem Fall aber mehr die Bauern. Von jeder Milliarde, die die Gemeinschaft aufbringt, kommt höchstens noch ein Viertel wirklich bei den Bauern an. Alles andere bleibt dazwischen hängen.
Im übrigen, ich sagte: Von denen in keinem Fall die Bauern profilieren. Ich füge hinzu: Oder gar die Verbraucher, von denen in diesem Zusammenhang nur ganz selten und dann auch nur am Rande die Rede ist.Zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und zur Bekämpfung der Armut bedarf es einer ähnlich großen Gemeinschaftsanstrengung, wie wir sie nach dem Krieg in Zeiten nationaler Armut zur Eingliederung der Flüchtlinge und zur Behebung der Wohnungsnot unternommen haben. Kernstück dieser Anstrengung ist unser Projekt „Arbeit und Umwelt", das ohne Inanspruchnahme des Bundeshaushalts jährlich 20 Milliarden DM zur Wiederherstellung zerstörter und zum Schutz bedrohter Umwelt verfügbar machen und, wie die Institute bestätigen, schon im ersten Jahr mehrere hunderttausend Arbeitsplätze schaffen könnte.Einige CDU-Kollegen aus dem zweiten Glied fangen ja jetzt zaghaft an, ähnliche Vorschläge zu machen, zum Beispiel der Herr Fink aus Berlin, der sich, wenn ich es richtig sehe, in einem innerparteilichen Wahlkampf um Ihre Nachfolge befindet, oder auch Herr Scharrenbroich. Sie, Herr Bundeskanzler und Ihre Regierung sträuben sich unverändert. Warum denn eigentlich?Wir sind für weitere Arbeitszeitverkürzungen und gratulieren den Gewerkschaften, vor allem der IG Metall und der IG Chemie, zu den großen Fortschritten, die sie bei der Arbeitszeitverkürzung mit den wegweisenden Abschlüssen dieses Jahres erreicht haben.
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Dr. VogelWir erkennen auch die realistische Haltung der Arbeitgeber in dieser Frage an. Die sind nämlich viel realistischer als Sie in dieser Frage. Da sagt keiner, das sei dumm, absurd und töricht. Die haben die Vernunft dieses Weges erkannt, und drum gehen sie ein Stück weit mit. Wir befürworten unverändert die Einführung einer steuerstundenden Investitionsrücklage für Handwerk und Mittelstand und die Stärkung der kommunalen Investitionskraft.Sie lehnen das alles ab. Nicht, weil Sie das Richtige und Notwendige nicht tun könnten. Ich erinnere immer wieder an die 350 Milliarden DM plus im Bruttosozialprodukt. Nein, Sie lehnen es ab — und Sie sagen es ja auch — , weil Sie das nicht tun wollen, weil Sie glauben, unser Volk hätte sich inzwischen an die Massenarbeitslosigkeit gewöhnt, weil Sie glauben — und ich wähle von den Straußschen Formulierungen den höflicheren Ausdruck —, das ließe sich aussitzen. Strauß würde sagen: ausschwitzen, ich sage: aussitzen. Das ist ein gefährlicher Irrtum.
Unsere steuerpolitische Haltung hat gestern schon Kollege Apel dargelegt. Ich brauche das nicht zu wiederholen. Ich beschränke mich auf drei Feststellungen.Erstens. Steueränderungen, die den Gemeinden, den Ländern und dem Bund die finanziellen Mittel nehmen, die sie zur Erfüllung ihrer dringendsten Gemeinschaftsaufgaben bitter notwendig brauchen, sind unverantwortlich. Wir lehnen sie ab.
Zweitens. Schuldaufnahmen des Bundes zur Finanzierung von Steueränderungen sind unsolide. Wir lehnen sie ab. Wir lehnen auch ab, daß die Länder und Gemeinden Ihren Steuerplänen zuliebe auf den Weg zusätzlicher Verschuldung gezwungen werden. Das haben Sie ja auch bis zum letzten Jahr vertreten, Herr Stoltenberg.Drittens. Wir lehnen Steuersenkungen nicht generell ab. Im Gegenteil: Wir halten es beispielsweise für ein Unding, daß auch nach Ihren Plänen, wenn sie verwirklicht werden, immer noch in großer Zahl Mitbürgerinnen und Mitbürger Steuern zahlen müssen, deren Nettoeinkommen unter den Sozialhilfesätzen liegt. Steuersenkungen, bei denen die großen Verdiener auf Kosten der breiten Schichten entlastet werden, sind jedoch ungerecht und unsozial. Wir werden sie weiterhin mit aller Entschiedenheit bekämpfen. Ihre gestrige Behauptung, daß der Durchschnittsfacharbeiter 65 000 DM beziehe, hat uns in dieser Ablehnung eher noch bestärkt.
— Aber lieber Herr Friedmann, — —
Herr Abgeordneter Dr. Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stoltenberg?
Nein, ich gebe jetzt gerade Herrn Friedmann eine Antwort.
— Sie haben gestern auch keine Zwischenfragen zugelassen.
— Setzen! — Ich lenke die Aufmerksamkeit des Präsidenten darauf, daß Herr Stoltenberg das Wort ergreift, ohne es erteilt bekommen zu haben.
Herr Abgeordneter Stoltenberg, der Redner gibt Ihnen keine Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen. Sie können Platz nehmen.
Herr Stoltenberg, Sie haben hier doch den Ausdruck „volksdemokratisch" verwendet. Das Wort in einem Parlament zu nehmen, ohne daß es erteilt worden ist, zeigt, daß dieser Begriff in diesem Fall eigentlich ein bißchen näherliegt als da, wo Sie ihn gebraucht haben.
— Können wir jetzt weitermachen?
— Ach, wissen Sie, wenn einer Ihrer Redner eine Zwischenfrage nicht zuläßt, dann klatschen Sie und sagen, es lohne sich nicht. Und wenn ich nach dieser Devise verfahre, dann schreien Sie und regen sich auf. Das hätte sich auch nicht gelohnt.
Wenn Sie sich gestern verpappelt oder verredet haben, Herr Stoltenberg, können Sie ja hierherkommen und das in Ordnung bringen.
Ich sprach von wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Krisenerscheinungen, die unserem Volk im fünften Jahr einer günstigen Konjunktur zu schaffen machen, und von der Verantwortung, die Sie als Regierungskoalition für diese Erscheinungen tragen. Kritische Erscheinungen gibt es aber auch auf anderen Feldern, etwa dem Feld der Friedenssicherungspolitik. Wir begrüßen selbstverständlich, daß der Besuch, mit dem der Herr Staatsratsvorsitzende der DDR — —
— Nein, muß er nicht; die hören schon von selber auf.
Herr Abgeordneter Apel, es ist auf allen Seiten des Hauses Unruhe gewesen. Das gilt dann für alle.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1571
Wir begrüßen selbstverständlich, daß der Besuch, mit dem der Staatsratsvorsitzende der DDR den Besuch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt am Werbellin-See erwidert, nunmehr zustandegekommen ist. Dieser Besuch liegt in der Logik der von uns gegen Ihren hartnäckigen Widerspruch entwickelten Deutschlandpolitik und in der Logik des von Ihnen abgelehnten Grundlagenvertrages, der vor ziemlich genau 15 Jahren zustande gekommen ist.Die Bundesregierung — das anerkenne ich — hat anläßlich des Besuchs vernünftigerweise die Spielräume des Grundlagenvertrags im protokollarischen Bereich — wir alle haben das Bild vor Augen — insbesondere am ersten Tag voll ausgeschöpft. Damit hat diese Bundesregierung die Anerkennung der DDR als Staat in sichtbarster Weise bekräftigt. Gleichzeitig war bei den meisten Beteiligten das Bemühen erkennbar, die Chance, die der Besuch für eine Kooperation auf qualitativ neuem Niveau und für eine systemöffnende Zusammenarbeit — beides Begriffe, die der Herr Bundespräsident geprägt hat — bot, zu nutzen. Das am Dienstag veröffentlichte Kommuniqué läßt dafür positive Ansätze erkennen, wenn sich viele von uns manches sicher auch noch konkreter und präziser gewünscht hätten. Aber wir kennen die Grenzen, die es bei der Formulierung solcher Kommuniqués gibt.Für die Sozialdemokraten begrüße ich diese Entwicklung. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der Union, daß der Besuch noch eine weitere Wirkung entfaltet, nämlich die Wirkung, daß die Union nun endgültig ihren Frieden mit der Deutschlandpolitik der vorhergehenden sozialliberalen Bundesregierungen Brandt und Schmidt macht und sie ohne innere Vorbehalte akzeptiert.
Das, meine Damen und Herren, würde in einer wichtigen Frage einen Konsens ermöglichen, den die Menschen nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern vor allem auch in der Deutschen Demokratischen Republik lange genug schmerzlich vermißt haben.
Das könnte eine der positiven Wirkungen des Besuchs sein.Neue Impulse im deutsch-deutschen Bereich würden dadurch erleichtert. Die steigende Zahl von Reisegenehmigungen, die umfassende Amnestie auch für politische Straftaten und die Abschaffung der Todesstrafe zeigen, daß die DDR bereit ist, dazu Beiträge zu leisten. Weitere Fortschritte, so vor allem — ich glaube, das eint das ganze Haus — die endgültige Beseitigung des Schußwaffengebrauchs an der Grenze, erscheinen erreichbar. Insbesondere dann, Herr Bundeskanzler, wenn wir auch unsererseits auf das eingehen, was die DDR für bedeutsam hält, etwa auf die Frage der Elbegrenze. Eine einvernehmliche Regelung dieser Frage, der Umweltprobleme, der Sportfischerei, der Fischereiprobleme in der Lübecker Bucht ist möglich und längst überfällig.
Ich hoffe, daß sich nun endlich auch die Bundesregierung und das Land Niedersachsen bewegen.Die Grundwertekommission meiner Partei hat kürzlich ein Papier vorgelegt, das die Ergebnisse eines über längere Zeit mit Gesellschaftswissenschaftlern der DDR geführten Dialogs zusammenfaßt. Das Papier, das mit Recht große Aufmerksamkeit gefunden hat — übrigens auch bei den Nachdenklichen in Ihren Reihen — , läßt erkennen, wie unterschiedliche, wie gegensätzliche Gesellschaftssysteme zu einem kooperativen Wettbewerb gelangen können, der die Unterschiede und Gegensätze nicht verwischt, der die Leiden, die es gegeben hat — ich denke an die Jahre nach der Zwangsvereinigung — nicht der Vergessenheit anheim gibt, der aber den Frieden fördert, statt ihn zu gefährden, und der für Millionen von Menschen Hoffnungen begründet und ihnen das Leben erleichtert, statt Ängste und Aggressionen zu wecken und Feindbilder zu pflegen. Fragen Sie die Menschen in der DDR, ob nicht allein schon das Gespräch zwischen Eppler und Reinhold im Fernsehen der DDR Hoffnung erweckt hat.
Es hat uns nicht überrascht, daß einige von Ihnen — es sind dieselben, die wegen der protokollarischen Fragen mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, jetzt zu hadern beginnen — darauf mit der üblichen Polemik geantwortet haben, mit den öden Parolen, mit denen sie schon die Ostverträge und den Grundlagenvertrag bekämpft haben und verhindern wollten. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Wir Sozialdemokraten lassen uns dadurch nicht beirren. Hätten wir uns 1969 von Ihren Kampagnen gegen unsere Entspannungspolitik bis hin zum Mißtrauensvotum beeindrucken lassen, so stünden wir noch heute in der Konfrontation des kalten Krieges, wäre die Mauer noch heute so undurchlässig wie in den 60er Jahren, und der Besuch des Staatsratsvorsitzenden wäre, wenn wir ihnen gefolgt wären, nicht eine Realität, sondern so utopisch wie zu Ulbrichts Zeiten.
Besteht demnach für die deutsch-deutschen Beziehungen Anlaß zu einem realistischen Optimismus, so haben Sie es auf dem Gebiet der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik verstanden, die Bundesrepublik in eine schwierige Situation zu manövrieren. Lange Zeit — das wissen Sie doch, Herr Bundeskanzler — verfestigte sich nämlich der Eindruck, daß allein noch die Bundesrepublik der Einigung der Weltmächte über die doppelte Null-Lösung Hindernisse in den Weg lege, ja, daß sie im Grunde die Einigung gar nicht wolle. Inzwischen haben Sie mit erkennbarem Widerwillen großer Teile der Union — das hat man ja gehört und gelesen — der zweiten Null-Lösung zugestimmt. Schließlich — Herr Genscher mußte seine ganzen Künste, die wir auch von früher her kennen, aufbieten — haben Sie dann, Herr Kohl, unter der Einwirkung dieser Künste, auch unserer Forderung entsprechend, auf die Pershing-I a-Systeme verzichtet. Für diesen Verzicht — und das ist unverändert die Wahrheit, und deswegen verschieben Sie jetzt auch
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1572 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. Vogelnoch den Bericht zur Lage der Nation — haben Sie — —
— Dann fragen Sie doch die Geschäftsführer!
— Herr Kohl, das ist auch eine Neuerung, daß der Bundeskanzler von der Regierungsbank Zwischenrufe macht. Ich bin ganz einverstanden, aber es ist eine Neuerung. Das wollen wir im Protokoll festhalten. Wenn Sie sich zu den Abgeordneten setzen, können Sie fast alles machen, von der Regierungsbank ist das nicht üblich, mein Lieber.
Wissen Sie, Sie messen auch mit zweierlei Maß. Wenn Sie Zwischenrufe machen, dann sagen Sie, daß sei notwendig. Wenn ich einen Zwischenruf mache, dann kommt immer Ihr Standardsatz, daß Sie armer Bundeskanzler von mir niedergeschrien werden. Also entweder oder, mein Lieber.
— Ja, das ist doch wahr.
Für diesen Verzicht — und weil es wahr ist, sage ich Ihnen jetzt noch einmal, Herr Bundeskanzler —
haben Sie mit Ihrer Koalition bis zur Stunde keine parlamentarische Mehrheit auf die Beine bringen können.
Aber es geht noch weiter.
Nachdem Sie fünf Stunden lang in der Wohnung an der Hirsch-Gereuth-Straße mit Herrn Strauß verhandelt haben, bezweifelt er jetzt auch noch, daß Sie überhaupt einen verbindlichen Verzicht ausgesprochen haben. Bei Ihren Äußerungen, so sagt er, handele es sich nur um eine Absichtserklärung, die geprüft und geändert werden könne und geprüft und geändert werden müsse, und die CSU werde für die Änderung kämpfen. Herr Waigel kämpft schon, sehen Sie mal.
Gleichzeitig hat der Außenminister, was wir wieder begrüßen, der an dem Zustandekommen Ihrer Entscheidung überhaupt nicht beteiligt war, der noch nicht einmal mit Ihnen telefoniert hat, der die Lage intuitiv erfaßt hat, die außenpolitische Bindungswirkung gerade in den Tagen des Honecker-Besuchs mehrfach unterstrichen.
Der telefoniert gar nicht mit Ihnen über so was, der redet gar nicht mit Ihnen, aber er sorgt, schlau wie er ist, für die außenpolitische Bindungswirkung. Respekt — das ist in Ordnung!Gleichzeitig muß ich aber sagen: Ein größeres Wirrwarr und eine unwürdigere Form, in einer wichtigen Frage zu prozedieren, ist eigentlich kaum vorstellbar.
Herr Bundeskanzler, die komische Figur in diesem Spiel ist nicht Herr Strauß und ist nicht Herr Genscher. Denken Sie mal nach, wer die komische Figur in diesem Spiel ist.
Schon jetzt ist doch abzusehen, daß sich dieses Spiel wiederholen wird. Im Auswärtigen Amt sind die Karten doch schon gemischt, wenn es demnächst um die dritte Null-Lösung, nämlich um die Null-Lösung für die atomaren Kurzstreckenwaffen mit Reichweiten zwischen 150 und 500 km oder um die Herstellung konventioneller Stabilität geht. Es gibt natürlich einen Vorschlag für eine dritte Null-Lösung für den Bereich zwischen 500 und 150 km, und Ihr Gesprächspartner und Gast hat Ihnen das doch am Dienstag wahrscheinlich genauso gesagt, wie er es anderen gesagt hat. Wir werden wieder das übliche erleben: Erst haben Sie es verlangt, und dann wird Zittern und Entsetzen sein, wenn dieser Vorschlag tatsächlich kommt. Dann muß Genscher wieder arbeiten.
Das ist ja alles lustig und unterhaltsam. Sie sehen, der Unterhaltungswert Ihrer Darbietungen auf diesem Gebiet ist erheblich.
Aber die Außen- und Sicherheitspolitik darf doch nicht unberechenbar werden und sich in einem irritierenden, auch unsere Verbündeten irritierenden Stopand-go-Verfahren verfangen.
Es kann doch auch nicht immer der Bundespräsident in die Bresche springen und beispielsweise in Moskau Aufgaben wahrnehmen, die eigentlich Sache des Bundeskanzlers sind. Auch das hat krisenhafte Züge und bedeutet eine Überbeanspruchung von Verfassungsorganen, deren Aufgabe das eigentlich gar nicht sein sollte.Im Bereich des Umweltschutzes und des Umgangs mit der Natur beharren Sie auch in der neuen Legislaturperiode auf Ihrer Devise „Weiter so". Dabei böten Ihnen immer neue Umweltkatastrophen allen Anlaß, diesen Kurs zu korrigieren.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1573
Dr. VogelIch nenne als Beispiel nur den verheerenden Unfall in Herborn und die jüngsten Verwüstungen in den Alpen. — Ja, Herr Seiters, wie bezeichnen denn Sie das, was im Veltlin vor sich gegangen ist? Wollen Sie denen da drüben in der Sowjetunion Konkurrenz machen, weil Sie das Wort Katastrophe nicht hören wollen? Sagen Sie, das ist eine Havarie? Dies ist eine Katastrophe, und ich nenne das eine Katastrophe.
— Dazu brauche ich nicht Ihre Genehmigung.
In beiden Fällen sind Risiken in Kauf genommen worden, die sich nicht als theoretisch, sondern als tödlich erwiesen haben. In beiden Fällen sind um des ökonomischen Nutzens willen die natürlichen Gegebenheiten außer acht gelassen worden. Unsere Forderung, die ökonomischen Prozesse auch unter ökologischen Kriterien zu kontrollieren und auf technisch oder ökonomisch Mögliches der Natur und damit dem Leben zuliebe zu verzichten, hat damit neue Bekräftigung erfahren.
Sie versuchen, auch in der Frage der Atomkraft zur Tagesordnung überzugehen. Lauter denn je proklamieren Sie die Unentbehrlichkeit, aber auch die Sicherheit ihrer Nutzung. Sie vertrauen darauf, daß die Erinnerung an Tschernobyl, Three-Miles-Island verblaßt. Beides ist trügerisch. In Wahrheit reiht sich, wie wir jetzt wissen — das gilt für die Regierungsverantwortung von uns wie von Ihnen — , bei Nukem und Alkem seit Jahr und Tag eine Panne an die andere. Lauter Dinge, die jahrzehntelang im Brustton der Überzeugung als „rein theoretisch" bezeichnet worden sind, sind dort am laufenden Band passiert und passieren jetzt noch.
— Ich sage ja gerade: ohne Rücksicht auf den, der die Regierungsverantwortung trägt. Alles, was Sie als rein theoretisch und unmöglich bezeichnet haben, ist dort am laufenden Band passiert.Und die Entsorgungsfrage? Sie ist nach dem Abbruch der Bohrungen in Gorleben offener denn je. Es gibt Anlässe genug, die These von dem unbeachtlichen oder vertretbaren Restrisiko zu überdenken.Was die angebliche Unentbehrlichkeit der Atomkraft angeht: Unentbehrlich ist die Atomkraft wohl nur für den, der der Kohle endgültig den Garaus machen möchte.
Auf diese Zusammenhänge hat gerade in den letzten Wochen — zu Recht — die IG Bergbau und Energie hingewiesen und folgerichtig zunächst einmal für viele Jahre die Verminderung des Einsatzes von Atomstrom gefordert. Im übrigen ist noch für jeden, der rechnen kann, einsichtig, daß jedes neue Atomkraftwerk, das zusätzlich geplant wird und ans Netz geht, das endgültige Aus für mehrere Zechen bedeutet. Das ist doch einfach eine logische Operation.
Wir bleiben deshalb beim Nein zu einer Technologie, deren gefahrlose Beherrschbarkeit nur gewährleisten kann, wer Unfehlbarkeit für sich in Anspruch nimmt, und bei der Forderung, eine sichere Energieversorgung ohne Atomkraft binnen einer Frist möglich zu machen, die wir, entsprechende Gesetzgebungsmehrheiten vorausgesetzt — so steht das in diesem Beschluß — , auf ein Jahrzehnt veranschlagt haben. Dieses Nein zu einer bestimmten Technologie verbindet sich mit einem ebenso nachdrücklichen und deutlichen Ja zu anderen technischen Entwicklungen und zu einem ebenso klar artikulierten Vertrauen zu unseren Naturwissenschaftlern, Ingenieuren, Technikern und Facharbeitern, nämlich dem Vertrauen, daß sie uns von der Abhängigkeit von einer gefährlichen Energie befreien, daß sie den Nutzungsgrad gefahrloser Primärenergien erhöhen und neue regenerative Energiequellen entwickeln können, wenn wir ihnen ein klares Ziel setzen und ihnen Mittel und Möglichkeiten in dem Maß zur Verfügung stellen, in dem es heute leider weltweit immer nur für die Entwicklung immer tödlicherer Waffen geschieht.
Herr Abgeordneter Stratmann, der Redner läßt keine Zwischenfragen zu.
Was ich Herrn Stoltenberg verweigert habe, kann ich nicht Ihnen zugestehen.
Ich habe von der Lage, vom Zustand unseres Gemeinwesens gesprochen. In einer parlamentarischen Demokratie ist dieser Zustand — ich füge im konkreten Fall hinzu: leider — nicht vom Zustand der Koalition zu trennen, die dieses Gemeinwesen regiert. Der Zustand unseres Gemeinwesens — das habe ich ausgeführt — gibt auf wichtigen Gebieten Anlaß zur Sorge. Der Zustand der Koalition ist nicht nur besorgniserregend, er ist — ich zitiere noch einmal Herrn Strauß — „jammervoll". Er wird für unser Gemeinwesen mehr und mehr zur Belastung.Ich denke dabei gar nicht einmal an die mitunter abstoßenden Beschimpfungen, mit denen CSU und FDP als Koalitionspartner — neuerdings auch CDU und CSU, ja, sogar verschiedene Flügel der CDU — übereinander herfallen. Das Schimpfwörterverzeichnis der letzten Wochen hat allein zwölf Seiten. Ich denke auch nicht daran — das ist ja nun ganz ungewöhnlich, eine absolute Premiere — , daß Herr Strauß dem Bundeskanzler wortwörtlich vorwirft, er sei in der Pershing-Frage „Lügen gestraft worden". Ich lasse auch die Frage beiseite — meine Herren, ich habe selber lange Zeit einem Kabinett angehört —, wie ein Kabinett, dessen Mitglieder sich öffentlich beschimpfen und sich spinnefeind sind, eigentlich an einem Tisch wieder vertrauensvoll zusammenarbeiten will. Wie soll dies eigentlich gehen?Unsere Sorge gilt vielmehr der Tatsache, daß diese Koalition auf wichtigen Feldern nicht mehr handlungsfähig, daß sie durch innere Gegensätze gelähmt ist. Da vertritt der Außenminister etwa in der Frage der Null-Lösung schon im Frühjahr eine bestimmte — nämlich unsere — Position. Dann fahren Herr Dregger und Herr Rühe mit Billigung des Bundes-
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1574 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. Vogelkanzlers nach Washington, Paris und London, um diese Position zu konterkarieren.
Da sagt Herr Zimmermann mit Zustimmung des Bundeskanzlers, es bestehe wegen der 14 Chilenen keinerlei Handlungsbedarf. Dann erweckt Herr Blüm auf Veranlassung des Herrn Geißler den Eindruck, die Lebensgefahr für die 14 Chilenen könne nur durch sein sofortiges persönliches Auftreten in Santiago behoben werden. Da erklären die FDP-Minister, eine Mehrwertsteuererhöhung komme unter gar keinen Umständen in Frage, und die CSU-Minister erhalten zugleich von Herrn Strauß die gegenteilige Order. Die Herren Kohl und Stoltenberg geben beiden Seiten recht und sagen, nichts sei völlig ausgeschlossen; und so weiter und so weiter.Es ist schon bedenklich genug. Noch kritischer sind die — und da greife ich jetzt Ihr Wort auf — die „geistig-moralischen" Aspekte — ich erinnere mich an Ihre Absicht, die Politik geistig-moralisch zu erneuern — einer solchen Politik.CDU und CSU liefern sich seit Wochen auf vielen Feldern der Politik geradzu erbitterte Auseinandersetzungen. Man muß nur jeden Mittwoch im „Bayernkurier" die neuesten Streitigkeiten verfolgen. Sie streiten über Abrüstung und die Bekämpfung von AIDS, sie streiten über Menschenrechte und Mittelstandspolitik, über Kohlepolitik und die Reform der sozialen Sicherungssysteme. Ein Leitartikler der „Welt" schrieb sogar — nicht etwa der Vorrat an Gemeinsamkeiten — der Vorrat an Gemeinheiten, mit denen sich beide Parteien bedächten, sei schier unerschöpflich.
Gleichzeitig behaupten Sie aber mit einer gewissen Festigkeit — man könnte auch Dreistigkeit sagen —, daß Sie in allen wesentlichen Fragen übereinstimmen und deshalb natürlich im Sinne der Geschäftsordnung des Bundestages weiterhin eine gemeinsame Fraktion seien. Mit der gleichen Logik könnten Sie inzwischen auch mit den GRÜNEN oder könnten alle Fraktionen dieses Hauses eine gemeinsame Fraktion bilden.
Die beschimpfen sich auch nicht schlimmer als Sie;
denn stärker als zwischen CDU und CSU wird zwischen ihnen auch nicht gestritten.Natürlich geht es den Unionsparteien auch gar nicht um Logik oder um die Beachtung der Geschäftsordnung, sondern es geht ihnen um die vielfältigen Vorteile, die der stärksten Fraktion nach der Geschäftsordnung zustehen und die sie verlieren würden, wenn CDU und CSU je eine eigene Fraktion bildeten. Das Maß an Redlichkeit aber oder auch nur an Rechtsgehorsam, das hier gefordert ist, ist offenbar eine Überforderung für die streitenden Unionsteile.
Noch fragwürdiger sind jedoch bestimmte Aktivitäten des Herrn Generalsekretärs der Union und seiner Gefolgsleute. Daß Herr Geißler mit dem Erscheinungsbild der Union unzufrieden ist — genauso unzufrieden wie Herr Böhr, der ja wohl im Einvernehmen mit ihm all dies sagt — , daß er glaubt, die Union habe Profil und Wertorientierung verloren und daß er darin die Ursache für ihre hohen Stimmverluste bei den Wahlen der letzten Jahre sieht, auch wenn seine Einsichten etwas spät kommen.Wir haben auch nichts dagegen, daß Herr Geißler seine Partei für neue Themen zu interessieren versucht — wir beobachten, wie schwierig das ist — und daß er dabei auf Themen verfällt, mit denen wir uns schon seit langem beschäftigen. Das wundert uns gar nicht, das war schon oft so. Ob soziale Gerechtigkeit, Mitbestimmung, Umweltschutz als Staatsziel, Ost- und Deutschlandpolitik oder zuletzt der Verzicht auf die Pershing-I a-Raketen, in all diesen Fällen hat sich die Union mit jahrelanger — gelegentlich jahrzehntelanger — Verspätung unseren Positionen angeschlossen, oft allerdings halbherzig und mit schlimmen Rückfällen. Dann haben Sie immer alle Hände voll zu tun, diese Querschüsse wieder unter Kontrolle zu bekommen.Außer dem Thema Menschenrechte könnten wir Ihnen übrigens noch weitere Themen empfehlen, die sich für Richtungsänderungen dringend anbieten. Warum entdecken Sie nicht das Thema Massenarbeitslosigkeit?
Oder den Rassismus in Südafrika? Warum eigentlich nicht? Warum entdecken Sie für wertorientierte Richtungsänderungen nicht das Asylrecht oder die Situation unserer ausländischen Mitbürger? Auf all diesen Gebieten haben Sie weiß Gott noch eine Chance, bestehende Rückstände aufzuholen.Daß Sie Ihre Richtung ändern, macht Herrn Haussmann besorgt, mich nicht; ich finde dies großartig. Daß Sie Ihre Richtung ändern, daß Sie alte Fehler zu korrigieren versuchen, kritisieren wir nicht, das begrüßen wir. Aber wie Sie dabei agieren, wie Sie dabei mit dem Thema Menschenrechte umspringen, fordert unsere schärfste Kritik heraus.Die Devise, deren sich Herr Geißler immer wieder rühmt, lautet — ich zitiere wieder wörtlich — : „Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über sie. " Nicht die Taten, sondern die Worte! Getreu dieser Devise geht es konkret offenbar auch nicht so sehr um das Schicksal der 14 Chilenen, für die ja kein Handlungsbedarf besteht, sondern darum, was sich daraus machen läßt. Die Jesuiten haben den Satz „Der Zweck heiligt die Mittel" , wenn er ihnen denn überhaupt je zu Recht zugeschrieben worden ist, schon längst verworfen. Für Herrn Geißler und viele von Ihnen hat er uneingeschränkt Gültigkeit: Nicht die Taten zählen, sondern die Worte zählen, mögen sie wahrheitsgemäß, glaubwürdig und redlich sein oder nicht. Das ist Ihre Maxime.
Herr Bundeskanzler, wo sind denn die Taten hinsichtlich der 14 Chilenen? Sie wissen doch ganz ge-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1575
Dr. Vogelnau, daß sich Sozialdemokraten — ich nenne nur Hans-Jürgen Wischnewski — seit Anfang 1985 öffentlich und im stillen uni die Rettung dieser Chilenen bemühen. Sie wissen doch ganz genau, daß die Bundesregierung eine Anfrage meiner Fraktion, ob sie nun beabsichtige, zu helfen und die Chilenen aufzunehmen, noch im August nichtssagend, nein, ablehnend beantwortet hat. Sie wissen doch, daß Ihre Partei Mitte der 70er Jahre — und Sie waren dabei — den Rücktritt des damaligen sozialdemokratischen Bundesministers Matthöfer verlangte, weil er schon damals Pinochet und seine Gefolgsleute eine Mörderbande genannt hat.
Da haben Sie gesagt, es sei unerhört, Pinochet so zu beleidigen; er müsse zurücktreten. Sie wissen doch, daß sich Herr Dregger noch 1979 positiv über die Situation in Chile äußerte, von Strauß ganz zu schweigen. Die Bilder sind uns allen doch noch in Erinnerung, wie er neben Pinochet stehend Worte der Würdigung für diese Entwicklung gefunden hat. Sie wissen doch, daß die Bundesregierung mit Ihrer Zustimmung und auf Ihren Vorschlag hin und natürlich auch mit Zustimmung des Herrn Blüm — selbstverständlich — auch jetzt noch erklärt, hinsichtlich der 14 Chilenen bestehe überhaupt kein Handlungsbedarf. Das alles wissen Sie doch. Was soll denn dann all Ihr Reden über die Chilenen? Warum ist denn dann Herr Blüm überhaupt gereist?
Was hat er denn erreicht? Warum sagen Sie nicht schlicht und einfach, daß sich Ihre Partei in der Beurteilung des Pinochet-Regimes lange Jahre geirrt hat und diesen Irrtum jetzt korrigieren will?
Und warum sagen Sie nicht, daß sich jetzt ein Teil von Ihnen — Strauß und die CSU nicht; Zimmermann lehnt es ja ausdrücklich ab; er sagt, es sind Tenoristen; die will er hier nicht haben — mit uns und auch mit anderen für diese Verfolgten einsetzt? Das wäre vielleicht nicht spektakulär, aber es wäre redlich, wenn Sie so argumentieren würden.
Und warum beschränken Sie sich eigentlich auf Chile? Wo bleibt denn Ihr Aufschrei gegen den Rassismus und die Appartheid in Südafrika?
Oder gegen Folter und Menschenrechtsverletzungen im Iran?
Wann reist denn Herr Stoltenberg nach Teheran oder Herr Dregger nach Pretoria, um dort die Verantwortlichen an Ort und Stelle zur Rede zu stellen? Die Herren sind doch auch stellvertretende Parteivorsitzende. Oder reist immer gerade der, der aus innenpolitischenGründen einen gewissen Profilierungsbedarf hat? Wonach richtet es sich denn, wer reist?
Außerdem, wenn Ihnen die Sache ein solches Herzensanliegen ist, warum reisen Sie eigentlich nicht selbst, Herr Bundeskanzler? Im Gegensatz zu Ihnen haben wir in diesen Fragen keinen Nachholbedarf. Herr Bundeskanzler, wir nennen Folter Folter und nicht „unfeine Behandlung". Lassen Sie uns das hier deutlich sagen.
Wir haben uns in all diesen Fällen ebenso klar geäußert wie zu den militärischen Interventionen und den Vorgängen in Afghanistan, aber auch in Nicaragua. Aber da liegt auch der Unterschied: Wir engagieren uns in der Sache, und zwar oft genug im stillen, aber Sie wollen Begriffe besetzen, Sie wollen Richtungsstreitigkeiten austragen und innenpolitisches Profil gewinnen. Sie erklären das auch noch ausdrücklich. Herr Geißler sagt es ja, und Herr Blüm etwas leiser.
Wir wollen, daß Menschen in Not überall in der Welt geholfen wird, soweit das in unseren Kräften steht. Herbert Wehner und Hans-Jürgen Wischnewski haben für diese Art von stiller Hilfe eindrucksvolle Beispiele gegeben. Wir wollen die Taten, und Sie wollen zu oft nur die Worte. Sie suchen sich die Taten danach aus, welche Worte sie für Ihre Zwecke hergeben.
Wir könnten uns über den desolaten Zustand der Koalition, über den Verfall und die Zerrissenheit der Union freuen. Zerrissenheit ist noch ein milder Ausdruck. Wir könnten es auch mit der Sonthofener Katastrophenphilosophie des Herrn Strauß halten, der bekanntlich — seinerzeit in der Opposition — gesagt hat, alles müsse noch wesentlich tiefer sinken, bis die damalige Opposition Aussicht habe, politisch mit ihren Vorstellungen, Warnungen gehört zu werden. Das ist die Philosophie des Herrn Strauß, nicht unsere. Wir wollen nicht, daß alles immer noch schlechter wird; denn wir wissen, den Preis dafür zahlen nicht Sie, sondern den Preis zahlt unser Volk. Aber unser Volk hat einen Anspruch darauf, gut, aber auch anständig regiert zu werden.
Deshalb werden wir zwar fortfahren, Ihr Versagen zu kritisieren und Initiativen zu ergreifen, die aufzeigen, was geschehen könnte und müßte, um Schaden abzuwenden und Nutzen zu mehren. Deshalb sind wir aber auch weiterhin über die Grenzen zwischen Koalition und Opposition hinweg zum gemeinsamen Handeln bereit, wo immer das möglich und sinnvoll erscheint:
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1576 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. VogelIn der Europapolitik z. B., in der wir Sie schon im Frühjahr zu einer gemeinsamen europäischen Initiative eingeladen haben, oder in konkreten Fragen der Deutschlandpolitik oder in der Reform der Agrarpolitik oder bei konkreten Hilfen für Werften, Stahl und Kohle.Im Saarland gibt es beispielsweise doch schon längst eine Kohle- und Stahlfraktion, die alle Mitglieder des dortigen Landtags umfaßt. Warum soll das eigentlich im Bundestag nicht möglich sein?
Ich fordere Sie auf, insbesondere die Nordrhein-Westfalen, daß wir eine solche gemeinsame Fraktion zur Rettung dieser Region bilden,
oder bei der Reform der sozialen Sicherheitssysteme oder bei der AIDS-Bekämpfung oder auch dort, wo es um die Wahrung der Menschenrechte geht.Bis zu den schlimmen Dingen in diesem Sommer, die ich angesprochen habe, war der Gleichklang der Parteien auf dem Gebiet der Menschenrechte einmal eine Selbstverständlichkeit. Wir sollten zu diesem Zustand zurückkehren. Ich sage es in alle Richtungen: Die Betroffenen, die Verfolgten und die Gefolterten müssen es als quälend empfinden, wenn aus ihrer Haut parteipolitsche Riemen geschnitten werden.
Ich fordere uns alle auf, in der Frage zur Vernunft zurückzukehren. Profilieren wir uns überall, aber nicht auf diesem Gebiet!Ich wiederhole: Wir sind auf diesen und auf anderen Gebieten zum Gespräch und zur Zusammenarbeit bereit. Das gilt insbesondere für die Fragen, in denen sich die Koalitionsparteien gegenseitig blockieren, also etwa wenn es um konkrete Maßnahmen gegen die Massenarbeitslosigkeit oder darum geht, den finanziellen Ruin von Städten und Gemeinden zu verhindern, oder bei der Anti-Folter-Konvention, die, wenn Sie es nur wollen — Sie verlangen es ja draußen dauernd — , noch in der nächsten Sitzungswoche hier beschlossen und ratifiziert werden kann.
Oder bei der Politik gegenüber Südafrika: Daß Herr Blüm aus Profilierungsgründen immer darüber redet, er fährt gegen den Willen des Kanzlers nach Südafrika, oder er fährt doch nicht, das hilft den Menschen überhaupt nicht. Wenn wir uns gemeinsam hier wenigstens auf einige Sanktionen einigen könnten und Sie das vertreten, dann würde das helfen, Herr Bundeskanzler.
Zu einem sind wir allerdings nicht bereit, nämlich beiseitezustehen und stillzuhalten. Deshalb werden wir den Menschen weiterhin die Zusammenhänge erläutern, wir werden sie ermutigen, sich selbst zu Wort zu melden und ihre Interessen mit den vom Grundgesetz — aber auch nur mit diesen — erlaubten Mittelnzu vertreten, auch mit dem Mittel der Kundgebung, der Protestversammlung und der friedlichen Demonstration; denn die Wohlfahrt unseres Volkes, die Erhaltung des Friedens, die Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, die Bewahrung unserer rechtsstaatlichen Liberalität, das sind viel zu ernste Fragen, um sie allein einer Koalition zu überlassen, deren Gemeinsamkeit sich mehr und mehr im Streben nach Machterhalt, im Streben nach Erhalt der gegenwärtigen Positionen erschöpft.Unser Ziel ist und bleibt die Ablösung dieser Koalition, ist und bleibt die Übernahme der Regierungsverantwortung.
Bis dahin werden wir Sie Woche für Woche und Monat für Monat zur Rechenschaft ziehen, so wie wir das in dieser Woche getan haben und noch tun werden.
— Sie können noch so fröhlich lachen: Das Lachen wird Ihnen vergehen.
Sie werden von uns keine Ruhe mehr bekommen. Sie können sich darauf verlassen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Waigel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Oppositionsführer, Sie haben lange auf locker trainiert. Herausgekommen ist ein sehr gequälter Humor.
Wenn Sie an das Schimpfwörterlexikon erinnern:
Sie finden eine viel bessere Fundgrube bei Ihrem Vorgänger Herbert Wehner. Dem ist in Sachen Humor und Schimpfwörter wenigstens noch etwas Originelles eingefallen,
was bei Ihnen nie der Fall ist.
Sie haben, Herr Kollege Vogel, über die Umverteilung gesprochen. Ich will Ihnen dazu nur noch einmal in Erinnerung bringen: In unserer Zeit dieser Regierungskoalition sind die Realeinkommen wieder gewachsen; zu Ihrer Zeit sind die Realeinkommen der Arbeitnehmer gesunken. Das ist der große Unterschied zwischen unserer und Ihrer Politik.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1577
Dr. WaigelWir haben die Verschuldung und damit die Steuerlast der Arbeitnehmer verringert.
Jetzt frage ich Sie einmal: Wo findet wirklich eine arbeitnehmerfreundliche Politik statt? In einer Zeit, wo die Anlage des Geldes in festverzinslichen Staatspapieren rentabler ist wie zu Ihrer Zeit — damals war es um vier bis fünf Punkte günstiger, in risikolosen Staatspapieren sein Geld anzulegen — , oder zu unserer Zeit, wo es wieder um vier bis fünf Punkte günstiger ist, sein Geld in einem Betrieb zur Schaffung von Arbeitsplätzen anzulegen? Unsere Politik ist arbeitnehmerfreundlich; Ihre Politik war arbeitnehmerfeindlich. Und das wissen die Arbeiter in der Bundesrepublik Deutschland.
Sie zitieren hier immer wieder Parteifreunde. Ich finde es keinen guten Stil,
wenn Repräsentanten von Organisationen, die in ihrer Unabhängigkeit etwas sagen, in dieser Form apostrophiert werden.
Aber tun Sie das, was Sie als Meister des Stils hier für richtig halten!Wenn Sie das aber tun, dann darf ich wohl daran erinnern, daß der Präsident der Bundesbank jedenfalls nicht aus den Reihen der CDU/CSU gekommen ist. Er hat zu dem, was die Verschuldung und die Nettokreditaufnahme dieser Regierung betrifft, genau diesen Kurs mit getragen und mit verteidigt.Wie kommen Sie eigentlich dazu, die Entwicklung der Nettokreditaufnahme des Bundes zu kritisieren, wo zu Ihrer Zeit dieser Anteil am Bruttosozialprodukt etwa 5 % betrug, während er unter der Finanzpolitik von Herrn Stoltenberg auf etwa 2 % reduziert wurde? Wenn wir damit wichtige Aufgaben, u. a. die Steuerreform, durch eine sparsame Haushaltspolitik in der Vergangenheit und in der Zukunft partiell finanzieren, in einem ganz begrenzten Umfang eine gewisse Erhöhung der Nettokreditaufnahme im Einvernehmen mit allen Wissenschaftlern, Beiräten und Instituten akzeptieren und so auf einen Prozentsatz von etwa 3 % kommen, dann stehen wir international hervorragend da, dann ist das volkswirtschaftlich vertretbar, und Ihre Kritik fällt in sich zusammen.
Sie, Herr Kollege Vogel, sind ziemlich der letzte,
der uns Aussagen vor Wahlen und nach Wahlen vorhalten sollte.
Was Sie und Ihre Parteifreunde sich 1976 vor der letzten Bundestagswahl gegenüber den Rentnern geleistet haben, was Sie sich im Jahre 1980 gegenüber allen Bürgern hinsichtlich der Verschuldungspolitik und ihrer Voraussage geleistet haben und was Sie sichhinsichtlich der Voraussagen zur Raketen- und Abrüstungspolitik 1982 ganz persönlich geleistet haben, als Sie gesagt haben: „Ich stehe für die Reduzierung von Raketen, dieser Bundeskanzler steht für die Einführung von Raketen", das war damals im höchsten Grade unanständig, hat sich nicht bewahrheitet. Unter diesem Bundeskanzler werden Raketen abgebaut, während Sie sowjetische Raketen akzeptiert hätten, die zu unserer Zeit und nach diesem Abkommen nicht mehr Bestand haben werden. Das ist der große Unterschied zwischen uns und Ihnen.
Die Bibel, die Sie ja auch mehrfach zitiert haben, kennt für eine solche Verhaltensweise einen Ausdruck, den ich aus Vorsicht gegenüber dem Präsidenten bewußt nicht aussprechen möchte.
Herr Kollege Vogel, wegen der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Machen Sie sich um Ihre Partei und Ihre Fraktion Sorgen. Ihre Partei und Ihre Fraktion haben mehr Flügel als ein Vogel verträgt.
Lassen Sie mich zu Ihrer Voraussage, wie schlimm es im Lande ist, wie furchtbar sich die Situation darstellt, nur eines wiederholen, was schon gestern mein Kollege Hinsken sehr zu Recht gesagt hat und was auch ich in vielen Reden dargestellt habe: Ein in der Rhetorik Ihnen etwas überlegener Mann, der Sie schon einmal aus einer Stadt vertrieben hat, nämlich Rudi Schöfberger,
hat in einer wichtigen Rede vor seiner Partei folgendes gesagt:Was passiert eigentlich, wenn wir rund um das Münchener Oktoberfest auf unseren Plakaten vor der neuen Armut warnen
und drinnen in den Bierzelten saufen und fressen sieben Millionen Durchschnittsverdiener, daß ihnen das Fett und der Bierschaum über die Lefzen herunterrinnt?
Das ist nicht mein Ton, das sind nicht meine Worte, das war Ihr früherer Landesvorsitzender, dem Sie sich durch die Flucht nach Berlin entzogen haben.
Nur, Sie sollten sich gut überlegen, ob Ihr Bild der Wirklichkeit entspricht oder ob Schöfberger hier nicht ausnahmsweise recht hat.Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Wirtschaft — das wird niemand bestreiten können — befindet sich im fünften Jahr einer konjunkturellen Aufwärtsbewegung — und dies nach der tiefsten Re-
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1578 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. Waigelzession zu Beginn der 80er Jahre. Die von der Opposition aus Wahlkampfgründen herbeigesehnte Stagnation bzw. Rezession ist nicht in Sicht.
Gegenüber dem Tiefpunkt im Jahre 1983 — das haben bereits gestern auch unsere Diskussionsredner herausgestellt — nahm die Zahl der Beschäftigten um rund 650 000 zu, während allein zu Beginn der 80er Jahre unter einer SPD-geführten Bundesregierung nahezu 1 Million Arbeitsplätze verlorengingen. Das Stabilitätsziel ist praktisch erreicht, und trotz beträchtlicher Wechselkursverschiebungen weisen Handels- und Leistungsbilanz hohe Überschüsse auf.Für das kommende Jahr hat die Koalition durch die Aufsteckung der zweiten Phase der Steuerreform die erforderlichen Maßnahmen zur Stärkung der Wachstumskräfte in die Wege geleitet. Ohne ein stetiges Wirtschaftswachstum sind unsere wirtschaftlichen Probleme auf die Dauer nicht zu bewältigen. Wer wie die SPD hier und heute die leichte Korrektur der Wachstumsprognose beklagt, aber draußen gemeinsam mit den GRÜNEN lautstark über die Grenzen des Wachstums philosophiert und im Grunde eine Strategie des Null-Wachstums propagiert, verdeutlicht damit lediglich die eigene wirtschafts- und finanzpolitische Inkompetenz.
Das letzte Jahrzehnt hat uns gezeigt, daß es Patentrezepte und ökonomische Wundermittel nicht gibt. Jede wirtschaftspolitische Strategie muß überprüft und auch den jeweiligen Gegebenheiten angepaßt werden. Die 50er Jahre mit der Einführung der Marktwirtschaft, der Freigabe der Preise, der Währungsreform, dem Kartellgesetz, der Liberalisierung des Bankensektors, der Herstellung der freien Konvertibilität der D-Mark standen im Zeichen der Ordnungspolitik, geprägt durch den Namen Ludwig Erhard. Im Vordergrund stand der ordoliberale Imperativ der Freiburger Schule.In den 60er Jahren vollzog sich ein konzeptioneller Wechsel hin zu einer stärkeren Betonung der Prozeßpolitik mit den Instrumenten des Stabilitätsgesetzes, der mittelfristigen Finanzpolitik, des Deficit-spending, der Einführung des Konjunkturrats und der konzertierten Aktion. Diese wirtschaftspolitische Strategie war geprägt vom Glauben an die Fähigkeit des Staates, die wirtschaftliche Entwicklung durch Globalpolitik und Feinabstimmung, durch Übernahme einer staatlichen Vollbeschäftigungsgarantie steuern zu können.Das Keynesianische Konzept, in der Krise von 1966/67 noch erfolgreich, war in den 70er Jahren unter den veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der binnenwirtschaftlichen Fehler und Versäumnisse nicht geeignet, die damaligen Probleme zu bewältigen. Im Gegenteil: Trotz, vielleicht sogar wegen einer wahren Flut staatlicher Beschäftigungsprogramme kam es zur Entstehung einer bislang nicht für möglich gehaltenen Massenarbeitslosigkeit, zur Ausbreitung einer Inflationsmentalität, zu beträchtlichen Investitions- und Innovationslücken im privaten Sektor und zu einem auf einer falsch angelegten Bildungs- und Gesellschaftspolitik beruhendenund die Handlungsfähigkeit des Staates weit überfordernden Anspruchsdenken und schließlich — als letzte Folge — zur galoppierenden Ausweitung der Staatsverschuldung. Unsicherheit über die weitere wirtschaftliche Entwicklung, Zurückhaltung der Investoren und gravierende Vertrauenseinbußen im Ausland waren dann die Folge.Die Koalition der Mitte hat einen Konzeptionswechsel vollzogen und den angebotsorientierten Elementen der Wirtschaftspolitik stärkere Beachtung geschenkt; und dies mit Erfolg. Die Haushaltskonsolidierung brachte eine spürbare Entlastung der Kapitalmärkte, führte damit zur Senkung des Zinsniveaus, ermöglichte der Deutschen Bundesbank eine stabilitätsorientierte Geld- und Kreditpolitik und war schließlich Voraussetzung für die Gewinnung jener finanzpolitischen Handlungsspielräume, die wir zur Finanzierung der Steuerreform und zur Verstetigung der öffentlichen Investitionen benötigen.In einem lesenswerten Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 10. Juli 1987 hat der SPD-Kollege Jens die Meinung vertreten, unsere wirtschaftlichen Probleme bestünden im wesentlichen aus einem Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Ich halte diese These für falsch. Die tatsächlichen Probleme, denen wir uns gegenwärtig und wohl auch in den kommenden Jahren gegenübersehen, sind vorwiegend struktureller Natur. Es handelt sich um strukturelle Umstellungs-, Anpassungs- und Modernisierungsprobleme.Das größte Problem ergab sich aus den veränderten demographischen Bedingungen, aus der Veränderung der Bevölkerung. Angesichts des Zustroms der jungen Generation auf den Arbeitsmarkt hat die Schaffung von rund 650 000 neuen Arbeitsplätzen leider nur zu einer leichten Reduzierung der Arbeitslosenquote geführt. Ferner macht die weitere demographische Entwicklung Strukturreformen in der Rentenversicherung erforderlich.Tiefgreifende strukturelle Anpassungsprobleme sehen wir auch in den Krisenbranchen Landwirtschaft, Werften, Stahl und Bergbau. Nur, diese strukturellen Probleme können wir nicht mit globalen Nachfrageprogrammen lösen, sondern mit einer die Wachstumskräfte des privaten Sektors stärkenden Wirtschaftspolitik, ergänzt mit flankierenden Wirtschaftsmaßnahmen des Staates.Entscheidend dazu gehört die Steuerpolitik. In der Zeit Ihrer Finanzminister gab es nur eine Steuerpolitik, nämlich Steuererhöhung.
— Mit Ausnahme eines leichten Abbaus der inflationsbedingten Mehrbelastungen. Aber eine echte Steuerreform und -entlastung fand zu Ihrer Zeit nicht statt.
Die von Bundesfinanzminister Dr. Gerhard Stoltenberg vorgetragene Steuerentlastung ist richtig, ist notwendig und ist sozial gerechtfertigt. Sie ist wirtschaftspolitisch notwendig, denn sie verbessert die Fähigkeit der Betriebe zur Bildung von Eigenkapital,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1579
Dr. Waigelund sie stärkt die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen.
Nahezu alle großen westlichen Industrienationen haben in letzter Zeit die steuerliche Belastung der Unternehmen in einem Ausmaß reduziert, das weit über die von uns beschlossenen Punkte hinausgeht. Internationaler Wettbewerb besteht nicht nur zwischen Produkten und Dienstleistungen, nicht nur zwischen Unternehmen, sondern er besteht auch zwischen den jeweiligen Steuersystemen. Wenn unser Steuersystem in seiner Leistungsfähigkeit und Höhe mit den Steuersystemen anderer mit uns konkurrierender Industrienationen nicht mehr standhält, dann werden wir unsere Waren in kurzer Zeit auf den Weltmärkten nicht mehr los, und es wird noch viel mehr Arbeitslosigkeit bei uns herrschen, als wir sie gegenwärtig leider zu verzeichnen haben.
Sie wissen ganz genau, meine Damen und Herren von der SPD, daß diese Steuerreform sozial ist, weil der größte Teil des Entlastungsvolumens durch die Anhebung des Grundfreibetrages und durch die Rückgängigmachung des unter einer SPD-Regierung angehobenen Eingangssteuersatzes auf die Bezieher kleinerer Einkommen entfällt. Man stelle sich einmal vor: Die Erhöhung, die wir mit dem Grundfreibetrag durchführen werden, liegt über dem, was Sie gefordert haben. Wir entlasten die Bezieher kleinerer Einkommen, indem wir den Eingangssteuersatz wieder dorthin zurückführen, wo er vor Ihrer Zeit gewesen ist; das ist eine soziale Leistung.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Matthäus-Maier?
Frau Matthäus-Maier, das hätte ich gerne getan, wenn Ihr Fraktionsvorsitzender diese an sich selbstverständliche Toleranz gezeigt hätte.
Bringen Sie ihm zuerst bei, daß er wieder Fragen, z. B. des Finanzministers, zuläßt; dann werden auch wir zu den Formen zurückkehren.
— Das ist typisch. Wenn der eigene Mann Zwischenfragen verweigert, dann wird ihm dafür Beifall gezollt.
Wenn der darauffolgende Redner das den eigenen Fraktionskollegen nicht zubilligt, dann empört man sich und fängt eine Schreierei an. Nein, meine Damen und Herren, so gehen wir miteinander nicht um.
— Herr Kollege Jahn, empören Sie sich nicht zu sehr an Ihrem 60. Geburtstag. Sie brauchen Ihre Stimme noch, um auf Laudationes entsprechend eingehen zu können.
Von der Begradigung des Tarifs profitiert die überwiegende Zahl unserer Arbeitnehmer. Die Vorwürfe der Opposition sind nichts anderes als eine polemische Neidkampagne. Wer wie der Kollege Vogel heute die Steuerpolitik der Koalition als unsozial kritisiert und gestern noch zur Solidarität mit dem Einkommensmillionär Lappas aufgerufen hat, der hat seine moralische Glaubwürdigkeit auf diesem Gebiet vollständig eingebüßt.
Gleiches, Herr Kollege Vogel, gilt für Ihre Einlassungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Wer wie Sie als erste Amtshandlung in der SPD-Parteizentrale eine Ausdünnung des Personalapparates verfügt, wird politisch nicht mehr ernst genommen, wenn es um die Frage eines erfolgversprechenden Weges zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geht.
Ich stelle fest, daß dann, wenn Entlassungen im eigenen Bereich notwendig sind, plötzlich — —
— Das war beim „Vorwärts" schon so, und Sie haben doch von einer Ausdünnung — —
— Gut, wir wollen einmal sehen, wie die Dinge sich fortsetzen, und an diesen Ansprüchen werden Sie auch gemessen werden.
Nur, denken Sie an den „Vorwärts", denken Sie an viele andere Dinge, die in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren passiert sind!
— Ausgerechnet Herr Vogel benutzt hier das Wort „heuchlerisch"! Ausgerechnet Sie, Herr Kollege Vogel!
— Das ist richtig, sonst könnte er wenigstens rechnen.Über die endgültigen Maßnahmen zur Finanzierung dieser Steuerreform hat die Koalition noch keine Beschlüsse gefaßt.
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1580 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. WaigelDennoch fühlt sich der Kollege Apel berufen, Woche für Woche Horrorgemälde von Verbrauchsteuererhöhungen in die Welt zu setzen und derartige Steuererhöhungen als die wahrhafte Verkörperung unsozialer Politik zu verteufeln. Herr Kollege Apel — wenn er da wäre — , wenn die Anhebung indirekter Steuern unsozial ist, stünden Sie als ehemaliger Finanzminister der SPD längst im Guinness-Buch der Rekorde, und Sie hätten wegen unsozialen Verhaltens längst aus der SPD ausgeschlossen werden müssen.
Länder und Gemeinden können die finanziellen Auswirkungen der Steuerreform verkraften, auch wenn sie verständlicherweise wie immer auf Ausgleich drängen.
— Wir sagen ihm das schon! Sagen Sie es Ihren Parteifreunden bitte auch.Die Kommunen haben im Vergleich zu Bund und Ländern die größten Fortschritte bei der Haushaltskonsolidierung erzielt. Solange einzelne SPD-geführte Länder in der Lage sind, mit Leichtigkeit die Verluste der Neuen Heimat zu übernehmen, sind ihre Hilferufe wegen angeblicher finanzieller Sorgen nicht begründet.
Ich habe vorher schon darauf hingewiesen, daß der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister der Finanzen und zuletzt auch das Ifo-Institut betont haben, ein leicht höheres Defizit sei hinnehmbar; nach Ansicht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung — ansonsten der finanzpolitische Kronzeuge der Opposition — sei es sogar wünschenswert. Die Kritik des Kollegen Apel an den Auswirkungen der Steuerreform auf die öffentliche Neuverschuldung verdeutlicht den völligen finanzpolitischen Kompetenzmangel und Kompetenzverlust der SPD. Wer wie der Kollege Apel nach der Wende dem Bundesfinanzminister jahrelang vorwirft, er betreibe eine Politik des Totsparens, und heute den sich abzeichnenden leichten Anstieg der öffentlichen Neuverschuldung in die Nähe des finanziellen Zusammenbruchs der öffentlichen Haushalte rückt, der gibt sich doch der Lächerlichkeit preis.
Die von uns beschlossene Steuerreform ist sowohl angebots- als auch nachfrageorientiert. Sie führt sowohl zu einer Stärkung der Leistungs- und Investitionsbereitschaft als auch zu einer Stärkung der Massenkaufkraft. Um der Nachfragekomponente Rechnung zu tragen, haben wir ferner wichtige Maßnahmen z. B. im Bereich der Stadtsanierung und Dorferneuerung beschlossen. Danach werden die Bundesmittel nicht wie ursprünglich geplant von 1 Milliarde auf 330 Millionen DM zurückgeführt; vielmehr wird der Bund in den kommenden drei Jahren jeweils 660 Millionen DM bereitstellen. Während die SPD im Bundestag permanent höhere Investitionszuweisungen des Bundes an Länder und Kommunen verlangt, war in den vergangenen Wochen und Monaten seitens derSPD-regierten Bundesländer interessanterweise wenig zur Fortsetzung dieses Programms zu hören.Die Bundesmittel zur Fortsetzung der Stadtsanierung und Dorferneuerung sind ein Beitrag zur Verstetigung der öffentlichen Investitionen und damit auch eine wichtige Maßnahme zur Stärkung der Baukonjunktur.
Ich bin froh, daß sich in diesem Punkte die Bundestagsfraktion auch gegen die eine oder andere Stimme in der Regierung hat durchsetzen können. Diese Maßnahmen dienen der Erhaltung und Bewahrung historisch gewachsener Stadtbilder und Ortskerne. Sie dienen in kultureller Hinsicht der konkreten Ausfüllung dessen, was man im weitesten Sinne als Heimat bezeichnet.Erhebliche wirtschaftliche Probleme ergeben sich in den kommenden Jahren durch die vom Strukturwandel besonders betroffenen Krisenbranchen. Die Bewältigung dieses Strukturwandels ist und bleibt in erster Linie die Aufgabe der betroffenen Branchen und Unternehmen. Ergänzende staatliche Hilfen müssen wir stets unter dem Leitprinzip der Subsidiarität betrachten.Hier ein Wort zur Landwirtschaft. Durch eine — das wird niemand bestreiten — falsch konzipierte EG-Agrarpolitik des Wachsens oder Weichens, der Produktion fast um jeden Preis, die zu finanziell nicht mehr tragbaren Produktionsüberschüssen geführt hat, sieht sich unsere vor allem durch Klein- und Mittelbetriebe geprägte Landwirtschaft erheblichen Anpassungsproblemen gegenüber.
Die Koalition hat bereits in den vergangenen Jahren im Rahmen der Vorsteuerpauschale, der Agrarsozialpolitik, der steuerlichen Hilfen sowie der Förderung der benachteiligten Gebiete erhebliche Anstrengungen auf nationaler Grundlage unternommen.Gegenüber 1983 sind die Ausgaben für die Landwirtschaft um 42 % gestiegen,
gegenüber einem Anstieg des Gesamthaushalts um 8,6 % . Wir haben dafür Ihre Hilfe, meine Damen und Herren von der SPD, nicht oder nur teilweise verspüren können.
Auch wenn die jüngsten Beschlüsse in Brüssel hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind und bei unseren Landwirten berechtigte und verständliche Enttäuschung hervorgerufen haben, wird die Koalition der Mitte die Landwirtschaft nicht im Stich lassen. Solange die Produktionsüberschüsse anhalten, kann die Existenz der bäuerlichen Familienbetriebe, die im Mittelpunkt unserer Bemühungen stehen, über die Erzeugerpreise alleine nicht gesichert werden. Deshalb müssen wir unseren Landwirten im Rahmen einer großen Anstrengung, eines Jahrhundertvertrags
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1581
Dr. Waigelauf nationaler Grundlage, wieder Zukunftsperspektiven eröffnen.
— Lieber Herr Kollege Roth, hören Sie zu, und helfen Sie uns, das mit zu erfüllen. Das ist viel besser, als sich hier hinzustellen und für die Landwirtschaft Erwartungen zu wecken oder Versprechungen abzugeben,
die nicht einhaltbar sind. Wir müssen doch das korrigieren, was während Ihrer Regierungszeit geschah, als Ihre Bundeskanzler die notwendige Reform der Agrarpolitik in Brüssel nicht herbeiführen konnten. Das ist die Ursache der Misere.
Erste Akzente werden bereits in diesem Haushalt gesetzt, bei dem die Ausweitung des Agraretats um 7,4 % deutlich über der Steigerung des Gesamthaushalts in Höhe von 2,4 % liegt. Dies betrifft insbesondere die Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz", die landwirtschaftliche Unfallversicherung sowie die Einführung neuer Maßnahmen zur Reduzierung der Milcherzeugung.Im Rahmen dieses Programms für die nächsten Jahre und Jahrzehnte bedarf es darüber hinaus weiterer Bundesmittel. Der Finanzminister wird es nicht gern hören, aber es wird für die Entlastung im Bereich der Soziallasten, die Verbesserung der Ausgleichszulage und die Einführung eines Entgelts für landeskulturelle und landespflegerische Leistungen der Landwirtschaft unverzichtbar sein.Um einen effizienten, auf den bäuerlichen Familienbetrieb konzentrierten Einsatz dieser Mittel zu gewährleisten, muß dieses Konzept auch durch die Einführung von Bestandsobergrenzen ergänzt werden. Hier stehen dem Bundeslandwirtschaftsminister wie auch dem Bundesfinanzminister wie uns allen schwere Aufgaben bevor.Den von der Krise im Schiffbau betroffenen Bundesländern wurde Ende 1986 durch Sondermittel des Bundes unter die Arme gegriffen.In gleicher Weise leistet der Bund auch seinen Beitrag zur Kapazitätsanpassung im Bereich der Stahlindustrie. Die Mittel für die Stahlregionen werden erhöht. Das Stahlstandorteprogramm wird bis 1990 fortgeführt, und die Arbeitnehmerhilfen im Montanbereich werden angehoben.Der Staat — und das wissen wir alle — kann strukturelle Anpassungsprozesse nicht künstlich aufhalten. Dies wäre, im Gegenteil, sogar der falsche Weg, weil damit am Ende ganze Unternehmen und Branchen bedroht wären. Deshalb muß sich die staatliche Strukturpolitik auf die soziale Abfederung des Anpassungsprozesses und auf die Förderung der Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen konzentrieren.Als Folge der Probleme im Stahlbereich ist auch der deutsche Steinkohlenbergbau zur Anpassung seiner Kapazitäten gezwungen. Um den Steinkohlenbergbau als einzigen nationalen Energieträger von Bedeutung zu erhalten, wurden diesem Wirtschaftszweig in den vergangenen 20 Jahren Hilfen zur Verfügung gestellt, die bis an die Grenze des gesamtwirtschaftlich Vertretbaren gingen.Die Kraftwerksbetreiber haben den Jahrhundertvertrag eingehalten. Deshalb ist der Vorwurf, die Kernkraft verdränge die Steinkohle, sachlich unhaltbar. Angesichts der weltweit begrenzten Vorräte an Öl und Gas und der unbestreitbaren Auswirkungen der Verstromung fossiler Energieträger auf die Umweltbelastung und das Waldsterben, ein Punkt, auf den Herr Vogel mit keinem Satz eingegangen ist,
und angesichts des Mangels an technisch ausgereiften und finanziell tragbaren Alternativen — und darauf, Herr Vogel, sind Sie nicht eingegangen, sondern haben nur das Prinzip Hoffnung an die Stelle der Realität gestellt —
müssen wir an der Kernenergie festhalten.Ich begrüße es nachdrücklich, wenn einzelne SPD-Politiker langsam vom Nürnberger Beschluß abrükken und die Dinge wieder realistischer sehen. Man kann nicht, wie SPD und GRÜNE dies tun, an einem Tag das Waldsterben zum nationalen Thema Nr. 1 erheben und am nächsten Tag die Forderung stellen, die Kernenergie durch Kohle und, so jedenfalls die GRÜNEN, durch 01 und Gas zu ersetzen.
Es grenzt an politische Unverfrorenheit, wenn der saarländische Wirtschaftsminister Hoffmann behauptet, Strom aus neuen Kohlekraftwerken sei billiger als Atomstrom. Wäre dem so, dann könnten wir die Bundeshilfen für den Steinkohlenbergbau halbieren und den Kohlepfennig abschaffen. Aber das alles ist nicht der Fall.
Ich kann nur, wie gestern auch der Bundesfinanzminister Stoltenberg, die Opposition auffordern, zum Kohle-Kernenergie-Konsens wieder zurückzukehren. Der Ausstieg aus der Kernenergie wäre der falsche Weg. Ziel einer rationalen, verantwortungsethisch begründeten Energiepolitik muß es vielmehr sein, die Sicherheitstechniken und die Sicherheitsstandards laufend zu verbessern und weltweit auf einem optimalen Niveau anzupassen, wie dies die Bundesregierung, der Bundeskanzler, mit der Initiative zur Wiener Konferenz der Atomkraftwerke betreibenden Staaten und, in diesen Tagen, durch das Abkommen mit der DDR im Bereich des Strahlenschutzes getan hat.Grundlage unserer Arbeit in der Innenpolitik bildet die Koalitionsvereinbarung. Dort heißt es — ich zitiere — :Es muß alles getan werden, um das von Gewalttätern bedrohte Recht auf friedliche Demonstration zu gewährleisten. Es besteht Handlungsbedarf. Deshalb werden bis Herbst 1987 in der Ko-
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1582 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. Waigelalition die dazu notwendigen Maßnahmen beschlossen.Dies sind klare Vorgaben. Angesichts des Mißbrauchs des verfassungsrechtlich garantierten Rechts der Demonstrationsfreiheit durch eine kriminelle Minderheit kann der Gesetzgeber nicht untätig bleiben.
Die Einsetzung einer Regierungskommission zur Untersuchung der Ursachen von Gewalt und der Möglichkeiten zu ihrer Bekämpfung hindert die Verabschiedung der notwendigen gesetzlichen Maßnahmen nicht. Auch dies haben wir in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich betont. Es gibt keinen Grund, dringende gesetzliche Maßnahmen wegen der Regierungskommission aufzuschieben. Die Koalitionsvereinbarungen sind von CDU, CSU und FDP gemeinsam beschlossen und unterschrieben worden.
Alle Koalitionspartner stehen in der Pflicht konstruktiv an der Umsetzung und Verwirklichung dieser Vereinbarungen mitzuwirken. Es gibt im Deutschen Bundestag kein imperatives Mandat durch Parteitage, das von eingegangenen Verpflichtungen entbindet. Die Bürger erwarten von uns jetzt entschlossenes Handeln.
— Ich freue mich ganz besonders über den Beifall der geschätzten Kollegen der FDP an dieser Stelle.
— Du siehst auch nicht hin. Entschuldigung.
Die Erhaltung einer natürlichen Umwelt ist nach wie vor eine der wichtigsten Aufgaben für unser Land. Die Natur ist Grundlage und Teil des menschlichen Lebens.
Umweltschutz ist deshalb eine Frage der Erhaltung der Grundlage unseres Lebens. Wir haben in der letzten Legislaturperiode praktisch auf allen bedeutsamen Gebieten des Umweltschutzes wegweisende Maßnahmen getroffen: in der Luftreinhaltung, im Gewässerschutz, bei der Abfallbeseitigung und schließlich auch im Bereich der internationalen Zusammenarbeit.Jetzt geht es darum, das vorhandene Instrumentarium konsequent in die Praxis umzusetzen, auszubauen und zu ergänzen. Es wäre falsch, bei der Bewältigung der Umweltprobleme auf einen Ausstieg aus der Industriegesellschaft, praktisch auf einen Morgenthau-Plan zu setzen. Weitere Fortschritte im Umweltschutz lassen sich mit einer technologiefeindlichen Haltung nicht erzielen.
— Sie z. B. — Nur mit dem Einsatz modernster Technik und mit der Anwendung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse gelangen wir zu mehr Umweltschutz.Nur, wir dürfen den Schutzgedanken nicht beim Umweltschutz, beim Schutz der Artenvielfalt, beim Landschaftsschutz und beim Tierschutz enden lassen. Wir müssen im besonderen die menschliche Würde und das menschliche Leben miteinbeziehen. Leben und Menschenwürde zu schützen gehört zu den zentralen Elementen christlich verstandener Politik. Eine Gesellschaft, die ja sagt zum Umweltschutz, ja zum Tierschutz, ja zum Landschaftsschutz und gleichzeitig beim Schutz des ungeborenen Lebens resigniert und die offenkundigen Mißbräuche im Rahmen der sozialen Indikation tatenlos hinnimmt, verdient den Namen einer humanen Gesellschaft nicht.
Die Koalition hat daher ein Bundesberatungsgesetz vereinbart. Ziel der Beratung muß in erster Linie sein, dem ungeborenen, dem wehrlosen Leben Schutz zu geben. Damit wird nicht nur der Intention der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975 entsprochen, letztlich wird das von diesem Urteil gefordert. Die zentrale Stelle des Urteils lautet:Das Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der „lebt" ; zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben kann hier kein Unterschied gemacht werden. „Jeder" im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist „jeder Lebende", anders ausgedrückt: jedes Leben besitzende menschliche Individuum; „jeder" ist daher auch das noch ungeborene menschliche Wesen.Zusammen mit den in der letzten Legislaturperiode verabschiedeten familienpolitischen Hilfen ist das Beratungsgesetz ein wichtiger Schritt zum Schutz des ungeborenen Lebens. Ich rufe alle Koalitionspartner auf — und auch die Opposition — , konstruktiv an der Umsetzung dieser Forderung, die eigentlich für jeden Christen und Humanisten selbstverständlich sein müßte, mitzuarbeiten und dieses Vorhaben zügig zu verabschieden.
Aufgabe unserer Außenpolitik ist es, deutsche Interessen gegenüber ausländischen Staaten auf dem Gebiet der Sicherheit, der Wirtschaft und der Kultur zur Geltung zu bringen. Die Außenpolitik schafft die Lebensgrundlage für unser Volk, dessen Schicksal es ist, in einem Land mit geostrategisch exponierter Lage und ohne größere Rohstoffvorkommen zu leben. Ohne die Unterstützung unserer Verbündeten könnten wir hier nicht in Frieden leben, und ohne die Bereitschaft der meisten Länder in der Welt, ihre Märkte für unsere Produkte zu öffnen, würden wir wirtschaftlich austrocknen. Die sorgfältige Pflege der Beziehungen zu anderen Staaten ist daher für uns von existentieller Bedeutung. Bei der Durchsetzung unserer Interessen gegenüber ausländischen Staaten, auch gegenüber unseren Freunden und Verbündeten, befinden wir uns manchmal auf einem schmalen Grat zwischen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1583
Dr. Waigelfesten Grundsatzpositionen und pragmatischen Möglichkeiten.Das gilt auch für den Kampf um die Menschenrechte. Die Gewährleistung von Menschenrechten und Selbstbestimmung ist die Voraussetzung für einen gesicherten Frieden. Deshalb setzen wir uns mit Nachdruck für die Durchsetzung der Menschenrechte und die Gewährung des Selbstbestimmugsrechts in allen Teilen der Welt ein, in der Sowjetunion wie in Chile und vor allem und zuerst im anderen Teil Deutschlands.
Unterschiedliche Auffassungen gibt es darüber, in welcher Form wir zur Durchsetzung der Menschenrechte beitragen können: durch Demonstrationen, durch wirtschaftlichen oder politischen Druck, durch Verhandlungen, Gespräche und Verträge oder auf dem Weg der stillen Diplomatie.Lassen Sie mich ein Zitat von Willy Brandt aus dem Jahre 1972 bringen, das der Leitartikler Josef Joffe in der „Süddeutschen Zeitung" vom 14. August 1987 gebracht hat:Nach einer heftig umstrittenen Iran-Reise warnte denn auch Willy Brandt 1972 davor, „am eigenen Wesen die Welt genesen lassen zu wollen. Unsere Außenpolitik und die Vertretung unserer außenwirtschaftlichen Interessen müssen frei bleiben von ideologischen Vorurteilen. Wir wünschen nicht, daß man sich in unsere inneren Angelegenheiten einmischt. Das muß dann auch ein Grundsatz sein, an den sich unser Staat im Verhältnis zu anderen hält. "Ich nehme an, daß der Kollege Brandt das auch heute noch so sagen würde.Lieber Herr Kollege Vogel, es ist schon ein merkwürdiger Vergleich, hier zu sagen, daß es in der DDR mehr Rechte und weniger Probleme gegenüber denen in Chile gibt. In Chile haben wir die Hoffnung und die Zuversicht, trotz aller Probleme der Gegenwart, daß in einigen Jahren wieder eine funktionierende Demokratie entstehen wird.
Und dafür setzen wir uns alle ein.
Nur, meine Damen und Herren, die Hoffnung habe ich trotz des Besuchs von Honecker und einer pragmatisch erfolgreichen Deutschlandpolitik in den nächsten Jahren im Hinblick auf Deutschland und im Hinblick auf die DDR leider nicht.
Themen, die in der Außenpolitik aufgegriffen werden, dürfen nicht nach dem Gesichtspunkt nur der innenpolitischen Verwendbarkeit ausgewertet werden. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 19. August 1987 verweist Günther Gillessen auf den Schaden, der daraus entsteht, daß die Wähler die Diskrepanz zwischen Anspruch und Kompetenz der Parteien zur Lösung praktischer Aufgaben mit wachsender Verbitterung bemerken. Wir dürfen kein Anspruchsdenken in diesem Bereich und keine Erwartungshorizonte erzeugen, die dann durch praktische, konkrete Politik nicht eingehalten werden können.In Genf zeichnet sich eine Einigung zwischen den beiden Großmächten im Bereich der Mittelstreckenraketen ab. Es ist dies ein ermutigender Schritt, der jedoch nicht in euphorischer Weise überschätzt werden sollte, da in Genf nur über 3 % des gesamten weltweit vorhandenen Nuklearpotentials verhandelt wird. Das Ziel aller Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung muß es sein, den Frieden sicherer zu machen und das Risiko einer militärischen Auseinandersetzung zu reduzieren. Das wird am besten erreicht, wenn ein Rüstungsgleichgewicht auf möglichst allen Ebenen angestrebt wird.Die sich jetzt in Genf abzeichnende doppelte NullLösung birgt Chancen, aber auch Risiken. Nach Durchsetzung dieser Null-Lösung — das kann niemand verschweigen und bringt, so hoffe ich, jeder Demokrat in der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck — besitzt die UdSSR eine bedrückende Überlegenheit auf dem Gebiet der Kurzstreckenraketen, von denen ausschließlich die Bundesrepublik Deutschland bedroht ist. Käme es darüber hinaus zu einer Null-Lösung, die auch den Bereich der Kurzstreckenraketen umfassen würde, so wäre damit ebenfalls kein Rüstungsgleichgewicht und keine Verringerung des Risikos erreicht, im Gegenteil: Angesichts der erdrückenden Überlegenheit der UdSSR im Bereich der chemischen und der konventionellen Waffen wäre dann eine militärische Auseinandersetzung für die UdSSR gegenüber dem jetzigen Zustand theoretisch kalkulierbar.
Wir wollen eine Abrüstungspolitik, wo kein Krieg mehr führbar, kalkulierbar oder überhaupt noch denkbar ist, und zwar für jede Art von militärischer Auseinandersetzung, auch für eine Auseinandersetzung im konventionellen Bereich.
Daraus folgt,
— so die treffende Analyse von Josef Joffe in der „Süddeutschen Zeitung" vom 14. August 1987 —daß diese oder jene „Null-Lösung" nicht unbedingt identisch mit einem stabilen Gleichgewicht sein muß, schon gar nicht in Europa-Mitte, das die größte Truppenkonzentration aller Friedenszeiten beherbergt, von den „kleinen" Atomwaffen ganz zu schweigen.Und Joffe schließt völlig zutreffend:Doch ohne eine gute Versicherungspolice im Westen funktioniert auch die beste Rückversicherung im Osten nicht.Das Prinzip Hoffnung kann hier nicht zum Prinzip unserer Sicherheit und unserer existentiellen Interessen allein gemacht werden.
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1584 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. WaigelDie CSU sieht in der Pershing Ia nach wie vor ein Faustpfand, um von der Sowjetunion Gegenleistungen im Bereich der Kurzstreckenraketen und der konventionellen Kräfte zu erreichen.
— Die Erklärung des Bundeskanzlers ist unter Konditionen erfolgt.
Diese Konditionen können in unserem Sinne selbstverständlich bei Verhandlungen und Forderungen verwandt werden.Honecker und andere Ostblockführer verlangen immer wieder gleiche Sicherheit für alle Völker. Wir erwarten deshalb von der Sowjetunion unverzüglich Maßnahmen zum Abbau der auf unser Land gerichteten Kurzstreckenraketen sowie die Reduzierung der in Osteuropa stationierten Streitkräfte, da deren Umfang weit über das hinausgeht, wessen die Sowjetunion zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit bedarf. Wenn selbst Honecker von dieser Asymmetrie spricht, dann ist es hoch an der Zeit, daß die Sowjetunion nun ihren Beitrag zur Beseitigung dieser Asymmetrie in dem Bereich erbringt.
Alle Bürger im Bereich des NATO-Territoriums haben einen Anspruch auf gleiche Sicherheit. Daraus folgt: Das Bündnis muß ein Gebiet gleicher und unteilbarer Sicherheit sein. Die Teilung des Bündnisgebietes in drei Zonen von unterschiedlicher Sicherheit mit dem größten Risiko für die Bundesrepublik Deutschland, vermindertem Risiko für die europäischen Partner und fast ohne Risiko für die Verbündeten jenseits des Ozeans müßte langfristig zwangsläufig auch die Grundlagen des Bündnisses in Frage stellen.Das entscheidende und letztlich wichtigste Problem in der gegenwärtigen Abrüstungsdebatte hat der Landesvorstand meiner Partei in seiner Erklärung vom 31. August wie folgt zusammengefaßt:In Wirklichkeit geht es nicht in erster Linie urn Raketenzahlen auf beiden Seiten, sondern um einen politischen Wandel in der Sowjetunion, der den Weltfrieden auf Dauer verwirklichen würde. Verzicht auf Weltrevolution, Verzicht auf strategische Überlegenheit, Verzicht auf ideologische und imperialistische Einmischung in den Ländern der Dritten und Vierten Welt, Freiheit im Innern des Sowjetbereichs, Frieden und Nichtaggressivität ihrer Außenpolitik, sind die entscheidenden Themen.Wenn die SPD zu einer nüchternen Lageanalyse bereit wäre, müßte sie zu den gleichen Ergebnissen kommen. Statt dessen hören wir von den Herren Bahr und Scheer vergangene Woche weiterhin die von Wunschdenken geprägte Geschichte über die Sicherheitspartnerschaft. Für eine Sicherheitspartnerschaft mit der Sowjetunion fehlen die Voraussetzungen. Wer seinen Völkern Freiheit und Selbstbestimmung vorenthält, wer heute noch in Afghanistan einen Kolonialkrieg führt und wer Westeuropa mit einer dreifachen Überlegenheit an konventionellen Waffen bedroht, der kann nicht plötzlich zum Partner umbenannt werden.
— Es ist erstaunlich, daß das, was eigentlich niemand bestreitet, hier drüben als Phantasie bezeichnet wird. Ihre Politik ist doch nur noch von Illusionen und Wunschträumen bestimmt.
Sie sind doch gar nicht mehr in der Lage, realistische, an den existentiellen Notwendigkeiten unseres Landes orientierte Außen- und Deutschlandpolitik zu machen.
Für eine pragmatische, verantwortungsethisch begründete, einen evolutionären Wandel anstrebende Politik unterliegt Geschichte keinen deterministischen Gesetzmäßigkeiten.
— Die ganze übrige Rede auch.
Die Geschichte, die Zukunft ist prinzipiell offen. Das gilt auch für die deutsche Frage.Im politischen Mittelpunkt dieser Woche steht sicherlich der Besuch von Generalsekretär Honecker. Helmut Schmidt empfahl der Bonner Koalition in der „Zeit" vom 24. Juli 1987: Wir sollten Herrn Honecker als einen unserer Brüder empfangen. — Alfred Grosser entgegnete dem mit der Bemerkung:Ich kann nicht verstehen, wie der Unterdrücker meiner Brüder zugleich mein Bruder sein kann.Er fuhr fort:Einen Bruder stelle ich mir anders vor, außer es handelt sich um Kain.Der Schriftsteller Reiner Kunze hat aus diesen beiden Meinungen gewissermaßen die Synthese gezogen, indem er laut „Zeit" vom 4. September 1987 ausführte:Ich würde Erich Honecker, hätte ich ihn willkommen zu heißen, die Hand entgegenstrecken, weil ich mich weigere, in einen Menschen keine Hoffnung zu setzen ... Ich würde Erich Honecker willkommen heißen, ohne ihm Heimtücke zu unterstellen, aber keinen Augenblick vergessen, daß die Ideologie, die er vertritt, heimtückisch ist.Wir haben Herrn Honecker die Hand gereicht, nicht um einer kommunistischen Diktatur, einem totalitären System die Ehre zu erweisen, sondern mit dem Ziel, damit möglichst vielen Deutschen diesseits und jenseits von Mauer und Stacheldraht ebenfalls die Mög-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1585
Dr. Waigellichkeit zu verschaffen, sich die Hände reichen zu können.
Der Besuch des SED-Generalsekretärs Honecker in der Bundesrepublik Deutschland ist Ausdruck der positiven Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen unter der Verantwortung dieser Bundesregierung, unter der Verantwortung von Helmut Kohl. Es sind all jene widerlegt, die für die Zeit unserer Regierungsverantwortung eine Eiszeit prophezeiten und den Unionsparteien die Fähigkeit bzw. den Willen zu einer konstruktiven Deutschlandpolitik absprechen wollten. Unsere Deutschlandpolitik, die sich weder Illusionen hingibt noch gesamtdeutsche Prinzipien oder Rechtspositionen aufgibt, ist darauf ausgerichtet, in praktischen Schritten Erleichterungen und Verbesserungen für die von der Teilung betroffenen Menschen herbeizuführen.Ich möchte dem Herrn Bundeskanzler ausdrücklich für die Tischrede vom 7. September danken, in der er noch einmal unsere klaren und eindeutigen deutschlandpolitischen Positionen und Ziele Erich Honecker gegenüber zum Ausdruck gebracht hat.
Unser Dank gilt auch — ich sage das mit Nachdruck — dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß für seine mutigen und erfolgreichen Beitrage zur Gestaltung der Deutschlandpolitik in einer weltpolitisch und innenpolitisch schwierigen Zeit.
— Der Außenminister findet sich in dem Lob, das ich für den Bundeskanzler gegeben habe, wieder.
Der SPD-Kollege Bahr hat in den 60er Jahren in Tutzing die Formel vom Wandel durch Annäherung geprägt. Die SPD hat sich in der Tat gewandelt. Das Ende August von beiden Parteien vorgelegte Grundlagenpapier ist ein bezeichnendes Dokument sozialdemokratischer Prinzipienlosigkeit.
Freiheitliche Demokratie und kommunistische Diktatur werden unterschiedslos auf eine Stufe gestellt. Wie Hohn klingt es, wenn es in diesem Papier heißt — ich zitiere wörtlich — :Sozialdemokraten und Kommunisten berufen sich beide auf das humanistische Erbe Europas. Beide nehmen für sich in Anspruch, dieses Erbe weiterzutragen, den Interessen der arbeitenden Menschen verpflichtet zu sein, Demokratie und Menschenrechte zu verwirklichen.Es bleibt unerfindlich, was die SPD zu der Annahme bewegt, die SED könne die Verwirklichung von Demokratie und Menschenrechten wirklich zulassen.
Herr Kollege Vogel, eines will ich Ihnen auch sagen: Wir haben die sogenannten Geraer Forderungen von Herrn Honecker in diesen Tagen wesentlich ruhiger und zurückhaltender gehört als von Ihnen. Sind Sie eigentlich dazu berufen, die Forderungen der anderen Seite lauter zu vertreten als diese Seite selbst?
Dem sozialdemokratischen Wandel durch Annäherung setzen wir den Wandel durch Freiheit entgegen. Das bedeutet: Wandel durch wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Wettbewerb, Wandel durch wissenschaftlich-technische Fortschritte, auf die auch der Osten angewiesen ist, Wandel durch Austausch von Ideen,
Wandel durch kulturelle, sportliche und wirtschaftliche Beziehungen, Wandel durch persönliche Kontakte hüben und drüben, Wandel durch politische Zusammenarbeit in jenen Bereichen, in denen, wie z. B. beim Umweltschutz, in der Energieversorgung, beim Strahlenschutz oder in der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, konkrete Interessen in Ost und West berührt sind.Erich Honecker hat gesagt, Sozialismus und Kapitalismus ließen sich ebensowenig vereinbaren wie Feuer und Wasser. Dem setzen wir entgegen: Der Wille zur Freiheit und Einheit ist mächtiger als Mauer und Stacheldraht.
Eine in diesen Tagen veröffentlichte Umfrage, der zufolge nur ein geringer Prozentsatz der Bürger der DDR ein wiedervereinigtes Deutschland nach dem Vorbild der Bundesrepublik wünschen, halte ich für wenig repräsentativ.
— Also, über eines bin ich mir ganz sicher: Wenn die GRÜNEN hier mehr Macht hätten, dann möchte auch die Mehrheit der Bürger in der DDR unter dieser Regierung nicht leben. Da bin ich ganz sicher.
— Herr Präsident, die Beurteilung, wer in diesem Hohen Hause spinnt, überlasse ich anderen.
Die praktische Erfahrung sieht anders aus. Der Wunsch der DDR-Bürger, auszureisen oder zumindest die Bundesrepublik Deutschland zu besuchen, ist ungebrochen. Die Staatsführung der DDR hält an Mauer und Stacheldraht fest, weil sie nach wie vor eine Abstimmung mit Füßen befürchten muß.Auch wenn uns der Besuch eines Staatsratsvorsitzenden der DDR die Folgen des Zweiten Weltkrieges, nämlich die schmerzliche Teilung unseres Vaterlandes, in besonderer Weise zu Bewußtsein bringt, so dürfen wir jedoch nicht vergessen: Die deutsche Geschichte begann weder 1945 noch 1933. Unser Ver-
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Dr. Waigelhältnis zur eigenen Geschichte, zur Frage der historischen und nationalen Identität der Deutschen darf sich nicht nur auf eine Bewältigung der Vergangenheit beschränken.Die Bundesrepublik ist ein friedlicher, zuverlässiger, kalkulierbarer und von der ökonomischen Leistung sogar starker Partner in der demokratischen Staatengemeinschaft. Ich plädiere nicht für einen überholten Nationalismus, aber ich meine, ein geläutertes Nationalbewußtsein kann man auch den Deutschen nicht verwehren.
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer, freiheitlicher Rechtsstaat, der nach außen fest in der demokratischen Staatengemeinschaft des Westens verankert und im Innern durch ein Mehrparteiensystem, eine pluralistische Gesellschaft und ein soziales, marktwirtschaftliches System geprägt ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in den 40 Jahren ihrer Geschichte als ein stabiler Faktor in den internationalen Beziehungen erwiesen und besitzt im Innern eine beispielhafte wirtschaftliche und soziale Stabilität.Sie, die Bundesrepublik Deutschland, hat damit einen positiven Beitrag zur deutschen Geschichte geleistet. Gerade diese Regierung und diese Koalition haben in den letzten fünf Jahren einen wichtigen, positiven Beitrag zur deutschen Geschichte geleistet. Geschichte ist ein offener Prozeß. Wir können dem Wettbewerb der Systeme mit Gelassenheit und Zuversicht in der Zukunft entgegensehen. Diese Koalition, diese Regierung wird ihre erfolgreiche Politik fortsetzen.
Ich will die Frau Kollegin Unruh nur bitten, hier gelegentlich doch gewisse parlamentarische Ausdrücke anzunehmen, damit ich keine Ordnungsrufe erteilen muß.
Jetzt hat der Herr Abgeordnete Ebermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An diese Regierung Bitten zu stellen ist sonst wahrlich nicht meine Art, aber heute habe ich ausnahmsweise mal eine. Sie ist kostenneutral und durch keinen Deckungskreislauf behindert. Ich möchte den Kanzler persönlich bitten, nicht länger im Namen aller Deutschen zu sprechen, solange wir nicht ausgebürgert sind, wenn er Herrn Honecker mit anmaßenden Ansprüchen konfrontiert, wie das am letzten Montag geschehen ist.
Daß gerade Herr Waigel die Tischrede vom Montag gelobt hat, Herr Waigel, der in Chile einige Probleme und in der DDR die Diktatur sieht, spricht in der Tat gegen diese Tischrede.
Ich ertrage ja, wenn sich der Kanzler gerne vom Leitartikler der „FAZ" dafür loben läßt, schon im dritten Satz die Deutschen in Stralsund und Konstanz, in Flensburg, Dresden und Berlin so zusammengebracht
zu haben, wie es der „Frankfurter Allgemeinen" gefällt. Ich ertrage ja, wenn er das Lob der Vertriebenenverbände einheimst, weil er sich in die Präambel des Grundgesetzes verbeißt, die der Ursprung des allen Revanchismus begründenden Wiedervereinigungsgebots ist, das er aufrechterhalten will. Ich ertrage ja, wenn die Mystifikation von der Einheit der Nation beschworen wird und die deutsche Frage offengehalten werden soll. Ich ertrage auch, daß der Kanzler am liebsten diejenigen Zeitungen liest, die das Wort DDR nur in Anführungszeichen drucken können, und ich ertrage auch, wenn der DDR-Außenminister gekonnt und infam damit provoziert wird, protokollgerecht auf Frau Ministerin Wilms vom Innerdeutschen treffen zu müssen. Die ganze Infamie der Benennung von Frau Wilms für dieses Amt ist uns in diesen Tagen übrigens erst klargeworden.
Aber unterlassen Sie es, mich und meine politischen Freunde mit der Behauptung zu beleidigen, daß dies alles — ich zitiere Sie — „dem Wunsch und dem Willen, ja, der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht" ! Unterlassen Sie das!
Es kann ja sein, daß der Blick auf den Medaillenspiegel der Leichtathletik-Weltmeisterschaft bei manchem Bundesbürger Wiedervereinigungssehnsüchte geweckt hat.
Es kann ja sein, daß das Zurückfallen hinter Länder wie Norwegen, Schweden, Somalia dem einen oder anderen die Tränen in die Augen getrieben hat. Allerdings würde der Ruf nach einer gesamtdeutschen Mannschaft unseres Erachtens den wahren Grund für das schlechte Abschneiden der bundesdeutschen Athleten nur verschleiern. Was ihnen in Wahrheit die Muskeln lähmte, war die schlichte Angst, vom Bundesinnenminister mit dem Silbernen Lorbeerblatt geehrt zu werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt viele Leute — wir zählen uns dazu — in diesem Staat und in der DDR, die alle möglichen Wünsche und Sehnsüchte haben, aber nicht den Ihren nach Wiedervereinigung. Diese Menschen wünschen sich ein Leben ohne materielle Sorgen und Not, ein Leben ohne Angst vor dem Krieg. Sie wünschen sich eine saubere und menschengerechte Umwelt, und sie wünschen sich selbstverständlich mehr demokratische Rechte und Freiheiten. Aber gerade deshalb wollen sie, daß historische Fakten endlich Anerkennung finden, und das heißt Anerkennung der DDR ohne Wenn und Aber und expliziten Verzicht auf das Wiedervereinigungsgebot.Also sagen Sie bitte zukünftig: Es ist ein Teil unserer Gesellschaft, der das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes aufrechterhalten will, und ein anderer Teil unserer Gesellschaft hält dies für ein Relikt des Kalten Krieges und will es abgeschafft wissen. Das entspricht der Wahrheit.Im Gegenzug — Herr Bundeskanzler, ich unterstelle mal, Sie kommen dieser Bitte nach — würde ich
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Ebermannbereit sein, eine geradezu feierliche Erklärung abzugeben:
Ich werde niemals zu denen gehören — die Stimmen dieser Art waren in diesem Sommer zahlreich — , die Sie auffordern, Ihr Schweigen zu brechen. Diese Forderung kann ohnehin nur jemand aufstellen, der Ihnen niemals richtig zugehört hat.
Vor einigen Tagen hat Franz Josef Strauß die Meldung lanciert, er sei nur deshalb nicht über die Bundesregierung verärgert, weil dies voraussetzen würde, deren Politik — ich zitiere — „als Ergebnis logischer Überlegungen und systematischer Handlungsweise zu betrachten". Diejenigen, die aus solchen Worten eine Beleidigung des Kanzlers herauslesen, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", haben unrecht: Es ist eine Entschuldigung, es ist darüber hinaus eine Beschönigung; denn diese Regierung verfährt auf immer mehr Feldern der Politik systematisch nach jenen strategischen Grundsätzen zur Volksverdummung, die Heiner Geißler als Resümee seiner Bundestagswahlauswertung präsentiert hat.Der CDU-Generalsekretär rät der Union, künftig ihre Politik mehr auf Stimmungen, Lebensstile und aktuelle Haltungen, die durch Medien erzeug- und verwerfbar sind, einzustellen, also das Stilempfinden der Wählerinnen und Wähler stärker zu berücksichtigen. Geißler erläutert, daß seine Zielsetzung und Hoffnung darauf basierten, mit diesem Konzept die christlich-demokratische Vorherrschaft absichern zu können. Gesichert werden sollen wiederum — auch das schreibt Geißler — jene Elemente konservativer Politik, die in seinem Papier „grundsätzliche Werthaltungen" bzw. „wirtschaftliche Interessen" genannt sind. Wenn wir uns das personalpolitisch vorstellen, haben wir Herrn Blüm, Herrn Töpfer und Frau Süssmuth für die Stilfragen und Stimmungen und den Kanzler selbst als wandelnden Grundwert.Wie wird man diesen Stilempfindungen und Stimmungen gerecht? An einem Beispiel, relativ kurz nach Tschernobyl und Rheinkatastrophe: Man macht sich einen Umweltminister, der der Chemieindustrie nach der Rheinkatastrophe verbal unerschrocken gegenübertritt, z. B. Mitte Dezember, am 12. Dezember 1986, in der „Zeit" folgendes verlautbaren läßt — ich zitiere —: „Und wo wir zu dem Ergebnis kommen, daß verboten werden muß," — es geht hier um chemische Substanzen — „wird mich keine gesellschaftliche Gruppe daran hindern". Stimmung. In gewissem Sinne hat er sogar Wort gehalten: Nachdem sich die Unruhe und der Ärger in der Bevölkerung über die Rheinkatastrophe ein wenig gelegt hatten, entschied er, daß überhaupt keine einzige Substanz verboten werden muß, und von dieser Entscheidung ließ er sich durch keine gesellschaftliche Gruppe abbringen.Einmal allerdings, sehr kurz vor der Hessen-Wahl, wurde er noch einmal richtig mutig. Er untersagte die weitere Produktion von PCB, berüchtigt wegen seiner Verwendung in Holzschutzmitteln. Aus den Chefetagen von Bayer, Hoechst und BASF kam kein Protest, denn aus wirtschaftlichen Interessen war die Produktion dieses PCB bereits ein halbes Jahr vor der mutigen Verfügung des Herrn Wallmann eingestellt worden. Damit war der Kampf gegen die Machenschaften der Chemieindustrie infolge der Rheinkatastrophe abgeschlossen. Dies ist das Ergebnis einer politischen Strategie, die den Wunsch vieler Menschen nach durchgreifenden Maßnahmen gegen die chemische Zeitbombe und die Industrie unter die Begriffe „Stilempfindungen" und „aktuelle Haltung" rubriziert und die umgekehrt das Festhalten an grundsätzlichen Wertvorstellungen und Interessen als Auftrag versteht, alles zu tun, damit diese Industrie unter optimalen Bedingungen weiter produzieren und Gewinne einfahren kann. Das zweite wurde faktisch durchgesetzt; das erste war die Aufführung zur Beruhigung der Gemüter. Darin besteht das Wesen des Vorschlags Heiner Geißlers an diese Regierung.Exakt dieses Muster kennzeichnet auch die Atompolitik. Natürlich haben die GRÜNEN in Hessen und die Bürgerinitiativen mit großen Anstrengungen deutlich werden lassen, welches Gefahrenpotential von den Hanauer Nuklearbetrieben ausgeht. Der hessische CDU-Minister Weimar hat daraufhin dem Betrieb NUKEM für einige Wochen Betriebsunterbrechung verordnet. Zugleich mit diesem Akt der Verordnung der Unterbrechung der Produktion kann er ein Zeitungsinterview geben, in dem er berichtet, er habe einen Motivationsschub bei den Managern von NUKEM und ALKEM ausgelöst. Wie paßt das zusammen: Betriebsstopp und zufriedene Manager? Es paßt deshalb zusammen, weil die Manager wissen, daß am Ende des Betriebsstopps die umfassende Unbedenklichkeitsbescheinigung stehen wird, daß der Betriebsstopp geradezu Bedingung ist, um den geplanten Ausbau öffentlich und vor der Bevölkerung, die einiges über Hanau gelernt hat, legitimieren zu können, genau wie der Umweltminister der Bundesregierung sich sorgenzerfurcht im Fahrkorb des Gorlebener Schachts ablichten lassen mußte, um danach sein „Weiter so! " verkünden zu können, weil sonst die Entsorgungspolitik der Bundesregierung zusammengebrochen wäre.Ein Wort zur SPD in dieser Sache. Vorgestern gab Klaus Matthiesen bekannt — das zitiere ich wörtlich — , daß die Regierung Rau die erste und bislang einzige Landesregierung in der Bundesrepublik sei, die konkret etwas für den Ausstieg getan habe. Das geschah am vergangenen Dienstag. Diese Feststellung, meine ich, ist richtig und für mich von unschätzbarem Wert. Nach dem Nürnberger Parteitag verfügte die SPD über fünf Landesregierungen. Alle zusammen — sagte Matthiesen am Dienstag — haben nichts, keinen einzigen konkreten Schritt in Richtung Ausstieg vollzogen. Ich hoffe, das wird in Hamburg nicht überhört, auch in Hessen nicht, wo die GRÜNEN der SPD die Zusammenarbeit aufkündigen mußten, weil Matthiesen leider recht hat.Nun zu dem ersten Schritt, den Minister Matthiesen meint. Er meint nicht etwa den Entzug der Betriebsgenehmigung in Würgassen für den dortigen Siedewasserreaktor. Der soll weiter laufen, obwohl er nach dem Prinzip genau des Reaktors von Krümmel funktioniert, über den es im Winter dieses Jahres ja die
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Ebermannberühmte TÜV-Studie gegeben hat. Und eben diese TÜV-Studie veranlaßte damals die sozialdemokratische Landtagsfraktion Schleswig-Holsteins, die sofortige Stillegung des Reaktors in Krümmel von der christdemokratischen Landesregierung zu verlangen. Ich gebe zu, im Wahlprogramm wird es nicht mehr versprochen. Aber von der christdemokratischen Landesregierung wurde die Stillegung eines Reaktors verlangt, der völlig unbehelligt im sozialdemokratisch regierten Nordrhein-Westfalen weiter laufen soll.Matthiesen meint auch nicht die Verweigerung der Betriebsgenehmigung für den Hochtemperaturreaktor in Hamm, den geplanten Exportschlager der bundesdeutschen Kraftwerksindustrie schlechthin, was diverse SPD-Unterbezirke gefordert haben und heute noch fordern und als landesrechtlich machbar bewiesen haben.Ich würde mich freuen, eine sozialdemokratische Landesregierung zu sehen, die mit gleicher Vehemenz gegen Atomanlagen vorgeht, mit der heute in Nordrhein-Westfalen richtige Anträge von sozialdemokratischen Unterbezirken abgebügelt werden.Vielmehr meint Matthiesen die Streichung von Flächenvorhaltungen aus dem Landesentwicklungsplan, also Flächen für Atomkraftwerke, die nicht einmal in Planung sind. Das heißt, er verzichtet auf Vorhaben, die faktisch heute ohne Relevanz sind. Das als Ausstiegsmaßnahme zu verkaufen ist schlicht lächerlich. Die SPD nimmt Abschied von Nürnberg, Herr Waigel freut sich darüber, und aus unserer Sicht gibt es da keinen Grund zur Freude. Wir sind enttäuscht, wenn sich Sozialdemokraten in Hessen weigern, die Praktiken in Hanau durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß untersuchen zu lassen.
Nirgendwo aber, so scheint mir, bildet Geißlers Konzept der Stimmung einerseits und der knallharten wirtschaftlichen Interessen andererseits ein so kontrastreiches Bild wie auf dem Gebiet der Außenpolitik und der Menschenrechte. Stichwort: Chile.Gehen wir zunächst von den Fakten aus: Die Bundesrepublik ist bis heute nicht bereit, den von der Todesstrafe bedrohten Widerstandskämpfern die Einreise in unser Land anzubieten. „Kein Handlungsbedarf" lautet nach wie vor die Devise. Trotzdem hatte — ich gestehe das ein — der Minister Blüm Erfolg. Er und die von ihm repräsentierten Teile der Union haben bei den Menschen, denen Humanität wichtig ist, an Ansehen gewonnen; ob zu Recht, wird sich zeigen. Den 14 Chilenen jedenfalls ist die Erfüllung ihres Anliegens bis heute verwehrt worden. Und die Sicherheitsüberprüfung, die Menschen, denen die Flucht vor der mörderischen Pinochet-Diktatur gelingt, zum Spielball deutscher Gesinnungsschnüffler macht, steht in der Bundesregierung nach wie vor nicht zur Debatte.Kleinstmeldungen — die nur dem aufmerksamsten Zeitungsleser nicht entgehen — brachten die Tatsache, daß die Bundesregierung im August dieses Jahres — zeitlich sehr nahe an der Rückkehr des Sozialministers Blüm — auf fällige Tilgungsverpflichtungen Chiles in Höhe von 11 Millionen DM bedingungslos verzichtet hat.
Sie tat das, um die exzellenten Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Bundesregierung und Chile aufrechtzuerhalten und um die brillanten Anlagemöglichkeiten für das westdeutsche Kapital abzusichern.
Noch Ende 1986 war die BRD
das einzige kontinentaleuropäische Land, das für die Vergabe eines Weltbankkredites an Chile votierte.Die brutale Wahrheit lautet: Diktaturen wie Chile können ohne aktive politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung der großen westlichen Industrienationen überhaupt nicht existieren. Und wenn die Redner der Sozialdemokratie die CDU heute aufgefordert haben, von ihrer bisherigen Chile-Politik Abstand zu nehmen, dann wäre es auch nicht übel, einmal zu reflektieren, wer denn die U-Boote an Chile geliefert hat und ob das selbstkritische Reflexion erfordert, wer denn die Kredite zur Absicherung eines wachsenden Handels- und Kapitalexports nach Chile staatspolitisch abgesichert hat.
Und wenn Herr Blüm nach Südafrika reist, dann reist er in ein Land, das in der gesamten südlichen Hemisphäre das zweitbeliebteste ist, in das bundesdeutsches Kapital investiert wird, in ein Land, in dem es nach wie vor eine geradlinig ansteigende Linie bundesdeutscher Investitionen gibt, in ein Land, in dem z. B. BASF mehr Computer verkauft als hierzulande, in dem weltweit überhaupt nur zwei Nationen mehr investieren als unser Staat, in ein Land, aus dem die Bundesrepublik so viel Steinkohle importiert wie aus keinem anderen. Und warum diese Steinkohle günstig, billig ist, das weiß derjenige, dem bekannt ist, was den schwarzen Arbeitern dort abgepreßt wird.Und wenn Herr Blüm nach Südafrika reisen sollte, dann soll er sich einmal das Hauptquartier der südafrikanischen Streitkräfte zeigen lassen und einmal besichtigen, was Philips da alles hingestellt hat. Er soll sich einmal erkundigen, aus welcher Nation denn das Gerät kommt, mit dem den Schwarzen, die in Kampfmaßnahmen verstrickt wurden, die Fingerabdrücke abgenommen werden.Mutig ist nicht, gegen Folter, Rassismus und Willkür zu protestieren — das ist selbstverständlich — , mutig ist, jene anzuklagen, die in der Bundesrepublik zur Aufrechterhaltung dieser Zustände beitragen.
Einige sitzen neben Herrn Blüm auf der Regierungsbank. Mit anderen gemeinsam hat er für die Abschaffung des Streikparagraphen gekämpft. Bedrückend wird es, wenn man sich ernsthaft fragt, was von all den Grausamkeiten dort in diesem Lande hier in Ausnahmesituationen denkbar ist.
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EbermannDie Entführung Hanns Martin Schleyers vor zehn Jahren war eine solche Ausnahmesituation. Der „Spiegel" berichtet in diesen Tagen, was damals im Krisenstab diskutiert wurde. Er berichtet z. B. über Franz Josef Strauß — ich zitiere das wörtlich — :Zwei Möglichkeiten stellt er zur Wahl: „Einen nach dem anderen aus dem Gefängnis rauslassen", dann in einem „Ausnahmezustand" die Jagd eröffnen. „Oder alle Stunde (öffentlich) einen erschießen."Mich beruhigt keineswegs, daß solche Lösungen, Lösungen durch Wiedereinführung der Todesstrafe, Lösungen durch Grundgesetzänderung und öffentlich ausgeführte Repression gegen Verwandte der inhaftierten Mitglieder der RAF verworfen wurden, sondern mir macht Angst, daß sie erwogen wurden.
Wenn Franz Josef Strauß mit Blick auf Chile und die dortige Folter von „unfeinen Methoden" spricht und Herr Waigel in Chile „einige Probleme, die es zu lösen gilt" , sieht, dann graust mir.Doch zurück zu dem, was nicht erwogen, sondern praktiziert wird. Im letzten Sommer war nicht Menschlichkeit das Motto wie in diesem, sondern die Predigt der ganzen staatlichen Härte gegen Flüchtlinge bzw. Asylsuchende. Alle, die damals Worte geprägt haben wie „Asylantenschwemme" und ähnliche rassistische Kampfbegriffe, sollen sich heute fragen — das meine ich ganz im Ernst — , ob sie durch das von ihnen mit geschürte Klima möglicherweise eine Mitverantwortung tragen, daß ein ausländischer vermeintlicher Ladendieb im Beisein von mindestens 20 einkaufenden und zuschauenden Deutschen öffentlich vom Kaufhauspersonal erwürgt werden konnte. Das ist das Klima, das erzeugt wird und zu solchen schrecklichen Ereignissen führt.Faktisch war die unmenschliche Kampagne des letzten Sommers erfolgreich. Während die Öffentlichkeit diskutiert, ob 14 chilenischen Widerstandskämpfern Asyl angeboten werden soll, werden in diesem Jahr 40 000 Menschen weniger als im Vorjahr auf ihrer Flucht vor Elend und politischer Verfolgung die Bundesrepublik erreichen. Diejenigen, die das dennoch schaffen, werden mit fünfjährigem Arbeitsverbot bestraft. Dem Innenminister reicht das noch immer nicht. Er beklagt die Kosten von 2, 8 Milliarden DM, weil sie ihm bei seinen Planungen, — z. B. von Repressionsgeräten — abgehen. Er handelt: In Berlin stehen Massenabschiebungen in den Libanon bevor. 500 Familien leben in der ständigen Ungewißheit, wann sie abgeschoben werden sollen, und das in den Tagen, wo sich der Freitod von Kemal Altun zum viertenmal jährt.In der gegenwärtigen Abrüstungsdebatte besteht das aktuelle Dilemma der Bundesregierung darin, dem manifesten und weitverbreiteten Wunsch der Bevölkerung nach Abrüstung ideologisch Rechnung tragen zu müssen, ohne die eigenen Ambitionen, Atommacht zu werden, aufgeben zu müssen. Dieser Zwiespalt, dieser von Geißler gesehene und zu behandelnde Zwiespalt, ist der materielle Kern des nur dem Anschein nach absurden Unionsstreits um die Pershing I a.Die unverschämte Erklärung des Bundeskanzlers, unter bestimmten Bedingungen und auch erst in fünf Jahren auf eine Modernisierung der Pershing zu verzichten, unterstellt logisch eine faktische Verfügungsgewalt über diese Atomwaffen. Treffender als der über jeden Verdacht der Moskauhörigkeit erhabene ehemalige Planungschef des Verteidigungsministers und heutige Direktor des Stockholmer SIPRI-Instituts, Walter Stützle, kann man es gar nicht formulieren. Nur, diese Nachricht ist nicht gelaufen; sie wurde im Radio nur einmal gesendet. Dieser Stützle sagt: „Ich kann nicht Vorbedingungen zu einem Gegenstand machen, der mir gar nicht gehört." Wer es trotzdem tut, will im öffentlichen Bewußtsein die bundesdeutsche Atomwaffenoption verankern.Diese Option hat in der Bundesrepublik Tradition. Es ist bekannt, daß die Bundesrepublik den Atomwaffensperrvertrag zu keinem Zeitpunkt freiwillig, sondern nur auf Druck hin unterzeichnet hat. Es ist bekannt, daß 70 Abgeordnete der CDU gegen die Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages gestimmt haben und jetzt teilweise auf der Regierungsbank sitzen, z. B. Herr Wörner, der NATO-Generalsekretär werden soll. Er hat sich immer gegen die Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages ausgesprochen.In einem kleinen Artikelchen in der „Frankfurter Rundschau" war vor kurzem eine kleine, aber hochbrisante Meldung zu lesen. Danach hat der US-Geheimdienst eine Liste zusammengestellt, welche Länder über wieviel Anlagen verfügen, die zum Bau von Atombomben geeignet sind. Einsamer Spitzenreiter dieser Liste ist die Bundesrepublik mit 37 Anlagen, die zum Bau der Atombomben laut Bericht des US-Geheimdienstes befähigt sind. Die US-Administration prüft, was an diese Betriebe geliefert werden kann.Weil wir um die Atommachtswünsche der Regierungsparteien wissen und weil wir zur Kenntnis genommen haben, daß auch in Teilen der SPD der Gedanke eines deutschen Zugriffs auf die Atombombe bis zum heutigen Tage nicht explizit verworfen ist — man muß nur die Aufsätze eines Helmut Schmidt lesen, um das zu begreifen — , haben wir in der Sondersitzung des Bundestages in der letzten Woche den Antrag eingebracht, den deutschen Atomwaffenverzicht im Grundgesetz zu verankern und ihm damit Verfassungsrang zu geben. Dies ist um so dringender, als der Atomwaffensperrvertrag Mitte der neunziger Jahre ausläuft und damit auch das letzte rechtliche Hindernis für den deutschen Zugriff oder Teilzugriff auf Atomwaffen fällt.Ein vernünftiges Argument, diesem Antrag die Zustimmung zu verweigern, gibt es nicht, es sei denn, man will die deutsche Atombombe eines Tages wirklich.
Ein entscheidender Prüfstein für Friedenspolitik ist Zustimmung oder Ablehnung zu diesem unserem Antrag.
Meine Damen und Herren, ich schließe mit der Hoffnung, daß das Spiel mit Stimmung und das Spiel
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1590 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Ebermannmit Lebensstil nicht gelingt und daß es der FDP und Frau Süssmuth nicht gelingt, den Wunsch nach Emanzipation umzulenken in den Wunsch, in dieser Bundeswehr dienen zu können, wie es die FDP auf ihrem Parteitag wieder gemacht hat.
Ich hoffe, daß es kein Reinfallen auf das Spiel mit Stimmung gibt, das Umweltschutzmaßnahmen andeutet, sie aber nicht einhält. Ich hoffe, daß die Leute nicht unbesorgt sind, nur weil sie sehen: Der Kanzler haut einen Liter Milch weg nach Tschernobyl, der bayerische Umweltminister löffelt ein paar Löffel Molkepulver, die Sozialdemokratie mach Benefizfischessen trotz der Würmer, und irgendwann wird man in Hamburg noch berühmt, wenn man sich solch einen Elbaal direkt vor den Abflußrohren der Norddeutschen Raffinerie greift und ihn trotz Geschwulsten roh verzehrt. Ich hoffe, die Leute lassen sich von dieser Zuversicht und dieser Demagogie nicht blenden, sondern sehen: Diese Regierung macht eine Politik im Faktischen, in den Grundwerten und in den Interessen, die auf Umweltzerstörung , auf internationale Eroberung von Weltmärkten ohne jede Rücksicht und auf Militarisierung zielt; diese Regierung verdient es, bekämpft zu werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ronneburger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich entnehme den Worten des Kollegen Ebermann,
daß man offenbar in Zukunft, wenn man von Deutschlandpolitik redet, wenn man von den Deutschen auf beiden Seiten der Mauer und der Grenze redet, wird hinzufügen müssen: mit Ausnahme der GRÜNEN.
Das ist eine außerordentlich interessante Feststellung,
die uns sicherlich noch einigen Anlaß zum Nachdenken geben wird.Ich kann Ihnen, Herr Ebermann, nur sagen: Die Unruhe auf unserer Seite, die Unruhe unter den Deutschen auf • beiden Seiten der Grenze wird nicht zu Ende gehen, ehe der Tag erreicht ist, an dem auch auf der anderen Seite der Grenze dieselben Freiheitsrechte gelten, die Ihnen die Möglichkeit verschafft haben, eine Rede zu halten, wie Sie sie soeben gehalten haben.
An sich halte ich es für zu früh, eine abschließende Bewertung des Besuchs von Herrn Honecker in der Bundesrepublik zu einem Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem er sich noch als Gast auf dem Boden der Bundesrepublik aufhält. Diese Wertung wird gezogen werden müssen, aber ich sage Ihnen, Herr Kollege Ebermann, das eine: Wir haben Erleichterungen für die Menschen in Deutschland, für die Menschen in der DDR in ihrer täglichen Lebenssituation erreicht, ohne auf unsere Grundforderung verzichtet zu haben, die im Grundgesetz festgeschrieben ist: die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Wir haben mit der DDR verhandelt, wir kooperieren mit ihr um der Menschen in Deutschland willen, wir werden das auch weiter tun, und wir werden damit auch in Zukunft Fortschritte erreichen, die diesen Menschen zugute kommen. Wir werden das nicht auf die Art und Weise tun, die Sie hier soeben angedeutet haben: mit einem Verzicht auf Grundwerte unserer Politik, die uns in der Vergangenheit bestimmt haben und die auch in Zukunft bestimmend sein werden.Der Besuch des Staatsratsvorsitzenden und Generalsekretärs aus der DDR ist gewiß ein Markstein auf diesem Wege, aber ich sage mit dem Bundesaußenminister, der das neulich ausdrücklich öffentlich erklärt hat: ein Markstein für die deutsche Teilung ist dieser Besuch nicht.
Insofern, Herr Kollege Vogel, ist es eigentlich auch etwas anmaßend, wenn Sie immer auf die Ereignisse der 70er Jahre zurückgreifen und meinen, das, was sich damals deutschlandpolitisch angebahnt und entwickelt hat, allein auf das Konto der beiden Kanzler Brandt und Schmidt anhäufen zu können.
Ich habe vor diesem Hohen Hause schon einmal darauf hingewiesen, und ich bitte Sie noch einmal, daran zu denken, daß z. B. der Grundlagenvertrag in den Ideenentwicklungen der FDP seine Wurzel hat.
Der Generalvertragsentwurf, eingebracht während der Großen Koalition, stimmt teilweise wörtlich mit dem Grundlagenvertrag überein, und es ist einfach nicht zutreffend, wenn Sie, Herr Kollege Vogel, jetzt rückblickend sagen, die SPD habe dies veranlaßt und habe allein mit ihrer Politik zu den unbezweifelbaren Erfolgen in der humanitären Situation zwischen den beiden deutschen Staaten geführt. Geführt hat dazu die Kontinuität der Deutschlandpolitik auch in den abgelaufenen Jahren, und an dieser Kontinuität werden wir auch für die Zukunft festhalten.
Das ist die entscheidende Frage, und es ist auch eine entscheidende Frage in bezug auf manche der Behauptungen, die Sie in anderen Zusammenhängen aufgestellt haben.Ich habe kürzlich mit großem Interesse ein Fernsehinterview des Kollegen Bahr verfolgt, in dem er einige sehr amüsante Bemerkungen machte. Ich will hier nur eine einzige zitieren: „Wir dürfen nicht auf falsche Palmen klettern" — so sagte Herr Bahr — „um nachher, nach einigen Jahren, wieder runter zu müssen. Das ist das Selbstverständlichste der Welt".Herr Kollege Vogel, nach der Rede, die Sie hier heute morgen gehalten haben, befürchte ich, daß Sie immer noch auf dem Weg zu falschen Palmen sind
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1591
Ronneburgerund daß Sie sich dort möglicherweise noch einige Jahre aufhalten werden. Das ist keine erfreuliche Aussicht für ein Parlament, das im Grunde genommen auf die Zusammenarbeit angewiesen ist; eine Zusammenarbeit, zu der Sie zwar am Ende Ihrer Ausführungen die Bereitschaft erklärt haben,
eine Zusammenarbeit, die aber in dem gesamten Text Ihrer Rede bis zu diesem Moment überhaupt nicht vorkam.
— Nein, nein, sehr gut zugehört.
— Herr Kollege Vogel, wenn Sie denn auf der Palme sitzen, bin ich gern bereit, gelegentlich vorbeizukommen und Ihnen zuzuwinken, damit es nicht zu langweilig wird.
— Herr Kollege Vogel, ich werde schon noch konkret; seien Sie ganz unbesorgt.Herr Kollege Vogel, Sie haben gesagt, Sie würden dieser Koalition Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat keine Ruhe lassen. Dazu muß ich sagen: Da haben Sie etwas vergessen; Jahr für Jahr hätte noch dazugehört.
Ich will in einer parlamentarischen Demokratie garnicht sagen: Legislaturperiode für Legislaturperiode,
aber „Jahr für Jahr" hätte schon gut gepaßt.
— Nein, nein, übertreiben Sie doch bitte nicht, verehrter Herr Kollege!
So weit gehen nicht einmal die kühnsten Erwartungen, wie Sie sie jetzt aussprechen.Herr Kollege Vogel, ich möchte Ihnen an einigen Beispielen deutlich machen, was uns in der Beurteilung der gegenwärtigen Situation voneinander unterscheidet. Sie haben zu Recht das drängende Problem der Arbeitslosigkeit angesprochen. Als Mitglied der FDP-Fraktion muß ich Ihnen hier jetzt einmal mit aller Deutlichkeit sagen: Uns unterscheidet die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen und möglicherweise auch Fehlentscheidungen nachträglich zuzugeben. Ich erinnere Sie an die letzten beiden Jahre der sozialliberalen Koalition. Wir hatten damals in gemeinsamer Sorge um das Ansteigen der Arbeitslosigkeit 17 staatliche Programme aufgelegt und nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler dafür 72 Milliarden DM aufgewandt.Wir haben in diesen beiden letzten Jahren nicht verhindern können, Herr Kollege Vogel, daß 1981 die Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr um 41 % und 1982 noch einmal um 43 % stieg. Das bedeutete in diesen beiden Jahren nahezu eine Verdoppelung der Arbeitslosigkeit.
— Wenn Sie einen Augenblick gestatten, daß ich meinen Gedankengang zu Ende führe, Frau Matthäus.Wir haben das nicht verhindern können. Wir haben daraus in der FDP-Fraktion, in der Koalition die Schlußfolgerung gezogen, daß nicht der staatliche, mit Krediten finanzierte Auftrag die wahre Möglichkeit ist, um langfristig Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, sondern daß es sich um die Rahmenbedingungen in der Wirtschaft handelt, welche die Voraussetzungen dafür bieten, daß produktive und auch wirklich langfristig gesicherte Arbeitsplätze entstehen und damit die Situation verbessert wird.
Bitte, Frau MatthäusMaier, zu einer Zwischenfrage.
Herr Ronneburger, wollen Sie mir nicht zustimmen, wobei ich ausdrücklich unterstelle, daß in der alten Koalition selbstverständlich Fehler gemacht worden sind — in 13 Jahren macht jeder politisch Fehler — , daß erstens ohne diese Programme die Arbeitslosigkeit ohne Zweifel höher gewesen wäre, daß zweitens ein Strukturprogramm wie das Zukunftsinvestitionsprogramm einerseits die Arbeitslosigkeit bekämpft und viele gute Dinge in der Infrastruktur verbessert hat,
daß drittens — Sie sprachen von Konjunkturprogrammen auf Pump — unser Programm „Arbeit und Umwelt" ausdrücklich nicht zu einer höheren Neuverschuldung führt, sondern daß ihm ein konkreter Finanzierungsvorschlag beigefügt ist?
Zur ersten Bemerkung, Frau Matthäus: Ohne diese Programme wäre die Arbeitslosigkeit höher gewesen. Das gilt für einen bestimmten Zeitraum,
nämlich nur für den Zeitraum, in dem die staatlichen Aufträge erteilt, aber noch nicht ausgeführt waren. In dem Moment, wo sie ausgeführt waren, fielen damals — und das war das, was uns damals gemeinsam bedrückt hat; ich spreche hier ja nicht nur für mich — diese Arbeitsplätze auch wieder weg.Was Sie dann weiterhin angeführt haben, schließt doch alles nicht aus, daß natürlich mit aufgenommenen Krediten auch Infrastrukturmaßnahmen gefördert und durchgeführt worden sind, die eines Tages vielleicht so oder so hätten erledigt werden müssen. Aber das Grundprinzip haben Sie auch mit Ihrer Zwischenfrage nicht aus der Welt gebracht, nämlich daß der langfristig gesicherte Arbeitsplatz der konkurrenzfähige Arbeitsplatz in der Wirtschaft ist und sein muß.
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1592 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
RonneburgerDeswegen, Herr Kollege Vogel, werden wir in Zukunft dieses andere Prinzip weiterverfolgen. Wir werden auch in der Frage der Steuerreform einen ganz klaren Kurs nach vorne gehen. Ich habe mit großem Erstaunen gehört, daß man, Herr Kollege Vogel, in einer Rede an der einen Stelle die Steuerbelastung der Bürger beklagen und an anderer Stelle in derselben Rede, etwas entfernt, aber nahe genug, um den Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, sagen kann: Aber diese Steuerreform, die zu einer Senkung der Steuerbelastung führen soll, lehnen wir ab. — So wörtlich.
— Wollen wir noch einmal in eine grundsätzliche Diskussion über die geplante Steuerreform eintreten?
Wo sind denn die Hauptentlastungen? Reiten Sie doch um Gottes willen nicht immer auf der einen Milliarde DM herum, die beim Spitzensteuersatz eingesetzt wird,
sondern geben Sie einmal zu, daß im mittleren Bereich das Hauptschwergewicht der Entlastungen liegt und daß der Eingangssteuersatz — —
— Ich will Ihnen hier sagen, Herr Kollege Vogel, wir haben viele Debatten über diese Frage geführt und — —
— Sie werden Ihre Antwort schon kriegen. Seien Sie ganz ruhig.
— Sie werden Ihre Antwort schon kriegen, übrigens auch in einer Weise, die den Anliegen der Kommunen in voller Weise gerecht werden wird. Überhaupt keine Sorge.Sie haben von der Werftenkrise gesprochen. Hier geht es um ein Problem, das mich in meinem Heimatland besonders bedrängt. Aber warum erwähnen Sie nicht einmal, wenn Sie schon von Werftenkrise reden, Herr Kollege Vogel, daß die Politik der Bundesregierung, die Umstellung der Reeder- und Schiffsbauhilfe auf einen Satz bis zu 20 % , jetzt dazu geführt hat, daß deutsche Werften Aufträge hereinbekommen konnten, die früher nicht erreichbar waren? Warum fügen Sie nicht genau wie wir hinzu, daß es natürlich eine solche Hilfe nur geben kann, wenn man gleichzeitig die Werften auffordert, sich ernsthafte Gedanken über alternative Produktionen neben dem Schiffbau zu machen und diese Übergangsphase, die ihnen gewährt wird, auch in diesem Sinne zu nutzen? Es gibt mittelständische Werften — ich kenne eine aus meinem Heimatbereich, in Husum — , die das in außerordentlich lebhafter und erfolgreicher Form tun. Reden Siealso nicht immer nur von Krise, und malen Sie nicht das Bild eines Staates, das mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun hat,
wenn Sie gleichzeitig Katastrophenmeldungen mit einem, zugegeben, etwas gequälten, aber zweifellos hämischen Lächeln hier in die Debatte einführen.
Sie, Herr Kollege Vogel, reden von Agrarpolitik, und Sie haben hier sachlich — —
Also ich sitze nicht drauf und werde auch nicht draufgehen. Aber Ihr Weg ... Nun gut.Ich will Ihnen noch ein anderes Beispiel vor Augen führen. Sie haben hier zur Agrarpolitik gesagt, man müsse den Bauern endlich mal die Wahrheit sagen. Nur sage ich Ihnen dann exakt eines: Ihre Wahlkämpfer in Schleswig-Holstein sagen etwas völlig anderes, als Sie hier heute hier vor diesem Podium gesagt haben.
Ihr Kollege Wiesen hat in Schleswig-Holstein immer landauf, landab erklärt, es gehe um personenbezogene Einkommensbeihilfen, nicht um flächenbezogene Beihilfen. Er hat damit gesagt: Wir sind bereit, Geld auszugeben, aber ohne strukturelle, fördernde Wirkung. Wir haben den Bauern wirklich die Wahrheit gesagt. Wir haben ihnen gesagt, es müßten Flächen stillgelegt werden, weil es jahrelang eine Politik der EG gegeben habe, die die Rentabilität nur über die Menge, nicht über den Preis ermöglicht habe.Wir haben den Bauern aber auch gesagt — Herr Kollege Stoltenberg, ich bitte jetzt um Ihr Verständnis für das, was ich exakt ausspreche — : Es wird notwendig sein, für Flächenstillegungen, für Einschränkungen der Produktion Beihilfen zu zahlen, die sich am Deckungsbeitrag orientieren, der von dieser Fläche für den einzelnen Betrieb geleistet werden könnte. Das alles wird auf Dauer gesehen billiger werden
als die gegenwärtige Überschußproduktion. Nur, sagen Sie nicht, man müsse den Bauern die Wahrheit sagen, wenn hier im Hause anders gesprochen wird als im Wahlkampf des Landes Schleswig-Holstein und als es sich draußen in der Praxis tatsächlich vollzieht.Der Kollege Ebermann hat eben abschließend noch einige dringende Worte zur Abrüstung gesagt. Das kann so nicht stehenbleiben. Wann hört endlich einmal das sich selbst Lügen strafende Gerede auf, diese Koalition, diese Bundesregierung wolle aus der Bundesrepublik einen Atomstaat machen? Wie verträgt sich denn das, Herr Kollege Ebermann, was Sie immer wieder behaupten — ohne jede Begründung und ohne
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1593
Ronneburgerjeden Nachweis der Richtigkeit solcher Behauptungen — , mit der Aussage des Bundeskanzlers zu P-I a?
Wir sind keine Atommacht, und wir wollen es nicht werden. Wir treten mit allem Nachdruck dafür ein, daß Atomwaffen abgeschafft werden, daß die Parität auf niedrigem Niveau bei konventioneller Bewaffnung hergestellt wird.In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Vogel, kann ich eine Ihrer Äußerungen nur mit allem Nachdruck begrüßen. Sie haben den Bundesaußenminister nachdrücklich gelobt. Das wäre zwar nicht nötig gewesen; wir wissen selbst, was wir an ihm haben.
Aber in dem Punkt sind wir wie in der Deutschlandpolitik auch auf einer Linie der Kontinuität. Wir stehen, Herr Bundeskanzler, zu Ihrer Erklärung und nehmen Sie ausdrücklich dagegen in Schutz, daß die Opposition nicht nur im Inland versucht, Mißtrauen zu säen hinsichtlich der Frage, ob diese Erklärung gilt — ja oder nein.
— Hier geht es um eine Erklärung, zu der wir stehen und die für die Bundesrepublik Deutschland auch verbindlich bleiben wird,
und zwar ohne Ihre Anstrengungen, die Sie in diesem Zusammenhang glauben unternehmen zu müssen.
Wir wollen den Weg, den wir in der Koalition gemeinsam beschritten haben, weiter verfolgen. Wir werden es mit Kontinuität und mit Klarheit der Entscheidungen tun. Und wenn es denn tatsächlich so sein sollte, Herr Vogel, daß Sie zur Zusammenarbeit bereit sind: Es gibt genug Gelegenheiten, bei denen Sie das unter Beweis stellen könnten. Ich hoffe, Sie werden diese Gelegenheiten nicht vorbeigehen lassen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst eine kurze Bemerkung zu den Darlegungen des Vorsitzenden der SPD-Fraktion, des Kollegen Vogel. Es ist ganz natürlich, daß in der Generalaussprache über den Etat alle Themen angesprochen werden. Kein Regierungschef kann erwarten, daß er dabei von seiten der Opposition Unterstützung bekommt. Aber, Herr Kollege Vogel, das Katastrophengemälde, das Elendsbild der Bundesrepublik Deutschland, das Sieheute gezeichnet haben, hat nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit unseres Landes zu tun.
Sie müssen sich beim Anhören der Ausführungen des Sprechers der GRÜNEN doch gefragt haben, in welche Nachbarschaft Sie eigentlich geraten sind.
Wenn Sie davon sprechen, daß bei uns breite Schichten der Bevölkerung geschröpft werden, dann frage ich mich wirklich, was Sie unter breiten Schichten verstehen. Natürlich weiß jeder von uns, daß auch in der Bundesrepublik noch viel zu tun ist, daß es mancherlei Sorgen und Not gibt.
Aber wenn Sie sich einmal die Ausgaben der Bundesbürger in diesem Jahr allein für den Urlaub vor Augen führen, die auf deutlich über 30 Milliarden DM geschätzt werden, dann werden Sie doch nicht im Ernst sagen können, daß Sie mit Ihren Neidtiraden, die Sie hier vorbringen, die Wirklichkeit der Bundesrepublik schildern.
Für die Unredlichkeit Ihrer Argumentation, Herr Abgeordneter Vogel, steht ja — ich nehme dieses Beispiel, weil es dazu auch einen Zwischenruf gab — Ihr Hinweis, daß wir nicht fähig seien, jetzt einen Bericht zur Lage der Nation abzugeben.
Herr Abgeordneter Vogel, wie kann man so unverfroren mit der Wahrheit umgehen? Sie wissen so gut wie ich — ich sage es Ihnen ganz ruhig — —
— Hören Sie doch einmal zu. Das ist doch keine Frage, die Sie jetzt auf die Geschäftsführer abschieben können. Sie haben doch die Behauptung aufgestellt.
Es ist doch einfach unwahr, was Sie hier sagen. Sie wissen so gut wie ich, daß man nicht einen Bericht zur Lage der Nation abgibt, bevor Generalsekretär Honecker seinen Besuch hier abschließt. Das ist doch nur vernünftig und die selbstverständlichste Sache.
Zum zweiten wissen Sie, daß ich sofort für die erste Oktoberwoche einen Termin angeboten habe. Also tun Sie nicht so,
als würden wir um dieses Thema herumreden. Was Sie hier machen, ist schlicht und einfach eine Verfälschung von Tatsachen, und Sie arbeiten hier mit der Unwahrheit. Das ist der Stil Ihrer Politik.
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1594 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundeskanzler Dr. KohlDann kommen Sie uns doch nicht damit und sprechen ganz am Ende davon, daß Sie Gemeinsamkeit wünschen. Es hat noch nie einen Oppositionsführer in diesem Haus gegeben, der so wenig an Gemeinsamkeit interessiert war wie Sie. Das muß man klar und deutlich aussprechen.
Was im übrigen Ihre Wünsche für die Zukunft betrifft, so ist das Ihre Sache. Gehen Sie davon aus — Sie werden es erleben; andere haben das eben schon gesagt — , daß diese Koalition ihre Absprachen einhalten
und ihre gute Arbeit fortsetzen wird. Herr Kollege Vogel, machen Sie sich auch keine Hoffnungen, daß Sie bei der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands irgend etwas erben könnten. Wir sind und bleiben die große Volkspartei, und Sie müssen das erst noch werden.
Ich möchte dem neu gewählten Vorsitzenden der SPD wünschen, daß er auf den Bundesversammlungen der Jungsozialisten
ein ebenso offenes Gespräch mit seiner Jugendorganisation führen kann, wie dies der Vorsitzende der CDU ganz selbstverständlich tun kann.
Meine Damen und Herren, ich denke,
wir sollten uns heute mit den wirklich bewegenden Themen beschäftigen, die die Bürger der Bundesrepublik Deutschland verständlicherweise gerade in diesen Tagen anrühren. In dieser Woche ist Generalsekretär Erich Honecker zu einem offiziellen Besuch in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. In unseren ausführlichen Gesprächen haben wir in großer Offenheit alle Probleme im Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland behandelt. Schon heute kann ich mit Befriedigung feststellen: Die Ergebnisse dieses Besuches sind beachtlich. Ich bin zuversichtlich, daß dies in den nächsten Monaten noch deutlicher werden wird.In einer ersten Bilanz halte ich fest: Wir haben Fortschritte zum Wohle der Menschen beider Staaten in Deutschland erzielen können. Die Bundesregierung ist damit ein wichtiges Stück in dem Bemühen vorangekommen, die schmerzlichen Folgen der Teilung unseres Vaterlandes zu lindern.Wir haben bedeutende Fortschritte in der politischen Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten in Deutschland erreicht. Beide Seiten haben viele praktische Probleme miteinander zu lösen, unbeschadet der gegensätzlichen Standpunkte in Grundsatzfragen.Wir haben einen wichtigen Beitrag zum West-OstDialog geleistet. Die Beziehungen beider Staaten in Deutschland sind eingebettet in den Gesamtzusammenhang der West-Ost-Beziehungen. Umgekehrt gilt aber auch, daß sie der Zusammenarbeit zwischen Ost und West Impulse geben können und, wie ich denke, auch müssen.Der Verlauf des Besuches hat gezeigt, daß das Bewußtsein für die Einheit der Nation so wach ist wie eh und je. Mehr noch: Ich bin davon überzeugt, dieser Besuch hat dazu beigetragen, dieses Bewußtsein zu schärfen, indem er eindrucksvoll deutlich machte, daß Begegnungen wie die zwischen Generalsekretär Honecker und mir etwas anderes sind als Begegnungen zwischen Vertretern verschiedener Nationen. Es ist für alle offensichtlich geworden, daß dieser Besuch eine besondere menschliche und politische Qualität hatte, daß bei unserer Begegnung deutlich wurde, daß wir in einer fortdauernden gemeinsamen Geschichte stehen.Gleichzeitig hat dieser Besuch die deutschlandpolitische Linie dieser Bundesregierung bestätigt. Wir streben eine enge Zusammenarbeit und konkrete Fortschritte zum Wohle der Menschen an. Aber wir bekennen uns auch unbeirrt zu unseren Grundsätzen und verbergen sie eben nicht hinter beschwichtigenden Formeln.
Beides, meine Damen und Herren, ist richtig und notwendig. Nur indem wir beides miteinander verbinden, dienen wir gleichermaßen der Einheit unserer Nation wie auch den Menschen in Deutschland.Die Grundlagen unserer Deutschlandpolitik habe ich in meiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 dargelegt und in der Regierungserklärung vom 18. März dieses Jahres erneut bekräftigt. Wir stehen zum Auftrag des Grundgesetzes, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
Wir können und werden uns auf Dauer nicht mit der unnatürlichen Teilung unseres Vaterlandes, nicht mit Mauer und nicht mit befestigter Grenze abfinden.Im Grundlagenvertrag, der vor fast 15 Jahren geschlossen wurde, ist der Wille bekräftigt worden, zum Wohle der Menschen in beiden Staaten in Deutschland zu einem Verhältnis guter Nachbarschaft zu kommen. Der Vertrag zusammen mit dem Brief zur deutschen Einheit macht aber auch deutlich, welche Fragen unter den bestehenden Bedingungen nicht gelöst werden können. Dies gilt insbesondere für die noch offene deutsche Frage. Wir halten fest an der Einheit der Nation und an der einen deutschen Staatsangehörigkeit. Die DDR ist für uns nicht Ausland.
Der Besuch von Generalsekretär Honecker erfolgt im Rahmen und auf der Basis des Grundlagenvertrages. Das heißt, weder besiegelt er die Teilung noch öffnet er neue Wege zur Lösung der nationalen Frage.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1595
Bundeskanzler Dr. KohlUnser deutschlandpolitischer Kurs verbindet Grundsatztreue mit Realismus und Augenmaß. In diesen Tagen ist deutlich geworden, daß wir mit diesem Kurs richtig liegen.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, besonders erfreulich sind die Fortschritte, die es in den letzten Jahren bei der Erweiterung und Verbesserung der Kontaktmöglichkeiten zwischen den Menschen aus beiden Staaten in Deutschland gegeben hat. Allein in diesem Jahr kam es bis jetzt, Anfang September, zu über drei Millionen Besuchen aus der DDR in der Bundesrepublik Deutschland, darunter fast 900 000 Besucher unterhalb des Rentenalters. Demgegenüber kamen bis Anfang der 80er Jahre — neben Rentnern — jährlich nur einige zehntausend Besucher. Hier hat es also nach Übernahme der Amtsführung durch diese Bundesregierung einen grundlegenden Wandel gegeben. Es bleibt unser Ziel, daß alle Deutschen frei und ungehindert reisen können.
Ungehinderte Kontakte, offene Grenzen dienen den Menschen, dienen einem friedlichen Miteinander, und sie fördern das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Deutschen.Zur Erleichterung des Reiseverkehrs haben die Verkehrsminister beider Staaten vereinbart, die Tarife im Eisenbahnverkehr für Rentner und Reisende in dringenden Familienangelegenheiten aus der DDR und für Inhaber von Senioren- und Familienpässen aus der Bundesrepublik Deutschland auf den beiderseitigen Strecken einschließlich des Transitverkehrs nach Berlin um 50 % zu ermäßigen.Im Interesse der Reisemöglichkeiten unserer Landsleute aus der DDR hat die Bundesregierung bereits vor dem Besuch von Generalsekretär Honecker beschlossen, das Begrüßungsgeld für Besucher aus der DDR auf 100 DM pro Jahr zu erhöhen. Dies soll ein Zeichen praktischer Solidarität mit unseren Landsleuten sein, die uns besuchen.Meine Damen und Herren, ungenutzte Chancen gibt es noch beim Tourismus. Es besteht zwischen beiden Seiten Übereinstimmung, neue Möglichkeiten für eine Entwicklung des touristischen Reiseverkehrs zu schaffen. Positiv ist festzustellen, daß sich die Abfertigungspraxis an den Grenzübergängen der DDR seit Jahren trotz gelegentlicher Klagen verbessert hat.Im Postverkehr werden demnächst Erleichterungen für den Geschenkpaket- und Päckchenverkehr in Kraft treten. Die DDR hat zugesagt, im Fernmeldebereich zusätzliche Leitungen zu schalten, womit die Telefonverbindungen zur DDR weiter verbessert werden könnten.Die Bundesregierung strebt in allen Bereichen mehr Begegnungen und einen verstärkten Austausch an. Wir begrüßen deshalb, daß der Jugendaustausch in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Gemessen an den Wünschen der jungen Leute diesseits und jenseits der Grenze gibt es aber noch erhebliche Möglichkeiten der Ausweitung. Dies gilt ganz besonders für Jugendreisen von Ost nach West. Erfreulich ist die kürzlich getroffene Vereinbarung, die jetzt auch Berliner Jugendliche in den Jugendaustausch einbezieht.Eine positive Tendenz gibt es bei den partnerschaftlichen Verbindungen mit Städten in der DDR, die Raum für vielfältige Begegnungsmöglichkeiten eröffnen. Die Bundesregierung legt allerdings Wert darauf, daß dies nicht nur Begegnungen von Offiziellen sein werden, sondern daß vor allem breite Schichten der Bevölkerung die Chance der Begegnung erhalten.
In den Gesprächen mit Generalsekretär Honecker haben wir erneut gefordert, daß auch andere Beschränkungen und Behinderungen im Reiseverkehr abgebaut werden. Dies gilt insbesondere für den Mindestumtausch. In den letzten Jahren wurde immer mehr Menschen die Einreise in die DDR verweigert. Daher begrüße ich die Mitteilung, daß ab 1988 grundsätzlich alle Personen, die vor dem 1. Januar 1982 aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, wieder zu Besuch in die DDR reisen dürfen.
Ich spreche hier die Erwartung und die Hoffnung aus, daß diese Verbesserung bald auch auf jene ausgedehnt wird, die seit 1982 aus der DDR zu uns gekommen sind.Ein Hindernis für zwischenmenschliche Begegnungen in Deutschland sind immer noch die zahlreichen Kontaktverbote, denen Bewohner der DDR unterliegen. Wir haben die DDR erneut zum Abbau dieser für die betroffenen Menschen belastenden Maßnahmen aufgefordert.Meine Damen und Herren, es bleibt für uns unerträglich, daß an der Grenze mitten durch Deutschland und Berlin noch immer auf Menschen geschossen wird. Wir haben auch dies deutlich angesprochen. Nach dem Abbau von Minen und Selbstschußanlagen ist die Aufhebung des Schießbefehls überfällig.
Verständlicherweise nahmen in unseren Gesprächen die Frage der Menschenrechte und humanitäre Fragen einen breiten Raum ein. Wir haben ganz offen über alle Themen gesprochen, die sich auch aus der KSZE-Schlußakte ergeben. Die Bundesregierung wird sich auch weiter und, wenn es notwendig ist, auf diskrete Weise um die Lösung von Härtefällen bemühen. Für uns steht dabei immer das Einzelschicksal im Vordergrund.Möglichkeiten zur Ausweitung und Verbesserung der Zusammenarbeit gibt es im Bereich des Handels und auf dem Gebiet der Wirtschaft. Wir haben vereinbart, Gespräche über die Bildung einer Gemischten Kommission aufzunehmen. Dabei sollen die bestehenden Regelungen und die bewährten Verfahren nicht berührt werden. Insbesondere die Interessen Berlins sind voll zu wahren.
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1596 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundeskanzler Dr. KohlEin erfolgreicher Abschluß zeichnet sich bei den kommerziellen Verhandlungen über einen Stromverbund mit der DDR ab, in den Berlin einbezogen werden soll.Begegnung und Austausch, meine Damen und Herren, werden nicht zuletzt durch Abkommen und Verträge ermöglicht. Das im letzten Jahr abgeschlossene Kulturabkommen mit der DDR hat, wie jeder erkennen kann, den kulturellen Austausch belebt. Hier läßt sich noch manches weiterentwickeln und intensivieren.Im Beisein von Generalsekretär Honecker und mir haben die zuständigen Minister beider Seiten drei weitere Verträge unterzeichnet: ein Abkommen über einen Informations- und Erfahrungsaustausch auf dem Gebiet des Strahlenschutzes, ein Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, ein Abkommen über Umweltschutz. Ich halte gerade diese Umweltschutzvereinbarung für ungeheuer wichtig, weil wir damit der gemeinsamen Verantwortung für die nachwachsende Generation in Deutschland gerecht werden.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, für die Bundesregierung ist es unverzichtbar, daß Berlin in die Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten in Deutschland in vollem Umfang einbezogen wird. Deutschlandpolitik ist immer — so wurde sie auch von allen Bundesregierungen verstanden — Verpflichtung für Berlin. Das freie Berlin bleibt auf die Solidarität der Schutzmächte und des ganzen Atlantischen Bündnisses angewiesen.
Es gehört mit der Bundesrepublik Deutschland unwiderruflich zur westlichen Welt. Für uns gibt es keine Deutschlandpolitik an Berlin vorbei. Die Einbeziehung Berlins in die Zusammenarbeit wird auch und gerade in Zukunft die Qualität unserer bilateralen Beziehungen wesentlich bestimmen. Berlin war daher auch ein zentrales Thema unserer Gespräche. Berlin darf insbesondere im Bereich der Reise- und Besucherregelungen nicht zurückstehen.
Die von der DDR mitgeteilten Erleichterungen begrüßen wir, aber leider fehlt immer noch die Zwei-TageRegelung auch für die Berliner.
Die Bundesregierung sieht weiterhin eine überragende Aufgabe darin, die Lebensfähigkeit Berlins zu stärken, seine geistige, kulturelle und vor allem auch wirtschaftliche Anziehungskraft zu fördern und die Bindungen zwischen Berlin und dem Bund, wie es im Viermächteabkommen festgelegt ist, aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. Im Interesse Berlins und der Verkehrsanbindung an das Bundesgebiet werden Gespräche mit dem Ziel aufgenommen, die Eisenbahnverbindungen zu verbessern.Generalsekretär Honecker und ich haben schließlich vereinbart, daß sich die Kontakte der führenden Politiker aus beiden Staaten verstetigen. Wir werden unsere Gespräche, die wir jetzt geführt haben, zu gegebener Zeit fortsetzen. Wir wollen und müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen, um zu einer Verbesserung der Lage in Deutschland und damit der Menschen in unserem geteilten Land zu kommen. Es geht, meine Damen und Herren, um mehr Menschlichkeit im geteilten Deutschland. Das ist immer auch ein Dienst am Frieden.
Dabei ist für uns selbstverständliche Basis unserer Deutschlandpolitik die feste Verankerung der Bundesrepublik Deutschland im Atlantischen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft. Die Bundesrepublik Deutschland ist kein „Wanderer zwischen den Welten". Wir wissen, die Deutschen können nur zueinanderfinden, wenn die Gegensätze zwischen Ost und West in einer stabilen europäischen Friedensordnung aufgehoben werden. Eine solche Friedensordnung erfordert ihrerseits die Überwindung der deutschen Teilung. Deshalb bleibt die deutsche Frage ein Thema der internationalen Politik. Aus der bitteren Erfahrung der Geschichte unseres Volkes müssen wir uns aber vor Ungeduld und unrealistischen Erwartungen hüten.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir haben bei unseren Bemühungen, die Beziehungen zu allen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas auf breiter Grundlage zu entwickeln, im laufenden Jahr deutliche Fortschritte erzielt. Wir haben intensiv an der Verbreiterung der vertraglichen Grundlagen der Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nachbarn gearbeitet. Im Mittelpunkt standen dabei Abkommen über wirtschaftliche, wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit sowie über den Umweltschutz. Weitere Abkommen sind ausgehandelt oder in Vorbereitung. Gleichzeitig suchen wir nach neuen Wegen wirtschaftlicher Zusammenarbeit, nicht zuletzt bei der Zusammenarbeit von Unternehmen.Seit einigen Monaten haben wir eine erfreuliche Zunahme von Ausreisegenehmigungen zum Zwecke der Familienzusammenführung aus osteuropäischen Staaten. Dies gilt insbesondere für die Sowjetunion.Ich will nur zwei Zahlen miteinander vergleichen. Waren es im Jahre 1986, also im letzten Jahr, noch 753 Personen, die aus der Sowjetunion aussiedeln konnten, so sind es in der Zeit vom 1. Januar bis 31. August dieses Jahres rund 7 000 Personen gewesen. Das ist eine beachtliche Veränderung, für die wir dankbar sind.
Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß die Aufwärtsentwicklung in den West-Ost-Beziehungen insgesamt sowie in den bilateralen Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Pakts anhalten wird.Meine Damen und Herren, die Chancen für einen friedlichen und langfristig stabilen Interessenausgleich zwischen West und Ost stehen gut. Im Bereich der Rüstungskontrolle stehen wir vor Entwicklungen, die weitreichende Auswirkungen auf das West-OstVerhältnis haben werden. Ich bin zuversichtlich, daß die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über die nuklearen Mittelstreckensysteme in diesem Jahr
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1597
Bundeskanzler Dr. Kohlerfolgreich abgeschlossen werden. Von dem Abschluß eines INF-Abkommens erwarten wir Impulse auch für alle anderen Verhandlungsbereiche, die für unsere Sicherheit genauso wichtig sind.Die Bundesregierung hat auf dem gesamten Feld der Abrüstung und Rüstungskontrolle von Anfang an eine aktive Rolle übernommen. Durch unsere feste Haltung vor allem bei der Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses haben wir einen entscheidenden Anteil am Zustandekommen der Genfer Verhandlungen und an den dort erreichten Fortschritten.Ich habe erst vor wenigen Tagen hier vor dem Plenum zu diesen Fragen Stellung genommen, insbesondere auch zu dem Thema Pershing I a. Ich habe meinen damaligen Ausführungen heute nichts hinzuzufügen. Ich betone nur noch einmal: Mit der weltweiten Beseitigung amerikanischer und sowjetischer Mittelstreckenwaffen allein ist es natürlich nicht getan. Weitere Abrüstungsschritte müssen folgen. Garant unserer Sicherheit und unserer Freiheit bleibt das Atlantische Bündnis, das durch Vertrauen und engste Zusammenarbeit gewachsen ist und das die Lebensgrundlage der Solidargemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika bildet.Meine Damen und Herren, die Amerikaner erwarten allerdings zu Recht, daß wir, die Europäer, im Bündnis nicht nur unsere Interessen vertreten, sondern daß wir auch Verantwortung übernehmen und die mit der Wahrung unserer Sicherheit verbundenen Lasten voll mittragen.
Wer also von europäischer Verantwortungsbereitschaft in der Sicherheitspolitik spricht, der muß den Worten auch Taten folgen lassen. Europa kann sich nur dann weltweit Gehör verschaffen, wenn es zunehmend mit einer Stimme spricht. Für mich ist daher die Erarbeitung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Zukunft.Diesem Ziel dienen auch unsere Bemühungen, die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Frankreich, bei der wir seit 1982 ja beachtliche Fortschritte erreicht haben, substantiell fortzuentwickeln. Diese Frage wird bei meinem bevorstehenden Zusammentreffen mit Staatspräsident Mitterrand und bei den 50. deutsch-französischen Konsultationen in diesem Herbst eine sehr wichtige Rolle spielen.Bei allen sicherheitspolitischen Initiativen sind wir uns bewußt, daß ein sicherer Friede — das ist immer auch ein gerechter Friede — nie allein das Werk von Rüstungskontrolle und Abrüstung sein wird. Wir alle sind aufgerufen, an einer großen Aufgabe mitzuwirken, nämlich eine Friedensordnung zu gestalten, die die Spaltung Europas überwindet, die Völker und Staaten in Freiheit zusammenführt und Grenzen öffnet. Die Achtung der Menschenrechte, der Schutz der Menschenwürde und die Herrschaft des Rechts gehören zu den entscheidenden Voraussetzungen einer friedlichen internationalen Ordnung. Herr Kollege Vogel, ich denke, wir sollten darüber wirklich nicht streiten,
wo immer wir hier in diesem Haus parteipolitisch stehen mögen: Für uns Deutsche ist die Achtung der Menschenrechte eine der entscheidenden Lehren aus diesem schlimmen Jahrhundert.
Deutsche Außenpolitik kann und darf nicht wertneutral sein. Auch darauf sollten wir uns doch verständigen können.Dies ist auch eine der Grundlagen unserer Europapolitik. Sie ist ja Ausdruck dieser Wertentscheidung. Wir wollen die Gemeinschaft der EG im Innern stärken. Leitfaden hierbei ist die Einheitliche Europäische Akte, und dies ist für die Bundesregierung jetzt ganz besonders wichtig, weil wir ja turnusmäßig ab 1. Januar des kommenden Jahres eine besondere Verantwortung übernehmen werden. Wir werden die Arbeit an der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes energisch vorantreiben, und wir wollen alles daransetzen, daß dieses Ziel bis 1992 auch tatsächlich erreicht wird.Natürlich weiß ich, meine Damen und Herren, daß in vielen Bereichen unserer Gesellschaft — das gilt nicht nur für die Landwirtschaft — manche Ängste umgehen, ob dieses Experiment nicht zuviel Opfer im eigenen Land kosten werde. Ich kann nur sagen: Dies ist die große Chance für uns alle in Europa und die größte Chance für die Deutschen. Es gibt keine verantwortbare Alternative zu einer vernünftigen Integration Europas.
Das heißt, wir werden auch die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Forschung und Technologie intensivieren, um gemeinsam mit unseren Nachbarn unsere Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten zu erhalten.Schließlich muß sich Europa mehr als bisher zu einer Umweltgemeinschaft entwickeln. Tschernobyl und die Unglücksfälle am Rhein haben drastisch vor Augen geführt, daß nationale Maßnahmen allein nicht ausreichen.Wir wollen unsere Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1988 aktiv nutzen, um die Gemeinschaft voranzubringen. Dies gilt insbesondere auch für die Verwirklichung der Reformansätze, die im sogenannten Delors-Paket enthalten sind. Es geht hier u. a. darum, die Gemeinschaftsfinanzen auf eine solide und gerechtere Grundlage zu stellen und die Fehlentwicklungen der 70er Jahre im Bereich der europäischen Agrarpolitik zu überwinden.Auch hier ein Wort zu dem, was jetzt in der Debatte schon gesagt wurde. Ich kann einen Teil — ich sage: einen Teil — der öffentlichen Kampagne deswegen nicht verstehen, weil in irgendeiner Form alle politischen Organisationen an der Gesamtentwicklung beteiligt waren, und nicht nur sie, sondern auch die Berufsverbände. Ich denke, der eine oder andere, der aus beruflicher Sicht auf Verbandstagungen zur EG-Agrarpolitik spricht, täte gut daran, gelegentlich ein-
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1598 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundeskanzler Dr. Kohlmal seine eigenen Reden vor 10 oder 15 Jahren nachzulesen.
— Das habe ich ja gerade gesagt.Ich glaube auch, daß die Existenzangst der Bauern in der Bundesrepublik Deutschland so ernst ist, daß wir uns da nicht in eine billige parteipolitische Polemik begeben sollten. Ich könnte es mir leicht machen— Herr Kollege Kiechle auch — , könnte den Kalender hervorziehen und sagen, wann welche Beschlüsse durch wen herbeigeführt worden sind. Nur: Hilft das den Bauern draußen in ihrer Sorge? Ich glaube dies nicht. Die Bauern brauchen eine Zukunftshoffnung, die realistisch ist, eine Zukunftsperspektive und die Gewißheit, daß die Solidargemeinschaft des Landes sie nicht im Stich läßt. Die meisten Bauern wissen sehr genau, daß sie eine Durststrecke vor sich haben, und deswegen bekenne ich mich auch nachdrücklich dazu— Theo Waigel und andere haben das gesagt — , daß wir mit den Bauern offen und ehrlich über ihre Situation reden. Aber zu diesem offenen und ehrlichen Reden gehört auch, daß man nicht eine Verelendungstheorie auftischt, sondern sagt: Wenn wir es gemeinsam anpacken, haben wir eine gute Chance.
Mit den Mitteln natürlich, die Sie anbieten, hat weder die Industriegesellschaft noch der bäuerliche Familienbetrieb irgendeine Chance.
Meine Damen und Herren, wir haben die Pflicht, nicht zu resignieren, obwohl wir wissen, daß gerade die Preisentwicklung auf den europäischen Agrarmärkten völlig unbefriedigend ist. Sie reicht nicht aus, um unseren Betrieben ein akzeptables Einkommen zu sichern. Sie kennen die Gründe; sie liegen in der Überschußproduktion bis in die frühen 80er Jahre.Genau hier haben wir angesetzt. Wir haben uns gegen die Kommission zur Wehr gesetzt, die über Preissenkungen die Märkte in Ordnung bringen wollte. Wir haben bei Milch eine Regelung gefunden, die die Preise und damit auch weitgehend die Einkommen der Milchbauern sichert. Die ersten Erfolge auf den Märkten sind erkennbar. Bei Getreide sind erste Extensivierungsmaßnahmen beschlossen worden. Wir haben nicht nur darüber geredet, sondern in Niedersachsen wird ein Großversuch mit Flächenstillegungen durchgeführt. Die Bauern erhalten dafür einen vollen Einkommensausgleich. In Brüssel wird zur Zeit über EG-weite Flächen- und Betriebsstillegungen beraten. Wir müssen — dies weiß jeder — zu einer EG-weiten Mengenreduzierung kommen, damit der Preisdruck nachläßt und die Betriebe wenigstens wieder in die Nähe vernünftiger Preise kommen können.Ich glaube, wir haben für die EG-Agarpolitik den richtigen Weg gezeigt.Wir haben in der nationalen Agrarpolitik alle Möglichkeiten zur Erhöhung der Einkommen ausgeschöpft. Statt die Ausgaben in der Agrarsozialpolitik zu kürzen, wie Sie es ja in Ihrer Regierungszeit getan haben, haben wir diese Ausgaben kräftig — immerhin um 35 % — erhöht. Wir haben gegen Ihre Stimmen und gegen den massiven Widerstand in Brüssel auch eine 5 %ige Vorsteuerpauschale für die deutsche Landwirtschaft erreicht. Wir haben ein Währungsausgleichssystem durchgesetzt, das trotz aller Schwierigkeiten, die darin enthalten sind, alles in allem eine Berücksichtigung der deutschen Landwirtschaft auf Dauer bei den Brüsseler Preisfestsetzungen ermöglicht. Auch dies ist gegen massiven Widerstand in der Kommission durchgesetzt worden. Und wir haben die Förderung der Bauern in benachteiligten Gebieten unter anderem durch Erhöhung der Einkommensbeihilfen weiter ausgebaut. Wir werden in diesem Jahr im Rahmen des Möglichen angesichts der Witterungsentwicklung mit steuerlichen Erleichterungen da helfen, wo Ernteverluste Hilfen notwendig machen.
Diese Hilfen kommen an. Es sind gezielte Hilfen. Diese Art Agrarpolitik ist Ausdruck unserer Solidarität mit einer Berufsgruppe, die unter der weltweiten Agrarkrise leidet und unsere Hilfe braucht.Wenn ich dies sage, heißt das überhaupt nicht, daß wir Strukturen konservieren wollen. Wir wollen durch soziale Flankierung den sich vollziehenden notwendigen Strukturwandel unterstützen. Ziel dieser Politik bleibt, eine leistungsfähige, bäuerlich strukturierte deutsche Landwirtschaft mit dem Leitbild des Familienbetriebes zu sichern.Es hat gestern und heute bereits eine breite Debatte über die wirtschaftliche Lage unseres Landes stattgefunden. Herr Kollege Vogel, Sie haben viel von dem vorgetragen, was draußen im Land tagaus, tagein und überall von den Rednern der SPD entgegen den wirklichen Bedingungen des Landes vorgetragen wird.Die jetzt vorliegenden Wirtschaftsdaten — und daran führt kein Weg vorbei — unterstreichen, daß die Konjunktur auch nach dem schwierigen Winterhalbjahr wieder Tritt gefaßt hat. Dies ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Wir wissen, daß wir durch die drastische Abwertung der DM gegenüber dem Dollar enorme Probleme hatten und auch noch haben. Daß diese zusätzliche Belastung verkraftet werden konnte, ist eine hervorragende Leistung von Unternehmensführern, Belegschaften, Betriebsräten, die unseren gemeinsamen Respekt und unsere Anerkennung verdient.
Sie haben heute im Rahmen Ihres Krisengemäldes auch die wirtschaftliche Lage als besonders bedenklich im Blick auf die nächste Zukunft geschildert. Herr Abgeordneter Vogel, Sie wissen so gut wie ich, daß dies nicht stimmt. Alle Fachleute stimmen darin überein, daß wichtige Daten und Rahmenbedingungen auch im fünften Jahr der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung für eine Fortsetzung der positiven Entwicklung sprechen, trotz der veränderten außenwirtschaftlichen Bedingungen, die natürlich weiterhin un-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1599
Bundeskanzler Dr. Kohlsere Aufmerksamkeit erfordern. Die Aktivposten, die wir vorzuzeigen haben, haben Gewicht. Mit dem kräftigen Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal dieses Jahres ist es gelungen, wieder an die wirtschaftliche Dynamik des vergangenen Jahres anzuknüpfen. Die Inlandsnachfrage — —
— Ich würde den Zwischenruf nicht machen. Sie haben uns Nullwachstum hinterlassen. Sie sind die allerletzten, die über diesen Zusammenhang eine öffentliche Äußerung machen sollten.
Und Sie haben uns ja nicht nur Nullwachstum hinterlassen. Sie haben das ja noch ideologisch überhöht und als einen besonders wichtigen Beitrag zu einer modernen Volkswirtschaft bezeichnet.
Die Inlandsnachfrage zeigt sich unverändert stabil. Vor allem vom privaten Verbrauch, der im Augenblick über 50 % des Bruttosozialprodukts ausmacht, gehen deutlich expansive Impulse aus.Bei den Preisen — darüber reden Sie überhaupt nie — registrieren wir weiterhin ein ungewöhnlich hohes Maß an Stabilität, auch wenn die jetzt auslaufenden Wirkungen der niedrigeren Ölpreise außer Betracht bleiben.Ich nenne dann ein Thema, das Sie überhaupt nicht mehr in den Mund nehmen, weil Sie damit ja zu Beginn der Arbeit dieser Regierung Ihre politischen Geschäfte machen wollten. Ich spreche von den Mieten. Bei den Mieten haben wir den niedrigsten Anstieg seit Bestehen der Mietenstatistik überhaupt.
Erinnern Sie sich noch an die Krisengemälde, die Sie hier zu Beginn der Arbeit dieser Bundesregierung entworfen haben? An den wenigen Beispielen sieht man, daß nichts, aber auch gar nichts von Ihren Voraussagen eingetroffen ist.
Und, Herr Abgeordneter Vogel, wenn Sie die Reallöhne der Arbeitnehmer betrachten, dann können Sie feststellen: Diese Entwicklung nach vorwärts und aufwärts findet eben nicht nur in Wirtschaftsstatistiken statt, sondern auch und gerade bei den Einkommen breiter Schichten unserer Bevölkerung; und das — ich sage dies noch einmal — bei einer Preisstabilität, die Vertrauen schafft und die damit die wirtschaftliche und private Zukunftsplanung auf eine realistische und stabile Grundlage stellt.Herr Abgeordneter Vogel, Sie haben hier auch heute wieder den für einen sozialdemokratischen Sprecher obligaten Vertrauenserweis gegenüber dem Deutschen Gewerkschaftsbund bekundet. Es wäre vielleicht einmal nützlich gewesen, dem Hohen Hause darzulegen, ob es nicht auch ein Vertrauenserweis ist, daß ausgerechnet die IG Metall und die IG Chemie einen Drei-Jahres-Tarifvertrag abgeschlossen haben, weil sie eben auf die Stabilität der wirtschaftlichen Ordnung unseres Landes vertrauen.
Meine Damen und Herren, wir wissen auch, daß im Bereich des Arbeitsmarkts und der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit noch viel zu tun ist. Aber es ist doch nicht zu übersehen, daß die Aufwärtstendenz bei Beschäftigung und Arbeitsplätzen trotz der außenwirtschaftlichen Belastung seit nunmehr vier Jahren zu keinem Zeitpunkt unterbrochen wurde. Im Gegenteil: Die jüngsten Zahlen dokumentieren mit großer Klarheit, daß in der deutschen Wirtschaft inzwischen 650 000 neue, zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen wurden.
Was das bedeutet, sollten Sie doch wissen. Denn Sie haben es unter Ihrer Verantwortung ja zuletzt fertiggebracht, in nur zwei Jahren mehr als 800 000 Arbeitsplätze auf der Verlustseite abbuchen zu müssen.
Meine Damen und Herren, Theo Waigel sagte schon, als er über Arbeitslosigkeit sprach, daß wir hier natürlich Probleme ganz besonderer Art hatten. Die Zahl derjenigen, die einen Arbeitsplatz wünschen, ist in den letzten Jahren — anders als früher — erheblich angestiegen, und zwar seit 1982 um mehr als 600 000. Geburtenstarke Jahrgänge, steigendes Interesse vieler Frauen — die zu Ihrer Zeit schon die Hoffnung aufgegeben hatten, noch einmal berufstätig sein zu können — an einer Erwerbstätigkeit und die hohe Zahl von Arbeitslosen ohne eine qualifizierte Berufsausbildung erfordern von allen Beteiligten, Unternehmen, Gewerkschaften und natürlich auch von der Politik, entsprechende Anstrengungen.Ich will heute nicht noch einmal erwähnen, was aus Ihren negativen Darstellungen des Lehrstellenproblems geworden ist. In wenigen Jahren hat sich die Sache total verändert.
Alles das, was Sie hier von dieser Stelle in diesen Jahren gesagt haben, war falsch
und diente nur dazu, junge Leute draußen im Land in Resignation zu treiben. Wir haben uns mit unserem Programm durchgesetzt.
Meine Damen und Herren, es ist kein Zufall — und das sagt etwas über die Leistungskraft unserer Wirtschaft und im übrigen auch über die Qualität des dualen Systems aus — ,
daß die Bundesrepublik Deutschland unter allen EG- Ländern die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit auf-
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1600 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundeskanzler Dr. Kohlweist, ein Aktivposten, der es wert ist, auch hier erwähnt zu werden.
Meine Damen und Herren, da im Verlauf auch dieser Debatte die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft hier wieder so beiläufig — ohne allerdings ganz klar Position zu beziehen — in Frage gestellt worden sind,
will ich doch noch einmal sagen: Es ist schon bemerkenswert, daß das Prinzip von Markt und Wettbewerb, also von zwei wichtigen Eckpfeilern unserer Wirtschaftsordnung in den anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft zunehmend akzeptiert und realisiert wird; daß also nicht wir unsere wirtschaftspolitischen Leitlinien verändern, sondern daß sich andere in ihren Grundüberlegungen uns angenähert haben.
— Das weiß ich. Wenn Sie über Monopole reden, dann haben Sie einen Lustgewinn. Aber Sie haben keine Ahnung, was das letztlich bedeutet.
Meine Damen und Herren, um diese Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft kraftvoll in die Zukunft zu führen, brauchen wir eine strikte Begrenzung der Staatsausgaben. Hier bestëht allerdings ein elementarer Unterschied zwischen Ihnen, der Opposition, und uns, der Regierungskoalition. Denn hier und nirgendwo sonst liegt der Schlüssel zu dem zentralen wirtschaftspolitischen Anliegen dieser Legislaturperiode: der nachhaltigen Senkung der Steuerbelastung 1988 und 1990. Gerhard Stoltenberg und andere haben viel dazu gesagt;
ich will es deswegen nur kurz ansprechen. Diese knapp 50 Milliarden DM Steuerentlastung kommen Bürgern und Unternehmen ungeschmälert und in voller Höhe zugute,
und zwar völlig unabhängig davon, wie die darüber hinausgehenden Umschichtungen im Steuersystem im einzelnen aussehen.
Meine Damen und Herren, Sie wissen ganz genau — das möchte ich Ihnen noch einmal ruhig sagen — : Dieses Programm, das ich in der Regierungserklärung angekündigt habe, wird durchgezogen wie alle anderen Punkte auch.
Ich habe Ihnen in den ersten vier Jahren meiner Amtszeit klargemacht, daß wir das, was wir zusagen, auch einhalten.
Wir haben auch unpopuläre Entscheidungen getroffen. Denken Sie daran, daß wir zum Beispiel die Wehrpflicht verlängert haben, obwohl Sie bezweifelt haben, daß wir den Mut zu solchen Entscheidungen hätten.Die geplante Steuerreform ist eine der Bevölkerung hochwillkommene Maßnahme.
Wir vertrauen darauf, daß der einzelne Bürger besser als der Staat weiß, wo und wie er den Ertrag seiner Arbeit verwendet und einsetzt.Wir werden an dieser Linie festhalten. Die vor uns liegenden Aufgaben werden wir nur bewältigen können, wenn wir den übermächtigen Zugriff des Staates auf die erarbeitete gesamtwirtschaftliche Leistung weiter zurücknehmen, wenn wir also die Bevormundung des Bürgers durch den Staat abbauen, wenn wir den Spielraum für private und eigenverantwortliche Entscheidungen der Bürger erweitern.Das heißt für uns in der Konsequenz, daß die Steuerreform 1990 dringend geboten ist und daß wir sie durchsetzen. Sie ist dringend geboten aus unserer internationalen Verantwortung. Niemand in der westlichen Welt würde verstehen, wenn wir diesen notwendigen Schritt jetzt nicht unternähmen.
Aus wirtschaftlichen und aus sozialen Gründen besteht ebenfalls Handlungsbedarf im Bereich der Steuerpolitik. Gehen Sie deswegen, was immer Sie lesen, hören und in der Diskussion aufnehmen, davon aus:
Diese Bundesregierung und die sie tragenden Parteien werden die Steuerreform durchsetzen und verwirklichen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eine andere wichtige Herausforderung nennen.
Ich glaube nicht, daß sich Ihnen eine Herausforderung stellt, außer der, diesen Staat und diese Republik madig zu machen, eine Republik, deren Ressourcen Sie in Anspruch nehmen,
wobei Ihr Ziel bleibt, dieser Republik zu schaden, wo es Ihnen überhaupt nur möglich ist. Dies war heute wieder deutlich spürbar.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1601
Bundeskanzler Dr. KohlMit dieser Herausforderung meine ich den anhaltenden Strukturwandel, den wir in vielen Bereichen unserer Wirtschaft durchlaufen und der in einer ganzen Reihe von Regionen zu starken Belastungen für den Bürger, für den Arbeitnehmer und für die Unternehmen führt. Ich denke, es besteht hier Einigkeit darüber, daß wir unabänderliche strukturelle Entwicklungen nicht verhindern können und dürfen, wenn wir Arbeitsplätze, die wir morgen brauchen heute nicht aufs Spiel setzen wollen.Ich habe zu Beginn dieser Legislaturperiode hier in meiner Regierungserklärung gesagt: „Am Markt vorbei können dauerhafte Arbeitsplätze weder geschaffen noch gesichert werden. Staatliche Planung kann den Markt nicht ersetzen. " Ich habe auch hinzugefügt, Herr Abgeordneter Vogel: „Der Staat ist und bleibt aber gefordert, bei schwierigen strukturpolitischen Anpassungsprozessen Hilfe zu leisten."
Wissen Sie, Herr Kollege Vogel: In der Zeit, als Sie in der Regierung saßen, sind die schwerwiegendsten Strukturprobleme bei Stahl und Kohle entstanden, und Sie haben in dieser Zeit nichts getan — nichts!
Wenn die Bundesregierung sich dazu bekennt, daß der Staat bei schwierigen strukturpolitischen Anpassungsprozessen Hilfe leistet, dann selbstverständlich auch in der Annahme, daß Unternehmen und Gewerkschaften ihren angemessenen Beitrag zur Bewältigung der Probleme leisten, und zwar nicht nur in wortreichen Erklärungen.In diesem Sinne haben wir mit Unternehmen und Gewerkschaften über die schwierige Situation in der Stahlindustrie gesprochen. Im Zusammenhang mit dem bevorstehenden EG-Ministerrat werden diese Gespräche auch in den nächsten Tagen fortgesetzt.Die besonderen Schwierigkeiten im Schiffbau haben die Bundesregierung veranlaßt, die bisherigen Förderungsmaßnahmen auf eine neue und wirksame Grundlage zu stellen. Darüber hinaus haben wir zusätzliche Hilfen bereitgestellt, und zwar im Rahmen der Regionalpolitik für die besonders betroffenen Regionen, damit dort in verstärktem Maße Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden können.Diese Bemerkung zur Strukturveränderung gilt auch für viele andere Gebiete. Ich nenne etwa meine engere Heimat mit den Anpassungsproblemen in der Schuhindustrie, wo ebenfalls die aktive Regionalpolitik zu verstärken ist.Meine Damen und Herren, besondere Aufmerksamkeit erfordert ganz ohne Zweifel heute die Situation im Bereich Kohle. Der Bundeswirtschaftsminister wird Anfang Oktober die hier entstandenen Probleme mit allen Beteiligten im Rahmen einer weiteren Kohlerunde erörtern und sich dabei um eine wirtschaftlich vertretbare und zugleich sozial verträgliche Lösung bemühen.In diesem Zusammenhang halte ich auch das von der IG Bergbau und Energie vorgelegte Überbrükkungskonzept für eine gute und wichtige Verhandlungsgrundlage, wobei allerdings, meine Damen und Herren, niemand die Finanzierungsfrage aus dem Auge verlieren darf.Den bevorstehenden Gesprächen beim Bundeswirtschaftsminister kann ich heute nicht vorgreifen. Aber ich sage mit Deutlichkeit: Voraussetzung für die Verstromung heimischer Kohle — und das ist eine Frage an Sie, meine Damen und Herren von der Opposition — bleibt auf absehbare Zeit die Nutzung der Kernenergie. Wer in diesem Zusammenhang aus welchen Gründen auch immer der Meinung ist, daß er hier aussteigen kann,
der entzieht auch dem heimischen Steinkohlebergbau — und Sie wissen das genau — die Existenzgrundlage.
Im Verlauf der jetzt natürlich intensiver werdenden Kohledebatte wird die Bundesregierung beispielsweise die Regierungen des Saarlandes und Nordrhein-Westfalens immer wieder fragen, wie sie es sich vorstellen, Kohle und Kohlearbeitsplätze zu retten und gleichzeitig eine Politik des Ausstiegs im Bereich der Kernenergie zu betreiben.
Wenn, meine Damen und Herren, in diesen Tagen die SPD in Schleswig-Holstein die Abschaltung aller drei Kernkraftwerke dieses Bundeslandes binnen Jahresfrist vorschlägt, dann zeigt dies — und das müssen die Kumpel an Rhein und Ruhr wissen — ,
wie es konkret um sozialdemokratische Solidarität mit den Bergleuten bestellt ist.
Meine Damen und Herren, was für die Bauern gilt, gilt für den Stahlkocher und gilt für den Bergarbeiter und für all jene Bereiche, die durch Strukturveränderung in Bedrängnis geraten sind — eine Strukturveränderung, die wir nicht in der Form abbremsen wollen, daß überfällige Veränderungen jetzt gestoppt werden. Wir brauchen neue Strukturen in vielen Bereichen der Bundesrepublik.Dazu gehört auch — und ich sage das ausdrücklich — , daß wir in unserem föderalen Staat, die wir stolz sind auf diese Ordnung, stets auch bedenken, daß sich das gesamtstaatliche Prinzip auch darin zeigt, daß wir keine unterschiedliche Entwicklung zwischen Nord und Süd in der Bundesrepublik zulassen dürfen.
Es hat keinen Sinn, heute darüber zu meditieren, warum das gekommen ist. Man hätte gestern sehr viel zu den Ausführungen des Bürgermeisters von Bremen hier sagen können. Wir haben vor 20 Jahren eine Ent-
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Bundeskanzler Dr. Kohlwicklung gehabt, in der die Dinge genau umgekehrt waren. Man kann sehr darüber nachdenken, wer rechtzeitig das Richtige im Bereich der Strukturpolitik getan und wer weitsichtig gearbeitet hat.Bloß, ich finde, hier gilt das gleiche, was ich vorhin im Blick auf die Bauern sagte: Es nützt dem Stahlkocher, es nützt dem Bergmann, es nützt dem Werftarbeiter — und Sie können viele andere Bereiche ansprechen — jetzt überhaupt nichts, wenn wir uns vor allem und ausschließlich mit Schuldzuweisungen wegen der letzten 20 oder 30 Jahre beschäftigen,
sondern es ist vernünftig, daß die Verantwortlichen in der Wirtschaft, die Unternehmen, die Gewerkschaften und die Politik — unter Politik verstehe ich die Politik auf allen Ebenen, also Bund, Länder und Gemeinden — in einem vernünftigen Gespräch diese Abläufe diskutieren und dann zu guten Lösungen für alle Betroffenen kommen.Ich sage noch einmal: Solidarität ist für die Bundesregierung keine Einbahnstraße. Sie ist ein Grundprinzip unserer Arbeit, und die Koalition der Mitte wird ihre erfolgreiche Politik auch in Zukunft nach diesem Prinzip ausrichten.
Herr Bundesminister Stoltenberg, ich bitte Sie einen Moment um Gehör. Mir liegt gerade das Sitzungsprotokoll der gestrigen Sitzung vor. Danach haben Sie einen Teil des Hauses volksdemokratischer Methoden bezichtigt.
Ich könnte das genau vorlesen, aber Sie dürfen es auch nachlesen. Ich muß dies für dieses Haus ausdrücklich zurückweisen.
— Meine Damen und Herren, ich möchte doch nicht annehmen, daß irgendein Abgeordneter dieses Hauses männlichen oder weiblichen Geschlechts in diesem Hause eine solche Bemerkung machen wird,
um so mehr, als wir uns ausdrücklich auch im Präsidium darauf verständigt haben,
Ausdrücke dieser Art, die ja auch noch anders zu bezeichnen sind, hier zu rügen. Ich bitte nachdrücklich darum, daß hier kein Abgeordneter dieses Hauses dieser Methoden bezichtigt wird.
Nun, meine Damen und Herren, unterbreche ich die Sitzung bis 14 Uhr.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Zu der Debatte des heutigen Vormittags möchte der Vorsitzende der Fraktion der SPD, Herr Dr. Vogel, eine Erklärung abgeben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe heute vormittag in meiner Rede ausgeführt, Herr Minister Stoltenberg habe gestern behauptet, das Durchschnittseinkommen eines Facharbeiters liege bei 65 000 DM. Das entsprach meiner akustischen Erinnerung an die gestrigen Verhandlungen.
Inzwischen liegt das gedruckte Protokoll vor. Ich habe Einsicht genommen und festgestellt, daß Herr Minister Stoltenberg nicht die Facharbeiter schlechthin, sondern — das sind die entscheidenden Worte — die Facharbeiter in der Mineralölindustrie gemeint hat.
Ich habe mein Bedauern über den Irrtum, der mir unterlaufen ist, Herrn Stoltenberg gegenüber bereits zum Ausdruck gebracht. Ich möchte das hier vor dem Plenum wiederholen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedaure, daß der Bundeskanzler entgegen der Absprache nicht hier ist. Er will doch sicher gern hören, was wir zu seiner verkappten Regierungserklärung zu sagen haben.
Ich möchte nun zu dieser verkappten Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum Honecker-Besuch nicht Zusätzliches sagen; Jochen Vogel hat diesen Besuch bereits positiv gewürdigt.Ich will aber zwei Bemerkungen hinzufügen. Wir haben heute morgen aus der Presse entnommen, daß sich der Bundeskanzler und auch Frau Kollegin Wilms in der Unionsfraktion wegen des Empfangs, den sie dem Staatsoberhaupt der DDR bereitet haben, den Vorwurf der Würdelosigkeit eingehandelt haben. Wir möchten als Sozialdemokraten erklären, daß wir diesen Vorwurf gegenüber Kanzler und Kabinett für ungerecht halten und ihm entgegentreten werden, wo wir ihn hören. Wir halten ihn für falsch.
Ich möchte einen zweiten Satz hinzufügen, auch an Sie gerichtet, Herr Außenminister. Ich bin der Meinung, nachdem wir mit Ihnen bezüglich des Honekker-Besuchs ein großes Maß an Übereinstimmung haben, sollten Sie sich in Zukunft vielleicht etwas unverkrampfter als bisher auch die Vorschläge, die wir in diesem Bereich erarbeitet haben, ansehen und mit uns diskutieren. Sie sollten etwa den Vorschlag einer che-
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Dr. Ehmke
miewaffenfreien Zone und eines atomwaffenfreien Korridors in Mitteleuropa nicht ablehnen, nur weil das von uns kommt.Im übrigen muß ich der Regierung und auch der Führung der Unionsfraktion sagen, daß mir folgendes seltsam erschienen ist. Die Haushaltsdebatte ist die jährliche Generalaussprache über die Politik der Regierung. Ich habe mich gewundert, daß Sie den Honecker-Besuch ausgerechnet in die Woche der Haushaltsdebatte gelegt haben, daß Sie die Haushaltsdebatte auch nicht verschoben haben. Ich kann mir schon denken, warum; so schön ist ihr Haushalt nicht, als daß Sie das ganze Licht der Öffentlichkeit auf ihn gerichtet sehen möchten.
Herr Kollege Stoltenberg, Sie wissen, daß ich ein alter Bewunderer Ihrer technischen Könnerschaft bin. Sie machen aber in dieser Haushaltsdebatte, und nun schon seit Wochen auch draußen eine bedauernswerte Figur. Jahrelang haben Sie, als Sie in der Opposition waren, die Inanspruchnahme von Bundesbankgewinnen und die Höhe der Kreditaufnahmen kritisiert, um nun in wenigen Jahren nicht nur ein Vielfaches an Bundesbankgewinnen in Anspruch zu nehmen, sondern inzwischen auch mit der Kreditaufnahme auf Höhen zu sein, die Sie früher vollmundig kritisiert haben. Und dabei haben Sie für die Lösung der Sachprobleme nicht viel geleistet.Herr Bundeskanzler, ich darf noch einmal auf Ihre Meinungsverschiedenheit mit Jochen Vogel über die Lage in unserem Land zurückkommen. Wir haben viele Menschen in diesem Land — Sie haben Sie vermehrt —, die nichts zu leisten brauchen, sondern hohe Einkommen leistungslos beziehen. Die haben Sie gefördert. Aber wir haben leider 2,2 Millionen Arbeitslose, die nichts leisten dürfen, obwohl sie gerne leisten möchten und die darunter mit ihren Familien leiden.
Ich wundere mich, wie Sie diese Zahl bagatellisieren können, Herr Bundeskanzler.Wir haben außerdem im Augenblick 1,2 Millionen Haushalte, die von der Sozialhilfe abhängig sind, also unter dem Existenzminimum leben und deshalb öffentliche Hilfe brauchen, 1,2 Millionen Haushalte, nicht Personen. Aber Sie machen eine Steuerreform, in der Sie den Gutverdienenden — auf gut Deutsch gesagt — noch den Hintern vergolden. Ihre Weitsicht, Herr Bundeskanzler, beruht darauf, daß Sie nach dem Prinzip verfahren: „Denn man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht." Sie sind eine Regierung der Reichen. Wer wie Sie 2,2 Millionen Arbeitslose mit ihren Familien und 1,2 Millionen Sozialhilfeempfängerhaushalte als Bagatelle hinstellen kann, hat eine falsche Sicht der Dinge.
Ich verstehe, Herr Kollege Stoltenberg — um auf Sie zurückzukommen — , daß es natürlich nicht schön ist, wenn es, nachdem man so lange von der „Erblast"geredet hat, jetzt zurücktönt, „Dr. Schuldenberg" statt „Dr. Stoltenberg".
Ich will mich daran nicht beteiligen. Ich bin der Meinung, wird sind dabei, in der Staatsschulddebatte das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ich jedenfalls halte es mit Lorenz von Stein, der einmal gesagt hat: Ein Staat ohne Staatsschuld tut entweder zuwenig für seine Zukunft oder er überfordert seine Gegenwart. Wir streiten nicht über die Staatsschuld als solche, sondern über die Frage der Höhe und der Verwendung.
Das Beispiel Stoltenberg zeigt, daß technischer Fiskalismus, so gekonnt er ist, eben noch kein finanzpolitisches oder gar wirtschaftspolitisches Rezept ist. Daß Sie die Streichungen zur Konsolidierung des Haushaltes nach Art sozialer Herrenmenschen auf Kosten der Schwachen vorgenommen haben, werden wir nicht aufhören, Ihnen vorzuwerfen. Finanzpolitisch ist zu sagen: Hätten Sie rechtzeitig eine aktive Politik zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit betrieben, brauchten Sie heute nicht die Kredite aufzunehmen, mit denen Sie die entstandenen Löcher im Haushalt noch nicht einmal schließen können. Das haben hier Hans Apel und unsere weiteren Redner eingehend vorgeführt.Herr Bundeskanzler, Ihre Finanzplanung hängt in der Luft und damit auch Ihre Steuerpolitik, Agrarpolitik, Kohle- und Stahlpolitik. Es stimmt finanziell nicht, was Sie vorlegen. Und darum stimmt es auch in der Sache nicht. Ihren Ankündigungen können wir keinen Glauben schenken. Was Sie hier als Haushaltsbuch vorlegen, gleicht teilweise einem politischen Offenbarungseid. Die Zahlen dieses Haushalts machen die Diskrepanz zwischen Worten und Taten, auch den Worten, die Sie hier heute noch einmal gesprochen haben, Herr Bundeskanzler, deutlicher, als Oppositionsreden es können. Besonders deutlich wird das am Verteidigungshaushalt, auf den meine Freunde noch im einzelnen zurückkommen werden.Der Haushaltsentwurf 1988, Herr Kollege Wörner, und die mit ihm verbundene Finanzplanung bestätigen das Urteil von uns Sozialdemokraten, daß Ihre Bundeswehrplanung Makulatur ist. Langsam, Herr Wörner, beginnen Sie ja nun auch, sich mit einer Überarbeitung der Bundeswehrplanung zu korrigieren.Wenn ich die Zeichen am NATO-Horizont richtig deute, werden Sie aber nicht die Chance haben, sich den Folgen dieser Fehlplanung für die Bundeswehr durch einen Sprung nach Brüssel zu entziehen. Auch wir Sozialdemokraten sind der Meinung, es ist an der Zeit, daß ein Deutscher einmal auf den Stuhl des NATO-Generalsekretärs kommt. Aber, Herr Kollege Wörner, was Sie in der Bundeswehrplanung gezeigt haben, ist wirklich keine Empfehlung. Da in Europa nicht alle so dickfellig sind wie die CDU und sich mancher noch an die Kießling-Affäre erinnert, wissen Sie außerdem doch so gut wie ich, daß manche unserer Bündnispartner diese Nominierung sogar für eine Zumutung halten. Am kürzesten hat es der britische
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1604 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. Ehmke
„Guardian" gesagt: „Richtiges Land, richtige Zeit, richtige Stelle — falscher Mann".
Die Bundesregierung hat keine solide Planung für die Bundeswehr der 90er Jahre, weder personell noch materiell noch finanziell. Das ist durch stramme Haltung in Sicherheitsfragen, die wir von Ihnen kennen, nicht auszugleichen, auch nicht dadurch, Herr Bundeskanzler, daß das Durcheinander in der PershingSache heute noch vergrößert wird.Was soll eigentlich ein Mensch draußen denken, der Sie hier hingehen sieht und sagen hört: „Ich stehe zu meiner Erklärung" — das ist in Ordnung — und der dann Herrn Kollegen Waigel aufstehen sieht — ich hoffe, Sie haben die Stelle nachgelesen — und ihn das Gegenteil sagen hört
— ich habe das nachgelesen — , nämlich die CSU bliebe bei der Faustpfandtheorie, das sei etwas, was nicht im Mittelstreckenbereich, sondern später zu verrechnen sei? Was soll man eigentlich davon halten, wenn in derselben Debatte der Kanzler hü sagt und die CSU hott? Mich interessiert Ihr Koalitionsstreit persönlich nicht — aber so kann man Außenpolitik nicht machen.Herr Bundeskanzler, Herr Außenminister und Herr Waigel, der nächste Streit steht doch vor der Haustür. Sie sagen mit Recht — wir stimmen Ihnen darin zu — : Wir wollen nun auch über die Kurzstreckenraketen verhandeln. Kollege Rühe hat ja dieses schiefe, aber gut gemeinte Wort erfunden: Je kürzer die Raketen, desto töter die Deutschen. Nur frage ich Sie: Können Sie mir, wenn das so wichtig ist, einmal erklären, warum Sie bis heute keinen Vorschlag vorgelegt haben?Die Kampflage ist die: Die Sowjetunion hat ihre Bereitschaft erklärt, darüber zu verhandeln. Herr Honecker hat Ihnen und uns bei seinem Besuch erklärt, man sei für eine dritte Null-Lösung. Und was kommt von Ihnen? Nichts, Herr Außenminister. Auf keiner der Verhandlungsebenen gibt es einen Vorschlag zur Lösung des Problems, das Sie selbst als das dringlichste bezeichnen.
Herr Ronneburger, ich will Ihnen sagen, warum es so ist: erstens weil die Meinungen im westlichen Bündnis auseinandergehen — das hat Herr Rühe ja lange genug durch die Zeitungen gezogen; vielleicht etwas übertrieben, wie uns die Freunde in London und Paris sagen, und zweitens weil wir in der Union hier den gleichen Streit haben wie bei der Pershing I a: Die einen sind für Aufrüstung, die anderen sind für Abrüstung.Dem Kollegen Waigel empfehle ich — weil er hier über die Lagebeurteilung gesprochen hat — , einmal nach Washington zu gehen und sich dort von den Institutionen, die für sicherheitspolitische und außenpolitische Lageanalysen zuständig sind, auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Ich habe gehört, HerrKollege Wimmer war neulich dort. Er war ganz enttäuscht über die Zahlen, die er dort zu hören bekommen hat. Aber, ich finde, es ist besser, Sie passen Ihre Ideologie den Zahlen an, als die Zahlen zu frisieren nach dem, was Sie sicherheitspolitisch gerne hören möchten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ronneburger?
Mit Vergnügen.
Herr Kollege Ehmke, ist Ihnen bekannt, daß wir zu jeder Zeit gesagt haben, die Doppel-Null-Lösung bei Mittelstreckenraketen längerer und kürzerer Reichweite ist der erste Schritt, dem logischerweise die Abrüstung bei Kurzstreckenraketen — übrigens auch unter 150 km Reichweite — folgen muß?
Ist Ihnen bekannt, daß auch Herr Honecker — er wird Ihnen gegenüber nichts anderes gesagt haben als Herrn Mischnick und mir gegenüber — auf diesem Standpunkt steht, daß auf diesem Gebiet ebenfalls Abrüstung erfolgen muß?
Herr Kollege Ronneburger, das sind Ihre Worte. Nur, es gibt keine Taten. Und damit es ganz klar ist: In Wien ist der westliche Mandatsvorschlag so gebaut, daß die konventionellen Waffen drin sind, daß die atomare Artillerie drin ist; übrigens auch kombinierte Systeme, über die man angeblich gar nicht verhandeln darf. Dort sind sie drin. Nur, was fehlt — und zwar im Gegensatz zum östlichen Vorschlag — , das sind die nuklearen Kurzstreckenraketen. Sie reden darüber, aber es gibt bis jetzt keinen westlichen Vorschlag auf dem Verhandlungstisch, noch nicht einmal eine westliche Antwort auf das sowjetische Angebot. Ich weiß, das liegt nicht allein an den Schwierigkeiten in der Union, sondern auch an den Schwierigkeiten im Bündnis. Aber ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler: Ich sehe schon, daß Sie hier in eine ähnliche Krampfsituation kommen, wie bei der Pershing I a.
— Herr Rühe, gerne, aber ich muß vorher vom Präsidenten das Versprechen kriegen, daß mir das nicht alles angerechnet wird.
Sonst gehen Sie unbelehrt nach Hause; das kann ich nicht zulassen.
Wenn das so weitergeht, werde ich Ihnen die Zeit nicht anrechnen. Bei 30 Minuten Redezeit wäre es sonst kaum möglich, seine Gedanken darzulegen.
Herr Kollege Ehmke, nur ganz kurz: Wären Sie denn bereit, die Sowjetunion heute aufzufordern, durch eine einseitige Abrüstung ihre
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1605
Rühe1 400 Systeme, die sie mit einer Reichweite von unter 500 km hat, auf das zu reduzieren, was es auf der westlichen Seite gibt, nämlich 80 Systeme? Sind Sie dazu bereit, die Sowjetunion zu dieser Abrüstung aufzufordern?
Aber Herr Rühe, Sie wissen doch, daß wir weiter gehen. Wir sind auch auf diesem Gebiet für eine Null-Lösung. Da die Sowjetunion viel mehr hat als wir, ist das wieder asymmetrisch. Das ist wie bei den Mittelstreckenraketen: Auch hier muß die Sowjetunion das Vielfache dessen abbauen, was wir haben. Das haben wir den Sowjets gesagt. Sie wissen, daß wir das den Sowjets gesagt haben. Also was soll die Frage?
Sie weichen der Frage aus. Darf ich noch einmal fragen: Sind Sie bereit, hier heute die Sowjetunion aufzufordern — dazu brauchen wir keine Verhandlungen — , auf das Maß zurückzugehen, das es heute schon auf der westlichen Seite gibt?
Ich möchte der Sowjetunion nicht einmal die Stückzahlen lassen, die wir auf westlicher Seite haben, schon weil ich Sie nicht in der Situation lassen will, dann wieder mit Modernisierungsprogrammen anzufangen. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: —
die FDP hat erklärt, im Kurzstreckenbereich sei mit ihr eine Modernisierung nicht zu machen — : Bringen Sie die Koalition und dieses Haus durch Ihren Zank nicht noch einmal in eine Situation,
in der der Bundeskanzler nachts einen kühnen Entschluß fassen muß,
um aus dieser Krise wieder herauszukommen. Wir sind für Null und haben das den Sowjets gesagt. Das ist die Logik der Verhandlungen, wie wir das gemacht haben — damit das ganz klar ist.
Herr Kollege Wörner, eines verstehe ich beim Haushalt nicht. Sie gehen in die NATO, erklären dort nochmals, wir werden den Verteidigungsetat um 3 % real jährlich erhöhen, obgleich Sie wissen, daß Sie noch nicht einmal genügend Kröten haben, um Ihr bisheriges Programm durchzuführen. Dafür sorgt schon Herr Kollege Stoltenberg, weil wir eben eine schlechte finanzpolitische Situation haben.Was die Anstrengungen um Entspannung betrifft — das zweite Stück der Harmel-Doktrin neben den Anstrengungen um Verteidigung — , so können eben auch Slogans wie „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" nicht Initiativen auf diesem Gebiet ersetzen. Ich fordere Sie auf, wenn das mit den Kurzstrekkenraketen so wichtig ist, einen deutschen Vorschlagauf den Tisch der NATO und dann in Wien zu legen.Aber Politik ist in dieser Regierung nicht sehr gefragt. Die Politik im Bündnis ist halbherzig. Die Politik gegenüber Frankreich ist widersprüchlich. Der Bundeskanzler hat z. B. noch nicht erklärt, was auf die Dauer das Verhältnis integrierter deutsch-französischer Verbände — ob sie Brigaden heißen oder nicht — , zur NATO-Integration sein soll. Unsere Politik gegenüber der Sowjetunion ist so konfus wie die außenpolitische und sicherheitspolitische Diskussion in den Unionsparteien.Da wir das mit großer Sorge sehen, haben Ihnen Willy Brandt und andere Sozialdemokraten vor der Wahl, in der Wahl und nach der Wahl vorgeschlagen, ob wir uns nicht doch einmal zusammensetzen, um in Schlüsselfragen der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik zu gemeinsamen Überlegungen zu kommen. Dieser Vorschlag, Herr Bundeskanzler, entspringt nicht nur dem Wunsch nach einer vernünftigen Außen- und Sicherheitspolitik, für ihn gibt es auch strukturelle Gründe. Wenn es wahr ist, daß viele Fragen — übrigens nicht nur in der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik — heute nur noch im europäischen Rahmen entschieden werden können, brauchen wir einen europäischen Konsens. Der muß aber nicht nur über Länder-, der muß auch über Parteigrenzen hinausgehen. Denn Europa wird nie unicolor sein. Wir werden immer Regierungen verschiedener Couleur in Europa haben. Darum bin ich der Meinung, wir müssen das versuchen.Wenn man das Gerangel der Regierungen in der Europapolitik sieht, muß man Zweifel haben. Wenn ich z. B. Ihre praktische Europapolitik mit Ihren hehren Worten von heute vormittag vergleiche, Herr Bundeskanzler, dann kann ich das Lachen nur mühsam unterdrücken. Frau Wieczorek-Zeul wird darauf noch eingehen. Doch mit dem europäischen Konsens ist es wie mit der „charity" : It begins at home. Wenn wir hier nicht selbst anfangen, können wir es von anderen Leuten in Europa nicht verlangen.Zu dem Problem, das wir in Europa in Grundfragen zu einer parteiübergreifenden Übereinstimmung kommen müssen, wenn wir weiterkommen wollen, kommt ein strukturelles Problem hinzu. Wir kommen mehr und mehr zu Aufgaben, deren Planungs- und Entscheidungszeitraum weit länger ist als eine Legislaturperiode. Da kann man nicht bei jedem Regierungswechsel das Steuer herumwerfen. Auch dies spricht dafür, den ernsthaften Versuch zu machen — es wird immer noch genügend Unterschiedliches übrigbleiben — , in Grundfragen zu einer Übereinstimmung zu kommen und damit das Gewicht der Bundesrepublik zu stärken.Und praktisch gesprochen — von Ihrer verheerenden Mentalität des „Weiter so " und des Laufenlassens einmal abgesehen — : Glaubt denn wirklich irgend jemand in der Union, daß Sie ohne die Sozialdemokraten und ohne die Gewerkschaften mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit und mit der Reform der Sozialversicherung oder des Gesundheitswesens fertig werden können?
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1606 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. Ehmke
Gilt das gleiche nicht für die Energiepolitik, die Agrarpolitik, die ganze Europapolitik? Gilt es nicht vor allem auch, Herr Kollege Wörner, für die langsam nun auch von Ihnen eingesehene Notwendigkeit, die Bundeswehr umzustrukturieren? Gilt es nicht vor allem für Schlüsselfragen der Außen- und Sicherheitspolitik?Ich rede nicht über eine große Koalition. Ich bin ganz dagegen. Ich rede auch nicht über eine ganz große Koalition, sondern ich rede darüber, was uns Vernunft und Verantwortung in dieser Situation gebieten. Ich bin der Meinung, Sie sollten darüber doch einmal ein bißchen mehr nachdenken.Herr Bundeskanzler, uns ist nicht entgangen, daß Sie heute morgen, aber zum Beispiel auch in Ihrer Rede hier am 4. Juni ebenfalls den Wunsch nach Gemeinsamkeit ausgedrückt haben. Willy Brandt hat Ihnen ganz in dem Sinne geantwortet, wie ich es hier noch einmal dargestellt habe.Die Praxis sieht aber ganz anders aus, z. B. so: In der Debatte über die Regierungserklärung Mitte März habe ich dem Hohen Hause im Namen meiner Fraktion den Vorschlag für eine gemeinsame europäische Initiative gemacht. Ich habe auf die Situation in den beiden Großmächten, besonders in der Sowjetunion unter Gorbatschow hingewiesen und folgendes gesagt:... wir haben die Pflicht, in dieser Situation mit eigenen Konzepten, mit eigenen Initiativen zu antworten ... ist jetzt die Stunde, in der wir mit unseren westeuropäischen Partnern die Kraft zum Handeln entwickeln müssen ... Wir brauchen eine europäische Initiative. Und wir brauchen sie ... mit einem überparteilichen Ansatz ... Ein Anstoß muß gerade aus unserem Lande kommen. Ohne eine aktive Rolle der Bundesrepublik kann eine solche Initiative nicht Boden gewinnen.Wir schlagen vor, eine solche Initiative jetzt zu unternehmen.Ich habe dann dargelegt, was die Ziele einer solchen Initiative sein könnten, und mit den Worten geschlossen: Voraussetzung für die Erreichung dieser Ziele ist gemeinsames außenpolitisches Handeln auf möglichst breiter Grundlage. — Wir sind dazu bereit.Nach der Bundestagsdebatte haben wir — deutsch und gründlich wie wir sind — den Text unseres Vorschlags noch einmal den anderen Bundestagsfraktionen zugestellt und vorgeschlagen, darüber Gespräche zu beginnen.Die Reaktionen des Bundesaußenministers und der FDP-Fraktion waren positiv. Herr Ronneburger, Sie sind etwas dahinter zurückgeblieben, aber das mag mit der beabsichtigten Koalitionsbildung in Schleswig-Holstein zu tun haben. Sie marschieren da etwas hinter der Front.Herr Wörner sucht dagegen noch — also seit etwa einem halben Jahr — nach einem Termin, um mit mir zu sprechen, und Herr Rühe als außenpolitischer Sprecher wußte nicht so recht, ob er durfte oder ob er sollte. Jedenfalls nahm er Anstoß an folgendem Satz in unserem Papier:Die Heftigkeit vergangener Kontroversen hat verdeckt, daß es in diesem Hause sehr wohl noch eine breite Gemeinsamkeit in Fragen der Friedenspolitik, der Entspannung und der Abrüstung gibt — mit Ausnahme des Stahlhelmflügels der Union und der Fundamentalisten bei den GRÜNEN.Besonders beanstandet hat der Kollege Rühe das Wort „Stahlhelm" , obwohl dieser Begriff bekanntlich aus den eigenen Reihen der Union stammt mit dem Patent bei Johnny Klein. Herr Kollege Rühe, ich kann mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß die außenpolitische Zerrissenheit der Union inzwischen auch von Ihrer werten Person Besitz ergriffen hat.Offenbar sind auch die GRÜNEN nicht in der Lage, sich zu einigen. Auch von denen haben wir bisher keine Antwort. Welch seltene Duplizität der Ereignisse!
— Im Augenblick nicht. Sie kommen noch dran.
Lassen Sie mich das zu Ende ausführen.Da uns die Sache einer breiten Mehrheit in Grundfragen der Außenpolitik sehr wichtig ist, habe ich mich von diesen Reaktionen nicht entmutigen lassen. Ich habe vielmehr dem CDU-Generalsekretär vorgeschlagen, uns einmal zusammenzusetzen. Wir haben das getan und haben uns ausgiebig unterhalten. Ich habe ihm noch einmal den Text unseres Vorschlages gegeben. Und er hat mir zugesagt, er werde die Frage mit dem Bundeskanzler und Vorsitzenden der CDU besprechen und mir bis Ende der Sommerferien Bescheid geben.
Noch bevor er das aber getan hat, hat er öffentlich erklärt, eine Gemeinsamkeit mit der SPD in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik komme nicht in Frage. Ein anderer Sprecher der Union, Herr Bötsch, Ihr Fraktionskollege Biehle, hat vorige Woche hier im Hohen Hause dem Sinne nach etwa gesagt: Um Gottes willen, das sei von uns; da kriegen wir ja die Krätze, wenn wir mit den Sozis über eine gemeinsame Außenpolitik reden. So gut, so schlecht.Wir stellen vor der deutschen Öffentlichkeit fest: Die Union hat das Angebot der SPD zur Gemeinsamkeit in Grundfragen unseres Volkes einmal mehr abgelehnt.
Sie ist offenbar außen- und sicherheitspolitisch so zerrissen, daß sie nicht wagt, auf dieses Angebot einzugehen, weil das sofort zu Streitigkeiten in der Union und in der Koalition führen würde.
Aber das ändert nichts daran — Herr Kollege — , daßSie Ihre Weigerung, unser Angebot anzunehmen, vor
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1607
Dr. Ehmke
dem deutschen Volk und vor der deutschen Öffentlichkeit politisch verantworten müssen.
Verehrte Kollegen, wo wir schon bei Geißler waren: Sie müssen den Versuch, in diesen Fragen zu Gemeinsamkeit zu kommen, auch in Zusammenhang mit den Entwicklungen im Wählerverhalten und der Parteienstruktur sehen, die dem Kollegen Geißler so große Sorgen um die Union machen: das Abschmelzen des Stammwählerpotentials der beiden großen Parteien, die Tatsache, daß die Union nicht mehr und die SPD noch nicht mehrheitsfähig sind, die Möglichkeit einer Weiterentwicklung unseres Parteiensystems zu einem echten Fünf- statt seiner Rückentwicklung zu einem Dreiparteiensystem.Nun scheint der Kollege Geißler zu glauben, daß sich die daraus für die Union ergebenden Probleme mit Kampagnen nach dem Motto „Näher, mein Unionsvolk, zur SPD" überwinden ließen. Ich halte das für einen Irrtum. Der Kollege Geißler hat der Union damit eine sogenannte Strategiedebatte beschert, die ich Ihnen von Herzen gönne, da sie Ihnen nicht nützen wird.Aber wenn ich den Kollegen Geißler und die verehrten Kolleginnen und Kollegen von der CDU bitten darf
— gerade Sie fordere ich jetzt auf, vielleicht können Sie es, ich weiß es nicht —, den Blick einmal über den parteipolitischen Tellerrand zu heben, dann könnten Sie vielleicht erkennen, daß es richtig ist, wenn ich sage: Ein ernsthafter Versuch, zu Gemeinsamkeit der Demokraten in politischen Grundfragen zu kommen, wäre eine weit angemessenere und erfolgversprechendere Antwort auf die Gefahr, daß die Zerrissenheit der Union und der Koalition uns in immer größere Handlungsunfähigkeit bringt.
— Beim Theater um die Kurzstreckenraketen sprechen wir uns wieder, Herr Dregger. — Eine gemeinsam getragene aktive und berechenbare Außen- und Sicherheitspolitik würde der Bundesrepublik in einer entscheidenden Phase der Weltpolitik zusätzliches Gewicht geben.
Herr Kollege Dregger, wir machen diesen Vorschlag im Interesse unseres Landes. Aber ich verhehle gar nicht: Wir machen ihn auch aus Eigennutz;
denn wir sind keine Sonthofener Katastrophendrescher. — Ein Katastrophendrescher ist eine CSU-Steigerung des Phrasendreschers. — Das sind wir nicht. Vielmehr möchten wir dieses Land nicht durch die Zerrissenheit und die sich daraus ergebende mangelnde Handlungsfähigkeit der konservativen Koalition weiter und weiter geschwächt sehen, bevor wir selbst wieder die politische Führung und Verantwortung für dieses Land übernehmen.Darum noch einmal ein Wort an den Bundeskanzler und den Kollegen Helmut Kohl, der gerade unter den Abgeordneten sitzt. Herr Bundeskanzler, wir würden auf unser klares Angebot — ich spreche nicht nur für mich, sondern ich spreche auch für Willy Brandt, Jochen Vogel und alle, die dieses Angebot nun mehrfach vorgetragen haben — von Ihnen nun gerne einmal eine klare Antwort haben, obwohl wir wissen, daß Ihnen klare Antworten besonders schwerfallen.Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn die Bundesrepublik wirklich ein so trauriges Land mit einer so traurigen Politik wäre, wie Sie es jetzt gerade geschildert haben, Herr Professor Ehmke, dann wollte ich hier wirklich nicht leben. Aber es ist glücklicherweise ganz anders. Es geht den meisten unserer Bürger — natürlich mit Ausnahmen, das will ich nicht verkennen — wesentlich besser als noch vor wenigen Jahren unter Ihrer Regierungsverantwortung.
Das verdanken wir einer guten Regierung, und die wollen wir fortführen.
Herr Professor Ehmke, Sie haben in der Europadebatte dieses Jahres, aber auch heute wieder eine gemeinsame europäische Initiative angeregt. Eine solche Initiative wäre in der Tat zu begrüßen, wenn darunter der Wille zur Rückkehr zu gemeinsamen Positionen, wie sie früher einmal bestanden haben, zu verstehen wäre. Aber wenn Sie mit der SPD, wie mir scheint, lediglich versuchen wollen, unsere Zustimmung zu Ihrer Nebenaußenpolitik zu erhalten, dann wird das mit uns nicht zu machen sein.
Wenn Sie sich heute in Ihrer Rede zum Anwalt der Bundeswehr und unserer Verteidigungskraft machen, dann möchte ich Sie doch bitten, einmal zu überlegen, wie oft Sie und Ihre Fraktion Streichungsanträge zum Verteidigungshaushalt gestellt haben.
Wenn wir all dies berücksichtigt hätten, dann wäre unsere Bundeswehr heute nicht mehr verteidigungsfähig.
Nun aber zur Außenpolitik, zu meinem heutigen Thema. Wohl und Wehe der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer besonderen geostrategischen Lage hängen wie selten anderswo auf der Welt von den außenpolitischen Gegebenheiten und von den außenpolitischen Ereignissen ab. Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl hat es einmal so formuliert: „Die Mittellage Deutschlands war Versuchung und Verhängnis gleichermaßen. " Diese geschichtlichen Zusammenhänge sind uns heute bewußter denn je; denn die
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1608 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Frau GeigerKoordinaten der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, die uns durch unsere jüngere Geschichte und durch die neuesten Entwicklungen vorgegeben sind, sind für uns ganz gewiß nicht einfacher geworden.Die Bundesrepublik Deutschland einschließlich ihres freiheitlichen Vorpostens Berlin liegt an der Trennungslinie zwischen Ost und West, an der Trennungslinie zwischen Kommunismus und einem freiheitlichen System. Diese Trennungslinie teilt nicht nur Deutschland und ganz Europa, sie zwingt auch das deutsche Volk gegen seinen Willen, in zwei Staaten zu leben. Wir tun gut daran, gerade in diesen Tagen diese bittere Wahrheit nicht aus den Augen zu verlieren.
Wir leben hier im freien Teil unseres deutschen Vaterlandes. Wir haben die Möglichkeit, nach bestem Wissen und Gewissen auch die Interessen unserer Landsleute jenseits der innerdeutschen Grenze zu vertreten. Diese im Grundgesetz verankerte Rechtspflicht ist zugleich die innere Legitimation für unsere Bemühungen um Dialog, um sachliche Verständigung, um Erleichterungen zugunsten der Bürger in beiden deutschen Staaten. Wir werden uns nicht davon abbringen lassen, für das deutsche Volk das zu fordern, was nach der Charta der Vereinten Nationen allen Völkern zusteht, nämlich das Recht auf Selbstbestimmung. Die deutsche Frage offenzuhalten heißt, in der Welt um Verständnis für das Recht und den Wunsch der Deutschen nach individueller und nationaler Selbstbestimmung zu werben.Die erste, wenn auch langfristige Hauptaufgabe der deutschen Außenpolitik ist es, die Teilung Deutschlands und Europas schrittweise und friedlich zu überwinden und den trennenden Charakter dadurch zu mildern, daß die Menschenrechte auf beiden Seiten beachtet werden. Daran hat der Bundeskanzler beim Besuch von Herrn Honecker und auch heute wieder unmißverständlich erinnert. Dies werden wir mit Nachdruck auch weiterverfolgen.
Der Rückhalt bei unseren Partnern im freien Teil Europas ist dabei eine Grundvoraussetzung. Der europäische Einigungsprozeß im Namen der EG hat Modellcharakter für ein ganzes, geeintes Europa. Er beweist, daß trotz mancher Rückschläge, z. B. auf dem Agrarsektor, Aussöhnung und gleichberechtigte Partnerschaft zum Vorteil aller möglich sind. Nur wenn Europa mit einer Stimme sprechen lernt, wird es die ihm gebührende Rolle in der Welt einnehmen und gleichberechtigter Partner der USA werden können. Nicht zuletzt die Abrüstungsbeschlüsse der letzten Zeit haben uns dies ganz drastisch vor Augen geführt.Im Schnittpunkt des Ost-West-Gegensatzes gelegen, ist es für uns wesentlich und lebenswichtig, den Frieden in Freiheit, in dem die Bürger in der Bundesrepublik seit Ende des Zweiten Weltkrieges leben können, zu sichern und zu erhalten. Wir können auseigener Kraft unsere Sicherheit nicht gewährleisten; denn uns gegenüber steht die konventionell und nuklear hochgerüstete Weltmacht Sowjetunion.
Trotz der gegenwärtigen Reformbedingungen, trotz einer gewissen Auflockerung, die ich gar nicht verniedlichen möchte, in den Ost-West-Beziehungen sehe ich keine Anzeichen, daß sich in der expansiven Zielsetzung der sowjetischen Außenpolitik etwas Grundlegendes geändert hätte.
Unsere Bedrohungen bestehen fort.
Die Funktionsfähigkeit des Atlantischen Bündnisses ist unsere Lebensversicherung. Die Pflege der Bündnisbeziehungen zwischen Europa und Nordamerika ist daher für uns lebenswichtig. Als Außen- und Sicherheitspolitiker haben wir uns an die Fakten zu halten. Tatsache ist nun einmal, daß der militärische Machtaufbau der Sowjetunion auch unter Gorbatschow bisher ungebrochen weitergeht. Auch nach den Beschlüssen zur doppelten Null-Lösung hat die sowjetische Führung durch die zahlenmäßige Überlegenheit der Sowjetunion bei fast allen Waffengattungen Spielräume, die sie nutzen kann, ohne von ihrer bisherigen Machtpolitik abrücken zu müssen. Nach den Entscheidungen von Reykjavik geht es darum, die NATO-Politik so zu beeinflussen, daß unser Land nicht eines Tages die Hauptlast eines hohen Risikos für Menschen und Land tragen muß.Vor diesem Hintergrund müssen wir uns Gedanken über ein umfassendes Abrüstungskonzept machen, das die Raketen unter 500 km Reichweite, die konventionellen und die chemischen Waffen umfaßt und das unsere Sicherheit auf die gleiche Stufe wie die unserer Partner stellt.Als exponiertester Bündnispartner muß unsere Strategie auf die Verhütung jeden Krieges in Europa — eines nuklearen wie eines konventionellen — ausgerichtet sein; denn auch ein ausschließlich konventioneller Krieg in Europa würde die Existenz des gesamten deutschen Volkes aufs Spiel setzen.
Unser Wohlstand und unsere soziale Stabilität hängen zu einem erheblichen Anteil von außenpolitischen Vorgängen ab. Die Leistungskraft der deutschen Wirtschaft setzt einen gut funktionierenden offenen Weltmarkt voraus. Wir sind gleichermaßen auf Rohstoffeinfuhren wie auf die Ausfuhr hochwertiger technologischer Güter angewiesen. Deshalb sind wir auch durch nahezu jede krisenhafte Entwicklung in der Dritten Welt in unseren eigenen Interessen direkt betroffen, ob es sich nun um das südliche Afrika, um den Persischen Golf oder um Mittelamerika handelt.Die Expansion der sowjetischen Machtpolitik in neue Räume in Asien, Afrika und Zentralamerika hat die Krisensituation natürlich nicht entschärft. Die anhaltende Besetzung Afghanistans durch sowjetische Truppen und die Okkupation Kambodschas durch Vietnam sind gravierende Beispiele dafür. Die Menschenrechtsverletzungen in diesen beiden Ländern
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1609
Frau Geigersollten wir neben denen auf dem Kriegsschauplatz Iran— Irak ganz gewiß nicht außer acht lassen.
Auf allen von mir bisher angesprochenen Feldern der deutschen Außenpolitik hat die Koalition eine Erfolgsbilanz aufzuweisen, die sich sehen lassen kann. Niemand kann bestreiten, daß das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen in den letzten Jahren gewachsen ist. Dem Geschick des Kanzlers und seiner Bundesregierung ist es zu verdanken, daß dies mit einer wachsenden Kooperation mit den Staaten in Mittel- und Osteuropa einherging. Auch unser bayerischer Ministerpräsident hat da einen sehr wertvollen Beitrag geleistet.
Diese Zusammenarbeit ist breiter geworden. Sie beschränkt sich nicht nur auf den wirtschaftlichen und auf den technologischen Bereich. Wenn in Kürze mit Ungarn die Einrichtung des ersten echten Kulturinstituts der Bundesrepublik Deutschland in einem Land des Warschauer Pakts vereinbart werden kann, dann werden hier ganz neue Perspektiven der Zusammenarbeit aufgezeigt. Das ist ein weiterer neuer wichtiger Weg.
Der Osten kann dem Thema Menschenrechte heute nicht mehr ausweichen. In den Ländern des Warschauer Pakts — in einigen mehr als in anderen — liegt noch vieles im argen, aber, wie gesagt, der Osten kann sich dem Thema Menschenrechte nicht mehr entziehen. Der KSZE-Rahmen muß von uns hierfür voll ausgeschöpft werden, und wir sind zuversichtlich, daß das laufende Wiener KSZE-Folgetreffen hier auf Grund der Bemühungen der Bundesregierung Verbesserungen bringen kann.In der Europäischen Gemeinschaft sind wir ein ganz entscheidendes Stück vorangekommen. Mit dem fristgerechten Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte bietet sich zum erstenmal die Chance eines die gesamte Europäische Gemeinschaft umfassenden Binnenmarktes. Davon versprechen wir uns Impulse, die dem Aufschwung vergleichbar sind, die damals die Römischen Verträge ausgelöst haben. Mehr noch: Europa wird erkennen müssen, daß zu seiner Identität auch eine sicherheitspolitische Komponente gehört.
Auch hier ist die bewährte deutsch-französische Zusammenarbeit wieder Motor des Ganzen gewesen. Die Initiative von Bundeskanzler Kohl zur Schaffung einer gemeinsamen deutsch-französischen Brigade ist dabei ein zukunftsweisender Gedanke.
Unsere Bündnisbeziehungen sind wieder fest. Das Zwielicht, in das sie durch den Schlingerkurs der SPD-Regierung anfang der 80er Jahre geraten waren, hat einer umfassenden vertrauensvollen Zusammenarbeit Platz gemacht. Dies hat den Boden bereitet für die sowjetische Rückkehr an den Verhandlungstisch und hat die Ergebnisse, die sich jetzt abzeichnen, erst möglich gemacht.
Unser Land, dessen Existenz so sehr von außenpolitischen Faktoren abhängt, würde allerdings sehr viel besser fahren, wenn die Grundlinien der Außenpolitik zwischen Regierung und Opposition unstreitig wären. Wir, die CDU/CSU, haben uns als Opposition an diese Maxime gehalten und damals wesentliche Teile der Außen- und Sicherheitspolitik mitgetragen. Am Schluß haben wir sie allein getragen. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben jedoch seit der Bonner Wende im wesentlichen Obstruktionspolitik betrieben.
Seit Sie sich 1982/83 in Raten aus dem von Ihnen mit herbeigeführten NATO-Doppelbeschluß davonstahlen, haben Sie immer wieder Positionen eingenommen, die nur aus der Übernahme von sowjetischen Positionen bestanden haben.
Sie haben mit der SED und anderen kommunistischen Staatsparteien formelle Verhandlungen geführt und sind mit dieser Nebenaußenpolitik der Bundesregierung in den Rücken gefallen.
Dieses Techtelmechtel, insbesondere mit der SED, schadet unseren deutschen Interessen, wie sie im Grundgesetz festgelegt sind.Während von SPD und GRÜNEN fast alles, was aus Moskau kommt, beklatscht wird, wurden oft genug amerikanische Vorschläge und Initiativen in Bausch und Bogen abqualifiziert. Jüngstes Beispiel ist die Kritik der SPD am Engagement der USA im Persischen Golf.
Dabei müßte Ihnen doch klar sein, daß die USA dort die Freiheit der Schiffahrt garantieren, daß sie der Friedenserhaltung dienen, was für unsere export- und importabhängige Wirtschaft von vitalem Interesse ist.Viele unserer Freunde und Nachbarn beteiligen sich inzwischen an dieser Aufgabe im Golf. Der deutsche Solidaritätsbeitrag wurde von Verteidigungsminister Dr. Wörner angesprochen.
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1610 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Frau GeigerWir müssen uns überlegen, wie wir helfen können, wie wir die USA entlasten können. Man kann sich darüber unterhalten, auf welche Weise das geschehen kann, aber wir sollten es nicht bei der Ankündigung belassen.
Bei unserer Erfolgsbilanz der Außenpolitik gibt es noch ein weiteres wichtiges Feld, das ich noch ganz kurz ansprechen möchte, weil dieses Feld derzeit von meinem Vorgänger Johnny Klein betreut wird, die Entwicklungspolitik. Der Beitrag, den die Bundesregierung zur inneren und äußeren Befriedung der Dritten Welt leistet, ist in der Welt unbestritten. Wir tun dies nicht nur mit politischen und diplomatischen Mitteln, sondern mit konkreter Hilfe zum Aufbau wirtschaftlich und sozial tragfähiger Strukturen in all den Ländern, die sich darum bemühen und die gleichzeitig ihre Unabhängigkeit wahren und stärken wollen.
Die Solidarität, die die Bundesregierung bei der Renaissance der Demokratien in Lateinamerika und bei der Festigung demokratischer Verhältnisse bewiesen hat, hat breite Anerkennung gefunden, Frau Unruh.
— Sie sollten sich mal erkundigen. — Nicht mit unserer Hilfe rechnen können dagegen solche Staaten, die ihre Nachbarn destabilisieren oder gar mit Krieg überziehen
oder die die elementaren Menschenrechte unterdrücken. Deshalb können weder Vietnam noch Nicaragua, noch Chile Empfänger deutscher Entwicklungshilfe sein.
Unsere Entwicklungshilfe hat in der ganzen Welt einen guten Ruf.
Auf die Bundesregierung ist in der Dritten Welt Verlaß; sie ist ein Partner, auf den Verlaß ist.Die Bundesrepublik Deutschland ist überhaupt unter unserer Regierungszeit ein Partner geworden, auf den man sich verlassen kann. Diesen verläßlichen und berechenbaren Kurs werden wir fortsetzen. Wir werden unseren Erfolgskurs auch in den kommenden Jahren fortsetzen, auch wenn es Ihnen nicht gefällt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hensel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, als ich in diesen Tagen das „Neue Deutschland" zu Gesicht bekam. Da wird dem Bundeskanzler die Ehre erwiesen, sich im Zentralorgan der SED an die Menschen in der DDR zu wenden. Auch wenn es nur die Tischreden waren, die man hier nachlesen konte, enttäuschte es mich und sicher auch viele Leserinnen und Leser in der DDR,
mit welch dürftigen Worten dieser Bundeskanzler zu den wesentlichen Fragen der deutsch-deutschen Politik Stellung bezogen hat. Diese Beiträge haben sicher nicht die Lesbarkeit des „Neuen Deutschland" erhöht.
Im Gegenteil, sie haben sich nahtlos der üblichen Qualität angepaßt.Selten hatte diese Bundesregierung bisher die Gelegenheit, ein außenpolitisches Ereignis als innenpolitisches Jubelfest zu feiern, mit allen militärischen Ehren und allem Pomp, die nationale Empfindungen wachrufen und die mich betroffen machen und die mir sehr fremd sind.Wir GRÜNEN halten es deshalb für außerordentlich wichtig, daß hier und heute im Rahmen der außenpolitischen Debatte über die Ereignisse und die Folgen des Staatsbesuchs geredet wird, obwohl ein solcher nach den Begriffen der Bundesregierung eigentlich nicht stattgefunden hat.Diese Bigotterie ist für die verworrene Deutschlandpolitik dieser Bundesregierung und der Regierungsparteien bezeichnend,
wovon uns am heutigen Vormittag der Kollege Waigel wieder eine Hochglanzvorstellung geliefert hat.
Sprachregelungen werden als Politikersatz benutzt.
Demgegenüber steht für alle rational denkenden Beobachter dieses Besuchs fest, daß hier eine Chance besteht, einen ersten wichtigen Schritt zur Aufnahme normaler außenpolitischer Beziehungen mit der DDR zu tun. Gerade deshalb bewerten wir diesen Staatsbesuch positiv, ohne zu verkennen, daß bis zur Erreichung dieses Ziels noch viele Hürden zu nehmen sind.Gerade weil wir diesen positiven Ansatz sehen, muß die Frage erlaubt sein, was dieser Besuch an konkreten Ergebnissen gebracht hat. Ein Besuch mit welchen Folgen also?Sie werden sagen: Es sind ja drei Abkommen unterzeichnet worden. Das stimmt. Aber niemand kann aus diesen unverbindlichen Rahmenerklärungen allein positive Schlüsse ziehen. Denn bislang ist darauf verzichtet worden, klare, in die Zukunft weisende Worte zu sagen, die diese Abkommen mit Leben füllen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1611
Frau HenselWir werden abwarten, was gemeinsam für den Umweltschutz getan wird. Wir werden abwarten, ob es zu Reiseerleichterungen auch für die Berliner auf beiden Seiten der Mauer kommen wird. Wir werden auch abwarten, ob Einreiseverweigerungen der DDR gegenüber GRÜNEN und anderen Reisenden zukünftig aufgehoben werden.Morgen ist der Besuch vorbei, das Jubelfest vorüber. Die immer wieder geforderten Erleichterungen und positiven Folgen für die Menschen hat er jedenfalls nicht gebracht.
All dies zeigt uns zum wiederholten Male, daß sich die Deutschlandpolitik der Bundesregierung, vor allem der CDU/CSU, in einer Sackgasse befindet, aus der ohne eine Neuformulierung politischer Positionen mit klaren Worten keine Wendemöglichkeit besteht.
Es ist an der Zeit, realitätstüchtige deutschlandpolitische Vorstellungen zu entwickeln, die sich gegen die deutschnationalen Wiedervereinigungsforderungen hier und gegen die Beschneidung von Freiheit und Demokratie und gegen die Menschenrechtsverletzungen in der DDR richten
und die letztlich dazu dienen, den Menschen der beiden Staaten demokratische, kulturelle und soziale Freiheiten über die Staatsgrenze hinweg zu bringen.
Gerade angesichts der europäischen Entspannungs- und Friedenspolitik, die erst in dieser Sekunde in Bewegung geraten ist, erweist sich heute wieder deutlich die formulierte Deutschlandpolitik als Hemmschuh und Anachronismus.Grüne Deutschlandpolitik setzt deshalb auf eine Anerkennung der Nachkriegsrealitäten in Europa, auf eine Selbstanerkennung der Bundesrepublik Deutschland sowie auf eine Demokratisierung und Normalisierung der Beziehungen beider deutscher Staaten,
vor allem zum Nutzen der Menschen, die in diesen wohnen, leben und arbeiten.Damit sind wir offenbar im Gegensatz zu den Vorstellungen von Herrn Waigel — der leider nicht mehr anwesend ist — , für den die DDR kein Partner sein kann. Wenn diese Aussage, Herr Waigel, zu einer konsequenten Haltung der Bundesregierung führen würde, dürfte diese Regierung zu vielen Staaten dieser Erde keine partnerschaftliche Beziehung haben.
Wir GRÜNEN meinen, daß Verhandlungen über diese Fragen im Rahmen des KSZE-Prozesses geführt werden müssen, und fordern daher die Bundesregierung auf, im Herbst in der Folgekonferenz endlich tätig zu werden. Dies beinhaltet den Verzicht auf einen deutschen Nationalstaat und die AnerkennungOst-Berlins als Hauptstadt der DDR. Gleichzeitig appellieren wir an die DDR, die Bindung West-Berlins an die Bundesrepublik anzuerkennen und eine erhöhte Freizügigkeit auf allen Gebieten zwischen den beiden deutschen Staaten zuzusichern und ebenfalls eine konkrete Perspektive für den Abriß der Mauer aufzuzeigen. So stellt der Verzicht auf die Wiedervereinigung auch den wesentlichen Beitrag zu dem Weg zu einem blockfreien Europa dar, ebenso wie beide deutsche Staaten über die bloße Raketenzählerei hinaus einen wichtigen Beitrag, eine Perspektive für eine europäische Friedenssicherung leisten könnten.In der Kürze der Zeit kann nicht auf alle Fragen und Probleme der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten eingegangen werden. Aber eines ist sicher: Nicht nur die Barrieren, die die Beziehungen zwischen den Staaten erschweren, vor allem die Barrieren in den Köpfen einiger Politiker müssen endlich überwunden werden.
Ich möchte den Beratungen des Einzelplans 27 nicht vorgreifen, aber eines ist aus der Logik meiner Überlegungen doch wohl nachvollziehbar: Wenn anerkannt wird, daß es sich bei den Beziehungen zur DDR um außenpolitische Beziehungen handelt, dann ist das sogenannte Innerdeutsche Ministerium unter diesem Namen und mit dieser Aufgabenstellung ein Anachronismus, der nicht nur einer zeitgemäßen Deutschlandpolitik im Wege steht, sondern auch die Steuerzahler in erheblichem Maße belastet.
Wir fordern deshalb die Abschaffung dieses Ministeriums.
Abschließend appellieren die GRÜNEN an beide deutsche Staaten, sich für eine zukunftweisende Fortentwicklung der auf eine neue Ebene gestellten Beziehungen einzusetzen, ohne das schmucklose Beiwerk der Wiedervereinigungs-Hymnen, und eine Politik der konkreten Schritte zu beginnen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin, Sie haben soeben wie auch Ihr Fraktionskollege Ebermann von den GRÜNEN zur Einheit der deutschen Nation gesprochen. Ob die deutsche Nation einen getrennten Weg für immer gehen oder wieder zusammenfinden wird, das bleibt nicht allein dem Urteil der Geschichte, sondern vor allem dem Willen aller Deutschen in West und Ost vorbehalten.
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1612 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundesminister GenscherSo falsch es war, sich den Anspruch auf Alleinvertretung für alle Deutschen anzumaßen, so falsch ist es, sich den Anspruch und das Recht anzumaßen, Deutsche, die ihre Meinung dazu nicht sagen können, aus der Gemeinschaft der Nation ausbürgern zu wollen.
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Ebermann von den GRÜNEN hat heute morgen Feststellungen getroffen, die nicht unwidersprochen bleiben können. Er sprach von den Atommachtswünschen der Regierungsparteien
und von dem Gedanken eines deutschen Zugriffs auf die Atombombe in Teilen der Sozialdemokratischen Partei. Meine Damen und Herren, wir sind keine Atommacht, wir wollen es auch nicht sein. Wer ständig von Frieden redet und durch unverantwortliche, in der Sache falsche, bewußt unwahre Erklärungen dieser Art unser Land ins Zwielicht bringt, Mißtrauen gegen unseren Staat sät, der dient nicht dem Frieden, sondern unterminiert das Vertrauen in unser Land. Und das weisen wir mit Entschiedenheit zurück!
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lippelt ?
Nein, ich möchte keine Fragen beantworten. — Und ich weise mit der gleichen Entschiedenheit zurück, daß eine freigewählte Regierung, die Bundesregierung im Jahre 1969, und ein frei gewähltes Parlament, der Deutsche Bundestag, den Atomwaffensperrvertrag nicht aus eigener Überzeugung und in freier Entscheidung, sondern unter Druck von außen beschlossen hätten.
Sie sind Mitglieder des Deutschen Bundestages. Sie sollten selbst daran interessiert sein, daß die Freiheit, die Unbefangenheit unserer Entscheidung von niemandem bestritten werden kann.
Meine Damen und Herren, zur politischen Auseinandersetzung in einer parlamentarischen Demokratie gehört ganz gewiß das offene Wort, das klare Aufzeigen auch der Unterschiede. Aber die böswillige Unterstellung, das Säen von Mißtrauen, das ist ein Tiefschlag gegen die politische Kultur in unserem Lande. Es ist in Wahrheit eine politische Umweltverschmutzung.
Wer so etwas tut, der zerstört das geistige Klima des Friedens, das wir in unserer geographischen und politischen Lage, in unserer Verantwortung brauchen. Wer das tut, zeigt, daß ihm der innere Frieden wenig wert ist. Die Fähigkeit zum inneren Frieden ist nun einmal die Voraussetzung für den äußeren Frieden.Wir können es nicht stehen lassen; ich wiederhole: Wir sind keine Atommacht, wir wollen es auch nicht sein. Ich würde mir aber wünschen, daß alle Fraktionen des Bundestages mit uns gemeinsam, mit der Regierungskoalition als Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrages den Anspruch immer wieder bekräftigen, daß die Großmächte mit der Reduzierung der strategischen Potentiale auch in ihrem Wechselverhältnis mit den Defensivwaffen ernst machen.
Meine Damen und Herren, der Kollege Dregger hat im Zusammenhang mit dem Besuch des Staatsratsvorsitzenden Honecker davon gesprochen, daß man das Rad der Geschichte nur nach vorn bewegen kann. Ein gutes Wort. Es bedeutet die Absage an den untauglichen und gefährlichen Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Es ist auch eine Absage an eine Politik des Stillstands und der Verweigerung. Es ist eine Hinwendung zu einer Politik der Zukunftsgestaltung, die bedeutet: Wir sind nicht bereit, uns mit dem abzufinden, was ist, sondern wir wollen es verbessern.Aus diesem Besuch heraus muß sich jene Dynamik ergeben, die wir durch die Grundentscheidungen der deutschen Politik möglich gemacht haben: durch den Beitritt zum westlichen Verteidigungsbündnis, zur Europäischen Gemeinschaft, durch den deutschfranzösischen Vertrag, durch die Ost-Verträge und durch die Schlußakte von Helsinki. Jede dieser Entscheidungen hat uns ein Stück weitergebracht. Jede dieser Entscheidungen hat die Handlungsmöglichkeiten für unseren Staat erweitert. Sie hat unser Ansehen vermehrt und Vertrauen gewonnen.Wir stehen auch heute wieder am Beginn einer dynamischen Phase in der europäischen Politik, die sich deutlich ausdrückt in der Entwicklung des Ost-WestVerhältnisses. Wir haben dabei die Verantwortung, diese West-Ost-Beziehungen zukunftsfähig zu machen, nicht gegeneinander, sondern durch kooperative Sicherheitsstrukturen, die wir zu schaffen haben, und durch Verabredungen über Krisenbeherrschungen.Wir lassen keinen Zweifel, daß dabei die deutschsowjetischen Beziehungen für das West-Ost-Verhältnis eine zentrale Bedeutung haben. Wir sind uns bewußt, daß die neue sowjetische Führung nicht nur wirtschaftlich, aber auch wirtschaftlich ein schweres Erbe übernommen hat. Die Beschleunigung von Wachstum und technologischem Fortschritt muß daher ihr Ziel sein. Das kann man nicht allein durch eine Wirtschaftsreform erreichen, dazu braucht man Menschen, die zu Leistungen motiviert, zur Verantwortung bereit und die kreativ sind. Das verlangt eine offenere Politik, eine offenere Informationspolitik, konstruktive Kritik, Verbesserung der Rechtssicherheit, Entbürokratisierung, schrittweise Entmachtung der Apparate, und man braucht, um diese wirtschaftliche Entwicklung möglich zu machen, gute auswärtige Beziehungen und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Deshalb muß der Westen die darin liegende Chance erkennen. Wer sich nicht aus altem Denken, aus alten Feindbildern lösen kann, wer im Falle der Sowjetunion immer nur einzig und allein den schlimmsten Fall annimmt, würde sich selbst politik-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1613
Bundesminister Genscherunfähig machen. Zur Abrüstung gehört auch die Abrüstung der Feindbilder, und das auf beiden Seiten.
Meine Damen und Herren, die innere Entwicklung in der Sowjetunion ist nicht nur ein innenpolitischer Vorgang ohne Wirkung nach außen, die innere Entwicklung der Sowjetunion stärkt die Fähigkeit zur Zusammenarbeit, und mehr Offenheit bildet Vertrauen.Da haben wir gar keinen Anlaß, kleinmütig in diese Entwicklung einzutreten, sondern wir haben allen Anlaß, selbstbewußt den Nutzen aus dieser Entwicklung für die Verbesserung der Lage in Europa zu ziehen. Wir tun das in diesen Tagen — und haben es hier in Bonn getan — auch in den Gesprächen mit der Führung der DDR. Heute zeigt der Honecker-Besuch, daß die deutsch-deutschen Beziehungen zu den Wachstumsfaktoren von Entspannung und Zusammenarbeit in Europa gehören. Das ist eine dramatische Umkehr der Bedeutung der deutsch-deutschen Beziehungen für das West-Ost-Verhältnis. Aus dem Hemmschuh des West-Ost-Verhältnisses ist heute ein Impulsgeber für bessere Verständigung zwischen West und Ost geworden.
Wir deutschen haben die europäische Perspektive dieser Politik erkannt. Vielleicht haben wir es uns in unserer Geschichte sehr schwer gemacht, die europäische Einbettung unseres Schicksals in Europa zu erkennen. Wir haben einen langen Weg mit schlimmen Katastrophen und großen Irrtümern zurückgelegt. Der frühere Bundespräsident Heinemann hat davon gesprochen, daß wir Deutschen ein schwieriges Vaterland haben. Bundespräsident von Weizsäcker hat zu Recht festgestellt, daß uns unsere Geschichte nie allein gehört hat. Das zeigt in dramatischer Weise die europäische Verantwortung, die wir sehen müssen.Es ist doch ganz offenkundig, daß alles, was Europa betrifft, uns mehr betrifft. Die Grenze durch Europa ist eben nicht die Grenze durch irgendein anderes europäisches Land. Es ist die Grenze mitten durch Deutschland.
Alle Probleme, die heute auf Europa lasten, bündeln sich hier auf deutschem Boden in West und Ost.Diese Beziehungen zur DDR sehen wir deshalb auch in einem europäischen Gesamtzusammenhang, im Gesamtzusammenhang auch des West-Ost-Verhältnisses, auch in der Wechselwirkung unserer Beziehungen zu den anderen Staaten des Warschauer Paktes und eingebettet in den KSZE-Prozeß.Meine Damen und Herren, in einer sich so dynamisch verändernden Lage in Europa darf die Dynamik nicht auf die Entwicklung des West-Ost-Verhältnisses beschränkt bleiben, sondern wir brauchen die gleicheDynamik auch für die Gestaltung der Handlungsfähigkeit unseres demokratischen Europas.
Es ist notwendig, daß wir erkennen, daß die europäische Politik nur in ihrem auch politischen Gleichgewicht bleibt, wenn es in der westlichen Einigung genauso vorwärts geht wie in der Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses. Ja, ich behaupte, größere westliche Einigung macht uns zukunftsfähiger auch für die Gestaltung des West-Ost-Verhältnisses. Deshalb ist es notwendig, daß wir eine gemeinsame Außenpolitik in der Europäischen Gemeinschaft schaffen.
Das wollen wir ganz dringlich. Wir haben gute Ansätze für die Mitwirkung im KSZE-Prozeß geschaffen. Wir brauchen die umfassende gemeinsame Außenpolitik.Meine Damen und Herren, wenn wir unsere geschichtliche Rolle in der Gestaltung des West-OstVerhältnisses hier in Europa als Deutsche wahrnehmen, wenn wir unsere europäische Friedensverantwortung erkennen, dann wollen wir das nicht allein tun; wir wollen es zusammen mit unseren europäischen Partnern. Ja, wir rufen unseren europäischen Partnern zu: Laßt uns nicht allein bei dieser Aufgabe; es ist eine Aufgabe des ganzen europäischen Westens.
Zu diesen Fortschritten gehört es auch, daß wir im Ausbau der Europäischen Gemeinschaft die notwendigen Fortschritte machen. Dazu gehört, daß wir von der bemerkenswerten Feststellung Kenntnis nehmen, die der Präsident der Deutschen Bundesbank vor kurzem gemacht hat. Er hat gesagt: Ich bin der Meinung, daß ein voll integrierter Markt ohne Schranken für Waren, Dienstleistungen und Kapital, wie er für 1992 vorgesehen ist, von der Logik her auch eine Art Währungsunion, vielleicht sogar noch eine gemeinsame Währung erfordert. Er hat dann fast resignierend hinzugefügt: Aber davon sind wir leider noch weit entfernt.
Das ist wahr, meine Damen und Herren, und trotzdem sage ich: Wir haben die Aufgabe, als erstes unser Europäisches Währungssystem zu einem Stabilitätsfaktor, zu einer Stabilitätsgemeinschaft zu machen, und das bedeutet — —
— Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, Herr Kollege Ehmke, daß der Präsident der Bundesbank diese Notwendigkeit erkennt. Hier ist eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit notwendig.Wir werden diese Funktion als Stabilitätsgemeinschaft allerdings nur verwirklichen können, wenn wir uns auch darüber im klaren sind, daß die Ziele des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes nicht auf die nationale Politik beschränkt bleiben können, sondern dann auch Aufgabe einer solchen Wirtschafts- und
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1614 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundesminister GenscherWährungsunion im europäischen Maßstab sein müssen.
Meine Damen und Herren, wenn wir das schrittweise erreichen, indem die Staaten beitreten, die dazu — wie Großbritannien — in der Lage sind — und wir begrüßen, daß das zu einem Gegenstand der Diskussion in Großbritannien wird — , ist das ein bedeutender Fortschritt. Unser Beitrag muß es sein, auch hier über den Gemeinsamen Markt für 1992 hinaus die wirtschaftliche Kraft des europäischen Marktes und der Gemeinschaft wirklich voll zur Geltung zu bringen.Dasselbe gilt für die Schaffung der europäischen Technologiegemeinschaft, für die Herbeiführung auch einer engeren Kooperation bei Großforschungsvorhaben, damit nicht parallel und nebeneinander gewirtschaftet wird. Eureka hat gezeigt, daß es Erfolg haben kann. Der Kollege Riesenhuber hat in diesen Tagen eine eindrucksvolle Bilanz dieses europäischen Unterfangens vorgelegt.Meine Damen und Herren, es ist auch notwendig, daß wir mit einer europäischen Sicherheitspolitik sowohl in der Europäischen Gemeinschaft als auch in der Westeuropäischen Union den europäischen Pfeiler für das westliche Bündnis schaffen. Wenn wir das tun, wird niemand der Vorstellung nachhängen, es könnte durch die Politik der Zusammenarbeit und des Ausgleichs das Gleichgewicht der europäischen Politik durch die Dynamik in der Entwicklung der WestOst-Beziehungen in Gefahr geraten. Hier muß es unser Ziel, das der Deutschen, sein, daß wir die Impulsgeber bei diesem Prozeß der europäischen Einigung sind, daß wir die Impulsgeber auch im Prozeß der Annäherung zwischen West und Ost sind und daß wir die Impulsgeber auch für die Vorhaben der Abrüstung sind, für die für uns das Abkommen über die Mittelstreckenraketen ein bedeutsamer Anfang ist, aber eben nur ein Anfang. Es ist nur ein Einstieg in die Abrüstung; dennoch ist es wichtig, zu erkennen, daß ein solches Abkommen die Bedrohung durch 1 500 atomare Sprengköpfe von uns nehmen würde. Dabei klingt das Wort „Sprengköpfe" durch seine technokratische Definition eher verharmlosend. Jeder dieser Sprengköpfe auf SS-20-Raketen hat die zehnfache Vernichtungskraft der Atombombe von Hiroshima. Wer sich das vergegenwärtigt, wer sich das vor Augen hält, der wird verstehen, daß man über die Beseitigung dieser Bedrohung nur Erleichterung empfinden kann.
Ich denke, daß die gleiche Erleichterung unsere Mitbürger in der DDR, daß die gleiche Erleichterung das schwer geprüfte polnische Volk, daß die gleiche Erleichterung die Völker der Sowjetunion, die im Zweiten Weltkrieg große Opfer zu bringen hatten, empfinden werden, wenn durch dieses Abkommen auf westlicher Seite zwar weniger, aber immerhin doch über 500 Sprengköpfe mit ähnlicher Vernichtungskraft beseitigt werden. Ich bin ganz sicher, meine Damen und Herren — da mögen uns Systemunterschiede trennen, ja da mögen uns politische Überzeugungen in dem einen oder anderen Fall trennen — : In dem Willen der Völker und der Menschen in Europa, in West und Ost, sind wir uns ganz gewiß einig, daß Fortschritte hier in Europa sich zum Segen für die Völker in West und Ost auswirken werden.Das gilt insbesondere bei uns, weil sich hier bei uns auf deutschem Boden alle Probleme, die unsere Welt und unsere Zeit so kompliziert, aber auch gefährlich machen, darstellen. Zwei unterschiedliche politische Systeme, von denen Herr Honecker sagt, sie seien unterschiedlich wie Feuer und Wasser, stehen sich auf deutschem Boden gegenüber. Zwei hochgerüstete Paktsysteme stehen sich auf deutschem Boden gegenüber: eine Konzentration von atomaren und konventionellen Waffen auf deutschem Boden und auch eine Addition der Umweltprobleme.Wer also kann größeren Nutzen ziehen aus der Politik, die der Westen und der Osten in ihren Vorstellungen zum Gegenstand von Verhandlungen machen, oder, was die Raketen kürzerer Reichweiten, Herr Kollege Ehmke, angeht, noch machen werden? Sie haben die Bundesregierung in dieser Frage gerügt, aber auch Verständnis für unsere Besorgnis gezeigt. Sie wissen, daß es bei der Außenministerkonferenz in Reykjavik im Frühsommer dieses Jahres auf unseren Antrag hin möglich geworden ist, daß wir die Absicht der Verhandlungen über die Raketen kürzerer Reichweite in die Politik des westlichen Bündnisses aufgenommen haben. Das Verhandlungsmandat dafür wird erarbeitet. Sie werden erleben, daß wir dafür auch unsere Verhandlungsvorschläge zu gegebener Zeit vorlegen.
— Ich möchte so weiterreden; entschuldigen Sie bitte. Ich habe einem anderen Kollegen gleichfalls eine Frage nicht beantwortet.Deshalb, meine Damen und Herren, ist es wichtig, daß wir die Abrüstung in der ganzen Breite vorantreiben.Wir sind dabei auch ganz offen, Herr Kollege Ehmke, mit der DDR über diese Fragen zu sprechen. Aber wenn wir mit der DDR über Fragen der Abrüstung sprechen, dann kann das doch nicht automatisch bedeuten, daß wir Abrüstungspositionen übernehmen, von denen wir der Meinung sind, daß sie nicht zukunftsträchtig sind, mit denen Sie sympathisieren.
Nehmen Sie ein Beispiel. Sie haben — auch hier — lange darum gerungen, daß wir einer chemiewaffenfreien Zone in Europa zustimmen sollen. Wir haben Ihnen von Anfang an gesagt: Das Problem der schrecklichen Vernichtungswaffen, der chemischen Waffen, kann nur weltweit gelöst werden, weil gerade in diesem Bereich die Frage der Nachprüfbarkeit — nicht so sehr für die Lagerung, als vielmehr für die Produktion — nur total geregelt werden kann. Wenn wir regionale Verbote haben, werden einige Länder weiter für sich das Recht beanspruchen, chemische Waffen zu produzieren. Sie sehen dem Produktions-
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Bundesminister Genschervorgang nicht an, für welches Gebiet diese Waffen bestimmt sind.
Deshalb sage ich Ihnen: Das Problem der Verifikation, in dessen Überwindung wir ja begriffen sind, wird sich bei einem weltweiten Verbot leichter regeln lassen. Wir sind ja ganz nahe bei einer Regelung.Meine Damen und Herren, wenn ich die Opfer des schrecklichen, zum Teil mit chemischen Waffen geführten irakisch-iranischen Krieges sehe, dann bin ich der Meinung, daß wir unserer moralischen Verantwortung gegenüber der Dritten Welt nicht gerecht würden, wenn wir sagten: Es reicht uns, wenn die chemischen Waffen hier verboten sind.
Sie müssen weltweit verschwinden.
— Herr Kollege Ehmke, wenn das Ihre Meinung ist — es ist ja Ihre Meinung — , dann gehen Sie doch jetzt nicht mehr der kleinen Lösung nach, da alle Beteiligten in Genf bei der Diskussion über die große umfassende Lösung der weltweiten Beseitigung der chemischen Waffen nahe an einem Ergebnis für diese weltweite Beseitigung angelangt sind.
Diese Auffassung, weltweit die Probleme der Vernichtungswaffen anzupacken, hat sich doch auch bei den Mittelstreckenwaffen als richtig erwiesen. Wir haben hier immer wieder gesagt, es wäre das Beste, wenn wir die weltweite Beseitigung aller Mittelstreckenwaffen erreichten.
Da hatten die Großmächte zunächst noch in Aussicht genommen, hundert im asiatischen Teil der Sowjetunion und hundert in den Vereinigten Staaten zu behalten. Ich glaube, daß wir durch unsere Politik, auch durch unser Beharren auf unserem Standpunkt der weltweiten Lösung wesentlich dazu beigetragen haben, daß die ganze Menschheit diese Vernichtungswaffen in Gestalt der Mittelstreckenraketen loswerden kann.
Deshalb ist es wichtig, daß wir, wenn weltweite Regelungen erreichbar sind, dann auch tatsächlich zupakken. Darüber mit der DDR zu reden sind wir bereit.
Wir sind auch entschlossen, zusammen mit der DDR im Rahmen der KSZE-Konferenz in Wien, wenn es möglich ist, gemeinsame Initiativen zu ergreifen. Warum eigentlich nicht? Muß es nicht der Ehrgeiz beider deutscher Staaten sein, bei der Durchführung der Schlußakte einen höchsten Standard zu erreichen und diesen Standard auch in neue ergänzende Beschlüsse für den KSZE-Prozeß umzusetzen?Wenn es darum geht, sich auch im Rahmen der Vereinten Nationen über gemeinsame Initiativen zu verständigen: Wir sind dazu bereit, und wir sind da genauso realistisch wie die DDR. Wir wissen, daß wir unsere Grundsatzpositionen so wenig wie unsere Positionen in unseren Bündnissen und den Wertegemeinschaften, denen wir angehören, aufgeben werden.Was ich für besonders wichtig halte — und damit komme ich zu Bemerkungen am Anfang zurück, meine Damen und Herren — , ist die Tatsache, daß wir nicht nur erkennen, daß Friedenssicherung in Europa mehr ist als Abrüstung, daß Zusammenarbeit notwendig ist, daß Vertrauensbildung notwendig ist. Es ist wichtig, daß wir die Zusammenarbeit nicht einschränken auf Fragen der Wirtschaft, der technologischen Zusammenarbeit, so wichtig das alles ist, auch für den politischen Dialog. Ich messe der kulturellen Zusammenarbeit, dem kulturellen Austausch eine ganz entscheidende und friedensbildende Wirkung zu. Es ist wichtig, daß sich jeder bei uns bewußt ist, daß die große europäische Kultur von allen Europäern geschaffen worden ist, daß alle europäischen Völker dazu ihren Anteil geleistet, ihren Beitrag erbracht haben. Daraus ergibt sich unsere Achtung vor den anderen Völkern — unsere friedensbildende Achtung.Meine Damen und Herren, wer Achtung vor einem anderen Volk hat, den kann man nicht mehr gegen dieses Volk aufhetzen. Das ist die eigentliche Bedeutung der kulturellen Zusammenarbeit.
Wenn wir die friedensbildende Wirkung dieser Achtung vor anderen Völkern haben, erkennen, im Bewußtsein haben, wenn wir uns auch bewußt sind, daß innerer und äußerer Friede nicht trennbar sind, daß sie zusammengehören, die Friedensgesinnung nur eine umfassende Friedensgesinnung sein kann, dann allerdings müssen wir uns auch bewußt sein: Die Achtung vor den anderen Völkern darf nicht erst jenseits der Grenzen beginnen, sie muß auch den ausländischen Mitbürgern bei uns hier gehören. Hier beginnt die Achtung vor dem Nächsten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundeskanzler Kohl und auch Außenminister Genscher haben hier gesagt, daß die Verwirklichung der Einheitlichen Europäischen Akte und des gemeinsamen Binnenmarktes die besonderen Ziele der Bundesregierung seien. Der vorliegende Bundeshaushalt widerspricht dieser Behauptung aber eklatant; denn gerade in diesem Bereich ist der Entwurf der Bundesregierung unsolide, unehrlich und ist der Finanzplan bis 1991 reine Makulatur.
Ich will das am Beispiel der Leistungen, die nicht fürdie Europäische Gemeinschaft im Haushalt berück-
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Frau Wieczorek-Zeulsichtigt worden sind, deutlich machen. Dabei betreibt die Bundesregierung ein unwürdiges Doppelspiel. Sie beschließt nämlich im Rahmen der EG-Ministerräte unter Ausschluß der Öffentlichkeit alles mit. Bei der nationalen Umsetzung aber beruft sie sich dann auf die Beschlüsse der EG, oder sie will von ihnen nichts mehr wissen.
Ich möchte mit meinen Ausführungen einen Beitrag dazu leisten, dieses Doppelspiel durchschaubarer und es für die Zukunft schwieriger — hoffentlich unmöglich — zu machen;
denn die finanzpolitische Doppelmoral der Bundesregierung ruiniert den Haushalt der EG und bürdet damit auch dem Bundeshaushalt massive Folgekosten auf.
Sie sind aber nicht durch eine abstrakte Europäische Gemeinschaft verschuldet, sondern sie sind selbst verschuldet durch die EG-Politik dieser Bundesregierung.
Mit Billigung und aktiver Beteiligung der Bundesregierung schiebt die Europäische Gemeinschaft einen riesigen Berg von Ausgabeverpflichtungen vor sich her, deren Einlösung bislang nur durch fragwürdige Finanzierungstricks und Manipulationen hinausgeschoben wurde. Die Finanzprobleme, die im wesentlichen durch höhere Agrarausgaben entstanden sind, wurden bisher nur mühsam durch haushaltstechnische Manipulationen verdeckt. Die Konsequenzen dieser Politik müssen aber die deutschen Steuerzahler und Steuerzahlerinnen tragen; denn die so entstehenden Haushaltsrisiken der Europäischen Gemeinschaft können ja schließlich nur durch zusätzliche Finanzierungsleistungen der Mitgliedsländer gedeckt werden. Und daran ist die Bundesrepublik mit einem Anteil von rund 28 % beteiligt.Das ist — ich wiederhole es — keine Kritik der Institution der Europäischen Gemeinschaft, sondern eine Kritik am Ministerrat, d. h. an den Regierungen und an der Bundesregierung.Die SPD-Fraktion weiß, daß wir die Europäische Gemeinschaft auch künftig mit mehr Finanzmitteln ausstatten müssen, damit sie ihre Aufgaben des Ausgleichs zwischen wirtschaftsstärkeren und wirtschaftsschwächeren Mitgliedsländern wirklich leisten und damit sie Selbstbehauptung der Europäer auch wirklich durchsetzen kann.
Wir wollen eine starke Europäische Gemeinschaft, und wir wollen den gemeinsamen Binnenmarkt. Das setzt aber voraus, daß auch die Bundesregierung die wirklichen finanziellen Konsequenzen offen darstellt und endlich eine Revision ihrer total verfehlten und gescheiterten Agrarpolitik einleitet.
Das Verhalten der Bundesregierung jedenfalls, sich hinter der EG zu verstecken, führt dazu, daß die Europäische Gemeinschaft in deh Augen der deutschen Bevölkerung fälschlicherweise als unkalkulierbare, unsinnige Finanzforderungen stellende Behörde oder Zentrale erscheint. Damit wird die EG in den Augen der Bevölkerung abgewertet. Da nutzen dann auch die besten europäischen Sonntagsreden nichts, diesen falschen Eindruck zu korrigieren.Dabei bringt die EG gerade der Bundesrepublik Vorteile. Über 60 % der Exporte der Bundesrepublik gehen in die Länder der EG. Unser Leistungsbilanzüberschuß betrug 1986 23 Milliarden DM. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Sonderprogramm zur Sicherung von Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik, das wir auch wieder ausgleichen müssen dadurch, daß wir der Aufstockung der Strukturfonds der EG für die wirtschaftsschwächeren Länder in der Europäischen Gemeinschaft zustimmen.
Haushaltstricks und Manipulationen — unter Beteiligung des deutschen Finanzministers — hat der EG-Ministerrat jedenfalls angewandt, um die Lücken des EG-Haushalts 1987 durch einen sogenannten Berichtigungshaushalt zu schließen. So wurde eine Lücke von 9 Milliarden DM schlicht und einfach ins Jahr 1988 verschoben. Diese Probleme haben auch die europäischen Christdemokraten erkannt und kritisiert. Sie haben nämlich im Europäischen Parlament gegen diesen entsprechenden Berichtigungshaushalt gestimmt. Der Kollege Langes hat das bei seiner Stimmerklärung deutlich gemacht und vor „Tricks und Haushaltsbasteleien" gewarnt. Dem kann man nur zustimmen.Im übrigen an die Adresse des Finanzministers — : hier geht es wieder um die Differenz zwischen Worten und Taten. Was nutzen die besten Worte zur Verwirklichung der Einheitlichen Europäischen Akte und für mehr Rechte des Europäischen Parlaments, wenn in einem derartig unwürdigen Haushaltsverfahren der Finanzminister die schon geringen Rechte des Europäischen Parlaments mit Füßen tritt?
Der Gipfel der Heuchelei und des Doppelspiels des Finanzministers und der Bundesregierung wird aber beim EG-Haushaltsplan für 1988 deutlich. Finanzminister Stoltenberg hat gestern in der Debatte gesagt, man wisse noch nicht, wieviel Finanzmittel notwendig seien, um die neuen Eigenmittel der EG zu finanzieren. Im übrigen seien sich die zwölf Regierungen in dieser Frage überhaupt nicht einig. Das hat er hier im Bundestag gesagt.Im Juni, auf EG-Ebene, war aber für die Bundesregierung alles klar. Beim Gipfel Ende Juni in Brüssel hat sie mit zehn europäischen Regierungen das neue Finanzierungssystem akzeptiert — ausweislich des Bulletins der Bundesregierung. Nur Großbritannien stand abseits. Dieses Übereinkommen wurde im Juni von der Bundesregierung als großer Erfolg gefeiert,
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Frau Wieczorek-Zeulvon dem Stoltenberg jetzt beim Haushalt nichts mehr wissen will.
— Man möchte es nicht glauben. Aber ich habe in meiner Tätigkeit als Europaabgeordnete noch Schlimmeres erlebt, was Bundesregierungen da vertreten.
Im übrigen hat die Bundesregierung im Ministerrat ein Verfahren akzeptiert, liebe Kolleginnen und Kollegen, das man sich überhaupt nicht vorstellen kann: daß der Haushaltsplan der EG für 1988 nach dem neuen Finanzierungssystem erstellt wird, dessen Verwirklichung aber durch Ratifikation in den nationalen Parlamenten erst Ende 1988, vielleicht sogar erst 1989 zustande kommen wird. Das heißt, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf gut deutsch: Man weiß bereits, wieviel Kosten entstehen. Nur wie sie finanziert werden sollen, wie sie aufgebracht werden sollen, das sagt man nicht.
Herr Stoltenberg weiß also längst, was es uns kosten wird. Unterstellt man, daß er beim Gipfel im Juni dieses Jahres einen Zustand der Bewußtlosigkeit hatte, so kann man nur hoffen, daß er bis zum Haushaltsministerrat am 17. September, in einer Woche, das Bewußtsein wiedergefunden hat.
Im übrigen weise ich darauf hin, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß eine Einigung über das EG-Haushaltsvolumen in Höhe des jetzigen Vorentwurfs der EG-Kommission bereits jetzt eine Überschreitung der Grenze von 1,4 % der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage bedeutet und eine Ausschöpfung von 1,64 %. Unterstellt man, daß die geltende Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage von jetzt 1,4 % 1988 nur auf 1,6 % aufgestockt würde, so führt das im Bundeshaushalt zu zusätzlichen Ausgaben von mindestens 2 Milliarden DM jährlich. Hierfür sind aber keinerlei Kosten
im Haushaltsentwurf 1988 und im Finanzplan bis 1991 eingesetzt.
Ferner mache ich darauf aufmerksam — das hat Kollege Apel gestern in der Debatte schon getan — , daß die Europäische Gemeinschaft Mehrbelastungen von rund 16 Milliarden DM aus aufgelaufenen Verpflichtungen vor sich herschiebt. Wenn wir das alles morgen bezahlen müßten, brauchten wir eine sofortige Erhöhung der derzeitigen Obergrenze der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage von jetzt 1,4 % auf 2 %, und dies nur, um die bereits aufgelaufenen Kosten decken zu können.Bei dieser Haushaltsdebatte zur Außenpolitik steht auch die Europapolitik der Bundesregierung auf dem Prüfstand. Die Europapolitik dieser Bundesregierung — das können wir schon an der finanziellen Seite erkennen — ist unklar, widersprüchlich. Es ist nicht klar, wer sie formuliert und wer sie koordiniert oder ob sie überhaupt koordiniert wird. Das macht deutsche Europapolitik gegenüber unseren Partnern unkalkulierbar. Der Landwirtschaftsminister klammert sich verzweifelt an das System der Preissubventionierung, während andererseits der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit in einer Presseerklärung im Juli dieses Jahres laut darüber klagt, daß im EG-Haushalt 1987 und im neuen Haushaltsentwurf die Mittel für die Entwicklungshilfe gesenkt seien. Das ist eine direkte Konsequenz der Beschlüsse, auch der Agrarministerbeschlüsse vom Juni dieses Jahres. Es ist richtig, je mehr der Agraranteil im EG-Haushalt steigt, um so weniger Mittel sind für die Länder der Dritten Welt vorhanden, zum Beispiel für ein Mittelamerikaprogramm, das den Frieden in der dortigen Region abzusichern versucht, was dringend notwendig wäre.
Aber wo ist die Koordinierung zwischen diesen beiden Positionen? Jedenfalls würde sich der Kollege Parlamentarischer Staatssekretär am besten an den eigenen Agrarminister wenden, der sich seit Monaten weigert, sich an den Agrar-Reformplänen der EG-Kommission und des Rates auch nur zu beteiligen — mit dem Ergebnis, daß sich die Bundesregierung vor dem Europäischen Gipfel in die absolute Isolation manövriert hatte und die Pläne zur Agrarreform völlig an ihr vorbeiliefen.Wenn die Bundesregierung die deutsche EG-Ratspräsidentschaft ab 1. Januar 1988 wirklich nutzen will, muß sie wichtige Korrekturen ihrer eigenen Politik vornehmen. Sie muß endlich die deutschen Interessen in und an der EG richtig gewichten. Da heißt es, Worte und Taten wieder in Zusammenhang bringen und die Widersprüche dazwischen aufheben.Bundeskanzler Kohl hat heute morgen gesagt: Wir sind für den Vorrang des Binnenmarktes. In der Praxis widersetzt sich aber die Regierung des Industrielandes Bundesrepublik den konkreten Vorschlägen der EG-Kommission zur Reform der Agrarpreispolitik,
obwohl genau dieser Irrsinn der Agrarpreissubventionierung die EG und damit die Verwirklichung des Binnenmarktes zu sprengen droht. Vom gemeinsamen Binnenmarkt aber profitieren gerade die Industrie-Exporte der Bundesrepublik.Worte und Taten, dazu kann ich viel sagen. Bundeskanzler Kohl sprach heute morgen von der „Umweltgemeinschaft", die die Regierung auf EG-Ebene anstrebe. Gleichzeitig weigert sich die Bundesregierung aber, einem EG-Kommissionsvorschlag eines Programms „Arbeitsplätze durch Umweltschutz" zuzustimmen.
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1618 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Frau Wieczorek-ZeulWer im übrigen das Festhalten an der unsinnigen EG-Agrarpolitik zum obersten Ziel macht, der darf sich nicht wundern, wenn es in der EG beim umweltfreundlichen Auto nicht vorangeht.
Die Bundesregierung muß meines Erachtens die wirklichen deutschen Interessen in die EG einbringen und die sind: hohe Umweltstandards, eine neue Initiative, die Automobilabgase zu entgiften, was dringend notwendig ist, um den Wald zu retten, und sie muß sich mit aller Kraft dem Versuch widersetzen, die EG-Grenzwerte für Radioaktivität hochzusetzen.
Das sind die Forderungen zu Umweltfragen, deren Erfüllung notwendig wäre.Ein letztes: Europa muß mit einer Stimme reden. Das habe ich hier mehrfach gehört. Dem ist voll zuzustimmen. Nur, ich habe erlebt, daß gerade in den Situationen, in denen die elf europäischen Nachbarn bereit waren, mit einheitlicher Stimme zu sprechen, die Bundesregierung gebremst hat — so geschehen bei den Sanktionen gegen Südafrika, so geschehen bei der Ablehnung von SDI. Wer also die einheitliche europäische Stimme verhindert hat, wird sehr deutlich. Auch ein Beitrag zum Widerspruch zwischen Worten und Taten.Die Bundesregierung muß den strategisch wichtigen Stellenwert der EG deutlich machen, und ihr Verhalten in der Frage der Benennung des Nachfolgers für den verstorbenen EG-Kommissar Alois Pfeiffer wird dafür ein Test sein. Wird die Position in Brüssel als ein Verschiebeposten im Poker zwischen CDU, FDP und CSU zur vermutlich unmöglichen Ruhigstellung von Franz-Josef Strauß verstanden, oder wird sie als eine wichtige Möglichkeit zur Gestaltung europäischer und deutscher Innenpolitik verstanden?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen eine offene innenpolitische Diskussion über die Chancen und Begleiterscheinungen des großen EG-Binnenmarktes. Der große Gemeinsame Markt wird für die Bundesrepublik wie ein riesiges Konjunkturprogramm wirken. Es muß aber auch klar werden, daß die Vollendung des Binnenmarktes nicht Aushöhlung des Mitbestimmungsrechts in der Bundesrepublik oder Senkung bestehender Standards im Lebensmittelrecht oder beim Verbraucherschutz bedeuten darf.
Unsere Fraktion fordert die Bundesregierung auf: Schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, daß die EG wirklich funktionieren kann, daß sie genutzt werden kann! Machen Sie Schluß mit der verschleppten Finanzkrise! Verwirklichen Sie eine neue EG-Finanzordnung, und widersetzen Sie sich nicht länger einer sinnvollen und vernünftigen Reform der EG-Agrarpolitik!Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Wimmer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dem Verteidigungshaushalt 1988 wird ein von Sparsamkeit geprägter Gesamthaushalt zugrunde liegen. Dies ändert nichts an der Tatsache, daß ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit die Bundeswehr ihren Auftrag erfüllen kann. Rückblickend kann gesagt werden, daß seit der Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Koalition der Mitte die Bundeswehr eine beachtliche Stärkung erfahren hat. Dies ist an den Verteidigungshaushalten seit dem Jahre 1983 deutlich abzulesen. Dies wird der Verteidigungsminister in einer eindeutigen Leistungsbilanz hier noch vortragen.Unter dieser Bundesregierung konnte seit 1983 in der Bundeswehr wieder seriös geplant werden, konnten notwendige Entscheidungen getroffen, Strukturen verbessert, die Personallage optimiert und die sozialen Belange der Soldaten in den Vordergrund gerückt werden.
Ausbildung und Ausrüstung haben einen hohen Standard. Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist eine beachtliche Bilanz. Sie gewinnt besonderen Stellenwert, wenn man an Hand der Beschlüsse der SPD erkennt, daß sie nicht bereit gewesen wäre, ausreichende Finanzmittel für unsere Verteidigung bereitzustellen. Die SPD hätte seit 1983 den Anteil des Verteidigungshaushalts am Gesamthaushalt eingefroren. So ihre eindeutige Beschlußlage.
Sie hätte sich somit der Möglichkeit beraubt, mit Haushaltsmitteln anstehenden Problemen — flexibel — gerecht zu werden. Bei einer solchen Grundhaltung verwundert es nicht, daß diese Koalition seit 1983 kontinuierlich Probleme bewältigen mußte, die die SPD-geführte Bundesregierung bis 1982 unerledigt vor sich hergeschoben hatte.Die Bundeswehr in der derzeitigen personellen und materiellen Ausstattung ist ein gewichtiger Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit des westlichen Bündnisses. Das liegt in unserem Interesse und muß so bleiben, bis allseits befriedigende Abrüstungsschritte in Europa mit dem Ergebnis größerer Sicherheit vereinbart sind.Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist gewiß mit dem Beginn der Mandatsgespräche über eine konventionelle Rüstungskontrolle in Europa getan. Jedoch wäre es illusionär, zu glauben, der beschrittene Weg sei kurz und das Ziel schnell zu erreichen. So muß unsere Politik weiterhin darauf ausgerichtet sein, unsere Sicherheitsbelange nicht an Wunschvorstellungen zu orientieren, sondern an Fakten. Die sind klar. Das westliche Verteidigungsbündnis sieht sich in Europa einem sowohl konventionell als auch chemisch als auch nuklear weit überlegenen Gegner gegenüber. Unterstrichen wird diese Überlegenheit durch eine offensiv ausgerichtete Militärdoktrin. Jenseits möglicher Abrüstungsergebnisse in Europa
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Wimmer
würde ich mir schon heute wünschen, wenn die Sowjetunion ihrer offensiven Militärdoktrin abschwören würde. Was hindert die UdSSR eigentlich daran, für ihre Verteidigung das zu erklären, was auch unsere Politik ist? Warum plant sie ihre Verteidigung statt auf unserem nicht auf ihrem eigenen Boden? Das wäre eine wirklich vertrauensbildende Maßnahme, die wir immer wieder einfordern müssen, solange die UdSSR ihre heutige offensive Option uns gegenüber aufrechterhält.Die Außenminister der NATO haben am 12. Juni dieses Jahres anläßlich der Ministertagung des Nordatlantikrates in Reykjavik erklärt, daß schwerwiegende Ungleichgewichte auf konventionellem, chemischem und nuklearem Gebiet und der anhaltende Aufwuchs der sowjetischen Stärke für uns weiterhin Anlaß zur Sorge seien. Sie erklärten weiter, daß „in einer Zeit, in der bedeutende Reduzierungen von Kernwaffen möglich erscheinen" , der konventionellen Stabilität eine wachsende Bedeutung zukommt.Wir befinden uns also in einer Zeit, in der anstehende Abrüstungsmaßnahmen für einen Teil der nuklearen Waffen in Europa die Sorgen um unsere Sicherheit nicht vermindern, weil dann das Übergewicht des Warschauer Paktes bei den konventionellen Waffen noch weiter erhöht würde. Der anhaltende Aufwuchs der sowjetischen militärischen Stärke gerade bei diesen verbleibenden Waffen, ist ohnehin nicht zu übersehen. Das bedeutet nichts anderes, als daß die ins Auge gefaßte Abrüstung nuklearer Waffen in Europa so lange dem Warschauer Pakt zusätzliche militärische Vorteile bringt, wie er nicht, insbesondere im konventionellen Bereich, zu asymmetrischen Abrüstungsschritten bereit ist. Oder anders formuliert: Dem kühnen vertrauensbildenden Schritt der westlichen Allianz bei der nuklearen Abrüstung muß bei den verbleibenden Waffen ein adäquater Schritt des Warschauer Paktes folgen, soll unsere Sicherheit keinen unübersehbaren Risiken ausgesetzt werden.Legen wir die Erfahrungen der MBFR-Verhandlungen zugrunde, die seit 1973 laufen, so ist leicht abzusehen, wieviel Zeitaufwand für die ungleich schwierigeren Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural nötig ist. Die Konsequenzen dieser Erfahrungen erscheinen klar: Der wachsenden Bedeutung der konventionellen Streitkräfte in Europa wird die NATO Rechnung tragen müssen, soll die Verteidigungsfähigkeit eine glaubwürdige Abschreckung erzielen. Dieser Schlußfolgerung wird man sich schwerlich entziehen können, solange militärische Stabilität als eine Grundbedingung für die Sicherheit erachtet wird.Der Herr Kollege Bahr hat am 2. September 1987 an dieser Stelle für die SPD die Meinung vertreten, die Illusion sei tot, Sicherheit durch Demonstration der Stärke zu erzielen. Weiter meinte er, das System der gemeinsamen Sicherheit werde künftig getestet. Diesem Test müßten sich die Sowjetunion und die DDR ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland unterziehen. Ich sage darauf: Wer die Sicherheit des anderen achten will, muß militärische Übergewichte abbauen. Wer Vertrauen schaffen will, muß mit Wort und Tat seine militärischen Planungen defensiv ausrichten. Wer Gemeinsamkeit will, der muß nachprüfbar „ja" sagen zu gemeinsamen Spielregeln.Von der Gemeinsamkeit, von der Herr Kollege Bahr gesprochen hat, gibt es also kaum eine Spur, nur eines vielleicht: die berechtigte Sorge, daß sich die mit großem Aufwand vorangetriebene Vorrüstung der Sowjetunion doch gelohnt haben könnte, wie das eben bei den üblichen Tauschgeschäften der Abrüstungsverhandlungen ist, bei denen man nur etwas erhält, wenn man zu geben imstande ist.Der Herr Kollege Bahr hat sich den falschen Adressaten ausgesucht, als er, auf die Bundesregierung gemünzt, von dieser Stelle aus der Sicherheit durch Demonstration der Stärke eine Absage erteilte.Meine Damen und Herren, wenn wir vor dem Hintergrund des hier Geschilderten den Verteidigungshaushalt für das Jahr 1988 betrachten, können wir eindeutig feststellen, daß die Bundeswehr ihren Auftrag gut erfüllen kann. Betrachten wir jedoch die mittelfristige Finanzplanung und gleichzeitig die auf die Bundeswehr zukommenden Probleme, so muß eindeutig, präzise kalkuliert werden. Herr Kollege Apel, Sie wissen, wovon ich rede,
um so mehr, als auch in Zukunft ausreichende Mittel veranschlagt werden, um für die kommenden Jahre erstens die personelle Einsatzbereitschaft sicherzustellen, zweitens die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr zu erhöhen,
drittens die immer wieder geforderte Stärkung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit und viertens die Durchhaltefähigkeit der Streitkräfte zu gewährleisten.Ich halte es nicht für ungefährlich, wenn hier unseren Gegnern am Verhandlungstisch gleichermaßen wie unseren westlichen Verbündeten falsche Signale gegeben würden. Wer im Bündnis ein wichtiger Partner sein will — das wollen wir wohl — , befindet sich in einer Vorbildfunktion. Wer ein schlechtes Vorbild abgibt
— es spricht die SPD, die das zwölf Jahre unter Beweis gestellt hat — , trägt nicht zur Stärkung des Bündnisses bei. Wir alle wissen ganz genau, daß die unverzichtbare Anwesenheit des Hauptverbündeten in Europa und der Grad seiner Präsenz von dem Engagement der Europäer im Bündnis selbst abhängt. Wir müssen ernst nehmen, was gesagt wird, weil wir unsere Sicherheit ernst nehmen müssen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sicherheit ist teuer. Es gibt sie nicht zum Spartarif.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Mechtersheimer.
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1620 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Meine verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Der Präsident hat zu Beginn der gestrigen Sitzung des ehemaligen Alterspräsidenten des Hauses William Borm gedacht. Kurz vor dessen Tod sollte sich der 92jährige vor der Kriminalpolizei wegen einer Unterschrift unter einen Blockadeaufruf rechtfertigen. Er hatte zusammen mit 99 anderen Persönlichkeiten der Friedensbewegung zur Sitzdemonstration vor der Cruise-Missile-Basis Hasselbach aufgerufen. Das Treiben dieser Bonner Staatsanwaltschaft ist beschämend.
Unter der Verantwortung eines SPD-Justizministers werden im Augenblick überall in Nordrhein-Westfalen jene Menschen verfolgt, die sich in besonderem Maße für die Beseitigung dieser atomaren Mittelstrekkenraketen eingesetzt haben. Nichts charakterisiert die moralische Qualität dieser Regierungspolitik besser als die Verfolgung jener Menschen, die durch ihren Einsatz erst jene Abrüstungschance eröffnet haben, die die Regierung jetzt zur Tarnung ihrer wahren Politik als ihre Abrüstungsleistung verkauft.
Es mutet wie eine Rache der Herrschenden an der Friedensbewegung an, wenn Sitzblockaden jetzt „bombensicher" durch eine Änderung des Strafgesetzbuchs kriminalisiert werden sollen. Dies ist ein Teil verschärfter Militarisierungstendenzen, die im Schatten der hitzigen Abrüstungsdebatte auf allen Ebenen stattfinden. Ich erinnere an die Verlängerung der Wehrpflicht, an die massive Ausweitung der Reserveübungen. Jetzt ruft die FDP auch noch die Frauen zu den Waffen.
— Ich freue mich über jeden Widerspruch aus der FDP-Fraktion. — Ihr Beschluß ist eine unglaubliche Pervertierung des Gleichheitsideals.
Was treibt Sie von der FDP dazu, nun auch noch Frauen das kollektive Töten in staatlichem Auftrag einüben zu lassen? Ist es nicht ein großer Besitzstand, daß sich die Frauen bereits in jenem waffenlosen Zustand befinden, in den die Männer erst noch gebracht werden müssen?
In der Rüstungsindustrie schreitet die Konzentration fort. Der Einfluß der Rüstungsinteressen — hören Sie von der CSU und der CDU zu! — , eng verknüpft mit der Macht der Banken, wird immer größer, was sich auch in der wachsenden politischen Protektion des Waffenexports niederschlägt. Die Daimler Benz AG ist auf dem Weg, zum größten Rüstungsgiganten Europas zu werden. Jetzt hat sie sich auch noch bei dem französischen Rüstungskonzern Matra eingekauft. Vielleicht ist der Zynismus der Manager der Industrie so groß, daß man sagt: Es ist eh' egal, ob sich die Leute mit dem Auto oder mit den Waffen umbringen, Hauptsache, es vergrößert unseren Konzern und wirft Profit ab. So weit scheint das Denken dieser Verantwortlichen zu gehen, denn sonst könnte man die Rücksichtslosigkeit, mit der man diese ursprünglich
zivil orientierte Firma ins Rüstungsgeschäft hineinschleust, nicht erklären.
— Das ist ein Thema, das in der SPD hoffentlich diskutiert wird.
Ungeachtet der Abrüstungsdiskussion wird ganz Europa auch in diesem Herbst wieder mit Manövern überzogen. In der nächsten Woche beginnt in Süddeutschland — pikanterweise unter Ausschluß der NATO — die erste deutsch-französische Großübung, an der 75 000 Soldaten beteiligt sind. Wir protestieren mit aller Schärfe gegen die Verstärkung der Militärachse Bonn — Paris und die Militarisierung der deutsch-französischen Beziehungen.
Wir werden die Besiegelung der deutsch-französischen Waffenbrüderschaft mit ihrer gefährlichen nuklearen Dimension, die am 24. September von Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl in Kehlheim vorgenommen werden soll, nicht tatenlos hinnehmen. Ist das, was ich hier skizziere, ein Land, und ist das die Politik in einem Land, das sich auf eine Ära der Abrüstung einrichtet? Nein. Die mögliche Beseitigung der Mittelstreckenwaffen ist nicht Resultat dieser Politik, sondern wurde dieser Regierung aufgenötigt. Wir leben in einem Land, dessen an Abrüstung interessierte Bürger froh sein müssen, daß dieses Land nicht souverän ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch Herrn Ehmke zurückgeben, der vorhin den GRÜNEN eine unklare Position anlastete. Wir waren die ersten, die damals, als das Ja zur einfachen Null-Lösung von der Regierung kam, gefordert haben: Pershing I muß dazu, mit aller Konsequenz. Das war die Position der GRÜNEN. Heute haben wir die Position, wo Sie auch noch nicht mitwollen, nämlich die sofortige Abrüstung der Pershing I. Denn alle Gründe, die bisher genannt wurden, Faustpfand und was auch immer, sind hinfällig. Wenn es also nur noch Aufgabe dieser deutschen Beteiligung an dem Prozeß ist, das Ganze zu fördern, wirkt die Förderung nur durch eine sofortige Verzichtserklärung zur sofortigen Verschrottung dieser Waffen.
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehmke zu beantworten?
In der Annahme, daß es der Wahrheitsfindung dient.
Es dient der Wahrheitsfindung, wenn Sie vielleicht verstehen könnten — ich bitte Sie, das zu tun — , daß Sie mich mißverstanden haben. Ich hatte mich so geäußert, daß wir Ihnen ein Papier geschickt haben, mit der Bitte, darüber zu reden, und wir haben darauf keine Antwort bekommen. Sie haben mich mißverstanden; zu der Frage habe ich gar nichts gesagt.
In diesem Papier steht nicht, was wir dringend fordern, daß nämlich
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1621
Dr. Mechtersheimerdieser Verzicht auf die Pershing I nur einen Sinn macht, wenn es ein sofortiger Verzicht ist. Hier haben Sie mit Rücksicht auf mögliche Mehrheiten taktiert, und da machen die GRÜNEN nicht mit. Wenn da ein Formfehler vorliegt, dann können wir das gern klären.
— In dieser Frage gibt es bei den GRÜNEN keine Meinungsverschiedenheiten. Zu Gesprächen sind wir immer bereit — mich haben Sie nicht angesprochen —; daran sollte es nicht scheitern. Wenn Sie das Gespräch, das wir sofort führen können, nutzen, um Ihre Position in Richtung der Position der GRÜNEN zu verändern, so geht das sofort.
Die wachsende Militarisierung des Landes läßt sich auch als eine Art Angstreaktion auf tiefgreifende außenpolitische Veränderungen begreifen. Vielleicht war die Stationierung der Mittelstreckenraketen das letzte Aufbäumen dieser Blockkonstellation in Europa. Die politischen und militärischen Kosten wollen die Supermächte aber nicht mehr bezahlen. Der unstrittige Zerfall der US-Abschreckungsgarantien macht den Weg frei für einen fundamentalen Wechsel der Kräftekonstellationen in Europa. Von außen ist dies offenkundig deutlicher zu erkennen als aus deutscher Sicht. Ich darf die „Neue Zürcher Zeitung" zitieren, die am Vorabend des Besuchs von Honecker folgendes gesagt hat:In der Tatsache, daß Bundeskanzler Kohl die Deutschlandpolitik seiner Regierungsvorgänger sozusagen uneingeschränkt übernommen hat und sie auch zu einem protokollarischen Höhepunkt führt, glauben manche, Anzeichen dafür erkennen zu können, daß die Dynamik der deutsch-deutschen Entwicklungen weitergehen werde. Das könnte bedeuten, daß gegenseitige Annäherung und Tendenzen zum gemeinsamen Ausscheren aus der jeweiligen Blockbildung sich weiterhin gegenseitig verstärken und daß heute vorhandene Regungen im Bonner Oppositionslager zur Umwandlung der beiden deutschen Staaten in nuklearfreie oder panzerfreie Zonen künftig Regierungspolitik werden könnten.Was hier sorgenvoll konstatiert wird, macht uns eher Hoffnung; denn es wird eine Perspektive der Blocküberwindung eröffnet, ohne die es keinen Frieden und keine Abrüstung geben wird.
Der Besuch von Erich Honecker ist ein Beweis dafür, daß in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit die ideologischen Feindbilder stark abgebaut werden konnten. Die fortschreitende Anerkennung der DDR als eigenständiger Staat wäre sonst nicht möglich gewesen.Doch Feindbildabbau und Demontage des Antikommunismus sind Gift für die NATO. Militärblöcke und blocküberwindende Kooperation sind wie Feuer und Wasser. Deutsch-deutsche Kooperation um ihrerselbst willen ist restaurativ und nationalistisch. Preußischer Präsentiermarsch und die Herzlichkeit des Kommunisten mit den Großkapitalisten und Franz Josef Strauß löst unvermeidlich besorgte Fragen überall in der Welt aus.
Deutsch-deutsche Zusammenarbeit ist nur als konkreter und dauerhafter Beitrag zur Abrüstung und zum Frieden in Europa akzeptiert und für uns legitimiert.Eine neue Friedenspolitik in Europa muß eine größere Distanz zur US-Politik finden, weil Washington weltweit eine kriegsträchtige Politik betreibt. Ein Land, das die Teilnahme an der UN-Konferenz über Rüstung und Entwicklung mit der Begründung ablehnt, beides habe nichts miteinander zu tun, ein Land das jahrelang den Golfkrieg schürt, um sich dann als Feuerwehrmann rufen zu lassen, ein Land, das Kapital aus der ganzen Welt aufsaugt, um es u. a. für eine Wahnsinnsrüstung, wie SDI, zu vergeuden, dieses Land kann nicht Partner für eine friedliche Politik des neuen Denkens sein.Feindbildabbau genügt nicht. Wir müssen auch ein krankhaftes Freundbild korrigieren. Auch die deutsch-französische Freundschaft darf nicht für das Wettrüsten mißbraucht werden.Eine Doppel-Null-Lösung wäre — ganz anders, als es Herr Genscher soeben gesagt hat — ein Beleg dafür, daß der sektorale und regionale Abrüstungsansatz Erfolgschancen hat. Denn dieser Prozeß ging vom Regionalen aus. Deshalb ist es unverantwortlich, daß die Bundesregierung jetzt wiederum keine Zugeständnisse bezüglich eines atom- und chemiewaffenfreien Korridors gemacht hat. Das ist ein richtiger Ansatz, weil er auch keine deutsch-deutsche exklusive Maßnahme ist, sondern die CSSR einbezieht und dadurch vor Ängsten vor deutschen Sonderwegen schützt. Diese Verweigerung ist verantwortungslos und auch dumm, weil Sie, meine Damen und Herren von der Koalition und der Regierung — auch Herr Genscher — , auf Dauer dem gemeinsamen Druck von eigener Bevölkerung und den sozialistischen Staaten auch diesmal nicht werden widerstehen können.Selbstverständlich gilt es, einen Wettbewerb mit der DDR zu betreiben. Im Rahmen dieses Wettbewerbs ist auch zu fordern, daß in der DDR endlich der Zivildienst für Kriegsdienstverweigerer eingeführt wird. Das ist eine Forderung, die wir mit Nachdruck erheben: als Zeichen dieser neuen Kooperation.
Wir fordern von der Bundesregierung die Bereitschaft, mit der DDR über entmilitarisierte Zonen zu verhandeln, die Militärhaushalte gemeinsam zu verringern,
die Zahl der Manöver auf den jeweiligen Territorien drastisch zu reduzieren,
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1622 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. Mechtersheimereinen absoluten Atomwaffenverzicht in die Verfassungen beider deutschen Staaten aufzunehmen
und ein gemeinsames Abrüstungsgremium zu schaffen, das die deutsch-deutsche Abrüstungspolitik und Initiativen für den KSZE-Prozeß vorbereitet und koordiniert.Darüber hinaus hat die Bundesregierung gerade im Bereich der Kurzstreckenraketen und der taktischen Gefechtsfeldwaffen die Verpflichtung zu einseitigen Abrüstungsschritten. Dazu stehen wir ohne Vorbehalt. So schwer dürfte Ihnen das ja gar nicht mehr fallen. Denn wenn ich Ihre Begründung für den Modernisierungsverzicht richtig verstanden habe, sehen Sie darin ja eine einseitige Vorleistung. Und wenn ich Herrn Dregger in der Sondersitzung am 2. September 1987 richtig verstanden habe, will er ja Atomwaffen auf dieser unteren Ebene prinzipiell nicht mehr haben,
von irgendwelchen Restbeständen, die Konzentrationen verhindern, abgesehen. Sie haben wörtlich gesagt: Man kann die Bundesrepublik atomar vernichten, aber nicht atomar verteidigen.
Das ist ein Wort. Da ist ein Datum gesetzt, von dem man ausgehen kann. Sie sollten deswegen auch den nächsten nuklearen Abrüstungsschritt nicht wieder mit Fisimatenten behindern und von Faustpfändern, Eintrittskarten und sonstigem reden. Wer auf Nuklearwaffen verzichtet, leistet einen befreienden Verzicht.
Ziel einer neuen mittel- und gesamteuropäischen Abrüstungspolitik muß es sein, das militärische Element in der Sicherheitspolitik immer weiter zurückzudrängen. Die Intensivierung des Handels darf nicht länger von der COCOM-Liste und den SDI-Abkommen behindert werden.
Diese Restriktionen für den Technologietransfer sind ein Herrschaftsinstrument der USA, mit dem diese zum eigenen Vorteil die gesamteuropäische technologische Kooperation behindern wollen.Es ist auch zu prüfen, ob nicht eine Teilnahme der sozialistischen Staaten am EUREKA-Programm — auch dazu hat der Außenminister leider nichts gesagt; er hat alle heißen Themen ausgeklammert — in Betracht kommt, weil hier die Chance besteht, gerade dadurch den potentiellen militärischen Mißbrauch, der bei diesem EUREKA-Programm in wesentlichen Teilen droht, zu verhindern.Leider hat die Bundesregierung bis heute keine konkrete Antwort auf die bemerkenswerten Vorschläge des polnischen KP-Chefs Jaruzelski gegeben. Er hat unter anderem vorgeschlagen, den Europarat auf die sozialistischen Staaten auszudehnen. Diese Gesamteuropäisierung einiger westeuropäischerEinrichtungen scheint ein erfolgversprechender Weg zu sein, um die Blockkonfrontation dauerhaft zu überwinden.Zum Haushalt. Der vorliegende Entwurf des Einzelplans 14 ist mit seiner relativ geringen Steigerungsrate nicht Ausdruck eines nachlassenden Aufrüstungswillens, sondern ein Hinweis darauf, wie groß die Probleme des Finanzministers geworden sind. Wenn die investiven Ausgaben diesmal etwas geringer angesetzt sind, dann auch deshalb, weil bei einigen Großprojekten wie Jäger 90 und Panzerabwehrhubschrauber 2 Verzögerungen eingetreten sind. Dieser Verteidigungshaushalt ist von dem ungebrochenen Willen zur militärischen Stärke bestimmt. Die Offensivfähigkeit der Bundeswehr wird weiter gesteigert, die Entwicklung von Waffensystemen zu Schlägen in das sogenannte gegnerische Hinterland, z. B. mit Abstandswaffen, wird forciert. Dieser Haushalt weist nicht die Spur eines neuen Denkens auf. Es sind ja nicht 51,6 Milliarden DM, sondern — mit allen in sonstigen Haushaltsansätzen versteckten Mitteln — 62,9 Milliarden DM. Und wenn man dann noch einen Anteil aus dem Schuldendienst, was ja notwendig ist, hinzurechnet, kommt man auf einen Betrag von 70 Milliarden DM, die dieses Land in einem einzigen Jahr für die sogenannte Verteidigung ausgibt. Damit wird das Wettrüsten in unverantwortlicher Weise forciert. Das ist angesichts der Massenarbeitslosigkeit im eigenen Land, der weltweiten Armut und der geschundenen Natur eine unglaubliche Verantwortungslosigkeit.Mit einer zweistelligen Kürzung dieser Militärausgaben würde die Sicherheit in Mitteleuropa in keiner Weise beeinträchtigt, sondern gefördert werden. Gleichzeitig würde für alle anderen Länder in Europa, in ganz Europa ein Maßstab gesetzt, die Rüstungsausgaben zugunsten der Lösung brennender gesellschaftlicher Probleme endlich umzuschichten.
Diese Regierung hat sich mit ihrem Haushalt, gerade im Bereich des Verteidigungshaushalts, ungeachtet aller Abrüstungsdebatten als das entlarvt, was sie tatsächlich ist, nämlich eine Regierung der menschenverachtenden Aufrüstung und Kriegsvorbereitung.
Wir müssen mit allen parlamentarischen und nichtparlamentarischen Mitteln gegen diese Friedensfeindlichkeit vorgehen, und wir werden das tun.Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Oberstleutnant a. D. Mech-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1623
Frau Seiler-Albringtersheimer, ich möchte die niederträchtigen Bemerkungen,
die Sie gegenüber meiner Fraktion und meiner Partei geäußert haben,
mit Nachdruck zurückweisen. Wir rufen weder Frauen zu kollektivem Töten, noch rufen wir die Soldaten der Bundeswehr zu kollektivem Töten.
Ich weiß ja nicht, Herr Mechtersheimer, wie Sie sich damals verstanden haben. Wie wir die Bundeswehr verstehen, weiß ich allerdings, nämlich als ein Instrument zur Sicherung eines Friedens, in dem Sie Ihre Politik in Ruhe gestalten können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber zum Thema kommen. Wir beraten den Verteidigungshaushalt 1988 zu einem Zeitpunkt, in dem Weichenstellungen von grundsätzlicher Bedeutung für die Struktur und die Ausstattung der Bundeswehr in den 90er Jahren anstehen. — Herr Mechtersheimer, ich lasse erst dann eine Bemerkung Ihrerseits zu, wenn Sie sich bei mir und meiner Fraktion in aller Form entschuldigt haben.
Frau Abgeordnete, Sie lassen eine Zwischenfrage zu?
Wenn er sich entschuldigt, gerne.
Bitte sehr.
Wie soll ich das denn machen?
Zum Beispiel: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich mich entschuldige?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
... daß ich Sie nicht beleidigen wollte, sondern daß ich kritisiert habe, daß Sie jetzt ohne Zwang dazu übergehen, auch den weiblichen Teil der Bevölkerung mit einem falschen Emanzipations- und Gleichheitsverständnis an die Waffe heranzuführen, nicht um zu töten, sondern um das Töten einzuüben?
Wenn Sie das falsch verstanden haben, dann entschuldige ich mich dafür, daß Sie es falsch verstanden haben.
Nein, Herr Mechtersheimer, so einfach wollen wir uns das nicht machen. Wir können über dieses Thema gern eine Diskussion an anderer Stelle führen. Aber zum Wort „Zwang" ist tatsächlich ein Wort vonnöten. Meine Fraktion, meine Partei, alle Mitglieder in meiner Partei, die auf diesem Bundesparteitag entschieden haben, respektieren die Entscheidung jeder Frau gegen die Bundeswehr. Aber wir machen uns nicht anheischig, derjenigen jungen Frau, die sich entschließt, das Arbeitsfeld Bundeswehr für sich zu akzeptieren, vorzuschreiben, daß sie dies nicht darf, und das unterscheidet uns. Wir respektieren die Meinung eines anderen, Sie dagegen haben, glaube ich, deutlich bewiesen, daß Sie dazu nicht imstande sind.
Jetzt komme ich zum Thema. Meine Damen und Herren, es sind vor allen Dingen zwei Gesichtspunkte, die mir wichtig erscheinen, unter denen man den Verteidigungshaushalt betrachten muß.Erstens. Die konsequente und feste Haltung der Koalition in der Frage der Mittelstreckenraketen hat einen wesentlichen Anteil daran, daß wir im Abrüstungsdialog nicht sprachlos geblieben sind, sondern die berechtigte Hoffnung darauf haben können, daß Waffensysteme nicht lediglich gestoppt, sondern tatsächlich verschrottet werden können. Dieser erste mögliche Schritt und die damit verbundene verständliche Erleichterung in der Bevölkerung hat allerdings möglicherweise zur Folge, daß die Konsequenzen, nämlich die notwendigen Anstrengungen, die konventionelle Verteidigungsfähigkeit sicherzustellen, übersehen werden und daß ein Verteidigungshaushalt von nach wie vor über 50 Milliarden DM nicht unbedingt auf große Akzeptanz in der Bevölkerung stößt.Zweitens. Der Bundeshaushalt 1988 ist nach Ansicht des Ministeriums zwar äußerst knapp, aber ausreichend kalkuliert, um den Auftrag der Bundeswehr sicherzustellen. Aber der Haushalt 1988 ist — ich möchte es einmal so formulieren — ein Schwellenhaushalt. Er ist die erste Stufe auf dem Wege einer sich abzeichnenden Entwicklung, die unserer genauen Aufmerksamkeit bedarf.Zum einen steht die Bundeswehr — das ist wahrhaftig nicht neu, wird aber in seinen Konsequenzen in der nächsten Zeit unmittelbar spürbar — vor enormen finanziellen und organisatorischen Problemen, wenn sie die Soll-Stärke halten will. Reservistenkonzeption und Werbung von Längerdienenden sind nur Stichworte.Zum anderen stehen aber bei allen drei Teilstreitkräften Beschaffungsvorhaben in einer finanziellen Größenordnung an, die befürchten lassen, daß möglicherweise die Planungsfreiheit der Teilstreitkräfte und die Gestaltungsmöglichkeiten der politischen Gremien zusammenschrumpfen werden. Die Verteidigungs- und Haushaltspolitiker der Koalition haben
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1624 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Frau Seiler-Albringnicht aus Übermut die Entsperrung von 165 Millionen DM für die weitere Definition und Entwicklung des Jagdflugzeugs der 90er Jahre vor den Sommerferien abgelehnt, sondern aus der Sorge darüber, hier grünes Licht für ein aus sicherheitspolitischen Gesichtspunkten durchaus notwendiges Waffensystem zu geben, das in seinen finanziellen Dimensionen noch nicht endgültig absehbar ist und das nach unserer Ansicht in engem Zusammenhang mit den übrigen großen Beschaffungsvorhaben gesehen werden muß. Ich erwähne hier nur den PAH 2
und die neue U-Boot-Generation, Frau Kollegin Traupe. Diese Beschaffungsvorhaben müssen wir äußerst sorgfältig diskutieren und auf die Folgen für die Gesamtsituation der Bundeswehr abklopfen.Bei einem nicht wesentlich gesteigerten Mittelansatz verschieben sich die Gewichte in diesem Haushalt ohnehin konstant von der investiven Seite in Richtung Materialerhaltung und Betrieb. Die Kostenentwicklung bei der Materialerhaltung stellt uns im übrigen vor die Frage, von welchem Zeitpunkt an die Erhaltung alten Materials von löblicher Sparsamkeit in ökonomische Torheit umschlägt.Zurück zur Planung. Um es plakativ auszudrücken: Wir wollen nicht erleben, daß die Bundeswehr über hochmoderne Waffenträger verfügt, die aber im Shelter oder im Dock bleiben, weil aus Geldmangel Peripherie, Munition oder Mannschaften fehlen.Ein Wort zum Thema Rüstungskooperation. Internationale Rüstungskooperationen sind aus bündnispolitischen Gründen erwünscht, zur Integration und Standardisierung von Waffensystemen zweckmäßig und aus finanziellen Notwendigkeiten erforderlich. Internationale Rüstungskooperationen, die aus durchaus wichtigen außen- und sicherheitspolitischen Gründen verabredet werden, politisch gewollte Projekte also, die der Stärkung der Allianz und dem Zusammenwachsen Europas dienen, haben möglicherweise einen Preis, den man aus eben diesen Gründen zwar akzeptieren kann, der aber nicht zu Lasten der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gehen darf.
Die Bundeswehr wird in den kommenden Jahren mit einer Vielzahl von Problemen fertig werden müssen. Unsere politische Aufgabe ist es, ihr dabei zu helfen, auch wenn sich die finanziellen Spielräume im Bundeshaushalt in engen Grenzen halten werden. Prioritäten müssen gesetzt und eingehalten werden, Rationalisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft, Redundanzen abgebaut werden. Hier ist der Generalinspekteur auf einem guten Weg.Meine Damen und Herren, der Einzelplan 14 geht jetzt in die parlamentarische Beratung. Ausgaben von 51 Milliarden DM müssen sorgfältig beraten und geprüft werden, eine gewaltige Summe. Über 43 % dieser Gelder sind aber — das kommt uns sehr oft aus dem Blickwinkel — für Personalausgaben vorgesehen. Lassen Sie mich, obwohl ich hier nicht auf Einzelheiten dieses Haushalts eingehen will, ein Wort zuden Menschen in den Streitkräften sagen, ohne die jede Bereitstellung von Material sinnlos wäre. Meine Partei hat sich in der Vergangenheit massiv für die sozialen Belange der Angehörigen der Bundeswehr eingesetzt, und sie will es auch zukünftig tun. Die entsprechenden Zahlen und Kapitel dürfen im Einzelplan 14 auf keinen Fall in den Hintergrund treten. Es muß in den Einzelberatungen geprüft werden, inwieweit z. B. durch Minderung der Versetzungshäufigkeit von Soldaten, wenn vertretbar, nicht nur Härten gemildert, sondern unter Umständen sogar auch Geld gespart werden kann.Den Personalbestand 1988 und in Zukunft zu sichern wird nur gelingen, wenn die Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften gesteigert wird. Hier spielen die Stellenhebungen und die Stellenvermehrungen bei Unteroffizieren und Offizieren, ebenso wie gerade auch bei den zivilen Mitarbeitern der Bundeswehrverwaltung eine wesentliche Rolle. Ob dieses ausreicht, ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu prüfen.Meine Damen und Herren, die FDP setzt aus Überzeugung auf einen Frieden durch Vertrauen und nicht auf Nicht-Krieg durch Abschreckung. Vor allem deshalb, aber auch vor dem Hintergrund der engen finanziellen Spielräume sowohl in unserem eigenen Haushalt als auch in den Haushalten unserer Verbündeten fördern wir als logische Konsequenz aus den ersten Abrüstungsschritten auf nuklearem Sektor die Entwicklung eines akzeptablen Konzepts zur Abrüstung im konventionellen Bereich und zur Förderung der Stabilität.Die äußerst maßvolle Steigerung von 2,1 % kann man ja so und so interpretieren, Herr Mechtersheimer. Ich möchte sie als ein positives Signal an den Warschauer Pakt dafür werten, daß wir hier gesprächsbereit sind. Allerdings — und dieses ist eine nicht eben populäre Aufgabe für alle Fraktionen dieses Hauses, die es mit der Sicherheit der Bundesrepublik ernst meinen — müssen wir dafür eintreten, daß, solange die sicherheitspolitischen Notwendigkeiten dieses erfordern, die Einsatzfähigkeit und Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr auch mit einem Haushalt von über 50 Milliarden DM zu gewährleisten ist. Meine Fraktion ist dazu bereit.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kühbacher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungshaushalt ist mit 51,6 Milliarden DM ein enormer Brocken. Aber, Herr Wörner, wenn ich das richtig gelesen habe, wäre dieser Haushalt, wenn es nach Ihnen gegangen wäre, ja um eine knappe Milliarde DM höher. So haben Sie jedenfalls noch im Mai dieses Jahres bei einer NATO-Verteidigungsratssitzung gestimmt, und Sie haben Ihre Kollegen im Bündnis aufgefordert, sich ebenfalls dafür einzusetzen. Wie man sich angesichts der Haushaltsenge so verhalten kann und nunmehr ein so abgemagertes Steigerungsergebnis vorlegen muß — diese schizophrene Haltung bleibt Ihnen vorbehalten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1625
KühbacherIch meine, Sie bezeichnen und bewerten Ihre Ausgangssituation in dem Beiblatt zum Haushaltsplan, das Sie uns allen geschickt haben, ja selbst, indem Sie sagen: Dieser Haushalt ist ausreichend bestückt. So kann man sich selbst bewerten. Ich habe in der Schule gelernt, ausreichend sei vier, knapp vor mangelhaft. Wenn das das Ergebnis der Bewertung Ihrer jetzigen Arbeit ist, ist das ein Eigenurteil, das doch von erheblicher Fähigkeit zur Selbstkritik zeugt.Meine Damen und Herren, 51,6 Milliarden DM — wer kann das überhaupt begreifen? Das sind Summen, die für den Bürger kaum zugänglich sind. Ich denke, es lohnt sich, einmal einige Widersprüchlichkeiten dieses Haushalts aufzuzeigen.Haushaltsgrundsätze sind Haushaltswahrheit, Haushaltsklarheit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. Wenn man sich einzelne Positionen einmal anschaut und den Gesamtzusammenhang sieht, dann stimmen die Vokabeln in diesem Haushalt 1988 — was mich eigentlich überhaupt nicht wundert — , die Finanzplanung und das darüber Hinausgehende, nämlich der Bundeswehrplan, überhaupt nicht mehr.
Herr Kollege Wörner, es ist schon bezeichnend: Sie haben uns Abgeordneten unter dem Datum des 27. August eine — korrigierte — Bundeswehrplanung vorgelegt und dazu gesagt: Dies alles gilt schon nicht mehr; wir werden uns irgendwann im November erneut zusammensetzen müssen, um auf Grund der neuen Erkentnisse, nämlich in der Finanzpolitik, aber auch auf Grund der Ergebnisse der Beratungen im Bündnis alles neu zu überdenken und neue Folgerungen zu ziehen. In welcher Richtung, das schreiben Sie vorsorglich nicht, nämlich ob es nach oben gehen soll oder nach unten gehen muß.In diesem Zusammenhang frage ich einmal ganz vorsichtig: Wenn es so ist, daß im Herbst dieses Jahres die Strukturdiskussion in der Bundeswehr erst richtig losgeht und daß dann die Weichen für die Beschaffungslinien und für die Organisation innerhalb der Teilstreitkräfte für die nächsten 10 bis 15 Jahre gestellt werden müssen, wie können Sie es eigentlich verantworten, sich in dieser Situation von Ihrem Stuhl wegzubegeben?
Jetzt, wo Entscheidung und politische Führung verlangt ist, Herr Kollege Wörner, hätte sich zu zeigen, ob Sie als Verteidigungsminister mit Ihrer doch sicherlich vorhandenen Erfahrung in der Lage sind, diese Strukturentscheidungen verantwortlich zu treffen. Oder, Herr Kollege Wörner, gehen Sie deshalb auf Vorschlag des Bundeskanzlers nach Brüssel, weil diese Entscheidungen intern anstehen?
Darüber sollte man einmal nachdenken. Ich denke, es ist der Bundeswehr und den dort Verantwortlichen dafür zu danken, daß sie ohne diese politische Vororientierung im Moment ihre Arbeit leisten, allerdings eben mit diesem Ausmaß an Unsicherheit.Nun, Herr Kollege Wörner, komme ich auf ein weiteres Problem zu sprechen, nämlich auf die Personalsituation in der Bundeswehr. Über Strukturplanung wird zu reden sein, aber schauen wir uns doch einmal die unmittelbare Situation des einzelnen Soldaten an. Dahinter verbergen sich ja Schicksale. Ich habe einmal an Hand einer Gehaltstabelle ausgerechnet, was denn einem verheirateten Unteroffizier netto zukommt. Er verdient 2 167 DM. Davon muß er noch Steuern zahlen. Dieser verheiratete Unteroffizier, 21 oder 22 Jahre alt, hat eine durchschnittliche Dienstzeitbelastung von über 56 Stunden, d. h. einen Stundenlohn von um 10 DM. Das ist ja kein Wehrpflichtiger, bei dem der eine oder andere vielleicht sagt: Es schadet den jungen Leuten gar nicht, wenn sie einmal ordentlich rangenommen werden. — Nein, das ist ein Arbeitnehmer in einem ganz bestimmten Beruf, und Sie, Herr Minister, sind nicht in der Lage, für diesen Soldaten eine vernünftige Dienstzeitbegrenzung durchzusetzen und zu organisieren. Sie schaffen es einfach nicht. Außer vollmundigen Erklärungen kommt nichts dabei herum.Was ist denn mit den 78 000 Unteroffizieren und Stabsunteroffizieren? Wegen dieser unregelmäßigen außerordentlichen Dienstzeit erwarten wir von dem betreffenden jungen Mann, daß er morgens antritt und zu ganz ulkigen Zeiten wieder abfährt. Er kann nicht einmal öffentliche Verkehrsmittel benutzen; er muß ein Automobil haben, wenn er zu seiner Familie zurück will. Wovon soll er überhaupt noch seine Familie ernähren? Was diese Leute brauchen, ist eine geregelte Dienstzeit. Sie müssen einen Anspruch auf Freizeit haben, den Sie für sie im Moment nicht organisieren. Das ist die eine Lebenswirklichkeit.Die andere, Herr Kollege Wörner, sieht so aus: Sie bilden mit Offizieren und Beamten der Bundeswehr internationale Stäbe, z. B. jetzt in München einen neuen Stab, der NEFMA heißt. Uns wird auf der Hardthöhe erzählt: Ja, meine Herren, wir können dorthin hervorragende Offiziere nur dann abordnen, wenn wir ihnen Gehälter nach NATO-Kriterien bezahlen, also das Dreifache. In München müssen Sie also den Offizieren, die genau denselben Dienstanweisungen unterliegen wie diese Unteroffiziere, von denen ich gesprochen habe, das dreifache Gehalt zahlen, damit sie freudig ihre Arbeit tun, während die Unteroffiziere hier — so sage ich einmal — in die Röhre sehen.Diese Widersprüche verlangen Führungskunst, Herr Minister.
— Herr Würzbach, dies verlangt Führungskunst und Führungsfähigkeit, und das erwarte ich von der politischen Leitung. Daß die Offiziere für die Zeit der Abordnung dieses dreifache Gehalt gern mitnehmen und zu aller Zeit mitgenommen haben, ist ihnen doch überhaupt nicht vorzuwerfen. Hier muß man sich durchsetzen können. Das ist der Punkt. Die Widersprüche tauchen eben auf.
Wenn ich mir den Haushaltsplan anschaue, sind weitere Dinge anzusprechen, bei denen es wider-
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1626 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Kühbachersprüchlich wird. Ich meine die Frage, wie Sie mit den Berufssoldaten umgehen, z. B. mit dem Hauptfeldwebel, der mit 47 Jahren ja doch fast 30 Jahre Bundeswehrdienstzeit auf dem Rücken hat. Wenn Sie den zum Stabsfeldwebel befördern wollen, muß er in der Regel noch einmal umziehen. Mir ist so ein Fall begegnet: Jemand, der in Hamburg Dienst tut, muß— für 217 DM monatlich zusätzlich auf Grund der Beförderung — für die verbleibenden fünf Jahre nach Kiel und dort seinen Dienst verrichten. Was passiert dem denn tatsächlich? Dieser Stabsfeldwebel soll in eine neue Wohnung ziehen, obwohl er sein Lebensumfeld woanders hat, und das für 217 DM mehr! Auf diesen Mehrbetrag muß er zusätzliche Steuern zahlen. Er muß neue Fahrzeiten und -kosten in Kauf nehmen. Und was macht die Bundeswehrverwaltung? Sie weist ihm eine sogenannte TE-Killer-Wohnung zu— so nennt man das — , nämlich eine Wohnung, in die er mit Sicherheit nicht ziehen wird, woraufhin er— eben weil er es ablehnt — kein Trennungsgeld mehr bekommt. Dies schafft Unzufriedenheit in der Truppe, Unzufriedenheit bei denen, die einen großen Teil ihres Lebens in der Bundeswehr verbracht haben. Der Wehrbeauftragte schreibt ja nicht ohne Grund von der Kühle in der Bundeswehr.
Ich meine, wir haben darüber nachzudenken, wie wir gemeinsam an diesem Teil des soldatischen Alltags, der sich ja in einem solchen Haushalt versteckt, wirklich arbeiten, damit wir auch tatsächlich allen Soldaten eine Bejahung des Instruments Bundeswehr abverlangen können.Ich komme zu einem anderen Komplex außerhalb des Personals, nämlich zu den großen Waffensystemen. Uns wird erklärt, für das persönliche ABC-Schutzmaterial der Soldaten, also das, was ihnen unmittelbar Sicherheit verschafft, sei kein Geld vorhanden. Die Haushaltsquoten dafür werden abgesenkt; dafür sei kein Geld vorhanden. Auf der anderen Seite steigt die Panzerbeschaffungslinie wegen einer weiteren Losnummer beim Leopard 2 um, wie ich glaube, 230 Millionen DM.Da stimmt doch irgend etwas nicht. Während neue Panzer gekauft werden, die in Sigmaringen stationiert werden, wo bereits welche sind — angeblich nehmen diese dann die Türken — , ist für das Notwendigste, das dem Soldaten Sicherheit verleiht, kein Geld vorhanden. Das ist ein Widerspruch, den Sie aufklären müssen. Dieser Widerspruch steht im Haushalt. Das ist dem einzelnen Soldaten im Hinblick auf seine Befindlichkeit nicht zu erklären. Da stimmt von der politischen Führung her etwas nicht, wenn man den Mangel so breit verteilt.Ich komme nun zu den, wie ich sagen möchte, etwas größenwahnsinnigen Objekten, die nicht in der Bundeswehr erfunden wurden, sondern aus einem anderen Bereich stammen. Ich spreche von den beiden Rüstungsvorhaben Jäger 90 und Panzerabwehrhubschrauber. Bei diesen Projekten, Herr Wörner, muß man sich doch fragen: Kann ein Soldat es überhaupt verstehen, daß wir 7 Milliarden DM Entwicklungskosten für ein Flugzeug ausgeben sollen, bevor überhaupt ein erster Prototyp auf dem Rollfeld steht? Wir wollen also 7 Milliarden DM ausgeben, bevor dieser Apparat überhaupt zu sehen ist.Dabei handelt es sich nur um den deutschen Anteil. Insgesamt macht das bei allen beteiligten Staaten in Europa eine Summe von 21 Milliarden DM aus. Soviel ist zu bezahlen, bevor das erste Flugzeug auf dem Rollfeld steht.Auf der anderen Seite sind keine Gelder vorhanden, um beispielsweise die notwendigen Infrastruktureinrichtungen weiter voranzutreiben, um beispielsweise die Unterkünfte in einer Form zu unterhalten, wie es notwendig ist. Dort kürzt man die Investitionen um über 250 Millionen DM.Die Befindlichkeit der Soldaten, Herr Kollege Wörner, hängt auch davon ab, ob sie sich persönlich sicher fühlen. Sie müßten es einmal einem Panzergrenadier erklären, warum denn für dieses System des Jägers 90 aus dem Bundeswehrhaushalt der nächsten Jahre 7 Milliarden DM übrig sein sollen, der von einem Piloten geflogen wird, der auch noch die Geschosse abschließen soll, die 1 Million DM pro Stück kosten sollen, während auf der anderen Seite die Milan als Panzerabwehrwaffe nicht voll nachtsichtfähig gemacht werden kann. Nur etwa die Hälfte kann wegen Geldmangel nachtsichtfähig gemacht werden. Davon hängt aber die Panzerabwehr in der Vorneverteidigung unmittelbar ab.Es ist nicht einsichtig, daß für das Feld, wo unmittelbar ein Angriff erwartet wird, kein Geld dasein soll, während auf der anderen Seite Entwicklungsbeträge in die deutsche Rüstungswirtschaft fließen.Da habe ich Sie, Herr Kollege Wörner, zu fragen: Vertreten Sie als Minister bei diesen Planungsüberlegungen, bei diesem großen Volumen, mehr die Interessen der Soldaten der Bundeswehr oder haben Sie die Interessen der Rüstungswirtschaft zu vertreten?Dies haben Sie politisch zu verantworten. Ich wünschte mir, daß die Entscheidungen, die jetzt noch fallen sollen — sie stehen ja unmittelbar bevor —, von Ihnen auch über einen längeren Zeitraum — die Periode ist ja noch einige Jahre lang — tatsächlich verantwortet werden. Mitte des nächsten Jahres kommt es zum Schwur. Dann muß die neue Struktur der Bundeswehr stehen, dann müssen die Planungsentscheidungen fallen. Ich wünschte mir, Herr Kollege Wörner, Sie könnten dafür auch moralisch noch zur Verantwortung gezogen werden.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich denke, unser aller Hoffnungen richten sich auf eine Verbesserung der Ost-West-Beziehungen. Eines ist klar — ich denke, das gilt für alle von uns, besonders aber für die Bundesregierung — : Wir werden jede Chance für einen stabileren Frieden in Europa nützen. Nur muß jeder wissen: Nach wie vor und für absehbare Zeit ruht ein sicherer Friede nicht allein, aber doch vor allem auf einer gesicherten Verteidigung, und das heißt: auf dem Bündnis und auf der
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Bundesminister Dr. WörnerBundeswehr. Ohne Bundeswehr und ohne Bündnis gibt es weder heute noch morgen Freiheit für unser Land oder Friede für Europa.
Ich sage das ohne jeden Versuch einer Polemik, weil ich hoffe, daß wir diese Auseinandersetzung in diesem Parlament noch einmal gründlicher führen können.Die von Herrn Bahr und der SPD beschworene gemeinsame Sicherheit — ich denke an die letzte Rede von Herrn Bahr in der letzten Woche hier — ist bestenfalls eine Hoffnung oder eine Wunschvorstellung, aber weder ein Ersatz noch gar eine Alternative zum Sicherheitskonzept der Allianz. Ich weiß nicht, ob Sie alle die Konsequenzen bedacht haben, die sich ergeben würden, wenn Sie auf dieses Konzept umschwenkten, alle zusammen. Das hieße, daß Sie sich damit praktisch aus der Allianz abgemeldet hätten.Die Erhaltung einer gesicherten Verteidigungsfähigkeit ist übrigens auch die Voraussetzung einer erfolgreichen Abrüstungspolitik. Ich wiederhole, auch wenn es, Herr Mechtersheimer, Sie und andere ärgert, was ich schon einmal hier gesagt habe: Ohne die konsequente Umsetzung des Doppelbeschlusses hätte es keine Chance zur Abrüstung im Bereich der Mittelstreckenraketen gegeben. Wir sind es, die Bahn gebrochen haben, und nicht etwa, wie Sie zu suggerieren versuchen, die lautstarken Demonstrationen der Friedensbewegung.
— Lieber Herr Mechtersheimer, ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Sie das wirklich glauben. Wäre es so, lieber Herr Mechtersheimer, dann frage ich Sie, warum Herr Gorbatschow — auch er — Friedensdemonstrationen der Friedensbewegung aus Ost und West in der Sowjetunion nicht nur verboten, sondern gerichtlich verfolgt und die entsprechenden Teilnehmer auch bestraft hat. Wäre es so, wie Sie sagen, machte das doch keinen Sinn.
Ich habe einen Kronzeugen dafür
— ja, doch — : 8. Mai 1987, Artikel von Helmut Schmidt in der „Zeit", wo er sagt:Die Sowjetunion wäre ohne westliche Nachrüstung dazu nicht bereit gewesen.
Ich denke, daß vor allen Dingen die SPD weiß, warum Helmut Schmidt das sagt.Andererseits: Wir müssen uns aber auch der Konsequenz aus einer vertraglichen Beschränkung der Nuklearwaffen bewußt sein. Die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts lastet nach einem INF-Abkommen, das wir wollen, noch schwerer auf uns. Ich hoffe, auch da gibt es keine Meinungsverschiedenheiten. Ehe diese Last durch weitere Maß-nahmen der Rüstungskontrolle vermindert werden kann, wird nach aller Erfahrung noch eine geraume Zeit vergehen. Ich glaube, auch das ist unstreitig.Solange sich beim derzeitigen Kräfteverhältnis keine Wende vollzieht, verlangt dies von uns allen die Verbesserung der konventionellen Fähigkeiten. Das hat jedenfalls die SPD bis vor kurzem noch gesagt und auch geschrieben.Das heißt in der konkreten Auswirkung auf unsere Haushaltsgestaltung: Unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann nur dann den Herausforderungen standhalten und die Bundeswehr kann nur dann in den 90er Jahren ihren Auftrag erfüllen, wenn wir heute und in den kommenden Jahren bereit sind, die hierfür erforderlichen Bedingungen zu schaffen — und das heißt: auch die finanziellen Bedingungen.Jetzt, Herr Kühbacher, komme ich auf Ihre Ausführungen zu sprechen — wir können ganz offen miteinander reden — : Der Entwurf des Verteidigungshaushalts 1988 sieht eine Steigerungsrate von 2,1 % vor. Das ist weniger, als in Brüssel vereinbart wurde. Das ist richtig. Was heißt „vereinbart"? Das ist eine Bemühensklausel, die auf 3 % abzielt.
Wir bleiben darunter. Wir stehen zwar wesentlich besser als die meisten anderen Verbündeten, aber es ist keine Frage: Wir bleiben darunter.Ich möchte nur mit aller Zurückhaltung darauf aufmerksam machen: Diese Bemühensklausel ist von Ihnen und Ihrer Regierung in einer Zeit aufgenommen worden, in der Sie sie nie eingehalten haben. Es ist bekannt — ich habe das hier in diesem Parlament schon oft gesagt —,
daß ich dies nicht für einen tauglichen Maßstab halte. — Ich bin allerdings in der Allianz zusammen mit anderen dafür eingetreten, daß wir diese Latte nicht preisgeben, solange wir sie nicht durch eine tauglichere ersetzt haben. Daran arbeiten wir. Deswegen, lieber Herr Kühbacher, sage ich — das haben Sie mit Recht zitiert — : Der Verteidigungshaushalt des Jahres 1988 reicht gerade aus, um die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte sicherzustellen, die laufenden Modernisierungen fortzusetzen und die von mir seit 1983 gesetzten Schwerpunkte aufrechtzuerhalten.
Aber — auch das spreche ich aus — der Haushalt erlaubt nicht die Verbesserung der konventionellen Kampfkraft im wünschenswerten Ausmaß.Das gilt vor allem für die mittelfristige Finanzplanung. Das habe ich im Kabinett gesagt. Das habe ich in der Öffentlichkeit gesagt. Das wiederhole ich vor diesem Parlament. Deswegen gibt es einen Kabinettsbeschluß, wonach wir im späteren Herbst die mittelfristige Finanzplanung in diesem Punkte noch einmal überprüfen. Sehen Sie, hier ist der Unterschied zu meinem Amtsvorgänger. Ich habe noch einmal alle Reden aus dem Jahr 1981 nachgelesen. Ich habe ihn damals heftig kritisiert. Ich habe nicht, wie gelegentlich behauptet wird, seinen Rücktritt gefordert. Aber
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1628 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundesminister Dr. Wörnerwas ich ihm immer vorgeworfen habe, ist, daß er die Sache beschönigt hat. Das werde ich nicht tun. Vielmehr sage ich im vollen Bewußtsein dessen, was ich ausführe: Die Bundeswehr kann mit dem Haushalt 1988 knapp leben, aber die mittelfristige Finanzplanung sollte verbessert werden, um langfristig die konventionelle Verteidigungsfähigkeit zu stärken.Dabei füge ich allerdings hinzu, Herr Kühbacher— das wissen Sie sehr genau; ich gehe im einzelnen auch noch auf Sie ein — : Der Zustand der Bundeswehr ist heute ungleich besser als im Jahre 1981, 1982. Ich glaube kaum, daß das einer bestreiten kann.
Wir haben im Unterschied zu früher eine schlüssige Bundeswehrplanung, die realistisch ist
— ich komme gleich darauf, Herr Walther; ich werde mich auch mit Ihnen gerne noch auseinandersetzen —,
die eine klare Prioritätensetzung enthält. Wir haben die wichtigsten Probleme der Streitkräfte angepackt und sind dabei — gerade im personellen Bereich —, sie zu lösen.Herr Kühbacher, was Sie sagen, trifft nicht zu. Ich nehme Ihnen ab, daß Sie sich ernsthaft mit den Problemen der Bundeswehr befassen. Das sage ich nicht so daher. Wir kennen uns, und ich weiß, daß Sie sich für die Bundeswehr engagieren, daß Sie in der Bundeswehr auch als Reserveoffizier tätig sind. Deswegen kann ich mich mit Ihnen über diese Frage sehr sachlich auseinandersetzen. Nur, lieber Herr Kühbacher, Sie haben ja in den letzten Jahren beobachtet, was alleine auf dem personellen Sektor geschehen ist: wenn ich etwa an die Milderung des Verwendungsstaus denke. Er wirkt sich in der Armee draußen aus; im übrigen im Bereich der Unteroffiziere am allermeisten. Dort haben wir am meisten erreicht, noch mehr als bei den Offizieren. Wenn ich an die Absicherung gegen Arbeitslosigkeit denke, wenn ich an die verbesserte Unterhaltssicherung denke. Wenn ich an die 4 000 neuen Planstellen in vier Jahren denke, wenn ich daran denke, daß wir die soziale Lage da und dort einschneidend haben verbessern können.Nun bringen Sie diesen Vergleich zwischen der Beschaffung eines zugegebenermaßen sehr teuren Waffensystems und der Bekleidung der Soldaten. Dazu lassen Sie mich nur eines sagen: Wer hat eigentlich das neue Bekleidungskonzept mit einem Finanzaufwand von 450 Millionen DM durchgesetzt, wenn nicht diese Koalititon, wenn nicht dieser Bundesminister der Verteidigung?
— Mit Ihrer Unterstützung allerdings, aber wir haben es angepackt und umgesetzt.
— Lieber Herr Kühbacher, ich bin ja gerne bereit, mich mit Ihnen um die Lorbeeren zu streiten. Nur eines kann ich Ihnen natürlich nicht abnehmen
— hören Sie mir doch einen kurzen Moment zu, Frau Traupe; Sie sind doch sonst nicht so — :
Sie reden von den sehr hohen Entwicklungskosten des Jagers 90. Nun will ich Ihnen ein Beispiel geben. Die Entwicklungskosten für den Tornado gingen in die Milliarden. Ich hätte mich gefreut, wenn der Herr Kühbacher damals, als alle diese personellen Probleme, die wir inzwischen gelöst haben, noch fortbestanden haben, meinem Amtsvorgänger den Rat gegeben hätte, doch erst einmal nach den personellen Problemen der Bundeswehr zu schauen, bevor er sich mit der Beschaffung so teurer Waffensysteme beschäftigt. Herr Kühbacher, das ist unter Ihrem Format. Sie wissen ganz genau: Wir müssen die Soldaten als Soldaten — im übrigen auch die zivilen Bediensteten der Bundeswehr als zivile Bedienstete — ernst nehmen. Wir müssen für sie sorgen. Das ist für mich ganz selbstverständlich. Aber sie brauchen auch moderne Waffensysteme. Denn der Warschauer Pakt hat auch keine Flugzeuge von vorgestern, sondern Flugzeuge von heute und morgen. Da wir in der Lage sein müssen, unseren Auftrag zu erfüllen, können wir nicht mit Fahrrädern gegen Panzer antreten und nicht mit Flugzeugen von vorgestern gegen solche von heute, meine Damen und Herren.
Die konsequente Umsetzung unseres Personalkonzepts hat im übrigen dazu geführt, daß die Streitkräfte— das wissen Sie, Herr Kühbacher, ganz genau — heute die beste Personallage in ihrer Geschichte hat,
z. B. 17 000 Unteroffiziere oder 40 000 neue Zeitsoldaten 1986. Wenn ich mir die Prophezeiungen angucke, mit denen nicht Sie persönlich, aber die Opposition mich dauernd verfolgt hat — das sei unrealistisch usw. — , und dann sehe, was geworden ist, hätte ich wenigstens erwartet, daß Sie sich insofern korrigieren.Auch der Haushalt 1988 — ich sagte das — berücksichtigt die seit 1983 geltenden Schwerpunkte. Der Anteil der Längerdienenden wird erneut erhöht. Für die Soldaten sind 1 072 neue Planstellen und Stellenanhebungen in den Haushalt eingestellt. Vor allen Dingen ist es uns endlich gelungen, den Durchbruch beim Zivilpersonal der Bundeswehr zu erreichen. Ich finde das eine bemerkenswerte Sache.
Auch im Materialbereich haben wir Vorsorge getroffen, den hohen Ausbildungsstand der Bundeswehr künftig zu halten. Hier wird nicht gekürzt, nicht
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1629
Bundesminister Dr. Wörnergestrichen. Alle Übungen können durchgeführt werden. Nur so läßt sich der Ausbildungsstand halten.Richtig ist, daß wir die Ansätze für Forschung, Entwicklung und Erprobung, die wir seit 1984, von Ihnen kritisiert, um über 50 % aufgestockt haben,
nunmehr um 1,2 % reduzieren müssen. Das ist im Hinblick auf die Steigerungen in den vergangenen Jahren verkraftbar, aber nicht schön. Auch das sage ich offen.Der Schwerpunkt der Beschaffung — um das nun anzugehen — liegt weiterhin beim sogenannten Peripheriegerät, mit dem die Einsatzfähigkeit der Waffensysteme verbessert wird. Deshalb weisen die Ansätze für Fernmeldegerät, Führungs-, Informations-, Waffeneinsatzsysteme trotz insgesamt sinkender Beschaffungsausgaben eine steigende Tendenz auf. Die Beschaffungsansätze für Munition, die wir ebenfalls drastisch gesteigert haben — aus den Gründen, die Sie kennen; das wird von der Allianz anerkannt, da sind wir beispielhaft in der ganzen Allianz —,
werden wir auf hohem Stand halten können, allerdings nicht ganz uneingeschränkt.Nun kann ich es mir an dieser Stelle, lieber Herr Kühbacher — jetzt spreche ich auch den Herrn Ehmke an — , allerdings nicht versagen, auf die Widersprüchlichkeiten der Kritik der Opposition hinzuweisen. Die einen kritisieren — so etwa der Herr Ehmke gerade vorher — , es werde zu wenig Geld für die Verteidigung ausgegeben.
Die anderen dagegen wenden sich gegen die Beschaffung von zusätzlichen Leo II, ECR-Tornados und Fregatten. Zu wenig oder zuviel —
ich denke, Sie müssen sich entscheiden.
Meine Damen und Herren, ein Herr Ehmke, der kritisiert, daß für die Verteidigung zu wenig ausgegeben wird, der muß daran erinnert werden, daß er einem Parteitagsbeschluß der SPD in Nürnberg im August 1986 zugestimmt hat, der die Reduzierung der Mittel für die Bundeswehr und damit die Reduzierung ihrer Einsatzbereitschaft zur Folge gehabt hätte.
Deswegen: Bleiben Sie glaubwürdig, lieber Herr Ehmke!
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Wörner, würden Sie der Wahrheit die Ehre geben und mir zugestehen, daß das, was Sie im Augenblick an Haushalt vorlegen, nicht im geringsten durch das behindert wird, was wir an Festlegung auf einen Prozentteil beschlossen haben? — Das ist das erste.
Das zweite. Ich beanstande, daß bei Ihnen Worte und Zahlen fast in keinem Fall übereinstimmen, und verlange nicht, daß mehr Geld für die Rüstung ausgegeben wird. Was Sie sagen und planen, ist finanziell nicht abgesichert. Sie sind schon dabei, es zusammenzustreichen.
Punkt 1. Das ist eine Kritik, die ich seit den Jahren höre, in denen ich im Amt bin. Bis jetzt hat alles gestimmt, und wir haben unsere Planungen umgesetzt. Das sollten Sie wenigstens zugestehen.
Punkt 2. Ihre erste Behauptung ist schlichtweg falsch. Ich lese Ihnen Ihren Beschluß vor:
Eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung wird als ersten Schritt den Verteidigungshaushalt zurückführen auf den Anteil, den dieser am Gesamthaushalt der letzten sozialdemokratisch geführten Bundesregierung hatte.
Das würde einen Verlust von über 2 Milliarden DM für den Haushalt des Bundesministers der Verteidigung bedeuten. Damit wären wir nicht mehr in der Lage, die Aufgaben der Bundeswehr sicherzustellen. Das ist die Wahrheit.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Jetzt möchte ich weitermachen; sonst komme ich mit der Zeit nicht hin.
Nun habe ich eine neue Variante der Kritik von Herrn Walther gelesen. Das ist interessant. Statt eigene oder europäische Entwicklungen — PAH II, Jäger 90 — durchzuführen, sollte ich lieber amerikanische Waffensysteme kaufen. Nun kaufen wir schon eine ganze Reihe.
Nun will ich nicht bestreiten, daß multinationale europäische Beschaffungsvorhaben nicht selten zusätzliche Kosten verursachen. Ich will auch nicht bestreiten, daß amerikanische Waffensysteme im einen oder anderen Falle billiger wären.
Übrigens — ich sage es noch einmal — kaufen wir schon erheblich mehr, dreimal mehr bei den Amerikanern als die bei uns. Das bleibt aber nur so lange, wie europäische Konkurrenz vorhanden ist. Und jetzt frage ich Sie, Herr Kollege Walther, und auch das
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1630 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundesminister Dr. Wörnerwirklich nicht polemisch: Was wären die Folgen für die europäische Zusammenarbeit, die Sie ja dauernd beschwören, wenn ich europäische Rüstungsprojekte gerade im hochtechnologischen Bereich opferte? Was wären die Folgen für die Industrie, z. B. für unsere Luft- und Raumfahrtindustrie, die zu den hochtechnologischen, zukunftsorientierten Bereichen zählt und von welcher auch die zivile Seite sehr viel profitiert?Ich habe mich gerade — ich hoffe, es war ein Ausrutscher — als ein Mann darstellen lassen müssen, der wohl sein Herz mehr bei der Rüstungsindustrie als bei den Soldaten habe. Daß die Soldaten es besser wissen, dürfen Sie ihnen abnehmen; das können Sie auch leicht feststellen. Ich sage Ihnen aber: Ich bekenne mich zu einer deutschen und europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie. Wir reden soviel vom Strukturwandel in unserer Industrie und unserer Wirtschaft: Unsere Zukunft ruht auf der Hochtechnologie. Wenn wir die Luft- und Raumfahrtindustrie militärisch oder zivil, in einem der beiden Bereiche, preisgeben, wird das unser Volk später teuer zu bezahlen haben, am teuersten übrigens die Arbeiter, denen dann die Arbeitsplätze fehlen werden.
Diese Industrie wäre nicht mehr lebensfähig oder nur noch als Lizenznehmer. Ich hielte das für eine groteske Fehlentscheidung. Das ist auch die Meinung der Bundesregierung insgesamt.Nun zu den Aufgaben, die vor uns liegen.
— Bitte schön. Herr Präsident, ich bin gerne bereit, Zwischenfragen zu beantworten, wenn mir diese Zeit nicht angerechnet wird.
Bitte sehr.
Herr Bundesminister, ich kann natürlich jetzt nicht alles widerlegen, was Sie an Falschem über mich gesagt haben. Wären Sie bereit, mir zuzugestehen, daß die Devise, die Sie aufgestellt haben, nämlich möglichst viel in Europa zu produzieren, nur dann stimmen kann, wenn die europäischen Wettbewerber auch nur in etwa wettbewerbsfähig sind und wir nicht sehr viel mehr Milliarden gegenüber der Lösung ausgeben müßten, die ich öffentlich vorgeschlagen habe, sehr viel mehr Milliarden?
Herr Kollege Walther, zunächst einmal habe ich das, was Sie gesagt haben, in den Zeitungen gelesen. Es mag sein, daß es dort nicht korrekt wiedergegeben wurde.Zum zweiten. Sie haben ein ganz wichtiges Problem angeschnitten. Sie wissen um die Größe des amerikanischen Markts, und Sie wissen darum, daß der europäische Markt begrenzt ist. Da Sie auch um unsere Politik der Begrenzung des Rüstungsexports wissen, müssen Sie sich darüber im klaren sein, daß Sie, wenn Sie die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrien in dem Bereich erhalten wollen, über den wir reden, da und dort geringere Stückzahlen produzieren müssen. Das heißt, daß es automatisch etwas teurer wird.
— Ja, gut, ich sage nur: Selbstverständlich müssen wir wettbewerbsfähig sein und bleiben. Ich werde diese Position jedenfalls energisch vertreten, nicht weil ich denke, daß dies für irgendeine Lobby von Bedeutung ist, sondern weil das für unseren Staat, für die Wirtschaftsordnung und vor allen Dingen für die Arbeitnehmer von enormer Bedeutung ist.Lassen Sie mich in der verbleibenden Zeit mich den drei großen Aufgaben zuwenden, die im kommenden Jahr vor uns stehen, einmal die Verwirklichung der Personalplanung, zweitens die Vorbereitung für die Anpassung der Bundeswehr, insbesondere der Heeresstruktur an die Personallage der 90er Jahre unter Einschluß des neuen Reservistenkonzepts, und drittens die Überarbeitung der Rüstungsplanung. Alle drei Aufgaben sind miteinander verknüpft.Um beim letzten anzufangen — das war ja Ihr Thema — : Rüstungsplanung. Ich höre und ich lese von einigen Beobachtern, die Bundeswehrplanung sei überholt, sie sei zusammengebrochen. Herr Ehmke sagt, sie sei Makulatur geworden. Davon kann keine Rede sein. Richtig ist, daß sie an die personellen, finanziellen, materiellen Rahmenbedingungen angepaßt werden muß. Das aber ist eine Daueraufgabe, die wir inzwischen routinemäßig, Kollege Kühbacher, wie das jedes anständige Industrieunternehmen auch tut, zweimal jährlich in Planungskonferenzen erledigen, und zwar nach Zielvorgaben und mit Hilfe eines Instrumentariums, das wir in den letzten fünf Jahren weiterentwickelt haben.Dabei ist gerade in den letzten Monaten ein entscheidender Durchbruch erzielt worden. Der militärische Führungsrat hat ganz in meinem Sinne die Zusammenlegung Teilstreitkraft/gemeinsame Auf gaben in die Wege geleitet. Damit wurde etwas fast erreicht, was der vorangegangenen Regierung nicht gelungen ist, was damals zum Rücktritt eines Generalinspekteurs geführt hat, wie Sie wissen. Ich bedanke mich auch beim Generalinspekteur für seine tatkräftige Unterstützung wie auch bei den Inspekteuren der Teilstreitkräfte. Natürlich hat die Finanzenge dazu beigetragen, daß dieses Verständnis eingekehrt ist. Ein großer Fortschritt!Aber wenn nun ausgerechnet die SPD — ich sehe jetzt meinen Kollegen Apel an — das Scheitern der Bundeswehrplanung behauptet, dann muß ich sagen, daß das nicht besonders glaubwürdig ist. Als Sie die Regierung übergaben, gab es seit Jahren keinen gebilligten Bundeswehrplan mehr. Der Kollege Apel weiß das sehr wohl. Hätten wir so weitergemacht, dann fehlte noch heute ein Maßstab, an dem man Entscheidungen vernünftig und nach Prioritätsgesichtspunkten orientiert treffen könnte.Sie können ganz sicher sein: Ich werde die Prioritäten nicht preisgeben, obwohl die Versuchung da ist. Die Schwierigkeiten des Amtes, Kollege Apel, habe auch ich inzwischen kennengelernt. Ich werde nicht in die Sünden der Vergangenheit — damit meine ich
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1631
Bundesminister Dr. Wörnerjetzt nicht Sie, sondern viele Ihrer Vorgänger — zurückfallen. Ich werde also nicht Hauptwaffensysteme beschaffen oder produzieren, ohne daß dafür die erforderliche Ausrüstung und Munition verfügbar sind.Sobald die Daten der mittelfristigen Finanzplanung endgültig festliegen, wird der neue Bundeswehrplan aufgestellt und dem Parlament vorgelegt. Herr Kühbacher, daran ist gar nichts Sensationelles. Da wir ihn zweimal jährlich überprüfen, anpassen müssen, wie das in einem geordneten Planungsverfahren nun einmal so der Fall ist, werden Sie im Parlament, wenn Sie ihn nicht sofort anschließend anfordern, sondern ein halbes oder dreiviertel Jahr später darüber beraten, immer vor einem teilweise — ich sage: teilweise — überholten Bundeswehrplan stehen.Nun zur Heeresplanung. An dieser neuen Heeresplanung wird seit zwei Jahren intensiv gearbeitet. Es liegt auf der Hand, daß es die größte Teilstreitkraft besonders schwer hat, trotz knapper Kassen und geringerer Zahl aktiver Soldaten die Erfüllung des Auftrags auch in der zweiten Hälfte der 90er Jahre sicherzustellen. Herr Kollege Kühbacher, ich sage das zu Ihnen, aber auch zu allen anderen Kollegen: Die neue Heeresstruktur ist die Heeresstruktur des Jahres 1995 plus, d. h. für 1995 und danach. Sie wird nicht eine dramatische Strukturreform sein. Sie wird die nötigen Anpassungen enthalten. Für das Heer wird es dabei vor allem darauf ankommen, sich erstens für die Vorneverteidigung mehr als bisher auf Reservisten abzustützen, zweitens das Verhältnis von präsenten zu aufwuchsorientierten Truppenteilen neu zu bestimmen, hierbei der Lebensfähigkeit der Truppenteile besonderes Gewicht zu geben, das Zusammenwirken zwischen hochmechanisierten beweglichen Brigaden und Sperrkräften und der Nutzung modernster Panzerabwehrwaffen und Sperrmittel neu zu organisieren und durch Einstieg in die Luftmechanisierung eine neue Dimension der Beweglichkeit für die Vorneverteidigung zu erschließen.
— Wir können das gerne im Ausschuß diskutieren und werden das sicher. — Ich habe von Ihrer Seite nun das Angebot zur Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung der Heeresstruktur gehört. Ich nehme dieses Angebot mit Dank an.Nur ein letztes zu diesem Kapitel. Sie sprachen davon, daß ich mich verabschieden wollte oder würde. Nun habe ich nicht die Absicht, über das zu spekulieren, was der Kollege Ehmke so niedlich und freundlich und in voller nationaler Solidarität kommentiert hat. Das werden Sie sicher verstehen. Nur eines ist klar, da können Sie mich beim Wort nehmen: Wie auch immer, die Entscheidungen, die ich jetzt darstelle, sind bis Mitte nächsten Jahres getroffen. Das heißt, ich habe nicht die Absicht, was auch immer wird, diese Art von Verantwortung auf irgendeinen zu übertragen. Diese schwierigen Entscheidungen werde ich noch selbst verantworten.Das gilt im übrigen auch für die Personalplanung. Wir müssen hier den eingeschlagenen Weg konsequent fortsetzen. Die Jahrgangsstärken — das wissenSie alle — sinken drastisch. Als Folge ist auch mit einem Absinken der Verpflichtungszahlen zu rechnen, wenn nicht gegengesteuert wird. Dies werden wir tun. Wir haben schon angefangen. Bis jetzt hat das immer geklappt. Der Dienst in den Streitkräften muß und wird auch in den kommenden Jahren attraktiv gehalten werden. Attraktivität entscheidet sich an drei Faktoren: Einmal am Klima in den Streitkräften. Da stimme ich Ihnen zu, Herr Kühbacher. Das heißt, wir brauchen ein menschliches Klima, und wir brauchen Führungsvermögen der Vorgesetzten. Zweitens entscheidet es sich am Ansehen der Streitkräfte in der Öffentlichkeit und drittens an den materiellen Bedingungen. Dazu gehören die Fragen, die Sie mit Recht angeschnitten haben: die Dienstzeitbelastung. Nun können Sie gern meine Amtsvorgänger fragen, wie schwierig es ist, die Dienstzeitbelastung dieser Armee bei einem konstanten Personalanteil und bei wachsenden Aufgaben zu drücken. Dann werden Sie hören, wie schwierig das ist. Wir haben einige Fortschritte erreicht, aber sie genügen auch mir nicht.Sie wissen, daß wir zu individuellen Dienstzeitentschädigungen übergehen wollen und werden. Dazu gehören Zulagen in kritischen Bereichen, verbesserte Leistungen der Unterhaltssicherung, die Gesetzesänderung zur Absicherung gegen Arbeitslosigkeit.Ich sage nun auch etwas zur Berufsförderung: Berufsförderung muß noch stärker ausgebaut werden, wir brauchen mehr zivilberuflich verwertbare Ausbildungsgänge.Übrigens, noch zur NATO: Wenn Leute bei der NATO beschäftigt sind — das ist bei den Soldaten nicht anders als bei den Zivilen, bei der EG nicht anders als bei der NATO — , dann werden sie nach der Besoldungsordnung bezahlt, die dort vereinbart worden ist. Der deutsche Bundesminister der Verteidigung ist leider Gottes nicht in der Lage, die Besoldungsordnung der NATO festzulegen, ich so wenig wie irgendeiner meiner Vorgänger, ob er von der SPD oder der CDU kam.Lassen Sie mich nun aber ein Wort zu einer Gruppe von Soldaten sagen, an denen die Maßnahmen bis jetzt im wesentlichen vorbeigegangen sind — ich meine die Maßnahmen zur Milderung des Verwendungsstaus — : Das sind die älteren Hauptleute, Truppenoffiziere, die das Pech hatten, in überbesetzten Jahrgängen zu stecken, die daher vom Personalstrukturgesetz nur in wenigen Fällen profitieren konnten. Sie haben nur das Pech, in überbesetzten Jahrgängen zu stecken. Sie leisten etwas, sie sind nicht schlechter als andere. Weil sie aber dieses Pech haben, kommen sie nicht voran. Einige von ihnen sind über zehn Jahre Kompaniechef, haben ihren Stabsoffizierslehrgang zum Teil schon seit Jahren bestanden und haben dennoch keine Chance, in absehbarer Zeit Stabsoffizier zu werden. Das Wissen darum, kurz vor ihrer Zuruhesetzung noch den Enddienstgrad erreichen zu können, ist für sie nur ein schwacher Trost. Es gibt keinen Zweifel: Bei einigen von ihnen greifen Enttäuschung, ja sogar Hoffnungslosigkeit um sich. Ich sage hier: Es ist bewundernswert, mit welcher Dienstauffassung und Hingabe gleichwohl die meisten der Betroffenen
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1632 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundesminister Dr. Wörnerunverdrossen mit einer hohen Dienststundenbelastung ihren Dienst leisten.
— Sie sollten sich darüber nicht lustig machen. Denen haben Sie von den GRÜNEN es mit zu verdanken, daß Sie überhaupt in einem freien Parlament sitzen können.
Ich sage noch einmal: Gerade darum haben sie Anspruch darauf, daß wir uns ihres Problems annehmen. Das will ich tun. Ich habe mit einigen Maßnahmen begonnen. Ich bitte das Parlament sehr herzlich um Unterstützung.
Auch im Bereich der Offiziere und der Unteroffiziere des militärfachlichen Dienstes muß noch mehr geschehen, um die Schere zwischen Dienstposten und Planstellen weiter zu schließen.
— Ich muß sagen: Wir diskutieren im Augenblick über die Frage, wie wir dieses Land sicher halten können. Damit hat diese Frage nur bedingt etwas zu tun — obwohl auch darin eine große Leistung liegt, wie ich dankbar anerkenne.Ich weiß, meine Damen und Herren, um das abzuschließen: Die Zeiten für einen Verteidigungsminister sind nicht einfach. Viele Menschen beginnen zu vergessen, worauf der Friede beruht. Sie denken nicht mehr daran — das sage ich gerade Ihnen, die dazwischenrufen — , daß sie ihre Freiheit und ihren Frieden einer wirksamen Verteidigung zu verdanken haben. Viele reden nur noch von Abrüstung und denken nicht daran, daß die Chancen zur Abrüstung nur so lange bestehen, als wir stark genug sind, uns zu behaupten. Illusionen sind wohlfeil, Verteidigung dagegen ist teuer. All denen, die das nicht mehr im Sinn haben, sei gesagt: Sicherheit ist nicht alles, aber ohne Sicherheit ist alles nichts. Freiheit und Friede — lieber Herr Mechtersheimer, das werden Sie auch noch begreifen — sind nicht zum Nulltarif zu halten und zu haben, sondern nur, wenn wir unserem Volk die entsprechenden Opfer zumuten. Dann werden wir unserem Volk auch in der Zukunft so wie in den vergangenen Jahren mit Hilfe einer entschlossenen Politik ein Leben in Frieden und ein Leben in Freiheit ermöglichen können.Ich danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Horn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich drei Vorbemerkungen machen.Erstens. Heute haben wir zum erstenmal den Begriff Heeresstruktur '95 ff aus dem Munde des Ministers gehört. Ich bin dankbar dafür, denn dies führt genau auf den Weg, den wir schon lange gewiesen haben.Zweitens. Was wir kritisieren, ist kein Widerspruch bei uns, sondern die Unausgewogenheit von Planungen und Beschaffungen.
Drittens. Herr Minister, wir haben Probleme bei dem Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit.
Entweder die Bedrohungsanalyse ist richtig — dann sind Ansatz und mittelfristige Finanzplanung nicht zu verantworten — oder die mittelfristige Finanzplanung und der Haushaltsansatz sind korrekt; dann ist die Bedrohungsanalyse überzogen. Beides stimmt jedenfalls nicht überein.„Ernstfall für Wörner" lautet die Überschrift der Wochenzeitung „Die Zeit" vom 3. Juli 1987. Es heißt weiter:Verteidigungsminister Wörner steht in Kürze vor der schwierigsten Entscheidung seiner bisherigen Amtszeit ... Die gesamte Bundeswehrplanung bis zum Jahr 2000 ist in Frage gestellt. Als die Bundeswehrstrategen ihren neuen, jährlich fortzuschreibenden Bundeswehrplan zu Jahresbeginn 1988 aufstellten, offenbarte sich ihnen in aller Klarheit, was die Spitze des BMVg jahrelang nicht wahrhaben wollte: Die gegenwärtigen Pläne sind in den nächsten Jahren nicht mehr zu finanzieren.Ministerialdirigent Hartmut Bebermeyer, der frühere Leiter der Unterabteilung Recht, wirtschaftliche Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik im Wirtschaftsministerium, charakterisiert die unzulänglichen Bemühungen der Planer mit den Worten:Mit solch dürren Formulierungen kaschieren die militärischen Experten die bisher tiefste Krise der Bundeswehr.Die politische Führung weiß schon jahrelang um die sich zuspitzende katastrophale Lage, in die die Bundeswehr hineingerät. Personalumfang, Beschaffungsvorhaben und Finanzmittel können unter der bestehenden Struktur der Bundeswehr nicht miteinander zur Deckung gebracht werden. Haushalt und Bundeswehrplan sind unsolide. Sie haben keinen Bestand. Die politische Leitung kannte die auf uns zukommenden Probleme. Sie hat die sachlichen Vorschläge der SPD bisher verworfen. Heute — das höre ich sehr gern — haben wir das erste Angebot erhalten. Wir werden die Regierung beim Wort nehmen.In erster Linie haben wir ein positives Signal an unsere Soldaten zu geben.Die Zahl derjenigen, die sich weiterverpflichten wollen, ist im ersten Halbjahr 1987 dramatisch gesunken; sie ist um 18 % zurückgegangen. Das macht in der Folge ein Minus von 25 000 Soldaten aus. Das ist
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1633
Horneine nicht mehr rückgewinnbare Größenordnung. Seit 1984 liegt der Kabinettsbeschluß auf Erhöhung der Verpflichtungsprämie auf Eis — mit einer kostenmäßigen Auswirkung von nur 300 Millionen DM bei einem Haushalt mit einem Volumen von über 51 Milliarden DM!Der gesamte Bundeswehrplan ist nur noch Makulatur. Da kann man — an die Adresse des Ministers gerichtet — nur noch Bert Brecht zitieren:Ja, mach nur einen Plan Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch 'nen zweiten PlanGehn tun sie beide nicht.Das soziale Umfeld der Bundeswehr bedarf einer dringenden Verbesserung. Dies betrifft unter anderem die unwürdigen Wohnverhältnisse der Soldaten und ihrer Familien, die Umzugshäufigkeit mit den daraus resultierenden Problemen für die Kinder, eine Verbesserung der Mitbeteiligungsrechte unserer Soldaten und vor allem eine angemessene Verbesserung der Dienstzeitregelung. Es geht nicht an, daß die Soldaten als einzige Gruppe in unserer Gesellschaft nach Gutsherrenart behandelt werden. Deshalb wird die SPD, entsprechend unserem Parteitagsbeschluß von Nürnberg, einen Antrag auf gesetzliche Dienstzeitregelung im Deutschen Bundestag einbringen.
Zur Bundeswehrplanung sage ich Ihnen heute schon voraus, daß Sie nicht umhin können, den Vorschlägen der Sozialdemokraten zu folgen. Erstens: Der Präsenzumfang der Bundeswehr wird kein Tabu bleiben. Zweitens: Eine Kaderung in allen drei Teilstreitkräften ist unumgänglich. Drittens: Eine in die Struktur tief eingreifende Entmechanisierung ist schon heute absehbar. Viertens: Der Aufbau von Sperrverbänden ist unerläßlich.Hier kann man sagen: Andreas von Bülow, Erwin Horn und der Nürnberger Parteitagsbeschluß der SPD lassen grüßen.Die bevorstehenden Änderungen der Bundeswehrstruktur geben die Chance, auf neuere Entwicklungen im Ost-West-Verhältnis vorbereitet zu sein und adäquat zu reagieren. Wir wollen eine Organisation unserer Streitkräfte, die den vorgesehenen Verhandlungen über konventionelle Stabilität zwischen dem Atlantik und dem Ural keine Barrieren entgegenstellt, sondern sie erleichtert. Wenn das Ziel dieser Verhandlungen Nichtangriffsfähigkeit ist, dann können wir durch eine entsprechende, ohnehin notwendig werdende Umstrukturierung der Bundeswehr einen nach vorne weisenden Beitrag leisten. Es darf nicht sein, daß richtige Schritte zum Abbau von Bedrohungen in Ost-West-Verhandlungen scheitern, weil unsere Armee auch heute noch nach Gesichtspunkten organisiert ist, die einer überholten Bedrohungssituation entsprechen.Gegenwärtig stehen die Anhäufung von Waffen in Mitteleuropa und die Streitkräftestrukturen beider Seiten in keinem echten Verhältnis zur tatsächlichen Intensität des Konfliktes zwischen Ost und West. Die Entspannungspolitik, darunter auch die Ergebnisse der KVAE, haben die Lage in Europa entscheidendgeändert. Auch in der Sicherheitspolitik und in der Organisation der Verteidigung muß diese Veränderung ihren Niederschlag finden.Die jetzige Bundesregierung hat immer wieder behauptet, die Staaten des Warschauer Paktes seien weit mehr gerüstet, als zur bloßen Verteidigung erforderlich ist. Dieser Satz reicht heute nicht mehr aus. Heute müssen wir vom Verteidigungsminister eine Antwort darauf erwarten, wieviel Verteidigung er der anderen Seite zuzubilligen bereit ist und wie durch Beiträge unserer Seite das Ziel einer gemeinsamen Sicherheit auf der Basis von konventioneller Stabilität erreicht werden kann. Solange hierzu von der Regierung nichts vorgelegt wird, wirkt der andauernde Hinweis auf die östliche Überlegenheit eher wie eine Beschwörung.Gerade im Zusammenhang mit Veränderungen der Bundeswehrstruktur wäre es wichtig, von der Bundesregierung zu erfahren, wie sie sich auch im konventionellen Bereich ein stabiles Europa vorstellt. Der enge Zusammenhang zwischen den bevorstehenden Abrüstungsverhandlungen und den Verteidigungsstrukturen unserer Armee erfordert Flexibilität, anders formuliert: die Fähigkeit zur flexiblen Reaktion, um dem Begriff endlich einmal eine in die Zukunft weisende produktive Bedeutung zu geben.
Was spricht eigentlich dagegen, das Thema der Umstrukturierung in der Verteidigung in einen Dialog mit der anderen Seite einzubringen? Vielleicht könnten damit Fehlentwicklungen vermieden werden, die die bisherigen einseitigen und autonom getroffenen Rüstungsentscheidungen auf beiden Seiten gebracht haben. Das alte Muster, nach dem eine Seite ihre militärische Effektivität erhöht und die andere Seite zur ebenfalls autonom getroffenen Entscheidung veranlaßt, ihrerseits zu erhöhen, hat den Rüstungswettlauf in Gang gehalten; mehr Sicherheit hat es nicht gebracht. Ein kooperatives Herangehen könnte diese überholte Mechanik durchbrechen.Hier sind nicht unsere Soldaten gefragt; sie sind bereit dazu, auf dieser Basis von Beiderseitigkeit, Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit auch dies zu leisten. Hier ist die Politik im Obligo. Das sind wir als Parlament und vornehmlich auch die Regierung. Auf Ihre Vorschläge warten wir; unsere Zielsetzungen sind klar. JVielen Dank.
Im Rahmen der Beratung des Entwurfs des Haushaltgesetzes 1988 fahren wir mit dem Bereich der Innenpolitik fort. Ich erteile dem Herrn Bundesminister des Innern das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß eine unserer wichtigsten Aufgaben die Bewahrung der inneren Sicherheit ist, darüber gibt es sicher keinen Streit. Es geht dabei um die Freiheit der Menschen in diesem Land und um das Vertrauen, das sie zu diesem Gemeinwesen haben.
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1634 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundesminister Dr. ZimmermannFreiheit gibt es nur dort, wo es Sicherheit gibt. Wer um sein Leben, seine Gesundheit, sein Eigentum oder etwas anderes fürchten muß, lebt nicht wirklich frei.
Der demokratische Rechtsstaat darf dem Rechtsbrecher und der Gewalt nicht weichen. Er muß vorbeugen und Verletzungen ahnden.Dazu braucht er Sicherheitsbehörden, die auf Grund ihrer personellen und materiellen Ausstattung in der Lage sind, den inneren Frieden und damit den Schutz der Bürger zu gewährleisten.Er bedarf aber auch des Rückhalts in der Bevölkerung und der Unterstützung derer, die politische Verantwortung tragen. Die Mitarbeiter unserer Sicherheitsbehörden können darauf vertrauen, daß diese Regierung zu ihnen steht.Die Bundesrepublik Deutschland ist unvermindert einer vielfältigen terroristischen Bedrohung ausgesetzt. Das zeigte sich zuletzt an dem heimtückischen Anschlag auf den Vorsitzenden Richter Dr. Korbmacher durch Revolutionäre Zellen. Es gibt kein Nachlassen der Bedrohung; darüber muß man sich im Maren sein.Ein Wort zur Geiselaffäre im Libanon. Die Bundesregierung freut sich, daß Alfred Schmidt wieder bei uns ist. Wir werden unsere Bemühungen fortsetzen, daß auch Rudolf Cordes möglichst bald freikommt.
Besondere Beobachtung verdienen die Zuwachsraten bei der politisch motivierten Gewaltkriminalität, Eingriffe in den Bahnverkehr, Brand- und Sprengstoffanschläge und Anschläge auf Einrichtungen der Energieversorgung. Das gilt auch für die Zunahme von Rauschgiftdelikten und die organisierte Bandenkriminalität.Ziel unseres Handelns muß sein, dem Verbrecher offensiv entgegenzutreten. Wir brauchen dazu die Aufrechterhaltung eines hohen Fahndungsdrucks, wirksame grenzpolizeiliche Kontrollen, Kontrollen zur Gewährleistung der Luftsicherheit, Aufrechterhaltung unseres vergleichsweise hohen Sicherheitsstandards auf den Flughäfen, Schutz gefährdeter Objekte und Personen, internationale Zusammenarbeit und konsequentes Verhalten gegenüber Staaten und Organisationen, die terroristische oder andere verbrecherische Handlungen durchführen, initiieren oder fördern.Im Haushalt 1987 haben wir entscheidende Verbesserungen der Ausstattung des BKA, des BGS und des Bundesamts für Verfassungsschutz erreicht. Wir wollen diesen Weg mit Hilfe des Parlamentes fortsetzen.Den Sicherheitsbehörden müssen zur Erfüllung ihrer Aufgaben aber auch die notwendigen Rechtsgrundlagen gegeben werden. Die Koalitionspartner haben dazu eine Reihe von Initiativen vereinbart.
Dazu gehört, das Recht auf friedliche Demonstration zu gewährleisten und gewalttätige Demonstrationen zu verhindern. Wir haben hier Handlungsbedarf festgestellt. CDU und CSU — und ich teile diese Auffassung — halten auch ein strafbewehrtes Verbot der Vermummung und der passiven Bewaffnung bei öffentlichen Versammlungen und sonstigen Menschensansammlungen für erforderlich.
Die Erfahrungen bestätigen, daß gerade bei Vermummung und passiver Bewaffnung die Gefahr eines gewaltsamen Verlaufs der Versammlung sich um ein Vielfaches erhöht.
Auch in der Bevölkerung gibt es eine sehr deutliche Dreiviertelmehrheit für eine Strafbarkeit dieser Vermummung, wie neueste Umfragen beweisen.
Die notwendigen Regeln für den bereichsspezifischen Datenschutz sind ein weiteres wichtiges Feld. Im Bereich der Sicherheitsbehörden und darüber hinaus wird dem vom Verfassungsgericht entwickelten Grundsatz Rechnung zu tragen sein, die Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten gesetzlich zu normieren. Dabei sind zwei Grundsätze in EinMang zu bringen: zum einen der Schutz persönlicher Daten, aber auch die Möglichkeit, daß den Behörden das zum Schutz des Bürgers und zur Erfüllung der staatlichen Aufgaben notwendige Instrumentarium zur Verfügung steht.Eine Verwirklichung der vom Verfassungsgericht entwickelten Grundsätze ist dringlich. Sorgfältige Formulierungen und gründliche Abwägungen der Konsequenzen, die diese Regelungen haben werden, sind aber ebenso unverzichtbar. Datenschutz darf nicht zu Lasten der Erfüllung von staatlichen Aufgaben, insbesondere beim Schutz des Bürgers, gehen.
Handlungsbedarf besteht auch beim Ausländerrecht. Die Novellierung des aus dem Jahre 1965 stammenden Gesetzes ist notwendig. Es kommt darauf an, die ausländerpolitischen Grundpositionen der Bundesregierung, Integration der auf Dauer hier lebenden Ausländer und Begrenzung des weiteren Zuzugs, umzusetzen. Ohne nachteilige Veränderungen der Rechtsstellung der schon heute legal bei uns lebenden Ausländer sind vordringlich angestrebt: die Verfestigung des aufenthaltsrechtlichen Status der auf Dauer hier lebenden Ausländer, die Differenzierung der bisher einheitlichen Aufenthaltserlaubnis nach den verschiedenen Aufenthaltszwecken und eine einheitliche Regelung des Familiennachzugs.
Als Endpunkt eines abgeschlossenen Integrationsprozesses kommen auch gesetzliche Einbürgerungserleichterungen in Betracht. Wir werden Vorschläge zur Erleichterung der Einbürgerung für die hier geborenen und aufgewachsenen Ausländer vorlegen.
Wir werden allerdings am Prinzip der Vermeidung der Mehrstaatlichkeit festhalten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1635
Bundesminister Dr. ZimmermannMit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit wird dann auch das Wahlrecht auf allen Ebenen begründet. Nicht nur verfassungswidrig, sondern auch integrationspolitisch verfehlt wäre es, den umgekehrten Weg einzuschlagen.
Meine Damen und Herren, Ausländerintegration verlangt Einfühlungsvermögen, gegenseitiges Verständnis und ist nur behutsam und schrittweise zu verwirklichen. Durch einen vermeintlichen Kunstgriff über das Wahlrecht ist der langwierige Prozeß der Eingliederung nicht voranzutreiben.
Ein weiteres wichtiges innenpolitisches Thema ist der immer noch besorgniserregende Zustrom der Asylbewerber. Mehr als 50 % aller Bewerber in Europa stellen ihren Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland. 1986 waren hier rund 100 000 Asylbewerber gemeldet. Im Jahre 1987 haben wir bis Ende August rund 31 000 Antragsteller registriert. Die Anerkennungsquote des Bundesamtes in Zirndorf sank von knapp 16 % im Jahre 1986 auf unter 11 % im ersten Halbjahr 1987. Seit dem zweiten Halbjahr 1986 konnte die Zahl der entschiedenen Asylverfahren beträchtlich gesteigert werden, und die hohen Zugänge konnten abgebaut werden. Die personelle Verstärkung des Bundesamtes, insbesondere im Bereich der Entscheider, zeigt damit positive Wirkung. Das muß konsequent fortgesetzt werden. Eine Beschleunigung und Erledigung der Asylverfahren insgesamt lassen sich aber nur erreichen, wenn auch die Länder — etwa bei den Verwaltungsgerichten — die notwendigen Maßnahmen treffen.Die eigentliche politische Herausforderung ist in der Praxis der hohe Anteil Nichtberechtigter, die unter Berufung auf das Asylrecht nach Deutschland gelangen. Wir werden weiterhin ein Land sein, in dem wirklich politisch Verfolgte eine Zuflucht finden können. Notwendig ist jedoch, daß der Zustrom von Flüchtlingen mit anderen Motiven unterbunden wird. Diese Position, Asylgewährung für wirklich politisch Verfolgte und Begrenzung des Zustroms von Flüchtlingen mit anderen Motiven, wird auch von der breiten Mehrheit der Bevölkerung verstanden und unterstützt.
Unsere Bemühungen zur Eindämmung der illegalen Einreisen, zur Beschleunigung der Asylverfahren und zur einheitlichen Handhabung der Abschiebemöglichkeiten müssen wir konsequent weiterführen.
Meine Damen und Herren, die Pflege von Kultur und Geschichte ist eine immerwährende Aufgabe, wozu ich dreierlei sagen möchte.Wir wollen unser kulturelles Erbe — und dazu gehört auch das ostdeutsche Kulturgut — bewahren. Ich kann mit Genugtuung feststellen, daß die dafür zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel erheblich aufgestockt werden konnten, seit diese Bundesregierung im Amt ist. Wir werden diesen Weg fortsetzen.
Wir begrüßen die vorgesehene Errichtung einer Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte. Die wesentlichen Weichen dafür sind gestellt; die entsprechende Stiftung wird nach Kräften gefördert werden.Ein Zweites: Ich habe mich kürzlich bei dem Besuch in Friedrichsruh davon überzeugt, daß etwas geschehen muß und geschehen kann, um dem Andenken an den Reichskanzler Otto von Bismarck eine andere Pflege als bisher angedeihen zu lassen. Gemeinsam mit dem Land Schleswig-Holstein und der Familie Bismarck prüft die Bundesregierung gegenwärtig, in welcher Form das dortige Bismarck-Museum, das Archiv und die Bibliothek des Reichskanzlers für die Bürger, aber auch für Forschung und Wissenschaft besser erhalten werden können. Wir sind auf gutem Wege, hier bald zu substantiellen Verbesserungen zu kommen.In kommenden Haushaltsjahr stellt die Notfallvorsorge zum Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und anderen Gefährdungslagen einen weiteren Schwerpunkt dar. Die Bedeutung wird bei unseren Bürgern ernstgenommen. Mehr als zwei Drittel haben sich für einen Ausbau des Katastrophen- und Zivilschutzes ausgesprochen und auch ein erhebliches Informationsbedürfnis bekundet. Um jederzeit angemessen auf alle denkbaren Schadensereignisse reagieren zu können, bedarf es der Fortführung des Ausbaus des erweiterten Katastrophenschutzes im Rahmen des bis 1991 reichenden Konsolidierungsprogramms, einer Verbesserung der Situation im Schutzraumbau sowie des zügigen Ausbaus eines flächendeckenden Meßnetzes für Radioaktivität und nicht zuletzt der Überarbeitung rechtlicher Vorschriften. Das vom Bund, Ländern und Gemeinden sowie den privaten Hilfsorganisationen gemeinsam getragene System wollen wir erhalten und fortentwickeln.Zur Förderung des Spitzensports hat die Bundesregierung beachtliche Mittel aufgewandt. Dem Spitzensport stehen — das sage ich in Übereinstimmung mit dem deutschen Sport — sehr gute Trainingsmöglichkeiten und auch hinreichend Mittel zur Verfügung, um an internationalen Wettkämpfen erfolgreich teilzunehmen. Trotzdem sind eine Reihe von Ergebnissen der letzten Welt- und Europameisterschaften nicht zufriedenstellend. Dies wurde bei den Weltmeisterschaften der Leichtathleten in Rom besonders deutlich.Meine Damen und Herren, der Sport ist bei uns frei und unabhängig. Wir haben keinen Staatssport, und wir sind weit davon entfernt, sportliche Erfolge aus Gründen des internationalen Prestiges vorweisen zu müssen. Dennoch halte ich es für notwendig, in einer schwierigen Situation dem deutschen Sport zu helfen, an seine bedeutenden Traditionen wieder anzuknüpfen.
Unabhängigkeit und Selbstverantwortung des Sports sind die Grundlagen der partnerschaftlichen Zusammenarbeit der Bundesregierung mit den Sportverbänden. Danach werden wir auch in Zukunft unsere Sportförderung ausrichten. Nicht hektische Betrieb-
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1636 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundesminister Dr. Zimmermannsamkeit ist jetzt gefragt, sondern zuerst eine gründliche Analyse mit langfristigen Lösungsvorschlägen.
Ich werde deshalb meine Gespräche mit den Verantwortlichen für den Sport intensivieren und bereits Anfang Oktober mit den olympischen Fachverbänden in Bonn die Frage erörtern, wie ganz gezielt auf die Olympischen Spiele 1988 hin die Chancen unserer Athleten noch erhöht werden können.
Auch das Konzept des Deutschen Sportbundes über die Olympiastützpunkte wird Gegenstand des Gesprächs sein und die Frage, wie dem Sport bei der Überwindung einiger Hürden geholfen werden kann. Denn dieser wird seine Probleme, z. B. die Frage der Trägerschaft oder der sozialen Betreuung der Athleten im Olympiastützpunkt durch die Sporthilfe, bald lösen müssen. Auch eine etwas aktivere Rolle des Nationalen Olympischen Komitees wäre in diesem Zusammenhang wünschenswert.
Die Bundesregierung wird im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Hilfe für ein erfolgreiches Abschneiden unserer Athleten bei den Olympischen Spielen 1988 sowohl in Calgary wie in Seoul anbieten. Nach den Spielen werden wir allerdings die Frage stellen, wo unser Spitzensport international steht
und wie das Förderkonzept der Bundesregierung gegebenenfalls neuen Gegebenheiten anzupassen ist.Meine Damen und Herren, ich habe mich mit meinen Ausführungen auf einige wesentliche Grundlinien für die uns vorliegenden Aufgaben beschränkt. Ich bin sicher, daß die Bereiche, auf die ich nicht eingegangen bin, z. B. der öffentliche Dienst, noch in den weiteren Beratungen in den Ausschüssen eingehend behandelt werden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Penner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesinnenminister Dr. Zimmermann hat sein politisches Programm dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages im Mai dieses Jahres vorgestellt, und er hat heute im wesentlichen darauf Bezug genommen. Ich gehe davon aus, daß das im wesentlichen auf der Grundlage von Koalitionsverhandlungen geschehen ist. Man kann allerdings zweifeln.Bei verschiedenen Punkten zetern die FDP-Innenpolitiker, dies und jenes sei nicht vereinbart z. B. daß die vorgeblich unabweisbaren Entscheidungen des Gesetzgebers zur Bekämpfung der Gewalt auch getroffen werden müßten, bevor die beschlossene Kommission zur Untersuchung der Ursachen der Gewalt zu Ergebnissen gekommen sei. Theo Waigel hat heute noch einmal zu Beginn seiner Rede darauf hingewiesen.Um es ganz deutlich zu sagen: Ich will nicht den Schiedsrichter in diesem Streit spielen, aber nach der Auslegung des Koalitionstextes haben Zimmermann und auch Waigel die stärkeren Argumente für sich. Nach meiner Überzeugung hat die FDP etwas quergeschrieben, was sie jetzt bestreitet.Aber letztendlich ist das politisch kaum bedeutend, ebenso wenig wie die wechselseitigen Wortkaskaden zur Straffreiheit von Vermummung. Mag sein, daß bayerische Liberalität und freiheitliches Denken der FDP noch differieren. Nach meinem Eindruck, haben taktische Interessen beiderseits den durchaus zu rechtfertigenden, ja, gebotenen Streit um substantiell richtige Lösungen auch in der Innenpolitik längst überlagert. Mit anderen Worten: Sachfragen der Innenpolitik von Rang werden benutzt, um der Öffentlichkeit zu insinuieren, daß die politischen Firmen FDP und CSU unterschiedliche Partner seien und zu verkleistern, daß überragende wirtschaftliche Interessen, die selbst FDP und CSU zu einer Kombination verschmolzen haben, die unterschiedlichen Einschätzungen in der Innenpolitik zu Recht als völlig nebensächlich erscheinen lassen. Wenn es denn überhaupt Streitstoff in der Koalition geben sollte — in der Innenpolitik sehe ich ihn nicht.Die Reibereien dieses merkwürdigen Politkartells beschädigen nicht einmal die Aufmachung des Koalitionskonzerns, und schon gar nicht löst er die babylonische Koalitionsgefangenschaft der FDP auf. Wie denn auch? Weit und breit ist kein anderer Partner in Sicht, und die Oppositionsbänke sind für die Liberalen ohnehin nie Alternative gewesen; sie werden es auch nie sein.
Für die CSU sieht es im Ergebnis nicht anders aus. So ist mit hoher Sicherheit eines zu prognostizieren: Das Feldgeschrei in der Innenpolitik zwischen FDP und CSU wird weitergehen, es wird eher anschwellen, weil beiden, sowohl FDP wie auch CSU, daran gelegen ist, die stetig und zunehmend auf Identität zusteuernde Gleichheit ihres politischen Wollens zu verschleiern, um ein breiteres Wählerpublikum zu erreichen, als nach den tatsächlichen Gegebenheiten möglich wäre.
Die Innenpolitik ist also zur Manövriermasse der um unterschiedliches Profil bemühten Kombination CDU/ CSU und FDP verkümmert, und das hat Folgen nicht nur für den Bundesinnenminister, der Ressortverantwortung trägt und doch nur Schachfigur eines Machtkartells ist.Die selbstbeklagte — Herr Dr. Zimmermann, es ist Ihre eigene Klage — und von Strauß notifizierte Erfolglosigkeit hat nicht etwa ihre Ursachen in der vorgeblich sperrigen FDP; es ist eher das Ergebnis eines gleichermaßen einverständlichen wie abgekarteten
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1637
Dr. PennerFinassierens zur Beibehaltung wie auch immer beschaffener politischer Macht.
Mag sein, daß der dadurch zwangsläufige Stillstand der Innenpolitik sich noch positiv vom Rückschritt abhebt; aber auch Unterlassen, Nichtstun, Blockieren kann teuer zu stehen kommen und hohe politische Preise kosten.
Wer würde bestreiten wollen, daß in der Ausländerfrage die Zeit zum Handeln überreif ist. Ist es weiterhin verantwortbar, Herr Dr. Zimmermann, Menschen, die unsere Nachbarn und unsere Freunde, jedenfalls aber unsere Partner geworden sind, von einer rechtlich abgesicherten Lebensplanung nur deshalb auszuschließen, weil sie anderer Nationalität sind, weil sie Italiener, weil sie Spanier, weil sie Griechen, Jugoslawen, Türken, Afrikaner oder Asiaten sind,
und dies, obwohl inzwischen das Schicksal auch der auf die dritte Generation folgenden anderen Generationen in Rede steht?Herr Präsident, meine Damen und Herren, unsere Vorstellungen sind klar. Wir halten es erstens für unerläßlich, daß ein neugestaltetes Ausländerrecht den Betroffenen eine überschaubare und zuverlässige Grundlage für ihre Lebensplanung gibt.
Zweitens. Die Aufenthaltserlaubnis soll nach dem Aufenthaltszweck differenziert werden. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer soll eine Verfestigung des Rechtsstatus eintreten.Drittens. Die Ausweisungstatbestände müssen eingeschränkt und nach der Schwere des Rechtsverstoßes gestaffelt werden.Wir sind nicht bei diesen allgemeinen Grundsätzen stehengeblieben, sondern haben sie, wie jeder nachlesen kann, konkretisiert. Abgesehen davon: Wir treten für die Erleichterung der Einbürgerung ein, der häufig noch zu hohe bürokratische Hindernisse entgegengestellt werden, was vor allem die Ausländer der zweiten und der dritten Generation trifft.In vielen Ländern, Herr Dr. Zimmermann, besteht die Möglichkeit der doppelten Staatsangehörigkeit; Sie haben das Thema angesprochen. Diese Diskussion kommt bei uns erst in Gang. Als mögliches Ergebnis ist eine befristete Mehrstaatlichkeit denkbar.Herr Bundesinnenminister, Sie werden gerade in der Ausländerfrage bei der Opposition aufmerksame und konstruktive politische Partner haben, wenn die Grundsätze der Humanität beachtet werden. Und kommen Sie bitte endlich mit Ihren Vorschlägen über, damit die Verhältnisse zum Besseren gewendet werden können und Arges verhindert werden kann! Sie beschränken sich wie in der Vergangenheit auf den Hinweis, eine Novellierung des Ausländerrechts sei unabweisbar nötig. Damit kann es nicht sein Bewenden haben. Hier muß etwas getan werden! Es geht ummenschliche Schicksale, es geht um Menschenrechte. Wenn und weil Sie, Herr Dr. Zimmermann, insoweit taub oder handlungsunfähig zu sein scheinen, frage ich: Wo bleibt denn in dieser Sache Herr Blüm,
der doch Arbeitnehmerinteressen wahrzunehmen beansprucht und sich doch auch sonst nicht geniert, für Menschen- und Grundrechte einzutreten? Wir wollen nicht hoffen, daß Blüms Engagement hinter den Grenzen der Bundesrepublik haltmacht und auf spektakuläre Aktionen draußen beschränkt ist. Hier ist Kärrnerarbeit gefragt, muß Überzeugungsarbeit geleistet werden und muß ein neues Denken im Verhältnis zu unseren ausländischen Mitbewohnern aufgebaut werden.Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir beklagen oft, daß die politische Einigung in Europa nicht recht vorwärtskommt, und denken dabei häufig eher an andere Verursacher als an uns selbst. Es mag ja sein, daß jeder seinen Anteil daran zu tragen hat. In der Auseinandersetzung um das Ausländerwahlrecht ist allerdings offenbar geworden, daß der Anteil der Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktionen nicht der geringste ist — ohne daß bisherige Schwierigkeiten auch auf unserer Seite verschwiegen werden sollten. Wer für politisches Zusammenwachsen von Staaten ist, muß sich trotz unzähliger nicht nur wohlfeiler Reden nicht über Erfolglosigkeit wundern, wenn nicht ebenso grundlegende wie bisher selbstverständliche Positionen auch unseres Staatsverständnisses in diesem Zusammenhang neu bedacht werden. So ist es wenig ergiebig, auf die Beschlußlage des Europäischen Parlaments zu verweisen, die — übrigens mit Zustimmung der Konservativen, der Christdemokraten und auch der Liberalen — das kommunale Wahlrecht der Ausländer in der EG fordert, dies aber an die würgende Bedingung der gleichzeitigen Einführung in allen Staaten kettet.Nein, wer politische Vereinigung mit anderen Staaten will, muß akzeptieren, daß die schon seit Jahrzehnten angemoderte und fragwürdige Souveränitätsfrage damit angesprochen ist. Mehr noch und anderes: Eingeschliffene Begriffe wie Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatshoheit und auch das Staatsangehörigkeitsrecht müssen neu bedacht und formuliert werden, weil eben diese Begriffe die ideelle Garantie für die Beibehaltung von Eigenstaatlichkeit bisheriger Prägung und die Basissperre gegen Veränderungen sind.Der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister, wir alle werden nicht müde, einer europäischen Einigung das Wort zu reden, wir Sozialdemokraten als eine traditionell international ausgerichtete Partei vielleicht noch nachhaltiger als andere.Zu diesen uns alle verbindenden Überzeugungen paßt es allerdings wenig, wenn die CDU/CSU-Bundestagsfraktion oder gar die Bundesregierung das Bundesverfassungsgericht anrufen sollte, wie es angekündigt worden ist, falls Hamburg wie auch andere Länder das Kommunalwahlrecht für Ausländer einführen sollten. Gewiß bewegen sich solche Initiativen auf dünnem verfassungsrechtlichen Eis. Es geht ja auch um grundlegende Fragen der Staatlichkeit. Die
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1638 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. PennerKeule der Anrufung des Verfassungsgerichts verhindert aber Politik und Fortschritt auch in dem von Ihnen immer wieder beschworenen Sinn. Wenn Sie denn akzeptable Bedenken im Hinblick auf die Bundesverfassung gegen das Kommunalwahlrecht für Ausländer haben — sie werden, wie Sie wissen, nicht allenthalben geteilt — , warum wählen Sie nicht den Weg zu ändernden Klarstellungen in der Verfassung, uni diese Initiativen auch verfassungsrechtlich abzusichern?
In uns werden Sie jedenfalls Ansprechpartner haben.Nochmals: Die politische Konsequenz, gegründet zumindest auf gemeinsame europapolitische Überzeugungen, gebietet es, zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer ja zu sagen und nicht unter Zuhilfenahme überkommener eigenstaatlicher Regeln diese Vorhaben zu Fall zu bringen.Wer Freizügigkeit unter den EG-Europäern das Wort redet, ja sie eröffnet, sie garantiert, kann schlecht ein Mindestmaß an politischer Partizipation, eben das Kommunalwahlrecht für Ausländer, an die Staatsangehörigkeit koppeln.Es ist ein Stück demokratischer Selbstverständlichkeit, unabhängig von der Volks- oder Staatsangehörigkeit, denen in Gemeindeangelegenheiten politische Mitsprachemöglichkeiten einzuräumen, die sich stetig bei uns aufhalten und deren Interessen von politischen Entscheidungen auch berührt werden.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, um bei den Städten und Gemeinden zu bleiben, Herr Dr. Zimmermann: Sie haben als Verfassungsminister auch die Pflicht, zu gewährleisten, daß alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung geregelt werden können, wie es in Art. 28 des Grundgesetzes heißt.
Damit ist nicht zu vereinbaren, wenn sich der Bund — wie es geschieht — aus der Verantwortung für die Gemeindefinanzen mehr und mehr löst und ganz im Gegenteil die Kosten für die Massenarbeitslosigkeit über die Sozialhilfe auf die Gemeinden abwälzt und darüber hinaus durch ständig wiederholte Forderungen nach einer Streichung der Gewerbesteuer die Lage und dabei besonders die Planungssicherheit der Gemeinden ständig erschwert.Die beschwörenden Reden von den Gemeinden als den Keimzellen der Demokratie entlarven sich als stereotype Versatzstücke in Feiertagsreden, wenn der Bund seine Garantenpflicht für die Gemeinden nicht akzeptiert und sein Handeln nicht daran orientiert. Akzeptieren Sie doch bitte, Herr Dr. Zimmermann, daß die diesbezüglichen Sorgen vom Deutschen Städtetag, vom Städte- und Gemeindebund in großer Einmütigkeit über parteipolitische Zäune hinweg erkannt und formuliert worden sind! Begreifen Sie, daß Rommel und Späth mit ihren Einwänden gegen Steueränderungen in der Sache recht haben und nicht etwa von sachfremden Überlegungen irregeleitet werden!Der Deutsche Städtetag und nicht etwa böswillige Sozialdemokraten haben errechnet, daß die Steuermanöver der Bundesregierung die Städte und Gemeinden im Jahre 1990 mindestens 5,7 Milliarden DM — wahrscheinlich sogar über 10 Milliarden DM — kosten werden. Sie, Herr Dr. Zimmermann, sind verpflichtet, bei Herrn Stoltenberg vorstellig zu werden, weil nicht geht, was er erwartet: mehr Investitionen durch die Gemeinden und gleichzeitig die finanzielle Ausstattung nicht nur nicht aufbessern oder auch nur belassen, sondern sie im Gegenteil schmälern.Wie ein Hohn, Herr Zimmermann, muß es wirken, wenn die Finanzpolitik im gleichen Atemzug auch noch das Ausgabeverhalten von Städten und Gemeinden rügt.
Die besondere Neigung von Herrn Dr. Zimmermann gilt dem wahnhaft wirkenden Aufspüren und Erfinden immer neuer Gesetzeslücken im ohnehin immer dichter geflochtenen Netzwerk von Ordnungsrecht bei uns.
Sie setzen sich auch dafür ein, Herr Zimmermann, daß internationale Verbrechensverfolgung nicht unnötig durch nationale Grenzen und Souveränitätsansprüche behindert wird, was nicht an unserem Einspruch scheitern soll. Zurückhaltend bleiben Sie, Herr Zimmermann, ja wohl erkenntnisbehindert durch ideologisch vorgeprägte Verengungen, wenn es um die Ursache von Verbrechen und Unrecht geht, ihre Quellen aufgespürt und Wurzeln freigelegt werden sollen, um Grundlegendes in die Wege zu leiten.
Die Ausschließlichkeit, mit der Sie Verbrechensbekämpfung unter dem Gesichtspunkt staatlichen Reagierens und dabei speziell staatlichen Strafen betreiben, könnte als Akt rührseligen, aber ahnungslosen Vertrauens in die allein maßgebende Kraft der generellen wie der Einzelabschreckung abgetan werden, wenn dadurch nicht grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Friedens vernachlässigt würden.
Auch ein von politischen Fesseln befreiter Dr. Zimmermann wird beispielsweise der Drogenkriminalität nicht Herr werden können, wenn er es wie bisher versäumt, den zumeist bitter armen Anbauern von Rauschgiftpflanzen in Asien und in Südamerika ökonomische Alternativen mit anbieten zu helfen.
Herr Dr. Zimmermann wird mit seinen Klagen über ansteigende Eigentumskriminalität allein bleiben, wenn er nicht zur Kenntnis nehmen will, daß eine ständig aggressiver werdende Werbung ständig wachsende Begehrlichkeiten auslöst und verstärken hilft und damit die eigentlich selbstverständliche Achtung des Eigentums anderer beim Auto, beim Motorrad, beim Automaten — und darum geht es schwer-
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Dr. Pennerpunktmäßig bei Eigentumskriminalität — schleifen hilft.Sie werden sich, Herr Dr. Zimmermann, auch weiterhin verheddern
in der verschließenden Enge Ihres Weltbildes, wenn Sie nicht akzeptieren, daß Kriminalität auch etwas mit Arbeitslosigkeit und Fehlen beruflicher Perspektiven zu tun hat,
daß gerade Jugendkriminalität häufig mit abgebrochener schulischer und beruflicher Ausbildung und nicht selten auch mit bedrängten familiären Verhältnissen korrespondiert.
Gerade weil wir auf staatliche Strafen aus vielerlei einsehbaren Gründen nicht verzichten können, Herr Dr. Zimmermann, sind wir gehalten, den Strafrechtskatalog von Überflüssigem freizuhalten, damit er wirksam bleiben kann. Zu den unverzichtbaren Ansprüchen staatlichen Strafens gehört, auch im Interesse von uns allen, eben dies: Nie, Herr Dr. Zimmermann, darf sich der Staat, auch nicht als strafender Staat, mit der Rolle des Vergeltens und des Rächens begnügen.
Der Staat und seine Verantwortungsträger können und dürfen nicht darauf verzichten, Wege aus der Kriminalität in ein Leben ohne Verbrechen mit finden zu helfen. Und das geht nicht ohne Gespür für die Wichtigkeit der Quellen des Unrechts.Andersherum gesagt: Der kochentwickelte Sinn des Dr. Zimmermann für Symptome von Verbrechen, nicht aber für Ursachen wirkt im Ergebnis wie eine Schutzgarantie für das Verbrechen selbst.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die würgenden Selbstblockaden des Bundesinnenministers richten sich auch gegen die Freiheitsrechte. Es ist fast peinlich zu betonen, aber seit Zimmermann ist es offenbar unumgänglich: Der Staat hat nicht nur hinzunehmen, daß es Freiheitsrechte gibt, er hat auch dafür Sorge zu tragen, daß sie frei von staatlicher Reglementierung wahrgenommen werden können.
Dazu paßt es nicht, ja es gehört sich einfach nicht, daß Sportler in ihrem Werben, in ihrem Verständnis für den Frieden
auf Grund von Informationen des Verfassungsschutzes durch Zimmermann, der ironischerweise auchnoch Sportminister ist, beim Deutschen Sportbund angeschwärzt worden sind.
Kein Mensch, Herr Dr. Zimmermann, wird es Ihnen verübeln, daß Sie die Meinung dieser Sportler zum Frieden nicht teilen oder nicht geteilt haben. Mit der niederträchtigen Methode der üblen Nachrede zum Zwecke der Verhinderung dieser Aktion für den Frieden verlassen Sie eindeutig den Boden der Verfassung.
Dabei ist es von besonderer Delikatesse, daß die betroffenen Sportler selber über die angeblich drohende Gefahr kommunistischer Unterwanderung zunächst überhaupt nicht unterrichtet worden sind.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, bei der Auseinandersetzung zwischen CDU und CSU um die Aufnahme der 14 Chilenen in der Bundesrepublik haben Sie, Herr Dr. Zimmermann, in schauerlicher Weise Ihre Amtspflichten deformiert. Statt die Betroffenen vorverurteilend als terroristische Gewalttäter zu denunzieren und sich über die Feststellungen Ihres Kollegen Blüm und anderer zur Folterpraxis in Chile hinwegzusetzen, hätten Sie selbst die Diskussion auf die Möglichkeiten politischen Asyls lenken müssen. Dabei kann auch gewalttätiger Widerstand nicht von vomeherein ein solches Angebot versperren. Eine folternde Diktatur wie Chile wird den Rechtsschutz der Gewaltfreiheit bei Widerstandshandlungen nicht in Anspruch nehmen können.
Im übrigen, Herr Dr. Zimmermann, lohnt zum Widerstandsrecht des einzelnen auch ein Blick in unser Grundgesetz.Gehemmt und von Vorurteilen eingemauert ist auch das Verständnis des Ministers zum Datenschutz. Die unappetitliche Formel — die heute in abgewandelter Form auch wieder vorgetragen worden ist — „Datenschutz ist Täterschutz" sollte gerade bei dem Verfassungsminister nicht stattfinden. Und es geht um verfassungsrechtliche Positionen, Herr Dr. Zimmermann, um Menschenwürde und freie Entfaltung der Persönlichkeit nämlich, weil individuelle menschliche Daten auch etwas über die Person selbst aussagen. Es ist nicht mehr als recht und billig, ja, es hat Verfassungsrang, daß diese Daten selbstbestimmt bleiben müssen.
Es stünde dem Innenminister gut an, gut zehn Jahre nach Inkrafttreten des Bundesdatenschutzgesetzes und einer rasanten Weiterentwicklung des Kommunikationswesens die Notwendigkeit gesetzlicher Nachsteuerung zu erkennen und die erforderlichen Konse-
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1640 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. Pennerquenzen zu ziehen: zur Frage des Arbeitnehmerschutzes etwa, zur Amtshilfe, zur Stärkung der Befugnisse des Datenschutzbeauftragten und zum Schadensersatzrecht, um nur einige Beispiele zu nennen.Der Starrsinn, Hen Minister, mit dem Sie innere Sicherheit gegen Datenschutz ausspielen, wäre nur belustigend, weil er ein naives Selbstzeugnis Ihrer politischen Enge und Ihrer Verspanntheiten belegt. Aber Sie sind Minister, Herr Dr. Zimmermann; nach der unergründlichen Entscheidung des Bundeskanzlers gar Verfassungsminister. Da ist kein Platz für höchstpersönliche Vorurteile und rückwärts gerichtetes Staatsverständnis.
Sie haben den Parametern unserer Verfassung mehr als andere zu entsprechen. Und die Verfassung sagt ja zur Freiheit
und nicht etwa vielleicht oder unter bestimmten Umständen.
Das Wohl und Wehe unseres Staatswesens, Herr Dr. Zimmermann, korrespondiert mit der Qualität der Freiheit des einzelnen. Wenn Sie es doch begreifen wollten: Die Freiheit ist die Kehrseite des Gemeinsinns und umgekehrt. Sie haben dafür geradezustehen, daß Freiheit und Gemeinsinn bei uns nicht nur stattfinden können, sondern auch die Chance zur Weiterentwicklung behalten.
Der Bundesinnenminister trägt auch besondere Verantwortung für den öffentlichen Dienst. Dazu haben wir heute nichts gehört. Das ist nicht verwunderlich. Der zugesagte Strukturbericht steht noch aus. Wir sind gespannt, was der Bundesfinanzminister zu Ihren Vorstellungen sagt. Vielleicht wird das ja auch wieder ein Spiel mit verteilten Rollen.Viel wichtiger erscheint uns derzeit, daß Sie bei der notwendigen Konsolidierung der Alterssicherungssysteme endlich auch mit eigenen Vorstellungen überkommen. Uns reichen Beteuerungen nicht aus, Sie seien für das Berufsbeamtentum. Sie werden kaum weiterkommen, Herr Minister, mit dem Hinweis, daß Verfassungsrecht und Rechtsprechung keine diesbezüglichen Gestaltungsmöglichkeiten eröffneten.Da die demographischen Veränderungen nicht allein die gesetzliche Rentenversicherung, sondern alle Alterssicherungssysteme betreffen, sind natürlich auch Sie gefordert. Sie wissen das ebenso wie wir. Wenn Sie, sich ausschweigend, weiter wegtauchen werden, werden Sie es zu verantworten haben, wenn sich die Diskussion bei der Beamtenversorgung versteift. Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß die Alterssicherung umfassend neu geregelt werden muß und es nicht nur um ein Problem der Rentenversicherung geht. Mit um so größerem Nachdruck lehnen wir vorurteilsbefrachtete und einseitige Überlegungen zu Lasten des öffentlichen Dienstes ab.
Wir erinnern auch daran, Herr Minister, daß gerade die unteren Einkommensgruppen auch des öffentlichen Dienstes durch die Haushaltsbeschlüsse der Bundesregierung in den vergangenen Jahren besonders empfindlich zur Kasse gebeten worden sind. Das ist nicht nur ein Thema zur Gerechtigkeit. Jedenfalls kann es so nicht weitergehen, ganz im Gegenteil. Da sind Änderungen geboten, wie auch Beamtenanwärter sozial abgesichert werden müssen, wenn sie nicht vom Staat übernommen werden können. Es darf ja nicht sein, daß sie bei Arbeitslosigkeit ins Nichts fallen.Der Bundesinnenminister sollte auch am besten wissen, daß die Eingangsbesoldung im gehobenen und höheren Dienst auch etwas mit der Wettbewerbsfähigkeit des öffentlichen Dienstes selbst zu tun hat.
Der technische Dienst im Fernmeldewesen mag als warnendes Beispiel erwähnt werden.In der grundlegenden Frage der stärkeren Berücksichtigung von Frauen, die auch mit größerer Flexibilität des öffentlichen Dienstes gekoppelt ist, mahnen wir Vorschläge an.Wir sind auch der Auffassung, daß die jetzige Fassung des § 55 des Beamtenversorgungsgesetzes nicht das letzte Wort sein wird.
Weil Sie, Herr Dr. Zimmermann, für den öffentlichen Dienst zuständig sind, hätten Sie sich wohl auch zur Privatisierung von Dienstleistungen äußern sollen, die ideologisch befrachtet immer wieder das Regierungslager durchgeistert. Unter dem Schutzschirm angeblich besseren privaten Wirtschaftens betreibt die Bundesregierung den Ausverkauf industriellen Bundesvermögens, um Finanzlöcher zu stopfen. Das ist die Wahrheit.
Mit besonderem Nachdruck wenden wir uns gegen Pläne zur Privatisierung der Bundespost.
Die schwarzen Zahlen des Fernmeldesektors machen begehrlich, Herr Minister, sind aber im Interesse der gesamten Post nicht disponibel, was die Post von zukunftsorientierten Maßnahmen zur Verbesserung der Finanzsituation in Bereichen der gelben Post nicht entbindet.Wir haben nichts dagegen, wenn die öffentlichen Dienste auf Effektivität und Kosten durchleuchtet werden. Die grobschlächtigen Forderungen konservativer und liberaler Kreise nach Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen lehnen wir kategorisch ab, weil wir alle die negativen Folgen zu tragen hätten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1641
Dr. PennerDie Perspektiven für den Sport, Herr Dr. Zimmermann, haben sich seit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom März 1987 verdüstert. Ich denke dabei weniger an die Entwicklung des Spitzensports, obwohl auch da vieles zu sagen wäre.
Trotz beachtlicher finanzieller Anstrengungen auch des Bundes ist die Tendenz eher rückläufig. Sie haben die Spitzenereignisse des Jahres erwähnt. Ich sage dazu folgendes. Wo Steuergelder eingesetzt werden, ist staatliche Kontrolle auch im Hinblick auf Zweck und Erfolg ihrer Verwendung unabdingbar.
Das hat überhaupt nichts mit der Freiheit des Sports zu tun. Dazu werden Sie und andere im Sportausschuß Rede und Antwort stehen müssen. Wir werden uns auch nicht damit abfinden können, daß Chemie und Pharmazie gerade im Spitzensport weiter auf dem Vormarsch sind.
Nach dem tragischen Tod der Birgit Dressel darf man nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren. Daß die Athleten anscheinend oder scheinbar trotz aller ärztlicher Vorsorge immer verletzungsanfälliger werden, muß Sie als Sportminister auch herausfordern.Besonders nachdrücklich kritisieren wir allerdings die Einstellung der Bundesregierung zum sogenannten Breitensport. In der für den Vereinssport zentralen Frage der Besteuerung der Übungsleiterpauschale, der Besteuerung der Vereine generell häufen sich die Fouls der Bundesregierung, werden die Täuschungsmanöver immer grobschlächtiger. Vor der Wahl hieß es anders als danach. Jetzt steht gar die Streichung sämtlicher Freibeträge für den Sport in Rede, wo noch im März — schon schlimm genug — wenigstens Prüfung mit dem Ziel der Verbesserung zugesagt worden ist. Ich will gar nicht daran erinnern, welche Forderungen die CDU/CSU noch zu ihren Oppositionszeiten erhoben hat. Hier sind Existenzfragen des in der Welt einzigartigen Vereinssports berührt. Da können Sie nicht einfach zuwarten, Herr Zimmermann, bis sich Stoltenberg regt und ein ehrenamtliches Werk, an dem Millionen Menschen zum Vorteil des ganzen Volkes beteiligt sind, ramponiert.
Das beschämende Verhalten des Walter Wallmann in dieser Frage sollte für Sie nicht beispielgebend sein. Über 60 000 Vereine mit mehr als 20 Millionen Mitgliedern, deren Arbeit sich auf 2 Millionen ehrenamtliche Helferinnen und Helfer gründet, haben einen Anspruch darauf, mit ihren Argumenten ernst genommen zu werden.
Ist Ihnen eigentlich bewußt, wie sehr die Gesellschaft gerade von diesen ehrenamtlich tätigen Frauen und Männern abhängt? Sie als für den öffentlichen Dienst zuständiger Minister sollten es doch wissen: Eine Professionalisierung des Vereinssports würde Milliardenkosten und damit unbezahlbar werden. Sie lassen es ungerührt geschehen, daß sich der Bundesfinanzminister in seiner Not bei der Finanzierung von Steueränderungen über die Wertarbeit des sportlichen Ehrenamtes hermacht.Herr Dr. Zimmermann, nicht immer kann ein Minister erfolgreich sein. Ein Minister jedoch, dessen ständige Wegbegleiter Erfolglosigkeit, Enge, Mißtrauen und Verkriechen sind, belastet das öffentliche Leben. Der Bundeskanzler mag auf demontierte und gebrochene Amtsinhaber aus Gründen des Eigennutzes angewiesen sein, das gemeine Wohl, das öffentliche Interesse hat andere Maßstäbe.
Sie, Herr Dr. Zimmermann, würden der res publica, wenn auch schon nicht der FDP, einen wirklichen Dienst erweisen, wenn Sie Ihr Amt quittierten.Herr Präsident, meine Damen und Herren, der Bildungsminister Möllemann hat schon einen schlechten Start gehabt. Jahre einer gewissen Zurückhaltung im Auswärtigen Amt haben nicht vergessen machen können, daß dieser seit eh an jeder beliebigen Ecke sein zumeist überflüssiges publizistisches Bedürfnis verrichtet hat.
Diese alte Neigung hat Möllemann im neuen Amt revitalisiert und verstärkt wieder aufgenommen.
Sorge um Rechtschreibung bei Abiturienten trieb ihn in die Gazetten, die ihn ihrerseits mit seinen sprachlichen Verschwollenheiten pieksten. Er machte die Liberalisierung des Zugangs zu Hochschulen zu einem öffentlichen Thema, nicht ohne eine Neigung für das Vermummungsverbot erkennen zu lassen, was nicht ganz konsequent ist, aber seine triftigen Gründe haben mag. Jedenfalls soll die immer noch ungeklärte Reise in einem Abteil der I. Klasse der chinesischen Staatsbahnen bei allem Sinn Möllemanns für Öffentlichkeit verhüllt bleiben.
Daß er Sport und Religion zu einer Sache der Freizeit machen wollte, hat dem Kanzler gar nicht gefallen, jedenfalls in bezug auf die Religion, wie es im Brief des Kanzlers an das Bistum Trier heißt.In der Raketenfrage hat sich Möllemann mit Rühe gestritten, dafür aber den Einsatz der GSG 9 bei Demonstrationen gefordert, wofür Hirsch ihn „Romantiker" genannt hat.Die Lehrer hat Möllemann — selber Lehrer — als „ideologische Verführer und Faulpelze" enttarnt
und dafür die „Bild-Zeitung" verantwortlich gemacht. Zu Ostern hat er Bangemann nach Brüssel wegloben wollen, um Platz für einen Vorsitzenden Möllemann zu schaffen.
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Dr. PennerMan kann es den Studenten nicht verargen, wenn sie, auf Möllemann bezogen, formulieren: Der kann nichts, der weiß nichts, der hat nichts gelernt, und deshalb ist er Minister. So ganz stimmt das freilich nicht. Die Qualifikation zum Politschwabbler des Jahres hat er allemal.Dabei gibt es in der Bildungspolitik Sachfragen, die einfach nicht links liegengelassen werden dürfen. Einmal abgesehen von BAföG, von Chancengleichheit im Bildungswesen, von beruflicher Bildung und Weiterbildung, Aspekten der Drittmittelforschung, Benachteiligtenprogrammen, Frauenförderungsplänen, um nur einige wichtige Themen anzusprechen, sind wir der Meinung, daß gerade der immer schneller werdende gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Wandel bei uns zu grundlegenden, auch bildungspolitischen Überlegungen herausfordert, wollen wir nicht ein Stück Zukunft unseres Volks gefährden. Deshalb setzen wir uns für eine Enquete-Kommission „Zukünftige Bildungspolitik — Bildung 2000" ein. Wir werden dabei die Notwendigkeiten des politischen Alltags nicht vergessen. Wir werden es nie hinnehmen, daß junge Menschen keinen Ausbildungsplatz bekommen, und wir werden es nicht akzeptieren, daß die Demographie die Verantwortung der Politik ablöst. Wir werden alles daransetzen, daß Arbeitnehmerkinder auch weiter ihre Bildungschancen behalten und wiederbekommen,
auch weil wir wissen, daß eine gute Ausbildung immer noch die beste Gewähr gegen Arbeitslosigkeit ist.
Wir wissen auch, daß das Wohl und Wehe unseres Landes entscheidend von den geistigen und technischen Fähigkeiten seiner Bürger abhängt.Wenn es denn Kernaufgaben öffentlicher Angelegenheiten gibt, dann ist Bildungspolitik ganz vorne mit dabei. Das Amt des Bildungsministers mag mit Kompetenzen nicht reich bedacht sein, es ist zu rechtfertigen aus der überragenden Bedeutung von Bildungspolitik überhaupt. Wir Sozialdemokraten fordern Herrn Möllemann auf, endlich die Aufgaben seines Amtes zu erfüllen.Schönen Dank für die Geduld.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushalt für Bildung und Wissenschaft liegt in diesem Jahr bei einem Ansatz von 3,458 Milliarden DM, damit um 426 Millionen DM unter dem Ansatz des letzten Jahres. Dies erklärt sich im wesentlichen aus der Koalitionsvereinbarung, nach der wir das sogenannte Benachteiligtenprogramm in der Größenordnung von etwa 407 Millionen DM nicht mehr aus dem Haushalt des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, sondern aus dem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit finanzieren. Das heißt, daß die Ansätze für alle übrigen Aufgaben in meinem Ministerium im wesentlichen gleichgeblieben sind bzw. erhöht werden konnten. Ich würde Ihnen das gerne an einigen wesentlichen Punkten beschreiben.Für den Austausch bei der beruflichen Bildung haben wir eine Steigerung um 5,9 % auf 4,7 Millionen DM vorgesehen. Den Betrag für Auslandsstipendien für Studenten und Wissenschaftler haben wir um 7,8 % auf 41,5 Millionen DM gesteigert. Im Bereich der Grundlagenforschung sind vor allen Dingen die Mittel für die Deutsche Forschungsgemeinschaft wichtig. Wir haben sie von 573 Millionen DM auf 595 Millionen DM heraufgesetzt, also um rund 3,9%. Im Bereich der Spitzenforschung gibt es eine Steigerung um 12,5 % auf 6,75 Millionen DM. Die Studien- und Promotionsförderung der Begabtenförderungswerke haben wir um 2,4 % auf 86 Millionen DM gesteigert.Einigermaßen konstant, also ohne nennenswerte Veränderungen, sind die drei großen Komplexe geblieben. Zwei große Komplexe habe ich bisher nicht erwähnt. Zum einen haben wir beim Hochschulbau einen Ansatz von 1 Milliarde DM für die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau. Ich hoffe, daß diese Mittel des Bundes durch entsprechende Anstrengungen der Länder honoriert werden; es sieht so aus. Zum anderen haben wir beim BAföG einen Betrag von 1,5 Milliarden DM. Das entspricht der zu erwartenden Verpflichtung aus dem geltenden Gesetz.Ich würde gerne darauf hinweisen, daß wir uns in allernächster Zeit auf drei wesentliche Aufgaben besonders konzentrieren müssen. Da ist zum einen die Überprüfung des Systems der individuellen Ausbildungsförderung. Ich habe dem auf gesetzlicher Basis arbeitenden Beirat, dem im übrigen neben Vertretern der Regierung auch Studierende, Hochschullehrer, Angehörige der Studentenwerke angehören, den Auftrag erteilt, das geltende System der individuellen Ausbildungsförderung kritisch zu überprüfen und Vorschläge zur strukturellen Verbesserung zu machen. Ich werde Ihnen im nächsten Sommer die Ergebnisse dieser Arbeit präsentieren. Wir werden uns darüber unterhalten müssen, ob daraus Schlußfolgerungen zu ziehen sind.Das zweite ist die Weiterentwicklung des Komplexes Weiterbildung zur vierten Säule unseres Bildungssystems. Wir haben die drei klassischen Säulen Erstausbildung im Schulwesen, die duale Berufsausbildung sowie das Hochschulwesen. Wir müssen, wenn wir den Aufgaben der Zukunft gerecht werden wollen, die Weiterbildung zur vierten Säule des Bildungswesens machen. Ich habe deshalb für den Herbst eine Konzertierte Aktion Weiterbildung, an der Bund, Länder, Tarifparteien und die Träger der Weiterbildung mitwirken sollen, nach Bonn eingeladen. Ich glaube, meine Damen und Herren, daß es wichtig sein wird, daß künftige Tarifvereinbarungen stärker als Lohnzuwächsen oder Urlaubszuwächsen dem Tariffaktor Bildungszeit gewidmet sein werden, um diese Aufgaben in den Griff zu bekommen.Dritte Aufgabe wird es sein, die überlangen Studienzeiten zu verkürzen. Die Hellberger-Studie, die ich vorgelegt habe, weist nach, daß mit Durchschnittsstudienzeiten zwischen 13 und 17 Semestern die jun-
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Bundesminister Möllemanngen Menschen heute eindeutig zu lange an den Hochschulen gehalten werden. Hier müssen wir zu nachhaltigen strukturellen Veränderungen kommen. Ich habe deswegen der BLK, deren Vorsitz ich im nächsten Monat übernehme, vorgeschlagen, dies gemeinsam anzugehen.Das nur in Kürze zu den wesentlichen Punkten.Ich möchte der Aufforderung, die hier vorhin geäußert worden ist, pflichtgemäß meine Aufgaben wahrzunehmen, entsprechen; schon allein deswegen, weil das Sozialdemokraten hier nicht tun. Wir befreien Sie nach und nach auch von der Notwendigkeit, das zu tun. In den Bundesländern gibt es Gott sei Dank kaum noch einen Kultusminister, der von Ihrer Couleur geprägt wird.
Denn da, wo es sie gibt, haben sie in den letzten Monaten in einer sehr wichtigen Frage den dringend notwendigen bundesweiten Konsens verhindert, nämlich bei der Frage der zukünftigen Rolle und Bedeutung des Abiturs.Meine Damen und Herren, es ist nicht hinzunehmen, daß in einem Bundesstaat, in dem das Gebot der Mobilität immer stärker erhoben wird, in der wir uns auf eine europäische Integration hin orientieren, das Bildungswesen im Schulbereich bei den Schulabschlüssen weiter auseinanderklafft, sich immer weiter auseinanderentwickelt. Das können wir nicht akzeptieren. Ich fordere deswegen die sich in dieser Frage sehr zurückhaltenden Sozialdemokraten ausdrücklich auf, eine einheitliche Haltung zu ermöglichen.
Zu meinem Vorredner nur so viel: Ich weiß nicht, Herr Kollege Penner, was Sie motiviert hat, hier eine Rede zu halten, wie ich sie von Ihnen noch nicht gehört habe.
Ich habe Ihnen hier öfters zugehört. Wenn Sie hier von Sportsgeist reden, dann sollten Sie die Mindestregeln politischen Anstands wahren und nicht absichtsvoll Verdrehungen, Unwahrheiten und Lügen verbreiten. Das haben Sie hier getan, abgesehen davon, daß Sie absichtsvoll versucht haben, einzelne ihrer Kollegen bewußt und in einer ziemlich unangenehmen Weise zu kränken.
Herr Minister, darf ich Sie unterbrechen. Es ist zwar schwierig, einem Minister zu sagen, wie es mit der Ordnung dieses Hauses ist. Aber der Begriff „Lügen", auf eine Person bezogen, ist mindestens unparlamentarisch. Sonst ist er an der Grenze dessen, was einen Ordnungsruf erforderlich macht.
Herr Präsident, wenn Herr Kollege Penner hier — ich weiß gar nicht, was er damit meint — von einer Reise in einer chinesischen Staatsbahn spricht — ich bin noch nie mit einer chinesischen Staatsbahn gefahren —, dann kann ich nur vermuten, daß er endweder lügt oder nicht ganz bei Sinnen ist. Da ich letzteres zu behaupten mich niemals erdreisten würde, habe ich zu seinen Gunsten das erstere angenommen.
Herr Präsident, ich wollte hier darauf hinweisen: Wir haben im Bereich der politischen Bildung sehr viel damit zu tun, daß sich junge Menschen, die solche Debatten wie diese anhören, darüber entsetzt zeigen, daß Politiker, die wie Sie einen Führungsanspruch erheben, ihre politische Kontrahenten so behandeln, wie Sie das eben getan haben. Sie werben damit nicht für die Demokratie. Eine unserer Aufgaben in der Bildungspolitik ist auch, das zu tun. Das, Herr Kollege Penner, haben Sie nicht getan.
Wenn ich Ihre Diktion aufnehmen würde, müßte ich hier sagen — aber ich tue es natürlich nicht — : Sie haben Ihrem Namen alle Ehre gemacht.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu meinem Vorredner möchte ich nur sagen: Ich weiß, daß der Kollege Penner bereits eine Nachtfahrt in einer chinesischen Staatsbahn erster Klasse hinter sich gebracht hat. Ich vermute, daß er einen chinesischen Doppelgänger gesehen hat, den er fälschlicherweise mit Herrn Möllemann verwechselt hat.Meine Damen, meine Herren, das, was der Staatsanwalt Penner heute hier geboten hat, war eine Ansammlung von Worthülsen, Verdrehungen, Unterstellungen, angereichert durch Gehässigkeiten gegen den Bundesinnenminister und auch gegen den Bundesbildungsminister. Herr Penner, das war keine politische Rede im Rahmen der Haushaltsdebatte, das war eine politische Schmährede. Sie haben niedermachen wollen und nicht sachlich argumentiert,
letzten Endes mit dem Sammelsurium von Vorhaltungen auch keinerlei Alternative in den wirklich zentralen innenpolitischen Fragen aufgezeigt.Diese geistige und sachpolitische Enthaltsamkeit hat natürlich einen guten Grund: Auf keinem anderen politischen Feld treten die Irrungen und Wirrungen, die Sprüche und Widersprüche der SPD so offen zu Tage wie in der Innenpolitik. Das beginnt bereits bei
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Gerster
der Einschätzung der politischen Stimmungen in unserem Lande. Mitte Mai veranstaltete der stellvertretende Fraktionsvorsitzende, eben Herr Penner, eine zuerst vollmundig und großspurig angekündigte sogenannte grundsätzliche Abrechnung mit der Politik des Bundesinnenministers. Kern seiner damaligen gewaltigen Aussagen war, es bestehe eine schwere Vertrauenskrise zwischen Bürgern und Staat, die dem Innenminister anzulasten sei. Penner hat bereits damals die Entwicklung verschlafen, denn nur wenige Wochen später offenbarte eine repräsentative Meinungsumfrage, daß rund 80 % aller befragten Bürger mit unserer Demokratie und dem politischen System in der Bundesrepublik Deutschland zufrieden sind, von Vertrauenskrise keine Spur. Für den Kollegen Penner ist möglicherweise besonders peinlich: Bei allen Bürgern nahm das Vertrauen zum Staat in den letzten Jahren zu. Ganz besonders stieg es bei den SPD-Anhängern, im letzten Jahr allein um 10 %. Offenbar hat der Herr Penner sein Ohr mehr am Mund oppositionsmüder SPD-Funktionäre und dafür weniger am Puls des Volkes.Lebensfremdheit wird in den innenpolitischen Inhalten der SPD-Politik aber noch deutlicher. Dafür möchte ich einige Beispiele nennen.Erstens. Eigentlich war die SPD ja für die Volkszählung. Sie wurde unter ihrem Kanzler konzipiert, von uns nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts mit mehr Schutz für den Bürger verbessert und von den SPD-Kommunalpolitikern am lautesten eingefordert. Tatsächlich aber waren viele Genossen gegen die Volkszählung, denn sonst hätten doch Untergliederungen in Kompaniestärke nicht gegen sie Front gemacht, und sonst hätten SPD-Kollegen hier im Hause nicht bei Sondersitzungen und Aktuellen Stunden en masse in den grünen Chor des Mißtrauens, der Verdächtigungen und Unterstellungen einstimmen können. Zumindest an der Verunsicherung der Bürger waren SPD-Genossen beteiligt. Daß die Volkszählung dennoch gelingt, ist jedenfalls kein Verdienst der SPD.Zweitens Beispiel. Eigentlich unterschreibt die SPD ja den Auftrag des Verfassungsschutzes und bejaht — im Widerspruch zu den GRÜNEN — die Tätigkeit des Bundesamtes in Köln. Tatsächlich ist sie aber in konkreten Fällen, wenn es gerade Mode ist — Herr Penner hat heute wieder ein Beispiel gegeben — , gegen einzelne Tätigkeiten dieses Amtes, denn wie anders soll man die über ein natürliches Mißtrauen weit hinausreichende Diffamierung der Arbeit des Kölner Amtes verstehen? Es waren SPD-Kollegen, die in diesem Sommer in einer Aktuellen Stunde hier von Bespitzelungsaktionen gegen angesehene Sportler und von schweren Pflichtverletzungen sprachen. Inzwischen hat der Bundesbeauftragte für den Datenschutz diesen Vorgang im Kölner Amt überprüft. Die Vorwürfe der SPD sind widerlegt. Herr Penner, statt hier alte Kamellen aufzurollen, sollten sich die SPD-Ankläger von damals bei den Beamten dieses Amtes entschuldigen, die ihre Pflichten gewissenhaft erfüllt haben.
Drittes Beispiel. Eigentlich ist die SPD ja gegen die Anwendung von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Gut so. Tatsächlich nehmen zumindest Teile der SPD sie aber billigend in Kauf, denn vor dem Reagan-Besuch in Berlin wußte jeder, daß die von Kommunisten, Linksextremisten und Grünen aufgezogene Anti-Reagan-Demonstration gewalttätig enden würde. Das hinderte die Berliner Jungsozialisten, die ASF und zwei Unterbezirke überhaupt nicht, zu dieser Demonstration mit Politkriminellen aufzurufen. Oder was soll man davon halten, wenn dem SPD-Obmann im Innenausschuß, dem Kollegen Dr. Nöbel, nach den blindwütigen nächtlichen Ausschreitungen Anfang Mai in Kreuzberg nichts anderes einfällt, als öffentlich über Polizeistaatsmentalität zu klagen?
Spätestens da muß den verletzten Polizisten aufgegangen sein, daß eigentlich der Ermordete schuldig ist.
Viertes Beispiel. Eigentlich ist die SPD ja lautstarker Verfechter der Menschenrechte in aller Welt. Gut so. Tatsächlich wird der Menschenrechtseinsatz der SPD aber immer behutsamer, wenn es um die Zustände in der kommunistischen Nachbarschaft geht. So steht im gemeinsamen SPD-SED-Genossenpapier wörtlich zu lesen — ich zitiere — :Die ideologische Auseinandersetzung ist so zu führen, daß eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten unterbleibt.
Herr Bahr von der SPD weiß natürlich genau, daß Kommunisten mit der Forderung der Nichteinmischung jede Forderung nach Wahrung der Menschenrechte apodiktisch abwehren. Herr Honecker hat diese Woche in Bonn wieder ein Beispiel gegeben.
Also unterschreiben die SPD-Verfasser mit ihrer eigenen Selbstbeschränkung, sich nicht in innere Angelegenheiten der DDR einzumischen, auch den Verzicht, die Menschenrechte exakt in der DDR einzuklagen. Sie sollten diesen Teil des Papieres schnellstens revidieren, wenn Sie in der Menschenrechtspolitik glaubwürdig sein wollen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe zuwenig Zeit; ich bitte um Nachsicht. Sie haben ja Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen.Wer sich in Sachen Menschenrechte nicht einmischt, kneift gegenüber den Mächtigen in totalitären Staaten.
Sie können hier Lehrstunden bei Norbert Blüm und Helmut Kohl nehmen.
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Gerster
Beide haben Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen die Wahrheit ins Gesicht gesagt und sich nicht hinter Nichteinmischungsvorwänden versteckt. Lernen Sie aus diesem Verhalten! Sie können viel lernen.
Das Koordinatenkreuz innenpolitischer Grundfragen und Grundwerte in der SPD ist verschoben und verbogen. In dieser Wahlperiode hat sie in einem Rausch Aktueller Stunden, Innenausschuß-Sondersitzungen, künstlich aufgebauschter Bundestagsdebatten Nebenkriegsschauplätze eröffnet und sich um die wirklich wesentlichen Fragen herumgedrückt. Dabei saßen in der Regel die Ideengeber in den Reihen der Fraktion der GRÜNEN, und Sie haben sich lediglich auf das Trittbrett, immer etwas zeitversetzt, von Provinznebenbahnen aufgeschwungen und sind mitgefahren.Die wirklich wichtigen Fragestellungen der Innenpolitik lauten doch heute und für diese Wahlperiode:Erstens. In diesen Wochen jähren sich zum zehntenmal die schrecklichen Terrormorde der RAF an Buback, Ponto, Schleyer und sechs Begleitern. In den letzten zwei Jahren haben Terroranschläge deutscher Terroristen sieben Menschenleben gefordert. In den letzten Monaten wurden im Bundesgebiet Hunderte politisch motivierte Brand- und Sprengstoffanschläge begangen. Während Herr von Dohnanyi mit einer RAF-Sympathisantin und militanten Hausbesetzern über die Verlängerung eines Unrechtszustandes parliert und der Bremer Innensenator Kröning von der Polizei sagt, sie könne nur wenig mehr leisten, als Konflikte festzustellen und vorläufig oder ergänzend zu regeln, polemisieren einzelne SPD-Innen- und Rechtspolitiker hier in Bonn dagegen, daß diese Koalition im letzten Jahr Gesetzeslücken im Bereich der Terrorismusbekämpfung geschlossen hat. Wir werden darauf drängen, daß die Fahndungsbemühungen nicht nachlassen, und werden das Instrumentarium zur Bekämpfung des Terrorismus nach gründlichen Beratungen weiter verbessern.
Sie sollten in diesen Fragen zu dem Konsens früherer Jahre zurückfinden.Zweitens. Es gibt zahlreiche Indizien, daß das Rechtsbewußtsein in unserem Land wie auch in anderen europäischen Ländern zurückgeht. Die allgemeine Kriminalität hat seit Beginn der 70er Jahre bis heute erschreckend zugenommen. Wir werden die Verbesserung der Kriminalitätsbekämpfung, insbesondere die Verfolgung von Rauschgiftdelikten, zu einem Schwerpunkt unserer Arbeit machen. Herr Kollege Penner, ich bin gespannt, welche ökonomischen Vorschläge Sie eigentlich für die Not in den Ländern haben, wo Rauschgift angebaut wird. Ich meine Vorschläge, die Sie beim Innenminister eingefordert haben.Drittens. Gewalt ist kein Mittel der Politik. Dies gilt auch für Demonstrationen, deren friedlicher Verlauf gesichert werden muß. Wie drei Viertel unserer Bevölkerung — das haben Umfragen ergeben — sehen wirauf diesem Gebiet Handlungsbedarf. Wir werden auf einer Verwirklichung der Koalitionsvereinbarungen bestehen und bieten dazu unserem verehrten Koalitionspartner gern die erwünschte und notwendige Nachhilfe an. Ich vertraue darauf, daß die FDP nicht nur belehrt, sondern auch lernfähig ist.
Viertens. Aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts sind Konsequenzen mit zahlreichen Gesetzesvorhaben zu ziehen. Wir wollen diese schwierige Materie gründlich parlamentarisch beraten und erwarten, daß die Bundesregierung entsprechende Gesetzesentwürfe nun bald vorlegt.Fünftens. Die besten Gesetze nützen wenig, wenn sie nicht von einer effizienten Verwaltung ausgeführt werden. Unser öffentlicher Dienst nimmt im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz ein. Wer wie die Irsee-Grundsatzdenker der SPD offenbar nach Weisung des DGB das Beamtenrecht abschaffen will,
so in einem Entwurf für ihr Grundsatzprogramm, läuft in die Irre und wird an uns scheitern. Der öffentliche Dienst braucht vielmehr Entbürokratisierung, mehr Flexibilität, Anpassung an die Rahmenbedingungen der Wirtschaft, z. B. mehr Teilzeitbeschäftigung und Möglichkeit zur Beurlaubung, und dadurch neue Attraktivität für qualifizierten Nachwuchs. Dazu gehören die Teilnahme an der allgemeinen Einkommensentwicklung und die Beseitigung der in SPD-Regierungszeiten geschaffenen Strukturfehler.
Wir fordern, den angekündigten Strukturbericht nun möglichst bald vorzulegen.
Meine Damen und meine Herren von der SPD, ich finde es ein bißchen merkwürdig, daß ausgerechnet Herr Penner sich heute hier hinstellt und glaubt, Anklagen in Richtung § 55 Beamtenversorgungsgesetz erheben zu können. Ich meine, auch hier gilt der Satz: Die Brandstifter sind als Feuerwehrfrauen oder Feuerwehrmänner die denkbar Ungeeignetsten. Denn unter Ihrer Regierungszeit ist — mit Zustimmung einiger unionsregierten Bundesländer, zugegeben — dieses Problem ja immerhin geschaffen worden.
Ich finde es merkwürdig, Herr Penner, daß ausgerechnet Sie hier mit einem fast drohenden Unterton die Lage des einfachen öffentlichen Dienstes beschreiben. Hier gibt es Probleme. Aber ist es denn nicht die Wahrheit, daß wir im Gegensatz zu Ihren letzten acht Regierungsjahren in der vorigen Wahlperiode eine Strukturverbesserung gerade für den einfachen Dienst durchgesetzt haben, zu der Sie nicht fähig waren?
— Beim einfachen Dienst! — Ist es nicht die Wahrheit,daß auch der einfache Dienst — natürlich bei stabilem
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Gerster
Geld und einer Einkommensverbesserung von 3 bis 4 % — viel besser dasteht als in Ihren Regierungszeiten, wo die Inflationsraten größer als die Einkommenszuwächse waren?
Und ist es nicht die Wahrheit, daß gerade durch die Steuerreform insgesamt rund 500 000 Geringverdienende aus der Steuerbelastung herausfallen und daß dies eine steuerliche Entlastung gerade für den einfachen öffentlichen Dienst sein wird?
— Sie sind die letzten Ratschlaggebenden, gerade was den einfachen öffentlichen Dienst angeht.Sechstens. Wir drängen auf eine Novellierung des Zivilschutzgesetzes, weil die Bürger darauf Anspruch haben, daß der Staat zeitgemäße Vorkehrungen gegen Katastrophen und andere Gefährdungslagen trifft. Wer schützen will, will eben nicht gefährden. Also bleibt die Verteufelung des Zivil- und Katastrophenschutzes substanzloses Gerede.
Siebentens. Die Bundesregierung wird in Kürze das Deutsche Historische Museum in Berlin gründen. Wir wollen, daß sich die Bürger in ihrer Geschichte, aber auch in den Denkmälern früherer Epochen wiederfinden. Nur wer weiß, woher er kommt, wird auch die richtigen Weichen für die Zukunft stellen. Daher wollen wir vor allem den Denkmalschutz, soweit der Bund zuständig ist, weiter verstärken.Achtens. Auch wenn die Auftritte deutscher Spitzensportler in letzter Zeit alles andere als berauschend waren:
Wir werden den Spitzensport weiterhin fördern,
dabei aber auch nach neuen Wegen und mehr Effizienz suchen.Damit das klar ist: die Koalition wird zusammen mit der Bundesregierung nichts tun, was die Funktions- und Arbeitsfähigkeit der gemeinnützigen Vereine beeinträchtigt. Werfen Sie, Herr Penner, getrost Ihre Desinformationstraktätschen in den Abfall! Wir werden den Vereinen beweisen, wer ihre ehrenamtlichen Leistungen anerkennt. Damit auch das deutlich ist: Mit der CDU/CSU wird eine Streichung von Freibeträgen für Übungsleiter nicht stattfinden. Bitte hören Sie auf, der Öffentlichkeit die Unwahrheit zu sagen!
Diese keinesfalls vollständige Aufzählung verdeutlicht — ich lasse das Thema Ausländerrecht weg; hierzu hat der Innenminister Äußerungen gemacht, die ich im wesentlichen teile — , daß es in der Innenpolitik ein weites Betätigungsfeld gibt.Die SPD — das konnten Sie auch dem Beitrag des Kollegen Penner entnehmen — hat eigene Vorschläge auf diesen wichtigen Feldern nicht gemacht. Sie hat sich durch eigene Alternativen nicht hervorgetan. Statt dessen haben Sie das letzte halbe Jahr benutzt, nachrangige Fragen propagandistisch aufzupolieren, wohl, um Ratlosigkeit in sehr wesentlicheren Fragen zu überspielen.Am 12. Juni 1925, also vor über 60 Jahren, sagte in der Haushaltsdebatte des Reichstags der SPD-Abgeordnete Sollmann:Nächst dem Reicharbeitsministerium gibt es wohl kaum ein Ministerium, das so viele Beziehungspunkte mit den Aufgaben meiner Partei hat wie das Reichsministeriums des Innern.Das waren noch Zeiten, als die SPD sich den Auf gaben der Innenpolitik noch voller Überzeugung und mit Leidenschaft stellte. Heute müßte der Satz lauten: Nächst der Sozialpolitik, bei der die SPD ihr Versagen in den 70er Jahren dauerhaft unter Beweis gestellt hat, gibt es keinen Politikbereich, in dem die geistige Verwirrung der SPD die Sachkompetenz deutlicher verdrängt als in der Innenpolitik.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Möllemann, was Sie eigentlich getrieben hat, uns in dieser Debatte in die Quere zu kommen, habe ich überhaupt nicht richtig begriffen. Aber ich mach's einmal so: Ich hüpfe über Sie und über die Fettnäpfchen, in die Sie getapst sind, einfach so hinweg und schließe bei Herrn Zimmermann an. Der hat seine Rede mit scharfen Worten zur Lage der inneren Sicherheit begonnen. Nun ist das natürlich nicht zufällig so. Man weiß, daß Ihr Herz, Herr Zimmermann, in dieser Frage mit besonderer Leidenschaft schlägt. Aber ich weiß auch, daß das eine sehr gefährliche Leidenschaft ist, der Sie da verfallen sind. Wir aber nehmen diese Herausforderung sehr gerne an, über diese Frage möchten wir mit Ihnen auch diskutieren. Ich denke, wir sollten uns auf eines einigen, daß nämlich als Voraussetzung für diese Debatte Pflichtlektüre das ist, was im „Spiegel" steht:
an Berichten über die Zeit vor zehn Jahren, über die Debatten im Krisenstab. Und ich sage Ihnen auch: Wir freuen uns auf diese Auseinandersetzung. Diesmal gehen wir in diese Auseinandersetzung nicht geschichtslos, sondern mit sehr genauen, sehr detaillierten Kenntnissen über die Zeit damals hinein. — Und, Herr Gerster: So schön war die Zeit nicht, als die SPD damals die Verantwortung für diese Politik der inneren Sicherheit hatte. —
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1647
Frau Dr. VollmerWir gehen in diese Debatte aber auch mit einem bestimmten Maßstab, und an dem werden wir Sie messen, Herr Zimmermann. Und dieser Maßstab ist, daß die Frage der Liberalität und der Freiheit einer Gesellschaft nicht etwa daran gemessen werden darf, wie fähig sie ist, Ausgeschlossene zu jagen, und wie gut sie sich gegenüber Ausgeschlossenen abschließen und betonieren kann, sondern daran gemessen wird, wie fähig sie ist, diese zu integrieren und sich damit selbst zu verändern. Das ist die entscheidende Frage.
Nun komme ich zu dem, was ich vorbereitet habe, und da wollte ich mit einer kleinen Geschichte, mit einer kleinen und boshaften Geschichte anfangen. Es ist eine Geschichte, die nahezu überall passieren könnte. Sie könnte sich z. B. auf dem Frankfurter Hauptbahnhof zugetragen haben. Sie könnte sich auch — darüber ist ja schon gesprochen worden — nachts in der chinesischen Staatsbahn erster Klasse zugetragen haben. Das wäre sogar ein sehr schöner, exotischer Rahmen für eine solche typisch deutsche Geschichte. Denn wir wissen ja, daß in der letzten Zeit sehr viel nach China gereist wird.Also, die Geschichte geht so: Ein Jude sitzt da nachts in der chinesischen Staatsbahn, erster Klasse, und er sitzt drei Deutschen gegenüber. Der Jude hat vor, in den Speisewagen zu gehen, hat aber dieses Problem mit seinem Koffer, den er im Abteil zurücklassen will. Da sitzt also dieser Jude nachts in der chinesischen Staatsbahn, erster Klasse, und beginnt, mit den Deutschen zu reden. Er sagt zu dem ersten: „Mein Herr, sind Sie ein Antisemit?" „Wo denken Sie hin", sagt der Deutsche. „Ich doch nicht, ganz im Gegenteil: Ich bin ein großer Freund des Beitrags der Juden zur deutschen Kultur."Der Jude fragt den nächsten Deutschen: „Mein Herr, sind Sie ein Antisemit?" „Ach, wissen Sie", sagt der zweite Deutsche, „das ist doch lange her, und damals war eine andere Zeit. Heute haben wir sowieso ganz andere Verhältnisse, und die meisten Deutschen sind sowieso Spätgeborene."Der Jude versucht es bei dem dritten Deutschen, nachts in der chinesischen Staatsbahn, erster Klasse, und sagt: „Mein Herrn, sind Sie ein Antisemit?" „Aber sicher", sagt der dritte. „Sie sind ein ehrlicher Mann", sagt der Jude. „Würden Sie die Freundlichkeit haben, auf meinen Koffer aufzupassen?"Diese kleine, böse Geschichte soll ein Beispiel sein. Natürlich ist der Oberbürgermeister von Frankfurt, Brück, kein Antisemit, der auf dem Börneplatz, wo das alte Judenviertel war, lieber eine Kaufhalle bauen läßt. Natürlich ist auch der Oberbürgermeister von Bonn, Herr Daniels, kein Antisemit, der auf dem Platz der ehemaligen jüdischen Synagoge ein Luxushotel und einen Parkplatz bauen läßt. Natürlich ist auch Herr Stoiber kein Antisemit, der heute den GRÜNEN in Bayern verboten hat, mit Herrn Honecker zusammen Dachau zu besuchen. Natürlich sind auch Herr Stoltenberg und Herr Zimmermann keine Antisemiten, die in diesem Haushaltsentwurf etwas vergessen haben, nämlich die Gelder für die Entschädigung dervergessenen Opfer des Nationalsozialismus jetzt schon auszuweisen.
Trotzdem würde ich weder Ihnen, Herr Stoltenberg — der nicht da ist —, noch Ihnen, Herr Zimmermann, meinen Koffer anvertrauen, wenn ich Betroffene Ihrer Politik wäre. Ich will dies an drei Beispielen aus dem Bereich der Innenpolitik verdeutlichen.Erstes Thema: Die Frage der Entschädigung der Verfolgten des NS-Regimes. Noch kurz vor der Sommerpause am 24. Juli 1987 fand zu diesem Thema eine Anhörung des Innenausschusses im Deutschen Bundestag statt. Das war eine Anhörung, wie sie nicht alle Tage stattfindet. Alle die dabei waren, werden sich an die besondere Stimmung gerade dieser Anhörung erinnern. Alle werden wissen, daß es damals einen ganz bestimmten Höhepunkt gab, wo alles auf des Messers Schneide stand. Das war zu dem Zeitpunkt, als nach sehr eindringlichen Berichten vieler Betroffener deutlich wurde, wie beschämend, wie unwürdig, wie ganz und gar unverständlich für viele dieser vergessenen Opfergruppen der Prozeß gewesen war, in dem sie um so etwas wie Gerechtigkeit gekämpft hatten. Sie hatten viel weniger um Geld gekämpft, sondern viel mehr um die Anerkennung ihrer Leiden und um so etwas wie eine ehrenvolle Stellung in einer Gesellschaft, die versprochen hatte, demokratisch zu sein und wirklich gründlich mit den nationalsozialistischen Vorurteilen und Diskriminierungen abzurechnen.Als damals durch die Fülle der Aussagen immer deutlicher wurde, daß es gerade an dieser Anerkennung z. B. für die Sinti und Roma, z. B. für die Kommunisten, z. B. für die Zwangssterilisierten, z. B. für die Homosexuellen gefehlt hatte, entstand der Eindruck, daß es wenig Grund zum Stolz gebe über die bisherige sogenannte Wiedergutmachungspraxis.
Gerade an dieser Stelle wurde, ich glaube von Ihnen, Herr Hirsch, der Vertreter des Zentralrats der Juden, Herr Werner Nachmann, als Zeuge aufgerufen. Er sollte folgendes dokumentieren: Er sollte sagen, es sei viel geleistet worden, es hätte viel Geld gegeben aus den Bundeshaushalten für das Bundesentschädigungsgesetz. Genau in diesem Moment ist etwas sehr Besonderes passiert, was in diesem Parlament nicht oft passiert: Werner Nachmann hat natürlich anerkannt, daß es umfangreiche Entschädigungsleistungen gegeben hat, aber er hat sich nicht als Zeuge gegen die anderen Opfergruppen aufrufen lassen. Er hat folgendes gesagt:Bedenken Sie, meine Damen und Herren, den ungeheuren Schritt, den es bedeutet hat, daß wir Juden überhaupt dieses Projekt der sogenannten Wiedergutmachung für etwas, was gar nicht wiedergutzumachen ist, akzeptiert haben. Unsere Bereitschaft, sich darauf einzulassen, das war der Grund dafür, daß den Deutschen überhaupt ein Weg in die Gemeinschaft der Völker nach Auschwitz wieder eröffnet worden ist.Es ist also wirklich zu fragen: Wer hat eigentlich vondieser ganzen Entschädigungspraxis mehr profitiert?
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1648 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Frau Dr. VollmerEs ist heftig jenen zu widersprechen, die meinen, dieses Problem sei irgendwann einmal auch haushaltspolitisch mit einer Null-Summe abzuschließen. Diese Erkenntnis war damals, kurz vor der Sommerpause — das will ich ausdrücklich vermerken —, Erkenntnis aller vier Parteien. Es gab Erklärungen von allen vier Fraktionen, daß möglichst bald eine Lösung gesucht werden sollte. Es sind damals Hoffnungen erweckt worden, nicht so sehr Hoffnungen im Sinne der geldlichen Leistungen, sondern Hoffnungen im Sinne der schnellen Abwicklung dieser Frage.Wer das will, wer den vergessenen Opfern, wenn auch spät, Gerechtigkeit verschaffen will, der muß genau eines tun: Er muß schon in den jetzt vorliegenden Haushaltsentwurf den Etat für die Entschädigung der vergessenen Opfer, der jüdischen und der nichtjüdischen Opfer, einplanen.Wenn wir erst abwarten, bis der Innenausschuß zu einer endgültigen Regelung der Einzelfragen käme, dann wäre dieser Haushalt abgeschlossen, und das hieße konkret, die Gelder würden erst im übernächsten Jahr, wenn überhaupt, eingeplant werden können. Das hieße wiederum, ein gut Teil der Anspruchsberechtigten wäre darüber gestorben.Die Frage des Juden in der chinesischen Staatsbahn hieße also in diesem Fall — sagen Sie es jetzt ehrlich — : Herr Stoltenberg und Herr Zimmermann, wollen Sie diesen Posten jetzt einplanen? Dann tun Sie es auch, und dann berücksichtigen Sie dafür 800 Millionen in diesem Etat. Das ist die Summe, die wir mit den Verfolgtengruppen, auch mit dem Zentralrat der Juden als realistisch und notwendig abgesprochen haben. Sonst seien Sie wenigstens so ehrlich, und sagen Sie, was Sie vorhaben. Verschieben Sie das aber nicht auf einen Zeitraum, wo niemand mehr lebt, der heute noch hofft.
Zweites Beispiel: die Ausländerpolitik. Dieses Mal muß die Frage des Juden in der chinesischen Staatsbahn in folgende Frage übersetzt werden: Herr Zimmermann, sind Sie eigentlich ausländerfeindlich? Haushaltspolitisch hieße dies: Haben Sie z. B. Gelder für ein Antifolterzentrum eingeplant, wie es dies in Schweden gibt? Wo stellen Sie Gelder für Flüchtlinge zur Verfügung, die Hilfe benötigen, um die Bundesrepublik überhaupt zu erreichen? Wie erklären Sie, daß der Sozialhilfesatz gerade für Asylsuchende um 20 % gekürzt wurde? Wo stellen Sie Gelder für die Qualifizierung von Jugendlichen und von Kindern der Flüchtlinge zur Verfügung? Es ist natürlich klar — von daher ist so ein Haushaltsentwurf immer ausgesprochen ehrlich, weil man mit Zahlen weniger lügen kann als mit Worten — ,
daß, wenn man keine Flüchtlinge haben will, diese dann auch nichts kosten. Das ist eine schlichte Wahrheit, und das wird in Ihrem Entwurf dokumentiert.Dabei hätten wir auch Sparvorschläge zu machen. Zum Beispiel könnte man die vorgesehenen Abschiebungsgelder sparen, wenn wir den Leuten ermöglichen würden, hierzubleiben. Sparen könnte man auch die völlig unnötigen Gelder für die Begleitung durch den Bundesgrenzschutz, der bei Abschiebeaktionen die Betreffenden bis nach Zypern begleiten muß. Das sind völlig unnötige Kosten.
Drittes Beispiel: die Kulturpolitik. In diesem Falle hieße modifiziert die Frage des Juden in der chinesischen Staatsbahn: Lieben Sie die Kultur, Herr Zimmermann? Ich gebe zu: Wenn ich Ihre Person so betrachte, ist das schon eine etwas komische Frage.
Auch hier gibt der vorliegende Haushaltsentwurf eine ziemlich eindeutige Antwort, die schon fast ehrlich zu nennen ist. Das allseits bekannte Selbstbewußtsein, daß die Deutschen eine große Kulturnation zu nennen seien, weist sich im Haushalt mit kläglichen zwei Prozent Anteil für den Kulturbereich am Gesamtetat aus.
— Ich kenne das mit den Ländern.Das ist denkbar wenig, wenn man bedenkt, daß auch die Künstler ganz entgegen ihrem Ruf nicht allein von der Luft und der Liebe leben können.
Erschwerend kommt aber auch hinzu, daß Sie ja tatsächlich im Bereich der Kultur regelrechte nationale Großtaten vorhaben. Es gibt da die Planung — der Bundeskanzler hängt sehr daran — für die Museumsneubauten in Berlin und Bonn. Das soll ja so etwas werden wie ein „Centre Helmut Kohl"; das soll das deutsche nationale Museum sein. Ich wundere mich zwar immer, warum dieser Bundeskanzler das für seine Repräsentation braucht. Denn Joschka Fischer hat ja einmal zu Recht gesagt, daß der Bundeskanzler an sich schon nicht nur ein pfälzisches, son-dem auch ein deutsches Gesamtkunstwerk sei. Aber er will dieses nationale Museum haben, so wie es das Centre Pompidou in Paris gibt. Es steht sehr zu befürchten, daß er ausgerechnet die Gelder für diese seine nationale Großtat aus den Fonds nehmen will, die wir für andere Zwecke dringend brauchen, z. B. für die Künstlersozialversicherung.
Dazu kann man aus der Dokumentation für diese Stiftung einiges zitieren; das erspare ich mir jetzt. Aber ich weise darauf hin, daß dieses eine sehr gefährliche Konsequenz hat. Das heißt nämlich, daß nur noch die Kunst akzeptiert wird, die sozusagen regierungskonform und im Sinne der nationalen Größe arbeitet.
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Frau Dr. VollmerDamit wird ein entscheidendes Lebenselixier von Kunst, nämlich daß sie gerade im Widerspruch zur Regierungspolitik und auch zum Zeitgeist existiert, vernichtet.
— Kunst kommt auch von kontern.
Dazu allerdings brauchen die Künstler auch so etwas wie existentielle Unabhängigkeit — was Sie für sich als Abgeordnete immer beanspruchen.
So denke ich denn, daß man für den Bereich der Kulturpolitik ungefähr zu folgendem Schluß kommen muß: Das Volk der Dichter und Denker scheint heute — jedenfalls wenn man den Kulturetat betrachtet — dabeizusein, seine zeitgemäße Aufgabe in der Errichtung jener beiden Museumskolosse zu finden. Es wäre dies zwar eine ehrliche Antwort, aber lassen Sie mich dazu auch noch folgendes sagen: Das heißt dann auch, daß sich das Volk der Dichter und Denker zur Zeit eine Sendepause im Bereich „Kunst und Kultur" genehmigt und damit beschäftigt ist, das Wunschbild seiner eigenen nationalen Größe ebenso in Beton zu gießen, wie es weiland Kaiser Wilhelm II. mit seiner Flotte gemacht hat.
Die derzeitigen Kulturaufgaben für das gemeine Volk übernehmen danach der Tennissport, das Skatspiel und das ununterbrochene, ununterscheidbare graue Rauschen der Videokassetten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man alles richtigstellen wollte, was die Frau Kollegin Vollmer uns hier dargeboten hat, müßte man wirklich eine stundenlange Unterhaltung führen, und das ist sicherlich eine gar nicht so einfache Aufgabe.
Nun, Sie haben uns mit einer Geschichte aus der ersten Klasse der chinesischen Staatsbahn erfreut. Manche Kollegen werden sich zu Recht fragen, was denn die Nacht in der chinesischen Staatsbahn — die erste Klasse ist übrigens sehr empfehlenswert — mit unserer Etatdebatte zu tun hat. Da gibt es Parallelen: Manches, was man hört, kommt einem ziemlich chinesisch vor; man darf sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen, wie man gerne möchte; der Blick auf die Umgebung bleibt flüchtig und begrenzt; vor allem richtet er sich nur selten nach vorn; man trifft immer wieder alte Bekannte; das Ziel des Unternehmens wird auf das angenehmste beschrieben, und man wäre manchmal doch für nähere Erläuterungen durchaus dankbar.
Damit bin ich beim Haushalt: Die Zahlen sind keinesfalls atemberaubend. Die Veränderungen gegenüber dem Vorjahr halten sich in engen Grenzen, aber es gibt durchaus erläuterungsbedürftige und erläuterungswürdige Positionen: die Projekte der Öffentlichkeitsarbeit, die notwendige Präzisierung der internationalen Zusammenarbeit der Polizeien, der beachtliche Minderbedarf beim Bundeskriminalamt und beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, bei dem unseres Wissens die im Haushalt 1987 eingesetzten 86 neuen Planstellen für Entscheider nur zu einem kleinen Teil besetzt worden sind, was in einem erstaunlichen Gegensatz zu der immer wieder beschworenen „Flut politischer Flüchtlinge" steht.Es interessiert uns, daß die Mittel für Hilfen zur Rauschgiftbekämpfung im Ausland um eine Million steigen sollen, aber die Mittel für den Museumsbau für ostdeutsche Kulturregionen um 2,5 Millionen. Wir brauchen mehr Klarheit über die politischen und gesetzgeberischen Absichten im Bereich des Zivilschutzes, den wir wie unsere Kollegen in der Koalition für wichtig halten und bei dem wir wiederholen, daß er nur zusammen mit den freiwilligen Organisationen funktionieren kann, so daß wir uns bei einer anstehenden Gesetzgebung intensiv mit ihnen zusammensetzen müssen, wie übrigens ein vernünftiger Zivilschutz im Falle bewaffneter Auseinandersetzungen auch vernünftige humanitäre Regeln des Kriegsvölkerrechts voraussetzt.Wir brauchen mehr Klarheit über die strukturelle Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstrechts. Der Kollege Gerster hat ja sehr eindrucksvoll dargestellt, was wir im Laufe der letzten Monate da schon getan haben. Wir erwarten, daß wir uns bald mit dem von der Bundesregierung angeforderten und zugesagten Bericht auseinandersetzen können.Schließlich, Frau Kollegin Vollmer, sind wir entschlossen, bei der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts die Folgerungen aus der Anhörung des Innenausschusses zu ziehen und noch in diesem Jahr politisch zu entscheiden. Wir bitten die Bundesregierung, d. h. alle beteiligten Ressorts, die dafür wünschenswerten Entscheidungsgrundlagen rechtzeitig zur Verfügung zu stellen.
Ich habe übrigens niemals jemanden als Zeugen gegen andere Verfolgtengruppen aufgerufen. Es ging bei dieser Diskussion um eine These der Abgeordneten Vollmer — ich sehe sie im Moment nicht —,
die wir leidenschaftlich bekämpfen müssen, nämlichdie wirklich unverschämte Behauptung, daß die Wiedergutmachung eine Fortsetzung der rassistischen
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Dr. Hirschund politischen Diskriminierung des Dritten Reiches gewesen sei.
Damit wird alles madig gemacht, was wir in diesem Bereich gemeinsam — alle Fraktionen — getan haben. Unser guter Wille, hier fortzufahren, wird in einer Weise tangiert, wie ich es weder sachlich noch menschlich für geboten und vernünftig halte.
Wir werden die sachbezogene, zu vielen Kollegen freundschaftliche Zusammenarbeit in der Koalition fortsetzen. Es wird uns dabei nicht irritieren, daß wir von bayerischen Landespolitikern fortgesetzt und unzivilisiert beschimpft werden, obwohl wir den politischen Sinn dieses Umgangs nicht verstehen. Eine Koalition ist kein Beschimpfungsverein auf Gegenseitigkeit.
Sie bedeutet nicht die Unterwerfung des jeweiligen Partners, sondern Zusammenarbeit, Respekt vor den Grundüberzeugungen des anderen und die Fähigkeit, von unterschiedlichen Ausgangspositionen her zu einer sinnvollen Politik zusammenzukommen.
Wir stimmen darin überein, daß Gewalt in der politischen Auseinandersetzung nicht hingenommen werden kann. Tatsächlich sind die innere Sicherheit und unsere verfassungsmäßige Ordnung nicht ernsthaft gefährdet. Aber wir müssen uns ständig um sie bemühen. Sie ist kein Selbstzweck, sondern soll dem inneren Frieden unserer Gesellschaft dienen. Beide beruhen nicht auf der Fülle immer neuer Strafdrohungen. Ein Volk, das zu viele Gesetze hat, wird zu viele Gesetze brechen.Es ist entscheidend, daß das schon geltende Recht wirksam angewendet wird. Dafür besteht Handlungsbedarf .Wir haben doch schon einen ganzen Lattenzaun zum Teil außerordentlich harter Strafvorschriften beschlossen. Sie müssen angewendet werden, ehe man nach neuen Strafvorschriften ruft.Dazu gehören auch verbesserte polizeiliche Strategien, die verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Polizeien und der Staatsanwaltschaft bei der Beweissicherung, die Fortschreibung des gemeinsamen Programms von Bund und Ländern für die innere Sicherheit,
um Ausrüstung, Ausbildung und Stärke der Polizei von Bund und Ländern zu entwickeln, die Beschleunigung der Strafverfahren und die Prüfung des Versammlungsrechts an Hand der Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.Natürlich halten wir uns skrupulös an die Koalitionsvereinbarung. Wenn sich alle auf die Bundespolitik Einfluß ausübenden Landespolitiker so akribisch an die Koalitionsvereinbarung halten wie der Parteitag in Kiel, dann brauchen wir uns über das imperative Mandat nicht zu unterhalten.
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung beschlossen, den Sinn bestimmter Gesetzgebungsvorhaben zu prüfen. Auf dem Kieler Parteitag haben wir diese Entscheidungen nicht verschoben, sondern die Fragen, deren Prüfung versprochen wurde, nach umfangreichen Anhörungen von Sachverständigen aus der Wissenschaft, der Rechtspflege und der Polizei für uns entschieden, und zwar einmütig und definitiv.Die Polizei muß das Demonstrationsrecht schützen, und wir wollen ihr diese Aufgabe nicht dadurch erschweren, daß wir ihr durch neue gesetzliche Regelungen die Entscheidungsfreiheit nehmen.
Die innere Sicherheit und der innere Frieden unserer Gesellschaft liegen nicht in Strafdrohungen, sondern in der Fähigkeit der Integration, in der Fähigkeit, die Bürger — insbesondere die Jugend — zur Mitarbeit zu gewinnen, in der Fähigkeit, diejenigen zurückzuholen, die sich abgewendet haben. Darum waren die Briefe der Brüder von Braunmühl so wichtig und so außerordentlich eindrucksvoll.
Der Staat muß aktiv zum Abbau von Konflikten und Spannungen in der Gesellschaft beitragen. Dazu gehört nicht nur, seine Gesetze und Entscheidungen zu exekutieren, sondern auch, die Sorgen und Probleme der Minderheiten, auch der politischen Minderheiten, ernst zu nehmen, die ja zu unserer Gesellschaft gehören, auch weiter gehören werden.
Wir sind ganz sicher, daß die in der Koalitionsvereinbarung vorgesehene Kommission zur Untersuchung der Ursachen der Gewalt und zur Entwicklung von Konzepten zu ihrer Vermeidung dazu wichtige Beiträge leisten wird. Sie hätte schon längst ihre Tätigkeit aufnehmen können und müssen, weil sie natürlich weitgehend entwertet wird, wenn alle politischen Entscheidungen bereits getroffen sind, wenn sie zu arbeiten anfängt.Wir wollen in diesem Jahr endlich in der uns vom Verfassungsgericht aufgegebenen Verpflichtung vorankommen, die Privatsphäre der Bürger durch gesetzliche Regeluñgen des Datenschutzes zu sichern. Es geht nicht länger an, daß wir immer neue Dateien feststellen, die eigentlich eine gesetzliche Regelung voraussetzen. Wir haben großes Verständnis für die Rechtsprechung, die allmählich ungeduldig wird, die auch im Sicherheitsbereich Auskunftspflichten eingeführt haben will, die notwendig sind, um das Vertrauen der Bürger in den Staat zu erhalten; denn ohne ein solches Vertrauen können Polizei und Verfassungsschutz auf Dauer keine erfolgreiche Arbeit leisten. Wir müssen hier Rechtssicherheit schaffen.Lassen Sie uns gemeinsam einen neuen Anlauf auch in der Ausländerpolitik unternehmen. Natürlich sind wir kein Einwanderungsland. Aber wir waren für 4 Millionen Menschen ein Einwanderungsland und
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Dr. Hirschmüssen ihnen ein überzeugendes Integrationsangebot machen. Wir freuen uns ja, daß nun endlich die Diskussion um den erleichterten Erwerb der Staatsangehörigkeit in Bewegung gerät. Natürlich muß das Aufenthaltsrecht verfestigt werden. Natürlich müssen wir sie von bürokratischen Kleinlichkeiten befreien. Ich freue mich über die Entscheidung des Landes Baden-Württemberg, die Ehebestandsdauer beim Nachzug von Ehepartnern auf ein Jahr herabzusetzen. Das Bundesland Bayern sollte sich nun allen anderen Bundesländern anschließen.Lassen Sie uns mit dazu beitragen, daß die Menschenrechtskonvention, die Antifolterkonvention ratifiziert werden,
auch wenn jemand auf die Idee kommen könnte, vor der Folter nach Europa oder gar in die Bundesrepublik zu fliehen.Ich begrüße die Entscheidung des Landes Niedersachsen, durch die Abschaffung der Gutscheine die Sozialhilfe für politische Flüchtlinge zu verbessern. Ich hoffe, daß andere Bundesländer sich dem anschließen. Wir sollten doch nicht nur humanitäre Ansprüche stellen, sondern sie im eigenen Haus erfüllen.
Es ist hier etwas über die Sportförderung, über die Leichtathletik gesagt worden. In der Tat, unsere Leichtathleten sind in einem Tief. Aber der Minister läuft doch nicht selber, der Staat läuft nicht selber, sondern es sind Menschen, die einmal besser und einmal schlechter sind, denen man helfen muß, Leistungen zu vollbringen. Wir sollten nicht nur immer diejenigen darstellen, die mal nicht die Erwartungen erfüllt haben. Die Schwimmer waren hervorragend. Die Hockeyspieler waren hervorragend. Die Military-Reiter waren hervorragend. Nun sehen Sie mal die ganze Breite des Sportes an.
— Boris Becker wird auch mal wieder gewinnen, natürlich.
Lassen Sie mich schließlich noch einmal auf die Dienstrechtsreform zurückkommen. Wir wissen alle sehr gut, daß wir unseren Mitarbeitern Loyalität abfordern, aber auch schulden. Darum möchte ich hier in unserem gemeinsamen Interesse fordern, daß wir möglichst bald Klarheit schaffen, welche Weiterentwicklungen wir im Laufe der kommenden Jahre dieser Legislaturperiode ansteuern können
und wo wir an bestimmten Entscheidungen festhalten.Ich möchte bei dieser Gelegenheit unseren Mitarbeitern im öffentlichen Dienst für ihre Arbeit danken.
Die Koalition hat in der Innenpolitik eine Fülle gemeinsamer und für die Erhaltung des Friedens in unserer Gesellschaft wichtiger Aufgaben zu erfüllen. Ich bin sicher, daß wir gemeinsam Erfolg haben werden, wenn wir den Mut und die Bereitschaft haben, unsere gemeinsamen Aufgaben im Sinne christlicher und liberaler Humanität zu erfüllen.
Also, Herr Dr. Hirsch, die Schnellredner dieses Parlaments haben einen neuen Konkurrenten bekommen. Sie haben das drei Minuten vor Ihrer Zeit geschafft. Das muß beim DLV gemeldet werden.
Herr Bernrath ist der nächste Redner.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte aus den wenigen Stichworten, die wir in den beiden Tagen, die wir nun hier über den Haushalt sprechen, zu den Kommunen gehört haben, noch mal das eine oder andere aufgreifen.
— Es gibt Verpflichtungen, Frau Kollegin Nickels.
In diesen Tagen ist eines deutlich geworden: Einer unsoliden, noch lange nicht finanzierten Steuerreform wegen geht es den Arbeitnehmern, den Ländern und ganz besonders den Kommunen an den Kragen. Die Zahlen sind bekannt.
— Es gibt genügend Kronzeugen aus Ihren Reihen, die diese Zahlen ebenso interpretieren wie wir: 5,7 Milliarden DM im Minimum, wahrscheinlicher 10 Milliarden DM an Ausfällen bei den Kommunen bis 1992 und das nach schon eingetretenen erheblichen Ausfällen bei der Gewerbesteuer, Ausschöpfung der eigenen Einnahmequellen der Kommunen durch massive Anhebung der Hebesätze bei der Gewerbesteuer.Eines dürfen wir auch nicht übersehen: Ein radikales Mindern der Investitionen, wie wir es in den letzten drei, vier Jahren bei den Kommunen beobachten mußten, hat — und das ist Ihnen ebenso bekannt wie uns — verheerende Auswirkungen auf die Beschäftigungslage bei mittelständischen Unternehmern, bei Handwerkern und damit auf die Beschäftigungslage in den Kommunen insgesamt.Schließlich haben die Kommunen beim Versuch der Konsolidierung ihrer eigenen Haushalte auch die Minderung der eigenen Personalbestände praktiziert, so daß in dieser Hinsicht auch keine Spielräume mehr zur Verfügung stehen.Vor diesem Hintergrund wirkt es reichlich zynisch, wenn wir aus dem BMF — Herr Voss, Sie waren es, glaube ich — hören, daß die Kommunen ihre Investitionen wieder steigern sollten, ohne daß Sie ihnen sagen, wie sie das finanzieren sollen. Sie erwarten offensichtlich eine Stabilisierung der Konjunktur über die Anhebung der Investitionen bei den Kommunen.
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1652 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
BernrathTatsächlich bedeutet das aber unter den gegenwärtigen Finanzierungsbedingungen nichts anderes, als die Kommunen zu ermuntern, ihre Haushalte ebenso unsolide — nämlich über Darlehen — zu finanzieren, wie der Bundeshaushalt unsolide finanziert wird.Dabei müßten die Kommunen zur Wahrnehmung wichtiger Aufgaben, auch neuer Aufgaben, bei der Finanzverteilung steigende Anteile bekommen. Wie sonst sollen sie den Erwartungen der Industrie, des Gewerbes, der Bürger hinsichtlich einer leistungsfähigen Infrastruktur, hinsichtlich neuer Angebote auch im gesellschaftlich-kulturellen Bereich — dort haben wir erhebliche Veränderungen im Verhalten der Bürger — oder beispielsweise hinsichtlich des Umweltschutzes nachkommen können? Ich möchte Ihnen nur zwei Beispiele aufzeigen, die verdeutlichen, welchen Problemen wir in den Kommunen gegenüberstehen.Erstes Beispiel: Die Zeitbombe Altlasten tickt. Darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen. Aber außer großen Worten, insbesondere auch beim Bund, erkennen die Kommunen keine Bereitschaft bei Bund und Ländern, sich an der Finanzierung der Erfassung und Beseitigung von Altlasten zu beteiligen. Schon jetzt nimmt die Zahl der unausgeglichenen kommunalen Haushalte bedrohlich zu. Damit werden auch in Zukunft für diese Aufgabe keine Mittel zur Verfügung stehen. Für die Kommunen ist das besonders deshalb von Nachteil, weil durch die erkannten Altlasten die Bewegungsspielräume in der städtischen Entwicklungsplanung, in der städtebaulichen Entwicklung erheblich eingeschränkt werden. Gerade in dieser Hinsicht müßten Akzente gesetzt werden.Ein weiteres Beispiel, mit dem ich gerade heute zu tun hatte, ist die Abwasserbeseitigung. Nicht zulet: über die Rechtsgrundlage Wasserhaushaltsgesetz — also eines Bundesgesetzes — werden die Kommunen in den kommenden Jahren zu riesigen Investitionen in der Abwasserbeseitigung gezwungen. Stetig steigende technische Anforderungen werden nicht von entsprechenden Kostenbeteiligungen der Länder begleitet. Diese berufen sich auf das Austrocknen ihrer Haushalte durch den Bund. Wir können bei aller Fairneß, die wir hier walten lassen müssen — auch Inanspruchnahme der Länder, was die Verantwortung angeht; darüber darf es keinen Zweifel geben — , dennoch nicht umhin, ihre Klagen als berechtigt anzuerkennen.Allein im abgelaufenen Jahr sind bei der Abwasserbeseitigung die Deponiekosten um 300 % gestiegen. Klärschlamm ist kaum noch unterzubringen, schon gar nicht zu diesen Kosten. Gleichzeitig wird den Kommunen lapidar und rigoros mitgeteilt, sie hätten im Rahmen ihrer Abwasserbeseitigungspflicht diesen gesetzlichen Aufgaben gefälligst nachzukommen, die Abwässer also nach dem Stand der Technik zu klären, auch wenn Mittel dafür nicht zur Verfügung stehen.Die Folge, die sich daraus ergeben wird, wird insbesondere auch — darum muß uns das heute interessieren — ein sprunghaftes Ansteigen der Abwassergebühren sein. Damit wird das, was dem einen oder anderen Einkommensbezieher über die Steuerentlastung möglicherweise zufließen wird, spätestens an dieser Stelle wieder kassiert werden.
— Sie wissen besser als ich, Herr Blens, wie in Köln die Kosten für die Abwasserbeseitigung steigen und daß wir die Gebühren massiv erhöhen müssen und nicht mehr vorsichtig, wie wir das in den letzten Jahren getan haben.
Und dennoch können wir den gesetzlichen Aufgaben nicht nachkommen. Sie wissen, daß die Staatsanwälte in den Kommunen tätig sind, um festzustellen, wer die Verantwortung für diese Entwicklung trägt.Die Sozialhilfekosten — sie sind in diesen Tagen bemüht worden — werden durch die Inanspruchnahme der Bürger auch über Gebühren durch die Kommunen weiter sprunghaft steigen. Auch in dieser Hinsicht wird zunehmende Arbeitslosigkeit bei sinkenden Einkommen unausweichlich sein. Die Kommunen werden ihrerseits Bewegungsspielraum verlieren.
Von Ihnen, Herr Hirsch, ist sicherlich wenig zu erwarten, was die Kommunen angeht. Sie wollen die Gewerbesteuer beseitigen und sind nicht in der Lage, uns zu erklären, wie Sie die Kommunen für diese Ausfälle entschädigen wollen.
— Bitte schön.
Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege Bernrath, daß wir immer beschlossen haben, daß die Abschaffung der Gewerbesteuer nur dann in Betracht kommt, wenn ein gleichwertiges Steuersystem eingeführt wird, das das Hebesatzrecht der Gemeinden wahrt, und ist Ihnen bekannt, daß wir sehr detaillierte Modelle dazu vorgelegt haben, die wir auch gerechnet haben, die diese Voraussetzung erfüllen?
Herr Hirsch, ich kenne Ihre Modelle. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, daß Sie nicht das Gewerbe, nicht die Industrie in den Kommunen belasten werden, sondern — Stichwort: Bürgersteuer — in erster Linie die Einkommensbezieher,
weil Sie zur Entlastung des Gewerbes umschichten wollen und dann über die Bürgersteuer natürlich einen Hebesatz vermitteln wollen. Uns geht es aber darum, daß alle, die an der Infrastruktur und damit am Leistungsangebot der Kommunen interessiert sind, die daraus schöpfen, auch an seiner Finanzierung beteiligt werden.
Darf ich noch eine Frage stellen?
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Ich wollte gerade vorschlagen, daß ich mich wieder ein bißchen einschalte.
Ich habe nichts dagegen.
Also, dann eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch.
Ist es nicht klar, Herr Kollege Bernrath, daß das Unternehmen, das seine Gewerbesteuer bezahlt, sie nicht bei sich behält, sondern sie weitergibt, und der Bürger damit belastet wird, wenn auch in einer sehr indirekten und ungerechten Weise?
Es ist eben nicht so, Herr Hirsch. Die Gewerbesteuer wird wie Betriebsausgaben behandelt. Da findet ohnehin schon eine Entlastung der Betriebe statt.
Eine unmittelbare Weitergabe über den Preis ist unbedeutend.
Ich bin überzeugt, daß wir nicht daran vorbeikommen, bei der Belastung der Industrie zu bleiben. Ob wir das über die eine oder andere Steuerform mit Hebesatz machen, darüber können wir uns unterhalten. Aber es muß bei einem gewerbesteuerähnlichen Instrumentarium für die Kommunen bleiben.
Im übrigen hat Ihnen ja Herr Gerster hier Nachhilfe angeboten. Ich will das Stichwort von Frau Vollmer aufgreifen, damit ich das endlich loswerde. Sie hätten in der Tat zusammen mit Herrn Gerster auch in dieser Hinsicht die gemeinsame Nachtfahrt in der chinesischen Staatsbahn 1. Klasse nutzen sollen, um sich ein wenig näherzukommen, statt sich hier bescheinigen zu lassen, daß Sie Nachhilfe bräuchten.
— Herr Blens, der Oberbürgermeister Rommel gehört ja Ihrer Partei an.
Wenn Sie nun mir oder uns nicht glauben wollen, dann hören Sie doch, was er in diesen Tagen sagt: Wenn die Kommunen aus diesem Dilemma überhaupt herausgebracht werden sollen, muß das Steuerentlastungspaket im Minimum um 10 bis 15 Milliarden DM geschmälert werden,
und es muß versucht werden, die Lasten gerechter auf alle Beteiligten, also Bund, Länder und Gemeinden, zu verteilen.
Ich nehme das gerne auf. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß ich in dieser Hinsicht auf die in den letzten Tagen nochmals bekräftigte Garantie des Bundeskanzlers vertraue, der erklärt hat, daß es bei einer Gewerbesteuer oder — wie Sie, Herr Hirsch, sagen — einer gewerbesteuerähnlichen Steuer für die Kommunen bleiben soll oder eine andere Alternative gesucht werden muß, die zu gleichen Erträgen führt. Das ist etwas, was unumgänglich sein wird, wenn wir mit den Problemen der nächsten Jahre fertig werden wollen.
Fair wäre es allerdings, wir würden uns bald gemeinsam — Bund, Länder, Kommunen, Bundestag, Bundesrat — an einen Tisch setzen und prüfen, in welchem Umfang wir die Kommunen entlasten müssen. Ein Verständigungsgespräch wäre hier sicherlich der beste Weg. Die kommunalen Spitzenverbände haben in diesen Tagen ausdrücklich erklärt, daß sie einen Verzicht auf eine überproportionale Inanspruchnahme mit diesen hier angedeuteten katastrophalen Wirkungen fordern und in dieser Hinsicht den Bund auch nicht aus der Verantwortung entlassen können. Sie müssen auch unter Hinweis auf die Verfassung ihre Selbstverwaltungsgarantie finanziell untermauert bekommen. Sie dürfen nicht über die zu erwartenden Einschränkungen in der Finanzierung ihrer Haushalte unfähig werden, ihren Verpflichtungen gegenüber den Bürgern nachzukommen.
Danke schön.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushaltsplan des Bundesministers der Justiz zeichnet sich wieder durch ein besonderes Maß disziplinierter Sparsamkeit aus. Wenn dennoch der Anteil am Gesamthaushalt von 1/700 auf 1/600 gegenüber diesem Jahr steigen soll, dann liegt das daran, daß wir nunmehr Maßnahmen durchführen, die dringend geboten sind. Endlich können jetzt die notwendigen Erweiterungsbauten beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe in Angriff genommen werden.Einen großen Teil der zusätzlichen Mittel benötigen wir, um beim Deutschen Patentamt eine Datenbank aufzubauen. Mit ihrer Hilfe wird das technische Wissen unserer Zeit für das Amt selbst und die Erfinder besser erschlossen. Das ist ein attraktives Angebot gerade für die mittelständische Wirtschaft und für die Einzelerfinder, die 60 bzw. 20 % aller Patentanmeldungen vornehmen.Meine Damen und Herren, die Debatte über den ersten Haushaltsplan, den die Bundesregierung in einer neuen Legislaturperiode einbringt, bietet traditionell eine gute Gelegenheit, die Grundzüge der Politik für die kommenden Jahre etwas zu akzentuieren. Wenn ich dabei heute nicht über die Themen der inneren Sicherheit spreche, dann mag dies hier und da überraschen. Ungeachtet der Wichtigkeit dieser Fragen geht es mir aber heute darum, den Blick auf die anderen großen rechtspolitischen Vorhaben zu lenken, denen wir uns zu stellen haben.Im Wandel der gesellschaftlichen und technischen Bedingungen muß gerade die Rechtspolitik auch die Rechtsordnung als Einheit bewahren. Hierzu einige mir wichtige Beispiele:Gerade in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit einem wachsenden Anteil älterer Mitbürger,
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1654 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Bundesminister Engelhardmit einer an sich erfreulich zunehmenden Lebenserwartung wird sich auch die Zahl jener Menschen erhöhen, die zum Ende ihrer Erdentage hin ihre Geschicke nicht mehr selbst allein bestimmen können. Diesen Menschen müssen wir Schutz und Fürsorge angedeihen lassen. Unsere Zuwendung für diese Bürger darf sich nicht in der Überwachung und Regelung ihrer vermögensrechtlichen Angelegenheiten erschöpfen. Die Sorge um die persönliche Situation der Betroffenen muß in den Mittelpunkt aller Bemühungen gestellt werden.
Um nicht ein Volk von Entmündigten zu werden, müssen wir in weit stärkerem Maße als bisher die Entfaltung der Persönlichkeit gerade älterer Menschen ermöglichen. Unser Motto lautet: Schutz für diese Mitbürger ja, Entrechtung nein. Ziel jeder Reform muß Freiheit und Stärkung des Selbstbestimmungsrechts sein.
Ich betreibe mit Nachdruck — dazu sind beträchtliche Vorarbeiten zu leisten — diese Reform des Entmündigungsrechts, des Vormundschafts- und des Pflegschaftsrechts, und ich hoffe, noch in diesem Jahr einen Entwurf vorlegen zu können.Wir werden den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankern und damit seine Bedeutung für eine lebenswerte Zukunft unterstreichen.
Damit allein ist es nicht getan. Eine interministerielle Arbeitsgruppe aus Vertretern des Justiz- und des Umweltministeriums wird noch dieses Jahr Verbesserungen beim Umwelthaftungs- und beim Umweltstrafrecht in Vorschlag bringen.Zum weiteren: Ein Hauptschwerpunkt dieser Legislaturperiode muß die Insolvenzrechtsreform sein. Die Zeit drängt. Noch dieses Jahr werde ich einen Entwurf vorlegen. Dann ist schließlich der Rechtsausschuß gefordert, diese äußerst umfangreiche und auch schwierige Materie zu bewältigen. Ich bin mir ganz sicher, daß der Ausschuß und sein Vorsitzender in der bereits etwa beim Bilanzrichtliniengesetz bewährten Weise diese Aufgabe sehr wirkungsvoll lösen wird.Unser Recht muß auf die Herausforderungen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts Antwort geben. Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt müssen in den Dienst des Menschen gestellt werden. Das bedeutet, die Würde des Menschen und die Achtung vor dem Leben dürfen keinen Schaden nehmen. Im Bereich der Humangenetik und der sogenannten Reproduktionsmedizin — ich meine, schon dieser letzte Begriff verbreitet eher Kälte als ein Gefühl von Menschlichkeit —
sind Entwicklungen möglich, denen rechtzeitig Einhalt geboten werden muß. Menschenzüchtung darf es nicht geben.
Bereits im Mai des letzten Jahres habe ich den Diskussionsentwurf eines Embryonenschutzgesetzes vorgelegt. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Fortpflanzungsmedizin wird in Kürze ihre Beratungen über die gesamte Problematik mit einem entsprechenden Bericht abschließen. Auf der Grundlage dieses Berichts werde ich sodann den endgültigen Entwurf eines Embryonenschutzgesetzes vorlegen.Die Methoden künstlicher Befruchtung dürfen nicht zur Einrichtung von menschenproduzierenden Maschinen führen. Miet-, Leih- oder Pachtmütter — wie immer man dies dann benennen mag — unterscheiden sich von solchen Produktionsmaschinen nur wenig, wenn das diesen Frauen zu zahlende Entgelt ausschlaggebendes Motiv für das Austragen dieser Kinder ist. Der Gesetzgeber muß klarstellen, daß nicht alles, was medizinisch machbar ist, auch verantwortbar und damit zulässig ist.Auch zivilrechtlich muß der Gesetzgeber in dieser Legislaturperiode eine Antwort etwa auf eine Frage geben, die durch die Jahrtausende als Frage nicht gestellt wurde, weil die Antwort klar war: Wer ist die Mutter? Heute müssen wir fragen: Ist es die genetische oder ist es die biologische Mutter? Wir haben uns in den Vorüberlegungen — wie ich meine — mit guten Gründen für die gebärende Frau, also die biologische Mutter entschieden.Vor allem um eine gesetzliche Klarstellung geht es auch bei der von mir beabsichtigten Änderung des Sexualstrafrechts. Schon nach geltendem Recht ist die Vergewaltigung einer Ehefrau nicht straflos. Sie ist als Nötigung und eventuell auch als Körperverletzung strafbar. Aber dies ist 41 % der Befragten nicht bekannt, wie eine von mir in Auftrag gegebene Umfrage ausgewiesen hat. Eine Einbeziehung der Ehefrau in die Vorschriften des Strafrechts expressis verbis wird diesem Irrtum entgegenwirken und damit Ehefrauen wirkungsvoller schützen. Ich meine allerdings, im Intimbereich der Ehe sollte niemals gegen den ausdrücklichen Willen der betroffenen Frau ein Strafverfahren stattfinden können.Um eine Neuregelung des Staatshaftungsrechts habe ich mich seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1982 intensiv bemüht. Für mich ist es nicht hinnehmbar, daß Bürger nur unzureichend geschützt sind oder sogar leer ausgehen, wenn sie durch eine rechtswidrige Maßnahme des Staates oder eines seiner Organe einen Schaden erlitten haben. Ein gerechteres, bürgerfreundlicheres, bundeseinheitliches Staatshaftungsrecht droht immer noch an der Finanzierungsfrage zu scheitern. Das war auch wiederum Gegenstand der Erörterung bei der letzten Justizministerkonferenz. Dabei geht es jährlich um ganze 20 Millionen DM Mehrkosten für Bund, Länder und alle Gemeinden gemeinsam, um den Bürger besser zu sichern. Wir werden in unseren Bemühungen hier nicht nachlassen.
Zum weiteren: Das Jugendgerichtsgesetz und der Jugendstrafvollzug müssen noch stärker am Erziehungsgedanken orientiert werden. Bereits 1983 habe ich einen Referentenentwurf zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vorgelegt, der wegen finanziel-
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Bundesminister Engelhardler, hauptsächlich bei den Ländern liegender Probleme nicht eingebracht werden konnte. Ich appelliere nochmals an alle, die an der Reform des Jugendgerichtsgesetzes und der Schaffung eines Jugendstrafvollzugsgesetzes mitwirken müssen: Bedenken Sie, daß Investitionen heute der beste Schutz der Gesellschaft von morgen sind.Ich spreche noch das Dauerproblem der Überlastung der Gerichte an. Wir werden das, was uns zu tun aufgegeben ist, erfüllen. Ich setze aber hinzu, daß es nicht damit getan sein kann, ständig Änderungen gerichtlicher Verfahrungsordnungen vorzunehmen, also von einer Gesetzesänderung gleichsam zur nächsten zu hasten.
Auch der Ruf „Stellt doch mehr Richter ein", der sich übrigens vornehmlich jeweils an die Länder richtet, kann das Problem allein nicht lösen.Effektiverer gerichtlicher Rechtsschutz: Dieses in unserem Rechtsstaat so überaus wichtige Instrument des Bürgers zur Verteidigung und Durchsetzung seiner Rechte verlangt nach etwas grundsätzlicheren Lösungen. Ich bin daher dabei, eine Strukturanalyse der Justiz in Gang zu setzen und in Angriff zu nehmen. Wir wollen herausfinden, wie Kapazitätsreserven in der Justiz aufgefunden und mobilisiert werden können, wie wir der Justiz mit den vorhandenen Mitteln eine modernere und leistungsfähigere Struktur geben können. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Die gegenwärtigen Mängel unseres Strafverfahrens lassen sich durch Teilreformen hier und da nicht mehr befriedigend anpacken. Ich werde deshalb — und dies stand bereits vor nunmehr 22 Jahren im politischen Raum in der Diskussion — eine große Strafverfahrenskommission einberufen, die Vorschläge für eine Gesamtkonzeption des künftigen Strafverfahrens erarbeiten soll. Meine Damen und Herren, meinem Verständnis von verantwortlicher Politik entsprechen gründlich vorbereitete, durchdachte und vor allem an den Folgen orientierte Gesetzentwürfe, bei denen schon im Vorfeld das Pro und Kontra sorgfältig abgewogen worden ist. Darum wollen wir uns auch in dieser Legislaturperiode nachdrücklich bemühen.
Das Wort hat der Abgeordnete de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Überschrift des Leitartikels der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" am Tag der Eröffnung der Haushaltsdebatte lautete: „Keine Liebe für den Rechtsstaat". Fernando Wassner bescheinigt dort uns Deutschen aus im wesentlichen zwei Gründen einen Mangel an Rechtskultur. Mag man nun Wassners Argumentation folgen oder nicht, über zwei Feststellungen, meine ich, gibt es keinen Streit:Erstens. Wir sind wahrscheinlich der Staat mit der umfassendsten und wohl auch sichersten Rechtsgarantie. Es ist ja schon beinahe ein geflügeltes Wort, wenn ein Bedrängter ärgerlich sagt: „Und wenn ich bis nach Karlsruhe gehen muß".Zweitens. Mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts genießen jedoch andererseits Rechtswesen und vor allem die Rechtspolitik bei den Umfragen keineswegs das größte Vertrauen, und das, obwohl sich Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte tagtäglich redlich abmühen, Überstunden Woche für Woche als selbstverständlich hinnehmen, ja auch ihren Kopf für den Rechtsstaat hinzuhalten bereit sind, wofür wir ihnen den erforderlichen Respekt zu zollen haben.
Sicherlich liegt eine Ursache in unserer geschichtlichen Entwicklung. Bei uns haben die Bürger die Magna Charta und das Habeas Corpus der Obrigkeit nicht in einem schmerzlichen Prozeß wie in Großbritannien abgezwungen oder abgerungen und damit einen Bestandteil der Demokratie geschaffen. Bei uns gab es die rechtslastige politische Rechtsprechung der Weimarer Zeit und die Gleichschaltung auch der Justiz unter Hitler. Gustav Radbruch hat das von Anfang an gesehen. Thomas Dehler hat diesen Umstand temperamentvoll kritisiert, und Max Güde hat diese Vergangenheit als Motivation für seine Bundestagstätigkeit angesehen.Die Konsequenz für uns als Rechtspolitiker und Gesetzgeber kann nur sein, Bedacht zu nehmen, daß sich Recht und Gesetz in Einklang befinden, daß Rechts- und Justizpolitik nicht zur kleinen Münze im tagtäglichen Parteienstreit werden und der Rechtsgewährung ein gebührender Anteil gewährt wird. Die Zeit der großen Justizreformen von Gustav Heinemann über Gerhard Jahn und Hans-Jochen Vogel bis hin zu Jürgen Schmude steht dafür. Natürlich kann nicht Reform auf Reform folgen. Recht muß sich auch setzen. Aber die Defizite der Regierung Kohl, Genscher, Strauß in der Rechtspolitik sind einfach unübersehbar.
Da liegen seit nunmehr geraumer Zeit die beiden Berichte der Insolvenzrechtskommission zur Reform des Konkursrechts vor. Da bewegen sich seit Jahren die Zahlen der in Konkurs gegangenen Betriebe in einsamer Höhe, die Konkursquoten für die Gläubiger hingegen — meist Handwerker und Arbeitnehmer — in einsamer Tiefe. Gewinner sind fast nur die Banken mit Hilfe der Sicherung durch die sogenannten Mobiliarkredite. Ein Milliardenvermögen wird verschleudert. Tausende von Arbeitsplätzen gehen verloren.
— Danke schön, Herr Stark.Konkursrichter und Konkursverwalter versuchen, am Geist eines jahrhundertealten Gesetzes vorbei zu retten, was zu retten ist, und noch immer — Herr Minister, das muß ich Ihnen vorhalten — ist nicht abzusehen, was die Koalition wirklich will und wann wir ein neues Konkursrecht haben werden. Am Rechtsausschuß wird es — jedenfalls was uns angeht — wahrscheinlich nicht liegen.
Sie haben sich zwar in der letzen Legislaturperiode vor dem Sparkassenprüfertag geäußert und auf eine Frage noch einmal im Rechtsausschuß des Deutschen
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1656 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. de WithBundestages am 6. Mai, heute nicht inhaltlich. Danach ist eher anzunehmen, daß die FDP zu den Banken übergelaufen ist und die Vorschläge der neutralen Expertenkommission links liegen lassen wird. Von Ausgewogenheit zwischen sozialer Verpflichtung und Sicherung des Kreditwesens kann dann nicht mehr die Rede sein.Wir Sozialdemokraten haben demgegenüber unseren Standpunkt zum Inhalt des neuen Insolvenzrechts — das betone ich — unter Einbeziehung der Überschuldung von Arbeitnehmern und Verbrauchern längst detailliert dargelegt. Wer unschuldig — weil arbeitslos — seine Raten nicht bezahlen kann und sich so nach mehreren Umschuldungen lebenslang im sogenannten modernen Schuldturm befindet, ist ebenso schutzwürdig wie der in Konkurs geratene Betrieb.
Was soll der Normalbürger denken, der seine Forderung dahinschwinden sieht, aber feststellen muß, daß die Banken — nennen wir es so — abräumen und deshalb meist zu 100 % gesichert sind?Am 30. August 1983, also vor fast genau vier Jahren, hatte sich Kemal Altun, ein türkischer Asylbewerber, in Berlin aus dem Fenster gestürzt. Er glaubte, daß er trotz Asylgewährung ausgeliefert werden würde, denn damals wie heute können in derselben Sache von verschiedenen Einrichtungen des Staates verschiedene Entscheidungen ergehen. Wird das Asylrecht gewährt, kann gleichzeitig eine Gerichtsentscheidung ergehen, die auf Ersuchen des Heimatstaates die Auslieferung an diesen erlaubt. Wir Sozialdemokraten haben deshalb einen Gesetzentwurf zur Harmonisierung des Asylverfahrens mit dem Auslieferungsverfahren vorgelegt und nach ständigem Drängen im Rechtsausschuß von Ihnen, Herr Justizminister, die Zusage erhalten, einer solchen Harmonisierung werde zugestimmt. Eine Verabschiedung dieses Entwurfes aber hat die Koalition bis heute ebenso verzögert, wie sie es versäumt hat, einen eigenen entsprechenden Entwurf überhaupt nur einzubringen.Noch immer ist es deshalb möglich, daß die skizzierten unterschiedlichen Entscheidungen getroffen werden. Natürlich will ich nicht unterstellen, daß nach dem so tragischen Freitod des Kemal Altun die Auslieferung erfolgt, wenn das Recht auf Asyl gewährt worden ist; aber was soll eigentlich der Betroffene denken, der unsere Rechtsprechung nicht verfolgt, wenn der Staat auf der einen Seite Asyl gewährt, auf der anderen Seite erklärt, daß er wohl ausgeliefert werden kann? Hier klaffen Recht, Gesetz und Rechtsanwendung deutlich auseinander.
Hier liegt eine Quelle des Unbehagens, von der ich eingangs sprach. Uneinigkeit und Unfähigkeit — Unwilligkeit will ich gar nicht unterstellen — haben die Regierungskoalition bis heute davon abgehalten, diesen offenkundigen, in der Tat — das ist nicht zu hoch gegriffen — das Leben berührenden Mißstand zu beseitigen.Die Sozialdemokraten hatten durch die Drohung mit einem Volksentscheid erzwungen, daß das Staatsziel Umweltschutz in der bayerischen Verfassung verankert wurde. Wir haben dementsprechend einen Gesetzesantrag zur Verankerung dieses Staatsziels auch im Grundgesetz eingebracht, nachdem sich die Regelung — so ist es — in Bayern bewährt hatte. Unsere Vorlage liegt ausformuliert vor. Ein Anhörungsverfahren hatten wir im Bundesrat. Aber noch immer ist sich die Koalition nicht im klaren — Sie haben kein Wort dazu gesagt, Herr Minister — , wo sie das Staatsziel Umweltschutz im Grundgesetz ansiedeln und vor allem wie sie es ausformulieren will. Die Regierungskoalition überlegt offenbar noch immer, wie sie das bereits faktisch bestehende Staatsziel Umweltschutz möglichst — lassen Sie mich das so sagen — klein und bescheiden halten kann. Eine Regelung zweiter Klasse steht zu erwarten, obwohl die Verabschiedung des SPD-Vorschlages längst möglich gewesen wäre.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen auch hier auseinander.
Sie hätten Gelegenheit gehabt, dazu im Rechtsausschuß ja zu sagen, und wir haben oft darüber debattiert.Die Große Anfrage der SPD zur Bekämpfung der Umweltkriminalität vom 25. April 1987 ist noch immer nicht beantwortet. Ende des Jahres soll es soweit sein, läßt die Bundesregierung verlauten, und Sie haben hier erneut eine Ankündigung gebracht, Herr Minister. Wir hatten immerhin den gigantischen Umweltskandal bei Sandoz in Basel und spüren die Folgen noch heute.
Aber die Koalition kann sich offenbar nicht rechtzeitig über die Weiterentwicklung der Rechtsträgerverantwortung oder z. B. die Einführung eines weiteren Straftatbestandes zum Schutz des Bodens einigen. Vertrauen kann der Bürger in seinen Staat nur fassen, wenn er den Eindruck gewinnt, daß die Verfolgung von Umweltsündern nicht nur in Sonntagsreden gefordert, sondern auch tatsächlich in gebotenem Umfang ermöglicht wird. Dazu ist es erforderlich, daß der Staat rasch reagiert.Nicht anders steht es mit der zur selben Zeit eingebrachten Großen Anfrage der SPD zum Datenschutz im Strafverfahren. Bisher hat es nur zu einer unrühmlichen Regelung, der sogenannten Schleppnetzfahndung gereicht, obwohl vom Bundesverfassungsgericht ein umfassender Gesetzesauftrag vorliegt. Daß sich die Minister Zimmermann und Engelhard schwertun, gemeinsam den Karren zu ziehen, ist — lassen Sie mich das im Jargon sagen — schon beinahe gerichtsnotorisch. Daß das informationelle Selbstbestimmungsrecht zur Bewahrung von Freiheit, Datenschutz und Rechtsstaatlichkeit so nötig ist wie der Schutz der klassischen Bürgerrechte, wissen beide und wir alle. Und daß personenbezogene Sammlun-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1657
Dr. de Withgen solcher Daten ohne die gebotene gesetzliche Regelung nur „für eine gewisse Übergangszeit hingenommen werden" dürfen, müssen Ihnen nach der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juli 1985, wohlgemerkt 1985 — beide Minister sind in Bayern zu Hause — , die Beamten der Ministerien längst erläutert haben. Wie lange muß diese Übergangszeit eigentlich noch ausgedehnt werden, ist der Bundeskanzler im Kern zu fragen, wenn seine Minister nicht können, nicht wollen oder nicht mögen.Der Bürger wird auf die Dauer nur dann bereit sein— und hier stimme ich mit Herrn Hirsch überein —, Staatsanwaltschaft und Polizei rückhaltlos zu informieren, wenn er weiß, daß der Schutz seiner persönlichen Daten respektiert wird, weil ein Gesetz das befiehlt. Schon der alte Lafayette wußte, daß das geschriebene Recht, das Gesetz, das Recht des kleinen Mannes darstellt. Wie soll der Bürger dem Staat trauen, wenn er von „rechtsfreien Räumen" weiß, die geschlossen werden sollten, geschlossen werden könnten, aber bisher nicht geschlossen worden sind?Nein, die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß diese Koalititon in der Rechtspolitik bockt und stockt.
— Sie können das nachher genüßlich nachlesen.FDP und CDU konnten sich niemals auf einen umfänglichen gemeinsamen Nenner stützen, und sie bewegen sich noch immer weiter auseinander. Das kennen wir
— hören Sie gut zu! — von dem ewigen Hin und Her im Bereich der Wehrstrafgerichtsbarkeit. Die Zeit ist reif, die Planspiele zu beenden und einer besonderen Wehrstrafgerichtsbarkeit endlich eine Absage zu erteilen.Die Zerrissenheit der Koalition ist für jedermann eine absolute Realität bei den ewigen Streitereien zum Demonstrationsstrafrecht.
Herr Minister Engelhard hat das geflissentlich ausgelassen. Hier wollen CDU/CSU — vor allem die CSU — die Strafbarkeit der Vermummung, ja die Wiedereinführung des unseligen Landfriedensbruch-Paragraphen obrigkeitsstaatlicher Prägung.
Dabei kann die Bundesregierung keinerlei Material liefern, das die frühere und offenbar beabsichtigte weitere Verschärfung rechtfertigen würden.
Die FDP — jetzt komme ich zur FDP — weiß, daß solche Strafvorschriften nur auf dem Papier stünden,in der Praxis gegen Gewalttäter nichts brächten und allenfalls die Rechtstreuen abschrecken würde.
Männer wie Jürgen Baumann, der frühere Justizsenator von Berlin, stehen dagegen. Wie stark — das ist zu fragen — ist eigentlich noch der liberale Kern der FDP? Die Landesvorsitzenden der FDP von Bayern und Baden-Württemberg, Brunner und Döring, wollten der Richtung Zimmermann, Dregger und Strauß folgen.
— Sie natürlich auch. — Der Generalsekretär, Herr Kollege Haussmann — er sitzt jetzt nicht hier — , lag auf genau der gleichen Linie. Und das schon als Vermummungsparteitag apostrophierte Treffen der FDP in Kiel konnte nach einer — wie man lesen kann — sechs- oder gar neunstündigen Dauerverhandlung im Vorstand mit Hilfe eines Formelkompromisses gerade noch aus dem schlingernden Fahrwasser gebracht werden. Die Formel, wonach „nach jetziger Sachlage" — so wörtlich — „die Gründe gegen eine Änderung der geltenden Rechtslage " überwiegen, läßt deshalb die Frage offen, wann oder unter welchen Umständen die FDP nicht doch noch umfällt und über das Stöckchen springt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sie wird nicht auf meine Redezeit angerechnet?
— Recht haben Sie! Vizepräsident Westphal: Bitte.
Herr Kollege de With, sind Sie wirklich nicht darüber informiert, wie lange die Beratungen auf dem Parteitag dauerten und sind Sie nicht darüber informiert, daß die FDP auch schon zu Zeiten anderer Koalitionen ernsthaft mit dem Partner um beste Sachlösungen gerungen hat, und zwar immer zum Vorteil der Koalititon?
Ich weiß nur dreierlei: a) daß Sie letztlich immer etwas nachgeben, b) daß der Vorstand— ich habe vom Vorstand gesprochen — sechs bis neun Stunden verhandelt hat — das ist eine lange Zeit mit Rücksicht auf den Wahlkampf in Schleswig-Holstein — und c), wie windelweich die Erklärung ist, aber niemand weiß, was letztlich doch verhandelt und verabschiedet wird.
— Das kann man sagen.Hat die FDP vor noch nicht allzu langer Zeit die Ausdehnung der Strafbarkeit auch auf die Vergewaltigung in der Ehe zurückgewiesen — Sie haben heute unterlassen, darauf hinzuweisen, Herr Minister — , so nehmen wir gern zur Kenntnis, daß sie nunmehr — wir
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1658 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. de Withwissen es — , unmittelbar vor den Landtagswahlen in Bremen und Schleswig-Holstein, ebenfalls für die Ausdehnung der Strafbarkeit auf die Vergewaltigung in der Ehe ist. Aber hier steht zu befürchten, daß es zu einer Regelung zweiter Klasse kommt,
da — und das haben Sie indirekt eingeräumt — Sie ja dafür eintreten, daß dieses Delikt zum Antragsdelikt wird. Schon jetzt kann sich jeder ausmalen, welcher Druck auf vergewaltigte Ehefrauen dadurch ausgelöst würde. Ich kann nur sagen: Die Frauen sollten sich dafür bedanken. Wenn wir schon eine Lösung anstreben, sollte es, meine ich, eine richtige und keine Kompromißlösung sein.
Seit der Wahl zum Bundestag, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist mehr als ein halbes Jahr verflossen, und noch immer wissen wir nicht wirklich genau, wie es um das Jugendgerichtsgesetz steht.
Ich höre, ein Referentenentwurf sei in der Mache, aber wie sieht er inhaltlich aus?Und noch immer wissen wir nichts über die Novellierung des Haftrechts. Es ist nun einmal so, daß, wiewohl sich Richter und Staatsanwälte bemühen, noch immer zuviel verhaftet wird. Ich kann nur hoffen, daß wir noch in dieser Legislaturperiode zu einer vernünftigen, gemeinsam getragenen Novellierung kommen.Seit unserer Großen Anfrage zur Geschäftsbelastung unserer Gerichte, die breiten Widerhall gefunden hatte, hat sich im Kern nicht viel geändert. Die Verweildauer der Verfahren beim Bundesfinanzhof in München treibt neuen Höhen zu — Tiefen für den Rechtssuchenden.
Natürlich wurde — mit unserer Hilfe — die Zahl der Planstellen dort vermehrt. Aber es ist nun endlich an der Zeit — und hier stimme ich Ihnen zu — , daß hier mutige neue Schritte getan werden. Nur, die müßten der Öffentlichkeit bald vorgestellt werden. Denn sonst ist nicht abzusehen, wie wir bei steigender Flut der Verfahren in dieser Legislaturperiode noch zu einer vernünftigen Regelung kommen können. Geschieht dies in absehbarer Zeit nicht — und das sage ich ganz leise — , bleibt zu erwarten, daß die Bundesrepublik Deutschland auf Europaebene in Straßburg nicht nur hier und da wegen Verweigerung der Rechtsgewährung durch allzulange Verfahrensdauer verurteilt werden wird.Bei all der erforderlichen Kritik: Wir werden alle Maßnahmen unterstützen, die geeignet sind, überalterte Gesetze, z. B. das Pflegschafts- und Entmündigungsrecht, wirklich zu erneuern und die Rechtsgewährung zu verbessern. Gesetzgeberischer Kraftmeierei werden wir uns jedoch ebenso widersetzen wie gesetzgeberischen Kraftakten, die — wie in der letzten Legislaturperiode geschehen — Koalitionskompromisse auf Kosten der Freiheit unserer Bürger unausgegoren festschreiben wollen.Und noch — das nehmen Sie bitte nicht übel, Herr Minister Engelhard — ein sehr persönliches Wort in dieser ersten allgemeinen Justizdebatte dieser Legislaturperiode zu einem Vorgang, der das Herz unserer Strafprozeßordnung getroffen hat, einem Vorgang, der genügend bekannt ist, aber unter diesem Gesichtspunkt bisher noch nicht aufgearbeitet worden ist: Franz Josef Strauß hat am 11. August auf eine Frage von Peter Hopen im ZDF zum Streit über die Aufnahme der 14 Chilenen u. a. gesagt — und man muß das Zitat in seiner Gänze kennen — :
Sicherlich sind sie unfein behandelt, sind Geständnisse mit Gewalt erpreßt worden, das heißt noch lange nicht, daß die Geständnisse falsch sind, nur die Methoden sind falsch, mit denen sie erpreßt worden sind.
in einem Maß relativiert, das ebenso schaudern läßt wie die Verwendung des Wortes „unfein".
Unter Thomas Dehler als Bundesminister der Justiz war jener § 136 a der Strafprozeßordnung als Ausfluß des Grundrechts auf Achtung der Menschenwürde nach den Erfahrungen des Dritten Reiches 1950 auf breiter Grundlage in die Strafprozeßordnung hineingekommen. Ich hätte mir sehr gewünscht, Herr Justizminister, daß Sie als Hüter der Strafprozeßordnung und Nachfolger von Thomas Dehler hier einmal deutliche Worte nach dessen Art gefunden hätten, auch gegenüber einem Koalitionär.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wittmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Angesichts des „regen" und in Teilen sachverständigen Interesses hier und der Planungen der einzelnen Kollegen für den heutigen Abend werde ich mich relativ kurz fassen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1659
Dr. Wittmann— Sie meinen wohl sich, wenn Sie fragen.
— Sehen Sie, jetzt fühlen Sie sich betroffen, wenn Sie so etwas sagen.
— Was parlamentarisch oder nichtparlamentarisch ist, entscheiden nicht Sie, das entscheidet entweder der Herr Präsident oder die Mehrheit dieses Hauses.
— Seien Sie lieber still, und hören Sie zu!
— Wenn Sie keine Dame wären, Frau Däubler-Gmelin, würde ich Ihnen auf Ihre Zwischenrufe einmal was sagen.
Meine Damen und Herren, Rechtspolitik muß sehr sorgfältig angegangen werden. Wir haben dies nicht nur in der Koalitionsvereinbarung sondern auch sonst so gehandhabt. Der Staat soll gestaltend nur dann eingreifen, wenn ein Problem gelöst werden muß, wenn eine Korrektur einer Fehlentwicklung erforderlich ist oder zur Regelung veränderter Verhältnisse. Politisierungen und Ideologisierungen schaden dem Recht und der Rechtsetzung. Das Rechtsbewußtsein muß auch durch die Rechtsetzung gestärkt werden, und es müssen Rahmenbedingungen festgelegt werden, in denen der Bürger seine Freiheit und seine Gerechtigkeit wiederfindet. Es geht vor allem um die Freiheit des rechtstreuen Bürgers. Herr Penner hat gemeint, der Bürger würde in seiner Freiheit durch den Staat beeinträchtigt. Ich denke eher an Situationen nachts auf unseren Straßen; in U-Bahnen und S-Bahnen kann sich eine Frau in einigen Großstädten nicht mehr allein hineinwagen.
— Es ist leider so, ja! Da beginnt das Ende der Freiheit unserer Bürger, wenn sie aus Angst nicht mehr auf die Straße gehen können. Die Freiheit des Bürgers wird nicht vom Staat beeinträchtigt, sondern sie erwarten einen Staat, der ihnen ihre Freiheit erhalten hilft.Herr de With, Sie haben die Rechtspolitik auch der vergangenen Legislaturperiode gescholten. Ich muß Ihnen sagen: In der 10. Legislaturperiode haben wir mehr gemacht, als in der damaligen Koalitionsvereinbarung gestanden hat. Wir mußten natürlich auch Dinge korrigieren, die das Bundesverfassungsgericht auf Grund der Gesetze, die Sie gemacht haben, uns zur Korrektur anempfohlen hat. Ich denke an das Unterhaltsrecht, und ich denke an den Versorgungsausgleich, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Es wird hier immer nur von der Freiheit vom Staat gegenüber den Rechtsunterworfenen geredet, aber daß wir etwas für den Schutz des Opfers gemacht haben, daß wir den Opferschutz in der letzten Legislaturperiode entscheidend verbessert haben,
das haben Sie offenbar hier übersehen. Das Opfer ist für Sie manchmal nicht so wichtig wie der Täter, wenn man Ihre Ausführungen verfolgt und analysiert.Wir haben im gewerblichen Rechtsschutz viel erreicht; die Bilanzrichtlinie ist praktisch ein neues Handelsgesetzbuch geworden.Jetzt in der 11. Legislaturperiode, lieber Herr Kollege de With, machen Sie sich bitte keine Sorgen: Wir werden auch hier die Koalitionsvereinbarung sachgerecht verwirklichen; nur wird bei uns nicht nach dem Motto gehandelt „durch" , sondern wir werden alles sehr sorgfältig diskutieren. Wir werden nichts zerreden, wie Sie es im Rechtsausschuß zu tun pflegen, sondern wir werden es sorgfältig diskutieren.
Natürlich gibt es gewisse Meinungsunterschiede. Ich denke hier z. B. an das Gebiet der inneren Sicherheit; es ist schon ausführlich hier darüber diskutiert worden. Ich sage nur eines: Wir werden uns an die Koalitionsvereinbarung halten. — Herr Hirsch ist leider nicht mehr da, oder ich sehe ihn nicht; er ist wahrscheinlich bei der Reparatur seiner Sprechwerkzeuge in der bayerischen Vertretung.
— Die chinesische Eisenbahn, so! Dann werde ich mich vielleicht dazugesellen und werde ihm das, was ich jetzt sage, persönlich sagen.Ich glaube, Herr Hirsch hat etwas zu schnell geredet, hat schneller geredet als gedacht, als er hier seine Vorwürfe angebracht hat. Gehen Sie davon aus: Wir werden die Koalitionsvereinbarung letztlich durchsetzen und werden das machen, was erforderlich ist. Das haben wir in der letzten Legislaturperiode so gehalten, das werden wir auch jetzt wieder machen. Ich lasse mich hier auf diese Ebene der Polemik des Herrn Hirsch nicht ein, dem ich zwar nicht das Wort Piccolominis zugestehen möchte: „Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, das schwer sich handhabt wie des Messers Schneide" — dies kann man bei Herrn Hirsch leider nicht mehr sagen— , aber wohl, daß er schneller gesprochen als gedacht hat.
Herr Minister, ich bitte die Vorlagen der großen Gesetzgebungsvorhaben rechtzeitig zu liefern
— Sie werden gleich hören, was ich sage — , denn die Neigung der Opposition, alles zu torpedieren durch zum Teil unnötige Anhörungen und Wiederholungen von Anhörungen, kann dazu führen, daß wir dann bis zum Ende dieser Legislaturperiode in Zeitdruck geraten.
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1660 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Dr. Wittmann— Natürlich wird diskutiert; aber dann müßten Ihre Leute auch da sein.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten de With?
Aber, Herr de With, sehr gerne.
Das ist bayerische Einigkeit. Herr Kollege Wittmann, — —
Ich kann leider nichts verstehen, weil Ihre Damen schnattern.
Herr Kollege Wittmann, sind Sie bereit, einzuräumen, daß es in der letzten — —
Ich verstehe es leider nicht; es ist zu laut hier.
Herr Kollege Wittmann, sind Sie bereit, einzuräumen, daß es in der letzten Legislaturperiode nur gemeinsam getragene Anhörungen gab? Denn Sie haben gerade erwähnt, daß wir den Versuch unternommen hätten, durch Anhörungen Gesetze zu torpedieren.
Lieber Herr de With, darf ich Ihnen folgendes sagen: Natürlich haben wir von Ihnen Androhung bekommen, daß Sie Anhörungen machen, denn Sie haben ja das bekannte Minderheitenrecht, eine Anhörung zu beantragen. Es wird uns doch wohl nicht verwehrt sein, daß wir gemeinsam die Fragen formulieren, damit dann nicht vielleicht 20 oder 30 und mehr Sachverständige geladen werden, also damit wir es dann konzentrieren; das war unsere Mitwirkung, und das war unser Mittragen, und das war die Kooperation; so haben wir das gemacht.
Aber die Initiative zur Anhörung zu jeder Kleinigkeit, zu der man wirklich einen Mann im ersten Semester fragen könnte, der einem das schon sagen würde, hat die Arbeit letzten Endes verzögert.
— Herr Schily, bei Ihnen beantworte ich aus grundsätzlichen Erwägungen überhaupt keine Frage.
— Nein, bei Ihnen tue ich das aus grundsätzlichen Erwägungen nicht.
— Dann lesen Sie in Ihrem Lebenslauf nach.
Meine Damen und Herren, wir werden auch in dieser Legislaturperiode im Wirtschaftsrecht, nämlich im Insolvenzrecht — der Herr Minister hat darauf hingewiesen — , dann auch auf dem Gebiet der Markenpiraterie einiges zu tun haben. Wir werden die Verschärfung der Haftung für fehlerhafte Produkte einführen. Allerdings sollten wir hier nicht zu amerikanischen Verhältnissen kommen. Wir müssen sehr darauf achten, denn sonst wird bei uns gewerbliche und produzierende Tätigkeit kaum mehr möglich. Wir werden den Schutz bei Verbraucherkrediten verstärken. Schließlich wollen wir eine Entlastung der Gerichte. Herr de With, ich bin auch mit Ihnen einer Meinung, daß hier grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden müssen. Ich glaube nicht, daß wir uns weiter mit Streitwertheraufsetzungen und ähnlichen Dingen mehr durchmogeln können. Hier müssen grundsätzliche, vielleicht manchmal auch etwas unangenehme Entscheidungen getroffen werden.
Ich bin überzeugt, daß die Rechtspolitik auch in der elften Wahlperiode ein Aktivposten der Regierungspolitik sein wird.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Häfner.
Ja, Herr Wittmann, mit Rechtspolitik hat das nicht so viel zu tun gehabt, was Sie hier erzählt haben, sondern sehr viel mehr mit der Einstimmung auf den Zustand, in den man sich offensichtlich in der bayerischen Landesvertretung um diese Uhrzeit begibt.
Die Art, wie Sie über Mitglieder dieses Hauses gesprochen haben, wie Sie Bundestagsabgeordnete unterschiedlicher Klassen konstituieren, hat mich ziemlich erschreckt; das sage ich Ihnen ganz offen.
— Danke sehr, Herr Kollege, Sie finden immer die stärkeren Worte, wie der Name schon sagt.Herr Präsident, meine Damen und Herren, lieber Herr Engelhard, ich werde es auch nicht ganz ohne starke Worte abgehen lassen.Bei der Vorstellung Ihres Programms im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages haben Sie, Herr
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HäfnerEngelhard, gesagt: „Rechtspolitik steht nicht immer im Lichte der Öffentlichkeit. Das", haben Sie gesagt, „hat auch seine guten Seiten." Nach Ihrer Rede kann ich das verstehen, jedenfalls aus Ihrer Sicht.Wer derartig verwaschen und derartig unkonkret über einschneidende rechtspolitische Vorhaben spricht und gerade die wesentlichen Dinge dabei ausläßt und wer immer wieder jede Festlegung scheut, der muß sich fragen lassen, ob er seine Politik lieber hinter dem Rücken der Bevölkerung betreibt als im hellen Licht der Öffentlichkeit.
Ich halte — lassen Sie mich das so deutlich sagen — diese ministerielle Vermummung für einen sehr großen Schaden! Wir warten auf den Tag, an dem Sie, Herr Engelhard, einmal klar sagen, was Sie wollen. Ich denke, die Öffentlichkeit und auch der Deutsche Bundestag haben ein Recht darauf.Ich werde zusammen mit meiner Fraktion dazu beitragen, daß diese Öffentlichkeit hergestellt wird. Denn Rechtspolitik ist Demokratiepolitik. Sie greift sehr massiv in das Leben der Menschen ein; sie gestaltet das Zusammenleben; sie ist entscheidend mitverantwortlich dafür, ob in unserem Staat ein freiheitliches, tolerantes und demokratisches Klima herrscht oder ob Überwachung, Bespitzelung und Einschränkungen demokratischer Freiheiten weiter voranschreiten.Die Liberalen sind einmal angetreten, um Partei zu nehmen „für die Person — gegen die Institution" — so steht es in Ihren Freiburger Thesen — , „für die Achtung und den Schutz der Menschenwürde und damit für Selbstbestimmung des einzelnen, gegen die den Menschen seiner selbst entfremdenden Fremdbestimmungen und Anpassungszwänge".Sie selbst nennen sich gerne einen liberalen Minister. Ihr Ministerium soll Ihrem Haushaltsantrag zufolge in einer 15 000 DM teuren Broschüre als — ich zitiere — „Bauhütte des Rechts" dargestellt werden.
Nach Lektüre der Koalitionsvereinbarungen zur Innen- und Rechtspolitik denkt man eher an ein Abbruchunternehmen des Rechts.
Dabei schießen die Autoren dieser Koalitionsvereinbarung manchmal auch weit über das vermutlich selbstgesteckte Ziel hinaus.
— Hören Sie zu; ich zitiere nämlich wörtlich aus Ihren Koalitionsvereinbarungen. Ich weiß nicht, ob Sie das kennen. Da steht als erste der angekündigten gesetzlichen Maßnahmen: „strafbewehrtes Verbot der Vermummung bei öffentlichen Versammlungen
und sonstigen öffentlichen Menschenansammlungen,auch in geschlossenen Räumen " . Das ist das erstegenerelle Faschingsverbot oder Karnevalsverbot in der Bundesrepublik Deutschland!
Sie können jetzt schon damit anfangen, für die Faschings- oder Karnevalszeit, in der sich bekanntlich auch Mitglieder der Bundesregierung gerne vermummen — angeduselt sind sie ja manchmal auch schon im Frühherbst — , Gefängnisse zu bauen, die mehr als die Hälfte der Bundesbürger fassen, wenn Sie das so verwirklichen wollen, wie Sie es zu Papier gebracht haben.So, wie Sie jetzt die Vermummung zur Straftat machen wollen — und dies auch noch in geschlossenen Räumen —, zwingen Sie — das wissen Sie als Jurist und als Rechtspolitiker genau — die Polizei, ob sie es für richtig hält oder nicht, dazu, jede Ansammlung winterlich stark vermummter Personen, jeden Faschingszug, jeden Maskenball aufzulösen und alle Beteiligten zum Zwecke der Bestrafung festzunehmen.Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man sagen: Endlich darf im Hohen Hause wieder mal gelacht werden; die Regierung befindet sich selbst schon im Karneval. Aber es ist ernst! Schließlich steht dieser Satz wörtlich in den rechtspolitischen Vereinbarungen Ihrer Koalition.Weiter geht es dort — das ist sofort der nächste Punkt — mit dem Verbot der passiven Bewaffnung. Das ist einer der absurdesten und unglaublichsten Begriffe, die je gebildet wurden. Passive Bewaffnung, das ist — so haben wir uns belehren lassen — schon ein dicker Anorak, der den Aufprall des Schlagstockes abmildert, oder festes Ölzeug, das die Scharfmacher verbieten wollen, weil es den Strahl des Wasserwerfers weniger schmerzhaft macht. Wo sind wir da gelandet? Was hat das noch mit Demokratie, was hat das noch mit Rechtsstaat zu tun?Sobald ein Demonstrant Gewalt — in welcher Form auch immer — anwendet, macht er sich — das wissen Sie — ohnehin nach den gültigen Gesetzen strafbar. Immer öfter aber geht die Gewalt von der anderen Seite aus. Nicht nur daß Polizisten für ihre Stockschläge, für Angriffe mit CN- und CS-Gas — auch auf friedliche Demonstranten — so gut wie nie bestraft wurden — übrigens auch deshalb, weil sie vermummt sind und sich selbst noch immer nicht mit Namensschildern kenntlich machen — , sondern nun soll auch noch der Demonstrant dafür bestraft werden, daß er versucht, sich vor Augenverletzungen oder Verletzungen durch Schlagstöcke zu schützen.Bei der Räumung des Hüttendorfes in Gorleben haben Hunderte von Polizisten auf Anweisung von oben ihre Gesichter schwarz angeschmiert, die ganzen Gesichter schwarz angemalt, bevor sie den Platz von Menschen geräumt und diese Menschen teilweise zusammengeschlagen haben.Ich bin, Herr Engelhard, gegen Gewalt auf beiden Seiten! Offene, friedliche und demokratische Auseinandersetzungen erreicht man aber nicht durch Verschärfung von Gesetzen und durch weitere Einschränkungen des Demonstrationsrechts.
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1662 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
HäfnerIn einem ständigen Doppelpaßspiel — Sie verzeihen mir das Bild; ich habe gestern abend Fußball gesehen — feiert das Duo Engelhard/Zimmermann immer neue Erfolge beim Abbau demokratischer Rechte. Zimmermann treibt den Ball am äußersten rechten Flügel, der Justizminister läuft leicht rechts von der Mitte und hat Mühe, Schritt zu halten.
— Er läuft. Die Tore aber — nach den koalitionsüblichen Rangeleien vor dem Torschuß — schießen sie in der Regel gemeinsam. Für den Rechtsstaat sind es allerdings meistens Eigentore.In diesem Doppelpaßspiel wurden beispielsweise die „Anti-Terror-Gesetze" durchgebracht, die vorher nie dagewesene Überwachungsmöglichkeiten der gesamten Bevölkerung eröffnen, wurden Rechte der Strafprozeßordnung massiv ausgehöhlt und neue Straftatbestände wie „Anleitung zu" oder „Belohnung" und „Billigung von Straftaten" geschaffen, die nichts mehr mit materiellem Recht, dafür aber sehr viel mit Zensur und Gesinnungsstrafrecht zu tun haben.Für den größten Skandal aber halte ich es, daß wesentliche rechtspolitische Errungenschaften und Positionen, wie sie seit Jahrzehnten von Liberalen verteidigt wurden, von Ihnen bei einem würdelosen koalitionspolitischen Kuhhandel leichtfertig geopfert wurden. Der FDP wurde das makabre Schauspiel einer wirkungslosen „Staatszielbestimmung Umweltschutz" zugestanden. Bezahlt hat sie dafür angeblich mit der Zusage, den Sicherheitsgesetzen zuzustimmen, durch die beispielsweise das Verfassungsgebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten aufgehoben würde.Wenn dies zutrifft, so wäre es Ausdruck einer erschreckenden Prinzipien- und Gewissenlosigkeit.Ich wäre froh, Herr Engelhard, wenn Sie diese Zeitungsmeldungen noch hier und heute dementieren könnten. Die Rechte der Bürger dürfen nicht einfach in einem Koalitionsroulette verspielt werden.Dies gilt erst recht wenn man sich anschaut, wofür Sie diesen Preis gezahlt haben: für eine Staatszielbestimmung, die sich in den Händen der Bürger als umweltpolitische Seifenblase erweisen wird. Sobald nämlich irgendein Bürger versucht, sie anzufassen, ist der schöne Schein zerplatzt. Für eine derartige bewußt zahnlos formulierte Bestimmung, das Grundgesetz zu ändern, halte ich für eine Verhöhnung unserer Verfassung. Die Politik der Phrase hilft unserer Umwelt und auch den Bürgerinnen und Bürgern nicht weiter. Weiterhelfen würde nur ein von jedem Bürger einklagbares Umweltgrundrecht — übrigens eine alte Forderung Ihrer Partei, zum erstenmal formuliert in den Freiburger Thesen der FDP von 1971. Danach stand es in Regierungsvereinbarungen und in der Regierungserklärung 1973. Inzwischen ist schon viel Wasser — was sage ich: viel Dioxin, Atrazin, viel Gift — den Rhein hinuntergeflossen, und die Liberalenhaben sich von ihrer eigenen Forderung längst verabschiedet.
Dabei waren Sie gar nicht allein. Die Umweltministerkonferenz, der Sachverständigenrat für Umweltfragen — alle forderten ein Grundrecht. Nachdem alles herausgestrichen wurde, was der deutschen Industrie irgendwie unangenehm werden könnte, blieb schließlich nur noch Ihr schlaffes Staatsziel übrig.Dem stellen wir GRÜNEN ein Umweltrechtspaket entgegen, in dessen Mittelpunkt das von jedermann einklagbare Umweltgrundrecht steht, flankiert von einem Umweltinformationsgesetz, das dem Bürger Einblick in umweltrelevante Akten ermöglicht, und von einem Klagerecht für Umwelt- und Naturschutzverbände.Eines Ihrer großen, immer wieder genannten Ziele, Herr Engelhard, ist die Gerichtsentlastung; so jedenfalls sagen Sie. Die Volkszählung, die außer der Verschleuderung von Steuergeldern in Milliardenhöhe und einer staatsbürgerkundlichen Unterrichtseinheit in Sachen ziviler Ungehorsam gegen einen immer unnachgiebiger und autoritärer werdenden Staat nichts gebracht hat, ist aber mit Ihrer Verfolgung kritischer und couragierter Bürger ein gewaltiges Gerichtsüberlastungsgesetz.
All dies trägt nicht zu Ihrer Glaubwürdigkeit bei. Eine wirkliche Gerichtsentlastung, Herr Minister, wäre vielmehr ein Generalpardon für die von der Bundesregierung kriminalisierten Volkszählungsgegner.
Lassen Sie mich aber noch einige grundsätzliche Worte zur Rechtspolitik sagen. Diese steht und fällt ja mit dem Rechtsbewußtsein der Bürger. Welches Rechtsbewußtsein aber soll sich entwickeln, wenn ein Student, der den Volkszählungsbogen nicht ausfüllt, zehnmal sein Monatseinkommen als Geldstrafe bezahlen muß, während Umweltstraftaten in 99 To der Fälle gar nicht verfolgt oder mit lächerlich niedrigen Strafen belegt werden?Welches Rechtsbewußtsein soll sich entwickeln, wenn ein junger Mann wegen Ladendiebstahls ein Jahr im Gefängnis sitzt, wobei der Schaden durch den Diebstahl 12 DM betrug, und ein Minister nach Steuerhinterziehungen im Wert von mehreren hunderttausend DM frei herumläuft und die Prozeßkosten durch die Staatskasse übernommen werden?
Hier könnten Sie mit dem von Ihnen immer wieder geforderten Subventionsabbau beginnen. Ich weiß nicht, ob Ihre Partei inzwischen einen Preis für den ausgesetzt hat, der als erster ein geeignetes Objekt für den Subventionsabbau findet. Ich bewerbe mich hierfür. Ihre Haushalts- und Wirtschaftspolitiker stochern da ja schon seit Jahren mit der Stange im Nebel.Das Blockieren eines geschlossenen Tores wird mit aller Schärfe verfolgt. Die Blockierer einer Autobahn,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1663
Häfnerdie Zehntausende von privaten und geschäftlichen Fahrern an der Durchfahrt hindern, bekommen dagegen von einem Ministerpräsidenten auf die Schulter geklopft und gehen straffrei aus. — Von „Gleichheit vor dem Recht" also keine Rede.Demokratie aber verlangt die Gleichheit aller vor dem Recht und verlangt, daß alle als Gleiche das Recht hervorbringen. In der Demokratie — und hier zitiere ich Friedrich Naumann — sollten die Bürger „nicht Objekte, sondern Subjekte der Regierung sein". Doch sind die Bürger dies wirklich?„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", sagt das Grundgesetz — und kehrt nie mehr zurück, ergänzt der Volksmund; denn in Wirklichkeit leben wir in einer Zuschauerdemokratie.Obwohl das Grundgesetz nur von einer Mitwirkung der Parteien spricht, haben diese sich ein Monopol auf die politische Willensbildung gesichert. Wesentliche, vielleicht sogar die wesentlichsten Weichenstellungen in dieser Republik wurden ohne, teils sogar gegen den Willen der Bevölkerung vorgenommen. Das gilt für die Wiederbewaffnung 1955 genauso wie für die Stationierung der Mittelstreckenraketen vor vier Jahren.Spätestens seit Tschernobyl fordert die Mehrheit der Bundesbürger den Ausstieg aus der Atomenergie. Statt dessen wurden zwei weitere nukleare Zeitbomben in Betrieb genommen. Das hat mit Rechtspolitik sehr viel zu tun. Es betrifft nämlich deren innersten Kern.Immer mehr Bürger sind nicht bereit, weiter ohnmächtig zuzuschauen, wie eine Handvoll von Politikern, Industriellen und Militärs über ihre Köpfe hinweg ihr Leben und möglicherweise das Leben von Generationen aufs Spiel setzt. Gerade solche einschneidenden, irreversiblen Entscheidungen können nicht von den Politikern allein getroffen werden.Statt nachzudenken, wie Sie diesen Staat weiter aufrüsten und noch schärfere Gesetze gegen seine kritischen, aufmüpfigen Bürger einführen können, sollten Sie einmal überlegen, wie die Bürger an den politischen Entscheidungen real beteiligt werden können. Damit könnten Sie nicht nur das Grundgesetz verwirklichen, das über die Staatsgewalt sagt: „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen . . . ausgeübt", damit können Sie auch Ihr eigenes Parteiprogramm verwirklichen, das die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid in Bund und Ländern fordert.
Um so mehr übrigens war ich erstaunt, als Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Mischnick, uns auf Anfrage erklärte, die Fraktion der FDP sei übereinstimmend gegen die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid. Das Parteiprogramm hatte er wohl zu diesem Zeitpunkt schon vergessen.Hunderttausende, Millionen von Bürgern sehen das anders. 600 000 haben jetzt die Forderung nach Einführung eines Bundesabstimmungsgesetzes unterschrieben. Es werden täglich mehr.Die GRÜNEN werden sich in dieser Legislaturperiode für eine umfangreiche Demokratisierung in Staat und Gesellschaft einsetzen. Im Bereich desStrafrechts, des Jugendstrafrechts, der Untersuchungshaft und in den anderen von Ihnen genannten Bereichen werden wir Alternativen vorstellen, die sich an liberalen Vorstellungen orientieren, was von Ihrer Politik kaum noch behauptet werden kann.
Hieran mitzuwirken, dazu möchte ich alle Mitglieder des Bundestages, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, herzlich einladen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für diejenigen, die das Ende der Sitzung erwarten, sage ich gleich: Ich habe drei Minuten angemeldet. Ich hoffe die Zeit zu unterschreiten.
Meine Damen und Herren, der Justizminister hat zu Beginn dieser Legislaturperiode in der Rechtsausschußsitzung dargelegt, welches justizpolitische Programm verwirklicht werden soll. Er hat heute hier einige Schwerpunkte noch einmal hervorgehoben. Ich bedauere, daß sich die Oppositionssprecher mit diesen Sachfragen, jedenfalls was den letzten Redner betraf, überhaupt nicht und zum anderen nicht hinreichend auseinandergesetzt haben.Zweitens — deswegen habe ich mich noch einmal zu Wort gemeldet — : Verehrter Herr Kollege Häfner, der Beginn Ihrer Rede schien deutlich zu machen, daß Sie in eine Diskussion, eine Auseinandersetzung mit meinem Parteifreund Engelhard eintreten wollten. Als Sie das Wort von der ministeriellen Vermummung sagten, haben Sie diesen Boden völlig verlassen. Wer von ministerieller Vermummung spricht, überschreitet das Gebiet der Polemik und verläßt den Boden sachlicher Auseinandersetzung.
Nur in fairer und sachlicher Auseinandersetzung können wir uns den Themen widmen, die Justizpolitik braucht.Dritte Bemerkung: Keine der Koalitionsparteien benötigt eine Nachhilfe von seiten der GRÜNEN darüber, wie Koalitionsvereinbarungen auszulegen sind.Vierte Bemerkung: Ich hätte es für richtig gefunden, wenn Sie nicht in die Kerbe derer gehauen hätten, die die Einsätze von Polizeibeamten allein und ausschließlich sehen und dann auch noch ausschließlich mißbilligen.
Ich hätte es für richtig gefunden, wenn Sie mit off enem Visier ein klares Wort gesagt hätten
zum Demonstrationsrecht und zu Demonstrationsmöglichkeiten, die die Grundlage unserer demokrati-
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1664 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987
Lüderschen Auseinandersetzung sein sollten. Ich hätte es begrüßt, wenn Sie ein Wort gefunden hätten zu der Gewalt — und sie auch verurteilt hätten —, die in die politische Auseinandersetzung hineingegangen ist.
Das hätte zur Sachlichkeit beigetragen, und das hätte die rechtspolitische Auseinandersetzung vorwärtsgebracht.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. September 1987, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.