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    Plenarprotokoll 11/24 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 24. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Jahn (Marburg) 1563 A Fortsetzung der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1988 (Haushaltsgesetz 1988) (Drucksache 11/700) in Verbindung mit Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1987 bis 1991 (Drucksache 11/701) Dr. Vogel SPD 1563 a Dr. Waigel CDU/CSU 1576 D Ebermann GRÜNE 1586 B Ronneburger FDP 1590 B Dr. Kohl, Bundeskanzler 1593 B Dr. Vogel SPD (Erklärung nach § 30 GO) 1602 C Dr. Ehmke (Bonn) SPD 1602 C Frau Geiger CDU/CSU 1607 C Frau Hensel GRÜNE 1610 B Genscher, Bundesminister AA 1611 D Frau Wieczorek-Zeul SPD 1615 D Wimmer (Neuss) CDU/CSU 1618 C Dr. Mechtersheimer GRÜNE 1620 A Frau Seiler-Albring FDP 1622 D Kühbacher SPD 1624 D Dr. Wörner, Bundesminister BMVg 1626 D Horn SPD 1632 B Dr. Zimmermann, Bundesminister BMI 1633 D Dr. Penner SPD 1636 B Möllemann, Bundesminister BMBW 1642 B Gerster (Mainz) CDU/CSU 1643 D Frau Dr. Vollmer GRÜNE 1646D Dr. Hirsch FDP 1649 B Bernrath SPD 1651 C Engelhard, Bundesminister BMJ 1653 C Dr. de With SPD 1655 B Dr. Wittmann CDU/CSU 1658 D Häfner GRÜNE 1660 D Lüder FDP 1663 C Nächste Sitzung 1664 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 1665* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1563 24. Sitzung Bonn, den 10. September 1987 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 10. 9. Antretter * 11. 9. Frau Beck-Oberdorf 11. 9. Frau Blunck * 10. 9. Böhm (Melsungen) ** 11. 9. Büchner (Speyer) * 11. 9. Bühler (Bruchsal) * 10. 9. Dr. von Bülow 11. 9. Catenhusen 11. 9. Eigen 11. 9. Dr. Feldmann ' 11. 9. Großmann 11. 9. Frau Dr. Hellwig 11. 9. Hoss 11. 9. Irmer 11. 9. Jansen 11. 9. Jung (Lörrach) 11. 9. Lemmrich * 10. 9. Frau Luuk * 11. 9. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Müller * 10. 9. Niegel * 11. 9. Oostergetelo 11. 9. Rawe 11. 9. Reddemann ** 11. 9. Schäfer (Mainz) 11. 9. Dr. Scheer * 11. 9. Schmidt (München) ** 11. 9. Frau Schmidt (Nürnberg) 11. 9. von Schmude ** 11. 9. Schröer (Mülheim) 11. 9. Dr. Sperling 11. 9. Tietjen 11. 9. Dr. Unland ** 10. 9. Volmer 11. 9. Dr. Vondran 10. 9. Dr. Wieczorek 11. 9. Wieczorek (Duisburg) 11. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
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    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Sehr liebenswürdig. Können wir eine Sprechprobe veranstalten, Herr Präsident?


Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Es funktioniert schon, Herr Abgeordneter.

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    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Danke sehr. Herr Präsident, noch nicht einmal das funktioniert bei der Koalition.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Haushaltsdebatte dieser Woche ist die erste seit Beginn der neuen Legislaturperiode. Sie gibt deshalb nach altem parlamentarischen Brauch Anlaß, über den Haushaltsentwurf hinaus eine erste Zwischenbilanz Ihrer Regierungstätigkeit in dieser Periode zu ziehen, die Lage zu würdigen, in der sich unser Gemeinwesen befindet, und darüber zu diskutieren, ob Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Koalition ihrer Verantwortung gerecht werden.
    Die Äußerungen darüber, insbesondere die Äußerungen über das Erscheinungsbild und die Leistungen der Bundesregierung, sind in den letzten Monaten immer drastischer und immer negativer geworden. Dabei beziehe ich mich gar nicht auf die Stimmen der politischen Gegner; ich beziehe mich vielmehr ausschließlich auf Stimmen aus Ihrem eigenen Lager. Da spricht die CSU von dem jämmerlichen Gesamtbild, das die Regierung Kohl biete, und da bezweifelt Herr Strauß, offenbar unter dem Eindruck des fünfstündigen Gesprächs, das der Bundeskanzler in der letzten Woche mit ihm in seiner Wohnung geführt hat, sogar, daß die Bonner Vorgänge, also wohl vor allem die Politik des Bundeskanzlers, die ja wohl zu den Bonner Vorgängen gehört, was immer damit gemeint ist, „als Ergebnis logischer Überlegungen und systematischer Handlungsweise bewertet werden können".

    (Zuruf von der SPD: Da hat er recht!)

    Das sind harte Urteile. Aber Herr Strauß und die Kolleginnen und Kollegen der CSU müssen es ja schließlich wissen. Sie sind bei all dem, was Herr Strauß „Bonner Vorgänge " nennt, ununterbrochen dabei. Es sei denn, Herr Waigel, Sie werden von Herrn Kohl und Herrn Dregger im Einzelfall übergangen und müssen dann mit flexible response, mit flexibler Vergeltung, drohen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Bei mir heißt „response" immer noch „Antwort"!)

    Wir stimmen, wie, glaube ich, in der Bundesrepublik bekannt ist, mit Herrn Strauß und der CSU nur ganz selten überein, aber in diesem Fall kommen wir



    Dr. Vogel
    von ganz anderen Ausgangspunkten zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Darum sage ich: Diese Bundesregierung ist ihren Aufgaben immer weniger gewachsen. Und ihre Handlungsfähigkeit nimmt in dem gleichen Maße ab, in dem ihre inneren Widersprüche zunehmen. Die Diskrepanz zwischen dem, was notwendig wäre, und dem, was geschieht, wird immer offenkundiger. Schein und Realität stoßen immer stärker aufeinander. Selbst Ihre eifrigsten publizistischen Helfer, deren Zahl ja nicht gerade gering ist, können es kaum noch verdecken; denn aus Ihren eigenen Reihen werden die Stimmen immer lauter, die die Orientierungslosigkeit nach innen und außen, den Zickzackkurs der täglichen Zufälligkeiten und Opportunitäten und den Verlust an geistig-moralischer Substanz beklagen. Wie sagte erst kürzlich, Herr Bundeskanzler, der Bundesvorsitzende der Jungen Union, den Sie übrigens vor kurzem als die intakteste Klammer zwischen den sogenannten Schwesterparteien gerühmt haben? Herr Böhr sagte wörtlich: „Die CDU ist konzeptionell ausgelaugt. "
    Er muß wissen, wovon er spricht. Die Union, so sagte er weiter, laufe Gefahr, in einen Zustand der programmatischen Lähmung zu verfallen.

    (Frau Unruh [GRÜNE]: Sehr richtig! — Lachen bei der CDU/CSU)

    Und dann ein besonders bemerkenswerter Satz: „Die CDU ist in der Gefahr, den Eiertanz als Lebensform zu entdecken. " Herr Bundeskanzler, Sie als Eiertänzer: Das ist ein neues Bild.

    (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Sie sagen Ihren innerparteilichen Kritikern, Sie sagen Herrn Strauß, Sie sagen der CSU, Sie sagen der Jungen Union, das sei alles ungerecht. Sie sagen, Ihre Regierung sei in Wahrheit die erfolgreichste Europas.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Feldmann [FDP])

    — Der Beifall ist aber sehr dünn, meine Herrschaften.

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Und Sie sagen, uns gehe es so gut wie nie zuvor. Finden Sie nicht eigentlich selber, Herr Bundeskanzler, daß Sie da ein bißchen dick auftragen?

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Ein bißchen!)

    Gewiß, das Bruttosozialprodukt ist in der Zeit von 1982 bis 1986 um über 350 Milliarden DM gestiegen, und in einzelnen Branchen, etwa bei den Banken und in der chemischen Industrie, sind die Gewinne geradezu explodiert. Einige Bankenvorstände haben ja bei den Bilanzpressekonferenzen jetzt eher das Problem, die Höhe der Erträge und der Gewinne etwas zu vernebeln.

    (Bundeskanzler Dr. Kohl: Jetzt kommt wieder der Neid!)

    — Ach, Herr Bundeskanzler, wenn Sie wirklich gar
    nichts anderes mehr wissen, als immer von Neid zu
    reden, dann sagt das eher etwas über Sie aus als über uns!

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir empfinden überhaupt keinen Neid. Im Gegenteil. Diese Zahl, die ich nannte,

    (Bohl [CDU/CSU]: Matthöfer und die Neue Heimat!)

    ein Zuwachs um 350 Milliarden DM im Bruttosozialprodukt seit 1982, zeigt, welche Kraft in unserem Volk und in unserer Volkswirtschaft steckt

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: In einer guten Regierung!)

    und mit welchem Fleiß und welchem Können unsere männlichen und weiblichen Facharbeiter, Techniker, Ingenieure und Kaufleute, unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insgesamt und auch die Männer und Frauen in den Unternehmensleitungen tätig sind. Ich danke ihnen für diese Anstrengung und für dieses Engagement.

    (Beifall bei der SPD)

    Denn ihrer aller Anstrengung ist das volkswirtschaftliche Ergebnis in erster Linie zu verdanken.
    Daneben haben natürlich auch günstige Außenbedingungen, etwa die gesunkenen Öl- und Rohstoffpreise, eine Rolle gespielt. Das heißt übrigens auch — und das sage ich nachdenklich —, daß ein nicht unerheblicher Teil unseres Wohlstands aus Einbußen der Dritten Welt und der Entwicklungsländer stammt.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Das zu sagen ist nicht populär und würde beim Herrn Bundeskanzler wahrscheinlich wieder das Stichwort Neid auslösen. Aber es ist die Wahrheit, und darum spreche ich es an dieser Stelle aus.

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Dollarverfall!)

    Ich will heute nicht auf die Frage eingehen, ob diese Entwicklung auf einem festen Fundament ruht und ob alle Faktoren des Bruttosozialprodukts auch dem sozialen Nutzen dienen. Bis in Ihre Reihen, meine Damen und Herren, hat sich ja inzwischen herumgesprochen, daß wir für Teile dieses quantitativen Wachstums einen unverantwortlich hohen Preis an Qualität der Umwelt und an Qualität des Lebens zahlen.

    (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Ich lasse auch die Frage dahingestellt, wie lange diese Konjunktur so noch andauern wird. Immerhin gibt es nach Meinung unabhängiger Institute genug Warnzeichen, die ein Ende, jedenfalls aber eine Verlangsamung der gegenwärtigen Konjunktur als möglich, wenn nicht sogar als wahrscheinlich erscheinen lassen.

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Umgekehrt!)

    Ich konzentriere mich vielmehr auf die Fragen: Wem ist diese gemeinsame Anstrengung, wem ist insbesondere dieser Zuwachs eigentlich zugute gekommen? Wohin ist der Zuwachs eigentlich geflossen? Und wozu — das ist die Frage an die Regierung — haben Sie unsere wirtschaftliche Stärke, die aus die-



    Dr. Vogel
    sen Zahlen spricht, eigentlich genutzt? Ist sie genutzt worden, um die Arbeitslosigkeit abzubauen, um Strukturkrisen zu überwinden, um Vorsorge für die Zukunft zu treffen? Die Antwort ist leider ein klares Nein. In Wahrheit hat unter Ihrer Verantwortung, meine Damen und Herren der Bundesregierung, die größte Umverteilung in der Geschichte der Bundesrepublik stattgefunden, und zwar eine Umverteilung ausschließlich von unten nach oben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Widerspruch bei der CDU/ CSU)

    Noch nie zuvor sind die breiten Schichten so geschröpft und die Reichen so begünstigt worden wie seit Ihrem Regierungsantritt — noch nie zuvor!

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Lachen bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Miltner [CDU/CSU]: Das ist doch lächerlich, dumm und lächerlich! — Kalisch [CDU/CSU]: Der weiß genau, daß das nicht stimmt! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Das können Sie, Herr Stoltenberg, und Sie, Herr Bundeskanzler, noch so empört abstreiten: Die Tatsachen, d. h. die Zahlen des Statistischen Bundesamtes und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sind eindeutig und überführen Sie. Wenn Sie Bedürfnis danach haben, stelle ich Ihnen Exemplare der Berichte des Statistischen Bundesamtes gerne zur Verfügung, und zwar für alle Mitglieder dieser Koalition.
    Von 1982 bis 1986 ist das Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer um 137 Milliarden DM, das Bruttoeinkommen aus Unternehmenstätigkeit und Vermögensbesitz hingegen um 154 Milliarden DM gewachsen. Das ist schon an und für sich ein Mißverhältnis, das Ihre Heiterkeit dämpfen sollte. Aber nach Abzug der Steuern und Abgaben blieben den 22,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von dem Zuwachs netto 52,7 Milliarden DM, den Unternehmenseignem und Vermögensbesitzern aber netto 142,4 Milliarden DM, d. h. das Dreifache.

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Bei Ihnen blieb gar nichts, überhaupt nichts! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Das ist nicht Fortschritt; da hat sich nicht, wie Sie immer wieder sagen, Leistung wieder gelohnt. Im Gegenteil: Leistungsloses Einkommen hat sich hier gelohnt wie nie zuvor.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Hier findet schlicht und einfach die Privilegierung weniger zu Lasten der vielen statt, eine Umverteilung, die sich auch daraus erklärt, daß noch kein Bundeskanzler vor Herrn Kohl die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer mit einer derart hohen Steuer- und Abgabenquote belastet hat, nämlich mit der Rekordquote von 45,8 %.

    (Beifall der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Das sind doch die Lohnnebenkosten, über die sich Herr Stoltenberg gestern so lautstark beklagt hat. Dort stecken sie doch!

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Aber das ist nur ein Aspekt. Der zweite ist noch viel gravierender: 1982 betrug der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am gesamten Nettoeinkommen unseres Volkes 66,3 %. 1986, also im fünften Jahr Ihrer Regierung, sind es noch 58,4 %. Gleichzeitig ist der Anteil der Unternehmens- und Vermögensbesitzer am Gesamtnettoeinkommen von 33,7 % auf 41,6 % gestiegen. Das zeigt, wohin Sie die Ergebnisse der gemeinsamen Anstrengung gelenkt, in welche Körbe Sie die Früchte unserer gemeinsamen Anstrengung gelegt haben.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Das ist eigentlich ein noch größeres soziales Ärgernis, ein Ärgernis, nein, ein Unrecht, das Sie sorgfältig zu verbergen trachten.
    Dies alles wäre noch eher hinzunehmen, wenn die Arbeitslosigkeit gesunken wäre, wenn unser Land krisenfester geworden wäre, wenn weniger Menschen um ihren Arbeitsplatz bangen müßten, wenn es weniger Armut gäbe, wenn dieser starke Zuwachs auch bei den Unternehmenseignern und Vermögensbesitzern dorthin gelenkt worden wäre. Aber davon kann doch keine Rede sein. In Wahrheit nehmen in wichtigen Teilbereichen — ich sage: in Teilbereichen — krisenhafte Erscheinungen zu. Heute, fast fünf Jahre nach Ihrem Regierungsantritt und nach fünf Jahren einer günstigen Weltwirtschaftskonjunktur — Herr Stoltenberg, die Vergleiche mit den letzten Jahren der Regierung Schmidt sind doch deswegen — und das wissen Sie — unredlich, weil wir damals auf dem Tiefpunkt einer Weltwirtschaftskrise waren, während wir jetzt eine Weltwirtschaftskonjunktur haben —,

    (Beifall bei der SPD)

    hat es unser Land mit einer Werftenkrise, einer Stahlkrise, einer Kohlekrise, einer Agrarkrise

    (Seiters [CDU/CSU]: Und einer VogelKrise!)

    und einer Massenarbeitslosigkeit zu tun, die von neuem steigt, auch mit einer teils offenen, teils verschämten Armut, die weiter um sich greift, und zudem noch mit einer heraufziehenden Krise der öffentlichen Finanzen. Wollen Sie denn das einfach alles leugnen? Wollen Sie, Herr Bundeskanzler, leugnen, daß inmitten wachsenden Reichtums — ein Plus von 350 Milliarden DM bedeutet gewachsenen Reichtum — immer mehr Menschen ausgegrenzt und ihrem Schicksal überlassen werden?

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Von der Krise der Werften sind rund 5 000, von der Stahlkrise 20 000 bis 30 000, von der sich immer deutlicher abzeichnenden Kohlenkrise nach Schätzung der IG Bergbau und Energie, auf die Sie sich immer wieder beziehen, rund 62 000 Arbeitnehmer ummittelbar bedroht.



    Dr. Vogel
    Sie wissen, daß diese Krisen ganze Städte und Regionen in Schleswig-Holstein, in Niedersachsen, an der Ruhr und im Aachener Revier, im Saarland und in der nördlichen Oberpfalz — ich denke an Sulzbach-Rosenberg — mit dem wirtschaftlichen Tod bedrohen. Was geschieht eigentlich auf dem Hintergrund der finanziellen Möglichkeiten, die ich erwähnt habe, um das abzuwenden, um den Menschen wieder Hoffnung zu geben? Was geschieht, Herr Bundeskanzler, damit Sie dem Verfassungsgebot Genüge tun, das Ihnen die Schaffung und Erhaltung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Teilen der Bundesrepublik zur Pflicht macht?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Die Agrarkrise bedroht nach Angaben Ihres Parteifreundes Heereman — auf ihn beziehe ich mich — die Existenz von annähernd 200 000 bäuerlichen Familienbetrieben. Diese Krise hat die Betroffenen so verbittert, daß sie ihrem Unmut auf jede nur denkbare Weise öffentlich Ausdruck geben. Diese Krise hat sie so verbittert, daß Ihre Parteifreunde Heereman und Eigen, die hier zu uns im Parlament gehören, Ihren Landwirtschaftsminister Kiechle beim Verbandstag des Deutschen Bauernverbandes in Aachen ostentativ ausgeladen, also des Saales verwiesen haben. Das ist übrigens ein Vorgang, der an innerer Unwahrhaftigkeit kaum zu überbieten ist. Denn die Herren Heereman und Eigen, die da als Ankläger des Herrn Kiechle aufgetreten sind, haben doch hier im Bundestag noch kein Wort der Kritik an Herrn Kiechle geäußert.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Im Gegenteil: Die Herren Heereman und Eigen, die Herrn Kiechle des Saales verweisen, haben hier allen Anträgen des Herrn Kiechle zugestimmt und ihm sogar Dank und Anerkennung ausgesprochen. Die Herren Heereman und Eigen hätten sich eigentlich bei dieser Veranstaltung selber des Saales verweisen müssen.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Herr Bundeskanzler, was antworten Sie eigentlich den Bauern auf ihre Fragen? Reden Sie da auch von Neid? Sie glauben doch wohl selbst nicht, daß Sie die Misere und die Krise der deutschen bäuerlichen Familienbetriebe weiterhin auf Brüssel und die Kommission abschieben können. Das hat eine Zeitlang mit Mühe funktioniert; inzwischen glauben es Ihnen die Bauern selbst nicht mehr, daß alles nur an Brüssel liege. Die Bauern erkennen immer deutlicher, daß die Ursache auch hier in dieser Regierung und in dieser Koalition liegt.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Zur Massenarbeitslosigkeit hat Herr Franke, Ihr Parteifreund, Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, in den letzten Wochen alles Erforderliche gesagt. Trotzdem unser Bruttosozialprodukt um 350 Milliarden DM zugenommen hat — —

    (Zuruf von der Regierungsbank: Das heißt „obwohl" !)

    — Sie sind der bessere Oberlehrer, wenn Sie mir hier zurufen: Das heißt „obwohl". Ich gebe meinen Titel an Sie weiter, mein Herr.

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Nicht so lustig!)

    — Legen Sie sich nicht mit allen an. Wenn Sie Kohl flexible response androhen, ist das schon gut. Jetzt fangen Sie nicht auch mit mir noch Krach an, Herr Waigel.

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Bei Ihnen hat man nicht so viel Angst!)

    — Das wird Ihnen Ihr Herr und Meister ankreiden, daß Sie sagen, Sie hätten vor Herrn Kohl Angst. Das hört der Strauß nicht gern; solche Leute mag er nicht in Bonn.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Die Zahl der Arbeitslosen wird in diesem Jahr — so sagt Herr Franke — im Durchschnitt bei 2,2 Millionen liegen und in den nächsten Jahren noch steigen. Sie wächst ja, wie wir den letzten Zahlen von Ende August entnommen haben, zur Zeit leider schon wieder gegenüber den Vorjahresmonaten.
    Die Zahl der Langzeitarbeitslosen, d. h. derer, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, hat inzwischen 750 000 erreicht. Das sind nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung rund 360 000 Langzeitarbeitslose mehr als im Durchschnitt des letzten Amtsjahres von Helmut Schmidt, also am Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise. Wissen Sie denn nicht mehr, Herr Bundeskanzler, daß Sie damals noch als Sprecher der Opposition angekündigt haben, Sie würden die Zahl der Arbeitslosen, wenn Sie die Regierung übernähmen, alsbald um eine Million senken? Wenn Sie sich für diese Äußerung schon nicht bei uns entschuldigen, wollen Sie nicht wenigstens die Betroffenen um Entschuldigung bitten, die Sie derart enttäuscht haben?

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Wollen Sie eigentlich auch dem Papst widersprechen,

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Das ist eine neue Linie, Vogel — Papst!)

    der bei seinem letzten Besuch in Bottrop sagte, Massenarbeitslosigkeit werde zu einem gesellschaftlichen „Skandal" — ich zitiere wörtlich; das Wort „Skandal" stammt aus dieser Rede — , wenn die zur Verfügung stehende Arbeit nicht gerecht verteilt — und nun kommt der entscheidende Satz — und der Ertrag der Arbeit — diese 350 Milliarden DM sind doch der Ertrag der allgemeinen Arbeit — nicht auch dazu verwandt wird, neue Arbeit für möglichst alle zu schaff en?

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Herr Bundeskanzler, eben dies, was der Papst als Skandal bezeichnet, geschieht. Sie widersetzen sich der Arbeitszeitverkürzung, also einer gerechteren Verteilung der Arbeit. Wohin der Ertrag der gemeinsamen Arbeit fließt, das habe ich bereits mit konkreten Zahlen vorgetragen.



    Dr. Vogel
    Das Wort von der neuen Armut hören Sie nicht gerne, obwohl es doch Ihr eigener Generalsekretär — allerdings in Oppositionszeiten — erfunden hat. Er hat lange Zeit auch immer das Urheberrecht in Anspruch genommen; jetzt will er nichts mehr davon wissen. Aber die Armut gibt es doch.
    Als Sie Bundeskanzler wurden, haben etwa 900 000 Haushalte Sozialhilfe zum Lebensunterhalt bezogen und waren zur Beseitigung der bittersten Not 16,3 Milliarden DM erforderlich; das war am Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise. 1985, nach fünf Jahren eines — wie Sie sagen — ununterbrochenen Aufschwungs und einer guten Weltkonjunktur — wie wir sagen — , waren es, obwohl 350 Milliarden DM jährlich mehr zur Verfügung stehen, 1 170 000 Haushalte — das sind rund 3,5 Millionen Menschen — und 20,8 Milliarden DM. 1986 waren es schätzungsweise bereits 24 Milliarden DM. Das sind mehr als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Wie erklären Sie das eigentlich? Warum schweigen Sie dazu? Wo, Herr Bundeskanzler, beginnt eigentlich die Sensibilität des Vorsitzenden einer Partei, die sich christlich nennt?

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Die katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten haben in einem Dokument, das eigentlich jeder Politiker, gleich welcher Partei, auch bei uns lesen sollte, geschrieben: Bittere Armut plagt unser Land — die Vereinigten Staaten — trotz seines großen Reichtums. Daß so viele Menschen in einem so reichen Land wie dem unseren arm sind — wieder wörtliches Zitat —, ist ein sozialer und moralischer Skandal, den wir nicht ignorieren können.
    Sie, meine Damen und Herren, können das offenbar; Ihnen bereitet es keine Mühe. Denn bei uns ist es doch um kein Haar anders als in den Vereinigten Staaten. Der Reichtum wächst, und auch die Armut wächst.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Meine Kritik reicht weiter. Sie ignorieren dies nicht nur; Sie tun mit Ihren Medienhelfern alles, Herr Bundeskanzler, um über diese Vorgänge den Mantel des Schweigens zu breiten.
    Zu all diesen Krisen kommt immer deutlicher eine krisenhafte Entwicklung der öffentlichen Finanzen hinzu. Die Fakten und Zahlen, die mein Kollege Apel dazu gestern vorgetragen hat, sind von Herrn Stoltenberg mit keinem Wort widerlegt, ja zum Teil sogar bestätigt worden. Er hat doch Herrn Späth mit seiner Vorausschätzung nicht widersprochen; er hat doch die Zahlen, auf die es ankommt, nicht in Zweifel gezogen.
    Danach steht fest: Erstens. Der Entwurf des Haushalts 1988 enthält ungedeckte Risiken in Milliardenhöhe. Bei einer realistischeren Annahme des voraussichtlichen Wachstums erhöht sich das Risiko noch.
    Zweitens. Das Defizit von Bund, Ländern und Gemeinden wird 1990 je nach Konjunkturverlauf nicht, wie bisher geschätzt, bei 24,5 Milliarden, sondern zwischen 64,5 Milliarden und 105 Milliarden DM liegen. Die Neuverschuldung der öffentlichen Hände wird sich in diesem Jahr gegenüber Ihrer bisherigen
    Planung sogar verzehnfachen. Wenn sich Herr Lambsdorff vielleicht an die Zeit erinnert, in der wir noch gemeinsam dem Kabinett angehört haben: Können Sie sich vorstellen, was für ein Tanz hier aufgeführt worden wäre, wenn ein Finanzminister unserer Koalition eine Verzehnfachung der Schuldenaufnahme gegenüber der Planung hätte mitteilen müssen?

    (Beifall bei der SPD)

    Drittens. Die Kommunen werden — das sind Zahlen von Herrn Rommel; ich zitiere ja heute fast nur Leute aus Ihrem eigenen Lager — 1990 einen Einnahmeausfall von über 10 Milliarden erleiden und mit ihrer Investitionskraft auf das Niveau der 50er Jahre absinken.
    Viertens. Sie, Herr Stoltenberg — und natürlich auch Herr Kohl —, der Sie die Schuldenaufnahme der Regierung Schmidt und die Einstellung der Bundesbankgewinne in den Haushalt seinerzeit unablässig getadelt haben — Zitat Stoltenberg: es sei der Gipfel der Unsolidität, die Bundesbankgewinne als Einnahme und Deckung in den Haushalt einzustellen —,

    (Hört! Hört! bei der SPD)

    Sie, die Sie das unablässig getadelt haben, werden, wenn man die Bundesbankgewinne vor und nach 1982 außer Betracht läßt — ich mache nicht Ihren Kunstgriff, mit dem Sie die Sonderhaushalte bei sich für die Investitionen dazugeschlagen, bei uns aber weggelassen haben —, bis 1990, also innerhalb von acht Jahren, nach Ihren eigenen Zahlen eine höhere Finanzierungslücke zu verantworten haben als die Regierungen Brandt und Schmidt zuvor in 13 Jahren. Das ist die Wahrheit.

    (Beifall bei der SPD)

    Gleichzeitig werden — das ist eine Schere, die uns mit großer Sorge erfüllen muß — bis zum Ende der jetzt gültigen mittelfristigen Finanzplanung die Investitionen des Bundeshaushalts mit 11,2 % auf den tiefsten Stand seit 1949 sinken. Herr Stoltenberg, Sie sind gestern hier ans Pult getreten und haben gesagt, auch bei uns hätte es Jahre mit sinkender Investitionstendenz gegeben. Das ist leider richtig. Dazu bekenne ich mich. Aber bekennen Sie sich dazu, daß Sie die niedrigste Investitionsquote in der Geschichte der Bundesrepublik vorschlagen und zu verantworten haben,

    (Beifall bei der SPD)

    und zwar — ich komme immer wieder darauf zurück — doch nicht in einer Zeit sinkenden Bruttosozialprodukts, sondern in einer Zeit, in der infolge gemeinsamer Anstrengungen das Bruttosozialprodukt um 350 Milliarden im Jahr gestiegen ist.
    Herr Stoltenberg, wie rechtfertigen Sie das alles eigentlich? Ist es Ihnen eigentlich — jedenfalls wenn Sie zu Hause sind — nicht selbst gelegentlich peinlich, wie voll Sie den Mund gerade auf diesem Gebiet jahrelang genommen haben?
    Selbst Ihre konservativen Freunde halten Ihnen das ja jetzt gelegentlich vor.
    Aber ungeachtet dieser Warnungen versprechen Sie weiterhin auch — ich sage nicht „nur", aber



    Dr. Vogel
    „auch" — die Senkung des Spitzensteuersatzes für das Jahr 1990. Sie versprechen das, was Herr Blüm, der ja ein Freund anschaulicher und deswegen leicht zitterbarer Formulierungen ist, den „Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmer" genannt hat — wieder ein Zitat aus Ihren Reihen.

    (Zurufe von der SPD)

    — Freilich macht Blüm selbst immer mit. Ja, er macht immer mit.

    (Beifall bei der SPD)

    Gleichzeitig verweigern Sie — nach gestern ist das noch klarer — die Antwort auf die Frage, wie Sie die Einnahmeausfälle in Höhe von rund 20 Milliarden eigentlich finanzieren wollen. Warum um alles in der Welt sagen Sie eigentlich nicht — Ihre Parteifreunde bedrängen Sie ja inzwischen fast genauso wie wir — den Wählerinnen und Wählern in Ihrem eigenen Heimatland und auch in Bremen endlich, was Sache ist, und zwar noch vor dem Wahltag?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Jungmann [SPD]: Da grinst Herr Kohl wieder!)

    Herr Stoltenberg, sogar für den Betrieb eines öffentlichen Münzfernsprechers gilt ja: erst zahlen, dann wählen. Sie drehen das um und sagen: erst wählen, und danach sagen Sie den Leuten, was sie zu zahlen haben.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    — Das ist ein gutes Zitat. Es stammt von Herrn Meyer, dem Abgeordneten des Südschleswigschen Wählerverbands in Flensburg. Der kennt Sie scheinbar auch ziemlich genau. Ein gutes Zitat; ich muß sagen: Respekt vor Herrn Meyer.
    Wie hat es Herr Böhr formuliert: Eiertanz als Lebensform der CDU. Das, was Sie gestern hier gemacht haben, war doch auch wieder ein Eiertanz. Warum sagen Sie nicht klipp und klar, daß Sie weder die Mehrwertsteuer noch andere Verbrauchsteuern erhöhen? Und warum sagen Sie nicht klipp und klar und nicht nur mit so einer verschwommenen Berufung auf ein Verfassungsgerichtsurteil, das Sie befolgen wollten, daß die Lohnsteuerbelastung der Arbeitnehmer an keinem Punkt erhöht wird? Das können Sie doch hier in einer einzigen Minute erledigen, indem Sie es zu Protokoll geben. Selbst Ihren Wahlkämpfern in Schleswig-Holstein fiele ein Stein vom Herzen, wenn Sie endlich diese klaren Antworten gäben.
    Was Sie gestern dazu gesagt haben, Herr Stoltenberg, waren wiederum doch nur Ausflüchte. Sie haben nämlich im Grunde gesagt, daß Sie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beachten wollen. Das halte ich eigentlich für eine Selbstverständlichkeit. Ich hoffe, es ist auch für Sie eine Selbstverständlichkeit.

    (Beifall bei der SPD)

    Deshalb fordern wir Sie erneut auf — die Debatte dauert ja noch — : Sagen Sie endlich, was Sache ist! Geben Sie endlich Auskunft! Solange Sie das nicht tun, werden wir wahrheitsgemäß behaupten, daß die Mehrheit des Volkes nach der Verwirklichung Ihrer
    famosen Steuerpläne nicht besser, sondern schlechter dastehen wird als heute.

    (Beifall bei der SPD — Zustimmung der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Sagen Sie nicht, wir betrieben eine Kampagne, sondern sagen Sie doch, was Sache ist. Dann weiß jeder, was los ist.
    Eines muß ich Ihnen allerdings in allem Ernst zu bedenken geben. Sie haben gestern gesagt, daß wir Sie so fragen, das sei volksdemokratisch. Lieber Herr Stoltenberg, in allem Ernst: Daß wir Fragen stellen, ist unser Recht und unsere Pflicht als Abgeordnete; das ist nicht volksdemokratisch.

    (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Ein Minister der Bundesrepublik Deutschland steht unter dem Verfassungsgebot, daß er diesem Parlament und den Abgeordneten Rede und Antwort schuldig ist und daß er Fragen zu beantworten hat.

    (Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Dummes Zeug!)

    Wenn Sie hier von „volksdemokratisch" reden, dann ist das eine verächtliche Behandlung dieses Parlaments, und das stelle ich fest.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Seiters [CDU/CSU]: Ein Pappkamerad!)

    Wir lassen es nicht bei diesen Feststellungen bewenden. Wir begnügen uns auch nicht mit dem Nachweis, daß Sie selber von Jahr zu Jahr mehr genau das tun, was Sie uns damals zu Unrecht vorgeworfen haben, und das Gegenteil dessen, was Sie vorher versprochen haben. Nein, wir kritisieren nicht nur; wir setzen Ihren Fehlschlägen und auch Ihrem Versagen unsere Konzepte entgegen,

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Konzepte, die das Gemeinwohl im Auge haben, die sich am Prinzip der sozialen Gerechtigkeit orientieren,

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Alter Wein in alten Schläuchen!)

    die mit den Geboten der Solidarität und der Nächstenliebe Ernst machen;

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Konzepte auch, die den Mut haben, Strukturen zu ändern, wo die einfache Fortschreibung des Bestehenden, wo Ihr „Weiter so! " immer mehr Menschen ausgrenzt und schließlich unser ganzes Gemeinwesen in Gefahr bringen kann.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir wissen, daß es sich bei der Werften-, der Stahl- und der Kohlekrise um Strukturkrisen handelt. Wir wissen, daß man auf Dauer nicht mehr produzieren kann, als der Markt aufnimmt, und zwar ganz gleich, wer Eigentümer dieser Betriebe ist. Auch ein verstaatlichtes Unternehmen könnte nicht mehr produzieren, als der Markt aufnimmt.



    Dr. Vogel
    Aber die notwendigen Umstellungen dürfen doch nicht mit Massenentlassungen und dem Ruin ganzer Regionen einhergehen. Deshalb muß der Bund in diesen Fällen genauso helfen, wie er das beim Airbus oder bei der Landwirtschaft mit weit höheren Beträgen in Tagesfrist tut.

    (Beifall bei der SPD — Zustimmung der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Wenn der Airbus etwas braucht, dann genügt ein Brief von Herrn Strauß an den Bundeskanzler. Ich würde mir wünschen, daß dieses Verfahren auch für die Bergarbeiter und die Stahlarbeiter Anwendung findet.

    (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Der Bund muß sich auch bei der Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen stärker engagieren. Darauf haben die Regionen, die einen entscheidenden Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg der Bundesrepublik geleistet haben, haben die Regionen, denen wir alle seinerzeit für jede Tonne Stahl, für jede Tonne Kohle dankbar waren, die zusätzlich gefördert wurden, und für jedes Schiff, das zusätzlich vom Stapel lief, auch einen moralischen Anspruch. Wenn Sie ihn nicht erfüllen, werden die Betroffenen die Erfüllung ihres Anspruchs auf ihre Weise einfordern, so wie das heute auf dem Bonner Münsterplatz viele Tausende von Eisenbahnern tun, denen ich von dieser Stelle aus unsere Solidarität bekunde.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Wenn die Betroffenen ihre moralischen Ansprüche selbst einfordern müssen, wird das sozial, aber auch ökonomisch teurer werden, als wenn den Betroffenen geholfen wird. Außerdem — und ich dachte, darin stimmen wir überein — erfordern unsere nationalen Interessen ein ausreichendes Maß an Produktionskapazität beim Stahl und bei den Werften, und sie erfordern auch die Erhaltung einer entsprechenden Förderkapazität bei der Kohle. Das ist gar kein Geschenk an die Betreffenden, das ist in unser aller nationalem Interesse.

    (Beifall bei der SPD)

    In der Agrarpolitik muß den Bauern endlich die Wahrheit gesagt werden. Das ist überhaupt der Beginn der Kurskorrektur: endlich die Wahrheit. Und die Wahrheit ist, daß das System der produktionssteigernden, mengenorientierten Subventionen bereits zusammengebrochen ist, daß es nicht mehr zu finanzieren ist, daß es trotz steigender Aufwendungen die Bauern immer ärmer werden läßt.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Seit 25 Jahren! Nicht erst jetzt!)

    — Aber ich bitte Sie! Ihr eigener Minister Kiechle hat noch 1982 dem verdienstvollen Josef Ertl, als er solche Gedanken aussprach, entgegengehalten — lesen Sie das Zitat vom März 1982 — , er verstehe die Aufregung nicht; wenn einmal eine gute Ernte gewesen sei, dann könne man doch nicht von Überschußproduktion reden. Seien Sie da sehr vorsichtig!
    Wer den bäuerlichen Familienbetrieb retten will
    — und wir wollen das, weil unsere Gesellschaft ohne
    diese bäuerliche Lebensform ärmer wäre, und wir wollen nicht, daß unsere Gesellschaft verarmt —,

    (Beifall bei der SPD)

    wer den bäuerlichen Familienbetrieb auf Dauer sichern will, der muß endlich zu einem System der flächenorientierten Einkommensübertragungen übergehen und damit die Bauern in erster Linie für das entlohnen, was nur sie zu leisten vermögen — nämlich — : die Erhaltung und Pflege unserer Kulturlandschaft. Wird so die finanzielle Grundausstattung der Familienbetriebe gesichert — auf die Unterstützung der Agrarfabriken können wir getrost verzichten; jede Mark Subvention für die Agrarfabriken ist verschleudertes Geld; vielleicht können wir uns wenigstens darüber einigen —,

    (Beifall bei der SPD)

    könnten für die Produktion auch wieder in viel stärkerem Maße die Marktregeln in Kraft gesetzt werden. Dann findet auch die widersinnige Anhäufung von Überschüssen ein Ende — es ist ja schon merkwürdig, daß wir Ihnen hier die Marktregeln auf diesem Gebiet predigen müssen —; von dieser Anhäufung — und das wissen wir doch alle, da könnten wir doch übereinstimmen — profitieren doch nur die Lagerhalter und der Handel, in keinem Fall aber mehr die Bauern. Von jeder Milliarde, die die Gemeinschaft aufbringt, kommt höchstens noch ein Viertel wirklich bei den Bauern an. Alles andere bleibt dazwischen hängen.

    (Beifall bei der SPD)

    Im übrigen, ich sagte: Von denen in keinem Fall die Bauern profilieren. Ich füge hinzu: Oder gar die Verbraucher, von denen in diesem Zusammenhang nur ganz selten und dann auch nur am Rande die Rede ist.
    Zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und zur Bekämpfung der Armut bedarf es einer ähnlich großen Gemeinschaftsanstrengung, wie wir sie nach dem Krieg in Zeiten nationaler Armut zur Eingliederung der Flüchtlinge und zur Behebung der Wohnungsnot unternommen haben. Kernstück dieser Anstrengung ist unser Projekt „Arbeit und Umwelt", das ohne Inanspruchnahme des Bundeshaushalts jährlich 20 Milliarden DM zur Wiederherstellung zerstörter und zum Schutz bedrohter Umwelt verfügbar machen und, wie die Institute bestätigen, schon im ersten Jahr mehrere hunderttausend Arbeitsplätze schaffen könnte.
    Einige CDU-Kollegen aus dem zweiten Glied fangen ja jetzt zaghaft an, ähnliche Vorschläge zu machen, zum Beispiel der Herr Fink aus Berlin, der sich, wenn ich es richtig sehe, in einem innerparteilichen Wahlkampf um Ihre Nachfolge befindet, oder auch Herr Scharrenbroich. Sie, Herr Bundeskanzler und Ihre Regierung sträuben sich unverändert. Warum denn eigentlich?
    Wir sind für weitere Arbeitszeitverkürzungen und gratulieren den Gewerkschaften, vor allem der IG Metall und der IG Chemie, zu den großen Fortschritten, die sie bei der Arbeitszeitverkürzung mit den wegweisenden Abschlüssen dieses Jahres erreicht haben.

    (Beifall bei der SPD)




    Dr. Vogel
    Wir erkennen auch die realistische Haltung der Arbeitgeber in dieser Frage an. Die sind nämlich viel realistischer als Sie in dieser Frage. Da sagt keiner, das sei dumm, absurd und töricht. Die haben die Vernunft dieses Weges erkannt, und drum gehen sie ein Stück weit mit. Wir befürworten unverändert die Einführung einer steuerstundenden Investitionsrücklage für Handwerk und Mittelstand und die Stärkung der kommunalen Investitionskraft.
    Sie lehnen das alles ab. Nicht, weil Sie das Richtige und Notwendige nicht tun könnten. Ich erinnere immer wieder an die 350 Milliarden DM plus im Bruttosozialprodukt. Nein, Sie lehnen es ab — und Sie sagen es ja auch — , weil Sie das nicht tun wollen, weil Sie glauben, unser Volk hätte sich inzwischen an die Massenarbeitslosigkeit gewöhnt, weil Sie glauben — und ich wähle von den Straußschen Formulierungen den höflicheren Ausdruck —, das ließe sich aussitzen. Strauß würde sagen: ausschwitzen, ich sage: aussitzen. Das ist ein gefährlicher Irrtum.

    (Beifall bei der SPD)

    Unsere steuerpolitische Haltung hat gestern schon Kollege Apel dargelegt. Ich brauche das nicht zu wiederholen. Ich beschränke mich auf drei Feststellungen.
    Erstens. Steueränderungen, die den Gemeinden, den Ländern und dem Bund die finanziellen Mittel nehmen, die sie zur Erfüllung ihrer dringendsten Gemeinschaftsaufgaben bitter notwendig brauchen, sind unverantwortlich. Wir lehnen sie ab.

    (Beifall bei der SPD)

    Zweitens. Schuldaufnahmen des Bundes zur Finanzierung von Steueränderungen sind unsolide. Wir lehnen sie ab. Wir lehnen auch ab, daß die Länder und Gemeinden Ihren Steuerplänen zuliebe auf den Weg zusätzlicher Verschuldung gezwungen werden. Das haben Sie ja auch bis zum letzten Jahr vertreten, Herr Stoltenberg.
    Drittens. Wir lehnen Steuersenkungen nicht generell ab. Im Gegenteil: Wir halten es beispielsweise für ein Unding, daß auch nach Ihren Plänen, wenn sie verwirklicht werden, immer noch in großer Zahl Mitbürgerinnen und Mitbürger Steuern zahlen müssen, deren Nettoeinkommen unter den Sozialhilfesätzen liegt. Steuersenkungen, bei denen die großen Verdiener auf Kosten der breiten Schichten entlastet werden, sind jedoch ungerecht und unsozial. Wir werden sie weiterhin mit aller Entschiedenheit bekämpfen. Ihre gestrige Behauptung, daß der Durchschnittsfacharbeiter 65 000 DM beziehe, hat uns in dieser Ablehnung eher noch bestärkt.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Bleiben Sie doch bei der Wahrheit! In der Mineralölwirtschaft war das!)

    — Aber lieber Herr Friedmann, — —