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ID1102401200

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    Plenarprotokoll 11/24 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 24. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Jahn (Marburg) 1563 A Fortsetzung der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1988 (Haushaltsgesetz 1988) (Drucksache 11/700) in Verbindung mit Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1987 bis 1991 (Drucksache 11/701) Dr. Vogel SPD 1563 a Dr. Waigel CDU/CSU 1576 D Ebermann GRÜNE 1586 B Ronneburger FDP 1590 B Dr. Kohl, Bundeskanzler 1593 B Dr. Vogel SPD (Erklärung nach § 30 GO) 1602 C Dr. Ehmke (Bonn) SPD 1602 C Frau Geiger CDU/CSU 1607 C Frau Hensel GRÜNE 1610 B Genscher, Bundesminister AA 1611 D Frau Wieczorek-Zeul SPD 1615 D Wimmer (Neuss) CDU/CSU 1618 C Dr. Mechtersheimer GRÜNE 1620 A Frau Seiler-Albring FDP 1622 D Kühbacher SPD 1624 D Dr. Wörner, Bundesminister BMVg 1626 D Horn SPD 1632 B Dr. Zimmermann, Bundesminister BMI 1633 D Dr. Penner SPD 1636 B Möllemann, Bundesminister BMBW 1642 B Gerster (Mainz) CDU/CSU 1643 D Frau Dr. Vollmer GRÜNE 1646D Dr. Hirsch FDP 1649 B Bernrath SPD 1651 C Engelhard, Bundesminister BMJ 1653 C Dr. de With SPD 1655 B Dr. Wittmann CDU/CSU 1658 D Häfner GRÜNE 1660 D Lüder FDP 1663 C Nächste Sitzung 1664 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 1665* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 24. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. September 1987 1563 24. Sitzung Bonn, den 10. September 1987 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 10. 9. Antretter * 11. 9. Frau Beck-Oberdorf 11. 9. Frau Blunck * 10. 9. Böhm (Melsungen) ** 11. 9. Büchner (Speyer) * 11. 9. Bühler (Bruchsal) * 10. 9. Dr. von Bülow 11. 9. Catenhusen 11. 9. Eigen 11. 9. Dr. Feldmann ' 11. 9. Großmann 11. 9. Frau Dr. Hellwig 11. 9. Hoss 11. 9. Irmer 11. 9. Jansen 11. 9. Jung (Lörrach) 11. 9. Lemmrich * 10. 9. Frau Luuk * 11. 9. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Müller * 10. 9. Niegel * 11. 9. Oostergetelo 11. 9. Rawe 11. 9. Reddemann ** 11. 9. Schäfer (Mainz) 11. 9. Dr. Scheer * 11. 9. Schmidt (München) ** 11. 9. Frau Schmidt (Nürnberg) 11. 9. von Schmude ** 11. 9. Schröer (Mülheim) 11. 9. Dr. Sperling 11. 9. Tietjen 11. 9. Dr. Unland ** 10. 9. Volmer 11. 9. Dr. Vondran 10. 9. Dr. Wieczorek 11. 9. Wieczorek (Duisburg) 11. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
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    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Wir begrüßen selbstverständlich, daß der Besuch, mit dem der Staatsratsvorsitzende der DDR den Besuch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt am Werbellin-See erwidert, nunmehr zustandegekommen ist. Dieser Besuch liegt in der Logik der von uns gegen Ihren hartnäckigen Widerspruch entwickelten Deutschlandpolitik und in der Logik des von Ihnen abgelehnten Grundlagenvertrages, der vor ziemlich genau 15 Jahren zustande gekommen ist.
    Die Bundesregierung — das anerkenne ich — hat anläßlich des Besuchs vernünftigerweise die Spielräume des Grundlagenvertrags im protokollarischen Bereich — wir alle haben das Bild vor Augen — insbesondere am ersten Tag voll ausgeschöpft. Damit hat diese Bundesregierung die Anerkennung der DDR als Staat in sichtbarster Weise bekräftigt. Gleichzeitig war bei den meisten Beteiligten das Bemühen erkennbar, die Chance, die der Besuch für eine Kooperation auf qualitativ neuem Niveau und für eine systemöffnende Zusammenarbeit — beides Begriffe, die der Herr Bundespräsident geprägt hat — bot, zu nutzen. Das am Dienstag veröffentlichte Kommuniqué läßt dafür positive Ansätze erkennen, wenn sich viele von uns manches sicher auch noch konkreter und präziser gewünscht hätten. Aber wir kennen die Grenzen, die es bei der Formulierung solcher Kommuniqués gibt.
    Für die Sozialdemokraten begrüße ich diese Entwicklung. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der Union, daß der Besuch noch eine weitere Wirkung entfaltet, nämlich die Wirkung, daß die Union nun endgültig ihren Frieden mit der Deutschlandpolitik der vorhergehenden sozialliberalen Bundesregierungen Brandt und Schmidt macht und sie ohne innere Vorbehalte akzeptiert.

    (Beifall bei der SPD)

    Das, meine Damen und Herren, würde in einer wichtigen Frage einen Konsens ermöglichen, den die Menschen nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern vor allem auch in der Deutschen Demokratischen Republik lange genug schmerzlich vermißt haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Das könnte eine der positiven Wirkungen des Besuchs sein.
    Neue Impulse im deutsch-deutschen Bereich würden dadurch erleichtert. Die steigende Zahl von Reisegenehmigungen, die umfassende Amnestie auch für politische Straftaten und die Abschaffung der Todesstrafe zeigen, daß die DDR bereit ist, dazu Beiträge zu leisten. Weitere Fortschritte, so vor allem — ich glaube, das eint das ganze Haus — die endgültige Beseitigung des Schußwaffengebrauchs an der Grenze, erscheinen erreichbar. Insbesondere dann, Herr Bundeskanzler, wenn wir auch unsererseits auf das eingehen, was die DDR für bedeutsam hält, etwa auf die Frage der Elbegrenze. Eine einvernehmliche Regelung dieser Frage, der Umweltprobleme, der Sportfischerei, der Fischereiprobleme in der Lübecker Bucht ist möglich und längst überfällig.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Ich hoffe, daß sich nun endlich auch die Bundesregierung und das Land Niedersachsen bewegen.
    Die Grundwertekommission meiner Partei hat kürzlich ein Papier vorgelegt, das die Ergebnisse eines über längere Zeit mit Gesellschaftswissenschaftlern der DDR geführten Dialogs zusammenfaßt. Das Papier, das mit Recht große Aufmerksamkeit gefunden hat — übrigens auch bei den Nachdenklichen in Ihren Reihen — , läßt erkennen, wie unterschiedliche, wie gegensätzliche Gesellschaftssysteme zu einem kooperativen Wettbewerb gelangen können, der die Unterschiede und Gegensätze nicht verwischt, der die Leiden, die es gegeben hat — ich denke an die Jahre nach der Zwangsvereinigung — nicht der Vergessenheit anheim gibt, der aber den Frieden fördert, statt ihn zu gefährden, und der für Millionen von Menschen Hoffnungen begründet und ihnen das Leben erleichtert, statt Ängste und Aggressionen zu wecken und Feindbilder zu pflegen. Fragen Sie die Menschen in der DDR, ob nicht allein schon das Gespräch zwischen Eppler und Reinhold im Fernsehen der DDR Hoffnung erweckt hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Es hat uns nicht überrascht, daß einige von Ihnen — es sind dieselben, die wegen der protokollarischen Fragen mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, jetzt zu hadern beginnen — darauf mit der üblichen Polemik geantwortet haben, mit den öden Parolen, mit denen sie schon die Ostverträge und den Grundlagenvertrag bekämpft haben und verhindern wollten. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Wir Sozialdemokraten lassen uns dadurch nicht beirren. Hätten wir uns 1969 von Ihren Kampagnen gegen unsere Entspannungspolitik bis hin zum Mißtrauensvotum beeindrucken lassen, so stünden wir noch heute in der Konfrontation des kalten Krieges, wäre die Mauer noch heute so undurchlässig wie in den 60er Jahren, und der Besuch des Staatsratsvorsitzenden wäre, wenn wir ihnen gefolgt wären, nicht eine Realität, sondern so utopisch wie zu Ulbrichts Zeiten.

    (Beifall bei der SPD)

    Besteht demnach für die deutsch-deutschen Beziehungen Anlaß zu einem realistischen Optimismus, so haben Sie es auf dem Gebiet der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik verstanden, die Bundesrepublik in eine schwierige Situation zu manövrieren. Lange Zeit — das wissen Sie doch, Herr Bundeskanzler — verfestigte sich nämlich der Eindruck, daß allein noch die Bundesrepublik der Einigung der Weltmächte über die doppelte Null-Lösung Hindernisse in den Weg lege, ja, daß sie im Grunde die Einigung gar nicht wolle. Inzwischen haben Sie mit erkennbarem Widerwillen großer Teile der Union — das hat man ja gehört und gelesen — der zweiten Null-Lösung zugestimmt. Schließlich — Herr Genscher mußte seine ganzen Künste, die wir auch von früher her kennen, aufbieten — haben Sie dann, Herr Kohl, unter der Einwirkung dieser Künste, auch unserer Forderung entsprechend, auf die Pershing-I a-Systeme verzichtet. Für diesen Verzicht — und das ist unverändert die Wahrheit, und deswegen verschieben Sie jetzt auch



    Dr. Vogel
    noch den Bericht zur Lage der Nation — haben Sie — —

    (Seiters [CDU/CSU]: Wieso verschieben? — Bundeskanzler Dr. Kohl: Das ist doch gar nicht wahr!)

    — Dann fragen Sie doch die Geschäftsführer!

    (Seiters [CDU/CSU]: Fragen Sie mich mal! — Bundeskanzler Dr. Kohl: Bleiben Sie doch bei der Wahrheit!)

    — Herr Kohl, das ist auch eine Neuerung, daß der Bundeskanzler von der Regierungsbank Zwischenrufe macht. Ich bin ganz einverstanden, aber es ist eine Neuerung. Das wollen wir im Protokoll festhalten. Wenn Sie sich zu den Abgeordneten setzen, können Sie fast alles machen, von der Regierungsbank ist das nicht üblich, mein Lieber.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Wissen Sie, Sie messen auch mit zweierlei Maß. Wenn Sie Zwischenrufe machen, dann sagen Sie, daß sei notwendig. Wenn ich einen Zwischenruf mache, dann kommt immer Ihr Standardsatz, daß Sie armer Bundeskanzler von mir niedergeschrien werden. Also entweder oder, mein Lieber.

    (Heiterkeit bei der SPD und den GRÜNEN)

    — Ja, das ist doch wahr.

    (Seiters [CDU/CSU]: Wieso reden Sie von Verschiebung?)

    Für diesen Verzicht — und weil es wahr ist, sage ich Ihnen jetzt noch einmal, Herr Bundeskanzler —

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Unwahrheit!)

    haben Sie mit Ihrer Koalition bis zur Stunde keine parlamentarische Mehrheit auf die Beine bringen können.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Aber es geht noch weiter.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wunschträume!)

    Nachdem Sie fünf Stunden lang in der Wohnung an der Hirsch-Gereuth-Straße mit Herrn Strauß verhandelt haben, bezweifelt er jetzt auch noch, daß Sie überhaupt einen verbindlichen Verzicht ausgesprochen haben. Bei Ihren Äußerungen, so sagt er, handele es sich nur um eine Absichtserklärung, die geprüft und geändert werden könne und geprüft und geändert werden müsse, und die CSU werde für die Änderung kämpfen. Herr Waigel kämpft schon, sehen Sie mal.

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Gleichzeitig hat der Außenminister, was wir wieder begrüßen, der an dem Zustandekommen Ihrer Entscheidung überhaupt nicht beteiligt war, der noch nicht einmal mit Ihnen telefoniert hat, der die Lage intuitiv erfaßt hat, die außenpolitische Bindungswirkung gerade in den Tagen des Honecker-Besuchs mehrfach unterstrichen.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Der telefoniert gar nicht mit Ihnen über so was, der redet gar nicht mit Ihnen, aber er sorgt, schlau wie er ist, für die außenpolitische Bindungswirkung. Respekt — das ist in Ordnung!
    Gleichzeitig muß ich aber sagen: Ein größeres Wirrwarr und eine unwürdigere Form, in einer wichtigen Frage zu prozedieren, ist eigentlich kaum vorstellbar.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Herr Bundeskanzler, die komische Figur in diesem Spiel ist nicht Herr Strauß und ist nicht Herr Genscher. Denken Sie mal nach, wer die komische Figur in diesem Spiel ist.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Bohl [CDU/CSU]: Vielleicht steht diese Figur!)

    Schon jetzt ist doch abzusehen, daß sich dieses Spiel wiederholen wird. Im Auswärtigen Amt sind die Karten doch schon gemischt, wenn es demnächst um die dritte Null-Lösung, nämlich um die Null-Lösung für die atomaren Kurzstreckenwaffen mit Reichweiten zwischen 150 und 500 km oder um die Herstellung konventioneller Stabilität geht. Es gibt natürlich einen Vorschlag für eine dritte Null-Lösung für den Bereich zwischen 500 und 150 km, und Ihr Gesprächspartner und Gast hat Ihnen das doch am Dienstag wahrscheinlich genauso gesagt, wie er es anderen gesagt hat. Wir werden wieder das übliche erleben: Erst haben Sie es verlangt, und dann wird Zittern und Entsetzen sein, wenn dieser Vorschlag tatsächlich kommt. Dann muß Genscher wieder arbeiten.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Das ist ja alles lustig und unterhaltsam. Sie sehen, der Unterhaltungswert Ihrer Darbietungen auf diesem Gebiet ist erheblich.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Bei Ihnen! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Ihre Rolle als Komiker!)

    Aber die Außen- und Sicherheitspolitik darf doch nicht unberechenbar werden und sich in einem irritierenden, auch unsere Verbündeten irritierenden Stopand-go-Verfahren verfangen.

    (Beifall bei der SPD)

    Es kann doch auch nicht immer der Bundespräsident in die Bresche springen und beispielsweise in Moskau Aufgaben wahrnehmen, die eigentlich Sache des Bundeskanzlers sind. Auch das hat krisenhafte Züge und bedeutet eine Überbeanspruchung von Verfassungsorganen, deren Aufgabe das eigentlich gar nicht sein sollte.
    Im Bereich des Umweltschutzes und des Umgangs mit der Natur beharren Sie auch in der neuen Legislaturperiode auf Ihrer Devise „Weiter so". Dabei böten Ihnen immer neue Umweltkatastrophen allen Anlaß, diesen Kurs zu korrigieren.

    (Seiters [CDU/CSU]: „Krise" ! „Katastrophe"! Eine Katastrophenrede ist das!)




    Dr. Vogel
    Ich nenne als Beispiel nur den verheerenden Unfall in Herborn und die jüngsten Verwüstungen in den Alpen. — Ja, Herr Seiters, wie bezeichnen denn Sie das, was im Veltlin vor sich gegangen ist? Wollen Sie denen da drüben in der Sowjetunion Konkurrenz machen, weil Sie das Wort Katastrophe nicht hören wollen? Sagen Sie, das ist eine Havarie? Dies ist eine Katastrophe, und ich nenne das eine Katastrophe.

    (Seiters [CDU/CSU] : Sie sagen es zu oft!) — Dazu brauche ich nicht Ihre Genehmigung.

    In beiden Fällen sind Risiken in Kauf genommen worden, die sich nicht als theoretisch, sondern als tödlich erwiesen haben. In beiden Fällen sind um des ökonomischen Nutzens willen die natürlichen Gegebenheiten außer acht gelassen worden. Unsere Forderung, die ökonomischen Prozesse auch unter ökologischen Kriterien zu kontrollieren und auf technisch oder ökonomisch Mögliches der Natur und damit dem Leben zuliebe zu verzichten, hat damit neue Bekräftigung erfahren.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie versuchen, auch in der Frage der Atomkraft zur Tagesordnung überzugehen. Lauter denn je proklamieren Sie die Unentbehrlichkeit, aber auch die Sicherheit ihrer Nutzung. Sie vertrauen darauf, daß die Erinnerung an Tschernobyl, Three-Miles-Island verblaßt. Beides ist trügerisch. In Wahrheit reiht sich, wie wir jetzt wissen — das gilt für die Regierungsverantwortung von uns wie von Ihnen — , bei Nukem und Alkem seit Jahr und Tag eine Panne an die andere. Lauter Dinge, die jahrzehntelang im Brustton der Überzeugung als „rein theoretisch" bezeichnet worden sind, sind dort am laufenden Band passiert und passieren jetzt noch.

    (Zurufe von der CSU)

    — Ich sage ja gerade: ohne Rücksicht auf den, der die Regierungsverantwortung trägt. Alles, was Sie als rein theoretisch und unmöglich bezeichnet haben, ist dort am laufenden Band passiert.
    Und die Entsorgungsfrage? Sie ist nach dem Abbruch der Bohrungen in Gorleben offener denn je. Es gibt Anlässe genug, die These von dem unbeachtlichen oder vertretbaren Restrisiko zu überdenken.
    Was die angebliche Unentbehrlichkeit der Atomkraft angeht: Unentbehrlich ist die Atomkraft wohl nur für den, der der Kohle endgültig den Garaus machen möchte.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: IG Bergbau!)

    Auf diese Zusammenhänge hat gerade in den letzten Wochen — zu Recht — die IG Bergbau und Energie hingewiesen und folgerichtig zunächst einmal für viele Jahre die Verminderung des Einsatzes von Atomstrom gefordert. Im übrigen ist noch für jeden, der rechnen kann, einsichtig, daß jedes neue Atomkraftwerk, das zusätzlich geplant wird und ans Netz geht, das endgültige Aus für mehrere Zechen bedeutet. Das ist doch einfach eine logische Operation.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir bleiben deshalb beim Nein zu einer Technologie, deren gefahrlose Beherrschbarkeit nur gewährleisten kann, wer Unfehlbarkeit für sich in Anspruch nimmt, und bei der Forderung, eine sichere Energieversorgung ohne Atomkraft binnen einer Frist möglich zu machen, die wir, entsprechende Gesetzgebungsmehrheiten vorausgesetzt — so steht das in diesem Beschluß — , auf ein Jahrzehnt veranschlagt haben. Dieses Nein zu einer bestimmten Technologie verbindet sich mit einem ebenso nachdrücklichen und deutlichen Ja zu anderen technischen Entwicklungen und zu einem ebenso klar artikulierten Vertrauen zu unseren Naturwissenschaftlern, Ingenieuren, Technikern und Facharbeitern, nämlich dem Vertrauen, daß sie uns von der Abhängigkeit von einer gefährlichen Energie befreien, daß sie den Nutzungsgrad gefahrloser Primärenergien erhöhen und neue regenerative Energiequellen entwickeln können, wenn wir ihnen ein klares Ziel setzen und ihnen Mittel und Möglichkeiten in dem Maß zur Verfügung stellen, in dem es heute leider weltweit immer nur für die Entwicklung immer tödlicherer Waffen geschieht.

    (Beifall bei der SPD — Abg. Stratmann [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Abgeordneter Stratmann, der Redner läßt keine Zwischenfragen zu.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Was ich Herrn Stoltenberg verweigert habe, kann ich nicht Ihnen zugestehen.

    (Heiterkeit)

    Ich habe von der Lage, vom Zustand unseres Gemeinwesens gesprochen. In einer parlamentarischen Demokratie ist dieser Zustand — ich füge im konkreten Fall hinzu: leider — nicht vom Zustand der Koalition zu trennen, die dieses Gemeinwesen regiert. Der Zustand unseres Gemeinwesens — das habe ich ausgeführt — gibt auf wichtigen Gebieten Anlaß zur Sorge. Der Zustand der Koalition ist nicht nur besorgniserregend, er ist — ich zitiere noch einmal Herrn Strauß — „jammervoll". Er wird für unser Gemeinwesen mehr und mehr zur Belastung.
    Ich denke dabei gar nicht einmal an die mitunter abstoßenden Beschimpfungen, mit denen CSU und FDP als Koalitionspartner — neuerdings auch CDU und CSU, ja, sogar verschiedene Flügel der CDU — übereinander herfallen. Das Schimpfwörterverzeichnis der letzten Wochen hat allein zwölf Seiten. Ich denke auch nicht daran — das ist ja nun ganz ungewöhnlich, eine absolute Premiere — , daß Herr Strauß dem Bundeskanzler wortwörtlich vorwirft, er sei in der Pershing-Frage „Lügen gestraft worden". Ich lasse auch die Frage beiseite — meine Herren, ich habe selber lange Zeit einem Kabinett angehört —, wie ein Kabinett, dessen Mitglieder sich öffentlich beschimpfen und sich spinnefeind sind, eigentlich an einem Tisch wieder vertrauensvoll zusammenarbeiten will. Wie soll dies eigentlich gehen?
    Unsere Sorge gilt vielmehr der Tatsache, daß diese Koalition auf wichtigen Feldern nicht mehr handlungsfähig, daß sie durch innere Gegensätze gelähmt ist. Da vertritt der Außenminister etwa in der Frage der Null-Lösung schon im Frühjahr eine bestimmte — nämlich unsere — Position. Dann fahren Herr Dregger und Herr Rühe mit Billigung des Bundes-



    Dr. Vogel
    kanzlers nach Washington, Paris und London, um diese Position zu konterkarieren.

    (Seiters [CDU/CSU]: Das hatten wir doch alles!)

    Da sagt Herr Zimmermann mit Zustimmung des Bundeskanzlers, es bestehe wegen der 14 Chilenen keinerlei Handlungsbedarf. Dann erweckt Herr Blüm auf Veranlassung des Herrn Geißler den Eindruck, die Lebensgefahr für die 14 Chilenen könne nur durch sein sofortiges persönliches Auftreten in Santiago behoben werden. Da erklären die FDP-Minister, eine Mehrwertsteuererhöhung komme unter gar keinen Umständen in Frage, und die CSU-Minister erhalten zugleich von Herrn Strauß die gegenteilige Order. Die Herren Kohl und Stoltenberg geben beiden Seiten recht und sagen, nichts sei völlig ausgeschlossen; und so weiter und so weiter.
    Es ist schon bedenklich genug. Noch kritischer sind die — und da greife ich jetzt Ihr Wort auf — die „geistig-moralischen" Aspekte — ich erinnere mich an Ihre Absicht, die Politik geistig-moralisch zu erneuern — einer solchen Politik.
    CDU und CSU liefern sich seit Wochen auf vielen Feldern der Politik geradzu erbitterte Auseinandersetzungen. Man muß nur jeden Mittwoch im „Bayernkurier" die neuesten Streitigkeiten verfolgen. Sie streiten über Abrüstung und die Bekämpfung von AIDS, sie streiten über Menschenrechte und Mittelstandspolitik, über Kohlepolitik und die Reform der sozialen Sicherungssysteme. Ein Leitartikler der „Welt" schrieb sogar — nicht etwa der Vorrat an Gemeinsamkeiten — der Vorrat an Gemeinheiten, mit denen sich beide Parteien bedächten, sei schier unerschöpflich.

    (Beifall bei der SPD)

    Gleichzeitig behaupten Sie aber mit einer gewissen Festigkeit — man könnte auch Dreistigkeit sagen —, daß Sie in allen wesentlichen Fragen übereinstimmen und deshalb natürlich im Sinne der Geschäftsordnung des Bundestages weiterhin eine gemeinsame Fraktion seien. Mit der gleichen Logik könnten Sie inzwischen auch mit den GRÜNEN oder könnten alle Fraktionen dieses Hauses eine gemeinsame Fraktion bilden.

    (Seiters [CDU/CSU]: Wir mit Ihnen nicht!)

    Die beschimpfen sich auch nicht schlimmer als Sie;

    (Beifall bei der SPD — Lowack [CDU/CSU]: Mit Ihnen bitte nicht!)

    denn stärker als zwischen CDU und CSU wird zwischen ihnen auch nicht gestritten.
    Natürlich geht es den Unionsparteien auch gar nicht um Logik oder um die Beachtung der Geschäftsordnung, sondern es geht ihnen um die vielfältigen Vorteile, die der stärksten Fraktion nach der Geschäftsordnung zustehen und die sie verlieren würden, wenn CDU und CSU je eine eigene Fraktion bildeten. Das Maß an Redlichkeit aber oder auch nur an Rechtsgehorsam, das hier gefordert ist, ist offenbar eine Überforderung für die streitenden Unionsteile.

    (Beifall bei der SPD)

    Noch fragwürdiger sind jedoch bestimmte Aktivitäten des Herrn Generalsekretärs der Union und seiner Gefolgsleute. Daß Herr Geißler mit dem Erscheinungsbild der Union unzufrieden ist — genauso unzufrieden wie Herr Böhr, der ja wohl im Einvernehmen mit ihm all dies sagt — , daß er glaubt, die Union habe Profil und Wertorientierung verloren und daß er darin die Ursache für ihre hohen Stimmverluste bei den Wahlen der letzten Jahre sieht, auch wenn seine Einsichten etwas spät kommen.
    Wir haben auch nichts dagegen, daß Herr Geißler seine Partei für neue Themen zu interessieren versucht — wir beobachten, wie schwierig das ist — und daß er dabei auf Themen verfällt, mit denen wir uns schon seit langem beschäftigen. Das wundert uns gar nicht, das war schon oft so. Ob soziale Gerechtigkeit, Mitbestimmung, Umweltschutz als Staatsziel, Ost- und Deutschlandpolitik oder zuletzt der Verzicht auf die Pershing-I a-Raketen, in all diesen Fällen hat sich die Union mit jahrelanger — gelegentlich jahrzehntelanger — Verspätung unseren Positionen angeschlossen, oft allerdings halbherzig und mit schlimmen Rückfällen. Dann haben Sie immer alle Hände voll zu tun, diese Querschüsse wieder unter Kontrolle zu bekommen.
    Außer dem Thema Menschenrechte könnten wir Ihnen übrigens noch weitere Themen empfehlen, die sich für Richtungsänderungen dringend anbieten. Warum entdecken Sie nicht das Thema Massenarbeitslosigkeit?

    (Beifall bei der SPD)

    Oder den Rassismus in Südafrika? Warum eigentlich nicht? Warum entdecken Sie für wertorientierte Richtungsänderungen nicht das Asylrecht oder die Situation unserer ausländischen Mitbürger? Auf all diesen Gebieten haben Sie weiß Gott noch eine Chance, bestehende Rückstände aufzuholen.
    Daß Sie Ihre Richtung ändern, macht Herrn Haussmann besorgt, mich nicht; ich finde dies großartig. Daß Sie Ihre Richtung ändern, daß Sie alte Fehler zu korrigieren versuchen, kritisieren wir nicht, das begrüßen wir. Aber wie Sie dabei agieren, wie Sie dabei mit dem Thema Menschenrechte umspringen, fordert unsere schärfste Kritik heraus.
    Die Devise, deren sich Herr Geißler immer wieder rühmt, lautet — ich zitiere wieder wörtlich — : „Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über sie. " Nicht die Taten, sondern die Worte! Getreu dieser Devise geht es konkret offenbar auch nicht so sehr um das Schicksal der 14 Chilenen, für die ja kein Handlungsbedarf besteht, sondern darum, was sich daraus machen läßt. Die Jesuiten haben den Satz „Der Zweck heiligt die Mittel" , wenn er ihnen denn überhaupt je zu Recht zugeschrieben worden ist, schon längst verworfen. Für Herrn Geißler und viele von Ihnen hat er uneingeschränkt Gültigkeit: Nicht die Taten zählen, sondern die Worte zählen, mögen sie wahrheitsgemäß, glaubwürdig und redlich sein oder nicht. Das ist Ihre Maxime.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Pfui!)

    Herr Bundeskanzler, wo sind denn die Taten hinsichtlich der 14 Chilenen? Sie wissen doch ganz ge-



    Dr. Vogel
    nau, daß sich Sozialdemokraten — ich nenne nur Hans-Jürgen Wischnewski — seit Anfang 1985 öffentlich und im stillen uni die Rettung dieser Chilenen bemühen. Sie wissen doch ganz genau, daß die Bundesregierung eine Anfrage meiner Fraktion, ob sie nun beabsichtige, zu helfen und die Chilenen aufzunehmen, noch im August nichtssagend, nein, ablehnend beantwortet hat. Sie wissen doch, daß Ihre Partei Mitte der 70er Jahre — und Sie waren dabei — den Rücktritt des damaligen sozialdemokratischen Bundesministers Matthöfer verlangte, weil er schon damals Pinochet und seine Gefolgsleute eine Mörderbande genannt hat.

    (Beifall bei der SPD sowie den Abg. Kleinert [Marburg] [GRÜNE])

    Da haben Sie gesagt, es sei unerhört, Pinochet so zu beleidigen; er müsse zurücktreten. Sie wissen doch, daß sich Herr Dregger noch 1979 positiv über die Situation in Chile äußerte, von Strauß ganz zu schweigen. Die Bilder sind uns allen doch noch in Erinnerung, wie er neben Pinochet stehend Worte der Würdigung für diese Entwicklung gefunden hat. Sie wissen doch, daß die Bundesregierung mit Ihrer Zustimmung und auf Ihren Vorschlag hin und natürlich auch mit Zustimmung des Herrn Blüm — selbstverständlich — auch jetzt noch erklärt, hinsichtlich der 14 Chilenen bestehe überhaupt kein Handlungsbedarf. Das alles wissen Sie doch. Was soll denn dann all Ihr Reden über die Chilenen? Warum ist denn dann Herr Blüm überhaupt gereist?

    (Zuruf von der SPD: Sommertheater!)

    Was hat er denn erreicht? Warum sagen Sie nicht schlicht und einfach, daß sich Ihre Partei in der Beurteilung des Pinochet-Regimes lange Jahre geirrt hat und diesen Irrtum jetzt korrigieren will?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Und warum sagen Sie nicht, daß sich jetzt ein Teil von Ihnen — Strauß und die CSU nicht; Zimmermann lehnt es ja ausdrücklich ab; er sagt, es sind Tenoristen; die will er hier nicht haben — mit uns und auch mit anderen für diese Verfolgten einsetzt? Das wäre vielleicht nicht spektakulär, aber es wäre redlich, wenn Sie so argumentieren würden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Und warum beschränken Sie sich eigentlich auf Chile? Wo bleibt denn Ihr Aufschrei gegen den Rassismus und die Appartheid in Südafrika?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Oder gegen Folter und Menschenrechtsverletzungen im Iran?

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Und Afghanistan!)

    Wann reist denn Herr Stoltenberg nach Teheran oder Herr Dregger nach Pretoria, um dort die Verantwortlichen an Ort und Stelle zur Rede zu stellen? Die Herren sind doch auch stellvertretende Parteivorsitzende. Oder reist immer gerade der, der aus innenpolitischen
    Gründen einen gewissen Profilierungsbedarf hat? Wonach richtet es sich denn, wer reist?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Außerdem, wenn Ihnen die Sache ein solches Herzensanliegen ist, warum reisen Sie eigentlich nicht selbst, Herr Bundeskanzler? Im Gegensatz zu Ihnen haben wir in diesen Fragen keinen Nachholbedarf. Herr Bundeskanzler, wir nennen Folter Folter und nicht „unfeine Behandlung". Lassen Sie uns das hier deutlich sagen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir haben uns in all diesen Fällen ebenso klar geäußert wie zu den militärischen Interventionen und den Vorgängen in Afghanistan, aber auch in Nicaragua. Aber da liegt auch der Unterschied: Wir engagieren uns in der Sache, und zwar oft genug im stillen, aber Sie wollen Begriffe besetzen, Sie wollen Richtungsstreitigkeiten austragen und innenpolitisches Profil gewinnen. Sie erklären das auch noch ausdrücklich. Herr Geißler sagt es ja, und Herr Blüm etwas leiser.

    (Lintner [CDU/CSU]: Und Sie sind einäugig!)

    Wir wollen, daß Menschen in Not überall in der Welt geholfen wird, soweit das in unseren Kräften steht. Herbert Wehner und Hans-Jürgen Wischnewski haben für diese Art von stiller Hilfe eindrucksvolle Beispiele gegeben. Wir wollen die Taten, und Sie wollen zu oft nur die Worte. Sie suchen sich die Taten danach aus, welche Worte sie für Ihre Zwecke hergeben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordenten der GRÜNEN)

    Wir könnten uns über den desolaten Zustand der Koalition, über den Verfall und die Zerrissenheit der Union freuen. Zerrissenheit ist noch ein milder Ausdruck. Wir könnten es auch mit der Sonthofener Katastrophenphilosophie des Herrn Strauß halten, der bekanntlich — seinerzeit in der Opposition — gesagt hat, alles müsse noch wesentlich tiefer sinken, bis die damalige Opposition Aussicht habe, politisch mit ihren Vorstellungen, Warnungen gehört zu werden. Das ist die Philosophie des Herrn Strauß, nicht unsere. Wir wollen nicht, daß alles immer noch schlechter wird; denn wir wissen, den Preis dafür zahlen nicht Sie, sondern den Preis zahlt unser Volk. Aber unser Volk hat einen Anspruch darauf, gut, aber auch anständig regiert zu werden.

    (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der GRÜNEN)

    Deshalb werden wir zwar fortfahren, Ihr Versagen zu kritisieren und Initiativen zu ergreifen, die aufzeigen, was geschehen könnte und müßte, um Schaden abzuwenden und Nutzen zu mehren. Deshalb sind wir aber auch weiterhin über die Grenzen zwischen Koalition und Opposition hinweg zum gemeinsamen Handeln bereit, wo immer das möglich und sinnvoll erscheint:

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Absolute Heuchelei! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)




    Dr. Vogel
    In der Europapolitik z. B., in der wir Sie schon im Frühjahr zu einer gemeinsamen europäischen Initiative eingeladen haben, oder in konkreten Fragen der Deutschlandpolitik oder in der Reform der Agrarpolitik oder bei konkreten Hilfen für Werften, Stahl und Kohle.
    Im Saarland gibt es beispielsweise doch schon längst eine Kohle- und Stahlfraktion, die alle Mitglieder des dortigen Landtags umfaßt. Warum soll das eigentlich im Bundestag nicht möglich sein?

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP)

    Ich fordere Sie auf, insbesondere die Nordrhein-Westfalen, daß wir eine solche gemeinsame Fraktion zur Rettung dieser Region bilden,

    (Beifall bei der SPD)

    oder bei der Reform der sozialen Sicherheitssysteme oder bei der AIDS-Bekämpfung oder auch dort, wo es um die Wahrung der Menschenrechte geht.
    Bis zu den schlimmen Dingen in diesem Sommer, die ich angesprochen habe, war der Gleichklang der Parteien auf dem Gebiet der Menschenrechte einmal eine Selbstverständlichkeit. Wir sollten zu diesem Zustand zurückkehren. Ich sage es in alle Richtungen: Die Betroffenen, die Verfolgten und die Gefolterten müssen es als quälend empfinden, wenn aus ihrer Haut parteipolitsche Riemen geschnitten werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Ich fordere uns alle auf, in der Frage zur Vernunft zurückzukehren. Profilieren wir uns überall, aber nicht auf diesem Gebiet!
    Ich wiederhole: Wir sind auf diesen und auf anderen Gebieten zum Gespräch und zur Zusammenarbeit bereit. Das gilt insbesondere für die Fragen, in denen sich die Koalitionsparteien gegenseitig blockieren, also etwa wenn es um konkrete Maßnahmen gegen die Massenarbeitslosigkeit oder darum geht, den finanziellen Ruin von Städten und Gemeinden zu verhindern, oder bei der Anti-Folter-Konvention, die, wenn Sie es nur wollen — Sie verlangen es ja draußen dauernd — , noch in der nächsten Sitzungswoche hier beschlossen und ratifiziert werden kann.

    (Beifall bei der SPD, bei Abgeordneten der GRÜNEN und der Abg. Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP])

    Oder bei der Politik gegenüber Südafrika: Daß Herr Blüm aus Profilierungsgründen immer darüber redet, er fährt gegen den Willen des Kanzlers nach Südafrika, oder er fährt doch nicht, das hilft den Menschen überhaupt nicht. Wenn wir uns gemeinsam hier wenigstens auf einige Sanktionen einigen könnten und Sie das vertreten, dann würde das helfen, Herr Bundeskanzler.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Zu einem sind wir allerdings nicht bereit, nämlich beiseitezustehen und stillzuhalten. Deshalb werden wir den Menschen weiterhin die Zusammenhänge erläutern, wir werden sie ermutigen, sich selbst zu Wort zu melden und ihre Interessen mit den vom Grundgesetz — aber auch nur mit diesen — erlaubten Mitteln
    zu vertreten, auch mit dem Mittel der Kundgebung, der Protestversammlung und der friedlichen Demonstration; denn die Wohlfahrt unseres Volkes, die Erhaltung des Friedens, die Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, die Bewahrung unserer rechtsstaatlichen Liberalität, das sind viel zu ernste Fragen, um sie allein einer Koalition zu überlassen, deren Gemeinsamkeit sich mehr und mehr im Streben nach Machterhalt, im Streben nach Erhalt der gegenwärtigen Positionen erschöpft.
    Unser Ziel ist und bleibt die Ablösung dieser Koalition, ist und bleibt die Übernahme der Regierungsverantwortung.

    (Lowack [CDU/CSU]: Da müßt Ihr lange warten!)

    Bis dahin werden wir Sie Woche für Woche und Monat für Monat zur Rechenschaft ziehen, so wie wir das in dieser Woche getan haben und noch tun werden.

    (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [GRÜNE] — Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

    — Sie können noch so fröhlich lachen: Das Lachen wird Ihnen vergehen.

    (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie werden von uns keine Ruhe mehr bekommen. Sie können sich darauf verlassen.

    (Langanhaltender Beifall bei der SPD — Beifall der Abg. Frau Unruh [GRÜNE] — Bohl [CDU/CSU]: Helau! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)