Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alleherzlich zu unserer vorläufig letzten Plenarsitzung vorBeginn der parlamentarischen Sommerpause.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ichzwei Kollegen zu ihren heutigen Geburtstagen gratulie-ren, und zwar der Kollegin Petra Crone zu ihrem65. und dem Kollegen Manfred Grund zu seinem60. Geburtstag.
Das ganze Haus ist in den guten Wünschen für Sie wie-der einmal einträchtig vereint. Das Präsidium schließtsich dem ausdrücklich an. Da kann eigentlich schonnichts mehr schiefgehen.Ich möchte Sie dann darüber informieren, dass sichder Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf ver-ständigt hat, in der Woche der Haushaltsberatungen,die ab dem 8. September dieses Jahres stattfinden, wieüblich keine Befragung der Bundesregierung, keine Fra-gestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzufüh-ren. Als Präsenztage sind die Tage von Montag, dem7. September, bis Freitag, dem 11. September, festgelegtworden. Das ist alles überraschungsfrei.Ich füge – wahrscheinlich auch nur zu Ihrer mäßigenÜberraschung – hinzu, dass keineswegs sicher ist, dasswir uns erst am 8. September dieses Jahres wieder zu ei-ner Sitzung hier versammeln. Ich wiederhole also meinefrühere Empfehlung: Schwimmen Sie nicht zu weit raus.Vielleicht wäre auch zu überlegen, Kurzurlaube in Ber-lin in fußläufiger Entfernung zum Reichstagsgebäude fürdie diesjährige Sommerpause einzuplanen, um für alleEventualitäten gerüstet zu sein.
Dann rufe ich nun die Tagesordnungspunkte 32 a und32 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Verbesserung der Zusam-menarbeit im Bereich des Verfassungs-schutzesDrucksachen 18/4654, 18/5051Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-ausschusses
Drucksache 18/5415
Drucksache 18/5416b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Pau,Jan Korte, Dr. André Hahn, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEWirksame Alternativen zum nachrichten-dienstlich arbeitenden Verfassungsschutzschaffen– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Hans-ChristianStröbele, Irene Mihalic, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENFür eine Zäsur und einen Neustart in derdeutschen SicherheitsarchitekturDrucksachen 18/4682, 18/4690, 18/5415Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt einEntschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Also können wir wohl so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-innenminister Thomas de Maizière das Wort.
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11284 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
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Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieAufdeckung der NSU-Verbrechen vor dreieinhalb Jahrenwar für uns alle ein Schock, war Ergebnis eines kollekti-ven Versagens der Sicherheitsbehörden, auch der Verfas-sungsschutzbehörden, führte zum NSU-Untersuchungs-ausschuss und war der Beginn eines umfassendenReformprozesses der Verfassungsschutzbehörden vonBund und Ländern. Dazu gehört die Binnenreform die-ses Bundesamtes – auch in den Ländern gibt es entspre-chende Bemühungen –, und dazu gehört das Gesetz, daswir heute in zweiter und dritter Lesung beraten und ver-abschieden.Dieses Gesetz ist eine entschlossene Konsequenz ausden Mängeln bei der Aufklärung der NSU-Verbrechenfür den Bereich der Verfassungsschutzbehörden.
– Klar sehen Sie das anders; es hätte mich, ehrlich ge-sagt, auch überrascht, wenn nicht.
Gleichzeitig setzen wir damit die Empfehlung desNSU-Untersuchungsausschusses um, der eine zentraleZusammenführung von Informationen und deren gründ-liche Auswertung einstimmig angemahnt hat. Der Ge-setzentwurf legt den Fokus auf die Zusammenarbeit derVerfassungsschutzbehörden und sorgt für mehr Rechtssi-cherheit beim Einsatz von V-Leuten. Lassen Sie michhier drei wesentliche Komponenten erwähnen.Erstens. Wir stärken das Bundesamt für Verfassungs-schutz als Zentralstelle und den Verbund der Verfas-sungsschutzbehörden. Das Bundesamt erhält einengesetzlichen Koordinierungsauftrag für das Zusammen-wirken der Verfassungsschutzbehörden im Verbund.Diese Koordinierung wird die Abstimmung zwischenden einzelnen Behörden verbessern und deren Zusam-menarbeit effizienter machen. Davon werden auch dieLänder profitieren.Außerdem soll das Bundesamt, wenn es nötig ist,auch bei regionalen gewaltorientierten Phänomenen indie Beobachtung eintreten können – notfalls auch ohneEinvernehmen mit dem betroffenen Land. Diesen Punkthaben wir mit den Ländern streitig diskutiert. Ich hatteübrigens zwischendurch einmal den Eindruck, dass esdazu auch schon Zustimmung gegeben hat, weil wir aufeinen anderen Punkt – eine noch stärkere Koordinierung –verzichtet hatten. Aber nun finden die Länder das immernoch nicht in Ordnung. Ich glaube aber, dass wir bei die-sem Punkt in der Sache richtig liegen.
Das Bundesamt wird in diesen Fällen nur tätig, wennes nach dem Benehmen mit dem Land wirklich nicht an-ders geht. Die Regelung dient der Behandlung von Ein-zelfällen, in denen die sonst gebotenen dringenden Maß-nahmen unterbleiben würden. Mit ihr wird keineLänderzuständigkeit verdrängt, sondern sie dient demflächendeckenden Schutz vor extremistischer Gewalt inDeutschland. Dort, wo in Deutschland verfassungsfeind-liche Ziele gewaltorientiert verfolgt werden, können wiruns keine blinden Flecken der Beobachtung erlauben.
Meine Damen und Herren, eines möchte ich aberauch sagen: Dieses Gesetz fordert und regelt eine guteZusammenarbeit zwischen den Verfassungsschutzbehör-den von Bund und Ländern. Herbeibefehlen mit einemGesetz kann man dies aber nicht. Ich habe von dieserStelle aus schon einmal gesagt: Es gibt einen guten Geistder Zusammenarbeit bei den Polizeibehörden. Der istdort ganz selbstverständlich. Diesen guten Geist der Zu-sammenarbeit gibt es bei den Verfassungsschutzbehör-den so noch nicht. Wir müssen mit diesem Gesetz undmit weiteren Maßnahmen dazu kommen, dass das zu ei-ner Mentalität wird. Die Verfassungsschutzbehörden vonBund und Ländern müssen die Sicherung und denSchutz unserer Verfassung als gemeinsame Aufgabeempfinden. Sie dürfen ihre Informationen nicht wie ih-ren Augapfel hüten und damit die Sicherheit der Bundes-republik Deutschland eher gefährden als schützen.
Zweitens. Wir verbessern mit dem Gesetz den Infor-mationsfluss im Verfassungsschutzverbund und bauenunsere Fähigkeiten bei der Analyse von Informationenaus. Wir ermöglichen und verpflichten zugleich, dasnachrichtendienstliche Informationssystem – abgekürzt:NADIS – im Verfassungsschutzverbund noch mehr alsbislang zu nutzen. Damit erweitern wir den Informa-tionsaustausch zwischen den Verfassungsschutzbehör-den und legen ihn gesetzlich fest.Das NADIS ermöglicht es, länderübergreifende Zu-sammenhänge an einer zentralen Stelle zu analysieren.Statt nur auf isolierte Einzelfälle zu sehen, können wirauf diese Weise verfassungsfeindliche extremistischeStrukturen und Muster besser erkennen. Auch und ge-rade daran hat es bei den Ermittlungen im NSU-Verfah-ren gefehlt. Aus dieser Erfahrung werden nun auch hierdie gesetzlich richtigen Schlüsse gezogen.Neben einem verbesserten Informationsaustauschwollen wir aber auch unser Blickfeld vervollständigen:Bislang wurde NADIS allein zur Aufklärung im Bereichdes Rechtsextremismus genutzt, nicht aber im Bereichzum Beispiel des Salafismus, wo es bislang im soge-nannten legalistischen Bereich ein bloßer Aktennach-weis ist. Diese Lücke werden wir jetzt schließen. Damitvermeiden wir auch dort Informationsinseln und gewin-nen einen besseren Überblick über die Strukturen im Be-reich des islamistischen Extremismus, einschließlich derBezüge und Zusammenhänge zwischen vorgeblichenLegalisten und der gewaltorientierten Szene.In diesem Zusammenhang, Herr AbgeordneterStröbele, würde ich gern eine Anmerkung auf Ihren Zwi-schenruf machen mit Blick auf Datenschutzbedenken.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11285
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Es trifft zu, dass die Datenschutzbeauftragte Bedenkengegen diese Form der Zusammenarbeit vorgetragen hat.
– Ich will ja gerade darauf eingehen. – Ich halte diese Be-denken für unberechtigt. Man kann nicht einerseits wiewir und wie Sie bei den Empfehlungen zum NSU-Unter-suchungsausschuss sagen: „Die Verfassungsschutzbehör-den sollen besser zusammenarbeiten; es kann nicht sein,dass sie sich Informationen gegenseitig vorenthalten“;
und wenn wir das regeln, dann sagen Sie: Das dürfen dieaber nicht, wegen Datenschutzbedenken. – Das passtdoch überhaupt nicht zusammen.
Noch einmal: Wir reden über behördeninterne Be-obachtungen. Alles das, was an Informationen dort aus-getauscht wird innerhalb eines Landes, ist völlig selbst-verständlich.
Da gelten die gleichen Datenschutzregeln. Ich kannnicht erkennen, warum der Datenschutz verletzt seinsoll, wenn zwischen Hamburg und Schleswig-Holsteineine Information intern ausgetauscht wird. Wo soll derUnterschied dazu sein, dass sie innerhalb Hamburgs aus-getauscht wird?
Deswegen glaube ich, dass diese Bedenken unberechtigtsind.Drittens. Wir sorgen – das wird ja auch gleich disku-tiert – jetzt für Klarheit beim Einsatz von V-Leuten. Da-rüber wurde natürlich streitig diskutiert, und wir werdenes gleich wieder tun. Die Nutzung von V-Leuten aus derextremistischen Szene ist und bleibt ein politisch sensib-les Einsatzmittel. Niemand tut das gerne, niemand arbei-tet mit diesen Menschen gerne zusammen, die meistensirgendwie so sind, dass man mit ihnen im normalen Le-ben nicht zusammenarbeiten würde. Für einen Nachrich-tendienst bleiben V-Leute aber ein unverzichtbares Ein-satzmittel. Wir brauchen V-Leute, um an Informationenzu gelangen – wohl wissend, dass diese Leute Nähe zuExtremisten haben.Beim Einsatz von V-Leuten stellen sich, wenn mansie generell für nötig hält, zwei Fragen: Erstens, wer darfangeworben werden? Und zweitens, was dürfen V-Leuteim Einsatz tun und was nicht? Beides werden wir mitdem vorliegenden Gesetzentwurf maßvoll und klar re-geln, und zwar erstmals in einem Gesetz.Zur Frage der Anwerbung sind im parlamentarischenVerfahren Änderungen in den Entwurf aufgenommenworden. Personen mit gewichtigen Vorstrafen dürfen nurangeworben werden, wenn das zur Aufklärung von be-sonders gefährlichen Bestrebungen unerlässlich ist.
Die Regelungen sehen nun außerdem vor, dass in kei-nem denkbaren Fall verurteilte Schwerstkriminelle füreinen Einsatz angeworben werden dürfen.
Diese neu hinzugekommenen Restriktionen ergänzen diebereits bestehenden Ausschlusskriterien wie zum Bei-spiel Minderjährigkeit und machen die Anwerbevoraus-setzungen noch einmal klarer und strenger.Ich halte die Regelungen zur Anwerbung für einegute Lösung. Wenn wir durch eine V-Person für unserLand gefährliche Bestrebungen aufklären können – nurdann ist ihr Einsatz zulässig –, ist es grundsätzlich nichtverantwortlich, hierauf zu verzichten.
Herr Minister, darf der Kollege Ströbele eine Zwi-schenfrage stellen?Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Gerne.
Ich kann Sie beruhigen, Herr Kollege Binninger: Dahabe ich noch mehr zu sagen.Herr Minister, Sie haben gesagt: Bei schwerstenStraftaten dürfen V-Leute nicht weiterbeschäftigt wer-den.
Der Änderungsantrag, dem Sie das entnehmen, beziehtsich ausschließlich auf Tötungsdelikte, und zwar nurMord und Totschlag. Körperverletzung mit Todesfolge,schwerste Erpressung beispielsweise, schwerer Raub,das alles sind nach dem Gesetz, wie Sie es jetzt vorschla-gen, keine Taten, bei denen V-Leute nicht weiterbe-schäftigt werden können – der Präsident oder der Vize-präsident muss lediglich zustimmen. Sagen Sie alsonicht: bei schwersten Straftaten. Schwerste Straftatensind nicht nur Mord und Totschlag. Können Sie sich dasGesetz mal anschauen und mir darauf eine Antwort ge-ben?
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11286 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
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Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Das will ich gerne tun. Aus Zeitgründen habe ich dieeinzelnen Delikte nicht aufgeführt.
Ich will Ihnen aber Folgendes sagen: Nehmen wireinmal an, es gibt einen Rückkehrer aus dem sogenann-ten Dschihad in Syrien, der hierher kommt und bereit ist,über Strukturen der islamistischen Gewaltszene Aussa-gen zu machen, wobei wir nicht genau wissen, was er dagemacht hat. Auch wenn man es nicht gerne macht, halteich es für vertretbar und verantwortbar, die Informatio-nen eines solchen Menschen zum Schutz vor Anschlä-gen in Deutschland zu nutzen. Das halte ich für absolutgeboten und richtig.
Herr Abgeordneter Ströbele, im Übrigen ist dieserGedanke in der Strafverfolgung selbstverständlich.Selbst Kapitalverbrecher können geeignete Kronzeugensein,
wenn sie zuverlässige Informationen bieten, die zur Auf-klärung oder Verhinderung weiterer schwerer Straftatenführen.
Auch das, was ein V-Mann im Einsatz darf und wasnicht, legen wir in diesem Gesetzentwurf erstmalig fest.Hier gilt die klare Regel: Ein V-Mann darf keine anderenPersonen schädigen. Das gilt auch für szenetypischesVerhalten. Eingriffe in Individualrechte sind ausnahms-los verboten.In den anderen Fällen, wenn es also um Gesetze geht,die nicht Individualrechte schützen, muss das Verhaltenfür die Akzeptanz in der aufzuklärenden Szene unerläss-lich und darf keinesfalls unverhältnismäßig sein. Ich willdies an einem praktischen Beispiel deutlich machen: Beider Nutzung von V-Leuten ist eine Vermummung imSchwarzen Block der Versammlung erlaubt, Sachbe-schädigung bleibt verboten.Die strafprozessuale Einstellungsmöglichkeit wirdhiervon im Übrigen weder berührt noch relativiert. DieStrafprozessordnung ermöglicht bereits jetzt eine Ver-fahrenseinstellung bei geringer Schuld und mangelndemStrafverfolgungsinteresse als Ergebnis einer Abwägung.Wir regeln nun wesentlich klarer und erstmals, wo dasbeim Einsatz von V-Leuten der Fall ist und wo nicht.Ich sage unumwunden: Die Regelungen zu V-Leutensind das Ergebnis schwieriger rechtsstaatlicher Abwä-gungsentscheidungen; das ist wohl wahr. Mit diesemGesetzentwurf – insbesondere mit den jetzt aufgenom-menen Änderungen – haben wir eine ausgewogene Lö-sung gefunden, und ich finde, diese Regelungen verdie-nen Unterstützung.
Im parlamentarischen Verfahren wurde außerdemeine Regelung aufgenommen, die die Bundesregierungdazu verpflichtet, einmal im Jahr einen Lagebericht zumEinsatz von V-Leuten im Parlamentarischen Kontroll-gremium vorzulegen. Der Verfassungsschutz wird damitauch beim Einsatz von V-Leuten einer verstärkten struk-turellen Kontrolle durch das Parlament unterliegen, unddas Parlament übernimmt damit ein Stück Mitverant-wortung für den Einsatz von V-Leuten. Darauf wird si-cher auch dann zurückzukommen sein, wenn einmal et-was schiefgegangen ist.
– Ja. Verantwortung gibt es nicht nur an schönen Tagen.
Bedrohungen für die Freiheit und für die Demokratiein unserem Land beginnen nicht erst mit Gewalt und An-schlägen, sondern dort, wo radikale und extremistischeDenkweisen entstehen. Wozu diese Denkweisen führenkönnen, haben wir bei den NSU-Verbrechen erlebenmüssen. Die Anschläge der letzten Wochen in Tunesienund Frankreich haben uns das noch einmal auf schreckli-che Weise vor Augen geführt.Die kritische Debatte über die Organisation undStrukturen der Verfassungsschutzbehörden in unseremLand war und ist richtig und hat zu den ausgewogenenRegelungen geführt, über die wir heute beraten und ent-scheiden. Wir dürfen nicht blind werden gegen Extre-misten. Wir brauchen ein Frühwarnsystem und damit ei-nen modernen und leistungsfähigen Verfassungsschutz –übrigens auch zur Spionageabwehr.
Wir haben die Lehren aus den Defiziten bei der Arbeitunserer Verfassungsschutzbehörden gezogen und entwi-ckeln den gesetzlichen Rahmen dafür mit Maß und Mittefort. Wir brauchen Verfassungsschutzbehörden, die zu-sammenarbeiten und die ihre Strukturen dort, wo es nö-tig ist, immer wieder erneuern. Für diesen Erneuerungs-prozess ist der vorliegende Gesetzentwurf ein wichtigerBaustein. Ich bitte um eine breite Zustimmung.
Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Pau für dieFraktion Die Linke.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11287
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich beobachte derzeit zwei widerstreitendeEntwicklungen. Die erste Entwicklung: Auch die deut-schen Geheimdienste sind zunehmend diskreditiert, undsie haben sich durch ihr Agieren selbst delegitimiert.
Die Ämter für Verfassungsschutz im Zusammenhang mitdem NSU-Nazi-Mord-Desaster agierten im Zentrum desStaatsversagens. Der Bundesnachrichtendienst steht mitden globalen, unsäglichen Spähattacken der NSA imBunde, und das ist genauso inakzeptabel.
Die zweite Entwicklung: Die Bundesregierung schal-tet trotzdem auf Offensive und will beide Geheimdienste– das ist auch Gegenstand des Gesetzentwurfs – weiterausbauen. Der ehemalige Regierungssprecher, Uwe-Karsten Heye, meinte in diesem Zusammenhang einmal:Versager rüstet man nicht auf. – Die Linke findet: Er hatrecht.
Zwischen dem NSU-Desaster und den anhaltendenNSA-Attacken gibt es noch eine weitere Parallele. BeideMale, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie bedingungsloseAufklärung versprochen.
Von Aufklärung kann nach wie vor keine Rede sein, imGegenteil. Sie sollten aufpassen, dass Ihre Kollegen imKabinett Sie nicht in einen Meineid hineinmanövrieren.
Untersuchungsausschüsse im Bund und in Landesparla-menten werden nach wie vor systematisch hingehalten,ausgebremst und ausgetrickst. Deshalb sollte in diesemZusammenhang niemand das Wort „Vertrauen“ strapa-zieren.
Wir entscheiden heute über ein Gesetz. Es betrifft dasBundesamt für Verfassungsschutz und sein Verhältnis zuden Landesämtern. Sie, Herr Innenminister, haben es alslogische Folge aus den NSU-Untersuchungen bezeichnetund gesagt, das sei man den Opfern des Nationalsozialis-tischen Untergrundes schuldig.Wir haben im Innenausschuss zu diesem Gesetzent-wurf Sachverständige angehört. Ich möchte aus der Stel-lungnahme des Sachverständigen Sebastian Scharmerzitieren. Er vertritt als Anwalt beim Münchner NSU-Prozess Opfer der Terrorbande bzw. Angehörige der Op-fer. In seiner Stellungnahme heißt es ausdrücklich: We-der die Familie Kubasik noch weitere Hinterbliebene derMordopfer tragen dieses Gesetz auch nur ansatzweisemit. Ich zitiere:Vielmehr besteht eine nachvollziehbare Empörungdarüber, dass nun auf ihrem Rücken und mit demLeid, was sie gerade auch durch staatliche Behör-den über Jahre hinweg erfahren mussten, in gesetz-licher und finanzieller Hinsicht eine der größtenMachterweiterungen des Bundesamtes für Verfas-sungsschutz begründet werden soll …So weit das Zitat. – Ich finde diese Empörung verständ-lich; denn der Verweis auf angebliche Erwartungen derNSU-Opfer und Hinterbliebenen ist da einfach ungezo-gen.Knapp zusammengefasst zielt das Gesetz auf drei Än-derungen. Erstens sollen die Kompetenzen und die Aus-stattung des Bundesamtes für Verfassungsschutz ausge-weitet werden. Zweitens soll die Werbung und Führungsogenannter Vertrauensleute, kurz V-Leute, klarer gere-gelt werden. Drittens sollen die Befugnisse des BfV zurSammlung, Verknüpfung und Verarbeitung persönlicherDaten erhöht werden. Das alles wird mit zusätzlich17 Millionen Euro jährlich und 260 neuen Planstellen imBundesamt verbunden.
Namens der Fraktion Die Linke sage ich Ihnen: Keineder vorgeschlagenen Änderungen ist eine logische Kon-sequenz aus dem NSU-Desaster, und keine behebt wirk-lich Defizite, die zu diesem Desaster geführt haben.
Deshalb werden wir das Gesetz in der Sache ablehnen.
– Sie müssen gar nicht so aufgeregt sein.Ich will Ihnen unser Nein an zwei Beispielen illustrie-ren. Das erste Beispiel ist die V-Leute-Praxis. V-Leutesind gekaufte Spitzel und bezahlte Täter,
im NSU-Fall verbohrte Nazis mit all ihrer Menschenver-achtung. Rund um das NSU-Nazinetzwerk waren übri-gens rund 40 V-Leute verschiedener Sicherheitsbehör-den aktiv. Ich frage Sie: mit welchem Erfolg?Weder das Leben der NSU-Opfer noch die Verfassungwurden geschützt. Stattdessen wurden diese V-Leute,also Nazis, vor Ermittlungen gewarnt und geschützt.Über üppige Honorare und Sachleistungen für dieseV-Leute wurden Nazinetzwerke obendrein gestärkt undzum Teil erst aufgebaut. Daran ändert auch der vorlie-gende Gesetzentwurf nichts. Er regelt bestenfalls schwarzauf weiß, was bislang im Grauen geschah. Die Linke for-dert deshalb eine andere, eine wirkliche Konsequenz,nämlich das V-Leute-Unwesen der Sicherheitsbehördensofort zu beenden.
Das zweite Beispiel ist der Informations- und Daten-fluss. Alle Informationen der Ämter für Verfassungs-schutz sollen verlässlicher ausgetauscht und letztlich
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Petra Pau
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beim Bundesamt für Verfassungsschutz gebündelt wer-den. So verheißt es der vorliegende Gesetzentwurf. Dasklingt harmlos und sogar vernünftig. Das ist es abernicht. Denn wie das NSU-Desaster gezeigt hat, hatte derVerfassungsschutz sehr wohl Erkenntnisse über den Ver-bleib und die Vorhaben des NSU-Kerntrios. Sie wurdenauch innerhalb des Verfassungsschutzes ausgetauscht.Den Fahndern der Kriminalämter indes wurden sie ver-heimlicht, weil der Schutz der V-Leute mehr zählte alsdie Fahndung nach Räubern und Mördern.Ändert das Gesetz etwas an diesem Prinzip? Nein. Al-tes wird uns hier als etwas Neues verkauft. So etwasnennt man Täuschung.
Das Geheime wird weiter geschützt, und nicht die Ver-fassung. Deshalb bleibt die Linke dabei: Der Verfas-sungsschutz ist als Geheimdienst aufzulösen.
Nun habe ich mehrfach unser Nein begründet. Esstellt sich die Frage: Gibt es Alternativen? Die Regie-rung sagt wie immer Nein, die Opposition natürlich Ja.Ich sage: In diesem Fall ist die Opposition weitaus klü-ger.
Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag, dasRegierungsgesetz zurückzuziehen. Dem stimme ich alsLinke zu. Außerdem listen sie detailliert auf, warum derRegierungsentwurf am eigentlichen Problem vorbeigeht.Auch das teile ich.
Ich will dennoch auf das Grundproblem und damitauf den Antrag der Fraktion Die Linke zurückkommen.Wir sind der festen Überzeugung: Geheimdienste sindFremdkörper in einer Demokratie, zudem unkontrollier-bar und mithin nicht reformierbar.
Deshalb fordert die Linke, übrigens in Übereinstimmungmit dem Grundgesetz, den Verfassungsschutz als Ge-heimdienst aufzulösen. Denn das Grundgesetz schreibtzwar eine Behörde zum Schutz der Verfassung vor, abermitnichten in der Organisationsform eines Nachrichten-dienstes. Auch das muss man wissen.
Deshalb schlagen wir alternativ eine „Koordinie-rungsstelle des Bundes zur Dokumentation neonazisti-scher, rassistischer und antisemitischer Einstelllungenund Bestrebungen sowie sonstiger Erscheinungsformengruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ vor. Kor-respondierend mit ihr soll eine „Bundesstiftung zurBeobachtung, Erforschung und Aufklärung der Er-scheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeind-lichkeit“ eingerichtet werden. Beide Einrichtungen sol-len kompetent, transparent und ohne geheimdienstlicheBefugnisse arbeiten.
Damit würden zugleich Grundrechte wie das Recht aufinformationelle Selbstbestimmung, das Post- und Brief-geheimnis sowie die Meinungsfreiheit verfassungsge-mäß gestärkt.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Eva Högl
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Einen schönen gutenMorgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Ich möchte meine Redemit einem ausdrücklichen Lob beginnen, und zwar miteinem Lob für unsere Sicherheitsbehörden im Bund undin den Ländern.
Sie leisten jeden Tag hervorragende Arbeit, und sie sindim Großen und Ganzen exzellent aufgestellt.
Das gilt für Polizei, Justiz und Verfassungsschutz.
Die Menschen, die in diesen Behörden arbeiten, verhin-dern jeden Tag Straftaten. Sie ermitteln Täter und klärenauf. Täter werden auch verurteilt. Ich finde, es gehört zudieser Debatte auch dazu, dafür ganz herzlich Danke zusagen.
Ja, es gab ein flächendeckendes Versagen. Es gabFehler und Versäumnisse. Ich möchte das noch einmaldarlegen, weil das der Grund ist, warum wir heute Mor-gen diese Debatte über den Reformprozess im Verfas-sungsschutz führen. Der 4. November 2011 stellte eineZäsur für Polizei, Verfassungsschutz und Justiz sowiedie Politik im Bund und in den Ländern dar. Der NSUenttarnte sich in Eisenach, und in den Tagen danach tra-ten nach und nach – wir alle erinnern uns daran – dieVerbindungen zutage. Der ganze Schrecken wurde deut-lich. Wir alle hatten das nicht vermutet: zehn Morde,zwei Sprengstoffanschläge und mehr als ein DutzendBanküberfälle. Fast 14 Jahre lang zog die rechtsextremeTerrorgruppe NSU völlig unerkannt eine Schneise derGewalt und des rassistischen Hasses durch Deutschland.Zu keinem einzigen Zeitpunkt – das ist das Erschre-ckende an dieser Erkenntnis – wurde eine Verbindungzwischen den 1998 in Jena untergetauchten Rechtsextre-misten sowie der Mordserie und den Sprengstoffanschlä-
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Dr. Eva Högl
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gen hergestellt. Das zeigt: Es muss etwas schiefgelaufensein. Sonst wären die Täter gefasst worden und wärendie Taten aufgeklärt worden. Damit hat sich der NSU-Untersuchungsausschuss 20 Monate lang befasst.Wir sind der Frage nachgegangen: Wie konnte daspassieren? Wie konnte es passieren, dass ein rechtsextre-mes Netzwerk mit der Unterstützung Gleichgesinnter inDeutschland 14 Jahre lang unbehelligt lebt und Mordebegeht? Wie konnte es vor allen Dingen passieren, dassdie Sicherheitsbehörden zu keinem einzigen Zeitpunktauf die Spur der Täter kamen? Wir hatten im Untersu-chungsausschuss die Aufgabe – das hat unseren Blickgelenkt –, nach Fehlern, Versäumnissen und Versagen zusuchen und dann Erklärungen dafür zu geben und Vor-schläge zu machen, aus denen hervorgeht, was wir ver-bessern müssen. Wir haben herausgearbeitet, dass essich um das Versäumnis einzelner Personen an ihrem Ar-beitsplatz handelte. Diejenigen, die damit befasst waren,haben nicht gut gearbeitet. Aber was uns hauptsächlichbeschäftigt, sind die systematischen Fehler und das sys-tematische Versagen.Wir befassen uns heute Morgen mit dem Verfassungs-schutz. In diesem Zusammenhang sind drei Themen an-zusprechen, die wir herausgearbeitet, analysiert und imGesetzentwurf aufgegriffen haben. Das Erste ist die feh-lende Zusammenarbeit. Wir haben flächendeckend – vonNord nach Süd, von Ost nach West – festgestellt, dassdie Verfassungsschutzbehörden nicht ausreichend zu-sammengearbeitet haben, und zwar weder zwischen denBundesländern noch untereinander noch zwischen Bundund Ländern und auch nicht innerhalb der Bundesländermit anderen Behörden, insbesondere mit der Polizeinicht, beispielsweise in Bayern und Hessen. Ich nennediese Bundesländer exemplarisch, weil es dort besondersaugenfällig war. Ich gehe so weit, zu sagen: Die rechts-extremen Terroristen haben sich den Föderalismus zu-nutze gemacht. Sie haben genau die Schwäche in der Zu-sammenarbeit ausgenutzt. Das ist ein Kardinalfehler,den wir herausgearbeitet haben.Der zweite Punkt ist – dieser ist genauso erschre-ckend –: Wir mussten feststellen, dass der Verfassungs-schutz überhaupt nicht ausreichend aufgestellt ist, umRechtsextremismus zu analysieren. Der Rechtsextremis-mus wurde verharmlost und bagatellisiert. Von Anfangan wurde die Gefährlichkeit des Rechtsextremismus völ-lig falsch eingeschätzt. Es wurde nicht gesehen, dass derRechtsextremismus eine Gefahr für unsere Demokratieist. Das begann schon 1998 in Jena und setzte sich fort.Ich will ein Beispiel nennen, weil wir genau das bei derReform bedenken müssen. Es gab eine ganz fatale Fehl-einschätzung in den Jahren 2003 und 2004 durch dasBundesamt für Verfassungsschutz. Es hat damals dasTerrortrio zwar erwähnt, aber noch nicht als solches er-kannt. Es hatte also das Terrortrio noch auf dem Schirm.Es kam zu dem Ergebnis: Ja, die drei Rechtsextremistenaus Jena sind abgetaucht. Wir wissen nicht, wo sie sind.Sie sind auf der Flucht, aber sie verüben erkennbar keineGewalttaten und haben bisher noch keine Straftaten be-gangen. – Da hatte das Terrortrio bereits vier Menschenermordet und sieben Überfälle begangen.
Das war eine ganz fatale Fehleinschätzung. Deswegenkam der Untersuchungsausschuss zu dem Ergebnis, dasses hier tatsächlich an der erforderlichen Analysekompe-tenz ganz unbestreitbar mangelte und der Verfassungs-schutz hier versagt hat.Dritter Punkt: die Praxis der V-Leute. Das ist keineinfaches Thema. Das diskutieren wir zu Recht streitig.V-Leute sind keine netten Menschen.
Wir möchten mit ihnen nicht zu Hause auf dem Sofa sit-zen. Wir haben in puncto V-Leute viel herausgearbeitetund Kritik vorgetragen. Ich komme zu dem Ergebnis:Bei den V-Leuten gab es viel Aufwand, viel Geld ist ge-flossen, und wenige Informationen hat es gegeben.
– Ich komme dazu. – Es ist kein einfaches Thema. Ichsage gleich, warum wir trotzdem V-Leute brauchen.
Im NSU-Untersuchungsausschuss haben wir festgestellt,dass Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis standen.Ich nenne drei Beispiele und sage Ihnen gleich, wa-rum diese drei Beispiele mit dem neuen Gesetz nichtmehr möglich wären. „Piatto“, der V-Mann aus Bran-denburg, ein wegen versuchten Mordes zu acht JahrenGefängnis verurteilter Straftäter, wurde aus dem Straf-vollzug heraus vom brandenburgischen Verfassungs-schutz angeworben. Dieser verurteilte Gewaltverbre-cher bekam dann diverse Erleichterungen und wurdeauch vorzeitig aus der Haft entlassen. Ein erschrecken-des Beispiel.Das zweite Beispiel ist Tino Brandt, allen bestens be-kannt, ein vom Thüringer Verfassungsschutz geführterV-Mann. Er hat rund 200 000 D-Mark während seinerZeit als V-Mann als Vergütung für seine Tätigkeit be-kommen. Dieses Geld hat er – so sagt er selbst, und dasist auch nachgewiesen worden – in den „Thüringer Hei-matschutz“ gesteckt und damit den Rechtsextremismusin Thüringen und weit darüber hinaus gestärkt und unter-stützt.
Das dritte Beispiel ist der Fall „Corelli“, der uns hiernoch immer beschäftigt. Auch „Corelli“ ist ein Beispieldafür, wie V-Leute nicht ausgewählt werden dürfen,nicht geführt werden dürfen, nicht eingesetzt werdendürfen. Viel Geld ist geflossen. Er wurde immer tiefer in
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11290 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Dr. Eva Högl
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die rechtsextreme Szene gedrückt und wurde nie zumAusstieg motiviert.Jetzt spreche ich die Kolleginnen und Kollegen vonden Grünen an. Wir sind uns völlig einig in der Analyse.Es gab ein völliges Versagen an dieser Stelle. Es gabmassive Missstände.
Ich zitiere aus Ihrem Antrag: Wir brauchen eine Zäsur,wir brauchen einen Neustart, und wir brauchen einegrundlegende Reform. – Da haben wir hier Einigkeit imDeutschen Bundestag.
– Jetzt bin ich dran.
Wir streiten uns darüber, ob wir die richtigen Konse-quenzen ziehen, und wir sind uneinig – das waren wirschon im NSU-Untersuchungsausschuss – bei der Fragedes Umgangs mit dem Verfassungsschutz. Ich sage: Ja,dieses Gesetz ist ein richtiger und wichtiger Schritt imProzess der Reform des Verfassungsschutzes.
Wir brauchen den Verfassungsschutz, und wir stärkenmit diesem Gesetz den Verfassungsschutz. Ich will Siealle nur ermuntern, einmal einen Blick in den Verfas-sungsschutzbericht 2014 zu werfen, der diese Wochevom Innenminister vorgestellt wurde.
Rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten haben denhöchsten Stand seit 2008 erreicht. Sie sind um 23,6 Pro-zent gestiegen. Wir sind bedroht von Spionageangriffen,sogenannten Cyberangriffen, und von internationalemTerror. Wir haben gerade gestern in der AktuellenStunde darüber diskutiert. Auch gewaltbereiter Links-extremismus macht uns Sorgen.Ich sage Ihnen ganz klar – das geht an die Adresse derLinken und Grünen –: Diese Aufgaben können wir nichtmit einer neuen Inlandsaufklärung erledigen, wie Sievon den Grünen das fordern, oder mit einer Bundesstif-tung oder einer Koordinierungsstelle, wie Sie von denLinken es vorschlagen. Wir brauchen einen starken Ver-fassungsschutz für diese Aufgaben.
Deswegen stärken wir mit diesem Gesetz den Verfas-sungsschutz. Das ist genau der richtige Ansatz, und dasist die richtige Konsequenz aus dem Versagen, das wirim Zusammenhang mit dem NSU aufgedeckt haben. Wirbrauchen eine bessere Zusammenarbeit. Es war der Kar-dinalfehler im Hinblick auf den NSU, dass es keine aus-reichende Zusammenarbeit zwischen Bund und Länderngab; ich habe das dargestellt. Deswegen ist es richtig undwichtig, dass wir jetzt das Bundesamt für Verfassungs-schutz stärken, die Zentralstelle ausbauen und eine bes-sere Zusammenarbeit mit den Landesbehörden organi-sieren. Das ist eine ganz wichtige Konsequenz.Das Zweite ist die Analysekompetenz; da komme ichauf die Bedenken in Sachen Datenschutz zu sprechen.Herr de Maizière hat es eben schon richtig gesagt: Wirhaben bei der Beschäftigung mit dem NSU festgestellt,dass die Informationen nicht richtig ausgewertet wurden,dass nicht genügend Informationen vorlagen und dassdeswegen die Analyse des Rechtsextremismus fehlerhaftund, wie ich eben schon gesagt habe, sogar bagatellisie-rend war. Deswegen bauen wir NADIS aus. Es ist genaudie richtige Konsequenz, NADIS jetzt analysefähig zumachen. Dass wir diese Daten nutzbar machen, ist genaudie richtige Konsequenz aus den Erkenntnissen der Be-schäftigung mit dem NSU.Ich sage Ihnen ganz offen: Ich bin dafür, dass Datenausgetauscht werden können, dass sie dann aber einemhohen Schutz und einer nur eingeschränkten Möglich-keit des Zugriffs durch bestimmte Personen unterliegen.Aber dass die Daten genutzt werden müssen, das halteich für den absolut richtigen Schritt.
Ich komme zu dem sensiblen Thema V-Leute. Ichhabe eben schon angedeutet: Das ist kein einfachesThema. Aber wir haben uns entschieden, und das aus gu-ten Gründen, auf den Einsatz von V-Leuten nicht zu ver-zichten. Ein Einsatz von menschlichen Quellen ist nachwie vor ein wichtiges Instrument der nachrichtendienst-lichen Aufklärung. Diese Quellen sind nicht ohne Weite-res zu ersetzen. Deswegen ist es ein großer Schritt nachvorne, dass wir den Einsatz von V-Leuten aus der Grau-zone herausholen. Wir regeln ihn erstmals klar gesetz-lich.
Wir regeln die Auswahl, wir regeln den Einsatz, wir re-geln die Vergütung und wir regeln die weiteren Rahmen-bedingungen für Vertrauensleute. Außerdem regeln wirdie Befugnisse für verdeckte Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter.Ich will noch einmal ganz klar sagen: Wir legen fest,dass Personen, für die Geld oder Sachzuwendungen aufDauer die Lebensgrundlage darstellen, als V-Leute nichtangeworben werden dürfen.
Ebenfalls nicht angeworben werden dürfen Personen,die an einem Aussteigerprogramm teilnehmen. Dasheißt, der Fall Brandt und der Fall „Corelli“ wären nachVerabschiedung unseres Gesetzentwurfs überhaupt nichtmehr möglich. Das ist ein Riesenschritt nach vorne.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11291
Dr. Eva Högl
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Wir regeln, Herr Ströbele – jetzt hören Sie gut zu –,dass das Anwerben von Personen, die bereits wegen ei-nes Verbrechens oder zu einer Freiheitsstrafe ohne Be-währung verurteilt wurden, künftig nicht mehr möglichist. Das ist in unserem Gesetzentwurf klar geregelt.
Wir schließen kategorisch, ohne Ausnahme, die Ver-pflichtung eines Mörders oder Totschlägers aus. Warummachen wir das? Damit der Fall „Piatto“ mit diesem Ge-setz niemals wieder möglich sein wird.
Wir ziehen unmittelbar die Konsequenzen aus dem, waswir herausgearbeitet haben.
Die Strafbarkeit von V-Leuten ist und bleibt ein sen-sibler Punkt. Wir tun uns damit natürlich nicht leicht.Wir haben in diesem Gesetz erstmals die Strafbarkeitvon V-Leuten geregelt,
weil wir der Auffassung sind, dass wir auch das keinemGraubereich überlassen können, dass auch das ausdrück-lich geregelt werden muss. Darüber, ob das sinnvoll ist,haben wir lange diskutiert. Aber es ist sinnvoll.Wir haben klargestellt, dass es keinen Eingriff in Indi-vidualrechte geben darf – das ist eine ganz wichtige Ein-schränkung – und dass das Begehen einer Straftat selbst-verständlich unerlässlich sein muss zum Erlangen einerInformation. Es geht darum, dass wir eine Verbindunghaben zwischen Qualität der Information und der zur Er-langung der Information begangenen Straftat. Außerdemgibt es eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Ich finde – ichsage das für die SPD-Fraktion –, dass wir damit in einemsensiblen Punkt eine ganz klare und sehr gute Regelunggefunden haben. Ich kann Sie nur ermuntern, dieser Re-gelung zuzustimmen.
Die Reform des Verfassungsschutzes muss weiterge-hen. Wir haben innerhalb der Behörden noch einiges vor.Wir müssen an einigen Punkten noch weiterarbeiten. Wirmüssen etwa die Analysekompetenz des Personals stär-ken; die Herangehensweise an die Arbeit muss verbes-sert werden. Auf unserer Agenda steht vor allen Dingenaußerdem die Stärkung der parlamentarischen Kontrolle.Dazu werden wir in dieser Legislaturperiode noch eini-ges verabschieden. Ich hoffe jedenfalls, dass wir das zu-stande bringen. Aber schon dieser Gesetzentwurf enthältdazu einen wichtigen Punkt: Wir bekommen von derBundesregierung einen Bericht über den Einsatz vonV-Leuten, einen sogenannten Lagebericht.
Das versetzt uns in die Lage, den Verfassungsschutzdeutlich besser zu kontrollieren, als es in der Vergangen-heit der Fall war.
Mein Fazit ist: Es ist ein hervorragender Gesetzent-wurf geworden. Wir stärken den Verfassungsschutz. Wirziehen die Konsequenzen aus dem NSU-Desaster. Ichdenke, dass wir damit ein deutliches Signal an alle sen-den, die von den NSU-Straftaten betroffen waren. Auchwas die Opfer angeht, hoffe ich, dass wir mehr Vertrauenin unseren Rechtsstaat schaffen. Ich freue mich, wennSie dem Gesetzentwurf zustimmen.Vielen Dank.
Hans-Christian Ströbele erhält nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es stimmt ja, dass wir alle hier im Saal – –
Frau Bundeskanzlerin, das muss sich auch anderswoerledigen lassen.
Die interessiert das Thema offenbar wenig.
Aber auch die Frau Bundeskanzlerin hat wie wir alle denOpfern und der deutschen Bevölkerung versprochen,dass wir alles tun wollen, dass so etwas an Mord undVerbrechen, wie es in den Jahren von 1998/99 bis 2011geschehen ist, wovon vor allen Dingen eine Bevölke-rungsgruppe besonders betroffen war, nie wieder pas-siert. Dieses Gesetz, das Sie jetzt hier vorgelegt haben,ist kein Gesetz, das hilft, zu verhindern, dass so etwaswieder passiert.
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11292 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Hans-Christian Ströbele
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Dieses Gesetz leidet unter ganz erheblichen Mängeln.Sie schreiben nur das im Gesetz auf, was schon vorherpraktiziert worden ist und was bei der Verfolgung desNationalsozialistischen Untergrunds so wenig genützthat.Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen: Im Jahr 2006,nach den Morden in Nürnberg und München,
ist vom Landeskriminalamt in Bayern ein Gutachten er-stellt worden, bei dem festgestellt worden ist, dass dieTäter wahrscheinlich im Bereich der rechtsextremisti-schen Gewalttäter zu suchen sind. Die BAO seinerzeit,also die Ermittlungsgruppe in Bayern, hat sich an dasLandesamt für Verfassungsschutz in Bayern gewandtund dieses gebeten, alle Erkenntnisse über die rechteSzene, die möglicherweise Gewaltbereiten, zu liefern.Sie hat als allererste Antwort bekommen: Wir könnenkeine Informationen geben. Dagegen spricht der Quel-lenschutz, und dagegen spricht der Datenschutz. – DasLandesamt hat nichts gegeben. Es sind dann mehrereweitere Versuche unternommen worden, unter anderemvom Vorsitzenden der Polizeibehörde, doch Informatio-nen zu bekommen. Die Ermittlungsgruppe hat mehr alsein halbes Jahr lang gewartet – mehr als ein halbes Jahrlang! –, bis sie in dieser Mordsache Informationen be-kommen hat, und sie hat dann lediglich allgemeine Da-ten über Rechtsextreme in Bayern bekommen, weder In-formationen darüber, was denen vorgeworfen wurde,noch Informationen darüber, wessen sie verdächtig wa-ren, noch weitere Hinweise.Wenn jetzt ein solcher Fall wieder passieren würde,würde sich nach den neuen gesetzlichen Regelungen andieser Lage nichts ändern, weil § 23 des Bundesverfas-sungsschutzgesetzes, das die Übergabe von Informatio-nen vom Verfassungsschutz an die Polizeibehörden– nicht an die Landesämter für Verfassungsschutz, son-dern an die Polizeibehörden – regelt, völlig unverändertgeblieben ist. Darin steht: Die Verfassungsschutzbehör-den können Informationen geben; aber wenn angenom-men wird, dass überwiegende Sicherheitsinteressen da-gegenstehen, dann brauchen sie keine Informationen zugeben. – Das heißt, selbst in solchen Fällen, in denen esum Mord und Totschlag geht, sind sie nicht verpflichtet,ihre Informationen, die bei der Aufklärung von Mordenhelfen könnten, weiterzugeben. Ein solches Gesetz kön-nen Sie nicht verteidigen, Herr Binninger.
Sie waren selber in der Anhörung dabei, als Sachver-ständige gesagt haben: Diese Regelung des § 23 Bundes-verfassungsschutzgesetz ist nicht nur völlig untauglich,sondern verfassungswidrig. – Nachdem Sie Kontakt mitder Kollegin Högl aufgenommen hatten, haben Sie ange-kündigt, dass man da etwas ändern wolle. Ich habe dannin Ihren Änderungsantrag hineingeguckt und habe dazunichts gefunden.
– Nein, zu § 23 steht darin nichts.
Ich sage Ihnen: Mit Blick auf die vielen Fälle, in denender Verfassungsschutz versagt hat, wird durch die neuengesetzlichen Regelungen keine Abhilfe geschaffen.Nun komme ich zu der V-Leute-Problematik. Es ist jahier mehrfach darauf hingewiesen worden, dass V-Leuteeine ganz besondere Rolle spielen. V-Leute im rechts-extremen Bereich bleiben Rechtsextreme!
Rassisten und Neonazis bleiben Rassisten und Neonazis.Die Erfahrung zeigt – gerade auch die Erfahrung diesesUntersuchungsausschusses –, dass sie vieles melden undsich immer Neues einfallen lassen, weil sie ja danach be-zahlt werden, wie viel sie melden, wie hoch das Mel-deaufkommen ist. Aber was sie nie, in keinem einzigenFall, getan haben, das war, ihre Informationen über „Ka-meraden“ weiterzugeben, sodass die hätten erwischtwerden können. Bei einzelnen V-Leuten bezog sich dassogar auf das NSU-Trio im Untergrund. Diese V-Leute– das wissen Sie auch, Frau Högl; das haben wir heraus-gefunden – verfügten über Informationen. Sie haben zuBeginn sogar dabei geholfen, dieses NSU-Trio in Sach-sen unterzubringen. Sie waren bei der Wohnungsbe-schaffung dabei. Das heißt, sie haben nicht nur ihreLeute nicht verraten, sondern sie haben sogar die gefähr-lichen Leute im Untergrund unterstützt. Und daran wirdsich in Zukunft nichts ändern.Anstatt zunächst eine Evaluierung durchzuführen, obder Einsatz von Verfassungsschutz-V-Leuten mehr Nut-zen als Schaden erbracht hat, sagen Sie, dass die V-Leuteauf jeden Fall weiter benötigt werden. Ich sage Ihnen:Wenn Sie eine solche Analyse gemacht hätten, hätten Siefestgestellt, dass diese V-Leute mehr Schaden angerich-tet haben und weniger der Aufdeckung der Straftaten desNSU-Trios sowie der Strafverfolgung genutzt haben.
Jetzt komme ich zu den einzelnen Regelungen desGesetzentwurfs zu den V-Leuten. Dort findet sich tat-sächlich die Regelung, dass sie ihren Lebensunterhaltnicht allein durch den Lohn des Staates bestreiten dür-fen.
Nun frage ich mal ganz zynisch, Herr Binninger: Wofürsollen die denn das Geld ausgeben, wenn nicht für ihrenLebensunterhalt? Sollen sie, was Tino Brandt immerwieder bekannt hat, davon die Bewegung, wie die dasnennen, unterstützen? Sollen die Rechtsextremen davonzum Beispiel den Aufbau des „Thüringer Heimatschut-zes“ finanzieren, wie Tino Brandt es gemacht hat? Dazusteht dort nichts drin. Was machen die mit den Hundert-tausenden, die sie zum Teil bekommen haben?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11293
Hans-Christian Ströbele
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Was ist Ihre Auffassung dazu? Sie dürfen den nicht auf-bauen, aber sie dürfen den unterstützen. Wo ist da dieGrenze? Das ist eine völlig unzulängliche Regelung.
Das Gleiche gilt für die Regelung, die hier mehrfachdiskutiert worden ist, worüber wir auch schon in anderenSitzungen beraten haben: Wenn V-Leute beschäftigtwerden und sie während ihrer Beschäftigung erheblicheStraftaten begehen, sollen sie grundsätzlich abgeschaltetwerden. Allerdings können der Präsident und der Vize-präsident Ausnahmen davon zulassen. Zunächst gab esim Gesetzentwurf Ausnahmen ohne jede Grenze nachoben. Jetzt haben Sie in den Gesetzentwurf geschrieben,dass Straftaten gemäß § 212 und § 213 des Strafgesetz-buches davon ausgenommen sind. Aber Sie dürfen – dashabe ich ja schon vorhin gesagt – beispielsweise eineKörperverletzung mit Todesfolge, einen schweren Raub,eine schwere Erpressung, eine Entführung, Sexualde-likte begangen haben.
Tino Brandt, der zurzeit wegen anderer Sachen im Ge-fängnis sitzt, könnte also theoretisch weiterbeschäftigtwerden, wenn er noch beschäftigt würde.
– Auch dann, wenn eine allein mit lebenslanger Haft be-drohte Straftat erfolgt ist, darf eine Ausnahme gemachtwerden.
Nach oben ist also keine ausreichende Grenze gesetzt.Das kann nicht funktionieren, und das kann auch nichtrechtsstaatlich sein.
Nun komme ich zu dem Argument, dass jetzt der Da-tenaustausch unter den Verfassungsschutzbehörden ge-regelt ist. Der entscheidende Fehler – ich kann IhnenHessen nennen, ich kann Ihnen Nordrhein-Westfalennennen – war doch, dass die Verfassungsschutzbehördenkeine Informationen an die Strafverfolgungsbehörden,an die Polizei und an die Staatsanwaltschaft, weitergege-ben haben,
dass sie nicht einmal die Befragung von Zeugen, etwaaus dem hessischen Verfassungsschutz, zugelassen ha-ben, dass sie nicht einmal die Befragung von V-Leutendurch die Strafermittlungsbehörden zugelassen haben.
Nein, wir bräuchten eine eindeutige Regelung, nachder immer dann, wenn schwerste Delikte aufzuklärensind, das Strafverfahren Vorrang hat und allein maßgeb-lich ist und alle Informationen, die der Verfassungsschutzhat, den Strafverfolgungsbehörden selbstverständlich zu-geleitet werden. Eine solche Vorschrift müsste in § 23des Bundesverfassungsschutzgesetzes eingebaut wer-den.
Wir lehnen dieses Gesetz ab, weil leider weder Sienoch wir die Bevölkerung – schon gar nicht den beson-ders betroffenen Teil der Bevölkerung – damit beruhigenkönnen nach dem Motto „Jetzt sind wir auf einem gutenWeg“. Nein, das sind wir nicht.
Herr Kollege.
Wir brauchen völlig neue gedankliche Ansätze. Ich
fordere von Ihnen, das fortzusetzen, was wir im Untersu-
chungsausschuss praktiziert haben:
dass Sie sich mit uns zusammensetzen, Dinge durchden-
ken und mit uns diskutieren, Alternativen zu einer sol-
chen Art von Verfassungsschutz entwickeln, wie wir sie
in unserem Entschließungsantrag angedeutet haben.
Stephan Mayer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen! Sehr geehrte Kollegen! Mit dem Gesetz zur Verbes-serung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungs-schutzes setzen wir die wesentlichen Empfehlungen desNSU-Untersuchungsausschusses eins zu eins um.
Ich möchte zu Beginn deutlich machen, dass wir dieim Rahmen der Aufdeckung der schrecklichen NSU-Morde zutage getretenen Mängel in unserer Sicherheits-architektur sehr ernst nehmen und daraus die erforderli-chen Konsequenzen ziehen. Das gilt sowohl für den Jus-tiz- als auch für den Polizeibereich, aber eben auch fürden Bereich der Nachrichtendienste.
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11294 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Stephan Mayer
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Ich möchte mich, sehr verehrte Frau Kollegin Pau, inaller Deutlichkeit gegen Ihre Pauschalverurteilung derNachrichtendienste verwahren.
Wenn Sie hier mit dem Begriff „Versager“ inflationärumgehen und behaupten, dass die Nachrichtendienstegenerell Versager wären, dann müssen Sie zur Kenntnisnehmen: Es waren die Versager des Bundesnachrichten-dienstes und des Militärischen Abschirmdienstes, diemit dazu beigetragen haben, dass seit 2011 19 geplanteAnschläge auf Bundeswehrsoldaten in Afghanistan ver-hindert werden konnten.
Es waren die Versager des Verfassungsschutzes, die2007 mit dazu beigetragen haben, dass die sogenannteSauerland-Gruppe rechtzeitig zur Strecke gebracht undihr Vorhaben aufgedeckt werden konnte. Es waren bei-spielsweise auch die Versager des Verfassungsschutzes,die mit dazu beigetragen haben, dass das Terrorduo vonOberursel, das einen ganz konkreten Anschlag auf einRadrennen in Frankfurt-Eschborn am 1. Mai dieses Jah-res geplant hatte, rechtzeitig zur Strecke gebracht wer-den konnte. All dies waren die Versager des Verfas-sungsschutzes und der Nachrichtendienste.Es sind Fehler passiert, keine Frage.
Es gab erhebliche Fehler der Nachrichtendienste.
Aber die einzigen auf unserer Welt, die keine Fehler ma-chen, sind die Vertreter der Opposition. Die Kolleginnenund Kollegen der Oppositionsfraktionen sind komplettfehlerlos. Ich muss schon sagen – das möchte ich auchsehr ernsthaft betonen –: Wenn wir nicht gut funktionie-rende, motivierte Mitarbeiter bei den Nachrichtendiens-ten hätten, dann hätte es in den letzten zehn Jahren meh-rere Anschläge in Deutschland gegeben, die mit Opfernverbunden gewesen wären. Dies gehört mit zur Wahrheitdazu.
Es hat sich, auch was die Bekämpfung des Rechts-extremismus und des Rechtsterrorismus anbelangt, inden letzten Jahren viel verändert und auch viel verbes-sert, sowohl in der innerbehördlichen Organisation, ins-besondere im Bundesamt für Verfassungsschutz, aberauch in der Zusammenarbeit der Behörden untereinan-der. Ich möchte exemplarisch das Gemeinsame Abwehr-zentrum gegen Rechtsextremismus nennen. Dies istzweifelsohne ein unverzichtbares Kommunikations- undKooperationsinstrument, eine ganz wichtige Plattformfür den Informationsaustausch zwischen den verschiede-nen Sicherheitsbehörden.Wir haben darüber hinaus den Bereich der Justiz ge-stärkt, als wir vor einigen Monaten den Generalbundesan-walt legislativ deutlich aufgewertet haben. Wir werdenmit diesem Gesetz das Bundesamt für Verfassungsschutzbezüglich seiner Zentralstellenfunktion qualitativ erheb-lich stärken. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wirdin Zukunft eine stärkere koordinierende Rolle im Verfas-sungsschutzverbund einnehmen. Ich möchte kein Ge-heimnis daraus machen und in aller Offenheit sagen,dass wir uns durchaus noch mehr hätten vorstellen kön-nen, was die koordinierende Funktion des Bundesamtesfür Verfassungsschutz angeht. Aber – dies ist schon er-wähnt worden –, es gab einen langen, einen sehr intensi-ven Diskussionsprozess mit den Ländern. Der jetzt vor-liegende Gesetzentwurf ist meines Erachtens ein sehrordentliches und sehr tragbares Ergebnis. Ich möchteaber noch einmal darauf hinweisen, dass wir uns bezüg-lich der Stärkung des BfV noch mehr hätten vorstellenkönnen.Wichtig ist aber, dass es mit diesem Gesetz in Zukunftermöglicht wird, dass das Bundesamt für Verfassungs-schutz bei gewaltorientierten Bestrebungen oder gewalt-bereiten Organisationen in den Ländern im Einzelfallauch im Benehmen mit den Ländern tätig wird. Dies sollnicht die Regel sein, um es klar zu sagen. Die Regel wirdsein, dass versucht wird, das Einvernehmen mit den Län-dern herzustellen. Es wird auch in keiner Weise diegenerelle Länderzuständigkeit verdrängt. Aber die Re-gelung, die jetzt geschaffen wird, sieht eine Auffang-funktion für den Fall vor, dass die Länder entweder nichttätig werden wollen oder nicht tätig werden können,wenn es um die Observation von regionalbezogenen ge-waltorientierten Bestrebungen geht. Es ist mir auch sehrwichtig: Wir können uns keine blinden Flecken leisten,wenn es um die Überwachung von gewaltorientiertenBestrebungen geht.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirverbessern darüber hinaus den Datenaustausch zwischenBund und Ländern. Das sollte an sich eine Selbstver-ständlichkeit sein. Aber wie der NSU-Untersuchungs-ausschuss zutage gefördert hat, ist das leider nicht immerso gewesen. Ich möchte auch betonen: Es wird aus mei-ner Sicht in der einen oder anderen Behörde notwendigsein und auch bei dem einen oder anderen Mitarbeiter er-forderlich sein, einen Mentalitätswechsel hervorzurufen.Es wird in Zukunft nicht mehr möglich sein, dass Herr-schaftswissen nur für die eigene Behörde behalten wird.Man wird intensiver miteinander reden müssen, und manwird sich auch intensiver miteinander austauschen müs-sen. Das ist unverzichtbar.Wir regeln darüber hinaus NADIS neu, das Informa-tionssystem des Verfassungsschutzverbundes. Auch hiermöchte ich in aller Deutlichkeit betonen: Ein Verfas-sungsschutz ohne ein vernünftiges und modernes Infor-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11295
Stephan Mayer
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mationssystem macht keinen Sinn. Wir berücksichtigenbei dieser Neuregelung zum einen datenschutzrechtlicheBelange, dass zum Beispiel die Befugnis derer, die aufdie Daten zugreifen können, deutlich begrenzt wird, undführen zum anderen eine umfangreiche Protokollie-rungspflicht ein. Es muss im Einzelfall also immer klarprotokolliert werden, welcher Mitarbeiter auf welche In-formation zugreift. Darüber hinaus wird die bislangnicht nachvollziehbare Ausklammerung bestimmterPhänomenbereiche aufgehoben.Ein weiterer sehr wichtiger Punkt ist die Neuregelungdes Einsatzes von V-Leuten. Auch hier möchte ich zurSachverhaltsaufklärung, sehr geehrter Herr Ströbele,beitragen. Es gibt zwei unterschiedliche Tatbestände.Zum einen die Fragestellung: Wer kommt grundsätzlichfür die Arbeit als V-Mann in Betracht? Die andere Frageist: Was darf ein V-Mann im Einsatz?Zum Ersten. Wir schaffen erstmals – das ist ein Para-digmenwechsel – eine gesetzliche Regelung für die Aus-wahl der V-Leute. Bisher war das nur auf der Ebene vonVerwaltungsvorschriften geregelt. Jetzt wird erstmalsgesetzlich festgelegt und auch mit Grenzen verbunden,wer als V-Mann überhaupt in Betracht kommt. Es gibtklare Ausschlusskriterien: Parlamentarier, Minderjäh-rige, Personen, die sich in Aussteigerprogrammen befin-den, und Personen, die auf Dauer durch die Vergütung,die sie als V-Mann erhalten, ihren Lebensunterhalt be-streiten, kommen nicht in Betracht. Um dies klar dazu zusagen: Die Alternative wäre gewesen, dass wir auf denEinsatz von V-Leuten komplett verzichten, wie dies bei-spielsweise die rot-rote Koalition in Thüringen möchte.Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Das wäre ein fa-tales Ergebnis. Wenn wir in bestimmte extremistischeOrganisationen rein wollen, um Informationen zu erhal-ten, dann ist der Einsatz von V-Leuten unverzichtbar.Wenn man es so macht, wie es Thüringen jetzt beabsich-tigt, dann würde dies – um dies klar zu sagen – das Endedes Verfassungsschutzverbundes bedeuten. Der Verfas-sungsschutzverbund kann nur funktionieren, wenn sichsowohl der Bund als auch alle 16 Länder daran beteili-gen, wenn Informationen von allen beigesteuert werdenund dann auch alle davon profitieren. Das Land Thürin-gen nimmt da eine isolierte Position ein und sieht eineRegelung vor, die der Funktionsfähigkeit des Verfas-sungsschutzverbundes diametral entgegengesetzt ist.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, da-rüber hinaus gibt es klare Regelungen, was den Aus-schluss bestimmter Personen anbelangt, die ansonstenmöglicherweise als V-Männer in Betracht kämen. Wersich gewichtige Vorstrafen zu Schulden hat kommen las-sen, also Verbrechen begangen hat, oder wer zu einerFreiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, kommtals V-Mann nicht in Betracht. Es gibt nur ganz wenigeAusnahmemöglichkeiten: wenn der Einsatz für die Auf-klärung von besonders gefährlichen Bestrebungen uner-lässlich ist und – das ist auch sehr wichtig – wenn sicher-gestellt ist, dass durch den Einsatz des V-Manns wirklichqualitativ hochwertige Informationen gewonnen werden.
Das ist aus meiner Sicht ein erheblicher Fortschritt, dermit dem neuen Gesetz erreicht wird: Es werden qualita-tive Anforderungen an die Person des V-Manns gestellt.Er sollte nicht nur möglichst unbescholten sein, sondernmuss auch durch seinen Einsatz wirklich werthaltige In-formationen zutage fördern. Auch dies ist ein erhebli-cher Fortschritt, der mit diesem Gesetz einhergeht.Es gibt darüber hinaus einen Totalausschluss vonSchwerstkriminellen – es ist schon erwähnt worden –:Wenn sich jemand einen Mord, einen Totschlag odereine andere zwingend mit Freiheitsstrafe bedrohte Straf-tat zu Schulden hat kommen lassen, kommt er katego-risch nicht als V-Mann in Betracht.Ich habe, sehr geehrter Herr Kollege Ströbele, in derersten Lesung dieses Gesetzes erwähnt, dass es mir sehrwichtig ist und es mir enorm darauf ankommt, dass einFall „Piatto“ nach der neuen Rechtslage nicht mehr mög-lich ist. Auch hier kann man ganz klar rückmelden: Wirhaben Wort gehalten.
Der Fall „Piatto“ wäre nach der neuen Rechtslage nichtmehr möglich. Ich glaube, auch das ist ein erheblicherFortschritt, der in diesem Gesetz liegt.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichglaube aber auch, dass man dieses Gesetz nicht nur imLichte der schrecklichen Erkenntnisse aus dem NSU-Untersuchungsausschuss sehen darf, sondern man esauch progressiv im Lichte der aktuellen Bedrohungs-situation sehen muss. Da möchte auch ich auf den Ver-fassungsschutzbericht Bezug nehmen, den unser Bun-desinnenminister am vergangenen Dienstag vorgestellthat. Es wird doch keiner von uns behaupten wollen, dassdie Welt sicherer geworden ist. Die Welt droht an vielenEcken und Enden aus den Fugen zu geraten. Die Aus-wirkungen sind sehr schnell mittelbar oder unmittelbarauch in Deutschland spürbar. Der Extremismus nimmt inallen Bereichen zu, sowohl rechts als auch links als auchim Bereich des Islamismus. Deswegen brauchen wir ei-nen leistungsfähigen, einen qualitativ hochwertigen Ver-fassungsschutz. Dieser ist zur Bewahrung unserer frei-heitlich-demokratischen Grundordnung und für einewehrhafte Demokratie unerlässlich.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zusatzfrage des Kolle-
gen von Notz zu?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, HerrMayer. Sie haben den dramatischen Anstieg der Zahl der
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11296 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Dr. Konstantin von Notz
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Straftaten im rechtsextremistischen Bereich eben beschrie-ben. Während die Möglichkeit zum Einsatz von V-Leutenin den letzten Jahren voll bestand, ist diese Entwicklungzu verzeichnen gewesen. Jetzt erklären Sie mir mal, wiesich die Ihrer Meinung nach erfolgreiche V-Mann-Arbeitder letzten Jahre, die ja ganz unreguliert erfolgen konnte,da positiv ausgewirkt hat!Herr Mayer, finden Sie es wirklich richtig, dass Men-schen, die in Syrien gefoltert haben und hier nachDeutschland kommen, oder Nazis, die Brandstiftungenbegangen haben, über Jahre und Jahre hinweg staatlichdafür alimentiert werden können, irgendwelche Informa-tionen durchzustecken, an den Staat weiterzugeben?Kann das rechtsstaatlich sein?
Sehr geehrter Herr Kollege von Notz, ich antworte
sehr gerne auf die beiden Fragen, die Sie mir gestellt ha-
ben.
Zur ersten Frage. Natürlich ist mit Besorgnis festzu-
stellen, dass die Zahl der Gewalttaten im Bereich des
Rechtsextremismus in Deutschland deutlich zugenom-
men hat. Aber es wäre natürlich perfide, jetzt so zu argu-
mentieren, wie Sie es machen, und zu sagen: Na ja, ihr
hattet ja bisher schon die Möglichkeit, V-Leute zum Ein-
satz zu bringen,
und trotzdem gibt es diese Gewalttaten. – Ich könnte an-
dersherum fragen: Was wäre der Fall, wenn es überhaupt
keine Möglichkeit des Einsatzes von V-Leuten im Be-
reich rechtsextremistischer Organisationen gäbe? Viel-
leicht wären dann die Gewalttaten noch weitaus größer.
Auch dies ist eine Hypothese, die man durchaus aufstel-
len kann.
Ich glaube, man kann es sich nicht so einfach machen
wie Sie, Herr Kollege von Notz, indem Sie sagen: Na ja,
es gibt hier eine deutliche Zunahme gewaltorientierter
Bestrebungen im Bereich des Rechtsextremismus, auch
mehr Gewalttaten, und dies zeigt ganz klar, dass der Ein-
satz von V-Leuten obsolet und untauglich ist.
Meines Erachtens – und das möchte ich deutlich un-
terstreichen – gibt es verschiedenste extremistische Be-
strebungen sowohl im Bereich des Islamismus als auch
im Bereich des Rechtsextremismus. Da kommt man mit
herkömmlichen Aufklärungsinstrumenten nicht zurecht.
Im Einzelfall ist der Einsatz von V-Leuten – das sind, zu-
gegebenermaßen, keine angenehmen Zeitgenossen – un-
verzichtbar.
Ich möchte noch einmal betonen: Mit diesem neuen
Gesetz werden die Qualität der Auswahl der V-Leute
und auch die Kontrolle ihrer Tätigkeit deutlich verbes-
sert. Mit diesem neuen Gesetz gehen wir einen großen
Schritt nach vorne, besonders was den Einsatz von V-Leu-
ten anbelangt.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, Herr Kollege von Notz.
Sie haben das Thema „Syrienrückkehrer“ angesprochen.
Sie haben gefragt: Was ist mit einem Dschihadisten oder
mit jemandem aus dem rechtsextremistischen Bereich,
der sich der Brandstiftung schuldig gemacht hat? Um es
noch einmal klar zu sagen: Wer eine schwere Straftat be-
gangen hat, die mit einer Freiheitsstrafe verbunden war,
die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde – und das ist
bei Brandstiftungsdelikten üblicherweise der Fall –, der
kommt kategorisch nicht als V-Mann in Betracht.
Eine Ausnahme wird nur im Einzelfall gemacht, und
zwar dann, wenn er zum einen werthaltige Informatio-
nen liefern kann – hier muss der Behördenleiter persön-
lich zustimmen – und zum anderen – das ist die zweite
Voraussetzung –, wenn sein Einsatz zur Aufklärung ex-
tremistischer Bestrebungen unerlässlich ist.
Beide Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein,
damit Ihr erwähnter Brandstifter im Einzelfall, als abso-
lute Ausnahme, als V-Mann überhaupt eingesetzt wer-
den kann.
Ich muss wirklich sagen: Ihre Vorwürfe und Zweifel ge-
hen völlig ins Leere.
Mit diesem Gesetz zur Stärkung unseres Verfassungs-
schutzes gehen wir einen erfreulichen Schritt nach
vorne. Ich darf Sie deshalb dringend um Zustimmung
bitten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Uli
Grötsch das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorein paar Wochen habe ich an gleicher Stelle gesagt, dass
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11297
Uli Grötsch
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ich fest davon überzeugt bin, dass wir das Bundesamt fürVerfassungsschutz brauchen. Genauso deutlich habe ichgesagt, dass eine Reform dringend notwendig ist. Auchjetzt nach der öffentlichen Anhörung des Innenausschus-ses, nach der öffentlichen Debatte der letzten Wochenund nach den Gesprächen mit zahlreichen Interessenver-tretern hat sich an meiner Meinung nichts geändert.
Im Gegenteil: Die Bewertungen der meisten Sachver-ständigen haben uns gezeigt, dass das BfV nicht abge-schafft, sondern dass dessen Befugnisse und rechtlicheGrundlagen an die neuen Herausforderungen angepasstwerden müssen. Insbesondere die Ergebnisse aus demNSU-Untersuchungsausschuss waren ausschlaggebendfür diese Bewertung.In einigen Punkten gab es natürlich auch Kritik amvorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserungder Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschut-zes. Ich glaube aber, dass wir diese Kritikpunkte gut inunseren Änderungsantrag integriert haben. Herr KollegeStröbele, Sie haben es inzwischen sicher schon gefun-den:
Derwill das nicht finden!)Die von Ihnen angesprochene Kritik an § 23 des Gesetz-entwurfs befindet sich auf Seite 4, zweiter Absatz desÄnderungsantrags;
nach unserer Lesart jedenfalls.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in inten-siven Gesprächen mit den Kollegen unseres Koalitions-partners den Gesetzentwurf an einigen, meiner Meinungnach wesentlichen Punkten nachgebessert.
Mir war dabei ganz besonders wichtig, dass der Einsatzund die Auswahl der vom BfV eingesetzten Vertrauens-leute einer strikten Kontrolle unterliegen, und damitmeine ich nicht die Kontrolle durch die Fachaufsicht,sondern ausdrücklich die parlamentarische Kontrolle.Als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiumsbegrüße ich es ausdrücklich, dass die Bundesregierungin Zukunft eine gesetzliche Berichtspflicht gegenüberdem Gremium hat. Ich meine, das war längst überfällig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Abgeord-nete nehmen unsere Aufgabe als parlamentarische Kon-trolleure ernst. Wir erwarten eine entsprechende Koope-ration vonseiten der Bundesregierung, wenn es darumgeht, deutsche – und ich füge ganz bewusst hinzu – undeuropäische Interessen zu schützen.Ich erhoffe mir und erwarte von der neuen Regelungzur Berichtspflicht, dass die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter beim Bundesamt für Verfassungsschutz zukünftigangehalten sind, bei der Auswahl der V-Leute noch ge-nauer hinzuschauen. Außerdem gehe ich davon aus, dasssie vor allem auf die Qualität der Informationen achtenwerden und nicht eine Vielzahl von unverwertbaren Do-kumenten, Bildern und Dateien sammeln, wie das in derVergangenheit der Fall war. Schließlich wissen sie nun,dass sie Rechenschaft vor dem Parlament ablegen müs-sen. Sie werden daher im eigenen Interesse die neu auf-gestellten Kriterien zum Einsatz von V-Leuten einhalten.Ich glaube auch, dass der Einsatz von V-Leuten in Zu-kunft wohl zurückgehen wird,
ganz bestimmt nicht, weil dafür keine Notwendigkeitmehr besteht, sondern weil das Ermittlungsinstrumentdes Einsatzes von V-Personen nicht das Allheilmittel fürdie Aufklärung terroristischer Strukturen in Deutschlandist. Es ist nur ein Ermittlungsinstrument unter vielen,wenn auch ein höchst sensibles, weil die Sicherheitsbe-hörden mit Menschen zusammenarbeiten müssen, dieunseren Staat im Grunde ablehnen. Das ist an sich schonschrecklich genug, aber ihr Einsatz ist aus den schon be-schriebenen Gründen und Umständen wichtig und erfor-derlich.
Was aus unserer Sicht aber auf keinen Fall stattfindendarf, ist die Zusammenarbeit mit Verbrechern. DieserGesetzentwurf regelt das. Dieser Gesetzentwurf siehtvor, dass die Anwerbung von V-Personen, die sich desMordes oder des Totschlags strafbar gemacht haben,künftig nicht mehr möglich ist. Hier haben wir eine ganzklare Grenze gezogen.
Ich möchte an dieser Stelle die gute Zusammenarbeitmit dem Bundesinnenministerium loben. Ich habe dieGespräche als konstruktiv und zielführend empfunden.Die Ankündigung von Bundesinnenminister de Maizièrein der ersten Lesung des Gesetzentwurfs, dass er für Än-derungsvorschläge offen ist, hat, wie ich finde, dazu ge-führt, dass wir ein wirklich gutes Ergebnis gefunden ha-ben.Was den NSU-Untersuchungsausschuss in der letztenWahlperiode stark gemacht hat, das hat bei den Beratun-gen des heute zur Abstimmung stehenden Gesetzes auch
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Uli Grötsch
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die Mehrheit des Parlaments stark gemacht: der gemein-same Wille, das gemeinsame Arbeiten an der Umsetzungder Handlungsempfehlungen des NSU-Untersuchungs-ausschusses und jetzt der gemeinsame Weg hin zu einemGesetz, das sich sehen lassen kann und dafür sorgenwird, dass die Missstände, die in der Vergangenheit vor-geherrscht haben, in der Zukunft nicht mehr möglichsein werden. Das ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber,und dieser Aufgabe sind wir mit diesem Gesetzentwurfgerecht geworden.
Auch ich will, wie mein Vorredner, gegen Ende mei-ner Redezeit eine Lanze für das Bundesamt für Verfas-sungsschutz brechen: Es greift zu kurz, alle Verantwor-tung beim Bundesamt für Verfassungsschutz abzuladenund es sozusagen zur Strafe gleich abzuschaffen. LiebeKolleginnen und Kollegen von der Opposition, in IhrenAnträgen fordern Sie genau das, meiner Meinung nachvöllig zu Unrecht. Das BfV ist eine zentrale Säule in derSicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland.Das Bundesamt für Verfassungsschutz beschützt dieMenschen in Deutschland vor den Gefahren einer Welt,die sich auch hinsichtlich terroristischer Bedrohungen soschnell und drastisch entwickelt, dass Außenstehendenleicht schwindelig werden kann. Was es meiner Meinungnach braucht, ist eine Stärkung des Bundesamtes fürVerfassungsschutz, eine Stärkung hinsichtlich der Perso-nal- und der Sachausstattung. Dazu gehören natürlichder Wille und die feste Überzeugung von uns Parlamen-tariern, bei den nach der Sommerpause anstehendenHaushaltsberatungen dazu zu stehen, wenn es um dieStärkung des Bundesamtes geht.
Wir sprechen nämlich nicht nur über den Bereich desRechtsterrorismus, sondern wir sprechen über alle Berei-che, die unseren Staat und damit die Menschen inDeutschland bedrohen.Vielen Dank.
Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege
Clemens Binninger für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die Sicherheit in unserem Land ist zurzeit sowohl voninnen wie von außen so bedroht wie noch nie. Einestarke Zunahme von gewaltbereitem Rechtsextremis-mus, die uns mit großer Sorge erfüllen muss, die Bedro-hung durch den IS, mehr als 3 000 sogenannte ForeignFighters aus Europa, die für den IS morden und irgend-wann zurückkommen und für uns auch ein Problem dar-stellen, neue Formen von Angriffen wie Cyberattacken,wie wir in diesem Hause selber leidvoll erfahren muss-ten – all das zeigt, wie schwierig es ist, die Sicherheit fürdie Menschen in diesem Land zu gewährleisten, und wiewichtig es ist, dass wir dafür Sicherheitsbehörden, auchNachrichtendienste, haben, die das tun können. Ich haltees mit Blick auf die Anträge der Opposition an diesemPunkt schlicht für unverantwortlich,
fast schon naiv, bei dieser Sicherheitslage zu sagen: Wirschaffen die Nachrichtendienste ab. – Nicht mit uns.
Wenn wir heute im Zusammenhang mit dem NSUüber konkrete Veränderungen im Bereich des Verfas-sungsschutzes reden, muss man, um es für die Öffent-lichkeit deutlich zu machen, etwas vorausschicken: Ja,es gab schwere Fehler beim Verfassungsschutz – aufdiese sind viele Redner zu sprechen gekommen –, aberFehler gab es auch bei der Polizei in Bund und Ländern,Fehler gab es auch bei der Justiz bis hin zum General-bundesanwalt,
und Fehler gab es auch bei uns in der Politik, bei der par-lamentarischen Kontrolle der Dienste. Es war also eineAnsammlung von verschiedenen Fehlern. Wir alle sindgefordert. Bei aller Kritik an den Nachrichtendienstendürfen wir nicht so tun, als ob es nur die träfe. Denn füreiniges, was hinterher schiefging, waren sie gar nicht zu-ständig. Wir alle sind gefordert, und wir alle hier sindaufgerufen, einen Teil dazu beizutragen.An dieser Stelle gestatten Sie mir, weil ja auch vielüber das Verhältnis von Bund und Ländern gesprochenwird, etwas Kritik in Richtung der Länder. Bei einer De-batte von dieser Wichtigkeit und der gleichzeitig immerwieder vorgetragenen Kritik der Länder, wir würden hierim Rahmen des Föderalismus zu weit gehen, hätte ichmir gewünscht, dass in der zweiten und dritten Lesungaußer dem Vertreter des Landes Bayern – herzlich will-kommen – noch ein paar andere da wären; bis auf ihn istdie ganze Bundesratsbank leer.
Beim Stichwort „Föderalismus“ muss man natürlichsagen, dass die NSU-Verbrechensserie – das klang schonin der Rede meiner geschätzten Kollegin Högl an – denFöderalismus an seine Grenzen gebracht hat. In Deutsch-land sind für die Bekämpfung von Extremismus und Ter-rorismus 37 verschiedene Behörden bei Verfassungs-schutz und Polizei zuständig. Dass es da sehr schnell zuReibungsverlusten, zu Informationsverlusten kommenkann, liegt auf der Hand. Wenn man diese Fehler korri-giert, nimmt man, glaube ich, keinen Angriff auf denFöderalismus vor. Ganz im Gegenteil: Wir stärken das
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föderale System, indem wir seine Schwachstellen besei-tigen.
Hierzu passt vielleicht ein interessanter Satz aus unse-ren Empfehlungen. An die Kollegen der Linken und derGrünen gerichtet sage ich: Es war klar, irgendwann en-den alle Gemeinsamkeiten; das ist so. Ich gestehe Ihnenselbstverständlich Ihre Position zu, die hinsichtlich derDienste eine grundlegend andere ist. Da werden wirauch nie zusammenkommen. Sie von den Linken wollensie abschaffen, wir wollen sie stärker machen. Sie vonden Grünen wollen eine andere Behörde aufbauen unddie Dienste in Teilen abschaffen. Da wird es keinen Kon-sens geben. Wir sollten auch nicht so tun, als ob.
– Da werden Sie mit Ihrer Lösung sicherlich auch nichtzu einem besseren Ergebnis kommen.
– Ja, ja, für Skandale sind Sie immer zu haben, Herr Kol-lege von Notz. Das weiß ich. Aber Politik in diesemLand besteht aus ein bisschen mehr, als immer nur„Skandal“ zu schreien.
Ich will Ihnen nur einen Satz aus unseren Empfeh-lungen verkürzt wiedergeben – ich hoffe, ich zitiererichtig –, Empfehlung Nummer 32 aus unserem Ab-schlussbericht NSU; diese betrifft den Bereich der Ver-fassungsschutzbehörden. Dort steht unsere gemeinsameEmpfehlung – beschlossen von allen Fraktionen in die-sem Hause –, dass wir im Hinblick auf die Verfassungs-schutzbehörden fordern, dass zukünftig alle notwendi-gen Informationen an einer zentralen Stelle gebündelt,dort gründlich ausgewertet und die Ergebnisse allen Ver-fassungsschutzbehörden zur Verfügung gestellt werdensollen.
Genau dafür sorgen wir heute mit diesem Gesetz. Ichmuss sagen: Jetzt so zu tun, als würden wir Empfehlun-gen nicht umsetzen, geht einigermaßen an der Realitätvorbei.
Ich darf für die Zuhörer, die dem Zwiegespräch zwi-schen Herrn von Notz und Herrn Lischka nicht folgenkonnten, kurz sagen: Herr von Notz, Sie haben gesagt,ich hätte mir eine Nummer herausgepickt – das war diezentrale Empfehlung unseres Ausschusses –,
und Kollege Lischka hat zu Recht darauf hingewiesen,dass Sie wenigstens die Ergebnisse und unsere Anträgelesen sollten; dann wäre manche Debatte seriöser.
Jetzt zu den konkreten Änderungen, die wir vorneh-men. Wir stärken das BfV. Ich verstehe schon, dass sichmanche fragen: Ist es denn nicht ein Paradoxon, dass wirdie Stelle, an der auch Fehler passiert sind, jetzt stärken,ihr mehr Personal zur Verfügung stellen und ihr mehrBefugnisse geben? Aber es wäre ja ein Widerspruch insich, zu sagen: Auch wenn dort Fehler passiert sind, kor-rigieren wir sie nicht – nur um irgendetwas Politischeszu erreichen – und machen die Situation hinterher vielschlimmer. – Fehler zu korrigieren, heißt, diese auszu-merzen und dort, wo notwendig, für neue Stärken zu sor-gen. Anders geht es nicht.
Das, was Sie machen würden, wäre nur eine weitereSchwächung des Verfassungsschutzes, und dabei ma-chen wir nicht mit.Es geht uns um mehrere Punkte: Das BfV wird alsZentralstelle gestärkt, der Informationsfluss wird verbes-sert, und auch die Analysefähigkeit von NADIS wirdverbessert; das war unsere Forderung.
Jetzt muss man der Öffentlichkeit erklären: NADIS, dasInformationssystem der Nachrichtendienste, war in derVergangenheit nur eine Aktenfundstelle. Wenn also eineLandesbehörde etwa Erkenntnisse über gewaltbereiteNeonazis hatte und etwas mehr wissen wollte, zum Bei-spiel, ob sie auch schon woanders bekannt sind, hat sieaus NADIS in der Vergangenheit nur ein Aktenzeichenbekommen. Dann hieß es: „Bitte dort anrufen und umInformationen bitten“, und dann konnte es schon einmalein bisschen dauern. Jetzt stellen wir diese Informatio-nen zur Verfügung; sie werden analysiert. Das ermög-licht allen Behörden, die in diesem Verbund mitarbeiten,eine sehr viel bessere Einschätzung der Lage. Gerade an-gesichts der zunehmenden Gewaltbereitschaft und dersteigenden Zahl von Anschlägen, die uns allen Sorgemachen müssen, halte ich das für unverzichtbar. Wirkönnen doch nicht nur mit Tagebuchnummern unter-einander handeln, sondern wir müssen auch Informatio-nen austauschen.
Jetzt komme ich zu Ihrem Lieblingspunkt, Herr Kol-lege Ströbele – das ist gar nicht ironisch gemeint –,
der auch mich lange beschäftigt hat: zum Einsatz vonV-Leuten. Wir sollten nicht so tun, als ob wir nicht wüss-ten, dass V-Leute natürlich nicht Mitarbeiter einer Be-hörde sind, sondern Angehörige einer extremistischenSzene – Salafisten, Linksextremisten oder Neonazis –und das auch bleiben. Sie werden ja nicht zu geläutertenBürgern, nur weil sie uns Informationen liefern; das wis-
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sen wir alle. Deshalb ist für uns alle klar, dass dieses In-strument für den Rechtsstaat eine Gratwanderung ist.
Aber wir sagen genauso klar: Wir werden Situationenerleben, in denen man keinen anderen Zugang zu klei-nen, abgeschotteten Gruppen haben wird – im Bereichdes Salafismus sowieso, aber auch im Bereich des Isla-mismus und bei Neonazis –, wenn man nicht eine Quelleim Umfeld platziert. Wollen wir dann ernsthaft sagen:„Nein, lieber verzichten wir darauf, das letzte Mittel an-zuwenden, und nehmen in Kauf, dass sich gewaltbereitePhänomene etablieren können“?
Wir sagen: Nein, für diesen Fall können wir nicht daraufverzichten; das ist der Punkt.
Ich selbst habe in allen NSU-Debatten an diesemRednerpult gestanden und im Zusammenhang mit derAufklärung immer wieder gesagt – daran lasse ich michauch messen –, dass im Hinblick darauf, wie V-Leute imBereich des Rechtsextremismus in der Vergangenheiteingesetzt waren, Aufwand und Ertrag in keinem Ver-hältnis standen. Weil das in der Vergangenheit so war,haben wir Änderungen vorgenommen.
– Alles andere hätte mich enttäuscht. Herr KollegeStröbele, ich würde Ihre Frage zulassen, wenn der Präsi-dent Sie aufruft.
Das mache ich ganz besonders gerne, wenn es wech-
selseitig dieses erkennbare Interesse gibt. – Bitte schön,
Herr Kollege Ströbele.
Wenn Sie auch meine Redezeit anhalten würden,
wäre ich Ihnen noch mehr verbunden.
Das ist längst erfolgt. – Bitte schön.
Herr Kollege Binninger, Sie haben das als meinen
Lieblingspunkt angesprochen. Ich habe heute die ganze
Zeit, auch bei der Frage an den Minister, den anderen
Lieblingspunkt angesprochen, zu dem Sie sich bisher
nicht geäußert haben. Sie haben hier gesessen und ver-
sucht, mich zu verunsichern. Das ist Ihnen fast gelungen.
– Fast. – Das wäre angesichts der Kompliziertheit und
der, sagen wir mal, Schwierigkeit dieses Gesetzes, das
von allen Sachverständigen in der Anhörung kritisiert
wurde – sie haben gesagt: wie kann man so ein Gesetz
schreiben? aber lassen wir das dahingestellt sein –, ja
nicht verwunderlich: Man kann ja was übersehen. –
Aber ich habe nichts übersehen.
Sagen Sie doch vorne vom Pult aus klar etwas zu der
Frage der Übermittlung von Erkenntnissen des Verfas-
sungsschutzes von Bund und Ländern an Strafverfol-
gungsbehörden. Das ist doch die Schlüsselfrage. Da ha-
ben Sie behauptet: Das steht hier drin. – Das steht für
den einen seltenen Ausnahmefall drin. Dabei geht es da-
rum, dass ein V-Mann auffällt, der erhebliche Straftaten
begangen hat. Dann soll das auch an die Strafverfol-
gungsbehörden weitergegeben werden. Das steht in der
neuen Vorschrift.
Aber es geht doch darum: Der Verfassungsschutz
hatte – in diesem Fall in Nürnberg und München – um-
fassendes Wissen. Er hatte dicke Akten dazu, in denen
auch das NSU-Trio vorkam, nämlich die „Rennsteig“-
Akten, die Sie ja auch kennen. Der Verfassungsschutz
hatte die vorliegen. Davon hat er den Strafverfolgungs-
behörden nichts mitgeteilt, als sie danach gefragt haben.
Es geht darum, dass solche Skandale in Zukunft vermie-
den werden. Jetzt sagen Sie mal, wo das geregelt ist.
Ich beantworte die Frage gerne. Die Empfindlichkeitverstehe ich nicht ganz. Wer austeilt, muss sich auch,glaube ich, einmal einen Zwischenruf gefallen lassen.Ich wollte Sie aber nicht aus der Ruhe bringen.Mein Eindruck ist nur – der hat sich durch Ihre Fragebestätigt –: Sie verwechseln dauernd verschiedene Pas-sagen aus einem sicher anspruchsvollen Gesetz. Das istder Punkt. Die bringen Sie durcheinander. Es geht einer-seits um die Frage: Welche Straftaten darf ein V-Mannüberhaupt begehen? Zweitens: Welche V-Leute sind auf-grund ihrer kriminellen Vorgeschichte von vornhereinvon der Anwerbung ausgeschlossen? Und drittens: Inwelchen Situationen muss der Verfassungsschutz seineErkenntnisse an die Polizei mitteilen?
Das sind die drei Dinge, die man aber auseinanderhaltenmuss. Das machen Sie aber nicht.
Sie vermischen sie dauernd und ziehen daraus die fal-schen Schlussfolgerungen. Das ist das Problem.
Ich werde jetzt versuchen, Ihnen alle drei Punkte imStenogrammstil noch einmal zu erklären, ohne dass ichdie Hoffnung habe, Erfolg zu haben.
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Clemens Binninger
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Aber ich spreche auch für die Öffentlichkeit und für dieKollegen.Punkt eins. Ein V-Mann darf keine Straftaten bege-hen, mit denen er Individualinteressen verletzt. Punkt.Das steht im Gesetz.
– Doch, er hat eine Mischfrage gestellt. Er wirft dochdauernd alles durcheinander.Punkt zwei. Wenn er dennoch Straftaten begeht, mussder Einsatz abgeschaltet werden. Und nur in Bezug aufdie Frage, wann diese Abschaltung stattfindet, hat derBehördenleiter im Ausnahmefall ein eigenes Recht. Eswird aber in keiner Weise eine Straftat erlaubt. Und dassuggerieren Sie hier dauernd.
– Sie reden jetzt nicht von V-Leuten?
Von was dann?
– Es wird heute mit uns beiden schwierig, aber ich habees versucht. Ich glaube, das Bemühen war mir anzuse-hen.
Punkt drei – diesen einen Punkt darf ich noch erwäh-nen, dann sind wir damit ja auch durch; wir sehen unsnachher wieder, dann können wir noch einmal darüberreden –: Ja, die Übermittlung der Informationen desbayerischen Verfassungsschutzes an die Polizei hat skan-dalös lange gedauert.
Das ist wahr. Aber wir haben doch schon festgestellt:Die bayerischen Verfassungsschützer hätten schon nachgeltender Rechtslage übermitteln müssen. – Da gab esgar nichts zu ändern. Sie haben sich nicht an die geltendeRechtslage gehalten.
Deshalb brauchen wir § 23 Bundesverfassungsschutz-gesetz auch nicht zu ändern. Auf das, was wir aber ge-macht haben, hat Sie Frau Kollegin Högl – das war wirk-lich fast schon pädagogisch wertvoll – mehrfachhingewiesen: Wir haben in unserer Begründung deutlichgemacht, dass die Bestimmung, wann der Verfassungs-schutz etwas nicht übermitteln darf, restriktiv – so stehtdieses Wort drin – zu handhaben ist.
Ich glaube, da sind wir auch auf einem guten und richti-gen Weg. Unterstellen Sie uns bitte nicht dauernd Dinge,die so wirklich nicht stimmen!
Jetzt hat aus irgendeinem Grund der Präsident die Uhrdoch wieder laufen lassen, und die Minute ist weg; aberich will einen Satz noch sagen: Bei aller Unterschied-lichkeit der Ansichten glaube ich, dass wir hier als Parla-ment durch die Aufarbeitung der NSU-Verbrechensserieund das im Zusammenhang damit stehende Behördenver-sagen sowie durch unsere Empfehlungen viel erreichthaben. Es gab in der Vergangenheit – und gibt es mögli-cherweise auch in Zukunft – keinen Untersuchungsaus-schuss, der so konkret parteiübergreifend Maßnahmenvorgeschlagen hat, und es gab keinen Untersuchungsaus-schuss, dessen Empfehlungen auch so konkret – wie hierin diesem Parlament gemeinsam mit der Regierung –umgesetzt wurden. Darauf, glaube ich, kann man mitStolz zurückblicken. Es gab Grund, zu handeln. Wir sindsicher noch nicht am Ende des Prozesses; aber wir habeneine Menge erreicht im Sinne der Sicherheit der Men-schen in unserem Land und für eine Stärkung unsererBehörden, damit sie ihre Arbeit auch machen können.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Um den auch nur angedeuteten Verdacht, dass ausge-rechnet bei einem solch wichtigen Thema der Präsidentnickelig mit den Redezeiten umgehe, auszuräumen,weise ich darauf hin, dass wir zu Beginn dieser Debattebeschlossen haben, 77 Minuten zu debattieren. JederBlick auf die Uhr macht deutlich, dass wir jetzt 95 Minu-ten debattiert haben. Das räumt den Verdacht aus, mitden Redezeiten sei restriktiv umgegangen worden.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ver-besserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfas-sungsschutzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buch-stabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache18/5415, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufden Drucksachen 18/4654 und 18/5051 in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-ter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen der Opposition angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Gesetzentwurf mit den gleichen Mehrheiten angenom-men.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufder Drucksache 18/5431. Wer stimmt für diesen Ent-schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist der Entschließungsantrag mit denStimmen der Koalition bei Enthaltung der Fraktion DieLinke abgelehnt.Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfeh-lung des Innenausschusses auf der Drucksache 18/5415fort und kommen nun zum Tagesordnungspunkt 32 b.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf der Drucksache 18/4682 mit demTitel „Wirksame Alternativen zum nachrichtendienstlicharbeitenden Verfassungsschutz schaffen“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlungmit der Mehrheit der Koalition angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf derDrucksache 18/4690 mit dem Titel „Für eine Zäsur undeinen Neustart in der deutschen Sicherheitsarchitektur“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieseBeschlussempfehlung, wiederum mit der Koalitions-mehrheit, angenommen.Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunk-tes.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFlexible und sichere Rentenübergänge ermög-lichenDrucksache 18/5212Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Britta Haßelmann, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKommunales Ehrenamt stärken – Anrech-nung von Aufwandsentschädigungen auf dieRente neu ordnenDrucksache 18/5213Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auchdiese Aussprache 77 Minuten dauern. – Dazu höre ichkeinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was beschäftigt dieMenschen in diesem Land, wenn sie sich Gedanken überihre Alterssicherung machen? Zwei Fragen dürften sichdie meisten in jedem Fall stellen: Erstens diejenige nachder Höhe der Altersversorgung und eng damit zusam-menhängend zweitens, ob und wie lange sie zum Endeihres Berufslebens arbeiten werden, ob sie sich bis zumRenteneintritt quälen oder ob sie sogar über das gesetzli-che Renteneintrittsalter hinaus Spaß an ihrem Job habenkönnen.Auf der Suche nach Antworten werden sie bei der jet-zigen Regierung jedenfalls nicht fündig. Obwohl derAnstieg des Renteneintrittsalters nun im fünften Jahrläuft und obwohl das Durchschnittsalter der Erwerbsbe-völkerung stetig steigt – diese Regierung handelt nicht.
Bei dem Thema, das wir heute auf die Tagesordnungstellen, dem flexiblen Renteneintritt, haben wir es mit ei-nem eklatanten Fall von Führungsversagen zu tun.
Unfähig, die Initiative zu ergreifen, versteckt sich sogardie Bundeskanzlerin hinter einer Fraktionsarbeitsgruppe.Geht es noch? Auf dem Deutschen Seniorentag in Frank-furt sagte sie gestern zum Thema:Sie müssen noch ein bisschen warten, bis wir da zuPotte kommen. Aber ich hoffe, dass es gelingt.Ich nehme an, sie hatte nicht die lange Liste der unerle-digten Aufgaben ihrer Arbeits- und Sozialministerin imKopf. Sonst dürfte ihre Hoffnung schnell schwinden.Es geht ja nicht nur um die sogenannte Flexirente,nein. Auch bei der Betriebsrente regeln Sie nichts. DieRechtsvereinfachung für die Jobcenter schieben Sieschon seit bald zwei Jahren vor sich her. Die Riester-Rente erfüllt ihren Sicherungszweck nicht, und Sie ana-lysieren sie nicht einmal. Sie versprechen, tun abernichts. Die Regulierung der Leiharbeit und der Werkver-träge, die Angleichung der Ost- und der Westrentenwerteund ganz zu schweigen von der solidarischen Lebens-leistungsrente: Stets vertrösten Sie Beschäftigte und So-zialversicherte, und ich bin mir sicher, dass Sie, wie Siedas seit Monaten tun, auch nach dieser Rede wiederschwören werden: Wir machen hier auf jeden Fall etwas.Dabei sind die beiden Koalitionsfraktionen in einergegenseitigen Blockade gefangen. Wie zwei Boxer, diesich in der ersten Runde gegenseitig ordentlich eins aufdie Nase gegeben haben, haben Sie sich jetzt aufs Halten
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Markus Kurth
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und Klammern verlegt und schaffen nichts mehr. GroßeKoalition: Das ist entweder großer Mist, wie wir im letz-ten Jahr gesehen haben, oder eben, wie jetzt, großerStillstand.
Was ist in der Rentenpolitik die Ursache für den Still-stand? Ihr unseliges Rentenpaket. Sie haben keine Poli-tik für alle Rentenversicherten, sondern Interessenpolitikgemacht.
Insbesondere der Streit um die Rente mit 63 hat beide– Union und SPD – in ihre Trutzburgen getrieben, undvon dort aus belauern Sie sich jetzt gegenseitig. Dabeiböte gerade das Thema des selbstbestimmten und sozial-politisch flankierten flexiblen Rentenübergangs genü-gend Chancen, konstruktiv mit dem demografischenWandel umzugehen, Sozialpartner zusammenzuführenund vor allen Dingen den Menschen die Angst vor derRente mit 67 zu nehmen und ihnen tragfähige Wege auf-zuzeigen.
Stattdessen passiert nichts. Es scheint so, als obAndrea Nahles bei ihrem Blitzstart, dessen sie sich imletzten Jahr ja so rühmte, ein bisschen zu viel aufs Gasgetreten und dann auch noch vergessen hat, rechtzeitigzu schalten. Jetzt hängt sie da mit einem veritablen Ge-triebeschaden, und die Abgeordneten der Koalition rufenin ihrer Verzweiflung die Chefmechaniker von der Frak-tionsspitze zu Hilfe, sie mögen dort doch bitte mal wastun und ihre Karre wieder flottmachen. Aber HerrKauder und Herr Oppermann haben Ihnen ja beschieden,sie hätten gerade andere Sorgen. Ehrlich gesagt, an derenStelle hätte auch ich keine Lust, an dieser abwrackreifenKoalitionsarbeitsgruppe noch länger herumzuwerkeln.
Wir, die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, zeigenIhnen heute mit unserem Antrag, wie es geht.
– Doch.
Herr Kollege, Sie sollten aber jetzt ganz langsam zum
Mitschreiben sprechen.
Ja. – Es ist immer schön, wenn man als Redner merkt,dass man einen gewissen Unterhaltungswert hat. Aberkommen wir wieder zur Sache.
Wir denken in beide Richtungen: Einerseits machen wirVorschläge, wie das Arbeiten jenseits der Altersgrenzeattraktiv gemacht werden kann. Andererseits machenwir Angebote für diejenigen Beschäftigten,
die schon einige Jahre vor dem Renteneintrittsalter mitihren Kräften haushalten müssen, um den Renteneintrittnicht als Arbeitslose, Minijobber oder Erwerbsgemin-derte zu erleben.Wir brauchen neue Wege, um Menschen früher alsbisher die Chance zu bieten, Arbeitszeit und damitBelastung zu reduzieren. Bevor Sie das gleich falschinterpretieren, sage ich: Ziel ist es ausdrücklich nicht,irgendwelche neuen Frühverrentungsmöglichkeiten zuschaffen, sondern Ziel ist es, unter dem Strich durch einerechtzeitige Belastungsreduzierung einen längeren Ver-bleib im Erwerbsleben zu ermöglichen. Das ist uns ganzwichtig.
Da halten wir eine reformierte Teilrente für ein taugli-ches Instrument.
Wir glauben, dass die Kombination aus einer Teilrenteund einer Teilzeitbeschäftigung einen gleitenden Ren-tenübergang über die Jahre ermöglichen kann. Er solltevor dem 64. Lebensjahr möglich sein.
Auf der anderen Seite haben wir natürlich die Beschäf-tigten, die das Glück haben, fit zu sein, und über die Re-gelarbeitsgrenze hinaus arbeiten möchten und das auchkönnen. Diese Menschen – von ihnen habe ich schon ei-nige Zuschriften bekommen – verstehen nicht, dass derArbeitgeber für sie Rentenversicherungsbeiträge entrich-tet, diese sich aber in keiner Weise auf ihren Rentenan-spruch auswirken.Bei all dem, was ich der Presse über die Koalitionsar-beitsgruppe entnehmen konnte, habe ich nie verstanden,dass die Sozialdemokraten eisern daran festhalten, dassdas so umstandslos nur der Rentenkasse zufließt, ohnedass dem Ansprüche gegenüberstehen.
Wir wollen, dass sich die Rentenbeiträge, die der Arbeit-geber zahlt, auf die Ansprüche der Rentnerinnen undRentner nachher auswirken und sie davon etwas haben.Das steht ihnen auch zu.
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Markus Kurth
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Meine Damen und Herren, mein Kollege WolfgangStrengmann-Kuhn wird gleich noch auf einige Detailseingehen können, die ich wegen der knappen Redezeitnicht mehr unterbringen kann.
Wir werden dazu die Beratungen durchführen. Ziel istes, Zeitsouveränität selbstbestimmt zu ermöglichen unddas notwendige Maß an sozialer Absicherung denjeni-gen zur Verfügung zu stellen, die darauf angewiesensind. Diese Kombination aus Selbstbestimmung undZeitsouveränität ist jedenfalls nach meiner Beobachtungetwas, was in diesem Haus nur die Fraktion der Grünenhinbekommen hat.Vielen Dank.
Peter Weiß ist der nächste Redner für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Natürlich macht esSpaß, im Parlament eine Rede mit Unterhaltungswert zuhören. Aber auch zum Inhalt hätte man von den Grünengerne etwas erfahren.
Sie haben einen schönen Satz an den Anfang IhresAntrags gestellt:Menschen sollen grundsätzlich selbst entscheidenkönnen, wann und wie sie den Übergang vom Er-werbsleben in den Ruhestand gestalten möchten.
Vollkommen richtig. Das ist auch unser Ziel. Ich glaube,das entspricht dem modernen Menschen. Wir wollenmehr Flexibilität. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer können sich vorstellen, länger als nur bis zur Re-gelaltersgrenze zu arbeiten, andere wollen das nicht.
Wir wollen es jedem ermöglichen, dass er das, was ermöchte, für sich realisieren kann.
Herr Kurth, wenn Sie nun dieser Regierung und derGroßen Koalition in dieser Frage Führungsversagen vor-halten, dann muss ich sagen: Offensichtlich ist die de-menzielle Erkrankung, sprich: die Altersverwirrung, beiden Grünen weit vorangeschritten.
Warum? Am 1. Juli war es ein Jahr her, seit das Ren-tenpaket der Großen Koalition in Kraft getreten ist. Zudiesem Rentenpaket gehört eine ganz entscheidende Ge-setzesänderung, die wir miteinander durchgesetzt haben,nämlich die Änderung des § 41 Satz 3 des Sozialgesetz-buches VI. Darin heißt es jetzt – das möchte ich jetztgerne vorlesen –:Sieht eine Vereinbarung die Beendigung des Ar-beitsverhältnisses mit dem Erreichen der Regelal-tersgrenze vor, können die Arbeitsvertragsparteien– also der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer –durch Vereinbarung während des Arbeitsverhältnis-ses den Beendigungszeitpunkt, gegebenenfalls auchmehrfach, hinausschieben.
Das heißt, wir haben eine rechtliche Grundlage dafürgeschaffen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, wenn sie dies wollen, das Arbeitsver-hältnis deutlich über die Regelaltersgrenze hinaus fort-setzen können.
Das ist die Flexibilisierung, die wir geschaffen haben.Insofern ist die Flexirente nicht etwa ein Fantasiege-bilde, sie ist vielmehr seit einem Jahr gesetzlich in Kraft.
Ein weiterer Punkt: Auch die Deutsche Rentenversi-cherung hat reagiert. Bis vor kurzem hat jemand, derkurz vor dem Renteneintritt stand, einen netten Brief vonder Rentenversicherung bekommen, in dem es sinnge-mäß hieß: Sie erreichen demnächst die Regelalters-grenze. Wir empfehlen Ihnen, einen Rentenantrag zustellen. – Das haben die meisten so verstanden: Jetztmuss ich aber schnell einen Antrag auf Rente stellen.In dem neuen Schreiben, das seit dem 1. Januar diesesJahres an die künftigen Rentnerinnen und Rentner ver-sandt wird, heißt es: Wir möchten Sie darauf hinweisen,dass Sie einen Antrag bei Erreichen der Regelalters-grenze stellen können. – Es heißt also nicht „müssen“,sondern „können“. Es folgt eine Aufklärung darüber,was es bedeutet, wenn man zum Beispiel seinen Renten-antrag nicht bei Erreichen der Regelaltersgrenze stellt,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11305
Peter Weiß
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sondern weiterarbeitet. Das ist bisher verschwiegen wor-den.Für jedes Jahr, das ein Arbeitnehmer nach Erreichender Regelaltersgrenze länger arbeitet, steigert sich seinRentenanspruch um 6 Prozent. Das ist eine ordentlicheZahl. Dies zeigt: Länger arbeiten lohnt sich auch durchmehr Rente.
Was noch nicht ausreichend geregelt ist – darauf weistder Antrag der Grünen in der Tat hin –, was aber nichtdurch den Gesetzgeber geregelt werden kann, ist die Tat-sache, dass die Beendigung eines Arbeitsverhältnissesnicht durch ein Gesetz geregelt ist, sondern durch denArbeitsvertrag. Entweder bezieht er sich auf einen Man-teltarifvertrag, oder in dem Arbeitsvertrag ist ausdrück-lich festgehalten, dass das Arbeitsverhältnis automatischohne Kündigung mit dem Erreichen der Regelalters-grenze endet.Es wäre wünschenswert, wenn Arbeitgeber und Ge-werkschaften in ihren Manteltarifverträgen oder unsereIndustrie- und Handelskammern und Handwerkskam-mern in ihren Musterarbeitsverträgen, die sie den Mit-gliedsbetrieben an die Hand geben, die Regelungen, diewir ins Sozialgesetzbuch VI aufgenommen haben, über-nehmen würden, um klarzumachen: Jeder Arbeitnehmerhat die Möglichkeit, vor seinem Ausscheiden aus demErwerbsleben mit dem Arbeitgeber frei darüber zu ver-handeln, ob er den Arbeitsvertrag über die Regelalters-grenze hinaus verlängert. Das ist eine Aufgabe, die Ge-werkschaften und Arbeitgeber in der Tat noch zu leistenhaben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, seit der Debatteüber das Rentenpaket der Großen Koalition und auch da-nach haben wir erlebt, dass vor allem die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen diesen Maßnahmenkatalog scharf kri-tisiert, die Nachhaltigkeit der Finanzierung unserergesetzlichen Rente infrage gestellt
und vor allen Dingen eine deutliche Polemik gegen diesogenannte abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Bei-tragsjahren geführt hat. Nun wundere ich mich sehr, dassder Antrag der Grünen Folgendes vorsieht: Künftig sollman die Rente ab 60 beantragen können.
Was ist das für ein rentenpolitischer Zickzackkurs? Ge-gen die Rente mit 63 wird polemisiert, und jetzt wird dieRente ab 60 beantragt.
Lieber Kollege Weiß, darf der Kollege Kurth eine
Zwischenfrage stellen?
Bitte schön.
Herr Weiß, eines muss ich klarstellen. Ich habe fast
vermutet, dass Sie der Versuchung nicht widerstehen
können, unseren Antrag unvollständig wiederzugeben,
um den Eindruck zu erwecken, dass wir ein neues Früh-
verrentungsfenster öffnen. Ich habe vorhin ausdrücklich
gesagt, dass das nicht unser Ziel ist. Unser Vorschlag, es
zu ermöglichen, die Teilrente früher zu beziehen, wird
sich im Gegensatz zur Rente mit 63 und zur Mütterrente
nicht negativ auf die Rentenkasse auswirken, weil die
vollen Abschläge wirksam werden; das ist der entschei-
dende Punkt. Zusätzlich sehen wir für gesundheitlich
Beeinträchtigte die Möglichkeit vor – darauf wird Herr
Strengmann-Kuhn nachher noch näher eingehen –, diese
Abschläge auszugleichen. Ansonsten werden mit dem,
was wir vorschlagen, die Rentenkasse sowie die Bei-
tragszahlerinnen und Beitragszahler nicht belastet. Sind
Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Herr Kollege Kurth, das heutige Recht sieht wie folgtaus – um das allen Zuhörerinnen und Zuhörern zu erklä-ren –: Ab dem Erreichen des 63. Lebensjahres kann ichvorzeitig in Rente gehen. Ich kann aber auch, wenn ichwill, eine Teilrente beantragen, zum Beispiel zu 50 Pro-zent in Rente gehen und zu 50 Prozent weiterarbeiten.Diese Grenze von 63 bleibt auch dann bestehen, wennwir die Regelaltersgrenze von 67 haben. Es gibt einevierjährige Übergangszeit, in der Flexibilität herrscht. Inder Tat: Auf diese Rente werden im Vergleich zu dem,was sich erreichen lässt, wenn man erst mit 67 in Rentegeht, Abschläge erhoben.
Sie wollen diese Möglichkeit nun auf einen Zeitraumvon 60 bis 67 ausdehnen.
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11306 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Peter Weiß
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Entschuldigung, aber das bedeutet die Möglichkeit, frü-her in Rente zu gehen. Dabei haben Sie bei der Rente mit63 gegen die Regelung polemisiert, die wir geschaffenhaben.
– Das ist doch für die Rentenkasse egal.Das Zweite ist: Die Abschläge bedeuten zwar, dassdas für die Rentenkasse am Schluss pari aufgeht. Aberrichtig ist auch: Zuerst einmal muss die Rentenversiche-rung für mehrere Jahre diese vorzeitige Rente mit hohenSummen vorfinanzieren. Diese Belastung der Renten-kasse erzeugen Sie.Das Dritte, was Sie vorschlagen, ist, dass wir be-stimmten Beschäftigtengruppen diese Abschläge durchSteuergelder ausgleichen sollen.
Da frage ich mich: Was ist das für eine Gerechtigkeit ge-genüber den Rentnerinnen und Rentnern? Der eine hatAbschläge bei der Rente hinzunehmen, die ihm ein Le-ben lang bleiben, während dem anderen seine Abschlägedurch Steuermittel ausgeglichen werden. Herr KollegeKurth, was Sie hier vorschlagen, bedeutet, dass Sie füreine neue Ungerechtigkeit im Rentensystem sorgen undzwei Klassen von Rentnerinnen und Rentnern schaffen.
Wenn die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf dieWichtigkeit der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen undder Rentenfinanzierung hinweist und mahnt, darauf zuachten, dass die Rentenversicherung generationenüber-greifend sicher finanziert ist, dann kann sie keinen sol-chen Vorschlag wie den heutigen machen; denn das wi-derspricht jedem Nachhaltigkeitsgesichtspunkt.
Interessant ist: Als es um das Rentenpaket der GroßenKoalition vor einem Jahr ging, war es die FraktionBündnis 90/Die Grünen, die mit Nachfragen ohne Endedie exakte Finanzierung dargelegt haben wollte. Seitherstellt sie praktisch jede Woche eine Kleine Anfrage imDeutschen Bundestag, in deren Mittelpunkt die Fragenstehen: Wie steht es um das Finanzierungstableau? Wel-che Kosten sind entstanden? – Aber heute wird uns einAntrag vorgelegt, der keine einzige Kostenberechnungenthält. Das ist nicht solide. Über Geld sprechen dieGrünen nicht. Geld gibt es offensichtlich wie Heu.
– Entschuldigung. Wenn ein solcher Antrag mit einerganzen Reihe rentenpolitischer Maßnahmen – Garantie-rente ab 60 und Ausgleich durch Steuermittel – vorge-legt wird, dann kann man verlangen, dass er auch ein so-lides Finanzierungstableau enthält. Aber das fehlt völlig.Ein Antrag ohne Finanzierungsgrundlage ist wertlos.
– Zu diesem Zuruf „die Rentenkasse plündern“: DiePlünderer der Rentenkasse sind die Grünen, wenn wirden vorliegenden Antrag annehmen.
In der Tat ist es erfreulich, dass die längere Lebenser-wartung der Menschen in unserem Land, die ja weiteransteigt, dazu führt, dass immer mehr Menschen bereitund in der Lage sind, länger zu arbeiten. Das hat wiede-rum dazu geführt, dass sich die Beschäftigungssituationälterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in denletzten Jahren deutlich verbessert hat. Es ist nicht nur derAnteil der Beschäftigten zwischen 60 und 65 Jahrenstark gestiegen, sodass mittlerweile 35 Prozent von ih-nen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, son-dern auch bei den über 65-Jährigen sind mittlerweile fast9 Prozent in sozialversicherungspflichtiger Arbeit. Da-mit liegen wir Deutsche übrigens im europäischen Ver-gleich ganz vorne. Das ist ein erfreuliches Ergebnis.Wir als Koalition wollen diesen Trend weiter beflü-geln. Richtig ist: Ein Instrument ist die Teilrente, dieheute bereits ab 63 Jahren bezogen werden kann. Sie hatallerdings ein Hindernis, nämlich eine sehr komplizierteRegelung zu den Hinzuverdienstgrenzen. Wir sind unseinig, dass diese Hinzuverdienstgrenzen reformiert wer-den müssen.
Das wäre ein wichtiger Beitrag, um den Gesamtkomplexder Flexibilisierung beim Renteneintritt zu vervollstän-digen. Den ersten großen und entscheidenden Schritt ha-ben wir mit der Reform, die wir vor einem Jahr be-schlossen haben, gemacht; der zweite Schritt, dieReform der Hinzuverdienstgrenzen, wird folgen.Herr Kurth hat ja so grundsätzlich angefangen. Wasdie Grünen heute vorlegen, ist kein rentenpolitischesKonzept, sondern eine rentenpolitische Irrfahrt, zumin-dest ein rentenpolitischer Zickzackkurs, weil sie das,was sie gestern verkündet haben, heute wieder infragestellen.
Im Vergleich dazu ist die Rentenpolitik der Großen Ko-alition von Solidität und Seriosität gekennzeichnet. Indiesem Sinne wollen wir weitermachen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Matthias W. Birkwald.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorges-tern hatte das Rentenpaket mit der sogenannten Mütter-rente und der Rente ab 63 seinen ersten Geburtstag.
Seit einem Jahr tagt auch Ihre Arbeitsgruppe für einenflexiblen Übergang in die Rente, die AG „Flexi-Rente“.Und was ist seit einem Jahr? Still ruht der See. Mit ande-ren Worten: Die Große Koalition ist rentenpolitischhandlungsunfähig.
Dabei gibt es gute Gründe, über flexible Altersüber-gänge nachzudenken. Den wichtigsten kann ich Ihnenallen leider nicht ersparen. Die Rente erst ab 67 ist nachwie vor für die übergroße Mehrheit der Beschäftigtennicht zu schaffen. Darum fordert die Linke: Alle Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer sollen spätestens ab65 Jahren abschlagsfrei aus guter Arbeit in die Alters-rente gehen können. Dafür müssen wir alles tun.
Wir müssen dringend dafür sorgen, dass die Kranken-schwester und der Bauarbeiter in Rente gehen können,ohne am Ende ihres Berufslebens auf Hartz IV angewie-sen zu sein.
Die Krankenschwester muss im Durchschnitt vor ihrem61. Geburtstag aus dem Beruf ausscheiden, und der Bau-arbeiter kann durchschnittlich nur bis 57,5 Jahrenschwere Steine schleppen. Dann geht es nicht mehr. Vorallem für diese Menschen sollte die Große Koalitionnach Lösungen suchen.
Ja, es stimmt: Die SPD setzt sich in der AG „Flexi-Rente“ dafür ein, dass besonders belastete Beschäftigtevor dem 63. Geburtstag in die Rente gehen können sol-len.
Okay, diese Zielrichtung stimmt. Aber, liebe Sozialde-mokratinnen und Sozialdemokraten, seit einem Jahr las-sen Sie sich von der Union ausbremsen, und das istschlecht.
– Doch, Herr Brauksiepe. – Die Union will, dass dieRentnerinnen und Rentner arbeiten bis zum Umfallen,weit über das Rentenalter hinaus. Ich sage: Diese Artvon flexiblem Übergang brauchen wir nicht.
Die SPD will in eine andere Richtung als die Union.
Selbst das Bundesarbeitsministerium beteiligt sich nichtmehr an dieser Zeitverschwendung, wie das KollegeLinnemann genannt hat. Kein Wunder. Ein Jahr langläuft Ihre AG „Flexi-Rente“ nun. Was haben Sie vorge-legt? Nichts. Niente. Nietzsche. Nada. Null. So ist es.
Ich mache Ihnen einen Vorschlag – das, was HerrKurth gesagt hat, trifft nämlich auf die Linke zu –: WirLinken haben bereits im November 2014 einen Antragmit dem schönen Titel „Statt Rente erst ab 67 – Altersge-rechte Übergänge in die Rente für alle Versicherten er-leichtern“ eingebracht. Schauen Sie da einmal hinein;darin stehen gute Ideen, zum Beispiel: Weg mit den Ab-schlägen bei der Erwerbsminderungsrente!
Wer wegen Krankheit in Rente gehen muss, dem darfdoch die Rente nicht gekürzt werden.
Den Gesetzentwurf dazu hatten wir Linken übrigensschon direkt nach der Bundestagswahl im Oktober 2013eingebracht. Und: Die Hartz-IV-Betroffenen dürfennicht mehr gegen ihren Willen in die Rente gezwungenwerden.
Diesen Antrag hat die Linke bereits im Februar in denBundestag eingebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ichfreue mich, dass Sie uns Linke hier unterstützen unddiese beiden Punkte in Ihren Antrag aufgenommen ha-ben. Ich danke Ihnen dafür ausdrücklich im Namen derErwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner und der63-jährigen Hartz-IV-Berechtigten.
Ihr Antrag enthält noch andere gute Vorschläge. Siewollen die Erhöhung der Regelaltersgrenze für Schwer-behinderte von 63 auf 65 Jahre zurücknehmen und dasAussortieren von älteren Arbeitslosen abschaffen. Gutso! Hier sind wir uns einig. Das war es dann aber auch.
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11308 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Matthias W. Birkwald
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In der FAZ vom 23. Juni 2015 war zu lesen – ich zi-tiere –:Jeder entscheidet ab 60 Jahren selbst, wann er inRente geht. Wer früher in Rente geht, erhält einegeringere, wer später geht, eine höhere Rente.
Das sagte Johannes Vogel, FDP-Bundesvorstandsmit-glied.
Bündnis 90/Die Grünen schlagen jetzt in die gleicheKerbe. Die Grünen wollen – ich zitiere aus ihrem Antrag –„eine längere Teilhabe am Erwerbsleben … ermögli-chen“.
Im Handelsblatt vom 29. Juni heißt es – Zitat –:Der Vorschlag der Grünen zielt darauf ab, Ältere solange wie möglich im Job zu halten. … Jeder dürfteab 60 gehen, aber mit vollen Abschlägen.Die Rückkehr von Rentnern ins Erwerbsleben sollgefördert werden, indem der Rentenbeitrag, den Ar-beitgeber auch für sie zahlen, zu einer höherenRente führt.Jetzt kommt es:Damit kommen die Grünen ähnlichen Forderungendes CDU-Wirtschaftsflügels entgegen.
FDP und CDU-Wirtschaftsflügel, liebe Grüne, daszeigt: Hier seid ihr auf dem Holzweg.
Meine Damen und Herren, die Grünen sagen, mansoll schon vor 63 in Rente gehen können, aber dann ebenmit noch höheren Abschlägen. Das klingt ja schön undeinfach. Aber was bedeutet das? Der Jahrgang 1950 gehtab 65 Jahren und vier Monaten in Rente. Ginge manschon ab 61 in Rente, müsste man dann lebenslang15,6 Prozent Abschläge von der monatlichen Rente vonsagen wir einmal 1 200 Euro in Kauf nehmen. Dasmacht bei der aktuellen Lebenserwartung also rund– halten Sie sich an den Stühlen fest – 46 000 Euro Ver-lust für den Mann und 54 250 Euro Verlust für die Frau.Nein, liebe Liberale vom Wirtschaftsflügel der Union,und nein, liebe Liberale von den Grünen, das ist keineGrundlage für eine freie Entscheidung. Ihr Vorschlag istnur für Besserverdienende gut. Alle anderen können sichdie Abschläge nicht leisten. Dieser Vorschlag ist sozialungerecht, und darum lehnen wir ihn ab.
Sie, liebe Grüne, schlagen vor, dass „Rentenbeiträgeder Arbeitgeber künftig rentenwirksam und freiwilligeRentenbeiträge der beschäftigten Rentnerinnen undRentner ermöglicht werden“. Ich sage Ihnen klipp undklar: Davon halte ich gar nichts. Entweder jemand ist so-zialversicherungspflichtig beschäftigt und will überseine persönliche Regelaltersgrenze hinaus arbeiten. Werdas kann und das will, darf das tun – heute schon; das hatHerr Weiß berichtet. Dafür brauchen wir kein neues Ge-setz. Wer länger arbeiten will, bekommt dafür 6 Prozentlebenslange Zuschläge pro Jahr auf seine Rente und denüblichen Entgeltpunktanteil. Das bedeutet bei einer re-gulären Altersrente von 1 000 Euro: Ein Jahr länger ar-beiten gibt 1 090 Euro Rente. Anders gesagt: Es wird sogetan, als hätte er oder sie in diesem Jahr rund 9 000Euro verdient. Ich finde, das ist attraktiv genug.
Herr Kollege Birkwald, darf ich Sie an die Redezeit
erinnern, welche schon ausreichend genutzt wurde?
Ja, Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Lassen
Sie mich noch diesen Gedanken ausführen. – Oder aber
jemand ist bereits in Altersrente; dann darf er oder sie
unbegrenzt hinzuverdienen und zahlt weder Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung noch Beiträge zur Rentenver-
sicherung, hat also netto mehr in der Tasche. Ich finde,
auch das ist attraktiv genug.
Wir dürfen die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und
Ruhestand nicht weiter auflösen. Wir Linken wollen
kein neues gesellschaftliches Leitbild des arbeitenden
Rentners oder der rentenberechtigten Arbeiterin. Wir
sind gegen Maloche bis zum Tode. Was wir brauchen, ist
eine armutsfeste und den Lebensstandard sichernde
Rente und ein deutlich höheres Rentenniveau.
Herzlichen Dank.
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Katja Mast.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Der Un-terschied zwischen einer Koalitionsarbeitsgruppe undOppositionsanträgen ist, dass das, was wir in einer Koa-litionsarbeitsgruppe besprechen und beschließen, Reali-tät wird, während Oppositionsanträge nicht umgesetztwerden. Das ist der wichtigste Unterschied an dieserStelle.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11309
Katja Mast
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Deshalb können wir es uns auch nicht so leicht machenwie die Grünen und nur Überschriften aufschreiben,ohne zu überlegen, welche Finanztableaus dahinterste-hen, sondern beschäftigen wir uns in unserer Arbeits-gruppe sehr ernsthaft damit, wie wir flexible Übergängein Rente ermöglichen.
Aber bevor ich dazu komme, ist mir wichtig, nocheinmal zu betonen: Menschen, die über das Rentenein-trittsalter hinaus keine Rente beziehen und weiterarbei-ten, bekommen pro Monat ein halbes Prozent mehrRente, das heißt am Ende des Jahres 6 Prozent. Weil sichdas Einkommen auch noch rentensteigernd auswirkt,sind es am Ende des Jahres 8 bis 10 Prozent mehr Rentepro Jahr der Weiterbeschäftigung.
Das ist sehr attraktiv. Allerdings wissen viele Bürgerin-nen und Bürger das nicht. Deshalb kann es heute an die-sem Rednerpult gar nicht oft genug gesagt werden.
Die Koalition hat zum Thema „Flexible Übergänge inRente“ auch schon gehandelt; der Kollege Weiß hat esvorhin gesagt.
Wir haben § 41 SGB VI verändert und Unsicherheitenbei der Weiterbeschäftigung Älterer beseitigt und flexi-bles Weiterarbeiten ermöglicht, indem das Rentenein-trittsalter durch eine gemeinsame Vereinbarung von Ar-beitnehmern und Arbeitgebern nach hinten verschobenwerden kann. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil esda sehr viel Rechtsunsicherheit gab. Im Übrigen steht inkeinem Gesetz, dass man mit 65, 66 oder 67 Jahren auf-hören muss.
Das ist in der Regel in Arbeits- oder Tarifverträgen gere-gelt. Deshalb war es so wichtig, das an dieser Stelle nocheinmal klarzustellen.
Ich finde, dass das Institut der deutschen Wirtschaft– zugegebenermaßen kein Institut, das in Arbeitnehmer-fragen immer an vorderster Front ist – kürzlich in seinerStudie „Fachkräfte 65 plus – Erwerbstätigkeit im Ren-tenalter“ sehr erhellende Erkenntnisse für unsere Debattein der Koalition publiziert hat, nämlich dass das Weiter-arbeiten über das Renteneintrittsalter hinaus de facto nurfür zwei Gruppen infrage kommt. Die meisten derjeni-gen, die weiterarbeiten, nämlich über ein Viertel, sindsehr hoch qualifizierte und sehr gut verdienende Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer.
Meist liegt es daran, dass sie eine individuelle Sinnhaf-tigkeit in ihrem Job sehen; in der Regel sind sie im Altervon 55 oder 66 Jahren aber auch in einem relativ gutenGesundheitszustand. Für diese Zielgruppe ist die Frage:„Bekomme ich 1,5 Prozent, 2 Prozent oder 3 Prozentmehr?“ am Ende des Tages in der Regel nicht von Rele-vanz, diese Menschen arbeiten aus ganz anderen Grün-den weiter. Die andere Gruppe, eine viel kleinere, sinddiejenigen, die Renten deutlich unter 1 100 Euro bekom-men, die de facto arbeiten müssen, weil sie sonst mit ih-rer Rente nicht klarkommen. – Das sind die zwei großenGruppen. In der Mittelschicht gibt es kaum Beschäfti-gung über das Rentenalter hinaus.
Wir haben uns in der Koalition – ich will doch nochauf den Einsetzungsbeschluss für unsere Koalitionsar-beitsgruppe eingehen, weil das bisher nicht gemachtworden ist –
drei Ziele vorgenommen: Wir haben flexibleres Arbeitenbis zum Erreichen der Regelaltersgrenze vereinbart. Wirhaben attraktives Weiterarbeiten nach Erreichen der Re-gelaltersgrenze vereinbart. Wir haben vereinbart, unsüber das Thema Zwangsverrentung auszutauschen. –Alle drei Punkte sind Bestandteil des Auftrags unsererArbeitsgruppe und werden von uns sehr ernsthaft undkonsequent verfolgt.
Weil uns von der SPD die Frage „Wie schaffen wir es,dass Menschen gesund und fit und mit guter Arbeit biszum Renteneintrittsalter arbeiten können?“ am meistenbeschäftigt und wir wissen, dass wir in der Arbeitsweltviel verbessern müssen, will ich einige unserer Leitfra-gen für diese Arbeitsgruppe noch einmal reflektieren:
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11310 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Katja Mast
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Sind alle Menschen, die in Erwerbsminderungsrentesind, zu Recht darin, und müssen sie darin bleiben?Hätte man nicht durch klügeres, früheres Agieren, durchPrävention bei Gesundheit und Qualifizierung viel mehrerreichen können?
Es gibt auch Menschen, die für die Erwerbsminderungs-rente zu gesund sind, aber zu krank, um Vollzeit weiter-zuarbeiten. Ich rede über Bauarbeiter, Pflegekräfte,Krankenschwestern. Diese verlieren häufig im Alter von55 Jahren ihren Job und bekommen dann 24 Monatelang Arbeitslosengeld. Ist es klug, die Arbeitslosigkeitzu finanzieren, oder finden wir nicht Modelle, die da an-setzen und die Arbeit von Menschen finanzieren, viel-leicht auch Teilzeit?
Ist es richtig, mit der Teilrente so spät anzufangen? Musssie nicht früher beginnen, muss sie nicht flexibler sein?Muss man nicht besser und klarer hinzuverdienen kön-nen? Ist es richtig, dass derjenige, der früher in Rentegeht, nur 450 Euro pro Monat hinzuverdienen kann?Wäre es nicht besser, ein bisschen mehr hinzuverdienenzu können? Last but not least: Reha und Prävention zustärken, ist ein gemeinsames Anliegen. Wir reden immervon „Reha vor Rente“. Brauchen wir in der Politik nichteinen neuen Grundsatz, der lautet: Prävention vor Reha?
Wir wissen, dass das, was wir aufschreiben, für alleGültigkeit entfaltet. Gut Ding will Weile haben. Wirbrauchen nicht nur Überschriften, wie im Antrag derGrünen, ohne ein Finanzierungstableau. Sie werden un-sere Ergebnisse noch in diesem Jahr kennenlernen.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Matthäus
Strebl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Bis vor einigen Jahren endete die Berufs-tätigkeit für viele Menschen in Deutschland mit dem Er-reichen des Renteneintrittsalters. Das hat sich geändert.Hierzu möchte ich einige Zahlen nennen: Nach einerUntersuchung des Instituts der deutschen WirtschaftKöln hat sich der Anteil der Erwerbstätigen zwischen65 und 74 Jahren in den vergangenen Jahren mehr alsverdoppelt. Während im Jahr 2000 noch 3,7 Prozent derMenschen in der genannten Altersgruppe erwerbstätigwaren, lag der Anteil 2013 bereits bei 8,7 Prozent, unddas bei weiterhin steigender Tendenz. Die Steigerung er-scheint mir logisch und nachvollziehbar. LängereErwerbstätigkeit wird heute meist positiv bewertet, posi-tiver als in früheren Jahren. Sie bedeutet für den Einzel-nen die Beibehaltung eines jahrzehntelangen Tages-rhythmus, Austausch, soziale Kontakte mit Kollegen,Anerkennung in der Gesellschaft. Eine niedrige Rente istfür viele Ältere eben nicht der ausschlaggebende Grund,im Rentenalter weiterzuarbeiten. Die Menschen arbeitenlänger, weil sie es wollen.Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass nicht nur dieGründe des Einzelnen für ein längeres Arbeiten spre-chen. Auch für den derzeitigen Arbeitsmarkt und dasdeutsche Rentensystem ist eine Verlängerung der Er-werbstätigkeit zu begrüßen. Den demografischen Wan-del und den Renteneintritt von vielen älteren Arbeitneh-mern spüren viele Betriebe in Deutschland bereits jetzt.Viele Firmen blicken mit Sorge auf den drohenden Fach-kräftemangel, wenn die älteren Mitarbeiter ihre Er-werbstätigkeit beenden. Immer mehr Arbeitgeber versu-chen, mit flexiblen Arbeitszeiten und Prämien ihreFachkräfte im Unternehmen zu halten. Leider beendenheute viele Beschäftigte ihre Erwerbstätigkeit, obwohlsie noch weiterarbeiten wollen. Eines ist sicher, verehrteKolleginnen und Kollegen: Wir dürfen die erprobte Er-fahrung und das Wissen von älteren Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern nicht verschwenden.Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wirden rechtlichen Rahmen für flexiblere Übergänge vomErwerbsleben in den Ruhestand verbessern werden. Ei-nen ersten Schritt in die richtige Richtung haben wir inder Großen Koalition mit dem Gesetz über Leistungsver-besserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung ge-macht, das am 1. Juli 2014, also vor fast genau einemJahr, in Kraft getreten ist. Arbeitnehmer und Arbeitgeberkönnen sich demnach noch während des laufenden Ar-beitsverhältnisses darauf verständigen, die Beendigungdes Arbeitsverhältnisses hinauszuschieben. Dies ist ins-besondere dann sinnvoll, wenn noch kein Ersatz für denausscheidenden Arbeitnehmer gefunden wurde oder eineNachwuchskraft noch nicht vorhanden ist bzw. eingear-beitet werden muss.Diese Änderung ist jedoch nicht ausreichend; denn esgeht um mehr. Im Kern müssen wir den Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern mehr Flexibilität ermöglichen.Die Arbeitsgruppe der Koalition befasst sich deshalb mitFragen des flexiblen Übergangs in die Rente. Dabeistellt sie sich vor allem die Frage: Wie können wir ver-nünftige und einfache Anreize schaffen, um längeres Ar-beiten attraktiver zu gestalten? In der Arbeitsgruppewidmen sich die Kollegen Themen wie Hinzuverdienst-grenzen, Arbeitgeberbeiträge und Rehabudget.Erfreulich ist, dass wir fraktionsübergreifend dieÜberzeugung teilen, dass das Weiterarbeiten von Be-schäftigten jenseits des Renteneintrittsalters nicht finan-ziell bestraft werden darf. Deshalb begrüße ich grund-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11311
Matthäus Strebl
(C)
(B)
sätzlich die Überlegungen, die Hinzuverdienstgrenze fürVollrenten vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze zuerhöhen. Welcher Betrag statt der derzeit 450 Euro sinn-voll ist, wird noch diskutiert. Es ist sicher eine gute Idee,sich hier an der Gleitzone zu orientieren und die Grenzebei 850 Euro, um eine Hausnummer zu nennen, festzule-gen. Mit der Teilrente könnte übrigens auch ein einfa-cheres Anrechnungsmodell verbunden werden. Ganz ab-schaffen sollten wir die Hinzuverdienstgrenzen jedochnicht. Wir müssen hier genau abwägen, um eine Früh-verrentungswelle zu vermeiden. Dabei sollten wir vor al-lem klare und einfache Lösungen finden, um den büro-kratischen Aufwand zu reduzieren. Auch sollten wirdarüber diskutieren, ob sich die gezahlten Arbeitgeber-beiträge rentenerhöhend auswirken sollten. Mit diesenIdeen können wir längeres Arbeiten attraktiver gestaltenund Anreize schaffen.In Ihrem Antrag fordern Sie von der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen, die Beschäftigungssituation ältererArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich zu ver-bessern, und bringen auch eine Anti-Stress-Verordnungins Spiel. Natürlich obliegt es der Politik, den Sozialpart-nern und den Betrieben, die Arbeitswelt altersgerechtanzupassen und der Leistung entsprechende Arbeits-plätze zu schaffen. Grundsätzlich halte ich es für erstre-benswert, die Beschäftigungssituation für Beschäftigtealler Altersklassen zu verbessern. Ob eine Anti-Stress-Verordnung tatsächlich hilft, ist zu bezweifeln.
Ich sehe da schon Schwierigkeiten, allgemeingültige undrechtssichere Kriterien für unterschiedliche Beschäftigteund unterschiedliche berufliche Tätigkeiten festzulegen.Ihr Konzept der Garantierente mit einem Mindestni-veau von 850 Euro für Versicherte mit 30 oder mehr Ver-sicherungsjahren halte ich für schwer finanzierbar. Auchlässt sich die Garantierente schwer mit dem Äquivalenz-prinzip des deutschen Rentenversicherungssystems ver-einbaren.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, inIhrem zweiten Antrag widmen Sie sich dem kommuna-len Ehrenamt und den Aufwandsentschädigungen. Da-mit möchte ich mich ganz kurz auseinandersetzen. Ohneehrenamtliches Handeln – darin sind wir uns einig –würde in vielen Bereichen des sozialen und politischenLebens Stillstand herrschen. Menschen engagieren sichin den verschiedensten Bereichen: in Sportvereinen,Feuerwehren, Kirchen oder Parteien. Für die CDU/CSU-Fraktion hatte das Ehrenamt schon immer einen hohenStellenwert. Wir sprechen jedem Menschen hohe Aner-kennung aus, der in seiner Freizeit Verantwortung fürdas Gemeinwesen übernimmt. Die Übergangsregelungfür die kommunalen Ehrenbeamten haben wir bis 2017verlängert. Ich halte Ihren Antrag zwar von der Idee herfür richtig; die Umsetzung würde aber zu einer Un-gleichbehandlung führen.
Wenn jeder so viel hinzuverdienen kann, wie er frühernetto verdient hat, führt das zu einer gravierenden Un-gleichbehandlung zwischen den kommunalen Ehrenbe-amten. Den Antrag halte ich nicht für zielführend. Erhilft auch nicht, das kommunale Ehrenamt zu stärken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüßees, dass sich die Arbeitsgruppe der Großen Koalitionzum flexiblen Renteneintritt weiter beraten und austau-schen wird. Wir sollten uns bei einem so wichtigenThema ausreichend Zeit nehmen und keinen Schnell-schuss riskieren. Die Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lehnen wir daher ab.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion
Die Linke die Kollegin Kerstin Kassner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Gäste! Das Thema, das uns mitder Drucksache 18/5213 auf den Tisch gelegt wurde,geht uns alle an. In Zeiten knapper Kassen, namentlichin den Kommunen, wird immer mehr auf das Ehrenamtgesetzt. Vieles, was vorher von hauptamtlichen Mitar-beitern geregelt wurde, wird jetzt durch ehrenamtlichEngagierte – Gott sei Dank haben wir sie – erledigt. Esgibt aber Grenzen. Diese Grenzen gibt es immer im Zu-sammenspiel mit Menschen, mit Kindern. Es wird nichtnur guter Wille gebraucht, sondern auch Wissen undKönnen, insbesondere bei den kommunalen Mitstreitern,den kommunalen Ehrenämtern. Dort wird eine riesen-große Verantwortung wahrgenommen. Es geht nicht nurum eine sinnvolle Freizeitgestaltung.
Sie haben Verantwortung für Geld, aber in allerersterHinsicht für Menschen; denn die kommunalen Mitstrei-ter entscheiden über Stellenpläne und sorgen dafür, dassin den kommunalen Einrichtungen noch etwas läuft. Da-mit haben sie sehr viel zu tun.Aus diesen Gründen ist es für mich unverständlich,dass es seit zehn Jahren – nun noch einmal verlängert
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11312 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Kerstin Kassner
(C)
(B)
um zwei Jahre – eine Übergangsfrist für Menschen gibt,die vorgezogene Altersrente oder Erwerbsunfähigkeits-rente bekommen und sich in den Kommunen engagie-ren. Viele, die die vorgezogene Altersrente oder die Er-werbsunfähigkeitsrente in Anspruch nehmen, machendas nicht freiwillig, sondern weil die Umstände sie dazugezwungen haben. Für sie ist es sehr wichtig, dass sieeine Aufgabe haben, die sie ausfüllt und mit der sie et-was bewegen können. Viele sind einsam und bekommendurch das Ehrenamt Kontakte mit anderen; andere habeneinfach Spaß am Ehrenamt, weil sie etwas befördernkönnen. Ich glaube, das ist ein Riesengewinn für unsereGesellschaft.
Sie sollten für ihre verantwortungsvolle Arbeit nicht miteinem Grundbetrag bestraft werden, den sie hinzuverdie-nen können, sondern das bekommen, was ihnen zusteht,wie jeder andere auch.
Ein weiterer Aspekt betrifft die Bezieher von Hilfenim Rahmen von SGB XII oder SGB II. Sie dürfen nurden Grundfreibetrag von 175 Euro behalten. Das ist ein-fach zu wenig.
In meiner Zeit als Landrätin und als Chefin vom Jobcen-ter standen Bürgerinnen und Bürger vor mir, die fragten,warum das so ist. Ich musste ihnen dann die Gesetzes-lage erklären, und sie waren natürlich unzufrieden. Daich heute hier stehe, kann ich nur an Sie appellieren,liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU undSPD: Bitte ändern Sie etwas an dieser Situation! DieMenschen, die sich engagieren, haben das wirklich ver-dient.
Es ist einfach unwürdig, wenn wir ihnen nicht das geben,was ihnen zusteht und was jeder andere bekommt. Ichweiß auch: Viele davon könnten sich sehr viel wenigerengagieren, wenn ihnen diese Möglichkeit genommenwürde. Ich glaube, wir gewinnen als Gesellschaft insge-samt ungeheuer dadurch, dass die Menschen bereit sind,sich zu engagieren. Das sollten wir entsprechend hono-rieren. So viel muss einfach drin sein.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Martin
Rosemann für die SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zuBeginn meiner Rede der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen sehr herzlich danken, dass Sie mit Ihrem Überschrif-tenantrag uns die Gelegenheit zu der heutigen Debattegeben und damit mir die Möglichkeit, die Position derSPD-Bundestagsfraktion zum Thema „flexible Über-gänge“ deutlich zu machen.Was bedeuten für uns flexible Übergänge? Sie bedeu-ten nicht einen früheren Renteneintritt. Denn wenn wirim Durchschnitt, liebe Kolleginnen und Kollegen, im-mer älter werden, dann müssen wir im Durchschnittauch länger arbeiten.
Hierzu müssen flexible Übergänge einen Beitrag leisten.
Es geht beim Thema „flexible Übergänge“ aber nichtnur darum, das Arbeiten über die Regelaltersgrenze hi-naus attraktiver zu machen; denn das Kernproblem – da-rauf haben einige Vorrednerinnen und Vorredner schonhingewiesen – ist ja nicht, dass man es nicht dürfte oderdass es dafür keine Anreize gäbe. Es gibt keinerlei ren-tenrechtliche Hürde für ein Weiterarbeiten über die Re-gelaltersgrenze hinaus. Es gibt sogar Zuschläge – es istgesagt worden –: 6 Prozent mehr Rente für jedes zusätz-liche Jahr. Hinzu kommen die Entgeltpunkte, die mandann zusätzlich erwirbt. Das bedeutet für einen Stan-dardrentner: Wenn er ein Jahr länger arbeitet, hat er proMonat circa 110 Euro mehr in der Tasche. Das ist janicht nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Problem ist doch eher: Die meisten wissen esnicht. Das geht bis in die Medienberichterstattunghinein. Vor einigen Monaten konnte man bei SpiegelOnline lesen – ich zitiere –:Wer will, soll länger arbeiten können – das fordertder Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise.Ich muss zugeben, dass ich zuerst Herrn Weise im Ver-dacht hatte. Nähere Recherchen haben dann aber ge-zeigt: Der Fehler lag bei der Spiegel-Online-Redaktion.
Die Spiegel-Online-Redaktion befindet sich da durchausin guter Gesellschaft, beispielsweise mit SWR1 Arbeits-platz oder – ganz aktuell in dieser Woche – mitBeckmann.
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Dr. Martin Rosemann
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Dabei – darauf ist von Frau Mast schon hingewiesenworden – sind die letzten arbeitsrechtlichen Hürden mitdem ersten Rentenpaket beseitigt worden.
Deshalb meine ich: In allererster Linie ist eine bessereInformationspolitik notwendig, damit deutlich wird, wasmöglich ist und was ein längeres Arbeiten über die Re-gelaltersgrenze hinaus bedeutet.
Das Kernproblem ist aber doch, dass trotz insgesamtsteigender Erwerbsbeteiligung Älterer viele Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer es eben nicht bis zur Regel-altersgrenze schaffen. Herr Birkwald hat es angespro-chen: In der Baubranche liegt das durchschnittlicheAusstiegsalter unter 58 Jahren, in den Gesundheits-dienstberufen bei knapp 61 Jahren, bei den Hilfsarbei-tern über alle Branchen hinweg bei 59 Jahren. Dafür,meine Damen und Herren, brauchen wir eben auch Lö-sungen. Deshalb ist es das Ziel der SPD, die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer bei möglichst guter Ge-sundheit möglichst lange im Arbeitsleben zu halten.
Denn für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer be-deutet es höhere Rentenanwartschaften, und den Arbeit-gebern sichert es die dringend benötigten Fachkräfte.
Dafür, meine Damen und Herren, gibt es zwei zen-trale Ansatzpunkte: erstens Übergänge zu flexibilisierenund gleitende Ausstiege zu ermöglichen, zweitens Prä-vention und Rehabilitation zu stärken. Wir haben zu bei-dem Vorschläge gemacht. Wir wollen die Teilrente at-traktiver machen.
Wir wollen die bisher zu starren drei Stufen flexibilisie-ren und die Hinzuverdienstgrenzen bei vorzeitigem Ren-tenzugang großzügiger ausgestalten.
Wir wollen aber auch, dass ein gleitender Übergangbereits vor dem 63. Geburtstag möglich ist: bei gesund-heitlichen Einschränkungen oder bei Modellen, die dasArbeitsvolumen insgesamt erhöhen. So hat zum Beispieldie IG BCE ein Modell vorgeschlagen, dass man von60 Jahren bis zur Regelaltersgrenze 60 Prozent arbeitet.Das ist mehr, als wenn man, wie bisher häufig, von60 bis 63 Jahren voll arbeitet und danach gar nicht mehr.Was wir nicht wollen, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen, das ist die volle Altersrente bereits ab60 Jahren, ob mit Abschlägen, wie Sie es fordern, oderohne Abschläge, wie das die Linke fordert.
Wir haben Vorschläge zur Stärkung von Präventionund Reha gemacht. Wir müssen dabei insbesondere die-jenigen erreichen, die besonders gefährdet sind, nicht biszur Regelaltersgrenze arbeiten zu können. Wir müssenhier rechtzeitig Angebote machen – nicht erst, wenn dasKind schon in den Brunnen gefallen ist –, zum Beispieldurch aufsuchende Reha. Im Einzelfall kann mit 45,46 oder 48 Jahren eine berufliche Umorientierung not-wendig sein.Genauso wichtig finde ich es, dass wir endlich Teil-zeitarbeitsverhältnisse für jene Menschen schaffen, diehäufig nur teilerwerbsgemindert sind, aber trotzdem bis-her die volle Erwerbsminderungsrente bekommen, weiles auf dem Arbeitsmarkt keine entsprechenden Teil-arbeitsverhältnisse gibt bzw. weil das Zusammenspielvon Rentenversicherung und Bundesagentur für Arbeitan dieser Stelle noch nicht gut genug ist. Daran müssenwir arbeiten.
Sie sehen also: Bei der Diskussion um flexible Über-gänge geht es um weit mehr als um ein paar Verbesse-rungen bei der Teilrente. Es geht auch um weit mehr alsum das Arbeiten oberhalb der Regelaltersgrenze. „Flexi-ble Übergänge“ ist eines der großen Themen an derSchnittstelle von Arbeitsmarkt- und Alterssicherungs-politik. Ein so großes Thema verlangt mehr als Über-schriften. Deshalb nehmen wir uns die notwendige Zeit,um Lösungen gemeinsam mit unserem Koalitionspartnerzu finden.
Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Siehatten relativ lange Zeit, sich um das Thema „flexibleRentenübergänge“ zu kümmern. In Bezug auf die Pro-blembeschreibung sind wir uns einig, aber wenn es umeine Lösung geht, dann sind Sie sehr blockiert. DieseDebatte macht sehr deutlich, dass die Grünen an dieserStelle die Partei der Freiheit sind.
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Deswegen habe ich auch überhaupt kein Problem, wennder Kollege Matthias Birkwald uns als liberal bezeich-net. Wir sind aber auch die Partei für soziale Gerechtig-keit. Deswegen unterbreiten wir mit unserem Antrag ei-nen Vorschlag, in dem wir Flexibilität und sozialeSicherung kombinieren. Daran sollten Sie sich in IhrerArbeitsgruppe orientieren, dann kommen Sie vielleichtauch voran, und das sowohl bei den Möglichkeiten nachoben als auch nach unten.
Die CDU/CSU betont, dass es mehr Flexibilität nachoben gibt, die SPD betont, dass es mehr Flexibilität nachunten gibt.
Wir sagen: Wir brauchen Flexibilität in beide Richtun-gen, damit die Menschen selbstbestimmt entscheidenkönnen, ob sie früher oder später in Rente gehen.
Zum Thema „länger arbeiten“. Hier ist es wichtig– mein Kollege Markus Kurth hat das schon gesagt, aberSie sind nicht darauf eingegangen –, dass die Beiträge,die die Arbeitgeber in die Rentenkasse einzahlen, auchzu höheren Rentenansprüchen führen.
Das würde die soziale Sicherheit erhöhen, und daswürde auch den Anreiz, länger zu arbeiten, erhöhen.Menschen, die länger arbeiten, würden belohnt werden.Das ist ein wichtiger Punkt, um Flexibilität nach oben zuermöglichen.
– Es gab eben den Zwischenruf: „Dann gibt esLohndumping!“ Im Gegenteil: Zu Lohndumping kommtes dann, wenn, wie der Wirtschaftsflügel der CDU/CSUes vorgeschlagen hat, keine Beiträge mehr gezahlt wer-den.
Deswegen sagen wir: Die Beiträge sollen weiter gezahltwerden, und es soll die Möglichkeit geben, dass die Ar-beitnehmer freiwillige Beiträge zahlen, die dann renten-steigernd wirken. So wird ein Schuh daraus.Ich gebe dem Kollegen Rosemann durchaus recht,wenn er sagt, dass die Möglichkeit, früher auszusteigen,tatsächlich die sozial relevantere ist. In vielen Punktenkann ich Ihnen durchaus zustimmen. Ich glaube, wennwir in einer Koalitionsarbeitsgruppe zusammenarbeitenwürden, würden wir sehr viel schneller zu einem Ergeb-nis kommen, als das bei der jetzigen Koalition der Fallist.
Ich will verdeutlichen, was wir vorschlagen. Es istwichtig, Freiheit und soziale Sicherung miteinander zukombinieren. In der Tat hatte die FDP ähnliche Vor-schläge wie wir. Diese Vorschläge orientieren sich andem skandinavischen Modell. Wir haben nichts dage-gen, wenn auch die FDP nach Skandinavien schaut, woman mit der Kombination aus Freiheit und sozialer Si-cherung gerade beim Thema Rente gute Erfahrungen ge-macht hat.
Bezogen auf die Teilrente heißt das: Wir wollen esMenschen ermöglichen, ab 60 teilweise Rente in An-spruch zu nehmen, und zwar damit sie die Möglichkeithaben, länger zu arbeiten.
Wir wollen eine Reduzierung der Arbeitszeit plus so-ziale Sicherung. Die empirischen Studien zeigen, dassdie Menschen in Skandinavien länger arbeiten, obwohles dort die Möglichkeit gibt, ab 60 Teilrente zu bekom-men.Bezüglich der Menschen, die besondere gesundheitli-che Probleme haben, muss man tatsächlich über die Ab-schläge nachdenken; aber das ist eine eng begrenzteGruppe. Wir schlagen vor, dass die Erwerbsgeminderten,also diejenigen, die gesundheitlich beeinträchtigt sind,ohne Abschläge in Rente gehen können. Dann gibt esnoch die Gruppe derjenigen, die nicht erwerbsgemindertsind, aber auch nicht voll erwerbsfähig sind. Für dieseGruppe brauchen wir eine Lösung, um die Abschlägeauszugleichen, damit auch sie sich eine Teilrente leistenkönnen.
Auf die weiteren Punkte kann ich jetzt nicht mehr ein-gehen. Wir schlagen vor, Flexibilität, Freiheit und so-ziale Sicherheit miteinander zu verbinden. Die Skandi-navier haben damit gute Erfahrungen gemacht. Dort istdas Renteneintrittsalter gestiegen, ist die Erwerbstätig-keit im Alter gestiegen. Dort gibt es sowohl die Mög-lichkeit, länger zu arbeiten, als auch die Möglichkeit,früher in Rente zu gehen.Wenn Sie Freiheit und soziale Sicherung haben wol-len, dann orientieren Sie sich an unserem Antrag. WennSie ihm schon nicht zustimmen, dann nehmen Sie ihnwenigstens mit in Ihre Koalitionsarbeitsgruppe.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. CarstenLinnemann für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Martin Rosemann, ich reihe mich gerne ein:Auch ich bedanke mich dafür, dass Sie dieses Thema indie Kernzeit und nicht in die Randzeit unserer Plenartagegeschoben haben. Das Thema „Arbeiten im Alter“ istwichtig. Ich freue mich auf die Diskussionen im Aus-schuss. Bisher kam aber, glaube ich, der Umstand, wa-rum wir über dieses Thema reden, ein bisschen zu kurz.Jeder geht dieses Thema auf seine eigene Art undWeise an. Für mich sind drei Zahlen interessant:Erstens. Alle Institutionen Deutschlands sagen, dassdas Arbeitskräftepotenzial in den nächsten 10, 20 Jahrenzurückgehen wird. Manche sprechen von 6 Millionen,andere von 8 Millionen; aber alle sind sich einig, dassdas Arbeitskräftepotenzial signifikant zurückgehen wird.Zweitens. Die Babyboomer-Generation geht in diesenJahren in Rente. Man kann sagen, dass in den nächsten10 Jahren durchschnittlich 300 000 Menschen mehr denArbeitsmarkt verlassen als hinzukommen.Drittens. Die Rentenbezugsdauer ist von 10 auf20 Jahre gestiegen. 1960 betrug sie knapp 10 Jahre. Da-mals hat man nach dem Renteneintritt im Durchschnittnoch knapp 10 Jahre gelebt, heute sind es fast 20 Jahre.Man muss zudem konstatieren, dass die Menschen nichtnur länger leben, sondern auch im Alter länger fit blei-ben.Deshalb sprechen wir über dieses Thema. Deshalb istdas Thema Demografie für mich das zentrale Thema indiesem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, viel-leicht neben dem Thema Digitalisierung. Ich glaube, dasist die große Linie, die wir im Auge behalten müssen.Ziel muss es sein – ich glaube, das wollen wir alle –,dass die Menschen nicht nur länger arbeiten können,sondern auch länger arbeiten wollen. Ich glaube, das istder Mentalitätswechsel, den wir brauchen, und ichglaube, da ziehen wir alle an einem Strang. Das ist unserZiel.
Bundespräsident Gauck hat kürzlich in einer Rede zurFlexirente bzw. zum längeren Arbeiten zum Ausdruckgebracht, dass wir die Möglichkeit dazu schaffen müs-sen. Interessant ist, dass die Menschen in Deutschlandpraktisch mit einer Vollbremsung in die Rente gehen.Die Erwerbsbeteiligung Älterer steigt. Sie arbeiten bis65, und dann kommt das Fallbeil. Einige arbeiten dannnoch in 450-Euro-Jobs. Auch einige Selbstständige wol-len oder müssen länger arbeiten. Interessant ist, dass inanderen Ländern, zum Beispiel in Japan, die Menschenfreiwillig gerne länger arbeiten. In Deutschland hinge-gen gibt es ein anderes Klima. Hier sagt man: Die Men-schen arbeiten nur deshalb länger, weil sie Geld benöti-gen. Das kommt ja auch, Herr Birkwald, häufig vonIhnen.
– Ja, das mache ich. – Dafür schauen Sie sich dieUmfrage der Hans-Böckler-Stiftung an, bei der 64- und65-Jährige gefragt wurden, warum sie gern sozialversi-cherungspflichtig weiterarbeiten. Das Ergebnis ist ganzinteressant. An Stelle eins steht: Spaß an der Arbeit. Dassagten fast 75 Prozent. Drei Viertel derjenigen, die imRentenalter länger arbeiten, machen das nicht wegen desGeldes, sondern aus Spaß an der Arbeit. An zweiterStelle steht der Wunsch nach einer Aufgabe und an drit-ter Stelle der Kontakt zum Menschen. Das sind die Topdrei der Gründe, warum man länger arbeitet. Erst danachkommen die finanziellen Gründe. Ich glaube, das solltenwir mehr beachten. Denn manchmal hat man den Ein-druck, dass Arbeit gar kein Wert an sich ist, sondern dassman das nur wegen des Geldes machen muss. Viele ar-beiten auch deshalb, um weiter Kontakte und Teilhabeim Leben zu haben.
Herr Kurth, wir können uns gerne im Ausschuss da-rüber unterhalten. Ich habe jetzt zum Teil auch andereInformationen aus Schweden bekommen. Es gibt eine Ex-pertenkommission, die gesagt hat, dass die Rente mit 60,also auch Ihr Vorschlag, mit Abschlägen zwar mathema-tisch korrekt ist, aber in Schweden – dort sind es61 Jahre – dazu führt, dass die Lebensarbeitszeit amEnde des Tages in Summe nicht steigt. Deswegen über-legen die, jetzt umzuschwenken. Darüber können wirgerne im Ausschuss debattieren. Deswegen unterstützeich auch den Kollegen Weiß, der gesagt hat: Das ist nichtdas Ziel.Aber es stimmt, Frau Mast, dass der zentrale Schrittder Flexirente geschafft ist, nämlich dass wir befristetweiterarbeiten können. Wenn wir uns die aktuellen Zah-len der Bundesagentur für Arbeit ansehen, werden wirfeststellen: Seitdem wir die Flexirente verabschiedet ha-ben, arbeiten in Deutschland 25 000 Menschen im Alterüber 65 mehr. Da gibt es einen Zusammenhang mit unse-rer Befristungsmöglichkeit. Das war richtig. Das war dieLeistung der Großen Koalition. Das war der ersteSchritt. Weitere müssen folgen.Herr Rosemann, Sie haben recht: Wir müssen dafürsorgen, dass die Menschen länger arbeiten können, aberwir müssen auch dafür sorgen, dass sie es wollen. Viel-leicht sollten wir einmal darüber nachdenken, es nichtRenteneintrittsalter zu nennen, sondern Rentenbezugsal-ter.Herr Strengmann-Kuhn, wenn Sie das lesen, was ichund andere sagen, wissen Sie, dass ich völlig bei Ihnenbin. Ich habe überhaupt kein Problem damit, im Gegen-teil. Wenn die isolierten Rentenbeiträge der Arbeitgeberbei den Arbeitnehmern, bei den arbeitenden Rentnernankommen, dann wird die Arbeit nicht teurer.
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11316 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Dr. Carsten Linnemann
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Das ist attraktiv; das ist richtig. Diesen Vorschlag unter-stütze ich. Die Arbeitslosenversicherungsbeiträge, diese1,5 Prozent, gehören meines Erachtens abgeschafft. DerVorschlag stammt nicht nur von mir, sondern auch vonHerrn Weise, dem Chef der Bundesagentur für Arbeit.Das alles sind Maßnahmen, die vielleicht nur punk-tuell wirken; es sind kleine Bausteine. Die einzelnenPunkte führen nicht dazu, dass die Menschen jetzt längerarbeiten, aber es ist das richtige Signal. Diese Bausteinebrauchen wir. Flexirente heißt Flexibilität im Renten-alter. Der erste große Schritt ist mit der befristetenBeschäftigung gemacht. Weitere müssen folgen. Wirmüssen es schaffen, einen Mentalitätswechsel herbeizu-führen, sodass die Menschen nicht nur länger arbeitenkönnen, sondern dies auch freiwillig wollen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt
für die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Unser aller-erstes Anliegen als SPD ist es, allen Menschen ein ge-sundes Arbeiten bis zum Regelrenteneintrittsalter zu er-möglichen. Das Problem ist ja nicht – das ist an vielenStellen schon angesprochen worden –, länger arbeiten zukönnen. Es ist gesagt worden: Diese Möglichkeiten ha-ben wir geschaffen. Das Problem ist doch eigentlich,dass viele Menschen es aus den unterschiedlichstenGründen nicht schaffen, Vollzeit bis zur Rente zu arbei-ten.Unser Rentensystem ist an verschiedenen Stellen re-formbedürftig. Wichtige Reformen sind von uns bereitsumgesetzt worden. Lasst mich einmal sagen: Wir regie-ren seit anderthalb Jahren. Zeigen Sie mir eine andereBundesregierung, die so viel auf den Weg gebracht undin der Rente und darüber hinaus umgesetzt hat wie wir!
Ich nenne die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjah-ren, die Mütterrente, die Verbesserung bei der Erwerbs-minderung und bei der Reha.Aber bei allen Reformen, eines wird das Rentensys-tem nicht leisten können, nämlich soziale Härten, Unge-rechtigkeiten und Defizite, die im Erwerbsleben entstan-den sind, vollständig auszugleichen oder zu korrigieren.Deswegen ist es eine wichtige sozialpolitische Aufgabeund ein notwendiger Beitrag zur Armutsbekämpfung,dafür zu sorgen, dass Menschen länger gesund bei ge-rechtem Lohn arbeiten können.
Gerade die flexiblen Übergänge dürfen nicht nur eineMöglichkeit für Besserverdienende sein. Es brauchtOrdnung am Arbeitsmarkt und starke Tarifpartner, damitdie Voraussetzungen für alle geschaffen werden können.
Auch dafür haben wir in den letzten anderthalb Jahrenschon einiges getan – wir haben aber auch noch einigesvor –: Genannt seien der Mindestlohn, die Öffnung desArbeitnehmer-Entsendegesetzes, die Vereinfachung derAllgemeinverbindlichkeitserklärung, die Stärkung derTarifpartner – die Regulierung von Werkverträgen undLeiharbeit liegt noch vor uns –, die Unterstützung vonLangzeitarbeitslosen, aber auch die Stärkung der sozia-len und der Erziehungsberufe durch entsprechende Mit-telerhöhung in der Pflegeversicherung und zusätzlicheMittel für Bildung und Betreuung für Länder und Kom-munen. All das haben wir in den letzten anderthalb Jah-ren schon geschafft.
Mit dem Präventionsgesetz haben wir die betrieblichePrävention gestärkt. Bei alledem, was wir auf den Weggebracht haben, gilt es aber auch, sich die einzelne Er-werbsbiografie anzuschauen und passgenaue Unterstüt-zung – über Prävention, Reha, Beratung, Fort- und Wei-terbildung – zu gewährleisten, damit Gesundheit undArbeitsplatz geschützt werden. Wenn man Neues undmanchmal auch Großes vorhat, dann sollte dies wohlge-prüft, durchdacht und durchgerechnet werden. In man-chen Koalitionen – vielleicht ist das ja in den Koalitio-nen auf Landesebene, an denen Sie von den Grünenbeteiligt sind, anders – muss man über die Dinge auchnoch diskutieren.
Ich möchte Ihnen eines unserer Vorhaben – das istmein Lieblingsvorhaben – vorstellen: den Ü-45-Check-up, formerly known as Ü-50-Check-up.
Daran sehen Sie schon, dass es sich lohnt, über mancheDinge etwas länger nachzudenken. Denn bei genauemHinsehen erkennt man, in welch großem Umfang bereitsmit Mitte 40 Rehamaßnahmen, aber auch eine Erwerbs-minderung stattfinden. Insbesondere betrifft das den Be-reich der psychischen Probleme, der ja schon angespro-chen worden ist. Deshalb haben wir unsere Idee desCheck-ups fünf Jahre vorgezogen.Um was geht es uns genau? Wir wollen mit dem Ü-45-Check-up einen wichtigen individuellen Baustein zurGesundheitsprävention und zur Arbeitsplatzsicherheitetablieren. Es gibt viele Berufe und auch persönliche,gesundheitliche Situationen, bei denen man schon mit
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Dagmar Schmidt
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45 weiß, dass man nicht mehr 20 Jahre wie bisher wei-terarbeiten kann. Deswegen wollen wir vor allem denMenschen in kleinen und mittleren Betrieben, die esschwerer haben, Prävention und individuelle Gesund-heitsförderung umzusetzen, und in denen es meistenskeine Arbeitnehmervertretung gibt, die sich um einenverbesserten Gesundheitsschutz kümmert, rechtzeitigund früh ein individuelles Recht auf Prävention undHilfe zukommen lassen.
Im 46. Lebensjahr – jeder und jede soll darüber in ei-nem persönlichen Anschreiben informiert werden – kannder Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin einen berufs-bezogenen Gesundheitscheck machen und sich im undmit dem Unternehmen beraten lassen, welche Maßnah-men am Arbeitsplatz selbst oder durch einen Arbeits-platzwechsel innerhalb des Betriebes, aber auch durcheinen Berufs- und Arbeitsplatzwechsel insgesamt ergrif-fen werden sollten, um Gesundheit und Arbeitsfähigkeitzu sichern. Inklusive sind persönliche Beratung, aufWunsch Beratung und Gespräch mit dem Betrieb, einProfiling und, wenn notwendig, Fort- und Weiterbil-dung, finanziert über die Bundesagentur für Arbeit, unddas alles unter Berücksichtigung der realen Situation desArbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin und der regio-nalen Arbeitsmarktlage.„Arbeit ist der Umweg zu allen Genüssen“, sagteWilly Brandt. Gute Arbeit soll dazu beitragen, dass auchdas Rentenalter genießbar wird. Ich wünsche allen Kol-leginnen und Kollegen, dass sie in den kommenden Wo-chen nicht nur im Wahlkreis arbeiten, sondern auch eineschöne, freie Urlaubszeit genießen können.In diesem Sinne: Glück auf!
Nach diesen guten Wünschen hat der Kollege Albert
Stegemann für die CDU/CSU das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Sommerpause im Parlament wirft ihre Schatten voraus.
Ich freue mich sehr, dass wir uns heute, bevor das Parla-
ment in die wohlverdiente Ruhepause startet, mit der
Phase des Ruhestandes im Arbeitsleben beschäftigen.
Hierzu hatte ich mir einen Vers notiert, den ich vortragen
wollte, um danach in die nächsten Seiten meiner Rede
einzusteigen. Diesen Vers kann ich heute aber auch
anwenden; denn unser geschätzter Saaldiener Herr
Grothkopf wird am 31. Juli dieses Jahres in den Ruhe-
stand gehen. Wir wünschen ihm von hier aus alles, alles
Gute!
Nach dieser verdienten Wertschätzung und allgemei-
nem Beifall – das wird von der Redezeit abgezogen – ha-
ben Sie wieder das Wort.
Herzlichen Dank. – Der von mir angewandte Spruchhieß: Mein lieber Pensionär, wir hier im Büro vermissendich sehr. Du hast mit uns hinter dem Schalter gesessen,wir werden dich niemals vergessen! – Mit solchen oderähnlichen Sprüchen werden tagtäglich langgediente Mit-arbeiter in den Ruhestand geschickt.Wir müssen feststellen, dass sich die Arbeitswelt seiteinigen Jahren grundlegend ändert. Die Erwerbsbiogra-fien werden vielfältiger und bunter. Um hierauf reagie-ren zu können, muss auch das System der Rente flexiblerwerden. Dennoch gilt in der allgemeinen Wahrnehmungfälschlicherweise der Grundsatz, dass das Berufslebenzu einem gesetzlich festgelegten Stichtag endet. Damitnähert sich der Renteneintritt unaufhaltsam, ob der Mit-arbeiter nun möchte oder nicht, ob er fit ist oder nicht.Vor diesem Hintergrund bin ich Ihnen, liebe Kollegenvon den Grünen, sehr dankbar, dass Sie das Thema derflexiblen Rentenübergänge auf die heutige Tagesord-nung gesetzt haben.Ich stimme Ihnen zu, dass wir uns auch fragen müs-sen, ob das traditionelle Bild noch zeitgemäß ist. Die Re-gierungsparteien haben vor ziemlich genau einem Jahrim Rahmen des Rentenpakets die ersten Weichen ge-stellt, damit flexiblere Übergänge gelingen können. Soermöglicht – das wurde hier schon einige Male erwähnt –§ 41 SGB VI das Arbeiten über das Renteneintrittsalterhinaus.Als Gesetzgeber müssen wir allerdings feststellen,dass diese Möglichkeit in der Praxis bisher viel zu weniggenutzt wurde. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind unsi-cher, was die konkrete Umsetzung anbelangt. Hier ste-hen wir in der Verpflichtung. Zugleich braucht es aberauch eine gesellschaftliche Debatte, ein Umdenken imKopf, um die Notwendigkeit einer solchen Regelunginsbesondere vor dem Hintergrund des demografischenWandels anzuerkennen.Daher suchen die Regierungsparteien mit der Arbeits-gruppe „Flexi-Rente“ eine langfristige Lösung, die denBedürfnissen der heutigen Arbeitswelt umfänglich ge-recht wird. Uns alle eint das Ziel, dass Arbeitnehmergrundsätzlich frei entscheiden sollen, wann und wie sieden Übergang vom Erwerbsleben in die Rente gestalten.Sofern es die eigene Gesundheit zulässt, soll jeder solange arbeiten, wie er möchte. Damit aber die Proportio-nen in der Dreiteilung des Lebens in der Waage bleiben,kommen wir nicht umhin, durchschnittlich länger zu ar-beiten, zumindest dann, wenn wir alle älter werden. Er-
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Albert Stegemann
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freulicherweise können wir feststellen, dass das in denletzten Jahrzehnten der Fall war. Am besten lässt sichdas an der Rentenbezugsdauer ablesen. So erhielt 1960ein Rentner in der Bundesrepublik Deutschland durch-schnittlich noch zehn Jahre Leistungen von der Renten-versicherung. Mittlerweile liegt die durchschnittlicheRentenbezugsdauer bei fast 20 Jahren. Die Ausweitungder Lebensarbeitszeit – die sogenannte Rente mit 67 –war daher eine richtige Entscheidung.
– Doch!Ein weiterer Grund, Menschen ein längeres Berufsle-ben zu ermöglichen, ist der Bedarf an Fachkräften. VieleFirmen und Institutionen können in einer sich rasch wan-delnden Arbeitswelt nicht auf erfahrene Mitarbeiter ver-zichten. Seien wir doch ehrlich: Die Zeiten der Frühver-rentung wie in den 90er-Jahren sind vorbei. Der Großteilder Unternehmen hat kein Interesse daran, den gut aus-gebildeten 60-jährigen Mitarbeiter mit einem goldenenHandschlag zu verabschieden. Hierfür braucht es aller-dings vernünftige Rahmenbedingungen und altersge-rechte Arbeitsplätze. Zugleich gilt es aber auch, somanche Vorurteile älteren Mitarbeitern gegenüber abzu-bauen. Daher noch einmal: Politik kann Anstöße gebenund Regeln festlegen. Wirklich entscheidend ist aberauch eine gesellschaftliche Debatte.
Letztlich – das sollte nicht vergessen werden – gibt esschlicht und einfach den Wunsch von zukünftigen Rent-nern, weiterzuarbeiten. Gerade der Kontakt mit den be-kannten Kollegen und eine tägliche Aufgabe machenden Alltag wertvoll. Wenn wir von einem selbstbe-stimmten Altern reden, gehört dies auch dazu, getreudem Motto: Wer rastet, der rostet.Insofern ist festzustellen, dass Politik und Gesell-schaft in den vergangenen Jahren entscheidende Schrittein die richtige Richtung getan haben. So ist die Erwerbs-tätigenquote bei den 55- bis 64-Jährigen in den letztenfünf Jahren um fast 30 Prozent gestiegen. In Europanimmt Deutschland damit einen Spitzenplatz ein, wasdie Beschäftigung älterer Menschen anbelangt.
– Genau. – Es kommt allerdings noch ein kleines Aber:Die Rente mit 63 wirkt dieser Entwicklung aktuell etwasentgegen; aber insgesamt stimmt die Richtung.Der Auftrag liegt also klar vor uns. Und doch gebe ichzu: Wir haben in den letzten Wochen sehr intensiv disku-tiert; denn wie so oft steckt der Teufel – vor allen Dingenim Rentenrecht – im Detail.Da wäre zum Beispiel der Punkt der Hinzuverdienst-grenzen vor Erreichen des regulären Renteneintrittsal-ters. Die Grünen sprechen dieses Problem in ihrem An-trag an, und sie haben recht: Hier hakt es, hier sindÄnderungen notwendig – allerdings nicht in der Form,wie Sie sie vorschlagen. Die von Ihnen ins Spiel ge-brachte Regelung würde dazu führen, dass gerade imkommunalen Ehrenamt eine Zweiklassengesellschaftentstünde. Es darf nicht passieren, dass im Gemeinderatzwei Vertreter sitzen, die aufgrund unterschiedlich hoherVerdienste im Berufsleben abweichende Abzüge von ih-rer Entschädigung hinnehmen müssen. Ihre Idee ist gutgemeint, aber nicht gut gemacht. Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion lässt sich die offene Baustelle durch hö-here Hinzuverdienstgrenzen lösen.
Wir brauchen eine deutliche Anhebung, allerdings ohnedabei neue Anreize zur Frühverrentung zu setzen. Ichbin optimistisch, dass dies gelingen wird.Beim Thema Arbeitgeberbeiträge sind wir eng beiein-ander. Nach geltendem Recht zahlen Arbeitgeber für ei-nen älteren Beschäftigten weiterhin den Anteil an dieRentenversicherung, obwohl sich dieser nicht rentener-höhend auswirkt. Dies ist nicht nachvollziehbar. Dahersollten Rentner zukünftig mit diesen Beiträgen ihr Ruhe-gehalt weiter aufbessern können.Darüber hinaus möchte ich den Punkt der Gesundheitnennen. Wie lange jemand arbeiten kann, hängt maßgeb-lich von seiner Gesundheit ab. Vor diesem Hintergrundmüssen wir uns noch stärker mit präventiven und Reha-maßnahmen beschäftigen. Hier schwebt uns ein ganzesBündel von Maßnahmen vor: Die Erhöhung des Reha-budgets im Rentenpaket war ein erster Schritt dazu. Zu-künftig sollten sich Leistungen stärker an der individuel-len gesundheitlichen Situation orientieren. In diesemKontext sind eine engere Abstimmung zwischen Renten-und Krankenversicherung und eine Stärkung der Selbst-verwaltung unerlässlich. Es sollte außerdem sicherge-stellt werden, dass Menschen, die teilweise erwerbsge-mindert sind, weiter am Arbeitsleben teilhaben können,zum Beispiel auf einem alternativen Arbeitsplatz.
In der Summe bleibt festzuhalten, dass Deutschlandauf dem Feld der Integration von Älteren in den Arbeits-markt auf dem richtigen Weg ist. Diesen gilt es konse-quent weiterzugehen: mit stärkeren Anreizen und Si-cherheit für alle Beteiligten, allerdings nicht mit einerAntistressverordnung oder sonstigen bürokratischenHindernissen. Die Politik sollte den Menschen nicht vor-schreiben, wie sie ihr Leben führen sollen, sondern Rah-menbedingungen schaffen, damit sie leben können, wiesie es wollen. Kurz gesagt: Die Entscheidung, wann je-mand in Rente geht, sollte nicht bei der Politik liegen.Zugleich dürfen individuelle Entscheidungen nicht dieSolidargemeinschaft gefährden; denn bei aller Freiheitsteht die Politik in der Verantwortung, die langfristigeFinanzierbarkeit sicherzustellen.Viele der von Ihnen gestellten Forderungen sind gutgemeint und manche auch richtig. Ich kann Ihnen aberversichern, dass die Regierungsparteien zeitnah vernünf-tige und noch geeignetere Lösungen vorlegen werden.Diese sollten es älteren Arbeitnehmern erlauben, weiter-hin im Berufsleben zu bleiben, sofern sie das könnenund auch wollen. Wir können und wollen als Gesell-
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Albert Stegemann
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schaft nicht auf ihre Ideen und ihr Können verzichten.Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.Herzlichen Dank. Schöne Sommerpause.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Ralf Kapschack für die SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauer! Ich möchte mich erst einmal bedankenfür die bisher sehr konstruktive Debatte. Ich glaube, sieist auch angemessen, wenn man sich überlegt, dass jederZweite über 55 gerne schrittweise in die Rente gehenwill und nicht abrupt.
Bei den Frauen liegt dieser Anteil noch höher. Volldurcharbeiten bis 67 wird für die meisten oder für vielejedenfalls kaum möglich sein. Der Bedarf an flexiblenÜbergängen ist extrem hoch.Deshalb ist es gut, dass wir heute darüber reden unddass die Koalition eine Arbeitsgruppe eingerichtet hat,die Vorschläge vorlegen soll. Wir haben es gehört: Bau-arbeiter scheiden im Schnitt mit 58 aus dem Arbeitsle-ben aus, Beschäftigte im Gesundheitswesen mit 61.Deshalb brauchen wir bessere gesetzliche Rahmenbedin-gungen für gleitende und abgesicherte Übergänge vonder Arbeit in die Rente. Eine, ich sage mal, kreative undunkomplizierte Kombination von Teilzeitbeschäftigungund Teilrente ab 60 kann dabei aus unserer Sicht einwichtiger Baustein sein.
Seit 1992 gibt es die Möglichkeit der Teilrente. DasProblem ist: Kaum jemand weiß davon, und noch weni-ger nehmen sie in Anspruch. Nur rund 1 000 Beschäf-tigte pro Jahr nutzen diese Chance, um ihre Arbeitszeitzu reduzieren und über eine echte Altersteilzeit aus demBerufsleben auszusteigen.Das derzeitige Modell ist viel zu starr und vor allemviel zu kompliziert. Zumindest darin sind wir uns einig.Wir brauchen mehr Flexibilität bei den Stufen der Teil-rente und andere Hinzuverdienstgrenzen; denn die Teil-rente wird nur dann attraktiv, wenn sie nicht zu gravie-renden Einkommensverlusten führt.
Ein ganz entscheidender Punkt ist: Wir müssen überdie bestehenden Einschränkungen beim Recht auf Teil-zeitarbeit sprechen; denn der Rechtsanspruch steht vielzu oft nur auf dem Papier. Dass sich echte Altersteilzeitnoch nicht durchgesetzt hat, liegt aber sicher auch daran,dass die Arbeitsplätze oft für nicht teilbar gehalten wer-den und dass eine Teilzeitbeschäftigung in den Betriebenoft unbeliebt ist. Angesichts des immer wieder beschwo-renen Fachkräftemangels ist es aber auch im Interesseder Unternehmen, diese Vorbehalte aufzuknacken. Es istrelativ simpel: Wenn ältere Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer ihre Belastung reduzieren und im Betriebbleiben, dann bleiben auch Erfahrungen und Kompeten-zen im Betrieb.
Eine Teilrente ab 60 würde aus unserer Sicht anders,als oft behauptet wird – auch heute ist das wieder be-hauptet worden –, keine Frühverrentungswelle auslösen.Im Gegenteil: Diese Teilrente würde vielen Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern überhaupt erst die Mög-lichkeit geben, das gesetzliche Renteneintrittsalter zu er-reichen, und genau das wollen wir.
Den größten Handlungsbedarf sehen wir aktuell aller-dings bei Beschäftigten mit gesundheitlichen Einschrän-kungen; das ist in der Debatte vielfach schon angespro-chen worden. Sie sind oft zu krank, um in Vollzeit biszur Regelaltersgrenze zu arbeiten, und sie sind oft zu ge-sund, um Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente zuhaben.Wir haben hier eine Idee, das Arbeitssicherungsgeld,mit der wir Vorschläge der IG BAU aufgreifen. Wie derName schon sagt, soll die Arbeitsfähigkeit der Beschäf-tigten gesichert werden. Es ist keine Rente im eigentli-chen Sinne. Mit dem Arbeitssicherungsgeld sollen fürbestimmte, besonders belastete Berufsgruppen Anreizegesetzt werden, in Teilzeit weiterzuarbeiten, statt ganzaus dem Arbeitsleben auszuscheiden und in der Arbeits-losigkeit zu landen.
Auch hier gilt unser Ziel, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zufinanzieren.Das Arbeitssicherungsgeld kommt für Beschäftigteab 61 infrage, die im bisherigen Beruf nicht mehr Voll-zeit arbeiten können und für die sich keine andere Voll-zeitbeschäftigung findet. Das Arbeitssicherungsgeldgleicht maximal für zwei Jahre die Differenz zwischendem vorigen Nettoentgelt und dem Nettoentgelt der Teil-zeitbeschäftigung teilweise aus. Durch das Arbeitssiche-rungsgeld stehen gesundheitlich eingeschränkte Be-schäftigte finanziell besser da, als wenn sie arbeitsloswürden, und die Arbeitslosenversicherung würde durch
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Ralf Kapschack
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die Teilzeittätigkeit weniger in Anspruch genommenwerden als bei der drohenden Arbeitslosigkeit.
Unsere Idee ist, das Arbeitssicherungsgeld als Versi-cherungsleistung im SGB III zu verankern.
Die Bundesagentur für Arbeit wäre für die Umsetzungzuständig, die Finanzierung würde über Beitragsmittelsichergestellt.Ganz offen zugegeben: Es gibt noch eine Reihe vonDetails zu klären. Wir denken aber, das ist ein Vorschlag,über den man intensiv diskutieren kann, und das würdenwir gerne tun.Die Bundeskanzlerin hat gestern gesagt, sie sei zuver-sichtlich, dass die Koalitionsarbeitsgruppe noch „zuPotte“ kommt. Ich hoffe das sehr.
Das wäre gut für ältere Beschäftigte, das wäre gut für dieUnternehmen, das wäre gut für die Renten- und die Ar-beitslosenversicherung, und das wäre auch gut für dieöffentlichen Haushalte.Vielen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/5212 und 18/5213 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keine andere
Haltung oder Meinung. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Trotz der schon mehrfach geäußerten guten Wünsche
für die nahen Ferien ist unsere Tagesordnung noch nicht
abgeschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 33 a und 33 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Berufsqualifikationsfeststellungsge-
setzes und anderer Gesetze
Drucksache 18/5326
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht zum Anerkennungsgesetz 2015
Drucksache 18/5200
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Stefan Müller
das Wort.
S
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorrund drei Jahren, am 1. April 2012 – das war kein April-scherz –, ist das sogenannte Anerkennungsgesetz desBundes in Kraft getreten. Wir haben damals eine, wieich finde, gute rechtliche Grundlage dafür geschaffen,dass im Ausland erworbene Abschlüsse in Deutschlandeinfacher anerkannt werden können und wir damit Mi-grantinnen und Migranten besser in den Arbeitsmarkt in-tegrieren können.Eines kann man feststellen: Dieses Gesetz hat in derBevölkerung ein Umdenken in der Form bewirkt, dassdie ausländischen Qualifikationen Zugewanderter alsPotenzial wahrgenommen werden.
Das Bild hat sich gewandelt: weg von den unterstüt-zungsbedürftigen Migranten, hin zu einem Menschen,der eine Chance für unser Land bietet. Viele Menschenin Deutschland sehen jetzt mit mehr Respekt und Wert-schätzung auf die Qualifikationen und LebensleistungenZugewanderter. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auchdas ist eine positive Wirkung dieses Gesetzes.
Herr Mutlu, falls es Ihrer Aufmerksamkeit entgangenist: Auch die CSU hat damals zugestimmt. Deswegen istes wahrscheinlich ein so gutes Gesetz und auch so er-folgreich geworden.
Gerade gestern hat der Bundestag die Zuwanderungs-möglichkeiten im Rahmen der Anerkennung ausländi-scher Qualifikationen weiter verbessert. Das Gesetz zumBleiberecht enthält einen neuen Aufenthaltstitel zurDurchführung von Qualifizierungs- und Anpassungs-maßnahmen sowie von Sprachkursen, die dazu dienen,in Deutschland die volle Anerkennung solcher Ab-schlüsse zu erhalten. Darüber hinaus haben wir klarge-stellt, dass während der Berufsausbildung keine Ab-schiebung erfolgt. Auch das schafft Perspektive undPlanungssicherheit für die jungen Menschen, aber ebenauch für die Betriebe in unserem Land.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11321
Parl. Staatssekretär Stefan Müller
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Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen,dass sich das Anerkennungsgesetz von Anfang an als In-strument der Fachkräftesicherung etabliert hat. Seit demInkrafttreten des Gesetzes bis Ende 2013 wurden insge-samt rund 26 500 Anträge gestellt. Ich meine, das ist beieinem neuen Gesetz durchaus beachtlich.Noch erfreulicher ist die Tatsache, dass die allermeis-ten Anträge bereits beschieden wurden, und zwar posi-tiv. Gerade einmal 4 Prozent der Anträge wurden gänz-lich abgelehnt. Fast 80 Prozent der Anträge betrafenreglementierte Berufe, insbesondere im medizinischenBereich, in dem es nachgewiesenermaßen einen großenFachkräftebedarf gibt. Erfreulich finde ich auch, dass beiden dualen Ausbildungsberufen im gewerblich-techni-schen, im kaufmännischen oder im handwerklichen Be-reich die Anerkennungszahlen ebenfalls weiter steigen.Auch das Interesse an der Anerkennung steigt weiter.Das sehen wir an der Nachfrage in unserem Anerken-nungsportal. Wenn Sie es sich ansehen wollen: www.anerkennung-in-deutschland.de. Sie können gleich nach-schauen – die Möglichkeit haben Sie ja – und sich infor-mieren, ob das, was ich sage, stimmt. Es ist tatsächlichrichtig: Die Zahl der Besucher hat sich seit 2012 jedesJahr verdoppelt. Insgesamt waren es bisher rund 2,7 Mil-lionen, die sich über dieses Anerkennungsportal über dieMöglichkeiten, ihren Abschluss in Deutschland anerken-nen zu lassen, informiert haben. Ich sagte: Die Zahl ist inden letzten Jahren deutlich angestiegen, was mit Sicher-heit auch damit zu tun hat, dass dieses Informationsan-gebot mittlerweile in acht Sprachen angeboten wird undwir im Ausland sehr erfolgreich dafür werben.Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Es gibt einestärkere Nachfrage nach persönlicher Beratung durch dieHotline genauso wie nach Beratung in den Beratungs-stellen im Netzwerk „Integration durch Qualifizierung“.Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts dieserNachfrage und dem offensichtlich großen Interesse, wasdieses Instrument der Anerkennung angeht, war es umsowichtiger, dass die Länder beim sogenannten Flücht-lingsgipfel am 18. Juni – auf Drängen der Bundeskanzle-rin – zugesagt haben, mehr eigenes Personal für die Be-arbeitung der Anerkennungsverfahren zur Verfügung zustellen. Es sollen nicht nur die für die Anerkennung zu-ständigen Stellen adäquat ausgestattet werden, sondernes soll auch endlich die seit langem geforderte Gutach-tenstelle für Gesundheitsberufe bei der ZAB bzw. derKMK eingerichtet werden.
Ich sage „endlich“, weil dieser Prozess nun schon sehrlange dauert, und ich hoffe, dass das jetzt auch rasch um-gesetzt werden kann.
Wir schaffen seitens der Bundesregierung auch wei-tere umfangreiche Möglichkeiten zum Beispiel fürNachqualifizierungen, wenn in einem Anerkennungsver-fahren Defizite zwischen deutschen und ausländischenAbschlüssen festgestellt wurden. Wir werden im Förder-programm „Integration durch Qualifizierung“ die Ange-bote für Anpassungsmaßnahmen und Sprachkurse wei-terentwickeln.
Wir wollen damit die Chancen der Antragsteller auf einevolle Anerkennung verbessern und werden dafür in denJahren 2015 bis 2018 insgesamt 188 Millionen Euro ge-meinsam mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds be-reitstellen.Wie Sie sehen, nehmen wir das Thema sehr ernst, undwir wollen auch weiter daran arbeiten, in der Umsetzungund in den Verfahren noch deutliche Verbesserungen fürdie betroffenen Migrantinnen und Migranten zu errei-chen.
Genauere Ergebnisse und Erfahrungen zum gesamtenAnerkennungsgeschehen können Sie dem Bericht zumAnerkennungsgesetz entnehmen, den das Bundeskabi-nett am 10. Juni beschlossen hat und der auch schon Ge-genstand einer Regierungsbefragung war. Weil Sie alleihn lesen konnten, will ich – das kann ich auch aus Zeit-gründen nicht – nicht auf jeden einzelnen Punkt einge-hen.Ich will nur einen Punkt herausgreifen, den ich per-sönlich für außerordentlich spannend halte. Vielleichtwollen Sie es noch einmal nachlesen: Der Bericht enthältauch eine Darstellung aus der Perspektive der Betriebe.Eine repräsentative Befragung des Bundesinstituts fürBerufsbildung bei 5 300 Betrieben hat gezeigt, dass eseine große Bereitschaft zur Rekrutierung ausländischerFachkräfte in den Unternehmen gibt und – auch das istentscheidend – eine große Bereitschaft, die jeweiligenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dann auch im An-erkennungsverfahren zu unterstützen.Gleichwohl – das ist sicherlich auch Ergebnis der Ge-spräche, die Sie alle führen – gibt es noch die eine oderandere Hürde. In der Praxis werden erst wenige Fach-kräfte aus dem Ausland beschäftigt. Eine Erkenntnis, dieman gewinnen kann, ist, dass es in den Unternehmenselbst noch an konkreten Informationen über die Mög-lichkeiten des Anerkennungsgesetzes mangelt und dass– ich will es einmal so formulieren – die nötige Sensibi-lisierung in den Unternehmen noch nicht vorhanden ist.Wir werden deshalb gemeinsam mit dem DIHK ein Pro-jekt auflegen und anstoßen, mit dem wir Betriebe da-rüber informieren wollen, welche Möglichkeiten dasAnerkennungsgesetz bietet.Es geht heute speziell um eine Änderung des Aner-kennungsgesetzes. Der Gesetzentwurf, den wir heute inerster Lesung beraten, setzt die Änderungen der EU-Be-rufsanerkennungsrichtlinie um, die den Anwendungsbe-reich des BQFG und der Gewerbeordnung betreffen. Wirmüssen sie bis zum 18. Januar 2016 in deutsches Rechtübernehmen. Ich will hinzufügen, dass es sich um eher
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Parl. Staatssekretär Stefan Müller
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geringe Änderungen im Gesetz handelt, die die regle-mentierten Berufe betreffen. Es geht zum Beispiel umdie Einführung einer Möglichkeit zur elektronischenÜbermittlung von Anträgen und Unterlagen innerhalbder EU und des europäischen Wirtschaftsraumes und umdie Befassung des Einheitlichen Ansprechpartners, derschon durch die Dienstleistungsrichtlinie in Deutschlandgeschaffen wurde, mit der Entgegennahme und Weiter-gabe von Anträgen und Unterlagen in einem Anerken-nungsverfahren.Jedenfalls werden durch diese Änderungen zur Aner-kennung auch raschere Verfahren ermöglicht. Dadurchwerden auch Hürden abgebaut. Wir versprechen uns da-von des Weitern, dass die Mobilität zunimmt, die in Eu-ropa noch immer deutlich geringer ist als beispielsweisein den Vereinigten Staaten.Die Umsetzung dieser Richtlinie macht – das will ichnur nachrichtlich hinzufügen – eine ganze Reihe vonÄnderungen in anderen berufsrechtlichen Fachgesetzenerforderlich. Die Bundesregierung wird die entsprechen-den Änderungsgesetze zeitnah vorlegen.Ich will abschließend hinzufügen, dass wir bei der Er-arbeitung des vorliegenden Gesetzentwurfs sehr eng mitden Ländern zusammengearbeitet haben und mit denLändern einen gemeinsamen Mustergesetzentwurf ent-wickelt haben, weil die Länder ihrerseits hier etwas um-setzen müssen. Wir haben das auch beim Anerkennungs-gesetz gemacht. Der Mustergesetzentwurf entspricht imWesentlichen dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf.Als ein Ergebnis der guten Kooperation und Zusammen-arbeit mit den Ländern hat der Bundesrat am 12. Junikeine wesentlichen Einwände gegen diesen Gesetzent-wurf erhoben.In diesem Sinne hoffe ich auf eine wohlwollende undzustimmende Beratung im weiteren parlamentarischenVerfahren.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sigrid Hupach für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Beider Vorstellung des Berichts zum Anerkennungsgesetz2015 feiert die Bundesregierung das Gesetz als großenErfolg. Warum eigentlich? Weil gerade 26 500 Men-schen in Deutschland einen Antrag auf Anerkennung ih-rer ausländischen Berufsabschlüsse gestellt haben? Dochwohl eher nicht! Ich teile also nicht ganz das Lobesliedvon Staatssekretär Müller.
Die Bundesregierung versprach doch, dass damit etwa300 000 Menschen geholfen werden kann. Das Ergebnisist also unbefriedigend, auch angesichts des großen Inte-resses, das 1 Million Zugriffe auf die Datenbanken zurAnerkennung von Abschlüssen zeigt. Oder ist es etwaein Erfolg, dass dieses Gesetz weiterhin vorrangig einÄrzteanerkennungsgesetz ist? Immerhin entfallen62,9 Prozent aller Verfahren auf die Referenzberufe Ärz-tin und Arzt sowie andere Gesundheitsberufe. Das hilftzwar dem deutschen Gesundheitssystem, ist aber gleich-zeitig Ausdruck der Konstruktionsfehler dieses Gesetzesauf der einen Seite und der Ausbildungspolitik inDeutschland auf der anderen Seite.
Die überwiegende Mehrheit der anerkannten Berufs-abschlüsse entfällt auf bundesweit reglementierte Be-rufe. Doch schon bei der Altenpflege gestaltet sich dieSache schwieriger oder bei den Hochschulabschlüssen,die zu keinem reglementierten Beruf führen, wie zumBeispiel bei den Ingenieurberufen. Einerseits hat dieBundesregierung erst in diesen Tagen beim MINT-Gip-fel die fehlenden Fachkräfte gerade auf naturwissen-schaftlich-technischen Berufsfeldern beklagt. Das Hand-werk sowie die klein- und mittelständische Wirtschaftwerden völlig zu Recht als Rückgrat der deutschen Wirt-schaft bezeichnet. Andererseits wird die Chance leicht-fertig vertan, dem großen Fachkräftemangel in diesenBereichen durch Anerkennung ausländischer Berufsab-schlüsse zu begegnen. Beim Beruf Erzieherin/Erziehersind die Ausbildungswege und die pädagogischen An-forderungen in den Bundesländern sehr unterschiedlichgeregelt. Ausländische Fachkräfte haben es bei der An-erkennung besonders schwer.
– Darauf komme ich gleich zu sprechen.Der Unsinn wird an folgendem Beispiel deutlich. InFrankreich werden Lehrkräfte der frühkindlichen Bil-dung an Hochschulen als Lehrkräfte für die École Mater-nelle ausgebildet. In der frühkindlichen Bildung werdensie aber in einigen Bundesländern nicht als Fachkräftezugelassen, weil sie in ihrer Ausbildung den „Landesbil-dungsplan elementar“ nicht kennengelernt haben. In dengleichen Ländern werden aber im Land ausgebildete So-zialpädagogen als Fachkräfte anerkannt, obwohl siewährend ihres Studiums auch nichts von dem frühkindli-chen Landesbildungsplan erfahren haben. Kinderein-richtungen mit bilingualem Konzept müssen daher ent-weder auf Muttersprachler verzichten oder sie alsNichtfachkräfte prekär absichern. Auch bei bundesrecht-lich geregelten Berufen kann die Anerkennung von Landzu Land unterschiedlich sein. Das beweist einmal mehrdie Unsinnigkeit des Kooperationsverbotes. Das könntenwir regeln.
Der sich entwickelnde Anerkennungstourismus zwi-schen den Bundesländern kann doch nicht wirklich Zieldieses Gesetzes sein. Wir brauchen hier dringend ein-heitliche Anerkennungsverfahren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11323
Sigrid Hupach
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Auf noch einen Aspekt möchte ich hinweisen. Diefehlende Anerkennung der Berufe des dualen Systemshat auch deutliche Auswirkungen auf die tarifgerechteBezahlung. Es wäre ein klares Bekenntnis zu guten undgerechten Löhnen für gute Arbeit – wie dies die Sozial-partner gemeinsam mit uns Linken fordern –,
wenn es gelänge, mit einem in diesem Punkt verbesser-ten Anerkennungsgesetz gerade die Anerkennung derBerufe des dualen Systems zu erreichen.Ob jemand seinen im Ausland erworbenen Abschlusshier in Deutschland anerkannt bekommt, ist aber aucheine Frage der Kosten. Diese variieren zwischen denBundesländern und den unterschiedlichen Berufsartenteilweise sehr erheblich. Im Kammerbereich zum Bei-spiel schwanken sie zwischen 100 und 600 Euro. DieseUnterschiede sind doch nicht durch einen unterschiedli-chen Aufwand zu erklären. Darüber hinaus steht zu be-fürchten, dass die Kosten für eine individuelle Gleich-wertigkeitsprüfung sowie für die Analyse vonQualifikationen noch weitaus höher liegen. Das ist si-cherlich kein Anreizsystem, es schreckt vielmehr ab.Wir Linke kritisieren die Aussage im Gesetz und imBericht, mit der Anerkennung ausländischer Abschlüssezuerst den Fachkräftemangel in Deutschland beseitigenzu wollen. Für uns stehen die Menschen im Mittelpunkt.
Das Gesetz setzt hier eindeutig die falschen Prämissen.Eine wirkliche Willkommenskultur sieht anders aus.Wenn, wie die frühere Bundesministerin FrauSchavan sagte, die Anerkennung der Abschlüsse eineFrage der Gerechtigkeit und des Respekts vor der Quali-fikation von Menschen ist, dann muss an diesem Gesetzund an der Anerkennungspraxis wohl noch heftig gear-beitet werden.Vielen Dank.
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Dr. Karamba
Diaby.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die Tür steht dir offen, du bist willkommen, duwirst gebraucht, und du kannst dich mit all deinenFähigkeiten hier entfalten.
Das ist die Botschaft, die von dem Anerkennungsgesetzausgeht.
Das ist eine gute Willkommensbotschaft in Deutschland.Das stimmt.Mit diesem Versprechen beendete ich meine Rede inder Debatte im Herbst 2014. Nun sind wir einige Schritteweiter. Wir beraten heute in erster Lesung die Novelledes Anerkennungsgesetzes, und es liegt ein ganz aktuel-ler Evaluierungsbericht vor.Ich möchte auf zwei Gesichtspunkte eingehen. Zumeinen will ich die Erfolge benennen, und zum anderenwill ich die Haltung der SPD für die Weiterentwicklungklarmachen. Wir sind mit dem Anerkennungsgesetz aufeinem guten Weg. Ich mache das an folgenden Facettenfest: Es besteht ein Rechtsanspruch auf Antragstellung,unabhängig von einem Aufenthaltstitel und von derStaatsbürgerschaft. Die durchschnittliche Bearbeitungs-zeit liegt bei 59 Tagen. Ich meine, das ist eine hervorra-gende Voraussetzung, damit das Gesetz seine volle Wir-kung entfalten kann.
Das Gesetz bietet die Möglichkeit, den Antrag vomAusland aus zu stellen oder zwecks Anerkennung nachDeutschland einzureisen. Das ist neu im Gesetz. Auchfür Menschen ohne Zertifikate ist es möglich, beispiels-weise mit dem Kompetenzfeststellungsverfahren ihreQualifikation anerkennen zu lassen. Als SPD-Fraktionsagen wir aber deutlich, dass wir mehr Begleitmusikzum Anerkennungsgesetz brauchen.
Das Anerkennungsgesetz ist im Jahr 2012 in Kraft ge-treten. Wir haben es also mit einem jungen Gesetz zutun. Damals ging die Bundesregierung davon aus, dassbis zu 500 000 erwerbsfähige Personen in Deutschlanddurch das Gesetz erreicht werden. Seither wissen wir– die Zahl wurde schon genannt – von 26 000 Anträgenim Bund. Das sind gerade einmal 5 Prozent des Gesamt-potenzials. Übrigens sind die seither neu Eingewander-ten und hierher Geflüchteten dabei nicht eingerechnet.Ich bin der Meinung: Trotz aller bereits laufenden undguten Werbe- und Informationsportale brauchen wirnoch mehr Engagement, damit die Botschaft vom Aner-kennungsgesetz dort ankommt, wo sie gehört werdensoll, nämlich bei den vielen Menschen mit ausländischenQualifikationen und bei den Arbeitgebern, die nachFachkräften suchen. Auch in meiner Region, in Halle ander Saale, suchen die Arbeitgeber Fachkräfte. Daraufwerde ich immer wieder angesprochen, wenn ich auf Be-suchen in Betrieben bin.
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Dr. Karamba Diaby
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Unser Ziel muss sein, dass jeder Mensch entspre-chend seiner Qualifikation arbeiten kann. Daher dürfenwir uns mit diesen Zahlen nicht zufriedengeben.
Hier stellt sich meine Fraktion beispielsweise einenRechtsanspruch auf unabhängige Beratung vor, so wie erbereits in einigen Landesanerkennungsgesetzen veran-kert ist. Zum Beispiel weiß ich aus Hamburg und ausmeinem Bundesland Sachsen-Anhalt, dass man dort mitdem Rechtsanspruch auf unabhängige Beratung bereitspositive Erfahrungen macht.Nun komme ich zum zweiten Bereich. Die Frage derFinanzierungsangebote für Antragsteller treibt uns So-zialdemokraten um. Dies betrifft die Höhe der Verfah-renskosten und die Finanzierung von Anpassungsmaß-nahmen sowie des Lebensunterhalts. Im aktuellenEvaluationsbericht heißt es nämlich – ich bitte meinenKoalitionspartner, genau zuzuhören; ich zitiere –:Nicht selten können nach einer Kosten-Nutzen-Ab-wägung auch die Kosten für die Durchführung ei-nes Anerkennungsverfahrens Interessierte davonabhalten, eine Anerkennung zu beantragen. Diesdürfte insbesondere für Personen … gelten, die mitweniger eindeutigen Bildungsrenditen rechnen alszum Beispiel Ärzte …
Das steht also im Bericht. Für meine Fraktion gilt: KeinePerson darf aus Angst vor den Kosten des Anerken-nungsverfahrens zurückweichen.
Gleichzeitig wissen wir, dass vom neuen ESF-Förder-programm der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles9 000 Personen profitieren können. Ich rufe noch einmaldie Zahlen in Erinnerung: Von bis zu 500 000 Infrage-kommenden haben bislang nur 26 000 ein Anerkennungs-verfahren durchlaufen. Ich meine, das ist zu wenig. Dahersehe ich das Bildungsministerium in Verantwortung.Sehr geehrter Herr Staatssekretär, es reicht nicht, abzu-warten und sich die Frage zu stellen, ob es überhaupt Be-darf gibt. Ich denke, da müssen wir wirklich handeln.
Es gibt einen Bedarf. Da sprechen die Zahlen ihre eigeneSprache.Wir als SPD-Fraktion wollen ein bedarfsorientiertesEinstiegsdarlehen zur Finanzierung des Lebensunter-halts und der Nachqualifizierungen. Dieses Darlehensoll die Regelungslücke schließen für diejenigen, dienicht vom ESF-Programm profitieren, und für diejeni-gen, die nicht im SGB-II- oder SGB-III-Bezug stehen.Die Finanzierungsfrage berührt uns also. Das ist eineFrage der sozialen Gerechtigkeit.
Das Anerkennungsverfahren darf nicht vom Geldbeutelder Antragsteller abhängen. Zudem bin ich fest davonüberzeugt, dass es im Sinne der Bekämpfung des Fach-kräftemangels volkswirtschaftlich vernünftig ist, hier einDarlehensprogramm aufzulegen.Nun komme ich zum dritten und letzten Aspekt– meine Zeit ist fast zu Ende –: Vorausgesagt ist ein Be-darf an Einwanderung aus Drittstaaten von 500 000 Per-sonen jährlich; wir wissen aber, dass über die Bluecardnur 25 000 seit dem Jahr 2012 zu uns gekommen sind.Das ist viel zu wenig. Daher muss das Anerkennungsge-setz einen Beitrag zur Linderung des Fachkräftemangelsleisten. Bei insgesamt etwa 600 Anträgen aus Drittstaa-ten ist da, wie ich finde, noch sehr viel Luft nach oben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind, wie ichvorhin sagte, auf einem guten Weg. Das Anerkennungs-gesetz ist gut. Aber wir wollen mehr.Danke schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Diaby, auch was die
Einhaltung der Redezeit betrifft. Sie sind ja auch Schrift-
führer und wissen die Disziplin zu schätzen. Vielen
Dank.
Jetzt kommt der Kollege Özcan Mutlu für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Bei Ihnen, Herr Kollege Diaby, habe ich zeit-weise gedacht, hier redet ein Oppositionspolitiker undnicht ein Vertreter der Regierungskoalition. Aber sei’sdrum. Wenn Sie auf dem richtigen Weg sind, freuen wiruns sogar.
Gute Idee, mäßig umgesetzt – so kritisierte der Sach-verständigenrat deutscher Stiftungen für Integration undMigration im Jahr 2011 den Gesetzentwurf zur Anerken-nung im Ausland erworbener Berufsabschlüsse. Leiderhat sich daran bis heute nicht viel geändert, und das kriti-sieren wir.
Seit 2012 gilt endlich das Berufsqualifikationsfest-stellungsgesetz – was für ein Wort! Wir sagen in der Tat:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11325
Özcan Mutlu
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Das ist ein wichtiger und überfälliger Schritt. LieberKollege Müller, da sind wir bei Ihnen; das ist nicht dasProblem.
Aber Sie haben ein Bürokratiemonster mit erheblichenSchwächen geschaffen,
und Sie haben auch heute hier die Chance verpasst, dieseSchwächen im Gesetz zu beseitigen.
Sie hatten genügend Zeit, um nachzubessern, aber Siehaben diese Zeit leider nicht genutzt.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koali-tion und der kleinen Taten, leider interessiert Sie nicht,wo die wirklichen Probleme der Menschen bei der Aner-kennung ihrer Berufsabschlüsse sind. Vielmehr wird dasGesetz wieder mal nur an den Stellen geändert, wo diesgemäß EU-Vorgaben zwingend erforderlich ist, nämlichbei der Frage der elektronischen Datenübermittlung undden Maßnahmen zur Evaluierung des Gesetzes – nichtmehr und nicht weniger. Das haben Sie den Ländernaber bereits 2011 versprochen.
Deshalb sagen wir: Es ist und bleibt unverantwortlich,dass Sie notwendige Reformen, die dringend umgesetztwerden müssten, nicht angehen.
Es gibt immer noch keine Initiative, flächendeckendStipendien für die Menschen anzubieten, die für die An-erkennung ihrer Qualifikation Nachqualifizierungen brau-chen. Was sollen diese Menschen machen? Sie sind gutausgebildet, aber zu einer guten Beschäftigung, die ihrerQualifikation entspricht, fehlt oftmals nur eine kurzeFort- oder Weiterbildung.
Diese bleibt aber unerreichbar; denn sie kostet Geld, wasdie Menschen nicht haben.
Für den Einzelnen bedeutet das in der Regel Arbeits-losigkeit und Abhängigkeit und in gewisser Weise auchErniedrigung bzw. Benachteiligung.
Für unser Land bedeutet das – das muss ich hier in Rich-tung der CDU/CSU unterstreichen – einen großen Ver-lust. Wir brauchen diese Fachkräfte dringend.
Das ist eine Binsenwahrheit, der inzwischen nicht malmehr die CSU widersprechen möchte – und das ist auchgut so.Sie verkennen in diesem Zusammenhang nicht nureine wichtige Integrationsmaßnahme, sondern nehmenauch ökonomischen Schaden in Kauf.
Denn eine schnelle und unbürokratische Anerkennungbringt nicht nur finanzielle, sondern auch soziale Aner-kennung. Allein schon aus wirtschaftlicher Sicht könnenwir es uns nicht leisten, dass diese hochqualifiziertenMenschen, die Zuwanderinnen und Zuwanderer, die ausden vielfältigsten Gründen zu uns kommen, als Hilfs-kräfte angestellt werden und zum Teil degradiert wer-den. Da muss viel mehr getan werden. Da ist in der Tatviel Luft nach oben – zu viel Luft nach oben, lieber Kol-lege Diaby!
Das Land Hamburg beispielsweise hat mit einem Sti-pendienprogramm sehr gute Erfahrungen gemacht. Auchdas Land Baden-Württemberg will diesen Weg gehen.
Ich frage einfach: Warum nicht daraus lernen und es flä-chendeckend einführen? Nein, der Bund prüft und prüftund prüft und lässt die Länder alleine.
Das ist genau wie bei dem folgenden Beispiel, das ichjetzt vortragen möchte: Das Aufenthaltsgesetz sieht eineVerordnungsermächtigung vor, nach der der für Hoch-schulabsolventen vorgesehene Aufenthaltstitel der BlauenKarte EU auch Ausländerinnen und Ausländern erteiltwerden kann, die über keinen Hochschulabschluss ver-fügen, aber eine mindestens fünfjährige Berufserfahrungnachweisen können. Mit dieser simplen Verordnungkönnen wir erreichen, dass qualifizierte Nichtakademi-kerinnen und Nichtakademiker mit Erfahrung bei unseingesetzt werden. Aber auch hier prüfen Sie nur – indiesem Fall das Haus von Frau Ministerin Nahles –, unddas seit Monaten. Ich sage: Hier ist keine Zeit mehr zuverlieren, nichts mehr zu prüfen. Schreiten Sie zur Tat,und geben Sie diesen Menschen eine Chance!
Ich hoffe, dass die angekündigte unbürokratische An-erkennung durch Qualifikationsanalysen, wenn Doku-
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11326 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Özcan Mutlu
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mente fehlen, auch wirklich unbürokratisch umgesetztwird und dass das Prozedere der Anerkennung in der Tatvereinfacht wird. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse Ih-res Projekts „Prototyping Transfer“. Und vor allem binich gespannt, wie schnell das alles tatsächlich geht.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Sie haben zu wenig getan, um die Länder vom Mehrwerteinheitlicher Verfahren zu überzeugen.
Es gibt weiterhin keine einheitlichen Kostensätze; dashaben wir gerade sogar von einem Vertreter der Regie-rungskoalition gehört. Wir brauchen flächendeckendeund funktionierende Strukturen bei den Anerkennungs-verfahren statt eines unsäglichen und unglaublichen Zu-ständigkeitsgerangels. Auch beim Ausbildungszugangfür Geflüchtete oder beim Arbeitsmarktzugang für Men-schen, die schon Fertigkeiten und Qualifikationen mit-bringen, sind bisher von Ihnen keine Heldentaten, ge-schweige denn Taten zu sehen.Deshalb wiederhole ich mich: Es sind genug derWorte gefallen, lieber Kollege Diaby, nun wollen wirvon Ihnen – vielleicht sagt ja gleich Frau De Ridder et-was dazu – endlich Taten sehen.
Danke sehr, auch Ihnen, Herr Präsident, für die Ge-duld.
Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU-Fraktion die
Kollegin Cemile Giousouf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Aus Brüssel können dieser Tage auch guteNachrichten kommen. Am 10. Juni, also an dem Tag, alsder vorliegende Bericht vom Bundeskabinett beschlos-sen wurde, hat der Brüsseler Thinktank Migration PolicyGroup eine Studie vorgestellt, in der die Integrations-politik von 38 Ländern verglichen wurde. Nach dieserStudie ist Deutschland in die Top Ten der besten Integra-tionsländer aufgestiegen.
Mehr noch: Deutschland wird inzwischen von anderenLändern in der Integrationspolitik als Vorbild gesehen.Besonders gut gefiel den internationalen Forschern,dass Einwanderer in Deutschland leicht Zugang zum Ar-beitsmarkt finden.
Demnach haben 78 Prozent von ihnen Arbeit. Nur in we-nigen Ländern ist die Beschäftigungsquote höher.
Vor allem aber wird unser Anerkennungsgesetz gelobt.Dieses Gesetz habe seit 2012 die Anerkennung ausländi-scher Berufsabschlüsse deutlich erleichtert. Hier seiDeutschland europaweit führend. Das, liebe Kolleginnenund Kollegen, ist für die Politik des BMBF eine glatteEins!
Der eingebrachte Gesetzentwurf der Bundesregierungzur Änderung des Anerkennungsgesetzes, den wir disku-tieren, dient dazu, Vorgaben der novellierten EU-Richtli-nie zur Berufsanerkennung in deutsches Recht umzuset-zen. Durch die vorgesehenen Änderungen werden eineinfacherer Zugang zur Anerkennung und raschere Ver-fahren ermöglicht, wodurch die Hürden für den Wechselin einen anderen EU-Mitgliedstaat sinken. Dies betriffteinerseits die Einführung der Option einer elektroni-schen Übermittlung von Unterlagen innerhalb der EU,und andererseits gibt es nunmehr einen einheitlichen An-sprechpartner, der das Anerkennungsverfahren betreut.
Lieber Herr Kollege Karamba Diaby, Sie haben ebenin Ihrer Rede Punkte angesprochen, die wir in der Be-richterstatterrunde eigentlich schon abgestimmt hatten.Deswegen wundert es mich, dass Sie diese Punkte hiernoch einmal aufwerfen.
Aber ich glaube, wir sind uns alle darin einig, dass wir eseinerseits geschafft haben, ein historisches Gesetz, dashochkomplex und hochkompliziert ist, auf den Weg zubringen,
und dass wir andererseits natürlich Dinge noch verbes-sern können. Aber man muss natürlich gut unterschei-den, wer die Dinge verbessern kann. Und da möchte ichauf Punkte eingehen, die bereits Staatssekretär Müllerangesprochen hat.Erstens. Eine große Herausforderung liegt natürlich inder Vereinheitlichung des Gesetzesvollzugs durch dieLänder. Mittlerweile – das ist erfreulich – gibt es in je-dem Bundesland ein Anerkennungsgesetz. Allerdingsliegt die Umsetzung auch der Bundesregelungen in Län-derzuständigkeit. Es gilt, diese weiter zu vereinheitli-chen, beispielsweise durch die dringend benötigte zen-trale Gutachtenstelle für die Gesundheitsberufe. Wir sindsehr froh, dass sich die Länder endlich bewegen konn-ten, diese bei der KMK einzurichten.
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Cemile Giousouf
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Denn es kann nicht sein, dass ein ausgebildeter Medizi-ner für jedes einzelne Bundesland gesonderte Anträgestellen muss, die alle unterschiedlich beschieden werdenkönnen. So ist jedenfalls die derzeitige Rechtslage.
Die Gutachtenstelle muss selbstverständlich auch zen-trale Antragstelle für ganz Deutschland sein.Das gilt auch für den Bereich Pflege. Hier stehen wireinerseits vor einem gravierenden Fachkräftemangel. ImJahr 2030 werden uns wahrscheinlich 466 000 Pflege-kräfte fehlen. Dabei sind die Altenpflegeeinrichtungennicht berücksichtigt. Auf der anderen Seite gibt es vieleMenschen, die sich gerade mit Qualifikationen im Ge-sundheitsbereich bei uns vorstellen. Aber es hapert ebenan der Umsetzung vor Ort.Vor diesem Hintergrund ist die Praxis der einzelnenLänderbehörden, was Pflegekräfte angeht, einfach un-verständlich, zum Beispiel wenn das Landesamt für so-ziale Dienste in Schleswig-Holstein die philippinischenNursing Curricula abqualifiziert oder wenn vom Regie-rungspräsidium Darmstadt trotz sechsjähriger Berufs-erfahrung ein Katalog von Anpassungsmaßnahmengefordert wird. Der Kern des Problems ist: Die Bedin-gungen für die Anerkennung scheinen oft nicht klar er-sichtlich. Behörden behelfen sich dann, indem sie bei dernächsthöheren Dienststelle nachfragen oder den Fall res-triktiv behandeln. Mit dem Anerkennungsgesetz wollenwir gerade das verhindern: Mit dem Anerkennungsge-setz wollen wir klare Bedingungen schaffen, den Büro-kratieabbau fördern und es gleichzeitig als Instrumentgegen den Fachkräftemangel nutzen und ein Zeichen derWillkommenskultur in Deutschland setzen.
Noch etwas: Es gibt leider bei den Gesundheitsberu-fen unterschiedliche Sprachanforderungen in den einzel-nen Bundesländern. Auch das führt eben zum Anerken-nungstourismus.Der zweite Punkt betrifft den Verwaltungsvollzug inden Länderbehörden jenseits der Gesundheitsberufe,etwa beim Lehramt. Es ist sehr bedauerlich, dass mancheLänder, darunter auch Nordrhein-Westfalen, den Berufdes Lehrers erst gar nicht aufgenommen haben.Drittens. Wir haben mit dem Beratungsnetzwerk „In-tegration durch Qualifizierung “ sehr gute Informa-tions- und Beratungsstrukturen aufgebaut. Ich finde essehr gut, dass das IQ-Netzwerk jetzt auch in Richtungkostenloser Nachqualifizierungsangebote weiterentwi-ckelt wird. Zudem werden verstärkt Angebote für An-passungsqualifizierungen bei festgestellten Defiziten be-reitgestellt. Wir wollen ja nicht nur, dass die Menschensich bei uns beraten lassen, sondern wir wollen ihnenauch helfen, die volle Anerkennung zu erreichen, indemsie sich ihre Qualifikationen anerkennen lassen und sichbei fehlenden Qualifikationen nachqualifizieren.
Viertens. Als notwendige Verbesserung nennt der Be-richt auch eine Vereinheitlichung der Verfahrensgebüh-ren. Im Bericht ist von einer Varianz von einem zweistel-ligen Betrag bis hin zu einer vierstelligen Summe dieRede. Da geht es natürlich auch um die unterschiedli-chen Kosten der Nachqualifizierung – keine Frage.Keine Frage ist auch, dass der Bund nicht alles dirigis-tisch vorgeben kann. Aber im Bereich der Kammernsollten schon verbindliche, einheitliche Sätze erhobenwerden. Darauf, liebe Kolleginnen und Kollegen, solltenwir tatsächlich noch mehr insistieren.Fünftens. Es wurde auch untersucht, welche Meinungdeutsche Arbeitgeber zur Rekrutierung von Zugewan-derten mit ausländischen Berufsabschlüssen haben. Le-diglich etwas über 40 Prozent der Befragten kennen in-zwischen die noch relativ neuen Anerkennungsregeln.Gerade für die KMUs ist das Anerkennungsgesetz einegute Möglichkeit, Fachkräfte zu gewinnen. Deswegenappelliere ich auch an meine Bundestagskollegen, in ih-ren Wahlkreisen mit den Betriebsräten, mit den Kam-mern vor Ort mehr über das Anerkennungsgesetz zusprechen und es noch bekannter zu machen.
Wir sprechen viel über Zahlen, Fakten und Daten,aber eines sollten wir dabei nicht vergessen: Für dieMenschen, die aus freien Stücken zu uns kommen, aberauch für die, die aus den Krisengebieten dieser Welt zuuns flüchten, bedeutet die Möglichkeit zur Anerkennungihres Berufsabschlusses in Deutschland eine ganz wich-tige Hilfestellung. Eine wachsende Herausforderung inden kommenden Jahren wird es sein, gut qualifiziertenFlüchtlingen, die häufig ohne Papiere einreisen, den Zu-gang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen. Wo formale Nach-weise fehlen, können praktische Prüfungen eine guteLösung sein. Diese Möglichkeit bietet das Anerken-nungsgesetz. Darüber bin ich sehr froh. Dass wir damitMenschen schneller eine Möglichkeit geben, sich in un-serer Gesellschaft zu integrieren, hilft der Gesamtgesell-schaft.
Unsere Aufgabe ist es nunmehr, bei den Menschen miteiner hohen Bleibeperspektive frühzeitig die beruflicheKompetenz abzufragen. Im Pilotprojekt „Early Interven-tion“, bei dem BA und BAMF kooperieren, geschiehtdies bereits. Das Anerkennungsgesetz ist hierfür – dassieht man ganz eindeutig an dieser Stelle – eben genaudas richtige Instrument.Jetzt ist es Aufgabe – damit komme ich zum Schluss –aller Beteiligten, die Anwendung der Anerkennungsre-
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Cemile Giousouf
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gelungen weiter zu vereinheitlichen und sie im Sinne ei-ner gelebten Willkommenskultur auszugestalten. Daswäre im Geiste dieses Gesetzes, oder, um die Worte auf-zugreifen, die mir ein Unternehmer aus meinem Wahl-kreis vor kurzem sagte: Wir suchen doch händeringendMenschen, die bei uns arbeiten. Macht uns das Lebennicht so schwer!Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die
Kollegin Dr. Daniela De Ridder, SPD.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!„Wings University“ heißt das Projekt, von dem mir zweiStudierende in dieser Woche berichteten. Sie wollenflüchtenden Menschen die Chance geben, ein Studiumaufzunehmen und mit einem Abschluss zu beenden:ohne Kosten, ohne Zugangsvoraussetzungen, ohne Aus-weispflicht. Gerade in der ungewissen und unsicherenSituation, in der sich viele geflüchtete Menschen befin-den, gibt das diesen möglicherweise einen neuen Sinn.Beim Start im Herbst sind zunächst alle Kurse online.Schon jetzt haben sich über 3 000 Menschen angemel-det.Ich erwähne dieses Projekt deshalb, weil es genaubeim richtigen Punkt ansetzt: Es gibt Menschen berufli-che Chancen und die Hoffnung auf eine gesicherte Zu-kunft. Das tut im Übrigen auch das Anerkennungsgesetz.Auch wenn, lieber Kollege Mutlu, noch nicht alles aufder richtigen Bahn ist und noch ein Stück Arbeit vor unsliegt: Wir von der SPD stricken nie mit der heißen Na-del. Ich weiß, wovon ich spreche.
Vor etwas mehr als drei Jahren haben wir das Aner-kennungsgesetz in Deutschland verabschiedet. Die Zielewaren damals die gleichen wie heute. Menschen aus al-ler Welt, die zu uns kommen wollen oder bereits hiersind, sollen ihre Berufsabschlüsse anerkennen lassenkönnen und somit in ihrem erlernten Beruf arbeiten dür-fen. Es wäre ja auch absurd, liebe Kolleginnen und Kol-legen: Soll eine Ärztin aus Syrien etwa nicht in Deutsch-land in ihrem Beruf arbeiten können? Wie ist es mit demIngenieur aus Polen oder der Architektin aus Libyen? –Ich weiß aus meinem Wahlkreis, der GrafschaftBentheim und dem Emsland, wie viel Arbeit hinter je-dem erfolgreichen Antrag steckt. Das Beratungsnetz-werk „Integration durch Qualifizierung“ leistet eine her-vorragende Arbeit.
Seit 2013 wurden allein bei uns 500 Beratungsgesprächegeführt. Vor so viel Engagement müssen wir uns vernei-gen. Ich danke jedenfalls dafür ganz ausdrücklich.
Bürgerinitiativen, Ausländerbehörden, Jobcenter unddie Kammern vor Ort haben in der Tat ein dichtes Netz-werk gebildet. Individuelle Beratung, Sprachtrainings,Antragstellung und Jobvermittlung werden als Kom-plettservice angeboten. Mittlerweile, Frau Giousouf, ge-hen die Arbeitgeber bereits ganz gezielt auf die Bera-tungsstellen zu, um geeignetes Personal zu finden.Bis Ende 2013 wurden mehr als 26 000 Anträge aufAnerkennung gestellt. Ich finde, das ist viel zu wenig;denn rund eine halbe Million Menschen leben inDeutschland, deren Ausbildung nicht anerkannt ist. Dasist eine vergebene Chance. Ja, liebe Oppositionspoliti-ker, daran werden wir in der Tat weiterarbeiten. Das istuns eine Pflicht.
Sie erinnern sich an die hervorragende Arbeit, die ichaus meinem Wahlkreis berichtet habe? Sie wird – dassollte uns in Staunen versetzen – von einer einzigen Frauorganisiert.
Dazu kann ich nur sagen: Chapeau!Wenn wir mehr Menschen eine berufliche Perspektivedurch Anerkennung geben wollen, müssen wir sie überihre Chancen informieren. Das ist ein gewichtiger Punkt,kostet aber Geld, und das, lieber Stefan Müller, müssenwir auch zur Verfügung stellen: für eine bessere Ausstat-tung der Beratungsstellen, für mehr Personal, für mehrSprachkurse und vor allem für eine Absenkung der Ver-fahrenskosten.
Als Einwanderungsland – lassen Sie mich das als Zu-gewanderte sagen – müssen wir jetzt den begonnenenWeg konsequent weitergehen. Das geht nicht alleindurch ehrenamtliches Engagement, wie etwa bei der„Wings University“. Durch die Flüchtlingsströme wirdunsere Aufgabe nicht kleiner, aber das Potenzial wird er-heblich größer.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und, lieberHerr Präsident, gestatten Sie mir, den Kolleginnen undKollegen einen schönen, krisenarmen Sommer zu wün-schen.Vielen Dank.
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Vielen Dank für diesen guten Wunsch. – Damit
schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungs-
punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/5326 und 18/5200 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Weil sich keinerlei Widerspruch erhebt, gehe ich davon
aus, dass Sie alle damit einverstanden sind und die Über-
weisungen so beschlossen sind.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für sichere
digitale Kommunikation und Anwendungen
im Gesundheitswesen
Drucksache 18/5293
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Weil sich
auch hier kein Widerspruch erhebt, gehe ich davon aus,
dass Sie alle damit einverstanden sind und dies so be-
schlossen ist.
Ich eröffne dann die Aussprache und erteile als erster
Rednerin der Parlamentarischen Staatssekretärin
Annette Widmann-Mauz das Wort.
A
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Ich freue mich, dass wir als vorletzten Tagesordnungs-punkt vor der Sommerpause über den Regierungsent-wurf eines E-Health-Gesetzes sprechen. Es mag zwarder vorletzte Tagesordnungspunkt sein, aber das ist eherUnderstatement; denn in Wirklichkeit geht es um einesder anspruchsvollsten IT-Projekte der Gegenwart. Man-che sprechen sogar vom größten IT-Projekt weltweit,und das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ausgutem Grund; denn wir wollen in Deutschland eine um-fassende Infrastruktur schaffen, die einen sicheren elek-tronischen Datenaustausch im Gesundheitswesen er-möglicht.
Eine solche Infrastruktur ist auch dringend nötig. Fastalle Praxen und Krankenhäuser nutzen digitale Daten aufhohem Niveau, und das bei rund 1,5 Milliarden Behand-lungen pro Jahr. Aber wenn dann die rund 5 MilliardenBehandlungsdokumente ausgetauscht werden müssen,läuft das bei uns im Land meist noch per Fax oder garper Post. Wie schrieb die FAZ neulich so treffend überdiese analoge Insel im digitalen Zeitalter? „Gesundheit1.0“. Das können wir uns nicht länger leisten, und daswollen wir uns auch nicht länger leisten.Klar ist: Wir haben kein Anwendungsproblem, aberein erhebliches Vernetzungsproblem, weil die Datenau-tobahn fehlt. Das ist so, als hätte man lauter Sportwagen,aber nur Feldwege, auf denen man fahren kann.
Wir brauchen endlich die Autobahnen, damit die Wagenauch zeigen können, was in ihnen steckt.Daher stellen wir jetzt mit dem E-Health-Gesetz dieWeichen für den Aufbau einer Telematikinfrastruktur.Wir schaffen damit Voraussetzungen für eine schnellereund sicherere Kommunikation, für mehr Patientensi-cherheit und für mehr Wirtschaftlichkeit in unserem Ge-sundheitswesen. Es geht dabei nicht nur um Fragen bes-serer Kommunikation und höherer wirtschaftlicherEffizienz. Nein, meine Damen und Herren, es geht umbessere Medizin; denn digitale Vernetzung kann Lebenretten.
Wenn es zum Beispiel nach einem Unfall schnell ge-hen muss, dann soll der Arzt künftig wichtige Notfallda-ten direkt von der elektronischen Gesundheitskarte abru-fen können. Das geht nur mit der elektronischenSpeicherung grundlegender Daten zum Beispiel zu be-stehenden Allergien oder Vorerkrankungen. Ab 2018wird es möglich sein, wenn der Patient es wünscht, dassdiese Daten abgespeichert werden. Ärzte bekommendann eine Vergütung, wenn sie die entsprechenden Da-tensätze erstellen. Es geht also um elektronische Notfall-daten und ein modernes Versichertenstammdatenmana-gement. Dafür setzt das E-Health-Gesetz Fristen fest,setzt Anreize und legt Sanktionen fest.In Deutschland sterben leider noch immer viel zuviele Menschen an gefährlichen Wechselwirkungen vonArzneimitteln. Auch hier kann und wird die digitale Ver-netzung einen echten Fortschritt und einen echten Mehr-wehrt bringen. Wir schaffen jetzt schnellstmöglich dieGrundlage dafür, dass ein Medikationsplan mit der elek-tronischen Gesundheitskarte gespeichert werden kann.Ab Oktober 2016 soll er den Patientinnen und Patienten,die drei oder mehr Medikamente nehmen, ausgehändigtwerden. Der Arzt kann dann direkt sehen, welche Medi-kamente gerade eingenommen werden, und so gefährli-che Wechselwirkungen verhindern. Das hilft insbeson-dere älteren und allein lebenden Menschen. Uns istwichtig, dass ein solcher Medikationsplan mittelfristigüber die elektronische Gesundheitskarte abrufbar seinwird.Liebe Kollegen, digitale Vernetzung stärkt die Patien-ten. Wer seine eigenen Daten kennt und gelernt hat, ver-antwortlich damit umzugehen, der wird zum mündigenPatienten. Die elektronische Gesundheitskarte ist dererste Schritt zu einer elektronischen Patientenakte. Da-mit werden die Patienten über die Diagnose und über die
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Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
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Therapie viel genauer und umfassender informiert, undsie können auch besser in die Entscheidungsprozesseeingebunden werden. Jeder von uns weiß: Was in ge-meinsamer Entscheidung und Verantwortung gemachtwird, ist in der Medizin am Ende erfolgreicher. DasStichwort „Compliance“ spielt hier eine ganz wichtigeRolle. Außerdem werden die Zugriffsverfahren auf dasPatientenfach erleichtert, sodass Versicherte dort wich-tige Dokumente, zum Beispiel einen elektronischenImpfausweis, ablegen können. Auch das stärkt die Pa-tientenautonomie.
Die Digitalisierung ist ein echter Fortschritt für mün-dige und selbstbestimmte Patienten, aber nur dann, wennder Datenschutz so umfassend wie möglich gewahrt ist.Darum erfüllt die geplante Telematikinfrastruktur diehöchsten Sicherheitsstandards. Das ist der dritte großeFortschritt dieses Gesetzes. Der Zugriff der Ärzte auf dieDaten wird protokolliert. Krankenkassen sind zur Infor-mation verpflichtet. Medizinische Daten werden ver-schlüsselt. Der Patient kann auch Daten löschen lassen.Der Patient ist jederzeit Herr über seine Daten und be-stimmt selbst, ob und welche medizinischen Daten ge-speichert werden und wer sie lesen darf.
Das sind im Übrigen höhere Sicherheitsstandards alsbei der EC-Bankkarte, und wir werden sie noch einmalverschärfen. Es drohen strafrechtliche Konsequenzen fürunberechtigte Zugriffe. Das ist echte Patientensouveräni-tät. Und vor allem: Das Vertrauensverhältnis zwischenArzt und Patient bleibt unangetastet, und das ist dasWichtigste. Das wollen wir auch bewahren.
Nicht umsonst hat der Präsident des BSI das E-Health-Gesetz als „Meilenstein für die IT-Sicherheit imGesundheitswesen“ bezeichnet. Das immer wieder zuhörende Argument, es gebe zu wenig Datenschutz, istalso nicht nur vorgeschoben, sondern es ist schlichtwegfalsch. Mit solchen Argumenten sind Fortschritte viel zulange blockiert worden. Das darf wirklich nicht mehrsein.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Mit dem E-Health-Gesetz muss jetzt der Durchbruch erreicht wer-den. Dazu muss auch die Selbstverwaltung ihren Beitragleisten. Ich habe kein Verständnis dafür, dass es zu Ver-zögerungen im Bewertungsausschuss kommt. Dieses in-teressenpolitische Klein-Klein können wir uns nichtmehr leisten. Ich erwarte von allen Akteuren – und hierbeziehe ich die Industrie explizit mit ein –, dass sie ihrenBeitrag liefern. Ausreden, warum es immer wieder zuVerzögerungen gekommen ist – wie wir sie in den letz-ten Jahren immer wieder gehört haben –, werden wir undwollen wir nicht mehr hinnehmen. Wir werden die Sank-tionen durchsetzen.Uns ist es ernst. Wir wollen mit diesem E-Health-Ge-setz einen Durchbruch erreichen. Ich werbe um Ihre Un-terstützung für dieses einzigartige Projekt.
Vielen Dank, Frau Kollegin Widmann-Mauz. – Einen
schönen Nachmittag von meiner Seite, liebe Kollegin-
nen und Kollegen.
Endspurt! Ich wünsche Ihnen noch eine schöne Stunde.
Wenn wir uns anstrengen und uns an die Zeiten halten,
dann kommen wir auch pünktlich zum Ende.
– Das hängt jetzt ganz von Ihnen ab.
Pia Zimmermann ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Mit Ihrem Gesetzentwurf verbessern Sienicht primär die gesundheitliche Versorgung der Patien-tinnen und Patienten, mit Ihrem Gesetz wollen Sie viel-mehr das Gesundheitswesen stärker ökonomisieren. Daslehnen wir als Linke grundsätzlich ab.
Welches Kernanliegen verfolgen Sie mit diesem Ge-setzentwurf? Sie wollen die elektronische Gesundheits-karte und die Telematikinfrastruktur für weitere Nutzer-gruppen anwendbar machen. Wer diese Nutzergruppeneigentlich sind, beschreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurfallerdings nur vage. Zum Beispiel sprechen Sie von„Angehörigen der nicht-approbierten Gesundheitsbe-rufe“ und von der „Nutzung … durch die Gesundheits-forschung“. Die Pharmaindustrie, die Arbeitgeberver-bände und die Krankenversicherungskonzerne mit ihrenGesundheitsüberwachungs-Apps reiben sich schon jetztdie Hände.Meine Damen und Herren, ich frage mich vor diesemHintergrund, wie Sie einen Gesetzentwurf „für sicheredigitale Kommunikation und Anwendung im Gesund-heitswesen“ vorlegen können, bei dessen Umsetzung ris-kiert würde, dass hochsensible Gesundheitsdaten vonetwa 70 Millionen Menschen, die versichert sind, in diefalschen Hände gelangen. Das ist unverantwortlich!
Der euphemistische Titel Ihres Gesetzes zeigt doch, dassSie um diese Gefahren wissen.Außerdem findet sich in Ihrem Gesetzentwurf keinverlässlicher Hinweis darauf, wie und wo die Patientin-nen und Patienten Zugriff auf ihre Daten haben. Sieschreiben zwar etwas von Terminals in Arztpraxen, al-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11331
Pia Zimmermann
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lerdings ohne Zeitplan und konkrete Vorstellungen. Ichkann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, wie IhrOnlinecheckpoint beim Arztbesuch funktionieren soll;aber Sie wissen das ja anscheinend auch nicht.Meine Fraktion sagt deutlich: Personenbezogene Ge-sundheitsdaten gehören in Patientenhand und nicht in ir-gendwelche Daten-Clouds. Die Datenhoheit des Einzel-nen muss geschützt werden.
Sie aber untergraben diesen Schutz mit Ihrer Politik;denn Sie haben keinen Schimmer, wie die Versicherten-daten, auf die von mehreren Hunderttausend Rechnernaus zugegriffen werden kann – in Arztpraxen, Kranken-häusern und Krankenkassenverwaltungen –, dauerhaftvor Cyberangriffen geschützt werden können. Wir erle-ben seit einigen Wochen, wie das Netz des DeutschenBundestages von Hackern angegriffen wird und es nichtgelingt, Datenströme des Hohen Hauses zu schützen.Und Sie sagen, dass Sie das in diesem Bereich hinbe-kommen? Das kann doch wirklich nicht wahr sein!
Das Fazit lautet: Solange dies nicht möglich ist, soll-ten wir nicht fahrlässig Patientendaten in digitale Netzeeinspeisen. Datenschutz und Datensensibilität müssenendlich zu einem politischen Gebot der Regierungspoli-tik werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, übrigenshat diesbezüglich nicht nur die Linke akute Bedenken,sondern auch Ihre eigene Datenschutzbeauftragte, FrauVoßhoff. Nehmen Sie diese Kritik endlich ernst.
Sie versuchen hier, ein Gesetz auf den Weg zu bringen,mit dem der elektronischen Gesundheitskarte irgendwienoch ein Fundament gegeben werden soll. Das geht, wieimmer, auf Kosten der Versicherten. Ihre Gesundheits-karte hat die Versicherten bis heute über 1 MilliardeEuro gekostet, und das ohne wirklichen Nutzen.Ganz nebenbei führen Sie für die Versicherten, diesich aus Sorge um ihre Daten noch nicht für die elektro-nische Gesundheitskarte entschieden haben – immerhinsind das 2 Millionen Versicherte –, die Praxisgebührdurch die Hintertür wieder ein: nicht pro Quartal, son-dern pro Arztbesuch 5 Euro. Das kann doch wohl nichtwahr sein! Ihre Repressionsmethoden sind unanständig.
Anstatt weiter mit Sanktionen Ihre Politik durchzuset-zen, sollten Sie Ersatzverfahren für die Versichertenschaffen, die für alle frei und unkompliziert zugänglichsind.Zusammengefasst lässt sich sagen: Die elektronischeGesundheitskarte und die Telematikinfrastruktur ver-schwenden enorme Versicherungsbeiträge, ohne zu sub-stanziellen Verbesserungen für die Beitragszahlerinnenund Beitragszahler zu führen. Ihrem Gesetzentwurf ent-nehme ich nicht, wie Sie die Sicherheit hochsensiblerGesundheitsdaten gewährleisten wollen. Sie entziehenden Menschen das Recht, selbst frei über ihre Daten zuentscheiden. Die Hauptnutznießer sind nicht die Patien-tinnen und Patienten, sondern eher die Versicherungs-wirtschaft und die Pharmaindustrie.
Sie setzen, wie in vielen Ihrer Gesetze, auf Sanktionenstatt auf Handlungsfreiheit und preisen das dann auchnoch als gut. Den Datenschutz nehmen Sie nicht soernst. Sie ignorieren die Hinweise der Interessengruppenund – ich sage es noch einmal – Ihrer eigenen Daten-schutzbeauftragten.Die Linke empfiehlt Ihnen daher mit Nachdruck, denGesetzentwurf zurückzuziehen und das Projekt „elektro-nische Gesundheitskarte“ einzustampfen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Pia Zimmermann. – Nächster Redner in
der Debatte: Dirk Heidenblut für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eines möchte
ich gleich zu Beginn klarstellen: Wir werden natürlich
nichts zurückziehen, und wir werden auch nichts ein-
motten.
Ganz im Ernst: Wer angesichts einer Infrastruktur,
über die wir uns – ich bedaure das durchaus – seit über
zehn Jahren Gedanken machen – wir machen uns vor al-
lem Gedanken über die Sicherheit –, mit dem Vorwurf
kommt, wir würden fahrlässig Gesundheits- und Patien-
tendaten in irgendwelche Netze speisen, den kann man
nicht für voll nehmen. Das tut mir furchtbar leid, aber
das ist natürlich Kokolores. Insofern werden wir das
auch nicht tun.
Herr Kollege Heidenblut, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage oder -bemerkung der Kollegin Vogler?
Bitte sehr.
Wir wollen rechtzeitig fertig werden, aber es ist IhrRecht, Frau Vogler.
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11332 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
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Hätte ich Nein sagen sollen?
Nein, um Gottes Willen, ich mische mich nicht ein.
Herr Kollege Heidenblut, wir haben doch erst kürz-
lich im Fernsehen bewundern dürfen, wie einfach es ist,
sich mit öffentlich erhältlichen Daten aus dem Callcenter
einer Krankenkasse Zugang zu den Versichertendaten ei-
ner anderen Person zu beschaffen, sich eine falsche elek-
tronische Gesundheitskarte ausstellen zu lassen und da-
mit sogar auch noch Einsicht in die Rentenunterlagen zu
nehmen. Meinen Sie nicht auch, dass das zumindest ein
Anlass hätte sein können, in dieser Debatte ein bisschen
nachdenklicher aufzutreten und noch einmal zu überle-
gen, ob Sie da tatsächlich auf dem richtigen Weg sind?
Wenn Menschen durch betrügerische oder andereMaßnahmen versuchen, sich Zugang wozu auch immerzu verschaffen, dann ist das ein Anlass, darüber nachzu-denken, wie man dafür sorgt, dass sie das a) nicht mehrkönnen und dass man b) ihrer entsprechend habhaftwird, damit man sie dafür bestrafen kann.
Das ist der primäre Ansatz. Wir sagen außerdem: Wirbrauchen eine sichere, eine zuverlässige, eine geschützteInfrastruktur. Wir erwarten natürlich von der Selbstver-waltung, und zwar von allen Beteiligten der Selbstver-waltung, dass sie das mit sicherstellen.
Genau das wird an dieser Stelle auch passieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nutzen Sie eigent-lich eine der Fitness- und Gesundheitsapps mit demSmartphone oder vielleicht mit einem dieser wunder-schönen Armbänder, die man dazubekommen kann?Speichern Sie Ihre Schritte und versuchen, Laufbewe-gung und Puls aufzuzeichnen, wahrscheinlich im Inter-net? Nein? Na gut, dann gehören Sie wahrscheinlich wieich zu der Spezies Mensch, die sagt: Es muss jetzt nichtalles von mir elektronisch im Internet verfügbar sein.Meine Pulsdaten gehen am Ende nur mich etwas an. –Aber wenn Sie das nutzen wollen, dann können Sie das.Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die leiderunendlich viele Medikamente nehmen müssen und gernesichergestellt haben würden, dass sie den Medikamen-tenplan in einer vernünftigen Struktur in der Hand haben– nicht nur in der Hand, sondern nach Möglichkeit auchauf elektronischen Medien –, dass die Daten aktuell sindund dass, egal zu welchem Behandler Sie kommen,Fehlmedikationen und Fehlbehandlungen – die Staatsse-kretärin hat das angesprochen – ausgeschlossen werdenkönnen, weil der Arzt weiß, was Sie nehmen und Ihnendas Richtige dazu verordnen kann. Wenn Sie sich dieswünschen, muss ich Ihnen sagen: Das ist leider nichtmöglich.Genau das will das Gesetz verändern. Wir wollen si-cherstellen, dass Sie die Hoheit über Ihre Daten bekom-men und dass solche Dinge in Zukunft für alle Beteilig-ten möglich werden.
Denn gerade für mehr Patientensicherheit, für mehr Ho-heit über die eigenen Daten und für mehr Nutzung tele-medizinischer Möglichkeiten – auch das gehört dazu;das ist ja kein Frevel – ist es dringend nötig, dass die seitJahren angekündigte IT-Gesundheitsstruktur endlich inSchwung kommt. Wir haben das übrigens schon im Ko-alitionsvertrag festgehalten, leider mit ein wenig dürrenWorten; aber der Minister hat daraus gleich ein rechtumfangreiches und, wie ich finde, zielführendes Gesetzentwickelt.
Nun will ich hier keineswegs die Entwicklung vonApps mit unserer komplexen Telematik auf die gleicheEbene stellen, nein, wegen der von uns zwingend zu si-chernden geschützten und zuverlässigen Infrastruktur,dem deutlich höheren Maß an Datenvolumen und amEnde natürlich auch an echten Gesundheitsleistungen istdas unmöglich. Aber die Apps machen deutlich: Es gibtviele, die so etwas gerne nutzen würden, auch für die ei-gene Gesundheit, und es gibt eigentlich keinen Grund,warum das eine im Monats-, Wochen- oder Tagesrhyth-mus problemlos aktualisiert und vorgelegt werden kannund das andere – ich sage das einmal freundlich – nachetwas mehr als einem Jahrzehnt noch nicht so ganz ausden Puschen gekommen ist. Deswegen müssen wir demeinen Schub verleihen. Das tun wir mit diesem Gesetz-entwurf an mehreren Stellen. Ich will drei davon kurzansprechen.Erstens: die elektronische Gesundheitskarte. Ich weiß,dass man sie als Politiker nicht so gerne anspricht, weilman dann häufig gesagt bekommt: Da habt ihr uns jaeine schöne Karte mit Bild beschert. – Aber so ist eseben nicht. Sie ist eine Karte, die den Schlüssel zu einemsicheren Gesundheits-IT-System und die für den Patien-ten und die Patientin den Schlüssel zur Hoheit über dieeigenen Daten darstellt.
Natürlich bilden das Notfalldatenmanagement und derMedikationsplan, die im Gesetzentwurf vorgesehen sind,insgesamt ganz sicher noch keine elektronische Patien-tenakte; aber wir sind jetzt konsequenter auf dem Wegdorthin.Zweitens: die Telematikinfrastruktur; auch sie wurdeschon angesprochen. Auf diesem Wege werden Daten inZukunft sicher über ein Netz übertragen. Die Testphasenlaufen an. Ich bin sicher, sie werden nächstes Jahr er-folgreich abgeschlossen. Dann muss natürlich definiert
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11333
Dirk Heidenblut
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werden: Wer darf was wie tun? Im vorliegenden Gesetz-entwurf wird dafür ein vernünftiges Reglement vorgege-ben. Dazu gehört, dass wir über Interoperabilität, alsoüber vernünftige Standards, und über Zugangsmöglich-keiten reden müssen. All diese Punkte beinhaltet unserGesetzentwurf.Drittens – last but not least – ein Wort zur Telemedi-zin. Ja, Telemedizin kann eine Menge bewirken. Daraufsetzen wir, auch im Hinblick auf die Versorgungsstär-kung. Wir setzen auch darauf, wenn es um moderne undaktuelle Behandlungsmöglichkeiten geht. Eines ist dochvöllig klar: Wenn das Ganze nicht geregelt ist – das giltfür die Nutzenbewertung genauso wie für die finanziel-len Konsequenzen, die daraus erwachsen –, dann werdenwir die möglichen Weiterentwicklungen an dieser Stellenicht hinbekommen. Auch hierzu enthält unser Gesetz-entwurf Regelungen.Ich gebe zu: Das ist ein Punkt, an dem man sagenkann: Darüber, ob die Beschränkung auf den Röntgenbe-reich die richtige Zielsetzung ist, kann man ja noch ein-mal reden.
Dass im Gesetzentwurf eine Regelung getroffen wurde,ist aber richtig. Außerdem werden viele Fragen zurKommunikation und zu anderen Aspekten angespro-chen, die uns ganz sicher nach vorne bringen werden.Im Gesetzentwurf geht es auch um Sanktionen. Aberdie Sanktionen – das haben Sie ein wenig unterschla-gen – richten sich im Zweifel gegen die Partner, die dasGanze nicht weiter voranbringen, also zum Beispiel ge-gen die Ärzteschaft, gegen die KVen, gegen die gesetzli-chen Krankenversicherungen. Was aus Sicht der Linkenso fürchterlich daran ist – wir wollen einen Schub leis-ten, damit das Ganze im Interesse der Patienten endlichvorankommt –, kann ich nicht ganz nachvollziehen.
Abschließend: Ich finde, unser Gesetzentwurf ist gutund zielführend. Vielleicht geht er an einigen Punktennicht weit genug – daran kann man ja noch arbeiten –,und einige Fristansätze – auch daran kann man noch ar-beiten – sind vielleicht etwas zu weit gefasst. Ich freuemich, dass wir weiter an diesem Thema arbeiten, undhoffe, dass wir das alle zusammen konstruktiv tun.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Heidenblut. – Nächste Rednerinin der Debatte: Maria Klein-Schmeink für Bündnis 90/DieGrünen.
Liebe Präsidentin! Liebe Kollegen! Anders als dieLinke begrüßen wir die Vorlage dieses Gesetzentwurfs,
weil wir meinen: Zehn Jahre nachdem die Gesundheits-karte im SGB V verankert wurde, müssen wir endlichentscheidende Schritte vorwärts machen, und zwar hinzu einer sicheren digitalen Kommunikation im Gesund-heitswesen.Ich muss sagen: Ich habe relativ wenig Verständnisfür die Position der Linken. Denn normalerweise tretenwir gemeinsam dafür ein, dass es in den Bereichen, diefür die gesamte Gesellschaft grundlegend sind, so etwaswie eine öffentliche Infrastruktur gibt. Genau das sollhier auf den Weg gebracht und vorangetrieben werden.Es geht um eine sichere öffentliche Telematikinfrastruk-tur für das Gesundheitswesen mit der eG-Karte alsSchlüssel bzw. Zugang dazu. Das, muss man sagen, ist inunserer heutigen Gesellschaft, die durch IT geprägt ist,ein öffentlicher Auftrag. Von daher kann ich Ihre grund-sätzliche Verweigerung an dieser Stelle nicht verstehen.
Im Gegenteil: Wir müssten ungeduldiger sein. Wirmüssten fragen, wie es sein kann, dass wir zehn Jahregebraucht haben, um voranzukommen, und warum wirdie entscheidenden Schritte noch nicht gemacht haben.Vielmehr stecken wir in einem Innovationsstau, der dazuführt, dass es im gesamten Gesundheitswesen mittler-weile viele graue Nebenlösungen gibt, die nicht den ho-hen Standards entsprechen, die in den entsprechendenGremien erarbeitet wurden und immer wieder beschwo-ren werden, die aber in der Gesellschaft bzw. bei der An-wendung im Grunde überhaupt noch nicht zum Tragenkommen. Da müssen wir vorankommen. Darum muss esgehen.
Ich glaube, dass das Bild von der Autobahn und denAutos insofern verstaubt ist, als wir uns längst in einerganz anderen Dimension befinden. Diese wird am bestendurch die Fortschritte in der Telemedizin beschrieben.Es geht einerseits darum, die Leistungserbringer besserals heute miteinander zu vernetzen, und es geht anderer-seits darum, sicherzustellen, dass der Versicherte bzw.der Patient tatsächlich seine Autonomie bei diesem Aus-tausch von Daten wahren kann. Das sind die großen He-rausforderungen, die wir zu stemmen haben. Wir sindaber eigentlich zehn Jahre zu spät. Das sage ich an dieLinken gewandt.
Trotz der Tatsache, dass viele richtige Dinge im Ge-setz stehen und in dem Sinne auch die Telematikinfra-struktur ein Stück weit vorangebracht wird, muss mansagen: Es gibt eine große Lücke. Diese hat damit zu tun,dass die Position der Patienten und der Versicherten, wasihre Zugriffsrechte auf die eGK und den Austausch vonInformationen angeht, noch nicht entscheidend gestärktwird. Das wiederum hat damit zu tun, dass sie nach derjetzigen Konstruktion eigentlich keinen wirklichen An-walt haben. Auch die Gematik und die Bundesregierungerfüllten diese Aufgabe nicht. Das muss man an dieserStelle einmal sagen. Da müssen wir nachlegen.
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11334 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Maria Klein-Schmeink
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Ich meine, wir sollten auch gezielt darüber nachden-ken, ob es nicht so etwas wie die Einbeziehung der Pa-tientenorganisationen in dieses Setting geben muss, damitdie patienten- bzw. versichertenbezogenen Anwendun-gen berücksichtigt werden. Dabei geht es darum, dassdie Patienten selbst wirklich entscheiden kämen: Werhat Zugriff auf welche Daten? Welche macht man imE-Kiosk öffentlich und welche nicht? Es sollte dafür ge-sorgt werden, dass das überhaupt vorangebracht wird.Von daher wäre das, meine ich, ein wichtiger Punkt, derim Gesetzgebungsverfahren eine Rolle spielen sollte.
Ich komme zu einer weiteren großen Lücke. Sie be-trifft die Einbeziehung anderer Dienstleister, die im IT-Bereich überhaupt nicht zu vermeiden ist. Wie stellenwir sicher, dass sich diese Dienstleister wirklich an diehohen Anforderungen des Sozialdatenschutzes halten?Wie stellen wir sicher, dass die Daten nicht in irgendei-ner Weise woandershin abfließen? Wie stellen wir si-cher, dass, wenn beispielsweise eine Firma pleitegeht,die Daten nicht Gegenstand anderer Verfahren werden?Wir brauchen also ein Nachsteuern beim Sozialdaten-schutz, gerade auch was die von außen agierendenDienstleister anbelangt. Auch das ist aus meiner Sichtbisher nicht im Gesetz enthalten. Da muss nachgeliefertwerden.
Die Gesundheits-Apps wurden schon angesprochen.Auch da hat sich ein breiter Markt entwickelt. Die Tech-niker Krankenkasse hat jetzt gerade eine Studie vorge-legt. Danach gibt es fast 400 000 gesundheitsbezogeneApps. Niemand aber weiß, ob sie wirklich sicher sind,ob die Ergebnisse, die dort vielleicht nur vorgetäuschtwerden, tatsächlich haltbar sind. Und es ist die Frage, obsie in der Telemedizin Anwendung finden sollten. Auchdazu fehlt bisher jegliche Regelung, die dazu führenkönnte, dass wir es schaffen, diese externen Angebotebestimmten Sicherheits-, aber auch Produkt- und Quali-tätsstandards zu unterwerfen. Auch das muss passieren.Ich glaube, das sind die großen Herausforderungen,die durch dieses Gesetz bisher noch nicht bewältigt wer-den. Von daher bin ich gespannt, wie die Debatte imHerbst weitergehen wird.Danke schön.
Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. – Nächste Red-
nerin ist Dr. Katja Leikert für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Vor anderthalb Jahren hat der
Gesundheitsausschuss seine Arbeit aufgenommen. Da
war mit Blick auf die Digitalisierung im Gesundheitswe-
sen noch keine größere Bewegung abzusehen. Wenn
Frau Zimmermann – wir haben ihr ja gerade zugehört –
hier regieren würde, würde sich auf diesem Gebiet auch
weiterhin gar nichts tun. Dann gäbe es – vor lauter Rück-
wärtsgewandtheit, die Sie hier an den Tag gelegt haben –
bestimmt auch keinen elektronischen Bankenverkehr.
Insofern ist es ein ganz großes Verdienst von Bundes-
minister Gröhe und Staatssekretärin Annette Widmann-
Mauz, das Thema aufgenommen und hierzu schnell ei-
nen Gesetzesentwurf vorgelegt zu haben. Die Dynamik,
die hier ausgelöst wurde, ist wirklich phänomenal – an
Ihnen etwas vorbeigegangen –: E-Health ist in aller
Munde. Jeder, der die leider unrühmliche Historie der
eGK kennt, weiß, dass das ein ganz wichtiger Schritt
war, vor allem mit Blick auf die Versorgung der Men-
schen.
Die elektronische Gesundheitskarte, die wahrschein-
lich viele von Ihnen im Portemonnaie haben, kann – das
wissen Sie auch – nicht besonders viel bisher, die „weiß“
in der Regel, wo Sie wohnen und bei welcher Kranken-
kasse Sie versichert sind. Darüber hinaus beinhaltet sie
neuerdings auch ein Foto zur Identifizierung; aber sonst,
wie gesagt, hat sie keine weitere Anwendung.
Wenn wir uns weiter in unserem Gesundheitswesen
umschauen, dann stellen wir fest, dass auch viele andere
wichtige Dokumente noch in Papierform vorliegen.
Vielleicht kennen Sie die Kampagne der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung „Deutschland sucht den
Impfpass“, wo jemand auf der Suche nach dem Impfpass
in den Umzugskarton klettert. Das ist das, was wir nicht
wollen. Wir wollen, dass die Menschen ihre Impfpässe
nicht mehr suchen müssen, sondern diese Daten langfris-
tig vom Smartphone beispielsweise oder am Computer
daheim abrufen können. Das ist das, was wir – Frau
Klein-Schmeink hat es angesprochen – unter Patienten-
souveränität auch verstehen.
Frau Kollegin, entschuldigen Sie bitte: Erlauben Sie
eine Zwischenfrage oder –bemerkung von Frau Vogler?
Ja, gern.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie meine Zwi-schenbemerkung zulassen. – Ich konnte jetzt nicht mehranders, weil ich finde, der Impfpass ist nun wirklich einausgesprochen blödes Beispiel für eine mögliche nutz-bringende Anwendung der elektronischen Gesundheits-karte. Den Impfpass benötigt nämlich nicht nur der, derbei einer gesetzlichen Krankenkasse versichert ist, son-dern auch, wer privat versichert ist. Man benötigt ihnnicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch, wennman ins Ausland reist. Da nützt es überhaupt nichts,wenn die Daten in Deutschland in einer elektronischen
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Kathrin Vogler
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Telematikinfrastruktur gespeichert sind. Damit kannman in anderen EU-Ländern und erst recht im fernerenAusland überhaupt nichts anfangen.Es handelt sich aber um wichtige Dokumente, um Ur-kunden, in denen ein Arzt mir bescheinigt – das muss ichin manchen Ländern bei der Einreise belegen –, dass ichgegen bestimmte Krankheiten geimpft bin. Von daher istes wirklich ein untaugliches Beispiel.
Ich denke mal, die Frage spricht für sich selbst. Wenn
wir uns gerade die Masernepidemie vor kurzem hier in
Berlin vor Augen führen, bin ich mir nicht sicher, ob je-
der über seinen Impfstatus auf dem Laufenden ist und ob
dieses Heftchen, das so aussieht, als ob es aus den 70er-
Jahren stammt, wirklich noch ein aktuelles Medium ist,
um sich über den eigenen Impfstatus zu informieren. In-
sofern kann ich Ihre Argumentation nicht teilen.
Es geht dabei nicht nur darum, dass Dokumente in
elektronischer Form vorliegen sollen, sondern es geht
auch um telemedizinische Anwendungen. Sie wissen,
dass wir hier auch untermotorisiert sind. Wir haben aber
eine Verantwortung für chronisch kranke Menschen. In
Brandenburg gibt es in einigen Regionen Projekte zur
Überwachung von Menschen mit chronischer Herzinsuf-
fizienz. In meiner Region, im Main-Kinzig-Kreis, gibt es
so etwas nicht. Viele dieser Telemedizinprojekte, wie im
Bereich Schlaganfall, zeigen einen echten Versorgungs-
nutzen für die Menschen. Die Menschen müssen weniger
oft ins Krankenhaus, es entstehen weniger Komplikatio-
nen und sogar weniger Todesfälle. Vielleicht stimmen
wir wenigstens in dem Punkt überein, dass Telemedizin
ein großer Segen sein kann und wir dafür die Telematik-
infrastruktur und auch die elektronische Gesundheits-
karte brauchen.
Das sind nur ganz wenige Beispiele dafür, warum die
Digitalisierung unseres Gesundheitswesens Sinn macht.
Annette Widmann-Mauz hat schon ausgeführt, was
der Gesetzentwurf im Detail vorsieht. Der schnelle Auf-
bau der Telematikinfrastruktur ist wichtig, damit es ein
sicheres Netz gibt. Die Anwendungen wurden schon
skizziert.
Dass wir uns natürlich noch ein paar andere Dinge
vorstellen können, haben wir an unterschiedlicher Stelle
schon debattiert. Ein ganz zentraler Punkt für uns ist das
Thema Interoperabilität. Wir finden, dass wir viel von
dem übernehmen können, was schon vorhanden ist. In-
ternational etablierte Standards für das gesamte System
verbindlich festzulegen, macht aus unserer Sicht wirk-
lich Sinn.
Daneben haben wir schon viele andere Anwendungen
besprochen, vom E-Rezept – das ich ganz praktisch
finde – über den E-Mutterpass bis hin zu den Heften für
die Untersuchungen der Kinder; das alles könnte in elek-
tronischer Form vorliegen.
Ganz wichtig ist auch, dass auf der elektronischen
Gesundheitskarte – ich bin Berichterstatterin für das
Thema Organspende – auch die Organspendebereit-
schaft vermerkt werden kann. Dieses Thema liegt mir
sehr am Herzen, und ich setze mich gerne dafür ein.
Daneben sind weitere Abrechnungsziffern im Bereich
der telemedizinischen Anwendung wichtig. Herr
Heidenblut hat das ja schon auf den Punkt gebracht.
Das Herzstück dieses ganzen E-Health-Komplexes
und unserer Strategie sollte natürlich die elektronische
Patientenakte sein, damit die Menschen einen autono-
men Zugriff auf ihre Daten haben. Das ist sehr zentral
und momentan noch nicht der Fall.
Ein weiterer wichtiger Punkt – ich möchte das E-
Health-Gesetz aber nicht überfrachten; das ist wahr-
scheinlich eher etwas für E-Health II – ist die Versor-
gungsforschung. Auch wenn es um diesen Bereich geht,
müssen wir dringend – das sollten wir im nächsten Jahr
tun – über Big Data sprechen, und wir müssen uns da-
rüber unterhalten, wie wir die Versorgungsforschung in
Deutschland verbessern können. Es nutzt ja nichts, die
ganzen Daten zu erfassen und dann keine langfristigen
Studien durchführen zu können. Es gibt Daten, die bei
den Krankenkassen lagern, und keiner kann sie verwen-
den. Das halte ich, ehrlich gesagt, für einen mittelgroßen
Skandal.
Abschließend – die Präsidentin hat mir ein Zeichen
gegeben – noch ein eindringlicher Appell an die Selbst-
verwaltung – ich habe mit vielen Akteuren gesprochen;
an manchen Stellen gibt es aber noch ein gewisses Be-
harrungsvermögen –: Ich wünsche mir, dass man sich
von höchster Stelle aus – alle, die in der Selbstverwal-
tung Verantwortung tragen – um das Change Manage-
ment, das wir brauchen, kümmert. Es liegt auf der Hand,
welchen Nutzen die Digitalisierung in unserem Gesund-
heitswesen hat. Hier sind alle gefordert.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Leikert. – NächsterRedner: Dr. Edgar Franke für die SPD.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die medizinische Kommunikation – wir habenes eben mehrfach gehört – muss endlich in das digitaleZeitalter überführt werden. Mancher Arzt zeigt mir zwarimmer noch stolz seinen Zettelkasten aus Holz und sagt,das sei der beste Datenschutz, aber ich glaube, dieseForm der Datenaufbewahrung sollte endlich der Vergan-genheit angehören.
Wir brauchen vielmehr eine zentrale Infrastruktur undeine sichere und zuverlässige Kommunikation, und vorallen Dingen brauchen wir keine Ärzte, die darüber me-ckern. Ich glaube, das ist auch ganz wichtig.
Frau Klein-Schmeink, auch wenn Ihnen das Bild derDatenautobahn nicht gefällt,
glaube ich schon, dass dieses Bild klarmacht, dass wirhier eine Autobahn brauchen und auch ein Stück weit,um im Bild zu bleiben, aufs Gaspedal drücken müssen.Wenn ich die Frau Staatssekretärin richtig verstandenhabe, dann hat sie gesagt, dass wir auf jeden Fall keineFeldwege brauchen. Auch das ist sicherlich richtig. Daswerden wir mit dem E-Health-Gesetz erreichen.
Wir forcieren jetzt die Telematik und öffnen sie vorallen Dingen für weitere Leistungserbringer. Alle Kos-tenträger müssen auf die Daten zugreifen können.Wir reden ja immer davon, dass wir die sektorenüber-greifende Versorgung stärken wollen. Liebe Linken,wenn man sektorenübergreifend zusammenarbeitet,kann man Daten erhalten, durch die die Qualität der Ver-sorgung erhöht wird. Gerade dadurch verbessern wiralso die sektorenübergreifende Versorgung. Deswegenverstehe ich eure Bedenken nicht.
Wir haben es schon mehrmals gehört: Wir sind seitzehn Jahren dabei. Es ist also schon eine gewisse Zeitvergangen. Ulla Schmidt hat das Projekt maßgeblicheingeführt. Man darf das gar nicht so laut sagen, aber wirhaben, glaube ich, schon – Frau Leikert, Sie sind die Be-richterstatterin – über 1 Milliarde Euro dafür ausgege-ben.
Insofern muss es mit dem Gasgeben jetzt wirklich mallosgehen.Wir haben schon verschiedene Stichworte gehört. Ei-nige will ich noch einmal nennen: Notfalldaten – da-durch wird die Versorgung verbessert –, Organspendebe-reitschaft und sichere Kommunikation zwischen denLeistungserbringern.Wir schaffen mit diesem Gesetzentwurf auch Klar-heit: Wir setzen klare Fristen – das hat Herr Heidenblutschon gesagt – und sehen klare Sanktionen vor. Wennman ein System implementieren und ihm zum Erfolgverhelfen will, dann braucht man nämlich auch Sanktio-nen. Ansonsten macht jeder, was er will. Außerdem er-halten die Ärztinnen und Ärzte Geld für die IT-Dienst-leistungen. Ich glaube, das ist in dem Gesetzentwurfordentlich und sachgerecht geregelt, Frau Staatssekretä-rin.Davon werden alle profitieren. Davon werden nichtnur die Patienten profitieren, sondern auch die Leis-tungsträger. Auch die Krankenkassen werden davon pro-fitieren. Insofern kann ich die Bedenken nicht verstehen.Wir dürfen eines nicht vergessen: Die Selbstverwal-tung, vor allen Dingen auch die Kassenärzte, haben teil-weise ganz bewusst Parallelstrukturen aufgebaut. Eswurde lange gestritten. Es wurde blockiert; HerrHeidenblut nickt. Es wurde die Einführung behindert.Was mich auch immer geärgert hat – da habe ich manch-mal wirklich einen Hals wie eine Kobra bekommen –,war, dass der Datenschutz als ein Grund vorgeschobenwurde. Um den Datenschutz ging es aber nicht. Um wasging es? Es ging um handfeste wirtschaftliche Interessenund um Egoismen. Diese haben die Einführung verhin-dert, nichts anderes, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich habe mich sehr gefreut – um auch einmal die or-ganisierte Ärzteschaft zu loben –, dass Herr Dr. Gassen,als er bei uns im Gesundheitsausschuss war, mehrfacherklärt hat, dass zum Beispiel auch Schnittstellen zumKV-SafeNet geschaffen werden sollen und dass wir stattder Parallelstrukturen diese neue Infrastruktur in unserSystem integrieren müssen.
Über die Zusage des KBV-Chefs Gassen habe ich michsehr gefreut. Ich hoffe, das wird klappen. Aber ich binsicher, dass er zu seinem Wort steht und dass wir esschaffen, ein einheitliches System zu bekommen. Wir je-denfalls schaffen jetzt die Grundlagen dafür.
Ich möchte auch noch sagen: Wir sorgen dafür, dassdie Daten sicher sind. Herr Schaar, der Datenschutzbe-auftragte der vorigen Bundesregierung, ein Mensch, derwirklich ganz genau hinschaut, hat immer gesagt: DieDaten sind sicher. Das ist eines der sichersten Systeme,das es in der Gematik gibt. Da müssen wir keine Angsthaben.
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Dr. Edgar Franke
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Ich möchte zum Schluss einen weiteren Punkt ganzkurz ansprechen; ganz kurz deshalb, weil Telemedizinbei uns schon lange ein Thema ist. Telemedizin ist ge-rade bei der gesundheitlichen Versorgung auf dem Landein wichtiges Thema, das Innovationen mit sich bringt.Es führt letztlich zu einer Verbesserung der Versorgung,weil Patientinnen und Patienten mithilfe der Telemedizinvon der Praxis aus in ihrer häuslichen Umgebung betreutwerden können. Der persönliche Arzt-Patienten-Kontaktist zwar wichtig, aber manchmal geht das auf dem Landnicht. Die Technik erleichtert hier die Betreuung.Über Videokonsultationen und auch technische Assis-tenz für nichtärztliches Personal können wir im Rahmendes Innovationsfonds sprechen.
Aber das machen wir nicht heute.
Ich komme zum Schluss. – Im Bereich Telemedizin
und auch im digitalen Bereich der Gesundheitswirtschaft
dürfen wir die Zukunft nicht verschlafen; die Gefahr be-
steht nämlich. Da gibt es riesige Potenziale für Innova-
tionen in der Versorgung von Patienten. Der Einsatz
– Frau Präsidentin, mein letzter Satz – von digitaler In-
formationstechnologie verbessert nicht nur die Qualität
der Versorgung, sondern sichert auch den Wirtschafts-
standort Deutschland und ist von herausragender Bedeu-
tung. Insofern ist das ein wirklich gutes Gesetz und
bringt Deutschland voran. Mit diesem Gesetz wird alles
gut.
Ich danke Ihnen.
Danke, Herr Kollege Franke. – Wir im Präsidium wa-
ren uns etwas unsicher. Sie haben gesagt, Sie bekämen
einen Hals wie wer? Wir haben nicht verstanden, was
danach kam.
– Wir haben gedacht, wie ein Truthahn. Aber okay.
Gut, da wir haben wieder etwas gelernt: 400 000 Apps
und die Sache mit dem Kobrahals. – Letzter Redner in
dieser Debatte: Maik Beermann für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin sehrfroh, dass ich nicht nur in einer innovationsfreundlichenPartei mitarbeiten darf, sondern bei diesem Thema auchin einer innovationsfreundlichen Koalition.
– Stopp, Frau Klein-Schmeink, auch Sie möchte ichnoch loben. – Dass auch Sie von der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen sich gemeinsam mit der Koalition beidiesem entscheidend wichtigen Zukunftsthema auf denWeg gemacht haben, macht Spaß. Da arbeiten wir allegemeinsam an einer guten Sache. Vielen Dank dafür!
Die Digitalisierung revolutioniert unser Leben. DieDigitalisierung revolutioniert unsere Arbeit, die Indust-rie und die Landwirtschaft. Aber die Digitalisierung re-volutioniert auch unser Gesundheitssystem. Lieber Kol-lege Heidenblut, ich bin einer von denen, die eine solcheApp nutzen. Ich bin gestern – das habe ich mir extra auf-geschrieben – 6 583 Schritte gegangen.
– Mehr geht immer; da bin ich bei Ihnen. Aber ich warschon darauf stolz. Woher ich das weiß, ist klar: MeinSmartphone hat die Schritte mitgezählt und mir danndiese Info gegeben.Wahrscheinlich nutzen viele von Ihnen auch solcheGesundheits-Apps oder andere Innovationen, die esmittlerweile gibt, beim Joggen oder wie auch immer.Fakt ist: Mehr als 40 Millionen Menschen in Deutsch-land nutzen das Internet und Apps, um sich über dasThema Gesundheit zu informieren. Die Menschen war-ten förmlich jeden Tag auf digitale Anwendungen, dieihnen das Leben erleichtern.Der vorliegende Gesetzentwurf für sichere digitaleKommunikation und Anwendungen im Gesundheitswe-sen gibt aus meiner Sicht genau den richtigen Impuls.Ich danke Gesundheitsminister Gröhe und Frau Staatsse-kretärin Widmann-Mauz, dass sie sich durchgesetzt undgemeinsam auf den Weg gemacht haben, einen Gesetz-entwurf zum Thema Digitalisierung vorzulegen. Das istder erste Gesetzentwurf dazu, den wir im Bundestag dis-kutieren. Frau Widmann-Mauz, nehmen Sie das Danke-schön gerne mit ins Ministerium. Ich bin auf jeden Fallvon dem Gesetzentwurf überzeugt. Vielen Dank dafür!Als ich vor ein paar Wochen ein Seniorenheim in mei-nem Wahlkreis in Bückeburg im Landkreis Schaumburgbesucht und unter anderem über die elektronische Ge-sundheitskarte und ihre zukünftigen Funktionen sowiedie allgemeine Digitalisierung im Gesundheitswesen re-feriert habe – ein Thema war unter anderem das Spei-chern gesundheitsrelevanter Daten –, war die Fragenicht, ob das Ganze auch sicher sei. Die erste Frage derimmerhin 70 bis 80 anwesenden Seniorinnen und Senio-ren war vielmehr: Wann wird es das denn endlich geben?So spürt man, dass dieses Thema auch bei einer Genera-tion, bei der man es nicht vermutet hätte, den Punkt er-reicht hat, dass man einen Mehrwert erkennt. Man geht
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Maik Beermann
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nicht unbedingt davon aus, dass sich gerade unsere ältereGeneration dafür begeistert.Zudem ermöglicht E-Health gerade im ländlichenRaum, wo auch ich herkomme, eine bessere, sicherere,optimierte und zugleich kosteneffizientere Versorgung,indem zum Beispiel dort, wo Fachärzte fehlen, Kollegenüber Telemedizin zugeschaltet werden können.Digitale Vernetzung bedeutet aber nicht nur schnel-lere Kommunikation, sondern es geht auch um einenhandfesten medizinischen Nutzen. Sie haben es ange-sprochen, Frau Widmann-Mauz: Mit jederzeit abrufba-ren elektronischen Notfalldaten stehen dem Arzt in ei-nem Notfall alle wichtigen Daten sofort zur Verfügung.Das kann nicht nur, sondern – davon bin ich überzeugt –wird auch Leben retten.Meines Erachtens ist es unsinnig, sich der Digitalisie-rung im Gesundheitswesen entgegenzustemmen. Vielbesser wäre es, diesen Prozess konstruktiv und da, wo esnotwendig ist, auch kritisch zu begleiten und mitzuge-stalten.Kritisch muss ich an dieser Stelle aber anmerken, dassich im Gesetzentwurf die elektronische Patientenaktevermisse. Ich bin kein Gesundheitspolitiker, sondernNetzpolitiker. Deswegen sei mir dieser Einwand gestat-tet.
Wir sollten uns nicht überfordern!)Wir sollten die nächsten Wochen und Monate intensivnutzen, um zu prüfen, wie wir die elektronische Patien-tenakte noch im Gesetzentwurf implementieren können.Aber ich finde es gut – Sie haben es gesagt, FrauWidmann-Mauz –, dass wir uns auf den Weg machenwollen.
Wenn wir uns auf den Weg machen, ist es aber entschei-dend, dass die Patientinnen und Patienten ein Recht da-rauf bekommen, ihre Patientendaten in strukturierter undaufbereiteter elektronischer Form zu erhalten.Ebenso wichtig ist aber, dass im Zuge der Fertigstel-lung der Telematikinfrastruktur auch ein offizielles undeinheitliches Datenformat für die elektronische Patien-tenakte festgelegt wird. Sonst verlieren wir viel zu vielZeit. Das ist von entscheidender Bedeutung.Eine solche Anpassung würde im Zusammenspiel mitkonkreten Regelungen für die Einführung einer elektro-nischen Patientenakte im System der gesetzlichen Kran-kenversicherung unser Gesundheitssystem in ein neuesdigitales Zeitalter der Gesundheitsversorgung befördern.Die Vorteile liegen auf der Hand: Steigerung der Effekti-vität und Qualität bei der Behandlung.Vernetzung, Telemedizin, neue Therapien und Daten-schutz: Das ist die digitale Revolution im Gesundheits-wesen. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen.Abschließend möchte ich feststellen, dass ich mir si-cher bin, dass wir in diesem Bereich noch einiges errei-chen werden. Als Mitglied des Ausschusses DigitaleAgenda freue ich mich aber besonders, dass ich heute alsletzter Redner dieser Debatte die Möglichkeit hatte, zudem Thema zu sprechen. Ich möchte Ihnen zurufen: Las-sen Sie uns das Gesundheitswesen gemeinsam vernet-zen: jetzt und sicher!Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich wünscheIhnen allen eine erholsame und schöpferische parlamen-tarische Sommerpause.
Vielen Dank, Herr Kollege Beermann. Das wünschen
wir Ihnen auch, das Schöpferische und das Erholsame.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/5293 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 34 a und 34 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Harald Weinberg, Sabine
Zimmermann , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der
Pflege – Solidarische Pflegeversicherung ein-
führen
Drucksache 18/5110
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Weinberg, Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Private Krankenversicherung als Vollversi-
cherung abschaffen – Hochwertige und effi-
ziente Versorgung für alle
Drucksachen 18/4099, 18/5354
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Dann hat die erste Rednerin das Wort, und das ist Pia
Zimmermann für die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Personalmangel, Arbeitsverdichtung, Burn-out, das sindSchlagworte, die mit der Pflege in diesem Land asso-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11339
Pia Zimmermann
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ziiert werden. Wundliegen, keine Zeit für Gespräche,„im Minutentakt gepflegt werden“ prägen die Erfahrun-gen von Menschen mit Pflegebedarf. Überlastung, einpermanentes Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen dem ei-genen Lebensentwurf sowie den Sorgen und Nöten ge-liebter Menschen, damit kämpfen pflegende Angehö-rige. Dass dies Begriffe und Bilder sind, die vielen beimThema Pflege einfallen, ist ein Armutszeugnis.
Das ist ein Armutszeugnis vor allen Dingen auch des-halb, weil es nicht sein muss, nicht angesichts der Wirt-schaftskraft der Bundesrepublik.Gleich werden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvon Union und SPD, sicherlich auf die Pläne des Ge-sundheitsministeriums für das Pflegestärkungsgesetz IIBezug nehmen. Dass wir die Erwartungen nicht allzuhoch stecken sollen, davor haben Sie uns schon mehr-fach gewarnt. Ich möchte hier gar nicht im Einzelnen da-rauf eingehen, nur so viel: Solange die Finanzierungnicht gesichert ist, bleibt zu befürchten, dass jede Ver-besserung an der einen Stelle Verschlechterungen an ei-ner anderen Stelle mit sich bringt; denn der Finanzbedarfist riesig. Gleichzeitig fehlt es aber an einem – ich be-tone das – langfristigen Finanzierungskonzept; dennnach bisherigem Planungsstand reichen die Beitragser-höhungen nicht für die Finanzierung der Reformschritteaus.
Statt nun aber den 2014 unsinnigerweise beschlosse-nen Pflegevorsorgefonds aufzulösen, greifen Sie in dieTrickkiste. Sie zapfen die Rücklagen der Pflegeversiche-rung an. Damit eröffnen Sie den Wahlkampf. Verbesse-rungen im Wahlkampfjahr 2017 finanzieren Sie aus dendringend nötigen Reserven. Auf Dauer gesehen bedeutetdas Beitragserhöhungen oder Leistungskürzungen an an-derer Stelle, weil Sie sich nicht trauen, grundsätzlich dieFinanzarchitektur der Pflegeversicherung zu verändern.
– Ich würde mich freuen, wenn Sie das tun würden. Siehaben das in Ihrer Wahlpropaganda angekündigt, undSie werden das sicherlich wiederholen. Schauen wir ein-mal, was daraus wird.Wenn unterschiedliche Gruppen nicht gegeneinanderausgespielt werden sollen – seien es Beschäftigte gegenMenschen mit Pflegebedarf oder Menschen mit unter-schiedlichen Pflegebedarfen gegeneinander –, dannmüssen wir die Pflegeversicherung auf ein langfristigstabiles finanzielles Fundament stellen.
Für uns als Fraktion Die Linke ist klar: Ein solches Fun-dament kann nur durch die solidarische Weiterentwick-lung der Pflegeversicherung geschaffen werden. Klar istnämlich auch: Gute Pflege kostet Geld; sie gibt es nichtzum Nulltarif. Gute Pflege ist ein Menschenrecht, undder Zugang zu einer qualitativ hochwertigen und umfas-senden pflegerischen Versorgung darf nicht Kostenkal-külen untergeordnet werden.
Der entscheidende Punkt ist, wer den finanziellen Auf-wand trägt und wie die Lasten verteilt werden. Hier ver-treten meine Fraktion und ich eine ganz klare Position.Die Kosten müssen gerecht verteilt werden.
Das heißt, alle zahlen denselben Beitrag auf ihr gesamtesEinkommen, unabhängig davon, ob es aus Löhnen, Un-ternehmensgewinnen oder Kapitalerträgen bezogenwird.
– Mechthild, ich freue mich, wenn du da mitgehst.Außerdem müssen die Arbeitgeber endlich auch inder Pflege in die Pflicht genommen werden; denn von ei-ner paritätischen Finanzierung kann hier wohl niemandmehr reden. Niemand soll aus der Verantwortung entlas-sen werden, weder durch eine Beitragsbemessungs-grenze, die gerade die höchsten Einkommen entlastet,noch durch eine Privatversicherung.
Langfristig gefährdet die Existenz der privaten Pfle-geversicherung die Finanzierung der sozialen Pflegever-sicherung; denn sie entzieht dem Solidarsystem dauer-haft die Beiträge von Gutverdienenden, gleichzeitig sindihre Ausgaben aber viel geringer. Die Ausgaben der so-zialen Pflegeversicherung sind pro Versichertem jährlichfast viermal so hoch wie die der privaten Pflegeversiche-rung.
Die Mitglieder der privaten Pflegeversicherung sindim Schnitt deutlich jünger und verdienen besser als dieMitglieder der sozialen Pflegeversicherung. Währenddie private Pflegeversicherung mit ihren Rücklagen vonrund 25 Milliarden Euro – das muss man sich einmalvorstellen – etwa 32 Jahre lang die Ausgaben für diePflege decken kann, reichen die Vermögensrücklagender sozialen Pflegeversicherung gerade einmal ein Quar-tal lang. Das ist gegenüber den fast 70 Millionen Versi-cherten in der sozialen Pflegeversicherung zutiefst unge-recht. Hier muss umverteilt werden, solidarisch undgerecht.
Mit dem entsprechenden politischen Willen ist das al-les relativ unkompliziert machbar. Dadurch, dass beideVersicherungen identisch ausgestattet sind, haben wirfaktisch fast eine Versicherung für alle. Wir, die Linke,wollen einen Schritt nach vorne gehen, hin zur solidari-schen Pflegeversicherung. Ich fordere Sie auf: GehenSie diesen Schritt mit uns.
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Pia Zimmermann
(C)
(B)
Eine unabhängige Studie hat ergeben, dass der Bei-tragssatz der Pflegeversicherung trotz Ausgleich desRealwertverlusts und einer sofortigen Erhöhung derSachleistungen um 25 Prozent langfristig deutlich unter2 Prozent gehalten werden kann, also unterhalb des der-zeitigen Niveaus. Das schafft die Voraussetzung dafür,dass alle nach ihren individuellen Bedürfnissen versorgtwerden können.Für die Beschäftigten ließen sich faire Arbeitsbedin-gungen und gute Löhne verwirklichen. Eine tarifgerechteVergütung der Pflegefachkräfte und die Refinanzierungvon Tariferhöhungen wären in einer Bürgerversicherungmöglich.Meine Damen und Herren von der Koalition, mit un-serem Antrag stellen wir Ihnen die Frage, was Ihnenwürdevolle Pflege wert ist.
Ich fordere Sie auf: Enttäuschen Sie die Menschen mitPflegebedarf, ihre Angehörigen und die Beschäftigtennicht. Gehen Sie diesen Weg mit uns.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollegin Zimmermann. – Nächster
Redner in der Debatte: Thomas Stritzl für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
– Nein, ein Handy.
Frau Zimmermann, ich hätte eigentlich erwartet, dass
Sie auch etwas zu dem Thema Ihres Fraktionsantrags sa-
gen, wonach Sie die private Krankenversicherung als
Vollversicherung abschaffen wollen. Das haben Sie in
Ihrem Beitrag leider nicht erwähnt. Trotzdem haben Sie
den Antrag gestellt. Es kann sein, dass das schlechte Ge-
wissen einen gewissen Schatten vorauswirft.
– Doch; denn der Antrag auf Abschaffung der privaten
Krankenversicherung als Vollversicherung, den Sie ein-
gereicht haben, ist im Grunde zunächst einmal ein Ever-
green aus roter Feder.
– Genau. – Er macht deutlich, dass es die Linke trotz
jahrelanger Agitation gegen das Bestehen der PKV im-
mer noch nicht hinbekommen hat, selbst einen eigenen
Gesetzentwurf vorzulegen. Ich muss sagen: Das finde
ich erstaunlich. Sie fordern die Bundesregierung auf,
Ihre Arbeit zu machen. Machen Sie die einmal selber.
Warum machen Sie das nicht? Ich werfe Ihnen keine
bewusste Untätigkeit vor, aber das ist Ausdruck dessen,
dass Sie selbst nicht wissen, wie Sie das rechtlich ein-
wandfrei hinbekommen.
Das ist nämlich genau der Punkt. Es gibt seit Jahren
schwerste – Ihnen bekannte – verfassungsrechtliche Be-
denken. Jetzt sollen andere Ihren Job machen, damit Sie
den Offenbarungseid nicht zu leisten brauchen. Das
kommt mit uns nicht infrage.
– Die Sonne scheint heute. Das hätten Sie hineinschrei-
ben können. Dann wäre mehr Wahrheit in Ihrem Antrag
gewesen als jetzt.
– Den hätten wir nicht abgelehnt.
Es ist doch ganz einfach: Wenn die Sonne scheint und
lacht, dann hat’s die CDU gemacht.
Erlauben Sie Zwischenbemerkungen von den restli-
chen Fraktionen hier im Haus?
Jederzeit. Das tut ja der Wahrheit keinen Abbruch.
– Das muss nun gerade ein Nordhesse sagen.Wie gesagt, einerseits scheuen Sie den Arbeitsauf-wand, selber einen rechtlich einwandfreien Gesetzent-wurf zu erarbeiten. Sie haben natürlich auch nicht vor,zu sagen, welche Nebenwirkungen dieses rote Medika-ment wirklich hätte.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11341
Thomas Stritzl
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Schauen wir uns doch einmal gemeinsam an, was aufden Beipackzetteln zur Patienteninformation stehenmüsste, sollte es tatsächlich zugelassen und verordnetwerden. Was wären das für Warnhinweise?Erstens: Verlust von bis zu 100 000 Arbeitsplätzen.
– Frau Klein-Schmeink, Sie können doch die Gelegen-heit nutzen und sich einmal die Stellungnahmen vonVerdi anschauen oder aber auch lesen, was die Hans-Böckler-Stiftung dazu schreibt; dann werden Sie dieseZahlen wiederfinden.
Sie kommen ja nicht von mir. Dass Sie sich meinen Ratnicht zumuten wollen – bitte! Aber den Rat von unab-hängigen Experten sollten Sie vielleicht in Betracht zie-hen.
Zweitens: Milliardenverluste bei den Ärztehonoraren.Drittens: negative volkswirtschaftliche Effekte, undzwar nur negative volkswirtschaftliche Effekte. Das sagtdas Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsfor-schung. Wenn man ferner Herrn Montgomery, der ganzbestimmt nicht jahrelang unserer Partei angehört hat,glauben dürfte, dann ist es eine Mogelpackung mit Tur-bolader für eine Zweiklassenmedizin.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch derDeutsche Facharztverband befürchtet eine überbordendeZweiklassenmedizin, getrieben durch den Mix von Ein-heitsversicherung auf der einen Seite und teuren Zusatz-versicherungen auf der anderen Seite. Genau so wollenSie es von der Linken ja auch; denn es heißt in IhremAntrag – Zitat –:Die PKV wird auf Zusatzversicherungen für medi-zinisch nicht notwendige Leistungen beschränkt.
Eine Aufforderung, ein Wollen der besonderen Art,wenn ich es einmal so sagen darf. Einerseits würde dieUmsetzung dieses Vorschlags die Gefahr bergen, derTreiber einer Zweiklassenmedizin zu werden. Anderer-seits ist die Forderung der Linken so gewählt, dass manberechtigte Zweifel haben muss, was eigentlich wirklichgewollt ist. Denn wird es überhaupt einen Versiche-rungsmarkt für medizinisch nicht notwendige Leistun-gen geben können? Wer bestimmt berechenbar und be-lastbar, was medizinisch nicht notwendig ist?
– Na ja, ich schaue mir das ja an bei den Linken. – Ja,Frau Klein-Schmeink, gerne. Wissen Sie, dass die pri-vate Krankenversicherung im Wesentlichen die Heil-praktiker bezahlt, nicht die gesetzliche? Halten Sie dasnun für medizinisch notwendig oder nicht? Sagen Sie es.Sie haben ja gleich die Chance dazu. Nur das Auswei-chen ins Konkrete hilft da weiter.
Viertens: Auf welcher Rechtsgrundlage und auf wel-chem Gesellschafts- bzw. Menschenbild fußt eigentlichdie Anmutung, selbstbestimmt lebenden Bürgerinnenund Bürgern vorzuschreiben, was sie an Risiko wo versi-chern wollen?
Was ist das für ein Menschenbild? Was wollen Sie alsLinke also wirklich? Nutzen Sie heute die Gelegenheit,den Menschen in diesem Lande reinen Wein einzuschen-ken, zumal Sie noch einen Fraktionsvorsitzenden haben,der zumindest in seinen öffentlichen Reden immer vonder Wahrheit schwärmt.Unter II. d) des Antrags der Linken steht ferner – Zi-tat –:Den Beschäftigten der PKV ist ein Übergang inneue notwendig werdende Stellen in der GKV zugewährleisten. Die Qualifikation ist sicherzustellen.Dies ist eine Passage, welche man den betreffendenBetriebsräten zunächst einmal zur Lektüre anempfehlensollte. Offensichtlich weiß auch die Linke, dass mit ihrerInitiative für die Abschaffung des dualen Systems Ar-beitsplätze in erheblichem Umfang und auf allen Ebenenzerstört würden. Die bis zu 100 000 Arbeitsplätze– diese Zahl beruht auf wissenschaftlich erhobenen Da-ten –, welche gemäß der Linken in die GKV-Obhut zuüberführen wären, würden für das System der gesetzli-chen Krankenversicherung, welches sich bekanntlich umBürokratieabbau und sozialverträglichen Personalabbaubemüht, eine milliardenschwere zusätzliche jährlicheLast bedeuten. Die Antragsteller dürften wissen, dass dieGKV dies nicht wird leisten können. Die Übernahmega-rantie der Linken für die Arbeitnehmer und Arbeitneh-merinnen der PKV ist also bestenfalls sogenannte weißeSalbe, in jedem Fall jedoch, aus meiner Sicht, eine Ver-höhnung der berechtigten Existenzsorgen der Beschäf-tigten und ihrer Familien.
– Wir müssen uns ja dafür einsetzen, weil Sie sie ja be-drohen.
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Thomas Stritzl
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Wozu das alles? Wenn es zutreffend ist, dass bei denKolleginnen und Kollegen der Linksfraktion das politi-sche Interesse die Wahrnehmung steuert,
dann haben Sie selbst die Antwort auf die berechtigteFrage „Wozu dies alles?“, in Ihrem Antrag gegeben:Die PKV ist gesamtgesellschaftlich unzweckmäßigund schädlich.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las-sen. Ich bin, ehrlich gesagt, etwas zusammengezuckt, alsich dieses Wording las. Ich hatte gehofft, wir wären ge-meinsam ein Stück weiter.
Auch wenn Sie uns die Sonne schenken: Kommen Sie
zum Schluss!
Frau Präsidentin, selbstverständlich folge ich Ihrem
Rat, muss meine Rede dann abkürzen.
Das ist mehr als ein Rat.
Lassen Sie mich im Ergebnis sagen: Ein System der
dualen Krankenversicherung, das sich national und in-
ternational bewährt hat, das das leistungsfähigste im in-
ternationalen Vergleich ist, soweit wir es wissen – –
– Gucken Sie mal in die skandinavischen Länder! Wenn
Sie gute Verbindungen zur Provinzialverwaltung in
Schweden haben, dann bekommen Sie dort vielleicht
eine Operation. Das ist die dortige Genehmigungssitua-
tion.
Die Versorgungsvielfalt, die Versorgungssicherheit,
die Versorgungsqualität sind im dualen System herausra-
gend. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen stützt
dieses System.
Sie können von uns nicht verlangen, dass wir diesen gu-
ten Weg verlassen.
Danke schön.
Danke, Herr Stritzl. – Nächste Rednerin: ElisabethScharfenberg für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte FrauStaatssekretärin! Herr Laumann! Sehr geehrte Damenund Herren! Ich möchte gern ein Dankeschön an dieKolleginnen und Kollegen der Linksfraktion sagen. Esist gut, dass wir vor der Sommerpause noch einmal dieGelegenheit haben, über die Pflege zu reden. Es gehtnicht darum, bemüht Bilder über Beipackzettel im Be-reich der Pflegeversicherung zu finden oder Slapstick-einlagen über den Einfluss der CDU aufs Wetter zu brin-gen. Das macht die CDU manchmal, aber ansonsten:negativ im Bereich des Klimawandels, Herr Stritzl.
Über die Pflege haben wir in den letzten Monaten vielöfter debattiert, als wir das sonst gewohnt sind, und dochist unter dem Strich noch viel zu wenig darüber gesagtworden. Das Thema Pflege kann gar nicht genug Raumeinnehmen. Kaum ein anderes Thema geht so tief in jedeFamilie hinein wie dieses Thema. Pflege betrifft jedenund jede von uns, früher oder auch später.Die schwarz-rote Koalition ist durchaus umtriebig inder Pflegepolitik. Da ist einiges passiert. Aber es ist nochkein Wert an sich, viel Papier vorzulegen. Viele kleine,durchaus auch gute Maßnahmen sind am Ende des Tageseben nicht der große Wurf.Neben den vielen kleinen Schritten gab es natürlichauch Unsinn, und zwar großen Unsinn.
Ich meine damit zum Beispiel den völlig nutzlosen undimmens teuren Pflegevorsorgefonds.
Alle hier, auch Sie, die Koalition, wissen ganz genau,dass dieser Fonds nichts bringt. Der Fonds bindet vielGeld. Sie horten 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. Diese1,2 Milliarden Euro pro Jahr bräuchten wir dringend beider Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.Wir bräuchten sie für die Pflege jetzt.
Und er kommt, der Fonds. Liebe SPD, maximalerkann man sich nicht von seinem Wahlversprechen einersolidarischen und nachhaltigen Bürgerversicherung ent-fernen.
Sie wollen mehr Geld für eine bessere Pflege in dieHand nehmen. Das ist gut. Das ist richtig. HerrLaumann, einer Ihrer Lieblingssprüche ist: „Geld pflegt
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11343
Elisabeth Scharfenberg
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nicht.“ – Damit haben Sie durchaus recht. Mehr Geld al-lein macht auch noch keine bessere Pflege. Wir werdensehr genau hinschauen, was am Ende dabei heraus-kommt. Wir werden auch sehr genau hinschauen, ob dasGeld da ankommt, wo es hingehört.Genau schauen wir auch bei den Pflegenoten hin. Einunsägliches Theater der Koalition!
Da frage ich mich, ob Sie wirklich eine bessere Pflegewollen. Sie belohnen bessere Dokumentation, und Siemogeln sich immer wieder an den zentralen Fragen vor-bei.Damit komme ich wieder zum Antrag der Linksfrak-tion.
Wer so viel Geld für Pflege in die Hand nehmen will,wie Sie das von der Koalition vorhaben, der sollte aucherklären, wie er das auf Dauer finanzieren will. Dazu hö-ren wir von Ihnen nichts. Der Pflegevorsorgefonds ist je-denfalls keine Lösung. Das wissen wir, und das wissenauch Sie, insbesondere die SPD.Der Antrag der Linksfraktion legt den Finger genauzur richtigen Zeit in die Wunde. Ich sage ganz offen: Wirteilen nicht alle Forderungen in diesem Antrag. Ichfinde, dass eine Vollkostenversicherung viele Fragen mitsich bringt. Ganz so einfach ist es nicht.Unsere Gesellschaft wird älter, wir werden älter. DieZahl der Pflegebedürftigen nimmt zu. Da liegt es dochauf der Hand: Eine gute Pflege wird mehr Geld kosten.Und das können wir nur als Gemeinschaft stemmen.
Deswegen ist es nicht die richtige Lösung, weiterhinzwei Versicherungssysteme parallel laufen zu lassen.Zurzeit haben sich gut 10 Prozent der Bevölkerung – dieMitglieder der privaten Pflege- und Krankenversiche-rung – einfach so aus der Solidarität, aus der Solidaritätmit den Schwächsten verabschiedet. Das ist unfair undungerecht und kommt am Ende des Tages uns alle teuerzu stehen. Deswegen ist die Forderung nach einer solida-rischen Pflegebürgerversicherung völlig richtig.
Alle Bürgerinnen und Bürger müssen sich in einem Sys-tem an der Finanzierung der Pflege beteiligen. Alle Ein-kunftsarten, natürlich auch Kapitalvermögen, müssenmit einbezogen werden. Das ist gerecht und nachhaltig.Dazu gibt es keine überzeugende Alternative.
Wie Sie derzeit Pflegepolitik machen, gerade in Be-zug auf die Finanzierung, das ist und bleibt unverant-wortlich. Alle hier wollen den neuen Pflegebegriff, undalle hier wissen, dass man dafür viel Geld in die Handnehmen muss.
Sie aber geben das Geld heute aus und sagen nicht, woes morgen herkommen soll. Sie hinterlassen unbezahlteRechnungen. Nutzen Sie die Zeit für eine ordentliche,nachhaltige und wirklich gerechte Finanzierung!Vielen Dank.
Vielen Dank, liebe Elisabeth Scharfenberg, und auch
Danke für die Punktlandung, auf die Sekunde. Schauen
wir mal, wie es weitergeht. – Mechthild Rawert von der
SPD ist die nächste Rednerin.
Ich nehme zunächst Bezug auf die Rede von FrauZimmermann. Auch ich habe den Worten Taten folgenlassen. Ich stehe an der Seite der Pflegenden. Ich war inStraßburg die Nummer 29 299 und habe von dort aus fürdie Interessen der Pflegenden in Krankenhäusern bei derProtestaktion „162000 für 162000“ gestreikt.
Zum Thema Pflegeversicherung. Die Bürgerversiche-rung ist eine ursozialdemokratische Forderung. Sie wares, sie ist es, und sie wird es bleiben, sowohl für diePflege- als auch für die Krankenversicherung.
Wir haben das in vielen Wahlkämpfen überzeugend dar-gestellt und werden dies auch in Zukunft tun.
Wir werden nicht müde, uns diesem Thema intensiv zu-zuwenden; denn wir stehen für mehr soziale Gerechtig-keit und Nachhaltigkeit in den sozialen Sicherungssyste-men.
Zu Ihrem Antrag. Sie haben die Einbeziehung der Pri-vaten in die soziale Bürgerversicherung gefordert. Ja,auch wir wollen auf Dauer gesehen die private Pflege-versicherung in die Solidarität einbeziehen; denn es istungerecht, wenn sich gerade die Gutverdienenden, dieJüngeren aus der Solidarität verabschieden. Es heißt: DiePflegeversicherung folgt der Krankenversicherung. Da-her gibt es in der Pflegeversicherung die Aufteilung.Aber wir sind der Meinung, es muss wie im Bereich derKrankenversicherung eine Bürgerversicherung Pflegegeben.Sie haben in Ihrem Antrag den Pflegevorsorgefondsangesprochen. Der Pflegevorsorgefonds ist ein Dorn imAuge der SPD; das ist bekannt. Ich erhebe für uns auch
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11344 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Mechthild Rawert
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nicht den Anspruch auf das Urheberrecht. Er wird nichtausreichen, um zukünftige Beitragssatzsteigerungen ab-zufedern. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass er de-mografisch nicht nachhaltig ist. Ja, schade, ich hätte die-ses Geld gerne in andere Bereiche investiert, zumBeispiel in die Bekämpfung des Fachkräftemangels.Zum Thema „Pflege-Bahr“ – ich gehe jetzt einzelnePunkte des Antrags durch –: Wir wollen eine Umlage-finanzierung. Wir halten herzlich wenig von einem kapi-talgedeckten System à la „Pflege-Bahr“. Ich sage hiernichts Neues; das haben wir auch in der Vergangenheitimmer deutlich gemacht. Aber die Bevölkerung hatschon selbst entschieden. Aus den großen Konzeptionenund Planungen der Vorgängerregierung ist nichts gewor-den; denn – das hat man ja schon bei der Haushaltsbera-tung für dieses Jahr gemerkt – letztendlich ist nur einDrittel der vorgesehenen Bezuschussungsmittel einge-setzt worden.Thema „solidarische Finanzierung“. Ja, wir wolleneine solidarische Finanzierung, bei der jede Bürgerin,jeder Bürger nach individueller Leistungsfähigkeiteinzahlt. Wir wollen keine einseitige Belastung derErwerbseinkommen. Wir wollen auch weitere Einkom-mensarten einbeziehen.Thema „paritätische Finanzierung“. Ja, wir sind füreine paritätische Finanzierung. Als Berlinerin, die so-wieso darunter leidet, dass wir so wenige Feiertage ha-ben, hätte ich auch nichts gegen eine Ausweitung vonFeiertagen.
Thema Pflegebedürftigkeitsbegriff. An dieser Stellekommt natürlich der Antrag der Linken ein wenig spät;denn mittlerweile liegt ja längst der Referentenentwurffür das Pflegestärkungsgesetz II vor. Die Forderung indiese Richtung ist also wirklich ein wenig überholt. Indem Fall sage ich jetzt einmal: Nachlesen, wie viel Gu-tes schon im Referentenentwurf zum PSG II steht. ZumVorwurf, wir würden nichts für die Pflege tun, muss ichsagen: Wir machen sehr viel im Interesse der Pflegebe-dürftigen, der pflegenden Angehörigen und auch derPflegefachkräfte; das hat die Große Koalition wirklichgezeigt.
Liebe Kollegen, ich diskutiere immer gerne mit allenüber die Bürgerversicherung; denn wir stehen als Sozial-demokratie für eine gerechte und nachhaltige Entwick-lung der sozialen Sicherungssysteme. Eines ist ja klar:Es ist richtig, immer wieder auf die zu erwartende Aus-gabenentwicklung im Sozialversicherungsbereich zuschauen. Es ist richtig, die demografische und sozialeEntwicklung im Auge zu behalten, sowohl die wach-sende Zahl der Pflegebedürftigen als auch die Entwick-lung hinsichtlich der Schweregrade. Aber ich sage nocheines: Das betrifft auch die Inanspruchnahme professio-neller Dienste, die im Vergleich zu dem, was die Fami-lien erhalten, die derzeit das Pflegegeld in Anspruchnehmen, teurer sind. Das gewandelte Rollenverständnisinnerhalb der Familien wird dazu führen, dass es zu ei-ner weiteren Verschiebung zugunsten der professionel-len Dienste kommen wird. Auch das gilt es langfristig,dauerhaft, nachhaltig und vor allen Dingen solidarischzu finanzieren. Die soziale Bürgerversicherung steht alsofür eine nachhaltige Pflegepolitik. Wir fangen selbstver-ständlich aber jetzt, in dieser Koalition, schon einmal mitden Taten an – insofern machen wir auch nicht zu wenig –und sorgen selbstverständlich auch noch für die nachhal-tige Finanzierung in der Zukunft. Eines ist klar: Die SPDbleibt am Ball.
Vielen Dank, Mechthild Rawert. – Bezüglich Feierta-
gen empfehle ich Augsburg; denn wir haben die meisten.
Nächster Redner – auch aus einem sonnenreichen
Land, wo nicht nur die CSU für die Sonne zuständig ist –:
Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Bei einer so sonnigen Präsidentin macht es einfacheine Freude, hier zu reden; das muss man einmal ganzklar sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir besprechenheute die beiden Anträge der Fraktion Die Linke „Bür-gerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege – Soli-darische Pflegeversicherung einführen“ sowie „PrivateKrankenversicherung als Vollversicherung abschaffen –Hochwertige und effiziente Versorgung für alle“. Dassind schöne Titel; das muss ich zugeben.
Aber das war es dann auch schon.Frau Rawert, Sie haben mich geradezu förmlich he-rausgefordert,
Ihnen hier einen Satz zu sagen: Sie haben viele richtigeDinge gesagt, aber Ihren Standpunkt zur Bürgerversiche-rung kann ich nicht teilen.
Ich kann nur eins sagen: Etwas, was in meinen Augenvöllig falsch ist, wird nicht dadurch besser, dass man esimmer wieder vorschlägt. Seien Sie der Union dankbar,dass wir in diesem Punkt so standhaft sind.
Die Aufgabe der Kranken- und Pflegeversicherung istes, die bestmögliche medizinische und pflegerische Ver-sorgung für die Menschen in unserem Land zu gewähr-leisten und zugleich die Kosten unseres Gesundheitswe-sens in irgendeiner Form zu bewältigen. Wir dürfen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11345
Erich Irlstorfer
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nicht vergessen: Unter dem Gesichtspunkt des demogra-fischen Wandels und des stetigen Fortschritts in der Me-dizin und Forschung ist das mit Sicherheit keine leichteAufgabe. Die Bürgerversicherung bietet für diese He-rausforderungen einer Krankenversicherung in meinenAugen keine befriedigenden Lösungsansätze. Der beste-hende Mix aus PKV und GKV hat sich bestens bewährtund ist als System der Vollversicherung auch tauglich.Man muss sich vor Augen führen, was sich hinterdem Begriff der Bürgerversicherung verbirgt. Es handeltsich um eine ausnahmslose und umfassende Zwangsmit-gliedschaft,
die mit der Einschränkung der persönlichen Wahlfreiheitverbunden ist, die uns immer wichtig ist. Eine solcheBürgerversicherung würde in der Konsequenz zu weni-ger Selbstbestimmung für den einzelnen Bürger führen,sie hätte eingeschränkte Leistungen, weniger Wettbe-werb im Krankenkassensystem – den wollen wir auch –und damit letztlich auch keine Nachhaltigkeit zur Folge.Gerne können wir über Parteigrenzen hinweg übernotwendige Reformen der gesetzlichen Krankenversi-cherung diskutieren. Es ist in meinen Augen nicht nur le-gitim, sondern es ist auch notwendig, dass wir darüberdiskutieren. In diesem Zusammenhang jedoch nur aufdas Modell einer Bürgerversicherung als Alternative zuverweisen, liebe Linke, zeugt in meinen Augen nicht voneinem konstruktiven Beitrag zu einem System, das sichin seinen Grundfesten bewährt hat. Ähnliches gilt auchfür die Pflegeversicherung.Die Bürgerversicherung ist auch aus gesamtvolks-wirtschaftlicher Sicht nicht unbedenklich und führt nichtzu mehr sozialer Gerechtigkeit; denn in der Bürgerversi-cherung fände keine Gleichbehandlung der verschiede-nen Einkommensarten statt. Die Einnahmen von Selbst-ständigen würden um bestimmte Ausgaben verringert.Vollständig erfasst und mit Beiträgen belegt würden inder Bürgerversicherung also weiterhin nur Löhne, Ge-hälter und Renten. Die Bürgerversicherung würde dieBeiträge für Arbeitnehmer und Rentner nicht in nen-nenswertem Umfang senken. Die Bürgerversicherungwürde also vor allem die Bezieher mittlerer Einkommenbelasten.
Verbesserungen in der sozialen Pflegeversicherungwiederum werden nicht durch eine Zusammenführungmit der privaten Pflegeversicherung erfolgen, sondernnur durch konsequente Reformen, wie sie von der der-zeitigen Koalition aus CDU, CSU und SPD angegangenwerden.Durch das Erste Pflegestärkungsgesetz hat dieschwarz-rote Koalition bereits zum 1. Januar 2015 dieLeistungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigenspürbar ausgeweitet. Mit dem Zweiten Pflegestär-kungsgesetz sollen noch in dieser Wahlperiode derneue Bedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutach-tungsverfahren eingeführt werden. Dadurch werden vorallem Menschen mit psychischen Erkrankungen undMenschen mit der Volkskrankheit Demenz besserge-stellt. Weiterhin geht die aktuelle Bundesregierung dielängst überfällige Neuordnung des Pflege-TÜV sowieeine Reform der Pflegeberufe an.Meine verehrten Damen und Herren, ich würde mirvon der Opposition einen konstruktiven Beitrag zu die-ser größten Reform der sozialen Pflegeversicherung seitihrer Einführung vor 20 Jahren wünschen statt ideolo-gisch geführter Debatten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zumSchluss ein Hinweis: Ideologie hilft uns hier nicht wei-ter,
wenn es darum geht, Verbesserungen für pflegebedürf-tige Menschen, deren Angehörige und auch für das Pfle-gepersonal herbeizuführen und die soziale Pflegeversi-cherung – das ist sehr wichtig – demografiefest zumachen und somit auch zukunftsfähig.Ich kann nur sagen: Die Anträge der Fraktion DieLinke sind daher nicht zielführend und aus unserer Sichtabzulehnen.Ihnen allen wünsche ich einen schönen Sommer, freinach dem Motto von Karl Valentin: „Gar nicht krank istauch nicht gesund.“In diesem Sinne: danke schön.
Vergelts Gott, Erich Irlstorfer. – Nächste Rednerin:
Heike Baehrens für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Was erwarten die Bür-gerinnen und Bürger von unserem Gesundheitssystem?Sie wollen die Gewissheit haben, dass sie, wenn siekrank werden, an ihrem Wohnort die bestmögliche medi-zinische und pflegerische Versorgung bekommen.
Sie wollen vor allem auch, dass es dabei gerecht zugeht.Diese Intentionen, die auch in Ihren Anträgen zum Aus-druck kommen, teilen wir. Politik, die diese Intentionenin die Tat umsetzt, gestalten wir. Darum haben wir mitden großen Gesetzesvorhaben in dieser Legislaturpe-riode wichtige Schritte gemacht, die für mehr Patienten-orientierung und für eine gute Versorgung vor Ort sor-gen.
Ich nenne hier nur das Pflegestärkungsgesetz I oder diegerade erst in den letzten beiden Sitzungswochen verab-
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Heike Baehrens
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schiedeten Gesetze, das Gesetz zur Stärkung der Versor-gung in der gesetzlichen Krankenversicherung und vorallem auch das Präventionsgesetz.Einiges, was unser bestehendes System gerechtermacht, ist also schon auf dem Weg. Die Terminservice-stellen werden kommen. Sie bieten die Chance, dass jedeund jeder zeitnah einen Termin beim Facharzt erhält,und zwar unabhängig davon, ob er oder sie privat odergesetzlich krankenversichert ist.
Für mehr Gerechtigkeit soll auch sorgen, dass dieärztliche Bedarfsplanung auf aktuellen Stand gebrachtwird. Die neuen Regelungen für die Zu- und Niederlas-sung von Ärztinnen und Ärzten sollen dazu beitragen,dass ländliche Regionen nicht abgehängt werden.
Darum ist es sachgerecht, Arztsitze in überversorgtenRegionen zukünftig unter bestimmten, eng gefassten Vo-raussetzungen nicht nachzubesetzen. Und wir setzen be-wusst positive Anreize, indem wir die Möglichkeitschaffen, beispielsweise medizinische Versorgungszen-tren zu gründen, in denen nicht nur Facharztgruppen,sondern auch Hausärzte in modernen, flexiblen Arbeits-modellen zusammenarbeiten können.Eines ist klar: Wir Sozialdemokratinnen und Sozial-demokraten wollen eine gesundheitliche Versorgung, diegerecht ist, die allen Bürgern einen gleichen Zugang zumedizinischen Leistungen und zur Pflege ermöglicht.Wir wollen keine Zweiklassenmedizin und keine Zwei-klassenpflege.
Wir wollen gleiche Gesundheitschancen für alle Bürge-rinnen und Bürger und gleiche Teilhabe aller am medizi-nischen Fortschritt.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie wol-len uns mit Ihren Anträgen immer wieder einmal aus derKoalitionssolidarität herauslocken. Wenn das aber ein-mal Erfolg haben soll, dann müssen Ihre Anträge etwasmehr Substanz bekommen.
Sie wollen alle Privatversicherten in Deutschland ab ei-nem Stichtag X in der GKV versichern. Dabei wissenSie genauso gut wie wir, dass es erhebliche verfassungs-rechtliche Bedenken gibt, die private Krankenversiche-rung als Vollversicherung gänzlich abzuschaffen
und nur noch auf die Funktion einer Zusatzversicherungzu reduzieren.
Mit solch weitreichenden Forderungen werden wir So-zialdemokraten jedenfalls die heute privat versichertenBürgerinnen und Bürger nicht verschrecken.Vielmehr wissen wir: Die Bürgerversicherung alsüberzeugendes Konzept zur Weiterentwicklung der ge-setzlichen Krankenversicherung wird der privaten Kran-kenversicherung langfristig überlegen sein. Darum set-zen wir an dieser Stelle auf Wettbewerb und nicht aufZwangsmitgliedschaft, wie Sie, Herr Irlstorfer, es geradedargestellt haben. Wir sehen ja heute schon, dass die pri-vate Krankenversicherung alter Prägung an Attraktivitätverliert. Viele Versicherte sind angesichts steigenderBeiträge überfordert. Viele Privatversicherte, insbeson-dere chronisch kranke Menschen, müssen mit Leistungs-begrenzungen zurechtkommen.
Nicht zuletzt sind gerade ältere Privatversicherte undnoch viel mehr Privatversicherte mit Beihilfeberechti-gung mit den aufwändigen Antrags- und Abrechnungs-verfahren völlig überfordert.Die Bürgerversicherung wird kommen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen. Sie wird kommen, sobald eineMehrheit der Wählerinnen und Wähler die Schwach-punkte der PKV erkennt.
Wir werden die entsprechende Überzeugungsarbeit biszur nächsten Bundestagswahl fortsetzen.Wir als SPD werden den Weg für eine solidarischeLastenverteilung in unserem Gesundheitssystem und füreine gerechte Bürgerversicherung in unserem Land be-reiten.Vielen Dank.
Vielen Dank, Heike Baehrens. – Der letzte Redner in
dieser Debatte und am heutigen Tag – schauen wir ein-
mal, für wie lange – ist Erwin Rüddel für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Der Begriff „Bürgerversicherung“ ist mehrfachgefallen. Ich glaube, es gibt sehr unterschiedliche Fanta-sien darüber, wie die Bürgerversicherung ausgestaltetwerden soll. Ein schlüssiges Konzept ist mir noch nichtvorgelegt worden,
zumindest keines, das uns überzeugt hat. Deshalb hat dieBürgerversicherung mit keinem Wort Eingang in denKoalitionsvertrag gefunden, und trotzdem machen ge-rade wir sehr erfolgreiche Gesundheitspolitik.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015 11347
Erwin Rüddel
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Meine Vorredner, Thomas Stritzl und Erich Irlstorfer, ha-ben sehr eindrucksvoll dargestellt, dass gerade die Dua-lität in unserem System die Stärke unseres Systems ist.
Wir haben es bei dem Antrag der Linken mit demAufguss eines Antrages zu tun, über den wir schon letz-tes Jahr im April diskutiert haben.
Damals ging es um die Abschaffung der privaten Zusatz-versicherung.
Jetzt geht es um die Abschaffung der gesamten privatenPflegeversicherung. Beide Male war die Botschaft:Leute, macht euch keine Gedanken über die Zukunft.Der Staat wird alles richten.
Jedweder Eigenverantwortung, jedweder Eigeninitiativeund jedweder Eigenvorsorge wird eine Absage erteilt.Die Fraktion Die Linke schüttet ihr Füllhorn über unsaus, verkündet die Abschaffung der Teilkaskodeckungund verspricht nichts Geringeres als die Vollfinanzierungder Pflegekosten. Die Frage bleibt: Wer soll das bezah-len? Wie hoch werden die Belastungen durch Abgabenund Steuern für die arbeitende Mittelschicht und die Un-ternehmen in unserem Lande sein?
Der vorliegende Antrag ist ein geradezu klassischesBeispiel für politischen Populismus.
Was mich am meisten geärgert hat: Während die Koali-tion in dieser Legislaturperiode sehr ernsthaft und unterEinsatz zusätzlicher milliardenschwerer Mittel erfolg-reich an einer umfassenden Runderneuerung der Pflege-versicherung arbeitet, fällt der Linksfraktion nichts Bes-seres ein, als den Menschen Wunderdinge vorzugaukelnund Wolkenkuckucksheime im pflegepolitischen Schla-raffenland zu propagieren.
Empören kann man sich über die Behauptung in demAntrag – ich zitiere –: Durch die Große Koalition wer-den die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs und die da-mit einhergehenden Leistungserweiterungen weiter ver-zögert. – Man könnte über diese Formulierung schon einbisschen böse sein.
Das Gegenteil ist nämlich der Fall: Es ist diese Koali-tion, die den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in dieAgenda aufgenommen und stringent umgesetzt hat.
Es ist diese Koalition, die zusätzlich 5 Milliarden Eurojährlich für eine bessere Versorgung von Demenzkran-ken mobilisiert. Es ist diese Koalition, die Menschen mitkognitiven und somatischen Einschränkungen erstmalsgleichstellt und damit eine große Gerechtigkeitslückeschließt. Und es ist diese Koalition, die die umfassendsteLeistungsverbesserung in der Pflegeversicherung seit20 Jahren realisiert – für die Pflegebedürftigen, ihre An-gehörigen und die Mitarbeiter in der Pflege.
Wir halten unser Versprechen: Die Pflege wird nach-haltig gestärkt. Zusammen mit dem Ersten Pflegestär-kungsgesetz ergibt sich mit dem Zweiten Pflegestär-kungsgesetz eine wirklich runde Sache. In Zukunft wirdes passgenaue Einstufungen geben. Die Minutenpflegewird entfallen. Für bereits pflegebedürftige Menschengibt es Bestandsschutz. Kein Pflegebedürftiger musssich Sorgen machen, künftig schlechter eingestuft zuwerden. Wir senken den Schlüssel für Betreuungskräfte.Wir bauen die Kurzzeit- und Verhinderungspflege, dieTages- und Nachtpflege aus. Wir reduzieren überflüssigeBürokratie; denn Pflege muss am Bett ankommen.
Wir wollen ein neues Pflegeberufegesetz. Wir brau-chen Anreize, um deutlich mehr Menschen für die Pfle-geberufe zu mobilisieren. Daran konstruktiv mitzuwir-ken, dazu laden wir auch die Fraktion der Linken ein.Mit allen unseren Maßnahmen schaffen wir eine grund-legende Erweiterung und Verbesserung der gesetzlichenPflegeleistungen, und das kommt bei den Menschen an.Ich wünsche allen einen sonnigen Sommer.
Vielen Dank, Kollege Rüddel. – Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/5110 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum An-trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Private Kran-kenversicherung als Vollversicherung abschaffen –Hochwertige und effiziente Versorgung für alle“. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
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11348 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Juli 2015
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Drucksache 18/5354, den Antrag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 18/4099 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-nommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dage-gen gestimmt hat die Linke, und enthalten hat sichBündnis 90/Die Grünen.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung angekommen.Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,ich wünsche all unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterin-nen, ohne die das, was wir tun, überhaupt nicht möglichwäre,
ich wünsche der Regierung, mit der wir ein mehr oderweniger gutes Verhältnis pflegen, ich wünsche unserenGästen auf der Tribüne verdiente Sommertage, Ruhe,Entspannung. Ich wünsche uns friedliche Tage. Ich wün-sche uns Sonne, auch wenn es regnet.Das ist jetzt schwierig – ich muss die nächste Sitzungeinberufen –: Ich berufe die nächste reguläre Sitzung desDeutschen Bundestages auf Dienstag, den 8. September2015, 10 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen. Vielleicht sehen wir unsja schon früher. Alles, alles Gute und einen gutenSommer!